Digitale Integration von Migranten?: Ethnographische Fallstudien zur digitalen Spaltung in Deutschland [1. Aufl.] 9783839428375

An inquiry of the development and implementation of strategies for the digital integration of migrants in Germany.

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German Pages 330 Year 2014

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Digitale Integration von Migranten?: Ethnographische Fallstudien zur digitalen Spaltung in Deutschland [1. Aufl.]
 9783839428375

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung
Einleitung
THEMATIK UND FRAGESTELLUNG DER UNTERSUCHUNG
AUFBAU DES BUCHES
Erster Teil: Theorie
Ethnologie und Theorie
Kulturanalyse
Kultur
Die Übersetzungsleistung von Akteuren
Digitale Integration von Migranten als Strategie des Blackboxing
Zweiter Teil: Methoden
Ethnographie in Akteur-Netzwerken
Spurensuche
Schauplätze der Forschung
Reflektionen: Ethnologisches Forschen „zu Hause“
Dritter Teil: Fallstudien zur digitalen Integration von Migranten
Fallstudie I: Die Praxis von New Mediators und Think Tanks
Fallstudie II: Staatliche Ansätze in Esslingen
Fallstudie III: Zivilgesellschaftliche Ansätze in Hannover
Schluss
Digitale Integration – Selbstzweck oder Rettung vor dem Untergang?
Anhang
Glossar
Literatur
Material

Citation preview

Oliver Hinkelbein Digitale Integration von Migranten?

MedienWelten | Herausgegeben von Dorle Dracklé | Band 7

Oliver Hinkelbein (Dr. phil.) lehrt am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Wirtschaftsethnologie, politische Ethnologie, Medienethnologie, interkulturelle Kommunikation und Transkulturalität.

Oliver Hinkelbein

Digitale Integration von Migranten? Ethnographische Fallstudien zur digitalen Spaltung in Deutschland

Diese Veröffentlichung lag dem Promotionsausschuss Dr. phil. der Universität Bremen als Dissertation vor. Gutachter/in: Prof. Dr. Dorle Dracklé Gutachter/in: Dr. John Postill Das Kolloquium fand am 18.11.2008 statt. Die vorliegende Studie wurde mit Mitteln der VolkswagenStiftung unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Oliver Hinkelbein Lektorat & Satz: Oliver Hinkelbein Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2837-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2837-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

EINFÜHRUNG Einleitung | 15

Thematik und Fragestellung der Untersuchung | 19 Aufbau des Buches | 27

ERSTER TEIL : THEORIE Ethnologie und Theorie | 33 Kulturanalyse | 37 Kultur | 41

Struktur und Handlung | 41 Praxistheorie | 44 Episoden | 47 Netzgedanken I | 48 Netzgedanken II | 51 Die Übersetzungsleistung von Akteuren | 55

Rhizome und Wunschmaschinen | 56 Ethnographisches Schreiben und Kartographie | 58   Akteur-Netzwerk-Theorie  | 63   Kollektive, Versammlungen und Akteure  | 65   Gegenwärtige Gesellschaft  | 68   Assoziationen und Kollektive  | 71   Übersetzung als zentraler kultureller Prozess  | 76   Klassische Übersetzungstheorien  | 78   Akteure und Übersetzungsprozesse | 80 Digitale Integration von Migranten als Strategie des Blackboxing | 89

Rhizome, Wunschmaschinen und Übersetzungsketten | 89 Blackboxing als erfolgreiche Strategie | 92

ZWEITER TEIL : METHODEN Ethnographie in Akteur-Netzwerken | 101 Spurensuche | 105

Gegenstand | 107 Chronologie, Methoden und Akteure | 109 Schauplätze der Forschung | 121

Eliten auf der Spur: Tagungen, Workshops, Ministerien und der lokale Alltag | 122 Lokale Spurensuche in staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen in Esslingen und Hannover | 125 Reflektionen: Ethnologisches Forschen „zu Hause“ | 131

DRITTER TEIL : FALLSTUDIEN ZUR DIGITALEN INTEGRATION VON M IGRANTEN Fallstudie I: Die Praxis von New Mediators und Think Tanks | 139

New Mediators und die digitale Integration von Migranten | 140 New Mediators: Übersetzer und Vermittler | 142 New Mediators in der Praxis | 144 Think Tanks: Schauplätze der Entwicklung von Strategien | 148 Stiftung Digitale Chancen | 154 Europäischer Kontext | 158 Lokale Entwicklung von Strategien: Akteur-Netzwerke als Think Tanks | 159 Esslingen | 161 Hannover | 167 Fallstudie II: Staatliche Ansätze in Esslingen | 173

Das Ausländerbüro als Motor der Entwicklungen | 186 Akteure und ihre Aufgaben | 188 Arbeits- und Handlungsfelder | 192 Warum der Motor läuft | 194 Das Projekt buerger-gehen-online | 204 Stadtteilorientierte digitale Integration in der Pliensauvorstadt | 215

Fallstudie III: Zivilgesellschaftliche Ansätze in Hannover | 237

Die Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. als Motor der Entwicklungen | 244 Akteure und ihre Aufgaben | 245 Arbeits- und Handlungsfelder | 253 Warum der Motor läuft | 259 Das Projekt IMES | 264  

SCHLUSS Digitale Integration – Selbstzweck oder Rettung vor dem Untergang? | 285

ANHANG Glossar | 301 Literatur | 311 Material | 327

Vorwort

Eigentlich müsste das Vorwort Schlusswort oder Danksagung heißen, denn in dem Moment, in dem ich im Begriff bin es zu verfassen, liegen viele Jahre des Forschens und Schreibens hinter mir. Die Untersuchung ist längst abgeschlossen und der Text ist fertig geschrieben. Die Arbeit wäre jedoch niemals ohne die Hilfe von vielen Menschen – Informanten, Freunden, Betreuern, Kollegen, Geldgebern – zustande gekommen. All denen, die in irgendeiner Form daran beteiligt waren, gebührt mein uneingeschränkter Dank. Meine Studie über die kulturelle Praxis von Menschen an verschiedenen Orten in Deutschland wäre ohne die vielen Personen in meinem Forschungsfeld nicht möglich gewesen. Mein größter Dank gilt allen meinen Informanten, die mir ihre Türen in ihre Lebenswelten geöffnet haben und mich an ihrem Alltag teilhaben ließen. Ohne ihre Bereitschaft und Offenheit wäre die Dissertation nicht entstanden. Da ich in den Jahren der Studie mit weit mehr als hundert Personen zu tun hatte, fällt es mir schwer, einzelne beim Namen zu nennen, denn jeder von ihnen hat Anteil an meiner Arbeit. Trotzdem gibt es aber einige von ihnen, denen ich zu besonderem Dank verpflichtet bin: Jutta Croll, Wolfgang Kirst, Stephan Stötzler-Nottrodt, Nejla Demir, Ülkü Sulutay, Antje Göldner, Georg May und Naciye Celebi-Bektas. Sie ermöglichten es mir, das vermeintlich spröde Thema „digitale Integration“ aus Blickwinkeln zu beobachten, die alles andere als langweilig waren. In der Arbeit mit und über sie durfte ich lernen, dass sich in Einrichtungen, Organisationen, Vereinen, Büros, auf Konferenzen, Workshops und an Zugangsorten zu Computern und Internet ein schillerndes Leben abspielt. Meine Informanten ließen mich hautnah daran teilhaben, wie in Deutschland Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben gerufen werden – gleichzeitig ermöglichte mir das, vieles über „Integration“ zu erfahren, was auch meine persönliche Einstellung beeinflusste.

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Besonders herzlich möchte ich mich bei meiner Betreuerin, Mentorin und Kollegin Dorle Dracklé bedanken. Sie begleitet mich nun seit 15 Jahren auf meinem Weg in der Ethnologie. Am wichtigsten für mich ist, dass sie mir die Freude, den Spaß und Enthusiasmus am ethnologischen Forschen und Denken vermittelt hat. Ihre Aufgabe als Doktormutter hat sie mehr als ernst genommen und mir immer das Gefühl gegeben, dass ich auf sie zählen kann. Sie hat mich immer wieder angespornt – vor allem in Zeiten, in denen es nicht so gut lief. Besonders profitiert habe ich von ihrem intensiven Feedback auf die Texte, aus denen dieses Buch entstanden ist. Großer Dank gebührt auch Monika Rulfs. Sie wurde während des Projekts zu einer sehr geschätzten Kollegin. Ich bin froh, dass ich mit ihr über zwei Jahre ein Arbeitszimmer an der Uni Bremen teilen durfte und in der Zeit von ihr lernen konnte, wie sich Ethnologie und Praxis miteinander verbinden lassen. Außerdem hat sie mir vermittelt, was es bedeutet, gute Fragen zu stellen – ohne die der Ethnologe verloren wäre. Ganz besonders möchte ich mich bei ihr dafür bedanken, dass sie meine Arbeit inhaltlich unterstützt hat. Ohne ihre tollen Ideen und Kommentare wäre das Buch nicht in der Form zustande gekommen, wie es jetzt ist. Auch möchte ich mich bei Jochen Bonz bedanken. Mein Projekt brachte es mit sich, dass ich 2002 von Heidelberg nach Bremen ziehen musste. Er war einer der ersten Menschen, die ich hier kennen und schätzen lernte. Es gibt wenige Menschen, mit denen wissenschaftliches Debattieren so viel Spaß macht wie mit ihm. Besonders möchte ich mich bei ihm dafür bedanken, dass er mir während meiner Studie immer wieder kritische Fragen gestellt hat – und dabei kein Blatt vor den Mund nahm. Ohne ihn wäre der theoretische Teil nicht in der Form entstanden, in der er jetzt ist. Eine besondere Rolle für meine Forschung und das vorliegende Buch spielt die Forschergruppe, in der ich die Studie erstellt habe. Die Kollegen Dorle Dracklé, Penny Harvey, Sarah Green, Peter Wade, Monika Rulfs, Lenie Brouwer, John Postill, Paul Strauss und Tom Wormald machten wie ich eine Fallstudie im Forschungsprojekt „Netzkultur und ethnische Identitätspolitik: Eine vergleichende Untersuchung zu transkulturellen Egovernment-Projekten in fünf nationalen Kontexten“. Es wurde von der VW-Stiftung gefördert und unter der Leitung von Dorle Dracklé zusammen mit Penny Harvey von der Universität Manchester durchgeführt. Auf den vielen Treffen, Workshops und Konferenzen während des Förderzeitraums schätzte ich insbesondere den Austausch, ohne den ich meinen Blick nicht hätte so weit schärfen können, um die Arbeit zu schreiben. Dafür, und auch, dass daraus Freundschaften entstanden sind, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ein besonderer Dank gilt hier John Postill da-

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für, dass er neben Dorle Dracklé das Gutachten für meine Dissertation übernommen hat. Mein Dank gebührt auch der VW-Stiftung, ohne deren Fördergelder die Forschung nicht möglich gewesen wäre. Ich hatte auch das Glück, dass ich am interdisziplinären Doktorandenkolleg „Prozessualität in transkulturellen Kontexten“ an der Universität Bremen teilnehmen durfte. Es hat nicht nur großen Spaß gemacht, mit Kollegen aus verschiedenen Disziplinen zu diskutieren, sondern es hat auch wesentlich dazu beigetragen, dass mein eigener (ethnologischer) Blick dadurch enorm geschärft wurde. An dieser Stelle möchte ich mich bei Maya Nadig, Gisela Febel, Christoph Auffahrt, Dorle Dracklé und Jochen Bonz bedanken weil sie wesentlich dazu beigetragen haben, dass das Doktorandenkolleg ein lebendiger Ort des Austauschs war. Besonders die Summerschool, die Schreibwerkstätten und natürlich die Borkumaufenthalte haben mir großen Spaß gemacht. Eine große Hilfe war auch das bremer institut für kulturforschung (bik). Vom Anfang bis zum Ende meiner Forschung stellte das bik immer ein lebendiges Forum dar, in dem ich Fragestellungen, Interviewpassagen und Rohtexte vorstellen und aus den konstruktiven Diskussionen wichtige Ideen mitnehmen konnte, die mich beim Schreiben unterstützten. Insbesondere möchte ich hier Cordula Weißköppel danken, die nicht nur mit großem Engagement die vielen bik-Werkstätten organisierte, sondern die auch immer als tolle Kollegin, Diskussions- und Ansprechpartnerin da war. Für die Teile aus der Dissertation, die ich für die Publikation des Buches umgeschrieben habe, hatte ich das Glück, Jessica Mangels zu kennen. Bei ihr möchte ich mich für ihre spontane Hilfe und für ihr tolles Lektorat der entsprechenden Kapitel bedanken. Ihr schnelle Art zu Arbeiten und ihr gekonnter Blick auf den Text waren mir zum Abschluss aller Arbeiten eine große Hilfe. Zum Schluss möchte ich mich bei einigen ganz lieben Menschen bedanken. Ohne sie würde ich diese Zeilen nicht schreiben und ohne sie wäre die Arbeit nie zu einem Ende gekommen. Ein besonderer Dank geht an meinen Vater und meine Schwestern, für die große Geduld und für die mentale Unterstützung. Ein ganz großes „teşekkür ederim“ geht an meine Freunde Alican und Mareike Polat und ihre entzückenden Kinder Jannis und Asya. Ohne die vielen Diskussionen über die Themen meiner Arbeit hätte mir ein wichtiger Ansporn gefehlt. Besonders möchte ich mich bei Alican dafür bedanken, dass er mir „unter die Arme griff“, als die Förderung für meine Arbeit zu Ende gegangen ist. Ganz zum Schluss bedanke ich mich zutiefst bei Silvia und ihrer Familie – Rosa Maria Alonso Navia und José Duro Pereiro. Sie haben mich in außerordentlicher Weise mental unterstützt und mir immer wieder Mut gemacht – vor allem in den Zeiten, als meine Motivation am Nullpunkt war. Ohne die vielen

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Diskussionen mit Silvia, sowohl über das Thema meiner Arbeit, wie auch über die Motivation, sie zu Ende zu schreiben, würde es das Buch sicher nicht geben! Mein tiefster Dank auch für die viele Geduld, Unterstützung und Zeit, die Du auf mich verzichten musstest, wenn ich mal wieder an den Schreibtisch musste. ¡Muchas gracias mi cielo!

Bremen im April 2014

Einführung

Einleitung „The only conceivable way of unveiling a black box, is to play with it.“ THOM 1983

Anfang Juni 2013 veröffentlichten die Washington Post und der Guardian brisantes Material zum US-Überwachungsprogramm PRISM. Dieses macht es der National Security Agency (NSA) möglich, auf die Daten der neun größten Internetkonzerne der USA, die alle weltweit agieren, zuzugreifen und diese auszuwerten. Das ist gleichbedeutend mit dem Zugriff auf zehntausende von persönlichen Daten wie Emails, Profile in sozialen Netzwerken, Surfgewohnheiten und anderen sensiblen Informationen, die Teil moderner Internetkommunikation sind. Viele unschuldige Bürger inner- und außerhalb der USA gerieten ins Fadenkreuz US-amerikanischer Behörden. Noch im gleichen Monat wurde bekannt, dass unter dem Namen TEMPORA auch der britische Geheimdienst ein gigantisches Überwachungsnetzwerk betreibt. Diese beunruhigenden Informationen tauchen in einer Zeit auf, in der sich etwa jeder siebte Bürger der Welt in sozialen Medien bewegt. Alleine in Deutschland gibt es ca. 25 Millionen aktive Nutzer im weltweit bekanntesten sozialen Netzwerk, dessen Gründer bei einer ganzen Generation bekannter sein dürfte als die Bundeskanzlerin. Auch die Umsätze für Onlinebuchungen und virtuelle Shoppingtouren zeigen nach oben. Eine bekannte Firma mit einem Apfel im Logo hat im Mai 2013 ihre fünfzig milliardste Anwendung für Mobilgeräte verkauft. Durch den Beginn des Smartphone Zeitalters hat die mobile Internetkommunikation insgesamt enorm zugenommen. Die entsprechenden Branchen nehmen diesen Trend wohlwollend an. Skandale, wie die bei einem der bekanntesten Onlineversandhäuser, zeigen auch die Schattenseiten moderner virtueller Ökonomien, die immer auch ein Backend haben, in dem Menschen unter miserablen Bedingungen arbeiten.

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Die kurze Beschreibung der schönen neuen Medienwelt ist sehr skizzenhaft. Aber sie deutet auf ein grundlegendes Problem hin. Es besteht darin, dass Informations- und Kommunikationstechnologien wie Smartphones, Notebooks, virtuelle Shops und soziale Netzwerke zunehmend zum Teil des Alltags eines jeden Einzelnen werden. Ohne digitale Fähigkeiten und ein Wissen um die Gefahren sowie ethischen Fragen ist es heute kaum möglich, sich adäquat und zielsicher in den neuen Medienlandschaften zu bewegen. Zu oft wird uns, ganz im Sinne des Theorieansatzes der Black Box, simuliert, dass diese Welt schon in Ordnung ist. Wir können auch in Zukunft bedenkenlos unsere technischen Geräte nutzen, ohne dabei Gefahr zu laufen, ausgespäht zu werden oder anderweitig persönlichen Schaden zu nehmen. Die Systemtheorie (Luhmann 2006) und die AkteurNetzwerk-Theorie (Latour 2002) gehen davon aus, dass immer dann eine Black Box vorliegt, wenn auf das Innenleben eines bestimmten Sachverhalts kein besonderer Blick mehr gelegt wird. Aufgrund einer angeblich zu großen Komplexität werden die Dinge oft nur vereinfacht dargestellt und simplifiziert in der öffentlichen Rede thematisiert. Das ist auch bei dem Gegenstand der Fall, mit dem sich das vorliegende Buch beschäftigt. Dieser ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Black Box. In ihr sind, wie in so einem Apparat üblich, viele Informationen und Abläufe abgelegt. Wird eine Black Box gefunden, kann man sie öffnen, um rekursiv nachzuvollziehen, was in einem definierten Zeitrahmen passiert ist. Um in der Metaphorik, der insbesondere bei Flugzeugabstürzen auch bei Laien bekannten Black Boxes zu bleiben, muss betont werden, dass bis zum Aufspüren, Entschlüsseln und Analysieren ein langer Zeitraum vergeht. Obwohl sich meine Black Box nicht im schwer zugänglichen Urwald befand, hat die vorliegende Studie trotzdem einen langatmigen Prozess hinter sich. Das liegt darin begründet, weil ich mich bei meinem Vorgehen dazu entschlossen habe, das zu tun, was in dem Eingangszitat deutlich wird. Um eine Black Box zu öffnen, ist es demnach unerlässlich „mit ihr zu spielen“. Übertragen auf mein Feld bedeutete das, analytische und methodische Werkzeuge zu finden, sie anzuwenden und Feldforschung zu betreiben. Von der allerersten Idee bis zum Buch sind gut 10 Jahre vergangen. Für das Resultat hatte der lange Zeitraum Vor- und Nachteile. Sehr Positiv ist, dass mir die vielen Jahre erlaubten, tief ins Untersuchungsfeld einzusteigen. Im Geertz’schen (1998) Sinne erlaubte diese Form der Langzeitstudie ein „deep hanging out“ in der ethnographischen Wirklichkeit. In Zeiten knapper Forschungsförderung gibt es selten ein Umfeld, in dem man über einen langen Zeitraum so intensiv Feldforschen kann. Der Vorteil in meiner Untersuchung lag darin, dass es an den Untersuchungsorten ein Netzwerk von Akteuren gibt, die den Untersu-

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chungsgegenstand konstituieren. Sie haben mich in ihre Welt gelassen und mir diese Forschung ermöglicht. Aus einer Bruno Latour’schen Perspektive kann man sagen, dass es bei allen Protagonisten dieser Studie in ihrer praktischen Lebenswirklichkeit immer um etwas geht. Das was sie tun, zählt etwas in der öffentlichen Wahrnehmung. Im politikstrategischen und marketingtaktischen Sinne versuchen die Akteure in meinem Untersuchungsfeld Langfristigkeit und Nachhaltigkeit herzustellen, denn es geht ja letztlich um Entwicklungen in vielversprechenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen. Das Problem ist nur, dass all die beschriebenen Aspekte wie in einer Black Box funktionieren - um bei der Latour’schen Perspektive zu bleiben. Demnach ist es gar nicht so einfach, eine Black Box zu entschlüsseln und zu zeigen, was in ihr ist. Es ist mein Ziel, durch dieses Buch die Black Box zu öffnen und zu erklären, wie in Deutschland Politikstrategien tatsächlich entwickelt und umgesetzt werden. Um das im ethnographischen Sinne zu veranschaulichen, begrenzt sich mein Forschungsfokus auf die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten – was nichts anderes als eine gigantische Politikstrategie ist. Die Black Box umfasst Dinge, die in den vergangenen zehn Jahren passiert sind. Mein Untersuchungsgegenstand, die so genannte digitale Integration von Migranten, entstand im Rahmen der Lissabon Strategie. Sie „ist ein auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 in Lissabon verabschiedetes Programm, das zum Ziel hat, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Wikipedia 2013). Diese gewaltige Politikstrategie ist in Zeiten ins Leben gerufen worden, als in der Europäischen Union (EU) von der Finanzkrise noch nichts zu spüren war. Die Zielsetzung der politischen Strategen war es, die EU zum stärksten Wirtschaftsraum weltweit zu machen. Die Grundidee setzte auf die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien als innovative Ressourcen. Man wollte nicht weniger, als die EU-Mitgliedsstaaten in das postindustrielle Zeitalter zu überführen. Das Schlagwort der frühen zweitausender Jahre war das der wissensbasierten Informationsgesellschaft, an der aber längst noch nicht alle Menschen teilhaben. In dem Rahmen sind eine ganze Reihe staatlicher und nicht-staatlicher Initiativen ins Leben gerufen worden, die das Ziel haben, alle Bürger an das digitale Zeitalter heranzuführen. Es herrschte zu Beginn des Jahrtausends eine regelrechte Innovationsflut. An Universitäten, in Kommunen, Kultureinrichtungen und auch auf europäischer Ebene wurde viel Geld in die Hand genommen um nachhaltige Projekte zu initiieren. Die Rechnung war dabei denkbar einfach. Durch die digitale Integration Aller sollten deren ökonomische Ressourcen mobilisiert

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werden. Vor allem die, in der öffentlichen Rede genannten, marginalen Gruppen wie etwa Senioren, Frauen und Migranten sollten die Möglichkeit bekommen, in den Projekten digitale Kompetenzen zu erlangen. Das fällt auch in den Zeitraum, als an den deutschen Universitäten der virtuelle Campus eingeführt wurde - eine Errungenschaft, die heute nicht mehr aus dem akademischen Alltag wegzudenken ist. Die bisher skizzierten globalen Entwicklungen haben auch das Interesse von Ethnologen geweckt. Sie haben in den letzten Jahren eine Reihe von Studien in diesem Gegenstandsbereich durchgeführt und veröffentlicht (Boellstorff 2008, Brouwer 2010, Dombrowski 2011, Gershon 2010, Hakken 1999, Helmreich 2000, Miller & Slater 2000, u.a.). Viele der Ethnographien basieren ebenso auf langen Feldforschungen. Obwohl es keinen expliziten ethnologischen Forschungsschwerpunkt gibt, untersuchen viele Kollegen das Feld der digitalen Eliten und solche Forschungsfelder, in denen digital hochkompetente Akteure neue Medien und Technologien für ihre Zwecke einsetzen. Sie erforschen Gegenstände wie das Internet als Raum von Konflikten (Bräuchler 2005), als Feld von Governance und politischem Aktivismus (Postill 2011), im Rahmen indigener Mediennutzung (Budka 2004, Fernandes Ferreira 2009), der Nutzung sozialer Medien (Miller 2011) oder mobiler Kommunikation. Während in den vorhandenen Studien meist die hochkompetenten Akteure neuer Medien im Fokus stehen, hat in Deutschland und anderen Ländern trotz einer immensen Zunahme des mobilen Internet und anderer neuer Medien längst nicht jeder Mensch entsprechende digitalen Kompetenzen, die notwendig sind, um die vorhandenen Möglichkeiten auch angemessen nutzen zu können. Auf der einen Seite gibt es heute eine wachsende Gemeinschaft von digital natives, die über ein hohes kulturelles Wissen um die Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien verfügen. Sie nutzen die neuesten Errungenschaften, kommunizieren im Social Web und treiben die Entwicklungen voran. Im Bereich von Computer- und Smartphonespielen sowie mobiler Software sind neue Branchen in der Kreativwirtschaft entstanden. In diesen Feldern verdienen die digital natives ihr Geld. Auf der anderen Seite gibt es aber auch diejenigen, die bei den Nutzungskompetenzen weit hinterher hinken. Betroffen sind dabei in wechselnden Konstellationen die Personen, die auch aufgrund von anderen Kriterien wie Bildung, ökonomischer Hintergrund oder Herkunft benachteiligt sind. In meiner Studie liegt der Schwerpunkt auf Menschen mit Migrationshintergrund, die mangelnde digitale Kompetenzen haben. An dem grundlegenden Problem der digitalen Analphabetenquote hat sich zwar im Zeitraum meiner Studie viel getan, trotzdem hat das Thema auch heute noch seine Brisanz. Immer noch gibt es viele Menschen, die zwar im Besitz mo-

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derner Geräte wie Smartphones sind, die jedoch nur ein bedingtes Wissen der Nutzung haben. Leider ist es in Zeiten der Finanzkrise schwerer geworden, dringend notwendige Fördergelder für Projekte in diesem Feld langfristig zu sichern. Man könnte etwas zynisch behaupten, dass das Label Nachhaltigkeit sozialen und kulturellen Projekten eher schadet, weil sich immer wieder herausstellt, dass nachhaltige Projekte zwar gerne als Best-Practice Beispiele gelobt werden, jedoch immer um ihr finanzielles Überleben fürchten müssen. Abschließend kann und will meine Studie diese Frage auch gar nicht beantworten. Vielmehr beabsichtige ich diese Black Box zu öffnen, um sichtbar zu machen und zu verstehen, was in meinem Untersuchungsfeld vor sich geht. Im Foucault’schen Sinne nutze ich die Theorie als Werkzeugkasten. Ich passe meine verwendeten Methoden und theoretischen Perspektiven dem Gegenstand an, um in ethnologischer Manier induktiv vorgehen zu können. Das ist für die Perspektive des Lesers meines Buches sehr wichtig – denn nur so lässt es sich erklären, warum meine Arbeit im ersten Teil so theorielastig ist. Folglich entwickle ich zu Beginn auf der Basis meiner Untersuchungsergebnisse ein analytisches Werkzeug, das mir hilft, die tiefer liegenden Strukturen von den Akteur-Netzwerken sichtbar zu machen, die maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Deutschland beteiligt sind. Den Gegenstand meiner Forschung und die Fragestellung, die mich geleitet hat, stelle ich in den folgenden Abschnitten dar.

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„Digitale Spaltung“ – das ist ein Ausdruck, der zur Zeit der intensiven Phase meiner Feldforschung von 2002 bis 2006 eine große Rolle spielte. Für Sozialarbeiter, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, Politiker und Wissenschaftler ist es der Inbegriff für ein wichtiges Handlungsfeld. Nicht selten sprechen sie von der Gefahr einer „digitalen Spaltung der Gesellschaft“. Diese Redeweisen tauchen immer dann auf, wenn über Neue Medien, Technologien, wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Integration gesprochen wird. Hier zwei Beispiele: „Seit Jahren prophezeien Experten die digitale Spaltung der Welt in User und Loser: Auf der einen Seite steht die Informationselite, auf der anderen befinden sich die Medienanalphabeten, die den Anschluss ans Internet-Zeitalter verpasst haben.“ (Merkel 2003)

20 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? „Die soziale Teilung […] in Teilnehmer und Nichtteilnehmer an neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ist angesichts des umfassenden Strukturwandels in Europa hin zur Informations- und Wissensgesellschaft ein zentrales Zukunftsproblem. Die digitale Spaltung von heute kann die soziale Spaltung von morgen bedeuten.“ (Deutscher Bundestag 2001)

Es wird in diesen Redeweisen ein Bedrohungsszenario laut, in dem Benachteiligte aufgrund der technologischen Veränderungen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht Schritt halten können. Sie seien nicht in der Lage, adäquat in der propagierten Wissensgesellschaft zu partizipieren. Der Begriff „digitale Spaltung“ tauchte in den 1970er Jahren als „Digital Divide“ zum ersten Mal in der öffentlichen Diskussion in den Vereinigten Staaten auf. Es handelte sich um eine Aktualisierung der Diskurse um die „Wissenskluft“ (vgl. Tichenor, Donohue, Olien 1970; Rowghani 2000), in denen offenkundig wird, dass eine ungleiche Verteilung von Wissen, das durch Massenmedien transportiert wird, zu einer wachsenden Wissenskluft zwischen Menschen mit höherem und solchen mit niedrigerem sozioökonomischen Hintergrund führt, sobald der Informationsfluss durch Massenmedien in der Gesellschaft größer wird. Folglich entscheidet das Bildungsniveau des Einzelnen zunehmend darüber, wer Zugang zu gesellschaftlich relevantem Wissen hat und wer nicht. Die öffentliche Rede über die Gefahren einer digitalen Spaltung der Gesellschaft beobachtete ich während einer Feldforschung in Bremen, Berlin, Düsseldorf, Esslingen und Hannover in vielen Situationen an verschiedenen Schauplätzen: in der Presse, im Fernsehen, in Internetforen, politischen Diskussionen und zahlreichen Gesprächen mit Informanten auf Workshops, Konferenzen und in Interviews. Die Problematik zeigt sich auch in einem gehäuften Auftreten von Statistiken und Studien, in denen etwa Internetanschlüsse und Computer pro Haushalt aufgelistet werden. Interessant an der öffentlichen Rede über die digitale Spaltung sind die Positionen, die zum Ausdruck gebracht werden. Viele Bürger in den Untersuchungsorten Esslingen und Hannover äußerten, dass die Entwicklungen viel zu schnell seien und es zu wenige bürgerfreundliche Gelegenheiten gebe, sich digitale Kompetenzen anzueignen. Politiker und Wirtschaftsvertreter konstatieren, dass die digitale Spaltung politische und wirtschaftliche Entwicklungen bremse. Wissenschaftler, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und Akteure aus der Praxis betonen, dass digitale Kompetenzen zunehmend für die Teilhabe des Einzelnen an sozialen, kulturellen und demokratischen Prozessen entscheidend seien. Wie schon die Zitate von Angela Merkel und des Deutschen Bundestages andeuten, beinhaltet die öffentliche Rede über die digitale Spaltung weit mehr, als das Beklagen des Mangels von digitalen Fä-

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higkeiten und des Zugangs zum Internet bei bestimmten Bevölkerungsgruppen. Es spiegeln sich darin grundlegende soziale, politische und ökonomischen Fragen über Globalisierung, Benachteiligung, Wirtschaftsräume, Demokratie, Europa und die Wissensgesellschaft. Die öffentliche Rede über digitale Spaltung bildet den Ausgangspunkt für meine Feldforschung. Durch das Sprechen und Erzählen markieren die in meinem Untersuchungsfeld aktiven Akteure die Objekte und Phänomene, die den Gegenstand der Studie darstellen (vgl. Dracklé 1999, Foucault 1986). In den Gesprächen über digitale Spaltung zeigen sich nicht nur die Positionen der einzelnen Akteure, sondern sie konstituieren darin auch Bedeutungen, die für den Gegenstand der Studie von großem Interesse sind. Sie sind eng mit den Handlungen verknüpft, die Personen im untersuchten Problemzusammenhang unternommen haben. Die an den Diskursen über die digitale Spaltung beteiligten Akteure entwickeln Strategien, mit denen die genannten Gefahren abgewendet werden sollen. In Deutschland entstanden in dem Rahmen groß angelegte Maßnahmen wie „Internet für Alle“ oder „Schulen ans Netz“, die das Ziel haben, die digitale Spaltung zu überwinden. Diese sind nichts weniger als Politikstrategien (Shore, Wright 1997), mit denen die politisch Verantwortlichen erreichen wollen, Bürger auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen einzustimmen. Renommierte Experten in dem Feld machen mit einem Fingerzeig auf die politisch Verantwortlichen deutlich, dass es nicht ausreiche, bei den Maßnahmen lediglich die Frage des Zugangs zu Computer und Internet zu berücksichtigen. Viel wichtiger sei, dass in den Programmen die Förderung von Bildung, Medienkompetenzen und soziokulturellen Fähigkeiten berücksichtigt werden (vgl. Kubicek, Welling 2000). Nachdem seit Mitte der 1990er Jahre der technische Zugang der Bevölkerung gefördert wurde, reagierte die Politik auf die Kritik der Experten und brachte Politikstrategien auf den Weg, in denen die Vermittlung von Medienkompetenzen im Mittelpunkt stehen. Heute sind diese Strategien ein fester Bestandteil der Politikstrategie des lebenslangen Lernens. „Digitale Integration“ – das ist ein Ausdruck, der in der Entwicklung von Politikstrategien und in den Diskursen um die Wissenskluft eine wichtige Bedeutung hat. Die Protagonisten in meiner Studie verwenden den Begriff dazu, die Praxis zu beschreiben, mit der sie die Gefahren einer digitalen Spaltung abwenden wollen. Für meine Schlüsselinformanten Herrn W. aus Esslingen und Herrn G. aus Hannover bedeutet der Ausdruck eine Reihe von Überlegungen und Praktiken, mit denen Benachteiligte an die Nutzung neuer Medien und Technologien her-

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angeführt werden können.1 Ihr Hauptziel besteht darin, durch Bildungsmaßnahmen die gesellschaftliche Teilhabe von Migranten zu fördern. Für Wissenschaftler wie Herrn H. von der Universität Bremen ist digitale Integration der Inbegriff für die Vermittlung von soziokulturellen Fähigkeiten und Medienkompetenzen, die der Einzelne zur Ausübung seiner aktiven Staatsbürgerschaft benötigt. Politiker und Wirtschaftsvertreter sehen darin die Chance, die Bevölkerung auf veränderte ökonomische Bedingungen vorzubereiten. In den Erzählungen meiner Informanten wird deutlich, dass sie den Ausdruck digitale Integration immer dann verwenden, wenn sie ihre Ideen beschreiben wollen, mit denen die digitale Spaltung überwunden werden kann. Der Vergleich der Geschichten verdeutlicht, dass digitale Integration als Formel für die Lösung vielfältiger Probleme betrachtet wird. Gleichsam verbergen sich in ihr Hoffnungen, die alle das Ziel haben, Migranten gesellschaftlich zu integrieren. Obwohl die Positionen verschieden sind, gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner bezüglich digitaler Integration: sie wird als geeigneter Weg zur Überwindung der digitalen Spaltung der Gesellschaft betrachtet. „Digitale Integration“ – das ist auf dieser Basis eine Praxis, die in Integrationsbemühungen an Bedeutung gewonnen hat. Die beteiligten Akteure sind sich einig, dass Migranten auf der Verliererseite der digitalen Spaltung stehen. Aufgrund von Kategorien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Sprache und ökonomischer Stellung haben sie in den Sichtweisen vergleichsweise geringe Kompetenzen, die sie zur Nutzung von neuen Medien und Technologien befähigen. Nach meiner Definition beinhalten digitale Fähigkeiten Medienkompetenzen im weitesten Sinne. Die so genannte Digital Literacy (vgl. Gilster 1997; Hinkelbein 2004 b, 2007, 2011 b) ist wie Lesen und Schreiben eine Kulturtechnik und umfasst das Einschätzungsvermögen, wo und wie sich Informationen finden lassen. Hinzu kommt die Fähigkeit, den Nutzen von Informationen erschließen zu können und die Kompetenz, die Qualität von Informationen einzuordnen und zu interpretieren. Digitale Kompetenz beinhaltet die Befähigung, Ressourcen, die im Umfeld zur Verfügung stehen, mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien zu erschließen und in der Lage zu sein, sich über aktuelle Entwicklungen im Lebensumfeld zu informieren. Umfangreiche digitale Kompetenzen erhöhen Arbeitsplatz-Chancen auch in weniger qualifizierten Betätigungsfeldern, erweitern die Nutzungsmöglichkeiten staatlicher und privater Dienstleistungen, schaffen Chancengleichheit in der Ausbildung und vergrößern die Teil1

In Absprache mit meinen Informanten habe ich eine Anonymisierung vorgenommen soweit dies bei derart öffentlichen Projekten, die ich untersucht habe, überhaupt möglich war.

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habe am gesellschaftlichen Leben. Mangelnde digitale Kompetenzen verstärken nach Expertenmeinungen die Stellung im gesellschaftlichen Randbereich. Gleichzeitig sind damit Diskurse verbunden, in denen laut wird, dass die zunehmende Marginalisierung von Migranten zur Bildung von Parallelgesellschaften, zu ökonomischer, politischer und soziokultureller Ausgrenzung führe. Begründet in dem oft hitzig geführten Integrationsdiskurs werden in Deutschland seit einigen Jahren Strategien ins Leben gerufen, die die digitale Integration von Migranten als Ziel haben. Die Hoffnung besteht darin, dass dadurch Computer, Internet & Co als Werkzeuge in der Integrationspraxis genutzt werden können, um die gesellschaftliche Teilhabe von Migranten zu fördern. Es sind einerseits staatliche Einrichtungen und andererseits Organisationen der Zivilgesellschaft, die maßgeblich daran beteiligt sind. Sie, ihre Akteure, ihre Verbindung zueinander und die Praxis, die sich daraus ergibt, bilden den Gegenstand der vorliegenden Studie. Es fällt bei der Analyse meiner Daten auf, dass sich in der Praxis der Akteure und ihren Verbindungen zueinander ein dichtes Netz zeigt, in dem sie Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben rufen. Meine theoretisch motivierte These ist, dass sich kulturelle Praxis in dem Feld in Rhizomen (Deleuze, Guattari 2002) und Akteur-Netzwerken (Latour 2002, 2006 a; Callon 2006 b) konstituiert. Es rücken hier die Handlungen, Strategien, Ideen und Verbindungen der Akteure in den Mittelpunkt. Ich zeige, dass es bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten reale Menschen wie Herr H. (Bremen), Frau J. (Berlin), Herr W. (Esslingen) und Herr G. (Hannover) sind, die verschiedene Maßnahmen auf den Weg bringen. Gleichzeitig wird sichtbar, dass nicht-menschliche Akteure wie Computer, Anwendungen oder Texte Teil der Netzwerke sind, in denen sich die Praxis konstituiert (vgl. Latour 2002). Damit rücken in der Studie Fragen in den Vordergrund, in denen es um die Auseinandersetzung von Menschen mit Technologien geht. Es geht aber auch um grundsätzliche ethnologische Fragen. In welchem Verhältnis stehen etwa analytische Kategorien wie Kultur, Technologie und Gesellschaft? Die Studie zeigt hier, dass es keinen Sinn macht, diese Konzeptionen getrennt voneinander zu betrachten. In der täglichen Praxis sind die Dinge, die Akteure tun, zu eng mit allen diesen Kategorien verbunden. Was bedeutet es folglich für die Begriffe Kultur und Technologie, wenn im Latour’schen Sinne Computer und andere nicht-menschliche Akteure zu Handelnden in Netzwerken werden? In meiner Feldforschung zeigte sich, dass sie die Rolle von Agenten einnehmen, die einerseits automatisierte Praktiken übernehmen und andererseits verdichtete und materialisierte Ideen von vielen Akteuren beinhalten. In dem Zusammenhang lege ich offen, welche Rolle menschliche und nicht-menschliche Akteure bei der

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Konstitution der Akteur-Netzwerke spielen, in denen sich die digitale Integration von Migranten vollzieht. Das Ziel ist, durch die Auflösung der Trennung von Mikro- und Makroperspektiven (vgl. Giddens 1997: 192-198) die globalen, nationalen und lokalen Verbindungen und Praktiken der beteiligten Akteure sichtbar zu machen. Durch die Verbindung von theoretischen Diskursen und den Erzählungen, Beobachtungen und Sachverhalten aus der Forschung im Sinne der Praxistheorie (Bourdieu 1979; Sahlins 1981; Giddens 1979) verfolge ich die Absicht, das untersuchte Phänomen empirisch sichtbar und theoretisch erklärbar zu machen. Hier rücken neben der Zentrierung auf Akteure und ihre Praxis die Organisationen, in denen sie eingebunden sind, in den Fokus der Untersuchung. Es muss an dieser Stelle betont werden, dass erst wenige genuin ethnologische Studien über die digitale Praxis von marginalisierten Akteuren im interkulturellen Feld veröffentlicht worden sind (z.B. Lievrouw, Livingstone 2002; Miller, Slater 2000; Woolgar 2000). Fast einen ethnologischen blinden Fleck stellen Forschungen über Politikstrategien dar, in deren Zentrum neue Medien und Technologien im interkulturellen Feld stehen (Brouwer 2004, 2005, 2010; Brouwer, Theije 2004; Dracklé 2005; Dracklé, Edgar 2004; Postill 2008, 2011; Wormald 2005). Die Thematik ist jedoch nicht „vom Himmel gefallen“, denn sie weist interessante Verbindungen zu Arbeiten über Politikstrategien, Organisationen und Akteur-Netzwerke auf (Shore, Wright 1997; Latour 2002, 2006 a, b; Schwartzmann 1993; Alvesson 1993). In dem Rahmen bilden Ansätze zur Ethnologie von Politikstrategien, Wissen und Technologie die Basis meiner praxistheoretischen Betrachtungen. Mit der Zentrierung auf ethnologische Theorien ist keinesfalls eine Ausschließlichkeit der verwendeten Theorien und Methoden antizipiert. Ich betrachte sie als Kernbereich, von dem ausgehend ich interdisziplinäre Ansätze mit einbeziehe. Bei den hier verhandelten Themen ist eine interdisziplinäre Perspektive auf die Forschungsthematik grundlegende Voraussetzung für das Gelingen meiner Arbeit. Ein komplexes Phänomen wie die Verwendung von Computer, Internet & Co in modernen Gesellschaften ist zu vielschichtig, um es nur aus einem Blickwinkel zu erforschen. Auf der Basis gehe ich in der Untersuchung der Frage nach, wie und warum in Deutschland Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt und umgesetzt werden. Ausgehend vom Problem der digitalen Spaltung der Gesellschaft folge ich den Phänomenen, die an verschiedenen Schauplätzen zu der Praxis führen, die ich als digitale Integration von Migranten bezeichne. Das Vorgehen steht in engem Zusammenhang zur Multi-Sited-Ethnography, die von George E. Marcus (1995) entwickelt wurde, um komplexe Sachverhalte zu erforschen, die an mehreren Schauplätzen verortet sind.

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Zu Beginn meiner Überlegungen steht die Notwendigkeit, die Zukunftsvorstellungen und technizistischen Visionen, mit denen die Akteure die Entwicklung in dem Bereich verbunden haben, kritisch in den Forschungskontext mit einzubeziehen. Informations- und Kommunikationstechnologien sind innerhalb dieser Vorstellungen meist als technischer Bereich imaginiert, in dem vernetzte Maschinen praktisch ein Leben für sich führen, eine Eigendynamik entwickeln, die den einzelnen Menschen nur netzgefilterte Einflussmöglichkeiten zugestehen. Diesen Ansätzen zufolge gehen Menschen in den Netzen auf, die ihre Maschinen bilden – neue Figurationen entstehen, die globalen Netzwerke, in denen Wissen und Macht enthalten sind (vgl. Castells 1996, 1997, 1999). In solchen technizistischen Visionen ist das Lokale gänzlich im Globalen aufgegangen, universalistische Vorstellungen vermischen sich mit ethnozentristischer Überheblichkeit. Das ist ein Kennzeichen der Diskurse, die zur Begründung der Politikstrategien herangezogen werden, die ich in der Studie untersucht habe. In der Untersuchung gehe ich deshalb der Frage nach, in welchen sozialen und kulturellen Kontexten die visionären Erzählungen eingebunden sind und welchen Einfluss sie auf die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten haben. Sichtbar werden solche Visionen in Forschungsanträgen, Aktionsplänen und Gutachten aber auch in den Erzählungen der Akteure, die mir in meiner Feldforschung begegnet sind. Eine konkrete Auswirkung der mythischen Erzählung ist es, dass ein Bereich imaginiert wird, der von Politik, von konkreten persönlichen Beziehungen und von den Möglichkeiten der Veränderung völlig losgelöst scheint und als vermeintlich autonom und abgeschlossen dargestellt wird. Neue Medien und Technologien wie Computer, Internet und elektronische Dienste spielen in den Augen der Akteure eine zentrale Rolle in Prozessen der digitalen Integration und der propagierten Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft. In den Vorstellungen über die Wirkungsmächtigkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien handelt es sich gleichsam um eine „anti-politics-machine“ im Sinne von Ferguson (1990). Solcherart ambivalente kulturelle Redeweisen bilden den übergreifenden diskursiven Kontext, in den die Studie eingebettet ist. Wo jedoch bleiben in den Vorstellungen über die Wirkungsmächtigkeit von Technologien, in denen digitale Integration oft als Zauberformel betrachtet wird, die Handlungen der Akteure, der einzelnen Menschen? Neben den dargestellten diskursiven Kontexten gibt es eine Ebene der wissenschaftlichen Reflexion, nämlich die Ebene der Untersuchung von Praxis, von der Interaktion zwischen Menschen, bei der sie auch Maschinen nutzen. Bisherige ethnologische Arbeiten über die Wirkungen von Informations- und Kommunikationstechnologien setzen jeweils an den Interaktionen an. Um eine Studie über die Entwicklung und Um-

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setzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten durchzuführen, sind nicht nur die Situationen von Interesse, in denen die Untersuchten Computer, Internet & Co anwenden. Es stellt sich auch die Frage nach der Rolle, die Maschinen in den Beziehungen der Menschen spielen, auch wenn die Computer ausgeschaltet sind (Slater 2002; Miller 2011). Die Auseinandersetzung mit neuen Medien und Technologien umfasst sowohl die direkte Nutzung der Maschinen als auch die Beziehungen, die Menschen in Zusammenhang mit der Technologie aufbauen und verändern (Downey 1998; Escobar 1994; Hakken 1999; Hine 2000; Miller, Slater 2000). Es geht hier um die Praxis der Akteure und die Auswirkungen ihrer Handlungen auf größere Integrationsstufen von Beziehungsnetzwerken im Sinne der Praxistheorie (Bourdieu 1979; Giddens 1979). Im Fokus stehen hier die Akteure, ihre Verbindungen zueinander und ihre Praktiken. Aber auch die Einrichtungen, in denen sie tätig sind, spielen in der Perspektive eine zentrale Rolle. Welche Akteure und Organisationen sind an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Deutschland beteiligt? Warum beteiligen sie sich an der Praxis und welche Bedeutungen schreiben sie ihr zu? Entscheidend ist in dem Zusammenhang die Verbindung zwischen der Entwicklung und der Umsetzung von Strategien. Daraus ergibt sich die Frage, wie konkrete Maßnahmen zustande kommen und wie sie vor Ort umgesetzt werden. Wie sieht die Praxis der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten und deren lokale Umsetzung in der Praxis aus? Um die Fragen zu beantworten, habe ich in meiner Feldforschung Schauplätze gewählt, die eng mit den Entwicklungen verbunden sind. Einerseits stehen Akteure und Organisationen im Fokus, die in einem deutschlandweiten Netzwerk den Diskurs und die Praxis der digitalen Integration von Migranten prägen: Personen wie der Wissenschaftler Herr H. von der Universität Bremen, die Geschäftsführerin Frau J. von der Stiftung Digitale Chancen oder das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, die ich in meinem Buch als New Mediators bezeichne. Auf der anderen Seite stehen Personen und Einrichtungen im Blickfeld, die auf der lokalen Ebene an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration beteiligt sind. Ich habe die Orte Esslingen und Hannover gewählt, an denen Akteure wie Herr W. vom Projekt buerger-gehen-online und Herr G. von der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. umfangreiche Maßnahmen konzipiert und umgesetzt haben. In Esslingen werden die Ansätze aus staatlicher Perspektive und in Hannover aus dem Blickwinkel einer Nichtregierungsorganisation ins Leben gerufen. Wie sehen sie im Einzelnen aus, welche Praxis ergibt sich daraus und welche Akteure sind daran beteiligt? Auf der Basis der öffentlichen Rede, Gesprächen, Erzählungen, Interviews und Beobachtungen rekonstruiere ich das Feld auf nationaler

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und lokaler Ebene. Ich zeige, wie sich in einem Netzwerk aus Akteuren und Schauplätzen die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten vollzieht.

A UFBAU

DES

B UCHES

Die Studie gliedert sich in fünf Teile (Einleitung, Theorie, Methode, Fallstudien, Schluss). Obwohl die Abschnitte eng miteinander verbunden sind, habe ich sie so angelegt, dass sie auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Dem Umstand ist es geschuldet, dass der Theorieteil für eine empirische Arbeit relativ umfangreich ausfällt. Meine Auffassung von „Theorie als Werkzeugkiste“ (vgl. Foucault 1976) machte es notwendig, die theoretische Perspektive entlang von empirischen „Episoden“ (vgl. Giddens 1997: 43) zu entwickeln. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der empirische Teil der Arbeit enge Bezüge zur Theorie hat. Im Hinblick auf Leser, die entweder theoretische oder empirische Perspektiven bevorzugen, habe ich die Studie so geschrieben, dass sie wie ein Rhizom gelesen werden kann (vgl. Deleuze, Guattari 2002). Das heißt, dass das Buch mindestens zwei Lesarten bietet, von denen aus sich der Leser ein Bild machen kann, was die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Theorie und Praxis mit sich bringt. Im Kapitel über Theorie entwickle ich auf der Basis meiner Forschungsergebnisse ein theoretisches Werkzeug – insbesondere ein begriffliches Instrumentarium –, das ich zur Analyse meiner Daten verwende. Zunächst zeige ich am ethnographischen Beispiel, wie sich Kultur in Netzen aus Akteuren, Schauplätzen, Beziehungen und Praktiken konstituiert, wenn es um die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten geht. An dieser Stelle führe ich dann die Begriffe des Netzes und des Rhizoms ein. Deutlich wird, dass ich mich von klassischen Gesellschafts- und Kulturkonzepten verabschiede, indem ich mich auf theoretisch-methodische Konzeptionen wie die der Assoziation und des Kollektiv aus der Akteur-Netzwerk-Theorie beziehe. Darin zeigt sich mit der Praxis der Übersetzung eine zentrale Technik, die Akteure anwenden, um Netzwerke zu schaffen, durch die gemeinsame Ziele erreicht werden sollen. Ich erörtere in dem Zusammenhang, wie digitale Integration durch die Strategie des Blackboxing zu einer scheinbar erfolgreichen und unkritisierbaren Tatsache wird, die die Akteure in meinem Untersuchungsfeld verwenden, um die Partizipation von Migranten in der Gesellschaft zu fördern. Mein Forschungsansatz und die damit verbundenen Erhebungs- und Auswertungsmethoden stehen im Fokus des dritten Kapitels. Als Basis dient mir das

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Forschungskonzept, dass sich aus der Multi-Sited-Ethnography ergibt. Ich mache deutlich, wie meine Feldforschung von Bremen ihren Ausgang nahm und mich an Schauplätze in Berlin, Düsseldorf, Esslingen, Hannover und im Internet führte, indem ich den Phänomenen gefolgt bin, die meinen Gegenstand konstituieren. Diesen skizziere ich in dem Kapitel und lege offen, wie und warum ich einzelne Methoden angewendet habe und wie ich meine Daten ausgewertet habe. Außerdem erörtere ich, mit welchen Informanten in welchen Kontexten ich gearbeitet habe. Schließlich reflektiere ich mein ethnographisches Vorgehen und mache deutlich, was sich aus der ethnologischen Forschung „zu Hause“ ergibt. In der ersten Fallstudie führe ich die empirischen Beispiele aus dem Theorieund Methodenteil weiter aus und steige in die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ein. Ich mache deutlich, welche Rolle Akteure spielen, die ich in der Arbeit als New Mediators bezeichne. Es zeigt sich, dass sie durch ihre Übersetzungsleistungen maßgeblich daran beteiligt sind, dass in Deutschland Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt werden. In einem zweiten Schritt demonstriere ich, dass New Mediators durch ihre Übersetzungsarbeit in so genannten Think Tanks die Strategien entwickeln. Darin zeigt sich das Netz aus Akteuren, Schauplätzen, Praktiken und Beziehungen, das ich im Theoriekapitel als Rhizom bezeichnet habe. Während in der ersten Fallstudie die Entwicklung von Strategien im Zentrum steht, zeige ich in der zweiten und dritten Fallstudie deren Umsetzung am Beispiel der Städte Esslingen und Hannover. Im Fall von Esslingen demonstriere ich, wie Strategien zur digitalen Integration von Migranten aus staatlicher Perspektive umgesetzt werden. Im Fokus stehen Akteure, lokale Netzwerke und Praktiken, die im Umfeld des Ausländerbüros, des Projekts buerger-gehenonline und des LOS-Mikroprojekts zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt angesiedelt sind. Unter Bezugnahme auf die lokale öffentliche Rede über Integration erörtere ich ausführlich, welche konkreten Maßnahmen dort entwickelt und umgesetzt wurden. Im Vergleich dazu lege ich am Beispiel der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. und des EUProjekts IMES in Hannover offen, wie die Praxis in zivilgesellschaftlichen Umfeldern aussieht. Auch hier stelle ich zentrale Akteure genauer vor und rekonstruiere den Rahmen, in dem die einzelnen Maßnahmen durchgeführt werden. Zum Abschluss führe ich im letzten Kapitel die Hauptargumente der Untersuchung zusammen, unterziehe die Ergebnisse aus den Teilstudien einem strukturellen Vergleich und ordne sie kritisch in den Gesamtdiskurs der Studie ein. In einem ersten Schritt stelle ich die Gemeinsamkeiten der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Herangehensweisen bei der digitalen Integration von Migranten

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dar, um dann auf ihre Unterschiede einzugehen. In einem zweiten Schritt demonstriere ich, dass die untersuchte Praxis nicht nur die digitale Integration von Migranten betrifft, sondern auch die involvierten Akteure selbst. Aufgrund von persönlichem Druck und ihrer eigenen Lage offenbart sich, dass Projekte nicht nur zur Förderung der gesellschaftlichen Partizipation von Migranten ins Leben gerufen werden, sondern dass damit auch das persönliche Schicksal der New Mediators verknüpft ist. Abschließend nehme ich das Konzept der digitalen Integration als Organisationsprinzip nochmals unter die Lupe, und gehe der Frage nach, was Migranten letztendlich von der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration haben. Durch dieses Vorgehen schließe ich mein Vorhaben ab, die eingangs erwähnte Black Box zu öffnen. Wie das vorliegende Buch zeigen wird, habe ich mich beim Öffnen der Black Box digitale Integration eines komplexen begrifflichen Instrumentariums bedient. In dem Rahmen ist auch ein umfangreiches Glossar entstanden, das wesentliche Begriffe genau beschreibt. Es befindet sich im Anhang und bietet dem Leser einen Überblick der wichtigsten Begriffe und Konzepte der Studie. Gleichzeitig stellt es eine Art Zusammenfassung der Arbeit dar, in der skizzenhaft und im Schnelldurchgang das nachgelesen werden kann, wovon in diesem Buch die Rede ist. Hier habe ich mich an Latours Vorgehen in seinem Buch „Das Parlament der Dinge“ (2010) orientiert. Am Ende der Arbeit ist das Verzeichnis aller Quellen zu finden auf denen die Studie basiert. Einerseits sind das die Verweise aus dem Bereich der wissenschaftlichen Literatur, andererseits finden sich dort auch Angaben zu Verweisen aus der Tagespresse, zu Presseinformationen, Internetseiten und zu meinem Feldforschungsmaterial. Gegliedert ist der Teil in die Rubriken „Presse“, „Internetseiten“ und „Material“. Da ich in der Arbeit des Öfteren direkt aus einschlägigen Internetseiten zitiere, habe ich sie alle angegeben. Bei Zitaten im Text habe ich diese als Quelle angegeben, verzichte jedoch hier auf die Angabe einer Jahreszahl – sofern die zitierten Texte nicht explizit mit einem Erscheinungsjahr gekennzeichnet sind. In der Rubrik „Material“ habe ich in Bezug auf mein Material aus der Datenerhebung alle Interviews und Protokolle, sowie mein Material aus dem Bereich der grauen Literatur (Flyer, inoffizielle Dokumente, etc.) angegeben.

Erster Teil: Theorie

Ethnologie und Theorie „Und drittens unternehmen wir ständig den Versuch, zwischen empirischen Grundlagen und abstrakten Theorien zu vermitteln. Diesen Hang zum Extremismus zu bewahren ist heute wichtiger denn je, da die Kluft zwischen abstrakten Pauschalisierungen und dem Leben des einzelnen offensichtlich wächst.“ MILLER / 2012: 196

Die Ethnologie ist eine Wissenschaft vom Menschen. Sie interessiert sich für den Einzelnen, seine kollektiven Zusammenschlüsse und Praktiken. Auch die Dinge, die uns umgeben und die wir nutzen, gehören zum Repertoire ethnologischer Forschung. Anders als in quantitativ arbeitenden Disziplinen ist der Lebensalltag der Menschen vor der ethnologischen Brille stets sichtbar und nimmt in der Forschung eine zentrale Rolle ein. Mit abstrakten Pauschalisierungen, die der Medienethnologe Daniel Miller im Eingangszitat anspricht, hält sich unsere Zunft meist zurück. Mit dieser Bezeichnung spricht er das Theoretisieren an, das in vielen wissenschaftlichen Disziplinen der Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Praxis ist. Anders als in vielen geisteswissenschaftlichen Disziplinen steht in der Ethnologie die ethnographische Perspektive im Mittelpunkt – wenngleich das nicht bedeutet, dass Ethnologen sich nicht mit theoretischen Überlegungen auseinandersetzen. Der Weg zur Theorie beginnt in der Ethnologie im Alltag der erforschten Menschen. Durch induktive Arbeitsschritte und Denkprozesse gelangen Ethnologen nach der Auswertung und Analyse ihrer Daten zu theoretischen Schlüssen. Sie sind der Ausgangspunkt um, ausgehend von der lokal verorteten ethnographischen Fallstudie, die eigenen Erkenntniszusammenhänge an die von anderen Wissenschaftlern, die im gleichen Feld arbeiten, anzubinden. Für die vorliegende Studie ist der Einstieg über die Theorie ungewöhn-

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lich – beginnen doch die meisten ethnologischen Studien mit einer umfangreichen empirisch motivierten dichten Beschreibung. Es gibt jedoch zwei Gründe, warum ich mich zu dem Vorgehen entschlossen habe, bei dem umfangreiche theoretische Überlegungen den Ausgangspunkt markieren. Der erste Grund liegt im Untersuchungsgegenstand begründet, also in der Entwicklung und Umsetzung von Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten. Bereits bei meinen ersten Recherchen und dann auch während der gesamten Forschungsdauer von mehreren Jahren wurde deutlich, dass Universitäten und Wissenschaftler eine herausragende Rolle einnehmen. Das zeigt sich sowohl in der Entwicklung wie auch in der Umsetzung von konkreten Maßnahmen zur Aneignung von Medienkompetenzen für bestimmte Gruppen von Personen. Ingenieure, Kommunikations-, Medien-, Erziehungswissenschaftler, Soziologen und andere Geisteswissenschaftler sind als Experten, Gutachter und Begleitforscher ein fester Bestandteil der ökonomischen und bildungspolitischen Maschinerie, mit der ich mich in der vorliegenden Studie beschäftigt habe. Als Wissenschaftler versteht man gut die Sprache, die hier gesprochen wird. In informellen Gesprächen und Interviews mit diesen Akteuren kommt die Diskussion bestimmter wissenschaftlicher Konzeptionen zu Themen wie Integration, kultureller Wandel und Mediengesellschaft regelmäßig vor. Nicht selten ist es so, dass die Erkenntnisse aus der Forschung in der Praxis Einzug halten. Das zeigt sich zum Beispiel auf der technischen Ebene, wo wir heute Musik im MP3 Format hören, welches am Frauenhofer-Institut entwickelt wurde (Frauenhofer IIS 2012). Oder an der Erkenntnis dass das zur Verfügung stellen von technischen Infrastrukturen alleine nicht reicht, um Menschen mit Medienkompetenzen auszustatten. Insofern konstituieren bestimmte theoretische Sichtweisen meinen Untersuchungsgegenstand von Anfang an mit. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich die Theorie zu Beginn des Buches etwas umfangreicher zum Thema mache. Der zweite Grund hat mit dem „wie?“ zu tun. Es geht um die Frage, wie man mit Theorie(n) arbeitet. In vielen Sozialwissenschaften ist die theoretische Darstellung – also die abstrakte Pauschalisierung (Miller 2012: 196) – von empirischen Sachverhalten das große Ziel. Operationalisieren, Validieren und Verallgemeinern sind hier die Zauberwörter. Diesen Anspruch im Sinne der klassischen Theoriebildung verfolge ich nicht. Meine Untersuchung stellt drei Fallstudien in einem Ensemble dar, gibt ethnographische Einblicke in die lokalen Arbeitszusammenhänge verschiedener Akteure und beschäftigt sich mit dem, was sie an Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten entwickeln. Mein Grundverständnis der theoretischen Arbeit ist in der Denktradition der Diskursanalyse, die auf die Arbeiten von Michel Foucault zurückgeht, verwurzelt.

E THNOLOGIE UND T HEORIE

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Von ihm kommt die Idee, Theorien wie Werkzeuge zu verwenden (Foucault 2009: 352-353). Demzufolge nutze ich ein Set von theoretischen Ideen, um sie in meiner Kulturanalyse als Werkzeug anwenden zu können. Auf der begrifflichen Ebene, in der sich immer ein Mix aus Denkrichtungen verbirgt, spielen in meiner theoretischen Blickrichtung drei zentrale Begriffe eine Rolle: „Kultur als Netz“, „Übersetzung“ und „Strategie des Blackboxing“. Wie die Kenner dieser Schlagworte sicher schon vermutet haben, hat der analytische Ansatz, den ich in den folgenden Kapiteln entwickle, auch einen Bezug zu den methodischen und theoretischen Grundsätzen der französischen Denktradition um den Philosophen Gilles Deleuze und den Psychiater Fèlix Guattari, sowie der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) um den Ethnologen Bruno Latour und die Soziologen Michel Callon und John Law. Trotz der abstrakt theoretischen Überlegungen, die sich in diesen Denkansätzen verbergen, verliere ich in diesem Buch den Lebensalltag und die Einzelperspektiven, die das Kollektive wie beispielsweise Kultur konstituieren, nicht aus dem Blick. Deshalb verknüpfe ich meine theoretischen Überlegungen immer wieder mit ethnographischen Sequenzen – Episoden – in denen die Akteure das Sagen haben. Eine akteurszentrierte Perspektive liegt in der Ethnologie ja grundsätzlich auch nahe. Auf diese Weise entsteht auf den folgenden Seiten meine kulturanalytische Perspektive.

Kulturanalyse

Aus alten Büchern kennt man vielleicht noch das romantische Bild des Ethnologen, der vor einer Lehmhütte sitzt und seine Aufzeichnungen interpretiert. Diese Vorstellungen gibt es zwar bis heute, jedoch hat sich die Arbeitsweise von Ethnologen in Zeiten der Globalisierung gravierend geändert. Zu verschieden sind heute auch die Gegenstände und Forschungsfelder, denn die Disziplin hat in den vergangenen hundert Jahren einen enormen Prozess der Arbeitsteilung durchgemacht. Es herrschte phasenweise fast ein inflationäres Entstehen so genannter Bindestrich-Ethnologien oder Subdisziplinen. Das fällt insbesondere in die Zeit ab den 1970er Jahren, als die großen Theoriegebäude wie Evolutionismus, Funktionalismus, Strukturalismus und Strukturfunktionalismus ihre Dominanz verlieren. Diese Phase veränderte auch die Kulturanalyse grundlegend. Die vielleicht größte Errungenschaft, gleichzeitig aber auch stark von anderen Disziplinen kritisiert, ist die Entdeckung des Subjekts. Durch die dialogische Einbindung der erforschten Menschen entstehen vor allem Mikroperspektiven, die es schwer machen, sie mit den Werkzeugen aus den großen Theorien zu analysieren. Durch den Dominanzverlust der großen Theorien und Denkschulen haben sich folglich auch die Ansätze der Kulturanalyse gewaltig vervielfacht. Das hängt auch damit zusammen, dass insbesondere durch das Ende des Kolonialismus, durch Globalisierung und Migration die Welt heterogener ist denn je. Folglich sind in den vergangenen Jahrzehnten auch sehr spezifische Ansätze der Kulturanalyse entstanden. Auffallend ist, dass viele Ethnologen heute viel interdisziplinärer ausgerichtet sind als noch vor 50 Jahren. Umso wichtiger ist es, genau zu erläutern und zu erklären, mit welchen Werkzeugen der Kulturanalyse man arbeitet. Beim Herstellen dieser Transparenz orientiere ich mich strikt an meinem Untersuchungsgegenstand, denn die Entwicklung und Umsetzung von Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten zeigt sich in vielen Facetten. Akteure aus Organisationen, Universitäten, Städten, Ministerien und ihre Verbindungen zueinander konstituieren meinen Gegenstand. Sie haben verschiedene Rollen, es gibt

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unterschiedliche Handlungsebenen und Verbindungen zwischen ihnen. Es gilt für meine kulturanalytische Perspektive, genau darzustellen, worauf ich mich beziehe, um den Überblick in einem komplexen Forschungsfeld im Auge zu behalten. Eine Herangehensweise, die es erlaubt, diese Komplexität zu bearbeiten, bietet die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Sie geht auf Bruno Latour, Michel Callon und John Law zurück und stellt keine Theorie im klassischen Sinne dar, die als „theoretischer Rahmen“ auf bestimmte Sachverhalte anwendbar ist.1 Vielmehr ist sie ein methodisch-theoretischer Forschungsansatz, in dem theoretische Überlegungen eng mit materialreichen Darstellungen verbunden sind. Mittels einer dichten Beschreibung von Situationen des Arbeitsalltags von Menschen, beispielsweise in naturwissenschaftlichen Forschungslaboren, im Amazonasgebiet bei der Untersuchung von Bodenproben und an der französischen Küste bei der Arbeit mit Fischern, werden diese durch Aufzählungen und das Herstellen von Zusammenhängen analysiert (vgl. Callon 2006b; Latour 2002). Akribisches ethnographisches Arbeiten ist hier gefragt. Der Ethnologe Werner Kraus fasst in einem Artikel über die Arbeit Latours zusammen, wann und wie die ANT als Perspektive oder Methode zum Einsatz kommt. Eines ihrer Hauptmerkmale ist die Beschäftigung mit Situationen, in denen Neues geschieht, Innovationen eintreten oder Katastrophen passieren. Also immer in Kontexten, in denen sich etwas verändert und in Bewegung ist. Schließlich ist auch von Interesse, wie sich die Dinge in diesen Kontexten wieder neu zusammenfügen (vgl. Krauss 2006: 14). In seinem Grundlagenwerk „Reassembling the Social“ gibt Latour (2005 a) eine Einführung in die ANT. Demnach geht es in der Denkrichtung darum, zu beschreiben, wie sich soziale und kulturelle Versammlungen aus Akteuren, Handlungen und Schauplätzen in Zeiten von Veränderungen und Innovationen neu gestalten. In der Herangehensweise haben die Forscher ein Interesse daran, herauszufinden, wie sich Akteure im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand versammeln. Das liegt auch in meinem Forschungsinteresse. Im Fokus steht deshalb die Versammlung, die in Deutschland im Zuge von lokalen, nationalen und globalen Veränderungen neue Strategien zur Integration von Migranten entwickelt. Mein Hauptinteresse liegt auf so genannten innovativen

1

Bruno Latour hat seinen Standpunkt hier in einem „imaginären“ Gespräch mit einem Studenten deutlich gemacht. Basierend auf vielen realen Gesprächen mit Studenten bringt er es in dem erfundenen Gespräch folgendermaßen zum Ausdruck: „S: I am finding it difficult, I have to say, to apply Actor Network Theory to any case studies. P: No wonder – it isn’t applicable to anything“ (Latour 2004: 62).

K ULTURANALYSE

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Projekten in diesem Feld. Neue Medien und Technologien werden in ihnen als Hilfsmittel in integrativen Prozessen betrachtet. „Digitale Integration“ ist im Bereich der Entwicklung von Integrationsstrategien zu einem Ansatz geworden, der ein Werkzeug darstellt, um grundlegende gesellschaftliche Integrationsprozesse in Gang zu setzen – so zumindest in den Visionen der politischen und soziokulturellen Strategen, von denen das vorliegende Buch handelt. Wie aber nun die Versammlungen erforschen und analysieren? Latour (2005 a: 221) schlägt vor, unbedingt „Schritt für Schritt“ vorzugehen. Damit meint er, dass man als Wissenschaftler langsam und gründlich arbeiten muss, um die Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren. Für die Kulturanalyse ist es deshalb von zentraler Bedeutung, die Themen im Forschungsfeld von Beginn an sorgfältig zu identifizieren. Einerseits geschieht das durch die dichte Beschreibung und Ethnographie. Andererseits konstituieren sich auf der Ebene der theoretischen Analyse auch bestimmte Schwerpunkte, die für das untersuchte Feld ausschlaggebend sind. In meiner Studie sind Kultur, Übersetzung und das so genannte Blackboxing wichtige Begriffe in der theoretischen Analyse. Wie ich diese im Sinne der Analyse nutze, zeige ich im Rahmen meines Theorieteils. Welcher Kulturbegriff in einer spezifischen ethnologischen Perspektive zu Tage tritt, ist immer eine wichtige Frage. Die Antwort darauf hat einerseits immer etwas mit dem entsprechenden Gegenstand zu tun. Als Ethnologe steht man ohnehin bestimmten Schulen und Denktraditionen nahe. In welche Richtung das bei mir geht, dürfte in den letzten Abschnitten schon mehr als deutlich geworden sein. Durch den Bezug zu einer Reihe von Denkern aus Frankreich beziehen sich meine theoretischen Überlegungen zu Kultur auf diese. Für meine Studie ist es besonders relevant, herauszuarbeiten, warum man Kultur heute so stark mit der Netzmetapher in Verbindung bringt. Es wird sich zeigen, dass diese Grundidee im geisteswissenschaftlichen Diskurs seit Nietzsche eine lange Tradition hat. Neben einer bestimmten Konzeption von Kultur ist der Begriff der Übersetzung im Rahmen meiner Kulturanalyse von Bedeutung. Die Hauptergebnisse der Studie haben sehr viel mit einer bestimmten Praxis tun, nämlich wie Menschen es schaffen, andere von bestimmten Ideen zu überzeugen und diese dann gemeinsam umzusetzen. Ich spreche hier von der Übersetzungsleistung von Akteuren. Ausgehend von der Empirie lege ich dar, wie man diese Sachverhalte theoretisch im Begriff der Übersetzung konzeptualisieren kann. Ich verknüpfe hier meine ethnographischen Beobachtungen mit den Ideen von Deleuze und Guattari im Hinblick auf den Begriff des Rhizoms. Der Begriff bietet eine Möglichkeit, Kultur im Sinne einer Versammlung von Akteuren sichtbar zu machen. Insbesondere die ANT und ihre Perspektiven auf Übersetzung und Netzwerk

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helfen mir schließlich dabei, offen zu legen, durch was die kulturelle Praxis in meinem Untersuchungsfeld angetrieben wird. Blackboxing ist der dritte zentrale Begriff, der im Theorieteil detailliert besprochen wird. Ich führe hier die wichtigsten Gedankengänge und Begriffe zusammen und erörtere, welche Verbindungen es zu meiner Empirie gibt. Es wird deutlich, dass so genannte Übersetzungsketten dafür verantwortlich sind, dass in Deutschland an Schauplätzen wie in Esslingen und Hannover innovative Maßnahmen ins Leben gerufen werden. Ich zeige, dass es die Strategie des Blackboxing ist, die dazu führt, dass die digitale Integration von Migranten von den beteiligten Akteuren als unhinterfragter und scheinbar erfolgreicher Ansatz wahrgenommen und angewendet wird. Wie sich das in der Praxis äußert und welche Implikationen damit verbunden sind, davon handeln die Fallstudien in meinem Buch. Sie bilden auch für meine theoretischen Überlegungen, die mit dem Kulturbegriff beginnen, den Ausgangspunkt.

Kultur

Ein Ergebnis meiner Kulturanalyse ist, dass sich die Entwicklung und Umsetzung von politischen Strategien zur digitalen Integration von Migranten auf sehr verschiedenen Ebenen vollzieht. In der Versammlung, die sich durch den Untersuchungsgegenstand konstituiert, könnten die involvierten Akteure unterschiedlicher nicht sein. Es sind Sozialarbeiter, Ministerialbeamte, Wissenschaftler, Hausfrauen, Projektmanager, Lehrer und viele andere. Sie haben je nach Situation und Kontext mehr oder auch weniger miteinander zu tun. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle meinen Untersuchungsgegenstand konstituieren. Die Bezüge der kulturellen Versammlung reichen von der Wirtschafts- und Bildungspolitik zu überregionalen Institutionen und Organisationen bis in die lokalen Gegebenheiten von Städten und Stadtteilen hinein. Bezogen auf meinen Kulturbegriff ergeben sich daraus eine Reihe von Überlegungen. Zum Einstieg in meine Perspektive auf Kultur beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang von Struktur und Handlung. In einem weiteren Schritt mache ich deutlich, inwiefern ich den Kulturbegriff im Kontext der Praxistheorie verorte. Schließlich lege ich dar, was Kultur aus meiner Sicht mit der Netzmetapher zu tun hat.

S TRUKTUR

UND

H ANDLUNG

Ethnologen und andere Geisteswissenschaftler beschäftigen sich seit jeher mit der Frage, ob der „Mensch und seine Handlungen“ oder das „gesellschaftliche und kulturelle Ganze“ als Referenz für das theoretische Nachdenken gelten soll. Als Kulturforschende haben wir uns schon immer dafür interessiert, was die Welt zu dem macht, wie wir sie wahrnehmen. In dem Rahmen haben sich seit

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dem 19. Jahrhundert verschiedene Denkschulen entwickelt. In der Ethnologie waren das in erster Linie der Funktionalismus und Strukturalismus.1 Trotz aller Unterschiede, die es zwischen den Strömungen gibt, haben beide etwas Wichtiges gemeinsam. Sie betonen „den Vorrang des gesellschaftlichen Ganzen vor seinen individuellen Teilen (d.h. seinen konstitutiven Akteuren oder menschlichen Subjekten)“ (Giddens 1997: 51). Auf der anderen Seite steht das handelnde Subjekt im Zentrum hermeneutischer und interpretativer Denktraditionen. Hier bilden der Mensch, seine Handlungen und der Sinn, der sich dahinter verbirgt, den Erklärungsprimat menschlichen Verhaltens. Die Scheidelinie zwischen den Denkansätzen läuft also zwischen dem Fokus auf dem handelnden Subjekt auf der einen und den bestimmenden Eigenschaften der Struktur auf der anderen Seite. „Während interpretative Soziologien sich gleichsam auf einen Imperialismus des Subjekts gründen, implizieren der Funktionalismus und der Strukturalismus einen Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts“ (ebd. 52). Genau wie in der „Theorie der Strukturierung“ (ebd.) ergibt sich für mich die Frage, wie man die imperialistischen Sichtweisen hinter sich lassen kann. Die kulturellen Versammlungen in meinem Forschungsfeld wollen auch partout nichts davon wissen. Dementsprechend verfolge ich zwar eine Herangehensweise, in der das Subjekt und seine Handlung im Fokus kultureller Praxis stehen. Trotzdem interessieren mich aber auch die soziokulturellen Strukturen. Folglich hat meine Perspektive den handelnden Akteur und die größeren kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge im Auge. Der Ansatz erlaubt es mir, sowohl das Handeln der Akteure, wie auch die Bedingungen ihres Handelns in den Fokus zu rücken. Im Folgenden zeige ich, inwiefern sich die Verzahnung von „Handeln“ und „Struktur“ auf meinen Kulturbegriff auswirkt. In der Sozialtheorie würde das sehr abstrakt und verallgemeinernd aussehen. Ich hingegen versuche in meine Überlegungen, immer wieder die konkreten kulturellen Versammlungen und Akteure mit einzubeziehen. Gleichzeitig nehme ich aber immer auch Bezug auf die so genannten höheren Ebenen kultureller und sozialer Verfasstheit. Hier stellt sich die Frage nach der Auswirkung von Globalisierung, dem Leben in der multiethnischen Gesellschaft, den Diskursen der Integration und der Netzkultur auf der Makroebene. Indem ich genau die Mikro- und die Makrostrukturen offen lege, zeige ich die Bedingungen des Handelns der von mir untersuchten Akteure.

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In den frühen Entwicklungen der Disziplin im 19. Jahrhundert spielten auch der Evolutionismus und der Diffusionismus eine große Rolle. Im Rahmen meiner Betrachtungen sind diese jedoch nicht von Bedeutung.

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Die Betonung von Mikro- und Makroperspektiven ist besonders in Zeiten des kulturellen Wandels von besonderer Bedeutung. Die Globalisierung ist hier ein Stichwort, das symbolisch für kulturellen Wandel steht. Sie führt in der Welt zu kontinuierlichen Veränderungen im sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen und religiösen Leben. Der Einzelne wird von ihr genauso herausgefordert wie die Gesellschaft als Ganzes. Trotz zunehmend erschwerter Bedingungen wandern Menschen heute aus allen Teilen der Welt stärker denn je in die großen Metropolen und Wirtschaftsregionen auf allen Kontinenten. Durch Mobilitätszwänge ist es zur Routine geworden, dass Menschen in Bewegung sind. Sie machen sich mit dem starken Glauben in ihrem Gepäck auf den Weg, an einem anderen Ort ein besseres und glücklicheres Leben zu finden (vgl. Hinkelbein 2011b). Mit denjenigen, die es schaffen, die immer dichter werdenden Hürden zu überwinden, wandern auch ihre Ideen, Handlungs- und Kommunikationsformen, Wirtschaftsideen und materiellen Güter zu ihren neuen Lebensmittelpunkten. Diese Beobachtung ist für das Thema des vorliegenden Buches besonders wichtig. Denn Menschen aus anderen Regionen der Welt haben sich in Deutschland niedergelassen und gestalten das Alltagsleben mit. Längst sind auch heftige Diskurse um Integration und Leitkultur im Gange. Mein Untersuchungsgegenstand versammelt all diese Dinge. Insbesondere auf der Mikroebene, in der detaillierten ethnographischen Beschreibung der Situation der Akteure vor Ort und ihre durch Machtbeziehungen strukturierten Beziehungen wird die kulturelle Versammlung sichtbar. In der kultur- und geisteswissenschaftlichen Theoriebildung hat man längst auf die veränderten Bedingungen in der Welt reagiert. Während noch zu Zeiten des Kalten Krieges die großen Theorien der Strukturierung und Handlung en vogue waren, ist heute die Theorie der Transkulturalität in Mode. Mit Welsch (1997) kann man argumentieren, dass sich die vielfältigen Verflechtungen und Überlappungen von Lebensformen, die sich aus globalen Prozessen ergeben, am besten mit dem Konzept der Transkulturalität adäquat fassen lassen. Obwohl Welsch aus der Philosophie kommt, ist ihm anzumerken, dass er ein guter Beobachter der Lebenswelt ist, denn er nimmt in seinen theoretischen Überlegungen immer wieder Bezug zu Beispielen aus der Empirie. Doch durch was sind transkulturelle Lebenswelten gekennzeichnet? Ein wichtiger Punkt im Hinblick auf diese Entwicklungen sind die Kategorien Zeit und Raum (vgl. Giddens 1995: 28-33). In erster Linie ist es die Vereinheitlichung von Zeit- und Datierungssystemen, die die Menschen und Orte auf dem Globus enger zusammenrücken ließ.

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In den Epochen vor der Globalisierung2 blieb Zeit immer an einen bestimmten Raum gebunden, was durch eine einheitliche Zeitmessung schließlich wegfiel. Dadurch wurde der Raum kontrollierbar. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch die in der Moderne zunehmende Trennung von „Ort“ und „Raum“ (vgl. Giddens 1995: 30). Ort wird in dem Kontext als der lokale Schauplatz betrachtet, an dem die kulturelle Praxis tatsächlich in einer physischen Umwelt stattfindet. „Mit dem Beginn der Moderne wird der Raum immer stärker vom Ort losgelöst, indem Beziehungen zwischen ‚abwesenden’ anderen begünstigt werden, die von jeder gegebenen Interaktionssituation mit persönlichem Kontakt örtlich weit entfernt sind. Unter Modernitätsbedingungen wird der Ort in immer höherem Maße phantasmagorisch, das heißt: Schauplätze werden von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet. Der lokale Schauplatz wird nicht bloß durch Anwesendes strukturiert, denn die ‚sichtbare Form‘ des Schauplatzes verbirgt die weit abgerückten Beziehungen, die sein Wesen bestimmen.“ (Giddens 1995: 30)

In dem Zitat des britischen Soziologen Anthony Giddens wird deutlich, dass soziale und kulturelle Praxis an einem bestimmten Schauplatz im Zeitalter der Globalisierung von verschiedenen anderen Orten aus mitgestaltet und beeinflusst wird. Für die Kulturanalyse und die Auswertung der Daten meiner Studie bedeutet das, den Verflechtungen über einzelne Orte hinweg eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Perspektive, die mir genau dies erlaubt, ist die Praxistheorie.

P RAXISTHEORIE Bisher dürfte klar geworden sein, dass meine theoretischen Überlegungen immer in einem engen Zusammenhang mit der Empirie stehen. In meiner Studie interessiert mich zum Beispiel die Frage, was bildungs- und wirtschaftspolitische Programme, Sozialarbeiter, Computerkurse für Migranten und wirtschaftliches Wachstum mit Kultur zu tun haben. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Ergebnissen für die Kulturtheorie? Antworten auf diese Fragen, auch was das wissenschaftliche Vorgehen betrifft, bietet die Praxistheorie. Mit dem

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Ganz pauschal beziehe ich mich hier auf die Zeit vor der Entdeckung Amerikas durch Columbus.

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Bezug zu ihr reihe ich mich in eine Richtung ein, die den Versuch unternimmt, theoretische Betrachtungen eng mit der empirischen Realität zu verknüpfen. Es geht in der Perspektive immer um die aktuelle Praxis der Handelnden und die Auswirkungen ihrer Handlungen auf größere Integrationsstufen von Beziehungsnetzwerken wie kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Gefügen (vgl. Bourdieu 1979; Giddens 1979; Sahlins 1981). Im Denken Bezug zur Praxistheorie zu knüpfen, bedeutet, sich explizit mit der Mikro- und Makroebene der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit zu beschäftigen. Die Ethnologie ist eine Herangehensweise, die schon immer versucht, diese beiden Perspektiven miteinander zu verknüpfen. Allgemein ist das in den Kultur- und Sozialdisziplinen jedoch nicht der Fall. Das betrifft auch die Forschung in meinem Untersuchungsfeld. Besonders in der Forschung zu Netzkulturen nehmen die einen die Makroperspektive ein und haben die größeren kulturellen und gesellschaftlichen Bezüge im Blickpunkt. Bei Castells (2001) wird das bei seinen Überlegungen zur Netzwerkgesellschaft besonders deutlich. Andere nehmen hingegen die Mikroperspektive ein, in der die Annahme vorherrscht, dass ausschließlich die Praktiken im kleinen und lokal begrenzten Raum den Kern gesellschaftlichen Lebens wirklich darstellen. Giddens verweist in dem Zusammenhang darauf, dass die strikte Trennung der beiden Blickrichtungen aus der Analysesicht nicht notwendig ist (vgl. Giddens 1997: 192 ff). Vielmehr ist es sogar so, dass beide Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, um die ganze Spannbreite sozialer und kultureller Realität zu erfassen. Insbesondere, wenn es um die Rolle neuer Medien und Technologien in Kultur und Gesellschaft geht (vgl. Woolgar 2002: 1-22). In der ethnologischen Forschung ist Daniel Millers (2000) Studie „The Internet. An Ethnographic Approach“ ein gutes Beispiel dafür, wie Mikro- und Makroperspektive miteinander in Verbindung gebracht werden können. Er arbeitet die Beziehungsnetzwerke von Trinidadern in der ganzen Welt heraus und zeigt, welche Rolle neue Medien und Kommunikationstechnologien bei der Konstitution dieser Netzwerke spielen. Millers aktuellste Studie über Facebook spricht gar von einem „wilden Netzwerk“, dass er durch eine ethnologische Herangehensweise identifiziert (Miller 2012). Giddens (1997: 192 ff) theoretische Ideen und Millers ethnographische Exemplifizierung liefern für das von mir bevorzugte Kulturkonzept die Offenheit für Betrachtungen, sowohl auf der Ebene der Handlungen von Akteuren, wie auch auf der Ebene der Struktur. Auch John Postills Forschung über die Zusammenhänge von Internet, Demokratie und persönlichen Netzwerken in Südostasien ist ein Beispiel, in dem deutlich wird, warum es so wichtig ist Mikro- und Makroperspektive miteinander zu verbinden (Postill 2011). Politische Veränderungen und demokratische Prozesse werden

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demnach in Malaysia durch persönliche Beziehungsnetzwerke gestaltet. Der einzelne Akteur hat eine besonders wichtige Rolle. Trotzdem verliert Postill in seiner Studie auch die Makrozusammenhänge nicht aus den Augen, indem er etwa über Demokratie ganz allgemein nachdenkt. Was bedeutet die praxistheoretische Perspektive demnach für meine Studie? Diesen Bezug mache ich nun deutlich. Das Hauptthema des Buches ist ja die Entwicklung und Umsetzung von Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten in Deutschland. Im Ergebnis zeigt meine Untersuchung, dass sowohl öffentliche Einrichtungen als auch Nichtregierungsorganisationen an der Praxis der digitalen Integration beteiligt sind. Das hat sich im Verlauf der Feldforschung als zentrales Thema herauskristallisiert. Der Fokus meiner Analyse ist im Feld öffentlicher Einrichtungen wie Stadtteil- und Ausländerbüros, Schulen, Bibliotheken, Jugendeinrichtungen und Vereinen angesiedelt und verweist mit dem „politischen Feld“ auf einen Bereich, der immer schon eine wichtige gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung hatte.3 Damit verbunden sind politische und kulturelle Praktiken von vielen Akteuren. Die Diskurse, die sich daraus ergeben, ranken sich allesamt darum, wie durch Aktionen, Programme und Projekte die Verankerung von Medien, Technologien und Maschinen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft vorwärts gebracht werden können. Ausgehend von meinen Fallstudien muss das in den theoretischen Überlegungen kontinuierlich berücksichtigt werden. Doch zunächst weitere Überlegungen zur aktuellen Beschaffenheit der Welt. Die massenhafte Einführung von Computern, die Innovationen im Internetbereich und mobile Kommunikationstechnologien haben zu Phänomenen wie Social Media, Facebook und Web 2.0 geführt. Im Zuge der rasanten Entwicklungen der letzten 20 Jahre4 nimmt in Deutschland bereits weit über die Hälfte der Bevölkerung daran teil. Das verändert auch die kulturelle Praxis. Wir arbeiten heute online und vernetzt. Unternehmen agieren über weite Strecken hinweg zeitgleich

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Wichtig ist an dieser Stelle, dass das politische Feld und die politische Praxis in gesellschaftlichen Gefügen schon immer als wichtiger gesellschaftlicher Bereich betrachtet wurden. Deleuze und Guattari haben die Segmentierung und die verschiedenen Versionen davon an Beispielen aus der Ethnologie gezeigt (2002: 283-317).

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Hier beziehe ich mich auf die Verhältnisse in Deutschland und Europa. Diese lassen sich insgesamt auf die westliche Welt und verschiedene Regionen in Asien übertragen. Es muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass in anderen Regionen der Welt, wie z.B. in Afrika, weitaus weniger Menschen Zugang zum Internet haben.

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an Projekten. Die Börsen funktionieren auf den Grundlagen von Kommunikations- und Informationstechnologien. Der kulturelle Wandel drückt sich aber nicht nur in der Arbeitswelt aus. Auch privat kaufen wir etwa unsere Fahrkarten, Bücher oder sonstige Artikel des täglichen Gebrauchs nicht mehr nur am Schalter oder im Laden, sondern im Internet oder an interaktiven Automaten. Das Internet mit seinen unzähligen Möglichkeiten hat dazu geführt, dass wir in unserer Freizeit Computer- und Onlinespiele spielen, wir in virtuellen Umgebungen an öffentlichen Schauplätzen miteinander in Kontakt treten oder uns durch soziale Medien die Welt so erweitern, dass das Reale und das Virtuelle miteinander verschmelzen. Die Welt, in der wir heute leben, habe ich sehr rudimentär beschrieben. Wichtig ist, dass die angesprochenen Veränderungen, ausgelöst durch die Technologien des Internet und der Kommunikation, auch vor meinem Untersuchungsfeld keinen Halt gemacht haben. Es ist vielmehr so, dass hier die Technologien selbst zum Thema werden. Ich beschreibe in meinen Fallstudien, wie verschiedene Akteure sich darüber Gedanken machen, wie die Nutzung neuer Medien und die entsprechenden Kompetenzen zu mehr gesellschaftlicher Integration führen. Es stellt sich nun die Frage, wie man im praxistheoretischen Verständnis Untersuchungseinheiten konzeptualisieren kann. Vor allem auch unter der Berücksichtigung des kulturellen Wandels, der so viele empirische Gegebenheiten in einem rasenden Tempo immer wieder als obsolet erscheinen lässt. Es ist eine Perspektive notwendig, die in der Kulturanalyse und im Hinblick auf den Kulturbegriff auch die zeitliche Dimension berücksichtigt.

E PISODEN Kulturen sind in Bewegung. Das macht die Welt vielstimmig und dynamisch. Das steht heute nicht mehr groß zur Debatte. „Diese mehrdeutige, vielstimmige Welt macht es zunehmend schwierig, sich menschliche Vielfältigkeit in abgegrenzte unabhängige Kulturen vorzustellen“ (Clifford 1993: 111). Die Offenheit impliziert, dass es einen kontinuierlichen kulturellen und sozialen Wandel gibt. Ein Kulturbegriff, der das berücksichtigt, braucht deshalb ein theoretisches Erklärungswerkzeug, das es ermöglicht, „Struktur“ als ein offenes Prinzip zu begreifen (vgl. Giddens 1997: 300-313). Um also den sozialen Wandel innerhalb meines Kulturkonzepts zu thematisieren, der sich aus der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ergibt, ist eine Art der Analyse notwendig, die den sozialen Wandel greifbar macht.

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Ein wichtiges Werkzeug liefert Giddens’ Begriff der Episode. Demnach trägt das gesamte Sozialleben „episodische Züge, und mein Begriff der Episode soll […] auf das gesamte Spektrum sozialer Tätigkeiten Anwendung finden. [...] Wenn ich von umfassenden Episoden spreche, meine ich identifizierbare Sequenzen des Wandels, welche die Hauptinstitutionen innerhalb einer gesellschaftlichen Gesamtheit betreffen oder zu Übergängen zwischen gesamtgesellschaftlichen Formen führen“ (Giddens 1997: 300-301). Meine Fallstudien stellen in diesem Sinne auch Episoden dar. In ihnen werden ethnographisch beschreibbare Sequenzen sichtbar, die den skizzierten Wandel und die kulturelle Praxis zum Ausdruck bringen. Im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in verschiedenen Einrichtungen wie dem Ausländerbüro in Esslingen, in der Stiftung Digitale Chancen in Berlin oder in der Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. in Hannover setzen sich die Episoden des Wandels aus einer Vielzahl von Interviews, Beobachtungen und Tagebucheinträgen zusammen. Die Idee der Episode ist demnach ein brauchbarer Ansatz um Theorie und Empirie miteinander zu verbinden – ganz im Sinne der Praxistheorie. Die Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in einem vielschichtigen sozialen, politischen und ökonomischen Gefüge vollzogen wird. Kennzeichnend ist vor allem der Umstand, dass sich die Versammlung von Akteuren an vielen verschiedenen Orten, in Einrichtungen und Organisationen zeigt. Außerdem weist mein Untersuchungskontext keine klare Grenze nach „außen“ auf, so dass der Aspekt des „Vernetzten“ zwischen Akteuren und Schauplätzen ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist, um Kultur, Gesellschaft und Praxis analytisch greifbar zu machen. Im Folgenden greife ich deshalb eine Reihe von Überlegungen auf, in denen der Kulturbegriff mit der Netzmetapher in Verbindung gebracht wird.

N ETZGEDANKEN I Es ist naheliegend, den Netzgedanken in meiner Studie aufzugreifen. Der Gegenstand und die Forschungsergebnisse demonstrieren eindrucksvoll, dass die Metapher des Netzes zur Beschreibung kultureller Bedeutungen eine wichtige Rolle spielt. Den Ausgangspunkt meiner Betrachtung bildet ein offenes und dynamisches Kulturkonzept, wie ich es auf den vergangenen Seiten dargestellt habe. Mein Hauptaugenmerk liegt nun darauf, die Denkrichtung zu vertiefen, in der Kultur als Netz konzeptualisiert wird. Ich verknüpfe meine theoretischen Betrachtungen eng mit den empirischen Tatsachen, die sich aus meiner Feldfor-

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schung ergeben haben. Dabei gehe ich der Frage nach, welche Gestalt die kulturellen Praktiken und Konfigurationen annehmen, in die die von mir untersuchten Akteure und deren Handlungen eingebunden sind. Warum macht es demnach Sinn, Kultur im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten als Netz zu betrachten? Welche Annahmen ergeben sich daraus für die Analyse der kulturellen Praktiken? Und wie lässt sich Kultur als Netz beschreiben und darstellen? Bei der Betrachtung meiner Forschungsergebnisse fällt auf, dass sich Kultur als Netz aus Akteuren, Handlungen, Beziehungen, Orten, Institutionen und Organisationen beschreiben lässt. Die Ergebnisse meiner Forschung zeigen, dass sich Kultur in heterogenen Netzen repräsentiert, konstituiert und vollzieht. Das klingt abstrakt und gleichzeitig haftet der Aussage eine gewisse Beliebigkeit an, da die Begriffe der „Heterogenität“ und des „Netzes“ nicht erst seit gestern von einer Vielzahl von Sozial- und Kulturwissenschaftlern benutzt werden, um den zeitgenössischen Charakter von Lebenswelten zu beschreiben. Schon Friedrich Nietzsche setzte sich mit dieser Metaphorik auseinander. Bei ihm finden sich erste Versuche, die Metapher des Netzes für seine Philosophie über den Menschen brauchbar zu machen. Allerdings bleibt sein Ansatz in einer erkenntnis- und sprachtheoretischen Ebene gefangen. Nietzsche (1903: 885-886) machte seine Argumentation mit den Metaphern der Spinne und des Spinnennnetzes anschaulich. In seinen Überlegungen zeigt sich die Annahme, dass der Ursprung eines Begriffs immer metaphorisch ist. Mit Bezug zur Metapher des Netzes argumentiert er, dass das Denken wie in einem Spinnennetz gefangen ist. Denn die Form, die durch das Netz beschrieben werden soll, wird gleichzeitig dadurch vorgegeben. Insofern kann Nietzsches Konzeption des Netzes im Rahmen meiner Kulturkonzeption nur als Ausgangspunkt dienen. Denn in meiner Studie ist es ja gerade die Offenheit und das sich ständige Verändern der Form, was die Metapher des Netzes ausmacht und was sie für meine Kulturkonzeption so interessant macht. Die Grundgedanken von Nietzsche werden im sozial- und kulturwissenschaftlichen Denken bis heute berücksichtigt. Martin Stingelin (2000: 15ff) beschäftigt sich in seinem Buch „Das Netzwerk von Deleuze“ mit Nietzsches Betrachtungen des Netzbegriffs. Er zeigt, dass die Nietzsche Netzmetapher auch Roland Barthes beeinflusste, indem er sie „im Bildfeld des literarischen Textgeflechts allegorisch fortspinnte“ (Stingelin 2000: 18). Stingelin bezieht sich hier direkt auf Barthes (1984: 94): „in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“ Barthes „spinnt“ also die Nietzsche Metzmetapher

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fort und definiert die poststrukturalistische Texttheorie als „Hyphologie“, „hyphos ist das Gewebe und das Spinnetz“ (ebd.). Nur eine kleine Nuance scheint es zwischen den Begriffen Netz und Netzwerk zu geben. Beide Episteme spielen im Foucaultschen Sinne eine wichtige Rolle in sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen (vgl. Foucault 1978). Von Barnes (1954) wurde der Begriff des (sozialen) Netzwerks eingeführt und diente ihm zur Erklärung und Differenzierung von Beziehungen zwischen Menschen in einem kulturellen oder sozialen System wie zum Beispiel bei Eliten oder in Unternehmensnetzwerken. Die Grundlagen der Denkrichtung gehen auf den Soziologen Simmel (1908) zurück. Die verschiedenen Netzwerkmodelle, die sich daraus entwickelt haben, beschreiben die Struktur von Beziehungsnetzwerken in einem Handlungssystem. Gleichzeitig eröffnete dies neue Formen der Analyse von kulturellen und sozialen Praktiken. Der Sozialanthropologe Jeremy Boissevain (1979: 392) betont in diesem Zusammenhang: „Network analysis opened a door to permit the entry of interacting people engaged in actions that could alter and manipulate the institutions in which they participated.“ Generell ist es in der Sozialanthropologie so, dass der Begriff des Netzwerks eine Rolle in den kultur- und sozialanalytischen Perspektiven spielt (vgl. Firth 1951; Leach 1954; Turner 1957). Für die Analyse in meinem Forschungsfeld dienen diese Konzeptionen des Netzwerks als wichtiger Ideengeber. Ihnen fehlt jedoch der Gedanke, Kultur und Gesellschaft selbst als Netz zu konzeptualisieren. In meiner Studie habe ich die kulturellen Praktiken und gesellschaftlichen Konfigurationen untersucht, die sich aus der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ergeben. Ich habe Handlungen und Praktiken von Akteuren in ihrer wechselseitigen Beziehung untersucht. Damit reihe ich mich in eine Reihe von Wissenschaftlern ein, die in ihren Forschungen über neue Medien, Technologien und naturwissenschaftliche Projekte Kultur und das Soziale als Netz konzeptualisieren (vgl. Callon 1986; Castells 2001; de Landa 1997; Latour 2002; Law, Callon 1994). Die kulturelle Praxis repräsentiert sich demnach darin, dass Akteure vernetzt miteinander agieren, es Verbindungen zwischen verschiedenen Institutionen und Organisationen gibt und politische Entscheidungen von verschiedenen Schauplätzen aus erörtert und gefällt werden. Gleichzeitig werden im kulturellen Gefüge Verbindungen sichtbar, deren Richtungen Fluchtlinien darstellen, ihre Ziele also im Verborgenen bleiben. Kulturelle Praktiken des Austauschs und der Kommunikation, mittels derer Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren entstehen und gepflegt werden, basieren heute auf der Anwendung vielfältiger Medien und Technologien. Kommunikation, vermittelt über Sprache durch Mobiltelefone oder schriftlich

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via Email, inklusive dem Datenaustausch über Dateianhänge, betrachte ich als bedeutende kulturelle Praxis, die Akteure in einem Austauschprozess miteinander verbindet. Kultur zeigt sich auch als Ergebnis aus vielfältigen Kommunikationsprozessen in Form von politischen Aktionsprogrammen5, die aus mehreren hundert Seiten bestehen und meist in digitaler Form als PDF-Dokumente zwischen Beamten, Politikern, lokalen Akteuren aus NGO’s und städtischen Einrichtungen zirkulieren. Und schließlich stellt das Reisen der Akteure zwischen verschiedenen Orten wie Berlin, Esslingen, Hannover, Barcelona und Düsseldorf eine wichtige Praxis dar, die Kultur zu einem Netz aus vielen Akteuren und Schauplätzen macht.

N ETZGEDANKEN II Ich habe in meinen bisherigen Überlegungen zum Kulturbegriff einen auch für dieses Buch sehr wichtigen Punkt noch nicht angesprochen. Es handelt sich um den Begriff der Macht, der keinesfalls außer Acht gelassen werden darf. Konzeptualisiert man Kultur als Netz, muss die Wirkung von Macht unbedingt berücksichtigt werden. Denn sie gestaltet die Beziehungsnetzwerke von Akteuren mit. Ein wichtiger Ausgangspunkt für diese Überlegung ist der französische Wissensphilosoph Michel Serres. Er hat eine Konzeption des „Netzes“ entworfen, mit der sich die kulturelle Praxis im Feld der Entwicklung und Umsetzung politischer Strategien zur digitalen Integration von Migranten analysieren lässt. Sein „netzförmiges Diagramm“ besteht „aus einer Mehrzahl von Punkten (Gipfeln), die untereinander durch eine Mehrzahl von Verzweigungen (Wegen) verbunden sind. […] Dabei ist per definitionem kein Punkt gegenüber einem anderen privilegiert, und keiner ist einseitig einem anderen untergeordnet; jeder Punkt hat seine eigene Kraft (die in der Zeit möglicherweise variiert), seinen eigenen Wirkungsbereich oder sein eigenes Determinationsvermögen“ (Serres 1991: 9). Ich betrachte die kulturelle Praxis in meinem Untersuchungsfeld unter der Berücksichtigung von Serres’ Konzeption. Dadurch lassen sich meine Ergebnisse erklären und mein Kulturkonzept gewinnt an Kontur. Michel Serres hat seine Ideen zum Netz in Bezug zum Begriff der Kommunikation entwickelt. Ein zent-

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Zwei der bekanntesten Aktionsprogramme dieser Art tragen die Titel „Internet für Alle“ und „Schulen ans Netz“. Die für meinen Untersuchungskontext relevanten Programme analysiere ich im empirischen Teil dieser Arbeit ausführlich.

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raler Aspekt ist, dass es in einem Netz immer „mehrere Punkte“ gibt, die durch eine Vielzahl von Wegen miteinander verbunden sind. Analog dazu betrachte ich die von mir untersuchten Akteure, Institutionen, Organisationen, Orte, Versammlungen und Computer. Sie alle stellen eine Vielzahl von Punkten dar, die das Netz aufspannen, in dem die politische und kulturelle Praxis digitaler Medien und Technologien verortet ist. Eine bestimmte Position im Netz betrachte ich als einen Ort wie etwa den Stadtteil Pliensauvorstadt in Esslingen am Neckar, an dem verschiedene Akteure an Strategien zur digitalen Integration von Migranten arbeiten. Dort werden Computerkurse als Werkzeug eingesetzt, um die Integration von Migranten in der Stadt zu fördern. Die Beschreibung zeigt, dass ein bestimmter Punkt in einem Netz immer ein Ensemble aus Menschen, Orten, Gebäuden, Computern, Texten und weiteren Artefakten darstellt. Das Netz wird schließlich zum Netz, wenn man von einer Vielzahl von Punkten ausgeht, wie ich sie beschrieben habe. So ist beispielsweise eine Veranstaltung, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Berlin durchführte, ein weiteres Ensemble in dem kulturellen Gefüge, das ich untersucht habe. Serres weist auf die besondere Rolle der Verbindungen zwischen Punkten hin. In der Praxis wird die Bedeutung der Verbindungen darin sichtbar, dass Herr W., einer meiner Hauptinformanten, einerseits ein lokales Projekt in Esslingen leitet und andererseits auch für eine bedeutende Veranstaltung eines Ministeriums in Berlin eine entscheidende Rolle spielt, weil sein lokales Projekt dort als „Vorzeigeprojekt“ präsentiert wird. Die Zusammenhänge äußern sich in der kulturellen Praxis auf vielen Ebenen. Doch zurück zu Michel Serres, der auch als „Philosoph der Sinnlichkeit“ betrachtet wird. Er wendet sich gegen eine bestimmte Hierarchie zwischen den verschiedenen Positionen in einem Netz. Kein Punkt ist einem anderen gegenüber privilegiert „und keiner ist einseitig einem anderen untergeordnet; jeder Punkt hat seine eigene Kraft (die in der Zeit möglicherweise variiert), seinen eigenen Wirkungsbereich oder sein eigenes Determinationsvermögen“ (Serres 1991: 9). Die antihierarchische Auffassung ist zunächst einmal theoretischer Natur. In dem von mir untersuchten Feld spiegelt sich das nicht eins zu eins wieder. Serres will mit seiner Perspektive darauf hinaus, dass man durch einen Blick wie dem seinen ein Augenmerk darauf legt, den einzelnen Punkt genau unter die Lupe zu nehmen. An dieser Stelle wird deutlich, warum Macht als Analyseebene unbedingt mit einbezogen werden muss. Zwar gehe ich bei der Erforschung der unterschiedlichen „Punkte“, die in meinem Feld eine Rolle spielen, auch davon aus, dass es keine feststehende Hierarchie zwischen ihnen gibt. So haben etwa potentielle Teilnehmer eines Computerkurses in Esslingen genauso eine Wirkungs-

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macht, wenn sie zum Beispiel erst gar nicht zu Teilnehmern werden, indem sie einen Kurs boykottieren, wie im Vergleich dazu eine Gruppe von Beamten, die in Berlin ein Aktionsprogramm zur digitalen Integration erstellen. Auch wenn man annimmt, dass jeder Punkt in so einem kulturellen Gefüge seine eigene Wirkungsmacht hat und nicht einseitig von einem Anderen abhängig ist, zeigen sich in der Praxis aber trotzdem Machtbeziehungen zwischen den Positionen in diesem Netz. Diese gestalten den Charakter des Netzes und damit von Kultur maßgeblich mit – Foucault würde hier sagen Macht äußert ihre produktive Seite (vgl. Foucault 1977, 2005). Das ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um Beziehungsnetze zwischen Menschen handelt. Aus ihren Handlungen ergeben sich Machtbeziehungen. „Handeln hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, ‚einen Unterschied herzustellen’ zu einem vorher existierenden Zustand oder Ereignisablauf, d.h. irgendeine Form von Macht auszuüben“ (Giddens 1997: 66). Handeln impliziert demnach immer Macht, denn der Handelnde ist der, der eine Wirkung hervorruft oder Macht ausübt (vgl. ebd. S.60). Demnach betrachte ich Macht nicht unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten „Hierarchie“, in dem sie ein bestimmtes Privileg einer Person, Gruppe, Klasse oder Institution darstellt. Genauso wenig sehe ich Macht als bestimmte Eigenschaft von Kultur oder Gesellschaft. „Vielmehr muss Macht als ein vielschichtiges, multidimensionales Kräfteverhältnis mit einer Pluralität von Manövern, Techniken, Verfahrensweisen und Taktiken begriffen werden“ (Kneer 1998: 241). Insofern widerspricht die Betonung des Machtaspektes in einem Netz nicht dem Konzept von Serres, denn ich schreibe durch die Betonung von Machtbeziehungen keinem Punkt im Netz ein Privileg zu. Unter Bezugnahme auf die „Analytik der Macht“ Michel Foucaults (1977, 1978, 1983, 2005) hilft die Betrachtung des Machtaspektes in der kulturellen Praxis der Entwicklung und Umsetzung von politischen Strategien, die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren besser einordnen zu können. Der Ansatz trägt dazu bei, die Verbindungen zwischen den Punkten in einem Netz besser zu verstehen und legt zugleich offen, wie Macht ihre produktive Wirkung entfaltet und somit das kulturelle Gefüge prägt (vgl. Foucault 1977: 35; Kneer 1998: 243). In den letzten Abschnitten habe ich das Kulturkonzept, das der Arbeit zugrunde liegt, unter dem Gesichtspunkt der „Netzmetapher“ erklärt. „So what?“ wird sich der kritische Leser nun fragen. Welchen Erklärungswert hat es, zu behaupten, Kultur lasse sich mit der Metapher des Netzes konzeptualisieren? Um bei dieser Frage weiter zu kommen, habe ich Verknüpfungen meiner Empirie zu Denktraditionen hergestellt, die sich theoretisch mit dem Netzcharakter von Kultur und Gesellschaft auseinandergesetzt haben. Es wurde deutlich, wie sich die

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Theorie des Netzes in der kulturellen Praxis spiegelt und umgekehrt. Die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten konstituiert sich also in Netzwerken. Die kulturelle Praxis der Akteure, die Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben rufen, findet in derartigen (Beziehungs-)Netzwerken statt (vgl. Hinkelbein 2006). Für die Analyse ist es notwendig, die umfangreichen Beziehungsgeflechte, deren gesellschaftliche und kulturelle Implikationen, die tatsächlichen Handlungen und die Praxis der Akteure an den jeweiligen lokalen Schauplätzen zu thematisieren. Einerseits grenze ich mich dadurch von Denkrichtungen ab, in denen das Konzept des Netzes dazu dient, Kultur, Gesellschaft und die Phänomene von Technologien und neuen Medien auf der Makroebene zu analysieren. Manuel Castells (1996, 1997, 1999) versucht, etwa in seiner bekannten Trilogie zur „Netzwerkgesellschaft“ die „ganze Welt“ in Bezug zueinander zu setzen. Andererseits widerspricht mein Ansatz auch der reinen Mikroperspektive, in der die größeren Zusammenhänge außer Acht gelassen werden. Meine Konzeption und Analyse von Kultur löst die Grenze zwischen Makro- und Mikroperspektive auf die untersuchten Phänomene auf (vgl. Giddens 1997: 192-198). Im Folgenden begebe ich mich nun auf eine weitere Untersuchungsebene, in der unterschiedliche Perspektiven zusammengebracht werden.

Die Übersetzungsleistung von Akteuren1

In meinen bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass sich mein Untersuchungsgegenstand in einer Verbindung aus Akteuren, Handlungen und Schauplätzen konstituiert. Das deutet bereits darauf hin, dass Kultur in meiner Untersuchungsperspektive die Gestalt eines Netzes annimmt, das durch die Verbindung der Akteure zueinander gekennzeichnet ist (Hinkelbein 2008: 290). Die Ergebnisse der von mir untersuchten Beziehungsnetze zeigen, dass so genannte Übersetzungsleistungen der Akteure die Praxis maßgeblich beeinflussen. Die Auswertung meiner Daten legt nahe, dass sich die Gegebenheiten der Alltagswelt auf der theoretischen Ebene als Rhizom im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari (2002) darstellen lassen. Diese Überlegung bildet nur den Ausgangspunkt. Im Fokus stehen die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und die ihr inhärenten Überlegungen zum Begriff der Übersetzung. Wie ich zeige, ist die Praxis der Übersetzung von Ideen bestimmter Akteure in unterschiedlichen kulturellen Handlungsfeldern ein ganz zentraler Moment in meinem Untersuchungsfeld. Es ist Bruno Latour und der ANT zu verdanken, dass mit der Analyseeinheit der Übersetzung ein analytisches Werkzeug geschaffen wurde. Dieses ermöglicht es, die Akteure, im Falle der hier vorliegenden Studie kulturelle Broker, die ich als New Mediators bezeichne, ethnographisch detailliert darzustellen und ausgehend von ihnen zu erklären, wie sie politische Strategien entwickeln und umsetzen. Ein weiteres Werkzeug für die Analyse stellt das begriffliche Repertoire des Rhizom und der Wunschmaschine dar. Diese ermöglichen es, noch

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Die folgenden Überlegungen sind im Vergleich zur Dissertationsschrift für das vorliegende Buch gekürzt worden. Damit verändern sich aber die in der Doktorarbeit ausführlich dargelegten Argumente nicht. Eine ähnliche Komprimierung dieser Perspektive habe ich auch als Buchbeitrag veröffentlicht (vgl. Hinkelbein 2008).

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detaillierter zu beschreiben, wie Kultur in meinem Untersuchungsfeld theoretisch gedacht werden kann.

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UND

W UNSCHMASCHINEN

Die Analyse meiner Daten legt nahe, dass sich die untersuchte kulturelle Praxis im Sinne eines Rhizoms (Deleuze, Guattari 2002) konstituiert. Diese Denkrichtung übt nicht nur Kritik an der Freudschen Psychoanalyse, sondern beschäftigt sich auch mit der Frage des Verhältnisses von Individuum, Gesellschaft und Technologie. Für den Netzdiskurs haben Deleuze und Guattari zwei grundlegende Essays herausgegeben, „Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen“ (1992) und „Rhizome“ (2002), die für den weiteren wissenschaftlichen Diskurs prägend sind. Wunschmaschinen definieren sich durch „ihr Vermögen zu unendlichen, allseits in alle Richtungen sich erstreckenden Konnexionen. Dadurch, mehrere Strukturen gleichzeitig durchdringend und beherrschend, sind sie Maschinen“ (Deleuze, Guattari 1992: 503). Gleichzeitig wenden sie sich mit dem Begriff der Wunschmaschine gegen eine Linearität in Kultur und Gesellschaft. Schon in den Gedanken zur Wunschmaschine äußert sich das Konzept des Rhizoms, das die beiden in ihrem bekannten Werk „Tausend Plateaus“ weiterentwickelt haben (Deleuze, Guattari 2002). „Rhizom ist der botanische Ausdruck für ein untergründig verzweigtes Wurzelwerk, wobei Wurzel und Trieb nicht unterscheidbar sind; es wird hier zur Metapher für ein strategisches Projekt gemacht“ (Hartmann 2007: 4). Bei der Analyse und Darstellung des Rhizoms bedienen sich Deleuze und Guattari Begriffen zur Beschreibung, vor allem aus der Botanik, Biologie und Tierwelt. Das ermöglicht es ihnen, durch die dadurch entstehenden Bedeutungsebenen das „organisch Gewachsene“ betonen zu können. Durch einen Begriffsapparat aus „Verästelung“, „Verdichtung“ und „unsystematische Differenzierung“ ist das Rhizom ein theoretisches Konzept, mit dem Formenvielfalt ausgedrückt werden kann. Genau darin liegt die (kritische) Strategie von Deleuze und Guattari, denn das Rhizom wendet sich explizit gegen jene Eindeutigkeit, die in der Moderne oft entfaltet wird. Die Ergebnisse meiner Studie belegen eindeutig, dass der materielle Ausdruck von Kultur und die Praxis in meinem Forschungsfeld auch nicht so eindeutig sind, wie sie von den Protagonisten oft dargestellt werden – auch wenn sie sich auf dem einen oder anderen Hochglanzprospekt eines Ministeriums oder EU-Projekts so präsentieren. Die digitale Integration von Migranten in Deutschland in staatlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen hat sich im rhizomatischen Sinne organisch entfaltet. Die Entwicklung und Umsetzung der

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entsprechenden Politikstrategien haben keinen eindeutigen Ausgangspunkt und weisen eine Formenvielfalt auf, deren Breite ich in diesem Buch darstelle. Gegen die Idee der modernen Eindeutigkeit wendet sich auch Michel Foucault. „Anders gesagt: wir leben nicht in einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind“ (Foucault 1990: 38). Worauf Foucault uns hier hinweist zeigt sich in den Ergebnissen meiner Studie sehr eindrucksvoll. Einerseits offenbart sich in den Studienergebnissen ein Gefüge aus Akteuren und Schauplätzen, das vielfältige Beziehungen zwischen den Akteuren in und zwischen Einrichtungen aufweist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Reihe von Entwicklungen, die nicht aufeinander bezogen sind. Sowohl Deleuze und Guattari, wie auch Foucault wenden sich gegen die Annahme, dass Wissen, Denken, soziale, kulturelle und politische Gefüge, die Kunst und das Kino einen bestimmten Ursprung haben, auf dem sich alles aufbaut und auf den sich alles zurückführen lässt. Sie kritisieren eine Genealogie, in der bestimmte Punkte in einem Geflecht immer von anderen Punkten abhängig sind, sozusagen von ihnen abstammen. Das Rhizom bezeichnen sie als „Anti-Genealogie“ (Deleuze, Guattari 2002: 36) und kehren damit einem hierarchischen Organisationsprinzip den Rücken zu.2 In der Sichtweise wird betont, dass einem bestimmten Punkt in einem Netz, einer Kultur, Gesellschaft, Ökonomie, Politik oder sonstigem soziokulturellen Gefüge nicht mehr oder weniger Bedeutung und Machtwirkung zugeschrieben werden kann. Es wird jene Perspektive kritisiert, die bestimmten Positionen in einem Netz eine besondere Stellung zuschreibt. Eine Rolle spielen viel mehr die Gefüge, die sich um die Punkte scharen und die heterogenen Verbindungen, die zwischen und in Gefügen bestehen. „Ein Gefüge ist genau diese Zunahme von Dimensionen in einer Mannigfaltigkeit, deren Natur sich zwangsläufig in dem Maße verändert, in dem ihre Konnexionen sich vermehren. Anders als bei einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel gibt es in einem Rhizom keine Punkte oder Positionen. Es gibt nur Linien“ (ebd. 18). Durch den Begriff des Rhizom schaffen Deleuze und Guattari eine ontologische Kategorie, „die die ‚Struktur‘ von Sein, von Welt beschreibt“ (Seidel 2004: 2). Also eine Struktur, die gleichzeitig vorgibt, keine zu sein? Auf den ersten Blick mag dies als Widerspruch erscheinen, mit dem der Leser von „Tausend

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Hier wird der Bezug zwischen der Rhizomkonzeption von Deleuze und Guattari zu Serres Konzept des Netzes deutlich. Auch er geht in seinem Begriff des Netzes von anti-hierarchischen Strukturen aus (Serres 1991: 9).

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Plateaus“ immer wieder konfrontiert wird. Bei einer genaueren Analyse zeigt sich aber, dass durch die augenscheinlichen Widersprüche das Konzept von Deleuze und Guattari seine Offenheit und Dynamik erst so richtig entfalten kann. Was wir bisher über das Rhizom wissen, dient uns jedenfalls schon mal als Ontologie, die in der Lage ist, die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten als rhizomartiges kulturelles Gefüge zu beschreiben.

E THNOGRAPHISCHES S CHREIBEN

UND

K ARTOGRAPHIE

An dieser Stelle muss die besondere Rolle des Schreibens betont werden, die im Zusammenhang mit dem Konzept des Rhizoms steht. Bei der Betrachtung von Kultur, Gesellschaft, Politik, Ökonomie und Kunst als Rhizom kommt dem Schreiben eine zentrale Bedeutung zu: „Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern damit, Land – und auch Neuland – zu vermessen und zu kartographieren“ (ebd. 14). Das von mir untersuchte Feld, in dem Wege zur digitalen Integration von Migranten gesucht und Maßnahmen für sie entwickelt werden, in denen Computer, Internet und andere neue Medien und Technologien als Werkzeuge betrachtet werden, die den Prozess der Integration fördern, stellt ein Neuland dar – zumindest aus der Perspektive ethnologischer Forschung.3 Zur Rolle des Schreibens in der Sozial- und Kulturforschung hat Giddens (1997: 339) betont, dass ein literarischer Stil „für die Genauigkeit sozialwissenschaftlicher Beschreibungen nicht nebensächlich“ ist. „Dies ist von einiger Bedeutung für die Frage, inwieweit ein bestimmtes Stück Sozialforschung ethnographisch ist – d.h. inwieweit eine Studie geschrieben ist, um ein gegebenes kulturelles Milieu anderen, die mit ihm nicht vertraut sind, zu beschreiben“. Der ethnographische Ansatz, meine Beobachtungen, Analysen und Ergebnisse als rhizomartige kulturelle Gefüge darzustellen, stellt zugleich eine Kartographie von Kultur im Kontext von Politik und Technologie dar. Das macht es - im Idealfall - für andere möglich, die „Karte“ zu lesen und zu verstehen. Auf diese Weise kann eine Nachvollziehbarkeit hergestellt werden, die es ermöglicht,

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In Bezug auf die Erforschung der kulturellen Praxis von neuen Medien und Technologien ist festzustellen, dass es bisher erst wenige Studien über die Praxis neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im interkulturellen Feld gibt, noch weniger speziell mit einem ethnologisch-kulturwissenschaftlichen Hintergrund (Lievrouw, Livingstone 2002: 9; Miller, Slater 2000: 21; Woolgar 2002).

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staatliche und nicht-staatliche Aktivitäten transparent zu machen. Diese Art des Schreibens steht in direkter Verbindung zu einem von sechs „Prinzipien“ des Rhizoms (Deleuze, Guattari 2002: 16ff). Als fünftes nennen sie das Prinzip der „Kartographie“ in einem Atemzug mit dem sechsten Prinzip, dem des „Abziehbildes“ (2002: 23). In Bezug auf die Gestalt des Rhizoms bedeutet das, dass es „eine Karte und keine Kopie ist“ (ebd.), wie sie es ausdrücken. „Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. […] Sie unterstützt die Verbindungen von Feldern, die Freisetzung organloser Körper und ihre maximale Ausbreitung auf einer Konsistenzebene. Sie ist selber Teil eines Rhizoms. Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation abgelegt werden.“ (Ebd. 23-24)

Die Kartographie ist also sehr dynamisch und lässt sich auf vielfältige Weise beschreiben und auch zerlegen. Dem ethnographischen Schreiben kommt hier eine wichtige Bedeutung zu. Eine möglichst detaillierte dichte Beschreibung ist notwendig, um eine Kartographie sprachlich fassbar zu machen. Eine Kartografie in dem Sinne ist mehr als eine Karte, auf der Zusammenhänge visuell dargestellt werden. Kartographieren kann als spezifische Form des ethnographischen Schreibens angewendet werden um die Zusammenhänge sprachlich sichtbar zu machen. Durch den Ansatz des Sichtbarmachens meines Untersuchungsfeldes im Sinne einer Kartographie, setze ich die von mir untersuchten Zusammenhänge in Nichtregierungsorganisationen, Ministerien, Aktionsprogrammen, Workshops und nicht zuletzt die Akteure in Verbindung zueinander. Die folgende Abbildung zeigt die Karte des kulturellen Gefüges (Plateaus), das ich zu Beginn der Forschung untersucht habe. Sie macht Teile des Feldes und die Beziehungsnetzwerke der Akteure visuell sichtbar. Auf der Abbildung sind die Begriffe Stiftung, Think Tank, Ministerium, Aktionsprogramm, Ministerium, Arbeitskreise, Kommissionen und Universität zu sehen, die ich im empirischen Teil der Arbeit ausführlich bespreche. Sie sind von verschieden großen Rechtecken umrahmt und stellen kulturelle, soziale, politische und wissenschaftliche Gefüge dar, in denen die kulturellen Praktiken der Akteure stattfinden. Die unterschiedliche Größe der Rechtecke, in denen die Gefüge dargestellt sind, hat nichts mit einer bestimmten Wertigkeit oder mit einer Hierarchie zwischen ihnen zu tun. Der

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Unterschied in der Darstellung gibt lediglich wieder, worauf im Rahmen meiner Feldforschung mein Hauptaugenmerk lag. Abbildung 1: Kartografie des Rhizoms

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2005

Die Verbindungen in Kombination mit der Vielfältigkeit der Gefüge, die sich durch die unterschiedliche Größe der Rechtecke auf der Abbildung ausdrücken, lassen sich direkt mit dem ersten („Konnexion“) und zweiten („Heterogenität“) Prinzip der Rhizomkonzeption bei Deleuze und Guattari in Verbindung bringen (2002: 16-17). Beide Prinzipien werden von den Autoren in einem Atemzug genannt. Sie wollen deren Bedeutung in ihrer Verknüpfung zueinander demonstrieren. „Jeder Punkt eines Rhizoms“, schreiben sie, „kann (und muss) mit jedem anderen verbunden werden. […] In einem Rhizom dagegen verweist nicht jeder Strang notwendigerweise auf einen linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mit biologischen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern auch unterschiedliche Sachverhalte“ (ebd. 16). Die Abbildung drückt aus, dass in den von mir untersuchten kulturellen Versammlungen eine Verbindung von jedem Punkt zu jedem anderen möglich ist. In der Empirie zeigt sich etwa, dass ein Internet-Experte, der in einem nationalen Think Tank eine bedeutende Rolle spielt, gleichzeitig Universitätsprofessor ist

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und somit ein wechselseitiger Verbindungsstrom zwischen dem Gefüge des Think Tanks und dem der Universität Bremen entsteht. Die Beziehungen sind durch gesprochene und geschriebene Sprache, den Austausch von Informationen, Ideen, Dokumenten, Dateien und nicht zuletzt durch das Pendeln von Akteuren zwischen den beiden Orten gekennzeichnet. Gleichzeitig ist der InternetExperte auch Vorsitzender einer großen Stiftung im Feld der digitalen Integration. Dieser Sachverhalt schafft neue Verbindungslinien, die jeweils eine unterschiedliche Intensität und Form haben. Die Verbindungen, die Deleuze und Guattari als Stränge bezeichnen, verweisen auf völlig unterschiedliche Sachverhalte. Diese zeigen sich auf der Abbildung in Form der unterschiedlich großen Rechtecke, die ihre jeweilige Bezeichnung begrenzen. Die Form der Rechtecke soll keineswegs eine Begrenzung darstellen, denn jeder Sachverhalt ist in sich offen und hat viele Verbindungslinien zu anderen Sachverhalten. So ist etwa die kontinuierlich fortschreitende Praxis von Experten in einem Think Tank ein anderer Sachverhalt, wie die Form und der Inhalt eines politischen Aktionsprogramms oder einer Sitzung eines Arbeitskreises in einem Ministerium. In den Fallstudien zeige ich das ausführlich und anschaulich. Die Abbildung zeigt aber noch einen weiteren Aspekt, der für das ethnographische (Be-) Schreiben und Kartographieren eine bedeutende Rolle spielt. Nach links unten und nach oben hin zeigt die Grafik offene Linien, die ins Nirgendwo führen. Links oben zeigt sich zudem eine Linie, die mit Nichts eine direkte Verbindung hat. Die offenen Linien demonstrieren die Offenheit des Rhizoms, die Deleuze und Guattari immer wieder propagieren. Gleichzeit stehen sie mit dem dritten Prinzip des Rhizoms in Verbindung. Die Autoren nennen dies das „Prinzip der Mannigfaltigkeit“ (Deleuze, Guattari 2002: 17-19). „Mannigfaltigkeiten werden durch das Außen definiert: durch die abstrakte Linie, die Flucht- oder Deterritorialisierungslinie, mit deren Verlauf sie sich verändern, indem sie sich mit anderen verbinden. Die Konsistenzebene (Raster) ist das Außen aller Mannigfaltigkeiten. Die Fluchtlinie markiert gleichzeitig: die Realität einer Anzahl von endlichen Dimensionen, die die Mannigfaltigkeit tatsächlich ausfüllt; die Unmöglichkeit, irgendeine Dimension hinzuzufügen, ohne dass sich die Mannigfaltigkeit dieser Linie entsprechend verändert; […].“ (Ebd. 19)

Die nach außen offenen Linien auf der Abbildung weisen also auf die Mannigfaltigkeit des Rhizoms hin. Sie zeigen aber indirekt auch die Veränderung der Mannigfaltigkeit einer Linie, wenn man ihr eine neue Dimension hinzufügt. Um im Bild des Rhizom zu bleiben, zeigen sich auch in meiner Studie eine Vielfalt von Dimensionen und Verbindungen zwischen ihnen. In der ethnographischen

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Wirklichkeit sind das die Akteure und Schauplätze, die ich in den Fallstudien ausführlich darstelle. Was bisher ausblieb, ist die Klärung eines Begriffs, der sich auf der voran gegangenen Abbildung befindet. Es handelt sich um den Begriff des Plateaus, mit dem ich mich wieder auf den Rhizombegriff bei Deleuze und Guattari beziehe. Aus ihrer Perspektive besteht ein Rhizom immer aus Plateaus. „Ein Plateau ist immer Mitte, hat weder Anfang noch Ende. Ein Rhizom besteht aus Plateaus. […] Wir bezeichnen jede Mannigfaltigkeit als ‚Plateau‘, die mit anderen Mannigfaltigkeiten durch äußerst feine unterirdische Stränge verbunden werden kann, so dass ein Rhizom entstehen und sich ausbreiten kann“ (Deleuze, Guattari 2002: 37).

Um dies deutlicher zu machen, hilft eine Definition Umberto Ecos. Demnach ist ein Rhizom „eine offene Karte, die in all ihren Dimensionen mit etwas anderem verbunden werden kann; es kann abgebaut, umgedreht und beständig verändert werden“ (Eco 1985: 126). Im Sinne von Deleuze und Guattari, sowie von Eco, betrachte ich die Mannigfaltigkeiten und Dimensionen in meiner Untersuchungsorte in Esslingen, Hannover und dem nationalen Kontext als verschiedene Plateaus, die ich je aus einer bestimmten Mitte heraus untersucht habe – aus der Perspektive eines städtischen Projekts, einer Nichtregierungsorganisation und eines nationalen Think Tanks. Wie die Plateaus jeweils aussehen, welche Praktiken dort stattfinden und wie dort Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben gerufen werden, zeige ich in den Fallstudien. Es lässt sich festhalten, dass das Plateau die sozialen, kulturellen und politischen Versammlungen und Akteure darstellt, die in dieser Arbeit im Fokus stehen. Betrachtet man alle Plateaus, die sich aus meiner Untersuchung ergeben zusammen, gibt es eine Parallele zu Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“. Dort heißt es: „Alles hing mit allem zusammen, alles konnte mysteriöse Analogien mit allem haben“ (Eco 1989: 196). Es gilt nun, einen theoretischen Zugang zu finden, der es erlaubt, die jeweiligen Gefüge und Ensembles, die Akteure und deren Verbindungen in ihnen und die Rolle von Technologien und Artefakten zu erklären. Es geht auch darum, zu zeigen, wie Technologien selbst zu handlungsfähigen Akteuren werden. Ich suche nach einer Konzeption, die es ermöglicht, alle beteiligten Untersuchungsgrößen, deren Verbindungen und Kommunikationsprozesse im Rhizom zu beschreiben, ohne den Bezug zur Empirie zu verlieren. Ein Ansatz, der in der Lage ist, dies zu leisten, ist die Actor-Network-Theory (ANT).

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A KTEUR -N ETZWERK -T HEORIE In diesem Buch habe ich bisher intensiv über Kultur und ihre Analyse nachgedacht. Beziehe ich die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen auf meine Empirie, stellt sich eine ganz bedeutende Frage: wie gestalten die konkreten Akteure in meinem Untersuchungsfeld die Versammlung, die wir Kultur nennen? Wie verbinden sie sich und welche Strategien wenden sie dabei an? Eine wichtige Erkenntnis aus meiner Studie ist, dass in meinem Forschungsfeld Vermittler von Wissen eine zentrale Rolle spielen. Ich bezeichne sie als kultureller Broker und New Mediators. Ihre Vermittlertätigkeit basiert auf Übersetzungsleistungen. Sie wirken maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung von Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten mit. Das Konzept der Übersetzung, wie ich es hier verwende, wurde in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entwickelt. Die ANT geht wesentlich auf französische und englische Ethnologen und Soziologen zurück. Ab etwa den 1980er Jahren entsteht durch die Arbeiten von Bruno Latour, Michel Callon, John Law und Madeleine Akrich die ANT.4 Die Autoren selbst, allen voran der Ethnologe Bruno Latour (2004), wollen ihre Arbeiten nicht als Theorie verstanden wissen, sondern verorten sie im Feld eines theoretischen Werkzeuges und eines methodischen Vorgehens. Genau genommen bietet die ANT eine hervorragende ethnographische Methode zur Beschreibung von empirischen Sachverhalten.5 Wichtig zu betonen ist, dass ich die ANT nicht im Sinne eines „theoretischen Rahmens“ anwende, da dies den Ideen der ANT widersprechen würde (vgl. Latour 2004). Obwohl sich Latour und seine Kollegen immer wieder dagegen wenden, ihre Arbeiten zur ANT als Theorie zu begreifen, so reihen sie sich doch in eine bestimmte Theoriediskussion ein. „Die AkteurNetzwerk-Theorie hat sich erfolgreich als eigenständige Position zwischen technischem und sozialem Determinismus in der Wissenschafts- und Technikforschung etabliert“ (Belliger, Krieger 2006: 10). Eine ihrer Hauptaussagen besteht darin, dass sie nicht von den üblichen Dichotomien ausgehen, die in der Sozialund Kulturtheorie die Diskussion bestimmen. Zentral geht es um die implizierte Dichotomie der Begriffe Gesellschaft und Natur oder Gesellschaft und Technik. Die ANT verfolgt im Gegensatz dazu einen Ansatz, in dem Technik nie als au-

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In ihrer im Juni 2006 erschienen Anthologie mit dem Titel „ANThology“ bezeichnen die Herausgeber Andréa Belliger und David J. Krieger diese Autoren auch als „Klassiker“ der Akteur-Netzwerk-Theorie.

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Besonders eindrucksvoll wird dies in einem Gespräch Bruno Latours mit einem seiner Studenten über die Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich (Latour 2004).

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ßerhalb von Gesellschaft imaginiert wird. Umgekehrt geht sie aber auch nicht davon aus, dass gesellschaftliche Entwicklungen durch Technik determiniert sind. Vielmehr eröffnet die ANT einen theoretischen Ansatz, in dem Gesellschaft und Technik als gemeinsame Realität betrachtet werden. Gesellschaftliche und technische Entwicklungen laufen demnach in gegenseitiger Wechselwirkung. Sie sind eng miteinander verzahnt. Um die Denkweise in der ANT zu verstehen, ist es wichtig, sich mit ihren zentralen Begriffen zu beschäftigen. Es handelt sich hier um die des Akteurs, der Versammlung, des Kollektivs und der Assoziation. Es ist ein Vokabular, das die ANT entwickelt hat, um eine eigene Sprache für die Beschreibung von Kultur und Gesellschaft zu haben. Die theoretischen Grundideen zu Kultur und Gesellschaft fügen sich fast nahtlos in die Konzeption des Netzes und des Rhizom, wie ich sie in den voran gegangenen Abschnitten beschrieben habe. Kultur, Gesellschaft und die vielfältigen Praktiken der Handelnden konstituieren sich im 21. Jahrhundert in Netzen. Während ich bisher verdeutlichte, was sich daraus für die Konzeption von Kultur und Gesellschaft ergibt, gehe ich nun der Frage nach, wie sich kulturelle und soziale Praxis vollzieht und ethnographisch beschreiben lässt. Weil sich die ANT gezielt von der modernen Sozialund Kulturtheorie abheben will, wählt sie ein spezifisches Vokabular. Untersuchungseinheiten, die für gewöhnlich als Kultur, Gesellschaft oder Netzkultur bezeichnet werden, heißen in der ANT Assoziation, Kollektiv oder Versammlung. An dieses Vokabular muss man sich erst einmal gewöhnen und lernen es zu verwenden. Bevor ich mich der spezifischen Sprache und den konzeptionellen Ideen der ANT widme, erachte ich es für wichtig, noch ein paar Worte zum Grundverständnis dieser Denkrichtung zu verlieren. Aus meiner Sicht gibt es drei wesentliche Kennzeichen der ANT. Die Vertreter der ANT gehen davon aus, dass gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung nicht linear verläuft. Damit grenzen sie sich von den klassischen Sozialund Kulturwissenschaften paradigmatisch ab. Gegenwärtige Gesellschaften lassen sich demnach nicht einfach dadurch erklären, indem man sie in ihrer Entwicklung darstellt. Ein zweites Merkmal ist die Fokussierung auf den Akteur und seinen Praktiken. Die ANT macht materialreich und ethnographisch die Akteure sichtbar und beobachtet genau, was sie tun. Ein spezifisches Interesse hat die ANT an den Handlungen der Akteure und hier insbesondere an den Übersetzungsleistungen. Das sind die Prozesse, in denen ausgehandelt und überzeugt wird, um die eigenen Ideen zu entwickeln und umzusetzen. In Bezug zum Akteur kommt ein weiteres Kennzeichen hinzu, mit dem die ANT bekannt geworden ist. Sie interessiert sich nämlich auch für Dinge. Damit rekurriert man einerseits auf die materielle Kultur. Andererseits ist das Ding in seiner soziokulturel-

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len, politischen, philosophischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung auch immer schon mehr gewesen (vgl. Appadurai 1986; Latour 2002, 2005 b, 2010). Um Dinge versammeln sich Akteure, die dabei selbst zu Handelnden werden können – Latour spricht hier von nicht-menschlichen Akteuren (Latour 2002: 211-264). In seinem Hauptwerk zur ANT treten diese Kennzeichen zu Tage. Mit seiner Sprache fokussiert er Kultur und Gesellschaft, zerlegt sie feingliedrig indem er sie ethnographisch beschreibt und setzt sie auf der Basis seiner Erkenntnisse aus der Empirie neu zusammen. Dadurch zeichnet er ein Bild der Gesellschaft, wie wir sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorfinden.

K OLLEKTIVE , V ERSAMMLUNGEN

UND

A KTEURE

Um diesen Gedankengang zu vertiefen und die Sprache der ANT weiter einzuführen, erscheint es mir notwendig, die Welt des 21. Jahrhunderts kurz zu skizzieren. Im Zuge einer zunehmend von neuen Medien und (bio)technologischen Erfindungen geprägten Zeit tritt das Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Technologie immer stärker in den Vordergrund. Menschen haben heute Herzschrittmacher und Rennläufer tragen kleine Mikrochips, mit denen ihre Zeiten gemessen werden. Mit Paybackkarten verfolgen Kaufhäuser die Konsumgewohnheiten ihrer Kunden und mit Passwörtern und digitalen Identitäten betreten Menschen die Welt der sozialen Medien. Die kleinen Beispiele zeigen, wie heute individuelle und kollektive kulturelle, soziale, politische und ökonomische Praktiken mit technologischen Entwicklungen verschmolzen sind. Oder, wie stark man im digitalen Abseits stehen kann, wenn man mit diesen Entwicklungen nichts zu tun hat. Längst sind die Grenzen zwischen Menschen, Kultur und Gesellschaft auf der einen und der Technologie auf der anderen Seite schwammig geworden. Am eindrucksvollsten zeigt sich das im Bereich der Imagination, Phantasie und Kunst, in der immer wieder neue Fiktionen entstehen, die die Vermischung von Mensch, Gesellschaft und Technologie thematisieren. Ein Beispiel dafür ist der Film Matrix. Die Welt ist hier ein multidimensionaler Raum, in dem Menschen, nichtmenschliche Wesen wie Cyborgs6, Teilchen

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Es gibt eine weitreichende Diskussion, was ein Cyborg ist. Zusammenfassend sei an dieser Stelle gesagt, dass es sich um ein Mischwesen handelt, das aus menschlichem Organismus und Maschine besteht. In der wissenschaftlichen Diskussion ist der Begriff durch Donna Haraways (1991) „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“ bekannt geworden.

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und cyberaktive Handlungen von Menschen und Maschinen den Alltag prägen. In dem Science Fiction mit den Hauptdarstellern Keanu Reeves und Laurence Fishburne offenbaren sich dem Zuschauer menschliche und nicht-menschliche Wesen als handelnde Akteure, – Bruno Latour (2002) würde sie als Aktanten bezeichnen – die das Geschehen in der Welt mit ihren Handlungen gestalten und somit gleichermaßen die Sinnstifter von Kultur sind. Anders als in der Imagination des Films geht es in meiner Studie um Tatsachen in der realen Welt. Nicht nur in der Fiktion von Filmen wie Matrix oder Terminator, sondern auch in zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen, allen voran in den Debatten der Postmoderne, widmen sich die jeweiligen Protagonisten dem Thema mit dem Begriff der Maschine. Eine Maschine wird in der Denkrichtung nicht als reines Werkzeug der Produktion angesehen, die mechanisch funktioniert, sondern als Aggregat, in dem Menschen und Technologien miteinander eine untrennbare Verbindung eingehen und kulturelle und gesellschaftliche Praxis prägen. Ein treffendes Konzept ist das der „Wunschmaschine“ (Deleuze, Guattari 1992: 7-64; 497-521), in dem sich nicht nur eine Kritik am Marxismus und an der Psychoanalyse äußert, sondern in dem auch die Mensch-Maschine Systeme diskutiert werden. Wunschmaschinen sind dem zur Folge sowohl gesellschaftlich und kulturell wie auch technisch in einem. Damit wird ausgedrückt, dass Akteure, gesellschaftliche Zusammenhänge und Technologien in Beziehung zueinander geraten. Dadurch werden die Grenzen zwischen ihnen durchlässig oder verschwinden ganz. Da der Wunsch der Motor der Maschine ist, stellt die Wunschmaschine eine Art maschinell gedachtes Unbewusstes dar. Die „Erfinder“ der Wunschmaschine kritisieren die klassische Interpretation des „Wunsches als Mangel“. Der Wunsch und die Wunschmaschine werden als immer laufender Motor betrachtet, der die Verbindung von Menschen, Kultur, Gesellschaft und Technologie fortwährend schafft. „Zum ersten sind die Wunschmaschinen wohl den technischen und gesellschaftlichen Maschinen gleich, bilden aber gewissermaßen deren Unbewusstes: sie manifestieren und mobilisieren die libidinösen Besetzungen (Wunschbesetzungen), die den bewussten und vorbewußten Besetzungen (Interessenbesetzungen) eines bestimmten gesellschaftlichen Feldes in Ökonomie, Politik und Technik ‚entsprechen’. Dies meint keineswegs ähnlich sein: es geht um eine andere Verteilung, eine andere ‚Karte’, die nicht mehr die herrschenden Interessen in einer Gesellschaft, nicht die Aufteilung des Möglichen und Unmöglichen, nicht die Zwänge und Freiheiten, kurz all das nicht betrifft, was die konstitutiven Bedingungen einer Gesellschaft (ihrer spezifischen Rationalität) ausmacht. Unterhalb dieser Rationalitätsstruktur existieren ungewöhnliche Formen eines Wunsches, der die Ströme als

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solche und ihre Einschnitte besetzt, der nicht aufhört, an der Basis der Gesellschaft die Zufallsfaktoren, die weniger wahrscheinlichen Figuren, die Treffen unabhängiger Serien zu produzieren […].“ (Deleuze, Guattari 1992: 517-518)

In einer Wunschmaschine zeigen sich nicht nur Verbindungen zwischen Menschen, gesellschaftlichen Feldern und Technologien, sondern es offenbart sich auch die Dynamik der Verbindungen in einer Wunschmaschine, in der sich der endlos gedachte gesellschaftliche Strom äußert. Sie demonstriert ein dichtes Beziehungsgeflecht und hat für den Einzelnen, genauso wie für kulturelle und soziale Gefüge, eine konstruktive Macht. Mit dem Konzept der Wunschmaschine, das zeigt sich in dem Zitat, eröffnet sich die Möglichkeit, Kultur und Gesellschaft auf andere Art und Weise zu konzeptionalisieren. Denn in der Denkweise verabschieden sich die Autoren von Konzeptionen, in denen es feste konstitutive Elemente wie Produktionsweisen, Sozialstrukturen oder die Psyche gibt. Diese Sichtweise macht es in meinem Untersuchungsfeld möglich, die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten unter dem Gesichtspunkt ihrer tatsächlichen Praktiken, die ein dichtes Beziehungsgeflecht konstituieren, zu analysieren. Durch die Konzeption rückt der Alltag der Akteure, die die Strategien entwickeln und jenen, die das Ziel der Strategieentwicklung sind, in den Mittelpunkt. Damit will ich ausdrücken, dass ich bei der Erforschung der Rolle von Akteuren, deren Beziehungen zueinander, Computern, dem Internet, Softwareanwendungen, digitaler Fotografie, dem Chatten und Surfen in Prozessen zur Integration von Migranten immer den Fokus darauf hatte, was die von mir untersuchten Menschen tatsächlich gemacht haben. Gleichzeitig habe ich einen Blick darauf gelegt, wie die Möglichkeiten von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bei der Mitgestaltung kommunikativer, sozialer und kultureller Prozesse zum Tragen kommt, wie sie also selbst zu handelnden Akteuren werden.7 In meinen Fallstudien wird deutlich, dass einige der Akteure im Untersuchungsfeld neue Medien sehr positiv belegen und sie als wichtige gesellschaftliche Werkzeuge betrachten. In ihren Vorstellungen von Kultur und sozialen Prozessen schreiben sie Computern, dem Internet und den daraus resultierenden Möglichkeiten eine aktive Rolle in Integrationsprozessen zu. Gleichzeitig gibt es

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Im Verlauf dieses Kapitels wird deutlich, wie die Begriffe menschliche und nichtmenschliche Wesen verwendet werden. An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass in meiner theoretischen Betrachtung beide als Akteure begriffen werden, die handlungsfähig sind (vgl. Latour 2002).

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aber auch die „Mahner“, die vor den Gefahren neuer Medien und einem inkompetenten Umgang mit ihnen warnen. Interessanterweise werden zwar neue technologische Entwicklungen und Erfindungen immer mit positiven und negativen Bedeutungen belegt, gemeinsam ist jedoch allen Akteuren, dass sie in ihren Handlungen und Einstellungen auf verschiedenen Ebenen vernetzt miteinander agieren und selbst neue Medien und Technologien nutzen. Es wird sichtbar, dass in den verschiedenen Macht-, Kommunikations- und Austauschbeziehungen auch nichtmenschliche Akteure wie bedeutende Texte, PDF-Vorträge, Computer, Zugangsplätze oder Schreibtische eine wichtige Rolle spielen. Hier wird die Auflösung von Dichotomien deutlich, in denen Subjekte (menschliche Akteure) Handlungsfähigkeit besitzen und Objekte (Materielles, Dinge, Artefakte) passiven Charakter haben. In einer dichotomen Auffassung wird dem Bereich des Materiellen höchstens insofern Aktivität zugeschrieben, dass „Dinge“ zirkulieren können. Dazu benötigen sie aber immer die Hilfe von handlungsfähigen menschlichen Akteuren. In der Sichtweise, die ich vertrete, wird die Dichotomie aufgelöst, indem ich davon ausgehe und im empirischen Teil zeige, dass sowohl menschliche wie auch nicht-menschliche Akteure Handlungsfähigkeit besitzen. Bevor ich die Akteure im Rahmen ihrer Handlungen genauer beschreibe, gilt es zu zeigen, wie sie miteinander in Verbindung stehen und welche theoretischen Konzepte es gibt, das zu verdeutlichen. Das mache ich in den nächsten Abschnitten sichtbar.

G EGENWÄRTIGE G ESELLSCHAFT Um das Gesellschaftskonzept der ANT zu verdeutlichen, eignet sich nichts besser, als die Empirie meiner Studie heranzuziehen. In der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten zeigen sich Bezüge zu einem komplexen kulturellen und gesellschaftlichen Feld. Einerseits werden in den Prozessen, die sich in dem Rahmen vollziehen, Computer, Internet & Co. als Werkzeuge zur sozialen, politischen und bürokratischen Organisation genutzt. Andererseits ergeben sich aus meinem Gegenstand auch vielfältige gesellschaftliche Diskurse und Handlungen, die sich mit dem Thema der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in die deutsche Gesellschaft beschäftigen. Welche Bedeutungen haben die Akteure und deren Beziehungsnetzwerke in Berlin, Düsseldorf, Bremen, Esslingen und Hannover für Kultur und Gesellschaft? Was ergibt sich daraus für meine analytische Werkzeugkiste? In Bezug zum Gesellschaftsbegriff entwickelte Bruno Latour eine Idee, die bis heute sehr bedeutend für das Verständnis der ANT ist. Ganz zentral ist, dass Gesell-

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schaft im Gegensatz zu gängigen (soziologischen) Theorien seit Durkheim nicht mehr als etwas von vornherein Gegebenes begriffen wird.8 Latour propagiert, „von einem vergangenen zu einem gegenwärtigen Ursprung der Gesellschaft“ (Latour 2006 b: 200) zu kommen. „Seit Durkheim haben Sozialwissenschaftler die politische Philosophie als Vorgeschichte ihrer Wissenschaft betrachtet. Erst nachdem die Soziologie damit aufgehört hatte, über die Ursprünge von Gesellschaft zu streiten und stattdessen mit der Idee einer allumfassenden Gesellschaft begonnen hatte, die dazu verwendet werden konnte, verschiedene interessante Phänomene zu erklären, war sie zu einer positiven Wissenschaft geworden. Die Frage nach dem Ursprung wurde zu einem dieser obsoleten Probleme, die man besser den Philosophen überlässt.“ (Ebd.)

Latour wendet sich dagegen, vorgegebene konstitutive Bedingungen von Gesellschaft, wie kapitalistische und soziale Strukturen, globale Gegebenheiten oder verschiedene Gesellschaftstypen wie Stammes-, kapitalistische oder sozialistische Gesellschaften als Erklärungsmodell für kulturelle, soziale, ökonomische und politische Phänomene zu verwenden (vgl. Deleuze, Guattari 1992: 517518). Vielmehr plädiert Latour dafür, Gesellschaft und ihr kontinuierliches Zustandekommen aus der Gegenwartsperspektive zu untersuchen. Damit meint er, dass die Natur von Gesellschaft immer eine verhandelbare, praktische und revidierbare Sache ist, was er selbst als „performativ“ (Latour 2006 b: 195) bezeichnet. Er wendet sich von einer Gesellschaftskonzeption ab, in der Gesellschaft vom Ethnologen/Soziologen, der versucht außerhalb zu stehen, endgültig bestimmt und festgelegt werden kann. Das bezeichnet Latour als „ostensive“ Auffassung von Gesellschaft (ebd.). Bei der Untersuchung von Gesellschaft geht es darum, die Praxis zu analysieren, die aus den Handlungen und Kommunikationspraktiken von Akteuren besteht. „Diese Position eröffnet wiederum ein anderes Problem: Wenn Gesellschaft erst vor unseren Augen gemacht wird, kann sie unser Verhalten nicht erklären, sondern wird eher durch unser kollektives Verhalten geformt“ (Latour 2006 b: 204). Deshalb ist es im Rahmen meiner Studie

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Die verschiedenen theoretischen Richtungen innerhalb der Ethnologie, Soziologie und den Disziplinen, die Sich mit Wissenschafts- und Technologieforschung beschäftigen, spannen ein weites Feld auf. Auf die verschiedenen Theorieströmungen einzugehen, ist ein eigenes Unterfangen. Einen guten Überblick über unterschiedliche Strömungen gibt Restivo (1995: 95-110) im „Handbook of Science and Technology Studies“ von Jasanoff et. al (1995).

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wichtig, darzustellen, was meine Informanten für eine Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten einnehmen, in welcher Beziehung sie zueinander stehen, welche Rolle nichtmenschliche Wesen wie Computer, Programme und Dokumente einnehmen und wie sie in einem eng verflochtenen Beziehungsgeflecht durch ihre Handlungen die kulturelle und soziale Praxis gestalten. Es muss demzufolge auch das kollektive Verhalten aller Akteure untersucht werden, die für die „Formung“ von Gesellschaft verantwortlich sind. Negri und Hardt (2000) haben das kollektive Verhalten mit dem Begriff des „General Intellect“ als eine Form kollektiver Intelligenz beschrieben, auf der gesellschaftliches und kulturelles Handeln basiert. Pasquinelli weist in dem Zusammenhang darauf hin, statt über einen General Intellect besser von General Intellects im Plural zu sprechen. „Kollektive Intelligenz nimmt viele Formen an. Manche können zu totalitären Systemen werden, wie etwa die militärisch-managerhafte Ideologie der Neocons um George Bush oder die des Microsoft-Empire. Andere können in sozialdemokratischen Bürokratien verkörpert sein, im Apparat der Polizeikontrolle, der Mathematik der BörsenspekulantInnen, der Architektur unserer Städte (jeden Tag gehen wir durch/über Konkretionen kollektiver Intelligenz).“ (Pasquinelli 2004: 1)

Kollektive Intelligenz ist an der Formung gesellschaftlicher und kultureller Gefüge beteiligt. Auch der Organisation von multiethnischen Lebensumfeldern durch neue Medien und Technologien und den daraus resultierenden integrativen Prozessen, die die soziale und kulturelle Praxis konstituieren, ist eine kollektive Intelligenz implizit. Denn die handelnden Akteure in Berlin, Bremen, Düsseldorf, Esslingen und Hannover wissen, was sie tun und warum sie es tun, wenn sie die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten voran bringen. Wichtig ist, dass die Analyse ihren Schwerpunkt weder auf die handelnden Akteure, noch auf die gesellschaftlichen Strukturen legen darf. In Bezug auf meinen Untersuchungsgegenstand impliziert das, die verschiedenen Akteure nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Handlungen in lokalen Computer- und Internetprojekten zu analysieren, sondern gleichzeitig auf deren gesellschaftliche und politische Bedingungen Bezug zu nehmen. Ich mache deutlich, wie die lokalen Praktiken von Menschen in Berlin, Bremen, Düsseldorf, Esslingen und Hannover einerseits gesellschaftliche Bedingungen schaffen und sich ihr Handeln andererseits aus diesen ergibt. Giddens hat das als die „Dualität von Handlung und Struktur“ bezeichnet, durch die er den „Dualismus von

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‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘“ ersetzt (ebd. 216). Damit ist es möglich, die störende Trennung der Perspektiven zu überwinden. Für die Analyse bedeutet es, sowohl den handelnden Akteur, wie auch die Bedingungen seines Handelns in ihrer rekursiven Wechselwirkung zu untersuchen. Die ANT geht aber noch einen Schritt weiter, indem der Begriff der Gesellschaft immer mehr verworfen wird, weil er als Erklärungsmodell und als Ursache von Handlungen unterschiedlicher Akteure nicht mehr brauchbar ist – das habe ich in diesem Abschnitt dargelegt. Wie die ANT hier vorgeht, zeige ich in den folgenden Abschnitten.

A SSOZIATIONEN

UND

K OLLEKTIVE

Die Menschen, die in meinem Untersuchungsfeld eine Rolle als kulturell vermittelnde Akteure spielen, entwickeln Strategien zur digitalen Integration von Migranten, indem sie sich versammeln. Sie rufen Projekte ins Leben, die Wissen über die Nutzung von Computer und Internet verbreiten und sie unterrichten in Computerkursen. Außerdem diskutieren sie in den Stadtteilen das Thema der Integration und binden durch ihre zueinander verflochtenen Handlungen nicht nur Migranten in soziale Prozesse ein, sondern auch Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Auf diese Weise schaffen sie durch ihre Handlungen, Kommunikationsprozesse und Übersetzungsleistungen ein dichtes Netz aus Menschen, Orten und Technologien. Hier zeigen sich starke Bezüge zu den Konzeptionen von „Kultur als Rhizom“ und der „Wunschmaschine“. Ähnlich wie Latour (2006 b: 195-212) gehen Deleuze und Guattari (2002: 11-42) davon aus, dass Kultur und Gesellschaft von Menschen „gemacht“ wird. Interessant ist nun, dass sich sowohl Deleuze und Guattari, wie auch Latour vom (gängigen) Begriff der Gesellschaft fast ganz verabschieden. Während die einen mit ihrem Begriff des Rhizom und der Wunschmaschine ein umfangreiches Konzept der Beschreibung und Analyse propagieren, führt Latour für die ANT die Begriffe der „Assoziation“ (Latour 2006 b: 209-211) und des „Kollektivs“ (ebd. 2002: 236-264) ein. Mit den beiden Konzeptionen nähern sich die Vertreter der ANT den Phänomenen, die im Fokus ihrer Forschungen stehen.9 Latour (ebd.) plädiert unter Bezugnahme auf den Begriff der Assoziation dafür, dass sich Sozialwissenschaft „von der Erforschung der Gesellschaft zur Erforschung der Assoziati-

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Forschungen im Bereich der „Science and Technology Studies“ angesiedelt sind.

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onen“ wandeln sollte. Im übertragenen Sinne dient das Konzept dem Forscher die Handlungen, Verbindungen und Kommunikationsprozesse von Akteuren sichtbar zu machen, die im Rahmen eines bestimmten Phänomens relevant sind. „Wenn diese neue Definition akzeptiert wird, steht dem Wissenschaftler eine andere Art von Erklärung zur Verfügung. Er oder sie kann alle Kräfte verwenden, die in unserer menschlichen Welt zur Erklärung dessen mobilisiert werden, weshalb wir verbunden sind und einige Anordnungen gehorsam befolgt werden, andere hingegen nicht.“ (Latour 2006 b: 210)

Das zeigt, wie sehr es bei der ANT darauf ankommt, genau zu untersuchen, wie Assoziationen zustande kommen und was sie zusammenhält. Es geht darum, die Verbindungen zwischen all jenen Elementen, Personen und Akteuren zu untersuchen, die miteinander im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und politischer Prozesse und Sachverhalte assoziiert sind. Die Aufgabe des Forschers bei der Untersuchung von „Gesellschaft“ besteht also nicht im „Studium des Sozialen“, sondern „im Studium der Assoziationsmethoden“ (ebd. 195-196). Die Praktiken und Taktiken, die Akteure nutzen, um vielfältige Verbindungen einzugehen, zeige ich in Kürze. Zunächst erörtere ich den Begriff des „Kollektiven“, den Latour neben dem Begriff der Assoziation als Alternative zum Begriff der Gesellschaft vorschlägt. Der Begriff des Kollektivs ist von zentraler Bedeutung, um zu verstehen, in welche theoretische Richtung sich die ANT bewegt. Zu Beginn des Kapitels habe ich bereits angedeutet, dass die Vertreter der ANT ein Theorieverständnis haben, in dem die klassischen soziologischen Dichotomien von „Kultur und Natur“ sowie von „Gesellschaft und Technik“ aufgelöst werden. Im Rahmen der Erforschung der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten bedeutet dies, dass die Analyse des Phänomens weder aus einer sozial- noch aus einer technikdeterministischen Perspektive erfolgt. Da gerade in meinem Forschungsfeld Technologien wie das Internet, Computer, Kabelnetze, digitale Dokumente, Emails oder Telefone eine wichtige Bedeutung haben, entwickle ich eine Perspektive, in der Technologie nicht außerhalb von „Gesellschaft“ liegt. Viel mehr gibt es ein enges Verhältnis von Menschen, Gesellschaft und Technologie, und das Konzept des Kollektivs erlaubt es, das zu thematisieren. Aber nicht nur das, denn es versetzt uns auch in die Lage, die Verbindungen von Personen in meinem Forschungsfeld nicht „nur“ durch ihre Technologien, die sie nutzen, zu charakterisieren. Im Kern geht es Latour darum, den Dualismus von Subjekten (Personen) und Objekten (Materielles) zu umgehen.

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„Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu umgehen und statt dessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen.“ (Latour 2002: 236-237)

Die Praxis der Verflechtung steht im Zentrum meiner Studie. Im empirischen Teil präsentiere ich diese ausführlich. Um jedoch an dieser Stelle zu verdeutlichen, wie ein Kollektiv in der Praxis aussieht, zeige ich an einem ethnographischen Beispiel, wie Menschen und nicht-menschliche Wesen auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden sind. „Anders als Gesellschaft, ein von der modernen Übereinkunft aufgezwungenes Artefakt, bezieht sich der Begriff ‚Kollektiv‘ auf Assoziierungen von Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Während die Aufspaltung zwischen Natur und Gesellschaft den politischen Prozess unsichtbar macht, durch den der Kosmos in einem lebbaren Ganzen versammelt wird, rückt er durch das Wort ‚Kollektiv‘ wieder ins Zentrum. Dessen Slogan könnte lauten: Keine Realität ohne Repräsentation.“ (Latour 2002: 376)

Die Repräsentation, die Latour als Voraussetzung für Realität nennt, zeigt sich an meinem Untersuchungsgegenstand auf unterschiedliche Art und Weise. Ein Beispiel, an dem sich ein Kollektiv und seine unterschiedlichen Assoziationen demonstrieren lassen, ist das Umfeld der Stiftung Digitale Chancen und des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. In dem Setting habe ich zu Beginn meiner Forschung untersucht, wie auf politischer Ebene über Strategien zur digitalen Integration von Migranten nachgedacht und gehandelt wird. Es ging darum, herauszufinden, was digitale Integration bedeutet und wer die Beteiligten des Prozesses sind, in dem Strategien zur digitalen Integration entwickelt werden. Das Kollektiv besteht aus einer ganzen Reihe von Assoziierungen von Menschen und nicht- menschlichen Wesen. Um die Darstellung übersichtlich zu halten, zeige ich nur ganz zentrale Akteure. Der Wissenschaftler ist Professor, Berater, Experte und Stiftungsvorstand von internationalem Rang und Namen. Ich nenne ihn aufgrund seiner unzähligen Kontakte, seiner immensen Schaffenskraft und Kommunikationsstärke den „Entrepreneur“. Er war für den Aufbau der Stiftung Digitale Chancen verantwortlich. Die Stiftung ging aus einem Netzwerk hervor, das von Anfang an unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie stand. Das Netzwerk und seit 2004 die Stiftung haben es sich zur Aufgabe gemacht, eine zentrale Schnittstelle für Fragen der digitalen Integration in Deutschland zu sein. Eines ihrer Schwerpunktthemen ist die Frage der digitalen Integra-

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tion von Migranten. Der Entrepreneur hat aus seinem Forschungsgebiet heraus das Netzwerk Digitale Chancen gegründet. In seiner Doppelrolle als Wissenschaftler und Netzwerk-Vorstand hat er durch das Engagement von AOL in der Stiftung nicht nur die Verbindung zur Wirtschaft aufgebaut, sondern durch die Schirmherrschaft des Wirtschaftsministers gleichzeitig eine wichtige Verbindung zur Politik hergestellt. Die Geschäftsführerin ist eine weitere Person, die in dem von mir dargestellten Kollektiv eine wichtige Rolle spielt. Sie ist Expertin in Fragen der digitalen Integration in Deutschland und international bestens vernetzt. Sie hat auch tatsächlich diese Position in der Stiftung Digitale Chancen und ist dort für das Tagesgeschäft verantwortlich. Einen wichtigen Arbeitsbereich stellt für sie das Internetportal dar, auf dem die Stiftung Informationen zur digitalen Integration für unterschiedliche Zielgruppen zur Verfügung stellt. Sie hat im Verlauf der Zeit ein umfangreiches Netzwerk aus Experten aufgebaut, die aus unterschiedlichen Perspektiven im Feld der digitalen Medien aktiv sind. Ein Teil von ihnen ist als Redaktionspartner mit der Stiftung assoziiert. In der Praxis sieht das so aus, dass es von Zeit zu Zeit Begegnungen aller Redaktionspartner gibt, in denen sie sich zu neuesten Entwicklungen im Feld der digitalen Integration in Workshops austauschen. Neben dem Entrepreneur und der Geschäftsführerin ist die Internetplattform ein wichtiger nicht-menschlicher Akteur im Kollektiv. Die Internetplattform stellt eine Assoziation dar, in der Menschen und nicht-menschliche Wesen miteinander verflochten sind. Einerseits sind dies die Redaktionspartner, Webmaster und Verantwortlichen des Internetauftritts der Stiftung. Andererseits sind die Server, Computer, Dokumente, Webseiten und Kabelleitungen von Bedeutung. Im Rahmen verschiedener Handlungen und Kommunikationsprozesse stellen sie die Internetplattform her. Sie ist durch vielfältige Verflechtungen von Akteuren charakterisiert und verbindet diese zu einer großen Zahl an Besuchern der Internetseiten der Stiftung. Es gibt eine weitere Assoziation des von mir untersuchten Kollektivs. Angesprochen ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, das der Schirmherr der Stiftung ist. Eine wichtige Rolle spielt ein Akteur, den ich als den Staatssekretär bezeichne. Durch ihn, die Geschäftsführerin und den Entrepreneur kommunizieren die Stiftung und das Ministerium miteinander. Er ist der Vertreter einer Assoziation aus Politikern, Beamten und Sachverständigen, die Vorstellungen entwickeln, welche Rolle neue Medien und Technologien in gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen spielen sollen. Der Staatssekretär bündelt und kommuniziert die Vorstellungen und Ideen an die Stiftung. Außerdem versuchen die Geschäftsführerin und der Staatssekretär ein Netzwerk von

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Experten zu etablieren, die in einem permanenten Austausch stehen und auf diese Weise die grundlegenden Richtungen entwickeln, in die digitale Integration laufen soll. Die Experten vertreten verschiedene Fachlichkeiten wie Forschung, Politik, Bürokratie, Sozialarbeit und Interessenvertretung. Zwei der Experten, Herr W. und Herr G., sind meine Schlüsselinformanten. Sie spielen in meinem Untersuchungsfeld als Vermittler und New Mediators eine zentrale Rolle. Ich bezeichne sie im Folgenden als die Unermüdlichen. Als Projektleiter in Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen und Hannover repräsentieren sie die Seite der Umsetzung von politischen Strategien vor Ort. Meine Forschung hat ergeben, dass sie unermüdlich dafür eintreten, die digitale Integration von Migranten in die Praxis umzusetzen. In den Fallstudien wird es darum gehen, diese kollektiven Verbindungslinien darzustellen und ethnographisch anschaulich zu machen. Um nun die Dynamiken des von mir untersuchten Phänomens herauszuarbeiten, muss ein Weg gefunden werden, der es ermöglicht, das Kollektiv und seine Bewegungen sichtbar zu machen. Bruno Latour (2002: 237ff) plädiert dafür, eine Art Diagramm zu finden, „in dem sich darstellen ließe, wie ein gegebenes Kollektiv seinen Aufbau verändern kann, indem es verschiedene Assoziationen artikuliert“. In seiner typischen, oft mehrdeutigen Art zu schreiben10, stellt er gleichzeitig fest, dass die Erstellung eines solchen Diagramms unmöglich ist. Er macht deutlich, dass er damit gerne eine Reihe miteinander zusammenhängender Bewegungen verfolgen würde: „Erstens wäre darin die Übersetzung zu finden, mit der wir verschiedene Arten von Materie artikulieren; zweitens die Überkreuzung oder das Crossover, wie ich es mit dem Bild aus der Genetik bezeichnen will, das im Austausch von Eigenschaften zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen besteht; drittens ein Schritt, der Rekrutierung genannt werden könnte und durch den ein nichtmenschliches Wesen dazu gebracht, manipuliert, verführt wird, ins Kollektiv einzutreten; viertens, wie wir es bei Joliot und seinen militärischen Klienten gesehen haben, die Mobilisierung von nichtmenschlichen Wesen innerhalb des Kollektivs, wodurch neue unerwartete Ressourcen hinzukommen und seltsame Hybride erzeugt werden; und schließlich müsste in diesem Diagramm noch die Verlagerung verzeichnet sein, d.h. die vom Kollektiv eingeschlagene Richtung, nachdem seine

10 Einen sehr guten Einstieg ins bessere Verständnis von Latour und dessen oft komplexe und komplizierte Schreibweise bietet Kraus (2006) in seinem Artikel „Bruno Latour: Making Things Public.“

76 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? Gestalt, Ausdehnung und Zusammensetzung durch Rekrutierung und Mobilisierung neuer Aktanten verändert worden sind.“ (Latour 2002: 237).

Wie das ausführliche Zitat von Latour zeigt, gibt es eine ganze Reihe von wichtigen Begriffen, die zu beachten sind, wenn man den Versuch unternimmt, den Prozess der Bewegung und Veränderung eines Kollektivs darzustellen. Im nächsten Abschnitt gehe ich nun auf die Begriffe ein, die dazu notwendig sind, um zu verstehen, wie sich das Kollektiv, das die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten gestaltet, im Verlaufe der Zeit verändert. Zentral in der ANT ist an der Stelle der im letzten Zitat angesprochene Begriff der Übersetzung. Mit ihm mache ich nicht nur deutlich, welche Rolle er für das Konzept des Kollektivs hat, sondern auch, welche Bezüge sich daraus für die Akteursebene ergeben. Um die Verbindungen der Akteure zueinander, die sich im Kollektiv in verschiedenen Assoziationen artikulieren, genau zu analysieren, ist es zudem notwendig, die Frage der Macht zu berücksichtigen. Im folgenden Abschnitt zeige ich deshalb, was für eine Rolle Macht für die Verbindungen zwischen Akteuren hat und welche Bedeutung das Konzept der Übersetzung für die Dynamik und Wandelbarkeit eines Kollektivs hat. Um das anschaulich zu machen, demonstriere ich mein Vorhaben wieder mit den Geschichten und Verflechtungen des Entrepreneurs, der Geschäftsführerin, des Staatssekretärs und der Unermüdlichen, die wir weiter oben bereits kennen gelernt haben.

Ü BERSETZUNG

ALS ZENTRALER KULTURELLER

P ROZESS

In den vergangenen Abschnitten habe ich das Vokabular aus der AkteurNetzwerk-Theorie eingeführt und vertieft. Es wurde deutlich, dass Begriffe des Kollektivs und seiner Assoziierungen genutzt werden, um das zu bezeichnen, was von Soziologen „Gesellschaft“11 genannt wird. Ich habe am Beispiel wichtiger Akteure und deren Verbindungen zueinander verdeutlicht, wie so ein Kollektiv in der Praxis aussieht. Außerdem habe ich offen gelegt, dass in der politischen und kulturellen Praxis nicht nur menschliche, sondern auch nichtmenschliche Akteure von Bedeutung sind. Auf die Weise ist ein Bild meines

11 Warum „Gesellschaft“ als analytischer Begriff heute nicht mehr brauchbar ist, habe ich in den vorangehenden Abschnitten ausführlich dargelegt (vgl. auch Latour 2002: 211-264).

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Untersuchungsgegenstandes entstanden, das ich nun weiter verdichten möchte. Was bis hier nämlich unberücksichtigt blieb, sind die Bewegungen, Ideen, Motivationen, Handlungen, Sprechakte und Ziele der Akteure, die in dem von mir dargestellten Netzwerk aktiv sind. Um genau zu diesen für den Untersuchungsgegenstand konstituierenden Momenten Zugang zu erhalten, lohnt abermals ein Blick zu den Ideen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Als Möglichkeit des Zugangs fordern sie keine neue Sozialtheorie, sondern eine Methode, die einen Zugang zur Realität der Akteure erlaubt. „Für uns war die ANT einfach eine andere Art, den Einsichten der Ethnomethodologie treu zu sein: Akteure wissen, was sie tun und wir müssen von ihnen nicht nur lernen, was sie tun, sondern auch, wie und weshalb sie es tun. Wir sind es, die Sozialwissenschaftler, denen das Wissen über das, was sie tun, fehlt, und nicht sie, denen die Erklärung dafür fehlt, weshalb sie unwissentlich von Kräften außerhalb ihrer selbst, die dem mächtigen Blick und den Methoden des Sozialwissenschaftlers bekannt sind, manipuliert werden.“ (Latour 2006 a: 566)

Als Ethnologe ist es demzufolge meine Aufgabe, von den Akteuren zu lernen, anstatt ihnen meine Definitionen aufzuzwängen (vgl. Callon, Latour 1981). In diesem Sinne widme ich mich nun den zentralen Prozessen, deren Analyse es mir erlaubt, von den Akteuren das zu lernen, was sie in meinem Untersuchungsfeld tatsächlich tun. Ich erläutere, welche Praktiken sie anwenden um in Beziehung zueinander zu treten und um welche Dinge sie sich versammeln. Folgt man den Ideen der ANT, besteht die Aufgabe des Forschers bei der Untersuchung von „Gesellschaft“ nicht im „Studium des Sozialen“ sondern „im Studium der Assoziationsmethoden“ (Latour 2006 b: 195-196). Es ist also wichtig bei der Kulturanalyse genau darauf zu achten, welche Methoden meine Informanten nutzen, um sich zu versammeln und ihre Beziehungsnetzwerke zu gestalten. In der ANT bezeichnet man diese Praktiken als Übersetzung. Bruno Latour und Michel haben diesen Begriff maßgeblich geprägt (Callon 2006 b; Latour 2002). Aus ihrer Sicht sind Prozesse der Übersetzung maßgeblich an der Konstitution kultureller und gesellschaftlicher Versammlungen beteiligt. Callon (2006 b: 136) bezeichnet die „Soziologie der Übersetzung“ als „analytisches Werkzeug zur Untersuchung der Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Strukturierung von Machtverhältnissen.“ Dem Begriff der Übersetzung in der ANT liegen zwei grundlegende Bedeutungen zugrunde. Einerseits zeigen Übersetzungspraktiken wie Akteure ihre Ideen auf andere übertragen. Sie gehen dabei sehr strategisch vor. In einer Kombination aus Sprechakten, Erklärungen und Handlungen versuchen die Protagonisten anderen ihre Absichten klar zu

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machen, um sie von einer bestimmten Idee zu überzeugen. Andererseits verweist der Begriff der Übersetzung auf die Organisation von Wissen. Hier verfolgen die Akteure in den Übersetzungsprozessen das Ziel, ihre Vorhaben in andere als den ihnen angestammten Arbeitsbereichen zu übertragen. Etwa aus dem Bereich der Wissenschaft in das Feld der Politik. Das klingt noch sehr abstrakt. Um das Bild schrittweise zu veranschaulichen mache ich im weiteren Verlauf verschiedene Phasen in Übersetzungsprozessen am Beispiel meines Gegenstandes sichtbar. Folgt man Callon (2006 b) so gibt es vier Momente der Übersetzung: Problematisierung, Interessement, Enrolment und Mobilisierung. Diese „bilden die verschiedenen Phasen eines allgemeinen, ‚Übersetzung‘ genannten Prozesses, in dessen Verlauf die Identität der Akteure, die Möglichkeit der Interaktion und der Handlungsspielraum ausgehandelt und abgegrenzt werden“ (ebd. 146). Bevor ich gründlich auf diese Phasen Bezug nehme, möchte ich zum besseren Verständnis für den Übersetzungsbegriff mit einigen Ideen aus der klassischen Übersetzungstheorie beginnen.

K LASSISCHE Ü BERSETZUNGSTHEORIEN Der Begriff der Übersetzung und entsprechende theoretische Überlegungen haben in den Sozial-, Kultur- und Sprachwissenschaften eine lange Tradition. Der Philosoph, Essayist und Übersetzer Boris Buden geht in seinem Buch „Der Schacht von Babel“ (2005) der Frage nach, ob Kultur übersetzbar ist. Er setzt sich intensiv mit Übersetzungstheorien auseinander und stellt dar, wie die verschiedenen Ansätze aussehen und sich entwickelt haben. Als Ausgangspunkt und gleichzeitig als Kontrast dient vielen Denkern die Sprachphilosophie des Gelehrten Wilhelm von Humboldt. Auffällig ist bei ihm und in der gesamten so genannten „romantischen Übersetzungstheorie“, dass die Sprache der Start- und Endpunkt der Analyse ist. Die Konzeptionen haben eine klare linguistische Ausrichtung. Trotzdem deutet sich in diesen Denkrichtungen die soziale, politische und kulturelle Dimension des Sprach- und Übersetzungsbegriffs bereits an. „Humboldts Sprachbegriff und sein Konzept der Übersetzung sind, was ihre soziale Bedeutung und Funktion betrifft, nicht zu trennen. Für Humboldt hat Sprache die Fähigkeit, eine menschliche Gemeinschaft zu bilden und diese gleichzeitig von anderen Gemeinschaften zu differenzieren“ (Buden 2005: 26). Sprache und vor allem ihre Übersetzung in eine andere hat in dieser Konzeption die Rolle, eine Gemeinschaft wie die Nation und deren kollektive Identität zu schärfen und sie von anderen unterscheidbar zu machen. Die wichtigste These in Humboldts Übersetzungstheorie ist die „Unmöglichkeit der Übersetzung“

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(Humboldt 1936: 117-230). „Das Problem der Übersetzung oder die Unmöglichkeit derselben […] sind dadurch begründet, dass es kein Äquivalenz zwischen zwei Sprachen gibt, zu welchem Grad sie auch immer miteinander verwandt sein mögen. Kein Wort einer Sprache kann sein vollkommenes Äquivalent im entsprechenden Wort einer anderen Sprache finden“ (Buden 2005: 29). Trotz der widersprüchlichen These ist das Konzept der Übersetzung für Humboldt immanent wichtig. „Der Zweck der Übersetzung ist es nicht, die Kommunikation zwischen zwei verschiedenen Sprachen und Kulturen zu erleichtern, sondern die eigene Sprache aufzubauen und, da Humboldt Sprache und Nation gleichsetzt, ist das eigentliche Ziel der Übersetzung die Errichtung der Nation“ (Buden 2006). Für die traditionelle Theorie der Übersetzung ist der Begriff der Nation enorm wichtig, da eine Nation erst durch Sprache und deren Übersetzung entsteht. So gesehen ist Übersetzung in dieser Theorietradition ein binäres Phänomen: „Es gibt immer zwei Elemente eines Übersetzungsprozesses, einen originalen Text in einer Sprache und seine sekundäre Produktion in einer anderen Sprache. Es ist daher ihre Beziehung zum Original, die jede Übersetzung entscheidend bestimmt“ (ebd.). Ich vertiefe hier jedoch nicht die traditionelle Übersetzungstheorie, sondern komme auf einen bedeutenden Wendepunkt in der Theorieentwicklung zu sprechen, der eng mit dem Philosophen, Übersetzer, Gesellschafts- und Literaturkritiker Walter Benjamin verbunden ist.12 Die Wende ist insofern von Bedeutung, als dass die traditionelle Übersetzungstheorie nicht als Ausgangspunkt für das heutige Konzept „kultureller Übersetzung“ betrachtet werden kann. Vielmehr ist es die radikale Kritik am romantischen Konzept, dass dem heutigen Verständnis kultureller Übersetzung vorausgeht. Zum ersten Mal äußert sich das zu Beginn der 1920er Jahre in Walter Benjamins Essay „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1972). Seine Hauptkritik bezieht sich auf die Idee des „Originals“ und auf den gesamten Binarismus in der traditionellen Übersetzungstheorie. „Das binäre Verhältnis zwischen dem Original und seiner Übersetzung, das bislang im Mittelpunkt jeder Reflexion über die Übersetzung stand, wird damit endgültig aufgelöst. Die Übersetzung befreit sich, nicht nur vom Original, sondern auch von der Übertragung des Sinns, von der Darstellung der Wahrheit, vom Zweck der Kommunikation.“ (Buden 2005: 58)

12 Eine vertiefende Auseinandersetzung mit der traditionellen Übersetzungstheorie findet sich bei Buden (2005: 19-56).

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Im Kern wendet sich die Kritik gegen den Essentialismus, der sich in der traditionellen Übersetzungstheorie artikuliert. Weder das Original und seine Sprache, noch deren Übersetzung sind feste und statische Kategorien. Vielmehr drückt sich gerade in diesen Kategorien ein permanenter Wandel aus. Gerade die antiessentialistische These, die Benjamin in seinem Bahn brechenden Essay ausdrückt, ist für die weiteren theoretischen Entwicklungen, vor allem in der dekonstruktivistischen Theorie, von besonderer Bedeutung. Denn „aus derselben dekonstruktivistischen Tradition entsteht auch das Konzept der kulturellen Übersetzung“ (Buden 2006). Vor allem postkoloniale und postmoderne Denker wie Homi Bhabha und Judith Butler beziehen sich in ihren Arbeiten auf diesen theoretischen Ansatz und entwickeln daraus ihr Konzept kultureller Übersetzung13. In Bhabhas Konzept stehen die Begriffe des „Third Space“ und der „Hybridität“ im Zentrum seiner Theorie kultureller Übersetzung (vgl. Bhabha 2000). Hybridität ist für ihn ein Synonym für kulturelle Übersetzung. Sie stellt einen Raum dar, „in dem alle binären Teilungen und Antagonismen, die typisch für modernistische politische Konzepte sind, inklusive der alten Opposition zwischen Theorie und Politik, nicht mehr funktionieren“ (Buden 2006). Bhabha sieht in der Praxis des Verhandelns und des Übersetzens die einzige Möglichkeit, einen Einfluss auf die Welt auszuüben, sie zu verändern und letztendlich etwas politisch Neues zu bewirken. Diese Erkenntnis dient mir nun als Ausgangspunkt, um den Begriff von Übersetzung zu entwickeln, der meiner Arbeit zugrunde liegt.

A KTEURE

UND

Ü BERSETZUNGSPROZESSE

In den letzten Abschnitten habe ich in Grundzügen wichtige Entwicklungen in der Übersetzungstheorie nachgezeichnet. Deutlich wurde der Einfluss der Arbeiten Walter Benjamins auf die nachfolgenden Entwicklungen im Bereich postkolonialer und postmoderner Denkansätze. Ich habe diese skizzenhaft dargestellt,

13 Die Liste von Ansätzen im Kontext postkolonialer und postmoderner Theorie würde genügend Stoff bieten, um daraus ein eigenes Buch zu schreiben. Das kann ich hier nicht leisten, möchte aber darauf verweisen, dass Judith Butler das Konzept kultureller Übersetzung von Bhabha aufgreift, um ihren eigenen Begriff zu entwickeln. Im Wesentlichen beruht ihr Ansatz darauf, dass sie sich mit dem Begriff der kulturellen Übersetzung dem „Problem der Universalität“ im postmodernen Denken widmet (Butler 1996: 45-53). Verkürzt gesagt, drückt sich nach Butler im Begriff der kulturellen Übersetzung die Rückkehr des Ausgeschlossenen aus (vgl. Buden 2006).

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um offen zu legen, dass das Konzept der Übersetzung kein rein linguistisches Phänomen darstellt. Vor allem der Hinweis Bhabhas auf die Praktiken des Verhandelns und Übersetzens als einzige Möglichkeit, die Welt zu verändern und politisch Neues zu schaffen, dient für meinen Übersetzungsbegriff als wichtiger Bezugsrahmen. Trotz der Migrationsthematik und ihrer Verknüpfung zu postkolonialen Denkansätzen, die meinem Untersuchungsfeld inne wohnen, ist der von mir bevorzugte Übersetzungsbegriff nicht primär in diesen Theoriediskursen verankert. Das liegt in erster Linie daran, dass mein Untersuchungsschwerpunkt nicht im Feld der kulturellen Praxis der Migranten selbst liegt, sondern im Bereich der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten, in dem Wissenschaftler, Politiker, Beamten und New Mediators wie Sozialarbeiter aktiv sind. Zunächst arbeite ich nun die Praxis heraus, die für die Verbindung zwischen ihnen verantwortlich ist und aus deren Komplexität heraus Strategien zur digitalen Integration von Migranten entstehen. Die Praktiken der Akteure und die Prozesse, die dazu führen, dass gemeinsame Ziele bei der Entwicklung der besagten Strategien entstehen, versteht man am besten, wenn man sie mit dem Konzept der Übersetzung in Verbindung bringt, wie es die Denker der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entwickelt haben. Den Übersetzungsbegriff im Rahmen der ANT prägten Bruno Latour in „Die Hoffnung der Pandora“ (2002: 96-136) und Michel Callon in „Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung: Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht“ (2006 b: 135-174). Sie gehen davon aus, dass Übersetzung bei der Konstitution von Kultur und Gesellschaft einer der zentralen Momente ist. Anders als etwa Bhabha (2002) oder Butler (1996) sprechen Latour (2002) und Callon (2006 b) aber nicht von „kultureller Übersetzung“, sondern verwenden den Begriff „Übersetzung“. Auch der Fokus ist bei ihnen ein anderer. Während bei Bhabha und Butler Themen der Migration im Vordergrund stehen, sind es bei den Vertretern der ANT die Felder Wissenschaft, Politik und Technik. Ich habe bereits auf die zwei grundlegenden Bedeutungen des Übersetzungsbegriffs in der ANT hingewiesen. Referenzpunkte waren einerseits die Übertragung der Ideen von Akteuren auf andere und andererseits die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Außerdem habe ich schon angedeutet, dass Callon ein detailliertes Bild der Übersetzung liefert14. Indem ich seine Ideen

14 An dieser Stelle meiner Arbeit beziehe ich mich bei meinen Ausführungen zum Begriff der Übersetzung schwerpunktmäßig auf Michel Callon (2006 b: 135-174).

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mit den empirischen Gegebenheiten in meinem Untersuchungsfeld in Verbindung bringe, verfolge ich das Ziel, Übersetzung anschaulich zu machen. Callon (2006 b: 146-164) hat den Prozess in „vier Momente der Übersetzung“ unterteilt und dies am empirisch sehr anschaulichen Beispiel von drei Wissenschaftlern sichtbar gemacht, die versuchen, eine vom Aussterben bedrohte Muschelart (Kammmuscheln) in der französischen Bucht St. Brieuc zu retten. „Diese Momente bilden die verschiedenen Phasen eines allgemeinen, ‚Übersetzung’ genannten Prozesses, in dessen Verlauf die Identität der Akteure, die Möglichkeit der Interaktion und der Handlungsspielraum ausgehandelt und abgegrenzt werden.“ (Callon 2006 b: 146)

Der Reihe nach benennt Callon die vier Momente als die Phasen der „Problematisierung“, des „Interessement“, des „Enrolment“ und der „Mobilisierung“. Ich widme mich im Folgenden den verschiedenen Phasen und veranschauliche sie mit Beispielen aus meinem Material. Als Ausgangspunkt einer Übersetzung betrachtet Callon das Moment der „Problematisierung“. Er summiert darunter alle Praktiken und Prozesse, die Akteure durchlaufen, um auf eine bestimmte Problematik oder ein Phänomen aufmerksam zu machen. Es geht ihnen darum, einen Zustand herzustellen, in dem die anderen Akteure, die sie für das eigene Vorhaben gewinnen möchten, auf das besagte Problem aufmerksam werden. Das Ziel des Vorgehens ist es, durch das eigene Handeln, Forschen und Kommunizieren die persönlichen Standpunkte und Ideen so weit in den Fokus anderer zu rücken, dass diese unweigerlich auf das Problem stoßen und sich damit konfrontieren. Es soll erreicht werden, dass das entsprechende Problemfeld bei anderen unübersehbar wird. Diese anderen Akteure werden zum Erreichen der eigenen Ziele gebraucht. In Callons Untersuchung bezieht sich die Problematisierung auf die „Fischer der Kammmuscheln“, auf „die wissenschaftlichen Kollegen“ und auf „die Kammmuscheln“ selbst. Sie alle sind Akteure, die direkt von der Frage betroffen sind, ob sich die Muscheln wieder in der Bucht von St. Brieuc verankern lassen. „Eine einzige Frage – verankert sich Pecten maximus? – genügt, um eine ganze Reihe von Akteuren zu involvieren, indem man ihre Identitäten und wechselseitigen Verbindungen festlegt“ (Callon 2006 b: 149). Problematisierung beschreibt dem zur Folge ein System von „Allianzen und Assoziationen zwischen Entitäten“ (ebd. 150), in dem die Akteure und das, was sie wollen, festgelegt werden. Ziel ist es, eine „heilige Allianz“ zu schmieden, die in der Lage ist, das entsprechende Vorhaben zu realisieren.

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Übertragen auf das Untersuchungsfeld meiner Studie, nehme ich den Wissenschaftler H. als Ausgangspunkt der Überlegungen zu Übersetzungsprozessen. Er ist Professor für angewandte Informatik an der Universität Bremen und ist Teil eines weitläufigen Netzwerks von Experten. Bereits seit den 1990 Jahren beschäftigt er sich mit den Folgen der massenhaften Verbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeiten artikuliert er in Deutschland als einer der Ersten die Problematik, die sich aus der zunehmenden Bedeutung des Internet für die Gesellschaft ergibt. Auf der „Potsdamer Konferenz“ (11.-13. November 1999) bringt H. die Probleme auf den Punkt: „Mein Thema klingt dramatisch. Es unterstellt, die Gesellschaft werde durch Multimedia geteilt und dadurch würde die Chancengleichheit beeinträchtigt. Nun ist, nüchtern betrachtet, unsere Gesellschaft bereits seit langem schon mehrfach geteilt, und die Differenzen werden größer: Die Einkommenskluft hat zugenommen, ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger sind keineswegs mehrheitlich integriert, Frauen haben immer noch in vielen Bereichen Nachteile.“ (Kubicek 1999)

Mit der Hypothese der „Wissenskluft“ macht H. deutlich, dass durch die Einführung neuer Medien die Chancengleichheit der Bürger zusätzlich gefährdet wird. Gleichzeitig benennt er einen Großteil der Akteure, die er im Rahmen der Problematisierung dazu bewegen möchte, sich mit den Folgen des Internet auseinanderzusetzen: Migranten, Frauen und die neuen Medien selbst. In einem weiteren Schritt vermittelt er den anwesenden Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Technologie, Ökonomie und Gesellschaft, dass das Wissen um die Nutzung neuer Medien zunehmend darüber entscheidet, wer in der Gesellschaft auf der Gewinner- bzw. auf der Verliererseite ist: „Ich bin der Auffassung, dass wir es in Bezug auf die Internetnutzung durchaus mit einem ernsten Problem zu tun haben, das zwar noch keine dramatischen Dimensionen angenommen hat, dies aber zu erwarten ist, wenn dem nicht vorgebeugt wird. Dabei geht es nicht um völlig neue Linien und Gruppierungen. In erster Linie werden vorhandene Unterschiede im Hinblick auf Chancengleichheit verschärft, und zwar in Bezug auf informiertes und erfolgreiches Handeln in allen Lebensbereichen, in der Freizeit und vielen Alltagshandlungen ebenso wie in der politischen Kommunikation und auf dem beruflichen Karriereweg.“ (Ebd.)

In seiner Formulierung wird deutlich, wie ernst er das Problem einer gesteigerten Chancenungleichheit nimmt. Indirekt spricht er aber auch die Akteure der

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Politik an, die er unbedingt für das Erarbeiten von Gegenmaßnahmen gewinnen möchte. Diesen Aspekt arbeite ich im empirischen Teil umfangreich aus. H. verweist auch darauf, dass seine Einschätzung in Deutschland bei weitem noch keine herrschende Meinung ist. Hier zeigt sich klar und deutlich, worum es ihm geht. Er möchte erreichen, dass die Problematik eine größere Öffentlichkeit erreicht, um letztendlich Gegenmaßnahmen zu schaffen, die einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entgegenwirkt. Zusätzlich führt er mit dem „Digital Divide“ einen Begriff ein, der es ihm erlaubt, die Problematik kurz und bündig auszudrücken. „Der amerikanische Begriff des Digital Divide besagt, dass die Kluft zwischen den verschiedenen Bildungsschichten, Einkommensklassen, Rassen und den Geschlechtern nicht kleiner, sondern in vielen Fällen größer wird“ (Kubicek 1999). Gleichzeitig weist H. auch darauf hin, dass es (zu besagtem Zeitpunkt) an verlässlichen und differenzierten Daten „zum Ausmaß des Internetzugangs und der Nutzung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und deren Veränderung“ (ebd.) mangelt. Durch die Aussage untermauert er die Notwendigkeit von Forschung in dem Bereich. Als Wissenschaftler in diesem Feld versucht er genau damit, sich selbst unabdingbar zu machen. Schließlich geht es ihm darum, nicht nur Gegenmaßnahmen im Hinblick auf die digitale Spaltung zu schaffen, sondern auch darum, selbst an dem Prozess beteiligt zu sein. Außerdem spricht H. in seinem Beitrag auf der Potsdamer Konferenz an, welche Bereiche bei der Schaffung von Gegenmaßnahmen als Akteure unbedingt gebraucht werden. Das sind in erster Linie Akteure aus den Feldern Politik, Technik, Ökonomie und Bildung. Hier zeigt sich bereits, dass H. an einer Allianz schmiedet, deren gemeinsames Ziel es sein soll, die digitale Kluft zu überwinden. Nutzt man die Analysemethoden der Akteur-Netzwerk-Theorie, kommt man an diesem Punkt zum nächsten Schritt in einem Übersetzungsprozess. Die Phase des Interessement ist das Stadium in einem Übersetzungsprozess, das sich der Problematisierung anschließt. Noch sind die identifizierten Gruppen, Akteure und Entitäten, die für ein gemeinsames Ziel gewonnen werden sollen, hypothetischer Natur. H. , der unermüdliche Wissenschaftler und Entrepreneur, hat zwar die aus seiner Sicht entscheidenden Gruppen zumindest indirekt angesprochen, sie haben aber noch keine reale Existenz, was ihre tatsächlichen Handlungen in Bezug auf das Ziel angeht. Noch müssen sie genauer bestimmt werden und den Praxistest bestehen. „Jede in der Problematisierung einbezogene Entität kann beantragen, in den Anfangsplan integriert zu werden, oder umgekehrt: die Transaktion verweigern, indem sie ihre Identi-

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tät, ihre Ziele, Projekte, Orientierung, Motivationen oder Interessen auf eine andere Art definiert.“ (Callon 2006 b: 151)

Für den Beobachter dieser Prozesse ist es wichtig, dass er die verschiedenen Entitäten und Akteure nicht so beschreibt, als formulierten sie ihre Identitäten und Ziele auf völlig unabhängige Art und Weise. Vielmehr ist es so, dass sie im Verlauf der Zeit geformt und angepasst werden oder sich auch gegen die Ziele aussprechen. „Das Interessement umfasst die Gruppe von Aktionen, durch welche eine Entität […] versucht, die Identität der anderen Akteure, die sich durch ihre Problematisierung definiert, zu bestimmen und zu stabilisieren. Verschiedene Vorgehensweisen werden benutzt, um diese Aktionen durchzuführen.“ (Ebd. 152)

Aber welche Vorgehensweisen sind dies? Hier hilft es, die etymologische Bedeutung von „Interessement“ unter die Lupe zu nehmen. „Interessiert sein bedeutet, dazwischen zu sein (in-ter-esse), d.h. zwischengeschaltet zu sein“ (ebd.). Es schließt sich hier die nächste Frage an, denn zwischen „was“ soll etwas geschaltet werden? Um dies zu beantworten, hilft es, sich nochmals die Situation in der Phase der Problematisierung vor Augen zu führen. H. bemühte sich darum, die Kräfte verschiedener Akteure und Entitäten wie Migranten, Politiker, Wirtschaftsvertreter, Techniker und der Technik selbst zu gewinnen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – der Schaffung von Möglichkeiten für mehr Chancengleichheit im Hinblick auf die Nutzung neuer Medien. Durch sein Handeln legt H. die Identität und die Ziele seiner (möglichen) Verbündeten fest. „Diese Alliierten werden versuchsweise in die Problematisierung anderer Akteure verwickelt“ (ebd.). In der Praxis geschieht dies auf Workshops und Konferenzen, auf denen sich die verschiedenen Akteure versammeln. Durch das Vorgehen kristallisieren sich in einem längeren Prozess diejenigen Akteure heraus, die bereit sind, sich mit H.’s Zielen zu identifizieren und mit ihm eine Allianz einzugehen. Das „Dazwischengeschaltensein (int-er-esse)“ drückt sich darin aus, dass H. versucht, die Akteure, die seine Ziele vertreten möchten, zwischen sich und die Akteure zu schalten, die sein Ziele nicht verfolgen wollen. Durch das Vorgehen entsteht schließlich das Netz aus Akteuren und Entitäten, die bereit sind, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Gleichzeitig scheiden andere aus. Trotzdem ist der Prozess nicht linear und endgültig, denn Übersetzung ist nichts, was einmalig stattfindet, sondern permanent. Aus dem Grund können im Verlauf der Zeit neue Akteure für das gemeinsame Ziel hinzugewonnen werden und andere verloren gehen. Ziel des Interessement ist es, den ge-

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wonnen Mitstreitern eine bestimmte Rolle zuzuweisen, um sie tatsächlich und ganz real in die Lage zu versetzen, für die gemeinsamen Ziele zu streiten und sie zum Handeln zu bewegen. Dieser Aspekt führt mich zum dritten Moment der Übersetzung. Die Phase des Enrolment ist eine sehr dynamische Phase in Übersetzungsprozessen. Es geht darum, die Akteure im Feld der Ziele zu positionieren und sie mit Handlungskraft auszustatten. „Das Enrolment impliziert keine bereits festgelegten Rollen, schließt sie aber auch nicht aus. Es bezeichnet den Vorgang, in dem ein Set von zueinander in Beziehung stehenden Rollen definiert und Akteuren zugeteilt wird, die sie akzeptieren.“ (Callon 2006 b: 156)

Sofern die Phase des Interessement erfolgreich war, führt sie zum Enrolment. Bei der Beschreibung der Phase ist es wichtig, die Folgen offen zu legen, die sich aus den Verhandlungen, Tricks und Prüfungen ergeben, die in der Phase des Interessement stattgefunden haben. Es geht darum zu zeigen, wie H. die entsprechenden Akteure in dem Akteur-Netzwerk, einbindet. Beschrieben werden muss, wie Herr U. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie eine Rolle bekommt, in der er dafür eintritt, dass das Ministerium die Schirmherrschaft für ein Netzwerk übernimmt, das sich fortan für mehr Chancengleichheit bei der Nutzung neuer Medien durch Migranten einsetzt. Außerdem muss offen gelegt werden, wie die Wirtschaft, vertreten durch AOL, zum Unterstützer des Netzwerks wird. Und schließlich ist es wichtig, zu zeigen, wie das Netzwerk durch die Akteurin J. eine Geschäftsführerin erhält und wie Redaktionspartner aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen das Netzwerk zu einem Expertenkreis machen. Im empirischen Teil der Arbeit beschreibe ich dies ausführlich. Im Verlauf des Prozesses nehmen die verschiedenen Akteure mal mehr und mal weniger feste Rollen ein, die sich im Verlaufe von multilateralen Verhandlungen, Diskussionen, Transaktionen, Verführungen und Zustimmungen ergeben haben. Haben die Akteure, die das gemeinsame Ziel der Schaffung von Gegenmaßnahmen zur digitalen Spaltung der Gesellschaft verfolgen, ihre unterschiedlichen Rollen eingenommen, geht der Übersetzungsprozess in seine letzte Runde, in das Moment der Mobilisierung von Verbündeten. In der Phase werden weitere Verbündete dazu bewegt, sich dem gemeinsamen Ziel anzuschließen. Aus dem bereits bestehenden losen Netzwerk werden Vertreter oder Sprecher ausgewählt, die jeweils verschiedenen Assoziierungen angehören. Sie werben in ihren Kontexten für die entstandene Allianz und versuchen, neue Mitstreiter und Unterstützer zu finden. Herr U. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie wirbt beispielsweise in seinem Ministeri-

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um dafür, dass entstandene Netzwerk Digitale Chancen zu unterstützen, um einer digitalen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. J., die Geschäftsführerin des Netzwerks, macht im Feld der Wissenschaft, Bildung und Sozialarbeit darauf aufmerksam, das Netzwerk durch Expertenwissen aus den verschiedenen Bereichen zu unterstützen. H. versucht im Wissenschaftsbetrieb und in der Wirtschaft weitere Verbündete wie AOL zu werben. Durch diese Praxis verdichtet sich das Beziehungsgeflecht zunehmend und gewinnt an Form. Außerdem werden durch den Prozess fortschreitend Kräfte gebündelt, die dazu nötig sind, die angestrebten Ziele zu erreichen. Zudem werden dadurch die Handlungsspielräume der jeweiligen Akteure und Entitäten abgesteckt. „Die anfängliche Problematisierung definierte eine Reihe von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen und Zielen der verschiedenen Akteure. Jetzt, am Schluss der vier beschriebenen Momente, ist ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft worden.“ (Callon 2006 b: 164)

Hier scheint es so, als sei ein einziger Übersetzungsprozess, inklusive der Phasen, die ich in den letzten Abschnitten dargestellt habe, für die Entstehung einer Versammlung verantwortlich. Der Eindruck ist dadurch entstanden, dass ich einen Übersetzungsprozess exemplarisch und in enger Anlehnung an Callon dargestellt habe. Was auf der Strecke blieb, ist der Fakt, dass in jedem Stadium neue Übersetzungsprozesse in Gang gesetzt werden. Wichtig ist an der Stelle, dass eine Übersetzung nie „alleine“ stattfindet, sondern immer im Plural zu denken ist. Der Versuch, Strategien ins Leben zu rufen, die die digitale Spaltung verhindern und abbauen sollen, besteht in der Praxis aus einer Vielzahl von Übersetzungsprozessen und -ketten. Dieser Umstand bedarf weiterer Erklärungen, wenn wir verstehen wollen, wie die Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt und umgesetzt werden. Im folgenden Abschnitt zeige ich auf der Basis meiner bisherigen Erkenntnisse, wie durch vielschichtige Übersetzungsprozesse die Entwicklung und Umsetzung von Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten in die Tat umgesetzt werden. Ich zeige hier, dass es die Strategie des Blackboxing ist, die hier eine ganz wesentliche Rolle spielt.

Digitale Integration von Migranten als Strategie des Blackboxing

Ich gehe in den nächsten Abschnitten zwei Zielen nach. Ein erster Schritt führt meine bisherigen Betrachtungen und Argumentationslinien zusammen, um die wichtigsten Standpunkte in ihrem Zusammenhang deutlich zu machen. Welche Rolle spielen Konzepte wie das Netz, Rhizom, die Wunschmaschine und Übersetzung bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten? Warum ist es neben dem Rhizom vor allem die Übersetzung, die in der kulturellen Praxis der von mir untersuchten Akteure an den verschiedenen Schauplätzen wie in Esslingen und Hannover eine bedeutende Rolle einnimmt? Die Zusammenhänge, die sich daraus ergeben, stehen also zunächst im Fokus. Ich zeige, dass es Übersetzungsketten sind, die eine wichtige Bedeutung in dem von mir untersuchten Feld haben. Basierend darauf betrachte ich in einem zweiten Schritt den von mir untersuchten Gegenstand der „digitalen Integration von Migranten“ unter dem Gesichtspunkt des so genannten Blackboxing. Die Bezugnahme auf den Begriff aus der ANT erlaubt es mir, einerseits die Rolle von Technik und Technologie in meine Konzeption einzubinden und andererseits ermöglicht es mir, zu zeigen, warum „digitale Integration von Migranten“ in den Augen meiner Informanten zu einer erfolgreichen kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Maschine geworden ist.

R HIZOME , W UNSCHMASCHINEN UND Ü BERSETZUNGSKETTEN Bisher habe ich schrittweise dargelegt, mit welchen theoretischen Ansätzen und Werkzeugen ich die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten analysiere. In einem ersten Schritt dienten mir die

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Konzepte des Netzes, des Rhizoms und der Wunschmaschine als theoretischanalytischer Zugang zu meinem Untersuchungsgegenstand (vgl. Deleuze, Guattari 1992: 497-521; 2002: 12-42; Serres 1991: 9). Anhand ausgewählter empirischer Beispiele habe ich gezeigt, dass sich die von mir erforschte Praxis am besten darstellen lässt, wenn ich sie in der Logik eines Rhizoms betrachte. Es zeigte sich, dass es durch diese Betrachtungsweise möglich ist, die vielschichtigen lokalen, nationalen und europäischen Verbindungen offen zu legen, die das Feld der digitalen Integration von Migranten prägen. Das Vorgehen versetzt mich in die Lage die Praktiken der Akteure auf nationaler Ebene mit denen im lokalen Kontext als „eine“ Realität darzustellen. Resümierend möchte ich festhalten, dass mir das Konzept des Rhizoms gleichermaßen als Ontologie, Kartographie und analytisches Werkzeug diente. In einem zweiten Schritt habe ich die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) in die Arbeit eingeführt. Auch die Autoren der ANT bringen ihre Ansätze der Analyse von Kultur und Gesellschaft mit dem Konzept des Rhizoms in Verbindung (vgl. Latour 2006 a, b). Im Gegensatz zu Deleuze und Guattari haben die Vertreter der ANT aber eine viel mehr Akteurs zentrierte Herangehensweise. Durch die Anwendung der analytischen Werkzeuge und des Vokabulars aus der ANT rücke ich in meiner Arbeit die Praxis der Akteure ins Zentrum. Besonders das Konzept von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren – Latour nennt sie auch Aktanten – erlaubte es mir, sowohl Politiker, Beamte, Lehrer und Sozialarbeiter, wie auch Texte, Computer, Emails und Aktionsprogramme und deren zentrale Rolle in der Strategieentwicklung darzustellen. Durch die Einführung der Begriffe Assoziation und Kollektiv bin ich noch einen Schritt weiter gegangen. Anstatt sich mit philosophischen, strukturellen und funktionalen Fragen von Gesellschaft zu beschäftigen, erlaubt es das Vokabular aus der ANT, gesellschaftliche und technologische Realitäten im „hier und jetzt“ zu untersuchen. Assoziationen und Kollektive zeigen immer das, was die Akteure auch tatsächlich tun. Sie sind nichts anderes als die in einer gegebenen Situation anwesenden Aktanten. Aber was sind die Methoden, mit deren Hilfe sich Aktanten zu Assoziationen zusammenschließen? Um die Frage zu klären, habe ich das Konzept der Übersetzung in dieser Arbeit eingeführt. Es zeigte sich, dass Übersetzungsprozesse bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration eine ganz entscheidende Rolle einnehmen. Am Beispiel der „vier Momente der Übersetzung“ (Callon 2006 b: 146164), die ich an empirischen Beispielen sichtbar gemacht habe, wurde deutlich, dass es verschiedene Phasen gibt, in denen Akteure versuchen, ihren jeweiligen Motivationen und Zielsetzungen Gehör und vor allem praktische Relevanz zu verschaffen. Eine genauere Analyse der Sachverhalte macht deutlich, dass es

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sich bei den in meinem Untersuchungsfeld sichtbaren Versammlungen und Themen um Ergebnisse aus der Verkettung komplex gelagerter Übersetzungen handelt. Übersetzungsketten stellen die Verbindung verschiedener Übersetzungsprozesse dar und beinhalten, dass sie Aktanten miteinander verbinden. Wenn dadurch verschiedene Assoziationen miteinander in Verbindung stehen, dann zirkulieren auch Aktanten zwischen ihnen. „Sie sind aber nicht in den verschiedenen Assoziationen dieselben; d.h. sie bedeuten nicht immer und überall das Gleiche; vielmehr verwandeln sie sich“ (Bonz 2007: 4). In den Worten der ANT finden Bedeutungsverschiebungen, also Transformationen statt. Genau diese zeigen sich in Übersetzungen, wenn ein Akteur in seinem Wechseln zwischen verschiedenen Assoziationen eine Bedeutungsverschiebung erfährt. Übersetzungen und Übersetzungsketten spielen bei der Formation von Assoziationen und den vielfältigen Verbindungen zwischen ihnen eine entscheidende Rolle. Somit trägt die Übersetzungsleistung der Akteure einen entscheidenden Teil dazu bei, wie die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in der Praxis aussieht. In der Konzeption drückt sich die Dynamik meines Ansatzes darin aus, dass in Übersetzungsprozessen Akteure, Ideen, Interessen und Bedeutungen nicht nur zirkulieren, sondern auch immer wieder neue definiert werden. An der Stelle sagt Latour, dass der nützlichste Beitrag der ANT ist, „das Soziale von dem, was eine Oberfläche, ein Territorium, eine Provinz der Realität war, in eine Zirkulation transformiert zu haben“ (Latour 2006 a: 565). Durch dieses Denken hat er die Konzepte der Assoziation und des Kollektivs entwickelt, um eine essentialistische Gesellschaftsperspektive zu überwinden. „Es ist eine Theorie, die besagt, dass wir, indem wir Zirkulationen folgen, mehr bekommen können als durch das Definieren von Entitäten, Essenzen oder Domänen. In diesem Sinne ist die ANT bloß eine von vielen anti- essentialistischen Bewegungen [...]. Sie ist aber auch [...] einfach eine Möglichkeit für den Sozialwissenschaftler, Zugang zu Schauplätzen zu bekommen, eine Methode, nicht eine Theorie, eine Art, von einem Punkt zum nächsten zu reisen, von einem Feld zum nächsten, nicht eine in anderer, genießbarer und universalistischerer Sprache erklärte Interpretation dessen, was Akteure tun.“ (Latour 2006 a: 567)

Der praxisnahe Ansatz, der stets den Wegen der untersuchten Akteure folgt, deckt sich mit meinem methodischen Vorgehen, in dem ich meine Informanten in ihren täglichen Routinen begleitet habe. Dabei habe ich immer einen Fokus darauf gehabt, wie und warum die Akteure in meinem Feld „zirkulieren“ und auf diese Weise den Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur di-

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gitalen Integration von Migranten gestalten.1 In dem Zusammenhang habe ich Wege, Verbindungen und Bewegungen von Akteuren, Ideen, Zielen, Motivationen und Einstellungen untersucht. Das „Bild“ erinnert an das Konzept der „Wunschmaschine“ von Deleuze und Guattari (1992), die durch ihr Vermögen zu unendlichen, allseits in alle Richtungen sich erstreckenden Verbindungen gekennzeichnet ist und in der der Wunsch ein Motor ist, der fließen lässt, genauso wie er selbst fließt und trennt. Die Metaphern des Flusses und der Offenheit, die Konzepten wie Kultur und Gesellschaft zu Grunde liegen, machen sie auch zu etwas Instabilem. Demzufolge sind Übersetzungsprozesse, die die Gestalt von Assoziationen beeinflussen, auch immer etwas Riskantes. „[…] tatsächlich gibt es keine Garantie dafür, dass der Umweg sich schließlich auszahlt und durch einen Rückfluss belohnt wird. […] Diese durch die Übersetzungsoperation komponierten und verbundenen Dinge könnten sich wie ein Schwarm Vögel zerstreuen“ (Latour 2006 c: 392). Auch in der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten weist die Analyse von Übersetzungsketten eine Instabilität und ein Risiko bei der Entwicklung von Ideen und Ansätzen auf. Im Feld der Förderung von Projekten herrscht heute aufgrund der Knappheit von Mitteln eine größere Unsicherheit denn je. Dies macht es zunehmend schwer, dass Übersetzungsprozesse für die beteiligten Akteure tatsächlich auch zu erfolgreichen Projekten und Maßnahmen führen. Warum hat aber gerade das Konzept der „digitalen Integration“ im Feld von Politik, Organisation von Lebenswelten, Sozialarbeit, Integration und Vermittlung von digitalen Kompetenzen heute einen so enormen Stellenwert? Was veranlasst die Akteure in diesem Feld zu denken, dass digitale Integration ein erfolgreiches Mittel zur Überwindung der digitalen Spaltung der Gesellschaft und zur Integration benachteiligter Gruppen ist? Um die Fragen zu klären, ist es wichtig, die Rolle von Technik und Technologie genauer zu analysieren. Sie spielt im Prozess des Blackboxing eine entscheidende Rolle.

B LACKBOXING

ALS ERFOLGREICHE

S TRATEGIE

Die spannende Frage, die nun auftaucht, betrifft die Zielsetzungen der von mir befragten Menschen. Alle Beteiligten in meinem Untersuchungsfeld bringen viel Energie auf. Sie investieren Zeit und Herzblut, um die Dinge für die sie sich in-

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Die niederländische Kulturanalytikerin Miele Bal hat den Prozess der „Zirkulation“ mit ihrem Begriff der „wandernden Konzepte“ beschrieben (Bal 2002).

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teressieren, vorwärts zu bringen. Es freut sie, wenn sie unter dem Label der „digitalen Integration von Migranten“ erfolgreiche Maßnahmen entwickeln und umsetzen. Aber was macht ein Konzept erfolgreich? Wie bekommt es Anerkennung? Warum schenken die Menschen ihm so viel Aufmerksamkeit? Warum tun sie das, was sie tun – und vor allem – wie tun sie es? In meiner Untersuchung nutze ich diese Fragen um sichtbar zu machen, wie digitale Integration in der Praxis aussieht. Eine wichtige Erkenntnis ist in dem Zusammenhang auch, dass der Technik eine wichtige Rolle zukommt. Ich vertrete hier eine Perspektive, in der sich die klassische Demarkation von Gesellschaft, Kultur und Technik auflöst. Mit Latour argumentiere ich, dass Konzepte wie das der Assoziation dazu beitragen können, „einige der traditionellen Fragen der sozialen Ordnung, und besonders die der Erhaltung von Herrschaft und Macht, umzuformulieren. Statt jedoch andere Werkzeuge zu verwenden, um Macht und Schwäche zu analysieren, wird argumentiert, dass Macht und Herrschaft lediglich andere Werte von Variablen darstellen, die in ihrer ganzen Bandbreite erforscht werden sollten. Es wird ebenfalls dargelegt, dass durch die Rekonstruktion von Netzwerken möglicherweise eine vollständige Beschreibung von Macht und Herrschaft erreicht werden könnte.“ (Latour 2006 c: 369)

Indem ich in meiner Untersuchung die Netzwerke rekonstruiere und die Rolle der Akteure in ihnen analysiere, leiste ich einen Beitrag zur Beschreibung und Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Ich möchte hier betonen, dass es vor allem auf die produktiven Faktoren von Macht ankommt und auf deren Mikrophysik, die sich im alltäglichen der Akteure in vielfältigen Machtbeziehungen äußern (vgl. Latour 2006 c: 369-398; Giddens 1997: 65-67). Wie bereits angedeutet, sind Assoziationen nicht nur von Machtbeziehungen geprägt, sondern werden durch vielfältige Verbindungen zusammen gehalten. Und genau hier kommt der „Technik“ eine entscheidende Rolle zu, denn sie ist in der Lage, Assoziationen, also Gesellschaft, „als beständiges Ganzes zusammenzuhalten“ (Latour 2006 c: 369). Sie tritt in Form nicht-menschlicher Akteure auf. Ein Gesellschafts- und Kulturkonzept, dass Technik als Teil der Praxis begreift, muss demzufolge nicht nur soziale Beziehungen untersuchen, sondern auch die nichtmenschlichen Akteure als Teil des Gewebes begreifen, das analysiert wird. „Im Vergleich mit den menschlichen Akteuren sind die technischen Aktanten allerdings stabiler, weil sie Black Boxes sind, d.h. sie sind mehr als ein Aktant. Wenn man die Black Box öffnet, kommen weitere Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten zum Vorschein: Teile, Geräte, Dinge, die weitere Assoziationen enthalten und

94 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? nicht zuletzt auch menschliches Tun in verdinglichter Form: Handlungen, Ideen von Menschen, die unter Umständen lange zurück liegen.“ (Bonz 2007: 3)

In einer Black Box verweben sich also viele menschliche und nicht-menschliche Akteure zu einem dichten Beziehungsnetz. Auf den ersten Blick wirkt eine Black Box wie ein stabiles und abgeschlossenes Gebilde, das mehr durch seinen Input und Output wahrgenommen wird, als durch sein komplexes Innenleben. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich aber als ein Netzwerk aus Akteuren, in dem nicht nur Menschen und ihre Handlungen, sondern auch Gegenstände, Teile, Geräte und Ideen eine wichtige Rolle einnehmen. Eine Black Box besteht aus einer Vielzahl von vergangenen und gegenwärtigen Assoziationen, die in ihrer Umwelt, in der sie wahrgenommen wird, oft als unhinterfragte Tatsache betrachtet wird. In dem Sinne stellt auch die „digitale Integration von Migranten“ und die Assoziationen, die sich darin verbergen, eine Black Box dar. Es wird deutlich, dass „digitale Integration von Migranten“ weitaus mehr repräsentiert, als die Vermittlung verschiedener technischer Fähigkeiten und digitaler Kompetenzen an Migranten. Was das heißt, was durch den Prozess des Blackboxing in meinem Untersuchungsfeld erreicht wird und wie dadurch Strategien zur digitalen Integration von Migranten entstehen, zeige ich zum Abschluss des Kapitels. Der Begriff stellt den Prozess dar, durch den eine stabilisierte Assoziation zu einer Black Box wird. In der ANT wird darunter Folgendes verstanden: „Blackboxing – Mit diesem Ausdruck aus der Wissenschaftssoziologie ist das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren Erfolg gemeint. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.“ (Latour 2002: 373)

Meine Absicht ist es, nicht nur den Prozess des Blackboxing zu erklären, wie es Bruno Latour in dem Zitat tut, sondern auch, die Black Box „digitale Integration von Migranten“ aufzuschließen, um die interne Komplexität meines Gegenstandes sichtbar zu machen. Er schreibt in der Textpassage, dass, „je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie“ (ebd.). Hier stellt sich die Frage, ob diese im Kontext meiner Untersuchung wirklich so erfolgreich sind. Um die Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was meinen Gegenstand überhaupt zu einer Black Box macht. Wer ist daran beteiligt? Warum und vor allem wie wirken die Akteure am Blackboxing mit? Spätestens bei der Analyse zeigt sich, dass der Prozess die Summe aus

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vielen einzelnen und kollektiven Interessen, Ideen, Motiven, Handlungen und Kommunikationen ist. An der Stelle zeigt sich die Bedeutung von Machtbeziehungen (und wirkungen) im Prozess des Blackboxing besonders deutlich. Sichtbar wird dies in den verschiedenen Übersetzungsprozessen, die für mein Untersuchungsfeld ausschlaggebend sind. Es tritt aber nicht nur die wichtige Bedeutung von Machtwirkungen zu Tage, sondern auch deren maßgeblicher Einfluss in den vielfältigen Übersetzungspraktiken der am Blackboxing beteiligten Akteure. Macht und ihre vieldimensionale Wirkung ist gewissermaßen der Ausdruck von Übersetzungsketten und somit auch im Prozess des Blackboxing von besonderer Bedeutung. „Macht ist nicht wesensmäßig mit der Erreichung von partikularen Interessen verbunden. Nach dieser Auffassung charakterisiert der Gebrauch von Macht nicht spezifische Verhaltensweisen, sondern ist vielmehr für jegliches Handeln typisch. Macht selbst ist keine Ressource. Ressourcen sind Medien, durch die Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird“ (Giddens 1997: 67). Es wird deutlich, dass Macht grundsätzlich eine Rolle in sozialer und kultureller Praxis spielt. Sie ist nicht einem bestimmten Akteur zu Eigen und einem anderen nicht, sondern sie entfaltet sich immer in den Beziehungen zwischen den Akteuren. Blackboxing stellt aus der Perspektive der Protagonisten eine Strategie dar, die sie dazu nutzen, ihre Aktivitäten erfolgreich zu machen. Auf die Weise können städtische Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen digitale Integration zu einem erfolgreichen Programm ihrer Aktivitäten machen. Digitale Integration wird zum Synonym von gesellschaftlicher Integration. Digitale Kompetenzen, Computerkurse und Medienprojekte werden zu Werkzeugen, in die man vertraut, weil sie „Nützliches“ tun. Nach außen wirkt „digitale Integration“ wie ein erfolgreicher Ansatz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe von Migranten. Ein Teil der Strategie des Blackboxing ist es, die Dinge erfolgreich und positiv in der Öffentlichkeit darzustellen. Im Sinne des Marketings werden die Erfolgsfaktoren von Maßnahmen in den Vordergrund gestellt. Visuell macht sich das in schönen bunten Broschüren bemerkbar. Je mehr es den Beteiligten gelingt ihre Projekte in der Öffentlichkeit positiv darzustellen, desto mehr wird „digitale Integration von Migranten“ als funktionierendes Ganzes, als Black Box, wahrgenommen. Sie verfolgen damit auch das Ziel, ihre Einrichtungen und Projekte so in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken, um den Fluss von Fördergeldern aufrecht zu erhalten. In diesem Teil des Buches wurde deutlich, dass sich durch Übersetzungsketten Akteure zu einem Rhizom verbinden, in dem die Praxis der digitalen Integration von Migranten verortet ist. Aufbauend darauf habe ich den Prozess des

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Blackboxing als eine Strategie dargestellt, die die relevanten Akteure, Einrichtungen und Techniken zu einer stabilen Assoziation zusammenschweißt. Insofern stellt Blackboxing einen Problemlösungsansatz in der von mir untersuchten Lebenswelt dar. Das habe ich in der folgenden Abbildung dargestellt. Abbildung 2: Strategie des Blackboxing

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2014

Die Abbildung stellt die digitale Spaltung der Gesellschaft als Ausgangproblem dar. Benachteiligte sind von den digitalen Errungenschaften ausgeschlossen, weil es ihnen an entsprechenden digitalen Kompetenzen mangelt. Im Rahmen der Problematisierung dieser Tatsachen listen die Protagonisten die verschiedenen Mängel auf, die zur digitalen Spaltung führen. Die Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Akteure und Einrichtungen alleine und unabhängig voneinander daran arbeiten, das Thema der digitalen Spaltung der Gesellschaft zu problematisieren. Auf der Abbildung zeigen die nicht miteinander in Verbindung stehenden schwarzen Kreise und Dreiecke auf der linken Seite der Grafik diesen Zustand. Wird das Problem der digitalen Spaltung von einem größeren Kreis von Akteuren wahrgenommen, entstehen Assoziationen, die zielgerichtet zusammenarbeiten und Lösungsansätze entwickeln – so wie es in meiner Studie der Fall war. Auf der rechten Seite der Grafik habe ich den Zustand mit den schwarzen Kreisen und Dreiecken, die mit Linien verbunden sind, gekennzeichnet. Das Akteur-Rhizom, das die Handlungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren genauso beinhaltet, wie es von Machtbeziehungen durchdrungen ist, zeigt viele Übersetzungsketten. Sie führen dazu, dass stabili-

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sierte Assoziationen entstehen, die „digitale Integration“ zu einer Black Box machen. Sie wird zu einem anerkannten und scheinbar erfolgreichen Ansatz, der in der Lage ist, Benachteiligte zu „integrieren“. Was für die Protagonisten ein Ziel ist, nämlich die digitale Integration von Migranten als erfolgreiche Problemlösungsstrategie darzustellen, ist gleichzeitig ihr persönliches Schicksal. Während sie die gesellschaftliche Partizipation von Migranten fördern, kämpfen sie parallel um ihr berufliches Überleben, in einem gesellschaftlichen und politischen Feld, in dem Fördergelder für Projekte immer spärlicher fließen. Der von mir entwickelte Forschungsansatz leistet einen Beitrag, die Komplexität von Entwicklungsprojekten versteh- und erklärbar zu machen. Nicht zuletzt dadurch wird sichtbar, dass Strategien zur digitalen Integration von Migranten viele gemeinsame aber auch widersprüchliche Merkmale haben und die Konzeption von „Kultur als Akteur-Rhizom“ erlaubt es, sie in ihrer Verbindung zueinander zu betrachten. Denn gerade die Widersprüche werden von den beteiligten Akteuren aufgrund ihrer persönlichen Absichten oft ausgeblendet, spielen jedoch in der kulturellen Praxis eine entscheidende Rolle. Im folgenden Kapitel erläutere ich das methodische Vorgehen in meiner Studie. Ich stelle den Untersuchungsgegenstand dar, zeige, wo meine Forschung verortet ist und welche Methoden ich angewendet habe. Außerdem mache ich sichtbar, wie ich bei der Spurensuche in meinem Forschungsfeld vorgegangen bin und mit welchen Problemen ich konfrontiert war.

Zweiter Teil: Methoden

Ethnographie in Akteur-Netzwerken

In diesem Teil des Buches erläutere ich den ethnographischen Ansatz und lege die Forschungstechniken dar, die ich in meiner Untersuchung angewendet habe. Ich zeige zu welchen Personen ich Kontakt aufgebaut habe und wo ich geforscht habe. Schwerpunktmäßig von Ende 2002 bis Mitte 2006, und dann auch punktuell bis ins Jahr 2013, führte ich eine ethnographische Feldforschung in Bremen, Berlin, Düsseldorf, Esslingen und Hannover durch. Außerdem waren das Internet, verschiedene Plattformen, Chats und Foren Orte, an denen ich als Forscher tätig war. Nach Abschluss der Erhebungen führte ich bis 2008 die Analyse der Daten durch. Bis zur Veröffentlichung des Buches im Jahr 2014 folgten weitere vertiefende Einzelfallstudien, deren Ergebnisse das vorliegende Buch berücksichtigt. Die Bewegungen durch ein dichtes Netz aus Städten, Stadtteilen, Ministerien, Tagungsgebäuden, Nichtregierungsorganisationen, Büros und Internetplattformen zeigen die rhizomartige Beschaffenheit meines Untersuchungsgegenstandes, wie ich es im theoretischen Teil der Arbeit dargestellt habe. In diesem Netz habe ich durch die Anwendung eines Methoden-Mix die Ideen, Erzählungen, Einstellungen, Handlungen, Übersetzungspraktiken, Diskurse und Beziehungen der Akteure untersucht, die am Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligt sind. Der Ausgangspunkt meiner Forschungsaktivitäten war Bremen. Von dort aus begann die „Spurensuche“ (Dracklé 1999: 54ff), durch die ich die Netzwerke meiner Informanten, deren Beziehungen zueinander und die kulturelle Praxis untersuchte, die sich aus deren Handlungen ergeben. Durch das Vorgehen folgte ich den Phänomenen, die meinen Untersuchungsgegenstand konstituieren. Die verschiedenen Ansätze zur Förderung der Partizipation von Migranten in der deutschen Gesellschaft, die den Gegenstand charakterisieren, sind Politikstrategien. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Maßnahmen wie Computerkurse beinhalten, die von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen entwickelt werden, um soziale, kulturelle, politische und ökonomische Prozesse

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zu verändern. Der Ansatz der digitalen Integration stellt in diesem Sinne eine Politikstrategie dar. Die Politikethnologen Shore und Wright argumentieren, dass Politikstrategien (policies) ein zentrales Instrument der Gesellschaftsorganisation darstellen: „We argue that policy has become an increasingly central concept and instrument in the organization of contemporary societies“ (Shore, Wright 1997). Durch den Fokus auf die Erforschung der digitalen Integration von Migranten als Politikstrategie leiste ich einen Beitrag dazu, wesentliche Praktiken moderner Gesellschaften, die sich aus dem politischen Konzept der Integration ergeben, zu erklären und zu verstehen. Eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung spielen menschliche und nicht-menschliche Akteure. Im Rahmen der Integrationsprozesse, in denen sie verschiedene Rollen einnehmen, tragen sie durch ihre Übersetzungsleistungen dazu bei, dass in Deutschland Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten entwickelt werden. Diese sollen die soziale, kulturelle, politische und ökonomische Integration fördern. Sie sind dem zur Folge kulturelle Vermittler, die bei der Entwicklung und Umsetzung der Strategien eine ganz entscheidende Rolle spielen. Als Beamte, Sozialarbeiter, Lehrer, NGO-Vertreter, Politiker und Bürger sind sie an der kulturellen Praxis beteiligt, die sich in einem dichten Netz aus Akteuren, Dingen, Orten, Handlungen, Übersetzungen und Beziehungen repräsentiert. Die rhizomatischen Verflechtungen, durch die mein Gegenstand gekennzeichnet ist, erforderten einen Forschungsansatz, der in der Lage ist, die komplexen Verbindungen nachzuzeichnen. Es ging darum, die Bewegungen der Akteure, ihren Kontaktaufbau und ihre Verbindungen zueinander nachzuvollziehen. Die vielen Orte, an denen ich meine Feldforschung durchgeführt habe, machen eine Arbeitsweise notwendig, die diese Vielschichtigkeit erforschbar macht. Dracklé schreibt in dem Zusammenhang, dass es notwendig ist, sich bei ethnographischer Forschung auf „Bewegungen“ zu konzentrieren: „Statt auf abgegrenzte Orte und deren Bewohner konzentrierte ich mich während meiner Feldforschung auf Bewegungen, auf das Sich-Bewegen, auf das Knüpfen von Kontakten im Dazwischen“ (Dracklé 1999: 54). Durch den Fokus auf die Bewegungen der Akteure und auf das Dazwischen, in dem die von mir untersuchten Praktiken stattfanden, bin ich in der Lage, das „Rhizom“ zu analysieren. In Bezug auf meine Arbeitsweise stellte sich die grundlegende Frage, wo ich die Akteure finde, die am Entwicklungsprozess politischer Strategien beteiligt sind. Wie konnte ich zu ihnen Kontakte knüpfen und bei ihnen Daten sammeln, um sowohl die Praxis auf lokaler, wie auch auf globaler (nationaler) Ebene zu analysieren? Das Ziel des Kapitels ist, die Wege meiner Spurensuche und die Methoden nachzuzeichnen, die in meiner Forschung eine Rolle gespielt haben.

E THNOGRAPHIE IN A KTEUR -N ETZWERKEN

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Zunächst erörtere ich die Spurensuche in meinem komplexen Forschungsfeld, indem ich den Gegenstand der Untersuchung skizziere und auf die Methoden zu sprechen komme, die ich angewendet habe. Dann lege ich mein Vorgehen in Bezug auf die Erforschung des Entwicklungsprozesses von Strategien zur digitalen Integration von Migranten offen. Ich zeige die verschiedenen Schauplätze der Forschung und mache das dichte Netz sichtbar, in dem die von mir untersuchten Akteure eingebunden sind und zeige, wie ich in dem Kontext meine Daten gewonnen habe. Zum Abschluss mache ich meine Rolle als Forscher und Aktivist sichtbar. Darüber hinaus reflektiere ich die Problematiken, die sich aus meiner Feldforschung „vor der eigenen Haustüre“ ergaben und wie sich das auf den Forschungsprozess auswirkte.

Spurensuche

Vielfältige Zusammenhänge charakterisieren die Komplexität von Kultur und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung und zeigen sich auch in meinem Forschungsfeld. Der Ethnologe Hannerz (1992) hat sich in seinem Buch „Cultural Complexity. Studies in the Social Organisation of Meaning“ umfangreich mit der Thematik auseinandergesetzt und bietet deshalb einen guten Überblick zu ethnographischer Forschung in komplexen Gesellschaften. Solche Ansätze sind längst keine Seltenheit mehr und bilden im 21. Jahrhundert oft den Ausgangspunkt ethnographischer Studien (vgl. Weißköppel 2001). Sie zeigen sich in Untersuchungen über neue Medien und Technologien (Brouwer 2004; Brouwer, Theije 2004; Dracklé 2005; Dracklé, Edgar 2004; Miller, Slater 2000; Wormald 2005; Postill 2011), Medien (Gillespie 1995), Politikstrategien (Shore, Wright 1997); Organisationen (Alvesson 1993; Schwartzman 1993; Wright 1994); Akteur-Netzwerken (Callon 2006 a, 2006 b; Latour 2002); Communities (Cohen 1982) und in der Ethnologie Europas (Dracklé, Kokot 1996; Hess, Moser, Schwertl 2013) – um nur einige Bereiche zu nennen, in denen ethnographische Forschung in komplexen Gesellschaften zur Anwendung kommt. Auch meine Forschung ist in diesem Kontext angesiedelt. Ich habe auf Workshops und Konferenzen, in Ministerien, staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen, Stadtteilen und im Internet geforscht. Zur Bewältigung der ethnographischen Spurensuche in diesem Forschungsfeld habe ich erprobte Methoden der empirischen Kultur- und Sozialforschung zu einem Methoden-Mix kombiniert: ethnographische Fallstudien, teilnehmende Beobachtung, Interviews, informelle Gespräche, Gruppendiskussionen, Fotografieren und das Sammeln von Presse und Medienbeiträgen, sowie so genannter grauer Literatur. Die Anwendung der Methoden erstreckte sich auch auf virtuelle Felder wie Internetplattformen, Onlinediskussionen und Chats. Insgesamt führte ich im Forschungszeitraum mit zehn Personen Interviews, die eine Dauer von 30 Minuten bis zu fünf Stunden hatten. Hinzu kommen Kurzinterviews mit etwa 25 Perso-

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nen, fünf Gruppendiskussionen, von denen zwei online stattgefunden haben und zahlreiche informellen Gespräche, die sich schwer quantifizieren lassen. Außerdem führte ich in meiner Untersuchung teilnehmende Beobachtungen an sechs verschiedenen Orten durch, die eine unterschiedliche Dauer hatten und von einigen Stunden bis zu mehreren Wochen dauerten. Um den Untersuchungsgegenstand zu ergründen war es notwendig, nicht nur die einzelnen Methoden zu kombinieren, sondern in einigen Fällen auch, sie zu modifizieren. So musste ich beispielsweise eine Vorgehensweise entwickeln, um die klassischen Methoden des Interviews und der teilnehmenden Beobachtung in virtuellen Umgebungen anwenden zu können. Wie andere Ethnologen, die sich mit kulturellen Praktiken im Internet beschäftigen (vgl. Brouwer 2005; Fernandes Ferreira 2007; Hine 2000; Miller 2012; Miller, Slater 2000; Postill 2006; Woolgar 2002), habe auch ich meine Spurensuche in virtuellen Umgebungen durchgeführt. Die Schauplätze waren in erster Linie die Webseiten der von mir untersuchten Einrichtungen und Organisation sowie angegliederte Chaträume. Dort lieferten zwei Gruppendiskussionen einen wichtigen Beitrag zur Datensammlung. Von Bedeutung ist, dass ich die Methoden nicht einfach beliebig angewendet habe, sondern, dass sich der Methoden-Mix aus meinem Gegenstand und meinem Forschungsfeld ergab. Der Ausgangspunkt meiner Forschung, der Problemzusammenhang, von dem aus ich meine Spurensuche begann, ist die Beobachtung, dass aufgrund der digitalen Spaltung der Gesellschaft in Deutschland Politikstrategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt werden. Im Vergleich zu klassischen Studien, in denen eine bestimmte Gruppe, Ethnie oder Gemeinschaft im Mittelpunkt steht, ändert sich die Herangehensweise des Ethnologen bei der Erforschung von Politikstrategien. Shore und Wright zur Folge steht nicht mehr die Frage der Erforschung einer bestimmten Gemeinschaft oder eines „Volkes“ im Fokus ethnologischer Forschung, sondern „the anthropologist is seeking a method for analysing connections between levels and forms of social process and action, and exploring how those processes work in different sites – local, national and global“ (Shore, Wright 1997:14). Es ist demnach erforderlich, eine Arbeitsweise zu entwickeln, die in der Lage ist, in den unterschiedlichen Feldern, die den Gegenstand konstituieren, ethnographisches Material zu sammeln und es zu analysieren. Wie bin ich also vorgegangen, um meine Kombination aus einzelnen Erhebungsmethoden in dem dichten Netz aus Akteuren in Bremen, Berlin, Düsseldorf, Esslingen und Hannover anzuwenden? Warum habe ich welche Methoden angewendet? Welcher Ansatz macht es möglich, soziale und kulturelle Prozesse auf Expertenworkshops, Tagungen, in Büros, Stadtteilen und Nichtregierungsorganisationen und deren Verbindungen zueinander zu untersuchen? Der Ethnologe George E.

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Marcus entwickelte für heterogene Forschungsfelder, die sich aus vielen unterschiedlichen Orten zusammensetzen, die Multi-Sited-Ethnography (Marcus 1995). Die Viel-Felder-Ethnographie ist ein Forschungsansatz, der den komplexen Zusammenhängen nachfolgt, die den Gegenstand konstituieren. Sie wird häufig bei der Untersuchung von komplexen Sachverhalten angewendet. Von einem bestimmten Problemzusammenhang oder Ort ausgehend, werden die Beziehungsnetzwerke der Akteure und deren Bedeutungen für die kulturelle Praxis nachvollzogen, die an andere Orte ausstrahlen, und durch vielfältige Verknüpfungen eng miteinander verbunden sind. In meiner Studie stellt die digitale Marginalisierung von Migranten einen Problemzusammenhang dar, von dem aus die Untersuchung ihren Ausgang genommen hat. Im Rahmen der Diskussion über die „digitale Spaltung der Gesellschaft“ haben Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, die Stiftung Digitale Chancen, die Stadt Esslingen und die Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. Anstrengungen unternommen, um den Prozess der digitalen Integration von Migranten zu fördern. Im Rahmen der Multi-SitedEthnography kommt ein Repertoire an Erhebungs- und Analysemethoden zum Einsatz, das sich jeweils aus den Erfordernissen ergibt, die der Gegenstand der Studie und die entsprechenden Schauplätze verlangen. Im Folgenden skizziere ich deshalb den Gegenstand meiner Untersuchung.

G EGENSTAND Das dichte Netz aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, deren Beziehungen zueinander, die zirkulierenden Ideen, Einstellungen, Ziele und Motivationen, Orte und kulturellen Praktiken, die für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration bestimmend sind, bilden den Gegenstand der Studie. Der Fokus liegt darauf, durch welche Prozesse und Praktiken Maßnahmen geschaffen wurden, in denen neue Medien und Technologien wie Computer und Internet als Werkzeuge eingesetzt werden, um die Partizipation von Migranten in der Gesellschaft zu fördern. Ausgehend davon sind jene Praktiken der beteiligten Akteure von Interesse, die im Rahmen des Zustandekommens von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielten. Ein interessantes Phänomen war die Überzeugung politischer und technologischer Experten, dass die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien ein wichtiges Werkzeug der soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Integration darstellen. Die Überlegungen führten mich da-

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zu, die Felder und Diskurse aufzuspüren, in denen diese Vorstellungen in politische Strategien umgesetzt und auf diese Weise normativ werden. In der öffentlichen Rede über die digitale Integration von Migranten spielen die Vorstellungen von Akteuren eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien. Es sind Personen, die durch ihre Übersetzungsleistungen und ihre Handlungen Projekte ins Leben rufen, in denen Maßnahmen zur digitalen Integration wie buerger-gehen-online in Esslingen und IMES in Hannover entwickelt und umgesetzt wurden. Es stellt sich deshalb die Frage, was die Akteure charakterisiert, die in ihren Denkwerkstätten politische Strategien entwickeln, die den gesellschaftlichen Fortschritt sichern sollen. Als Träger von Wissen und Kultur sind sie deren kreative Erfinder oder Neuinterpretatoren. Ihre Aufgaben liegen in der Anfertigung von Gutachten (z. B. über Projekte zu digitalen Integration und deren Erfolgschancen oder über die richtigen Managementstrategien der Projekte), sie machen Politik, erdenken Politikstrategien und sie schaffen konkrete Maßnahmen und Initiativen. Durch ihre Schlüsselstellungen in Einrichtungen wie Ministerien, Ausländerbüros, Nichtregierungsorganisationen oder öffentlichen Verwaltungen versuchen sie, neue Entwicklungen in Gang setzen und zu beeinflussen. Marcus (1997) bezeichnet diese Menschen als Cultural Producers. Unter „kulturellen Produzenten“ verstehe ich nicht zwingend Angehörige der oberen sozialen Schichten, sondern Vertreter verschiedener kulturell oder sozial differenzierter Gruppen. Es sind Beamte und Politiker, Sozialarbeiter, PC-Lehrer und Stadtteilbewohner, die in komplexen Übersetzungsprozessen als Vermittler auftreten. In einem heterogenen Akteur-Netzwerk leisten sie nicht nur notwendige Überzeugungsarbeit, sondern treten auch als Vermittler zwischen Einrichtungen, Projektförderern und den Zielgruppen von Maßnahmen auf (vgl. Latour 2002, 2005 a; Callon 2006 b). Sie sind sowohl für die Entwicklung, wie auch für die Umsetzung von Strategien verantwortlich. Für die Konstitution meines Untersuchungsgegenstandes sind die Vorstellungen, Ziele und Handlungen der Akteure und deren Rolle im Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ausschlaggebend. Wie sieht also die Praxis der Akteure aus – und noch viel wichtiger, wie lässt sich die Praxis erforschen? Da ethnologische Forschung immer einen Großteil der Daten vor Ort sammelt, sind auch die verschiedenen Schauplätze in Bremen, Berlin, Düsseldorf, Esslingen und Hannover für den Gegenstand der Studie relevant, an denen die von mir als Vermittler skizzierten Akteure aktiv sind. Nachdem ich nun den Untersuchungsgegenstand skizziert habe, zeige ich im Folgenden, wie ich in meiner Feldforschung im Einzelnen vorgegangen bin und in welcher Chronologie ich geforscht habe. Ich stelle dar, wie und mit welchen

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Methoden ich an den entscheidenden Orten geforscht habe und mit welchen Akteuren ich Kontakt hatte.

C HRONOLOGIE , M ETHODEN

UND

A KTEURE

Meine Studie begann Mitte 2002 mit ersten Vorrecherchen. Im Rahmen des Problems der digitalen Marginalisierung von Migranten als Folge der digitalen Spaltung und damit zusammenhängenden Initiativen zur Verbesserung der digitalen Kompetenzen von Migranten wurde ich auf das Netzwerk Digitale Chancen (NDC) aufmerksam. Dieses wurde in Bremen initiiert. Es startete 2001 als Aktionsprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und wurde durch Herrn H. von der Universität Bremen und AOL Deutschland ins Leben gerufen. Frau J. war für die Organisation des Netzwerks verantwortlich und koordinierte die regelmäßigen Treffen der im Netzwerk beteiligten Akteure in Bremen. Das Ziel des NDC bestand darin, eine Experten-Plattform für Wissens- und Informationsaustausch zum Thema der digitalen Integration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen ins Leben zu rufen. Durch das Einbeziehen von Akteuren aus den Feldern Seniorenarbeit, Arbeitslosigkeit, Jugend- und Frauenarbeit, Migration, internationale Zusammenhänge und Forschung wurde Wissen gesammelt, durch das die digitale Integration der Bevölkerung verbessert werden sollte. Aufbauend auf den Zielen verfestigten sich 2003 die Strukturen des NDC, da sich aus dem Netzwerk die Stiftung Digitale Chancen (SDC) gründete, die heute eine bedeutende nationale Nichtregierungsorganisation (NGO) im Feld der digitalen Integration benachteiligter Gesellschaftsgruppen ist. Einerseits entstand dadurch ein Kompetenzzentrum, das den Gründern von privaten und öffentlichen Internetzugangsorten die entsprechende Beratung gibt. Andererseits entwickelte sich ein Netz aus Forschern, Beamten, TechnikExperten, Forschungsinstitutionen, Ministerien, Entwicklungszentren und Förderern aus der Wirtschaft. Gemeinsam ist den beteiligten Akteuren und Einrichtungen, dass sie sich in einem regen Austausch zu Fragen der digitalen Integration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen befinden. Online präsentiert sich das Akteur-Netzwerk als virtuelle Plattform, auf der die Akteure regelmäßig Informationen in Form von Artikeln, Web-Links, Bildern, Kommentaren und Interviews zur Verfügung stellten.1

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Die Plattform der Stiftung Digitale Chancen ist unter der URL http://www.digitalechancen.de zugänglich.

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Die Vorrecherchen und erste Kontakte zu Frau J. ermöglichten mir den Zugang zum Netzwerk Digitale Chancen (NDC). Als „Redaktionspartner“ bekam ich dort eine Rolle, die es mir ermöglichte, Kontakte zu Experten aus dem Feld der digitalen Integration aufzunehmen. Der Zugang zum Forschungsfeld und der Aufbau von Beziehungen zu Informanten stellen in der ethnographischen Forschung eine grundlegende Herangehensweise dar. Sind erst einmal genügend Kontakte vorhanden, ergeben sich aus ihnen neue Verbindungen zu Akteuren, die im Rahmen der Untersuchung von Interesse sein könnten. Im Schneeballsystem entwickeln sich nach geglücktem Zugang zum Feld die Verbindungen zu den für den Gegenstand relevanten Akteuren und Schauplätzen. Zunehmend nimmt man in dem Prozess als Ethnograph eine bestimmte Rolle ein, die bei mir beinhaltete, dass ich einen Teil meiner Rechercheergebnisse zum Thema der digitalen Integration von Migranten in Form von Internetverweisen und Dokumenten auf der Internetplattform des NDC öffentlich machte. Außerdem nahm ich an fünf Redaktionspartnertreffen teil, auf denen die ca. 20 Redaktionspartner aus verschiedenen Bereichen jeweils ihr Wissen austauschten und über digitale Integration von marginalisierten Bevölkerungsgruppen diskutierten. Daraus ergab sich, dass der erste Teil meiner Feldforschung in den Expertenkreisen stattfand, da ich früh bemerkte, dass die Diskussionen und Praktiken in engem Zusammenhang mit meinem Gegenstand stehen. Dies führte mich von den Redaktionspartnertreffen in Bremen zu zahlreichen Workshops, Expertentreffen und Tagungen in Berlin, Düsseldorf und Brüssel. Die unterschiedlichen Orte und Situationen machten es notwendig, ein funktionierendes Set aus Methoden zusammenzustellen, das eine Datenaufnahme an den verschiedenen Schauplätzen ermöglicht. Ein Merkmal meines ethnographischen Forschungsansatzes ist es, dass eine Vielfalt von überwiegend qualitativen Methoden zur Anwendung kommt, um mich „der Vielschichtigkeit von Lebenswelten anzunähern“ (Weißköppel 2001: 76). Charakteristisch für ethnologische Forschung ist die Methode der teilnehmenden Beobachtung, die ich von Beginn an im Umfeld des NDC anwendete. Das beinhaltete, dass ich auf den Treffen der Redaktionspartner in Bremen teilnahm und mich kontinuierlich in den Räumlichkeiten des NDC an der Universität Bremen aufhielt, um mehr über die Aktivitäten der Akteure herauszufinden. In meiner Untersuchung stellte diese Vorgehensweise die wichtigste Methode dar. Bei der Erhebungstechnik ist der Forscher selbst sein wichtigstes Werkzeug. Zum Einsatz kommen verschiedenen Formen des regelmäßigen Beobachtens, Techniken des Sammelns, Aufschreibens und Wahrnehmens. Diese habe ich in vielen Situationen angewendet – auf Workshops, Konferenzen, in Gesprächsrunden, Organisationen, Stadtteilen, Computerkursen und an öffentlichen Zu-

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gangsorten zu PC und Internet. Die Länge und Intensität der teilnehmenden Beobachtung orientierte sich an den engen Zeitkontingenten, die viele der Akteure in meinem Feld hatten. Vor allem in zeitlich stark begrenzten Situationen, wie auf einem Workshop, war es deshalb notwendig, ganz gezielte Beobachtungen anzustellen, die für den Untersuchungsgegenstand relevant sind. Dies schloss eine vorherige Strukturierung mit ein. Wesentlich freier und unstrukturierter konnte ich die teilnehmenden Beobachtungen in Esslingen und Hannover anwenden. Hier war das Zeitkorsett nicht so eng, da ich dort am Alltag von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und an regelmäßig wiederkehrenden Veranstaltungen wie Computerkursen teilnehmen konnte. Von großer Bedeutung für die Analyse und Ergebnisse meiner Studie sind die schriftlichen Notizen, die ich während der teilnehmenden Beobachtung anfertigte. Schon während der Forschung begann ich, die Textpassagen aus meinem Feldforschungstagebuch zu transkribieren, um sie in einem zweiten Schritt zu selektieren und zu systematisieren. Dies schärfte meinen Blick schon während der Forschung und erlaubte es mir, meine Fragen zunehmend zu konkretisieren. Eine weitere Systematisierung meiner Feldnotizen erfolgte schließlich bei der Auswertung der Protokolle am Schreibtisch. Durch das Fokussieren auf bestimmte Stellen in den Notizen und durch das Verknüpfen von Verbindungen zwischen verschiedenen Textpassagen entstanden Kategorien wie „digitale Integration“, die für die Analyse der Daten ausschlaggebend waren. Wie Weißköppel (2001: 77) bemerkt, beziehen sich ethnographisch arbeitende Wissenschaftler bei der Anwendung von Techniken des kontinuierlichen Selektierens, Fokussierens und Systematisierens auf die Postulate aus der Grounded Theory (vgl. Glaser, Strauss 1967; Strauss, Corbin 1996). „Sinndeutung und theoretische Entdeckungen entwickeln sich während des Forschungsprozesses, müssen allerdings aktiv, eben durch bewusste Selektion und Fokussierung sowie sporadische Abstraktionen (Memos) von den ForscherInnen betrieben werden.“ (Weißköppel 2001: 77)

Durch das Vorgehen rückte der Fokus meiner Untersuchung schon früh auf die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Außerdem ergab sich aus der kontinuierlichen Selektierung und des Fokussierens, dass es in meinem Feld einerseits staatliche Einrichtungen und andererseits Nichtregierungsorganisationen sind, die an den untersuchten Prozessen beteiligt sind. Die kontinuierliche Abstraktion meiner Daten schon während der Forschung lieferte zusätzlich die Basis für die spätere Analyse.

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Neben der teilnehmenden Beobachtung waren Gesprächstechniken wie das informelle Gespräch, Interview und die Gruppendiskussion wichtige Methoden, die ich anwendete. Insbesondere das informelle Fragen und das informelle Gespräch (Girtler 1984; Lindlof 1995) setzte ich häufig ein, um von meinen Informanten Informationen zu bekommen. Besonders in zeitlich eng begrenzten Situationen wie auf einem Workshop oder einer Konferenz waren diese Methoden die einzige Möglichkeit, meine Informanten zu befragen. Das verlief immer nach einem ähnlichen Muster: ich stellte mich zu Beginn eines Gesprächs als Forscher vor, der über die digitale Integration von Migranten forscht. Fast in allen Fällen entwickelten sich daraus zwar kurze aber sehr gehaltvolle Konversationen mit Akteuren wie Frau J., Herrn H., Herrn W., Frau N. oder Herrn G.. Schon während dieser Situationen merkte ich mir bewusst wichtige Aspekte des Gesprächs und fertigte davon so bald wie möglich Protokolle an. Außer dem informellen Gespräch wendete ich verschiedene Techniken des Interviewens an. Am häufigsten kam das Kurzinterview zum Einsatz. In Gesprächen, die zwischen 10 und 20 Minuten dauerten, hatte ich meist eine offene Struktur von Fragen, die ich ihm oder ihr stellte. Die Fragen bezogen sich auf die Rolle der Person im jeweiligen Untersuchungskontext, auf ihre Meinung zu digitaler Integration von Migranten aber auch auf den Aufbau und Inhalt von Projekten und die Bedeutung von Organisationen. Die Techniken des Interviews, mit denen ich neben den Daten aus der teilnehmenden Beobachtung den Großteil meiner Daten sammelte, waren das narrative Interview (Spradley 1979) und das Experteninterview (Vogel 1995). Mit meinen Schlüsselinformanten Herrn W., Herrn S. und Herrn G. führte ich sowohl das Eine wie auch das Andere durch. In den narrativen Interviews stellte ich den Informanten nur einige grundlegende Fragen, wie etwa zur persönlichen Biographie, um den Gesprächsfluss in Gang zu setzen. Die Interviews selbst dauerten mehrere Stunden und setzen sich aus zwei bis drei Interviewterminen zusammen. Wie ich im Verlaufe des Kapitels noch zeige, habe ich mit einer Reihe von weiteren Akteuren narrative Interviews geführt. Schließlich spielte auch das Experteninterview eine entscheidende Rolle bei meiner Datenerhebung. Hier stand jeweils ein festgelegter Gegenstand wie etwa „die digitale Integration von Migranten“ im Mittelpunkt des Gesprächs. Mit einer offenen Struktur von Fragen, die die Interviewpartner meist schon vor dem Interview kannten, konnte ich wichtige Expertenmeinungen, Einstellungen und Handlungsansätze in Bezug auf meinen Gegenstand in Erfahrung bringen. Genau wie bei den schriftlichen Daten aus der teilnehmenden Beobachtung unterzog ich die Interviews einer Transkription, Selektion und Systematisierung. Das versetzte mich in die Lage, meinen Gegenstand und die Themen kontinuierlich einzugrenzen. Gemeinsam ist den Techniken des Interviews, dass sie auf

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den Erkenntnissen des laufenden Forschungsprozesses aufbauten, da sich die interessanten Fragen für Interviews erst während der Untersuchung ergaben. Neben den gängigen Methoden, deren spezifische Anwendung in meinem Untersuchungsfeld ich in den letzten Abschnitten dargestellt habe, kamen weitere Techniken wie das Sammeln und Analysieren von Medienbeiträgen und grauer Literatur, sowie die Teilnahme auf Internetplattformen, an Chats und Onlinediskussionen zum Einsatz. Während meiner gesamten Forschung sammelte ich kontinuierlich Presseartikel, Internetverweise, Projektflyer, Broschüren und Tonmaterial aus dem Internet. Bei der Datenerhebung in virtuellen Umgebungen habe ich mich an den Arbeiten von Miller und Slater (2000) sowie von Hine (2000) orientiert. In der „virtuellen Ethnographie“ (ebd.) kommen grundsätzlich auch die Techniken zum Einsatz, die in realen Erhebungssituationen angewendet werden. Der Ethnograph macht auf einer Internetplattform Beobachtungen, etwa welche Teilnehmer sich auf ihr tummeln, er nimmt an Foren teil, diskutiert in Chats mit Informanten und stellt ihnen Fragen. In meiner Studie erforschte ich insbesondere die Internetplattformen der Stiftung Digitale Chancen, der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. und des Projekts buerger-gehenonline. Außerdem beobachtete ich das Webportal der Stadt Esslingen. Bei meinen Beobachtungen legte ich Wert darauf, festzuhalten, wie sich die Plattformen im Verlauf der Zeit verändert haben, wie sie gestaltet sind und wie „migrantenfreundlich“ sie sind. In den Chats, in denen ich im Umfeld der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. teilgenommen habe, legte ich meine Identität als Forscher immer offen. Ich folgte den Diskussionen in den Chats und debattierte selbst mit. Außerdem stellte ich den Online-Informanten Fragen. Darüber hinaus durchforstete ich das Internet nach Foren über das Thema der digitalen Integration. Auch dort konnte ich wertvolles Material für meine Studie sammeln. Von Bedeutung als Kommunikationsmittel ist in meiner Forschung auch Email. Es versetzte mich in die Lage, mit Informanten auf elektronischem Weg Kontakt aufzunehmen und ihnen Fragen zu stellen. Nachdem ich zunächst meinen Zugang zum Forschungsfeld über das Netzwerk Digitale Chancen dargestellt und die wichtigsten Methoden meines ethnographischen Ansatzes erläutert habe, zeige ich nun, wie sich meine Studie im weiteren Verlauf entwickelt hat. Die für die Forschung entscheidende Verbindung zwischen den Veranstaltungen, auf denen ich mit Regierungsbeamten, NGO-Vertretern, Verwaltungsbeamten und technologischen Experten zu tun hatte, stellte der Bundeswettbewerb Media@Komm dar. Die Bundesregierung suchte darin drei Städte in Deutschland, die mit der Bezuschussung durch Bundesmittel ihr eigens erarbeitetes Konzept des lokalen Egovernment umsetzen. In den Siegerstädten des Wettbewerbs Nürnberg/Erlangen, Bremen und Esslingen

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wurden umfangreiche Maßnahmen ins Leben gerufen, die die Einführung von Informations- und Kommunikationstechnologien in den öffentlichen Verwaltungen, im ökonomischen, politischen und sozialen Bereich an den Orten mit sich brachte.2 Media@Komm führte regelmäßig Tagungen und Workshops durch, auf denen sich die Vertreter der jeweiligen Städte, lokale, nationale und EUPolitiker und technologische Experten trafen. Die Veranstaltungen zu den Themen „Egovernment“ und „digitale Integration“ bildeten eine Plattform, auf der die Akteure Wissen, Praxis, Erfahrungen und Ideen austauschten. Forschung in dem Kontext betreiben heißt, Felder zu untersuchen, die nur in einem bestimmten zeitlichen Rahmen existent sind, beispielsweise vom Beginn einer Tagung bis zum Ende. Wie die Akteure in meinem Feld war auch ich stets von der „Zeitknappheit“ betroffen. Da meine Informanten allesamt höchst mobil waren und oft an mehreren Orten parallel arbeiteten, hatten sie meist keine Zeit, in der ich intensive Interviews mit ihnen führen konnte. In der Phase stellte sich das informelle Gespräch als eine starke Methode heraus, die es erlaubte, unter Zeitdruck an Informationen zu kommen. In den Pausen zwischen den Vorträgen verwickelte ich meine Informanten in informelle Gespräche und erhielt auf diese Weise wichtige Hinweise, die mich bei meiner Spurensuche weiterbrachten. Im Verlauf der Forschung gab es schließlich Schlüsselmomente, die meine Studie maßgeblich beeinflussten. Darunter betrachte ich Situationen, in denen sich während der teilnehmenden Beobachtung Gesprächssituationen und Beobachtungsperspektiven ergeben, die den weiteren Fortgang der ethnographischen Spurensuche verändern und in neue Richtungen lenken. Einer der entscheidenden Momente ereignete sich im Oktober 2003 auf der eGo in Düsseldorf. Auf dem internationalen Symposium wurde der Abschluss des bundesweiten Media@Komm Projektes eingeleitet. Neben den lokalen Vertretern aus Nürnberg/Erlangen, Bremen und Esslingen nahmen an der Konferenz namhafte politische Vertreter wie der damalige EU-Kommissar für Unternehmen und die Informationsgesellschaft, Erkki Liikanen, und Akteure aus bekannten IKTUnternehmen teil. In einem Panel, in dem die Teilnehmer von Media@Komm Bilanz über ihre Projekte zogen, wurde ich auf Herrn A. aufmerksam. Er ist Projektleiter von „MediaKomm“, der Esslinger Version des Bundesprojekts. In einem Nebensatz seines Vortrages erwähnte er, dass man in Esslingen „auch etwas für benachteiligte Gruppen wie Senioren und Migranten tut“ (P Okt. 04/o8). Er

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Das groß angelegte Projekt Media@Komm (www.mediakomm.net) befindet sich mittlerweile in der Transferphase, in der die Erkenntnisse aus der Wettbewerbsphase in andere Städte und Gemeinden in Deutschland übertragen werden.

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sprach in dem Zusammenhang vom Projekt „buerger-gehen-online“3, welches in diesem Kontext in Esslingen eine wichtige Rolle spielt. Nach dem Vortrag suchte ich den Informationsstand auf, an dem sich die Esslinger und ihr „BestPractice Projekt“ präsentierten. In einem Kurzinterview mit Herrn A. erfuhr ich, dass in seiner Stadt nicht nur Wert auf die Einführung verschiedener Egovernment Angebote gelegt wird, sondern es auch viele Aktivitäten im Hinblick auf das Heranführen der Bürger an den Umgang mit Computer, Internet & Co gibt. Außerdem kamen wir darauf zu sprechen, dass Esslingen eine Stadt mit hoher Migrantenbevölkerung ist, welche im Projekt buerger-gehen-online besonders berücksichtigt wird. In dem Zusammenhang entstanden in den letzten Jahren Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten. Herr A. nannte Herrn W., den Leiter des Projekts buerger-gehen-online, als entscheidende Kontaktperson. Die Verbindung zu Herrn W. spielt für die Forschung eine wesentliche Rolle weil er ein zentraler Akteur der lokalen Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen ist. Durch diverse Emails und Telefonate baute ich den Kontakt zu Herrn W. auf. Er ist nicht nur ein bedeutender Akteur im Entwicklungs- und Umsetzungsprozess von Strategien zur digitalen Integration von Migranten, sondern weiß als Sozialarbeiter auch viel über die gesellschaftlichen Zustände. Bereits die Ergebnisse aus den ersten Gesprächen mit ihm zeigten Esslingen als viel versprechenden Ort für meine weitere Feldforschung. Das führte mich im November 2003 zum ersten Mal in den Südwesten Deutschlands. In einem eintägigen Aufenthalt in der 90.000 Einwohner Stadt erzählte mir Herr W. viel über die digitale Integration von Migranten, zeigte mir öffentliche Zugangsorte zu PC und Internet und stellte mich wichtigen Akteuren vor. Außerdem lernte in an dem Tag Herrn S., den Ausländerbeauftragten der Stadt kennen. Dadurch gewann ich einen ersten Überblick zu den Aktivitäten und Praktiken, die es in Esslingen im Rahmen der digitalen Integration von Migranten gibt. Schon am ersten Forschungstag stellte sich heraus, dass zwischen Akteuren, Lokalpolitik, städtischer Verwaltung und Maßnahmen wie Computerkursen interessante Verbindungen bestehen. Das führte dazu, dass ich von Februar bis Juni 2004 einen längeren Forschungsaufenthalt in Esslingen durchführte, um die lokale Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten zu untersuchen.

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Das Projekt buerger-gehen-online (www.buerger-gehen-online.de) wurde auf der lokalen Ebene meiner Untersuchung zu meinem Hauptuntersuchungsfeld. Es wird im empirischen Teil dieser Arbeit noch detailliert beschrieben (Dritter Teil: Fallstudien).

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Während der fünf Monate führte ich dort eine Reihe von teilnehmenden Beobachtungen an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Situationen durch: im Büro von Herrn W., im Ausländerbüro der Stadt, in der städtischen Kantine, auf zahlreichen Computerkursen, im Rathaus, im Stadtteil Pliensauvorstadt, im Jugendinfoladen Claro, auf Diskussionsabenden und auf den Straßen und Plätzen von Esslingen. Durch meine Anwesenheit lernte ich Akteure kennen, die an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration beteiligt sind: den Sozialarbeiter Herrn W., die Sozialberaterin Frau Ü., den Ausländerbeauftragten Herrn S., die Computerkursleiterin Frau N., die Mentoren Herrn H. und Frau E, einige Vertreter der Ausländerfraktion und Bewohner der Stadt. Durch den Kontakt zu ihnen war ich in der Lage viele informelle Gespräche, Kurzinterviews und intensive Interviews zu führen und ich gewann dadurch zunehmend Vertrauen bei meinen Informanten. Sie, ihre Diskurse, Beziehungen untereinander, Konflikte und die tägliche Praxis erlaubten es mir, meinen Gegenstand kontinuierlich einzugrenzen und machten ihn zunehmend ethnologisch erforschbar. Endlich traf ich die Menschen, deren Geschichten den Ethnologen interessieren und aus denen er kulturelle Praxis rekonstruiert. Durch die kontinuierliche Auswertung meiner Beobachtungen entwickelte ich konkrete Fragen, mit denen ich meine Informanten durch die Gesprächstechniken konfrontierte. Wie meine ethnographische Spurensuche zeigt, ist es heute nicht mehr möglich, ein ethnographisches Fallbeispiel von äußeren Einflüssen zu isolieren und seine Verbindungen zu anderen Orten und Problemzusammenhängen zu vernachlässigen. So wie man heute davon ausgeht, dass es keine „unberührten“ Orte auf der Welt mehr gibt, an denen eine wie auch immer „ursprüngliche“ Kultur anzutreffen ist, so kann man auch in Forschungen über Computer, Internet & Co. nicht so tun, als sei das jeweilige Beispiel isoliert von der Außenwelt. Auch Esslingen und die dortige Praxis der digitalen Integration von Migranten lassen sich nicht von überlokalen Entwicklungen trennen. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass meinem komplexen Forschungsfeld keine Hierarchie immanent ist, die bestimmten Schauplätzen mehr und anderen weniger Bedeutung zuschreibt. Die Akteure, ihre Austauschprozesse und Handlungen stellen ein dichtes Netz dar, in dem jeder Akteur und Ort eine Rolle spielt. Es gibt Verbindungen zwischen ihnen und auf diese Weise gestalten sie den Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Die Bewegungen meiner Informanten in einem Netz aus Orten wie Bremen, Berlin, Düsseldorf, Esslingen und Hannover erscheinen zwar auf den ersten Blick als lineare Bewegung von einem Ausgangspunkt hin

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zu einem Ziel – etwa von den Bemühungen des Netzwerks Digitale Chancen hin zu konkreten Maßnahmen wie Computerkursen in Esslingen. „Selbst Ausgangsort und Ziel sind nicht als binäre Pole zu verstehen, etwa als Orte, die einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende voraussetzen: Hierarchien der Bewegung und der Beziehungen anzunehmen entspricht nicht den Formen der sozialen Begegnung, wie sie sich im Kontext von Globalisierung und den vielfältigen Verflechtungen und netzartigen Beziehungsformen ereignen.“ (Dracklé 1999: 54)

Am besten lässt sich die „nicht-polare“ Konnotation von Beziehungsgeflechten verstehen, wenn man sich die Metapher des „Rhizoms“ vor Augen führt, die Deleuze und Guattari (2002) entwickelt haben (vgl. Erster Teil: Theorie). Demnach führte mich meine ethnographische Spurensuche auch immer wieder weg aus Esslingen, hinein in das Netz, in dem ich immer mehr Verbindungen fand, die nach Esslingen oder von dort weg führten, nach Berlin, Hannover, Brüssel und in die weite Welt des Internet. Die nicht-polare Logik von Verbindungen, die es in meinem Forschungsfeld gibt, spiegelt sich auch darin wieder, wie ich von Ende 2004 bis Ende 2005 zum zweiten längerfristigen Forschungsaufenthalt gekommen bin. Durch meine Aktivitäten bei der Stiftung Digitale Chancen und in Esslingen wurde die Nichtregierungsorganisation (NGO) „Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V.“ aus Hannover auf meine Aktivitäten aufmerksam. Im Internet fand die NGO erste Veröffentlichungen meiner Ergebnisse aus Esslingen (Hinkelbein 2004 a). Ende 2004 war die Projektwerkstatt in der Vorbereitungsphase zur Durchführung des Projekts IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover. Die NGO hatte aus dem EU-Grundtvig Programm Fördergelder erhalten, um das Vorhaben umzusetzen. Nach ersten Gesprächen mit Herrn G., dem Leiter des Projekts und seiner Mitarbeiterin Frau A., die mit der Planung von IMES beauftragt war, wurde ich Schritt für Schritt in das Vorhaben mit einbezogen. Auf diese Weise erlangte ich einen guten Einblick, wie das Projekt vorbereitet und im weiteren Verlauf umgesetzt wurde. Bereits in der Vorbereitungsphase erhielt ich die Möglichkeit aktiv teilzunehmen, indem ich zwei Vorträge in Hannover über meine Forschung in Esslingen hielt und mit der interkulturellen Schulung der Praktikanten und Mentoren des Projekts beauftragt wurde. Daraus ergab sich, dass mich die Projektwerkstatt Anfang 2005 als Begleitforscher „einstellte“. In der Rolle führte ich in Hannover umfangreiche teilnehmende Beobachtung an verschiedenen Schauplätzen durch: in der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V., an zwei Standorten der Stadtbibliothek, an einer Grundschule im Stadtteil Hainholz und im Deutsch-Türkischen Kulturverein Arkadas. Anders

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als in Esslingen bezog sich mein Fokus aber nicht auf die gesamte Stadt, sondern auf die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration im Umfeld des EU-Projekts IMES. Aus den Erkenntnissen, die ich durch teilnehmende Beobachtung an den Orten des Projekts erlangte, entwickelten sich meine Fragen für die zahlreichen informellen Gespräche mit dem Projektleiter Herrn G., mit der Koordinatorin Frau A, und ihrer Nachfolgerin Frau N., mit den Mentoren Herrn A., Frau A. und Herrn M. und mit verschiedenen Kursteilnehmern. Mit dem Projektleiter und der Koordinatorin führte ich ein narratives und ein Experteninterview, um mehr über sie und über das Projekt IMES zu erfahren. Außerdem machte ich Kurzinterviews mit drei Mentoren, um von ihnen über ihre Arbeit als Vermittler von digitalen Kompetenzen zu erfahren. Da das Projekt IMES Partner in Barcelona und Palermo hatte, spielte auch die viersprachige Internetplattform (imes.info) eine wichtige Rolle für das Projekt. Auf der Webseite wurden informative Artikel und Informationen von den Beteiligten online gestellt. Daraus entstand eine umfangreiche Materialsammlung aus dem jeweiligen lokalen und nationalen Kontext. Besonders wichtige Dokumente wurden jeweils in die andere Sprache und in Englisch übersetzt. Außerdem nutzte das Hannoveraner Teilprojekt die Internetseite zur Bekanntgabe von Kurszeiten und Orten, es konnten von den Mentoren und Kursteilnehmern wichtige Leitfäden heruntergeladen werden und sie hatten einen Passwort geschützten Bereich, in dem sie Emails und weitere Informationen austauschen konnten. Darüber hinaus hatte die Plattform eine Chatfunktion, die regelmäßig von Akteuren aus allen Teilprojekten genutzt wurde. Durch die wichtige Bedeutung der virtuellen Umgebung für das Projekt drängte es sich auf, auch an diesem virtuellen Ort zu forschen. Die virtuelle Ethnographie ist längst kein neuer Forschungsansatz mehr (vgl. Hine 2000). Es kommen hier grundsätzlich die Techniken zum Einsatz, die auch in der realen Welt angewendet werden. Der Forscher nimmt teil, beobachtet, stellt Fragen, macht sich Notizen und nimmt an Diskussionen teil. Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede, denn man nimmt an der virtuellen Welt in einer sehr anonymen Form teil. Man ist nicht körperlich anwesend, sondern äußert sich über einen Nicknamen meist in der Form von Text. Man sieht sein gegenüber nicht und nimmt die Umwelt auch sonst nicht durch die eigenen Sinne wahr. Trotzdem ist man aber in der Lage teilzunehmen. Man hat eine Onlineidentität, hinterlässt Spuren und teilt sich in Form von Text mit, nimmt Kontakt zu anderen auf und lernt sie kennen. Im Falle meiner Forschung hatte die virtuelle Ethnographie vor allem zwei Komponenten: 1. Das kontinuierliche Sammeln von Daten auf der Plattform in Form von Artikeln, Dokumenten und Hyperlinks. Außerdem beobachtete ich, wie sich die Seite kontinuierlich veränderte und konnte dadurch die Dynamik

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des Projekts gut beobachten. 2. Ich nahm auch regelmäßig an Chats teil, an denen Akteure sowohl aus Hannover, wie auch aus den Partnerländern anwesend waren. Die Online-Diskussionen, bei denen die Beteiligten wussten, dass ich Forscher bin, hatten jeweils verschiedene Themen wie „Europäische Integration“, „Digitale Kompetenz“ oder „Migration“. In den Chats verfolgte ich die Diskussionen, die immer einen Moderator hatten, und stellte selbst Fragen. Aufgrund der Protokollfunktion des Chats hatte ich jeweils am Ende eine Transkription vorliegen, die ich den schon besprochenen Verfahren des Systematisierens und Selektierens unterzog. In den letzten Abschnitten habe ich den Untersuchungsgegenstand und wichtige Ereignisse in der Chronologie meiner Forschung dargestellt. Es wurde deutlich, wie ich über das Netzwerk Digitale Chancen Zugang zum komplexen Forschungsfeld erhielt und wie mich die Untersuchung nach Esslingen und Hannover führte. Sichtbar machte ich in dem Zusammenhang, welche Methoden der Datenerhebung ich anwendete und mit welchen Akteuren ich zu tun hatte. Um meine Arbeitsweise und den ethnographischen Ansatz zu vertiefen, stelle ich im Folgenden die Schauplätze der Forschung genauer dar.

Schauplätze der Forschung

Ich führte meine Untersuchung in einem dichten Netz aus Akteuren, Orten, Büros, Computerkursen, Online-Diskussionen, Stadtteilen und in Organisationen durch. Die Schauplätze und Forschungssituationen, die sich daraus ergaben, stelle ich nun im Spiegel meines ethnographischen Ansatzes dar. Charakteristisch für die Studie ist es, dass sie schwerpunktmäßig im Umfeld von staatlichen Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen angesiedelt ist. Für die Ethnologie von Organisationen (Alvesson 1993; Schwartzman 1993; Wright 1994) gibt es in methodischer Hinsicht viele Merkmale und Besonderheiten. Anders als bei der Erforschung von Gemeinschaften verbringt der Forscher weitaus weniger Zeit mit seinen Informanten. Allein schon durch die Öffnungszeit der entsprechenden Organisation, wie etwa dem Ausländerbüro in Esslingen oder der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. in Hannover, war die Möglichkeit der teilnehmenden Beobachtung begrenzt. Außerdem steht der „professionelle“ Part der Akteure im Vordergrund, das heißt, dass bei der ethnographischen Forschung in Organisationen die Arbeit der Akteure und weniger deren privates Umfeld im Fokus stehen. Aber auch der Teil der Studie, der nicht in den Organisationen, sondern auf Konferenzen, Workshops oder in Computerkursen stattfand, war zeitlich oft begrenzt und wirkte sich enorm auf meine Arbeitsweise aus. Vor allem insofern, dass es bei zeitlich sehr begrenzten Forschungssituationen darauf ankam, eine gute Struktur des Beobachtens und Fragens zu haben. In diesem Abschnitt stelle ich dar, an welchen Orten ich die Forschung durchgeführt habe und wie sich das jeweils auf meine Arbeitsweisen ausgewirkt hat. Im Vordergrund steht zunächst meine Spurensuche bei besonders wichtigen Vermittlern der „digitalen Integration von Migranten in Deutschland“, die ich in dem Rahmen auch als Elite bezeichne, die vieles im Diskurs um digitale Integration initiiert. Anschließend wende ich mich den lokalen Schauplätzen meiner Spurensuche in Esslingen und Hannover zu.

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E LITEN AUF DER S PUR : T AGUNGEN , W ORKSHOPS , M INISTERIEN UND DER LOKALE A LLTAG Die Erforschung des Entwicklungsprozesses von Strategien zur digitalen Integration von Migranten führte mich in die Praxis, bestehend aus einem dichten Beziehungsnetz, das sich aus verschiedenen Akteuren zusammensetzt. Als ich mich 2002 auf die Spurensuche machte, um herauszufinden, wie Strategien zur digitalen Integration zu Stande kommen, aus welchen Diskursen sie hervortreten, welche Konflikte dabei auftauchen und wer letztendlich in diese Praxis eingebunden ist, bin ich auf Menschen getroffen, die aufgrund ihrer Funktion und ihres Status eine wichtige Position in Politik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft einnehmen. In meiner Feldforschung bedeutete das, dass ich mit Regierungs- und Verwaltungsbeamten wie Herrn U., Ausländerbeauftragten wie Herrn S., NGO-Vertretern wie Frau J., Politikern wie dem Bürgermeister von Esslingen, Wissenschaftlern wie Herrn H., Projektleitern wie Herrn G. und Herrn W. und weiteren Vertretern aus den Bereichen Bildung und Technologie zu tun hatte. Sie begegneten mir in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen. Ich lauschte ihren Vorträgen auf Tagungen und Workshops, ich verwickelte sie in informelle Gespräche in den Pausen von Veranstaltungen, lernte sie als Mitarbeiter von Ministerien kennen, führte mit ihnen lange Interviews über ihre Rolle als Projektleiter oder „Chefs“ von bestimmten Bereichen der öffentlichen Verwaltung, nahm an ihren PC- und Internetkursen teil und ich begleitete sie bei ihrer täglichen Routine im lokalen Kontext. Die verschiedenen Gruppen von Akteuren deuten an, dass der Begriff „Elite“, den ich hier verwende, eine sehr heterogene Gruppe beschreibt. Im Bereich ethnologischer Forschung hat die Auseinandersetzung mit Eliten zwar eine lange Tradition, explizite Studien dazu gibt es jedoch wenige (Adler-Lomnitz, Perez-Lizaur 1987; Cohen 1981; Douglass 1992; Dracklé 1999; Eickelman 1985; Fumanti 2004; Marcus, Dobkin Hall 1992; McDonogh 1986). Obwohl meine Studie nicht als explizite Elitenforschung geplant war, führte mich meine Spurensuche mitten hinein in die Forschung mit und über Eliten. Das größte Problem zu Beginn der Forschung war der Zugang zu den Akteuren in den für mich interessanten Feldern. Denn Eintauchen in die Praxis und die Diskurse von Eliten bedeutet auch das Eintreten in eine Welt, in der es viele Geheimnisse, Konflikte, Konkurrenz und oft undurchschaubare Machtbeziehungen gibt. Obwohl die Diskurse der Eliten nicht vom kulturellen, sozialen und politischen Geschehen losgelöst betrachtet werden können, habe ich während der Forschung wahrnehmen müssen, dass der Zugang bei weitem nicht immer gelingt. Als Wissenschaftler und Experte gelang mir zwar das Eintauchen in die Diskur-

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se, die für mich relevant sind, trotzdem hinderte mich aber vor allem mein Alter am Zugang zu bestimmten Personengruppen. Wie Fumanti (2004) in seiner ethnographischen Elitestudie in Namibia beschreibt, hatte auch er als junger Forscher das Problem, von einem wichtigen Teil der untersuchten Eliten ernst- und wahrgenommen zu werden. Mir erging es wie ihm. Erst im Verlauf der Forschung wurde mir klar, dass dies Teil des Spiels war, das sich um Anerkennung, Macht, Einfluss und Prestige dreht. Es fiel mir besonders schwer, Kontakt zu den Hauptakteuren im Entwicklungsprozess von Strategien zur digitalen Integration von Migranten aufzubauen. Paradoxerweise war ich mir im Verlauf meiner Forschung selten so sicher, dass mein ethnologischer Ansatz hier genau richtig ist, da in seinem Kern genau die Erforschung des Fremden, des Anderen, steht. Denn die Welt, die sich mir in meinen ersten Schritten durch den Dschungel der kulturellen Praxis von Politikstrategien darlegte, war mir so fremd, dass ich dachte, keine „Ethnologie vor der eigenen Haustüre“ zu betreiben, sondern weit weg von zu Hause zu sein. Ich werde mich dem Aspekt der so genannten anthropology at home, meiner Rolle als junger Forscher und als Aktivist im Bereich der digitalen Integration von Migranten im Abschnitt, in dem ich mein Vorgehen reflektiere, noch detaillierter auseinandersetzen. Fest steht jedenfalls, dass sich Forschung auf Workshops, Tagungen, in Ministerien, öffentlichen Verwaltungen und Organisationen grundlegend von klassischen ethnologischen Untersuchungen in Dorfgemeinschaften oder Stadtteilen unterscheidet. Während hier oft quasi-familiäre Beziehungen zu Informanten aufgebaut werden und der Alltag der Informanten miterlebt wird, haben Ethnologen, die im Feld von politischen Strategien und Organisationen forschen, oft nur einen zeitlich begrenzten Kontakt zu ihren Informanten. Ein glücklicher Umstand führte dazu, dass sich mir die Tür zu bestimmten Praxis- und Diskursfeldern politischer Strategien öffnete. Der Schlüsselmoment war die Vorbereitung der Veranstaltung „Berliner Gespräche zur digitalen Integration“, die die Stiftung Digitale Chancen gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit durchführte. In meiner Rolle als Redaktionspartner der Stiftung konnte ich an einem Treffen von Frau J., dem Ministerialbeamten Herrn U. und verschiedenen Redaktionspartnern teilnehmen, das zur Planung der Veranstaltung diente. Unter dem Titel „Integrationsmotor Internet – Digitale Chancen für Migrantinnen und Migranten“ trafen sich dann im Januar 2004 Experten aus unterschiedlichen Bereichen, um über Praxisbeispiele und die Rolle des Integrationsmotors Internet zur „gesellschaftlichen Integration und beruflichen Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten“ (SDC 2004) zu diskutieren. Auffallend an dem öffentlichen Expertenabend, an dem ich selbst als Gast teilnahm, ist, dass in der fünfköpfigen Expertenrunde, bestehend aus Herrn

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W. aus Esslingen, Frau D., Wissenschaftlerin aus Bremen, Herrn Ü. von einer Berliner NGO, Herrn T. und Herrn O., Vertreter einer bekannten deutschtürkischen Internetplattform, auf dem Podium drei Teilnehmer selbst Migrationshintergrund hatten. Das ist insofern interessant, als dass in Eliten- und Expertendiskursen über die Integration von Migranten sie selbst kaum zu Wort kommen. Schnell wurde in der Debatte deutlich, dass die Vorstellungen über die Inhalte von Integration bei den Experten weit auseinander gehen. Aus Forschersicht ist der Abend deshalb wertvoll, weil ich dort wichtige Akteure wie den Ministerialbeamten Herrn U. in informelle Gespräche verwickeln konnte und zudem in Erfahrung brachte, wie die einzelnen Akteure sowohl auf der nationalen wie auch auf der lokalen Ebene miteinander in Verbindung stehen. Es wurde aber auch ein direkter Zusammenhang zwischen meinem Untersuchungskontext auf der eGo-Konferenz in Düsseldorf und dem auf dem Berliner Gespräch deutlich. Wie ich früher in diesem Methodenkapitel bereits erläuterte, knüpfte ich auf der eGo Kontakt zum Projekt buerger-gehen-online (bgo). Herr W., der Projektleiter von bgo war einer der geladenen Gäste für die Expertenrunde auf dem Podium. Er stellte in seinem Vortrag bgo als „best-practice Projekt“ vor und legte einen besonderen Schwerpunkt auf die Darstellung der digitalen Integration von Migranten in Esslingen. Es war interessant zu hören, wie W. über das Projekt und seine Vorstellungen sprach. Ganz wesentlich ging es ihm darum, deutlich zu machen, dass einerseits Internet und Computer als Werkzeug zur Integration genutzt werden können, dass dies aber andererseits nur gelingt, wenn Migranten bei der Entwicklung von Maßnahmen wie Computerkursen selbst mit einbezogen werden. Außerdem wurde W. von Herrn S. begleitet, dem „Beauftragten für Menschen mit Migrationshintergrund“ in Esslingen, der selbst im Publikum saß und sich engagiert in der anschließenden Diskussion über Integration in Deutschland beteiligte. Das bot mir die Möglichkeit, live zu beobachten, wie Experten aus dem Bereich über aktuelle Integrationsstrategien laut nachdenken und welche Positionen sie haben. Ein Sinnbild für den Teil meiner Forschung, der auf Tagungen, Konferenzen, Workshops und in Ministerien stattfand, ist das anschließende Get Together auf dem Berliner Gespräch. Bei Leckereien aus vielen kulinarischen Gebieten der Welt und bei Wein sowie anderen Getränken kamen die Teilnehmer der Veranstaltung miteinander ins Gespräch. Auch ich mischte mich unter die Menge, lauschte Diskussionen, mischte mich selbst ein und beobachtete, wer mit wem sprach. Besonders auffällig war auf Veranstaltungen wie diesen, dass man besonders wichtige Personen schon allein daran erkannte, dass sie von vielen anderen umgeben waren. Umso schwerer war es aus Forschersicht, mit ihnen ein längeres Gespräch zu führen. Ich hatte meist maximal fünf Minuten Zeit meine

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Fragen zu stellen. Trotzdem ließen sich in den kurzweiligen informellen Gesprächen immer interessante Details aufspüren. Insofern stellte das informelle Gespräch an Schauplätze wie dem Berliner Gespräch neben der teilnehmenden Beobachtung die zentrale Methode der Datenerhebung dar.

L OKALE S PURENSUCHE IN STAATLICHEN UND NICHT - STAATLICHEN O RGANISATIONEN IN E SSLINGEN UND H ANNOVER Wie ich in den letzten Abschnitten dargelegt habe, spielt der lokale Kontext in meiner Forschung eine zentrale Rolle. Ähnlich wie in der Studie „The Internet. An Ethnographic Approach“ (Miller, Slater 2000) setzt sich mein Untersuchungsfeld aus vielen lokalen Schauplätzen zusammen, die in Beziehung zueinander stehen und ein dichtes Netz aus Akteuren, Organisationen, Ideen, kulturellen Bedeutungen und Praktiken bilden. Im theoretischen Teil der Arbeit habe ich diese Merkmale unter dem Begriff des Rhizoms zusammengefasst. Die Verflechtungen zeigten sich sowohl im lokalen Kontext selbst, wie auch zwischen den Orten auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene meiner Forschung. Das Untersuchungsfeld in Esslingen und Hannover stellt ein Netz aus Orten, Organisationen wie das Ausländerbüro oder die Projektwerkstatt, öffentliche Einrichtungen wie die Stadtbibliothek in Hannover und Computerräumen dar, an denen ich während meines Aufenthalts anwesend war. Teilnehmende Beobachtung an diesen Schauplätzen und der Blick in die noch so kleinen Facetten kultureller Praxis erlaubt eine Mikroperspektive, wie sie in ethnologischer Forschung angewendet wird. Trotz globaler Verflechtungen sozialer und kultureller Prozesse erlaubt die Mikroperspektive einen Einblick in den Alltag und die kulturelle Praxis von Menschen. Ausgehend davon können schließlich auch größere Zusammenhänge zwischen dem Lokalen auf der Mikro- und dem Globalen auf der Makroebene untersucht werden.1 In Mikrostudien eigenen sich im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung die Methoden des liming (Miller, Slater 2000: 22) bzw. des deep hanging out (Geertz 1998) und des informellen Ge-

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Im Theorieteil des Buchs habe ich bereits dargelegt, dass ich hier eine strikte Trennung von Mikro- und Makroperspektive ablehne. Vielmehr löst mein Ansatz diese Trennung auf weil sich nur auf diese Weise die von mir untersuchten Netzwerke verstehen lassen. Sie gehorchen nicht den Vorgaben einer reinen Mikro- bzw. Makroperspektive.

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sprächs, um sich auf die Suche nach Informanten und deren Geschichten zu begeben. Die Techniken umschreiben eine bestimmte Vorgehensweise und Form der Anwesenheit des Ethnologen. Durch das längere Präsentsein an Orten im Feld, wie etwa in der Projektwerkstatt in Hannover, war ich in der Lage, Informanten und deren Geschichten, Ideen und kulturelle Praktiken zu beobachten und die sozialen- und Machtbeziehungen zwischen den Akteuren zu erkennen. Durch meine Vorgehensweise konnte ich in Esslingen und Hannover Kontakt zu den Personen aufbauen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der digitalen Integration von Migranten beschäftigen und betätigen. Ich traf in dem Prozess auf lokale Akteure, wie die Sozialarbeiterin Frau Ü., auf die Mentoren Herrn A. und Herrn M. aber auch auf Bewohner, die meist Migrationshintergrund hatten und an Computerkursen teilnahmen. Obwohl ich durch die Technik des deep hanging out die Möglichkeit hatte, durch meine längere Präsenz an einem bestimmten Schauplatz wichtige Beobachtungen zu machen und Kontakte zu knüpfen, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass das Zeitsegment, in dem ich die Methode jeweils anwendete, im Vergleich zu klassischen Ansätzen wie sie Geertz (1998) beschreibt, wesentlich kürzer war. Das liegt an meinem Gegenstand, in dem es vor allem staatliche und nicht-staatliche Organisationen sind, deren Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ich untersucht habe. Öffnungszeiten und begrenzte Anwesenheit von Akteuren in Workshops, Meetings oder Computerkursen gaben die Zeitspanne vor, in der ich teilnehmende Beobachtung bzw. deep hanging out anwenden konnte. Trotzdem war es ein großer Vorteil, in Esslingen und Hannover jeweils in verschiedenen Organisationen zu forschen, weil dadurch das Feld von vornherein abgesteckt war und ich dort auf die für meinen Gegenstand relevanten Akteure gestoßen bin. In Esslingen waren es das Ausländerbüro und das Büro des Projekts buerger-gehen-online, wo ich längere teilnehmende Beobachtungen durchführen konnte. Herr W., der Projektleiter von buerger-gehen-online, und Herr S., der Leiter des Ausländerbüros integrierten mich im Verlauf der Forschung immer mehr in die Alltagsroutinen ihres jeweiligen Arbeitsfeldes innerhalb der Einrichtung. Durch regelmäßiges Präsentsein in ihrem Alltag bekam ich einen tiefen Einblick in die Inhalte ihrer Arbeit. Insbesondere mein fast uneingeschränkter Zugang zum Ausländerbüro ermöglichte es mir, die Einrichtung besser kennen zu lernen. Durch die vielen informellen Gespräche mit Herrn S. in seinem kleinen Büro lernte ich die Aufgaben des Ausländerbüros, seine Besucher und Mitarbeiter kennen. Im Verlaufe meines Feldaufenthalts sprach ich auch mit anderen Mitarbeitern, wie mit der Sozialarbeiterin Frau Ü., die, wie ihre Kollegen, in ihrer jeweiligen Muttersprache Esslinger Migranten in verschie-

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denen Problemlagen beraten und betreuen. Sie erzählten mir von den Konflikten, die es im Esslinger Alltag der Migranten gibt. Das Ausländerbüro ist eine Einrichtung, die versucht, in Konflikten zu vermitteln und Hilfestellungen zu leisten. Durch regelmäßige Gespräche mit der Sekretärin, die mir immer sehr bereitwillig Auskunft gab, erfuhr ich mehr über die formale Arbeit des Ausländerbüros. Eine Hauptaufgabe des Ausländerbüros ist die Integration von Migranten in Esslingen.2 Der Leiter der Einrichtung, Herr S., der Integration als offenes Konzept begreift, setzt seit einiger Zeit darauf, neue Medien und Technologien als Integrationshilfen einzusetzen. Aus dem Grund beteiligt sich die Einrichtung an Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten. Ein Großteil des von mir untersuchten Angebots an PC- und Internetkursen findet in den Räumlichkeiten des Ausländerbüros, mitten in der Altstadt Esslingens, statt. Ich nahm in einem Zeitraum von vier Monaten jede Woche an den Lehr- und Übungsangeboten, die von Esslinger Migranten besucht wurden, teil. Darüber hinaus war ich auch an den offenen Treffen im Dachzimmer des Ausländerbüros anwesend, die im Rahmen des Projekts buerger-gehen-online angeboten werden. Einmal in der Woche findet dort ein offener Computertreff für Migranten statt, der durch die Mentoren Herrn H. und Frau E. betreut wird. Durch teilnehmende Beobachtung konnte ich in den Kursen und offenen Treffs einen guten Einblick gewinnen, wie sich Migranten neue Medien wie das Internet aneignen und für ihre Zwecke einsetzen. Zudem konnte ich sehen, wie digitale Fähigkeiten vermittelt werden, welche Fragen dabei auftauchen und wie die Menschen mit Computern, Internet & Co umgehen. Außerdem baute ich in den Kursen Kontakte zu Bewohnern aus der Stadt auf. Das Ausländerbüro ist dem zur Folge eine wichtige Kreuzung und Kontaktzone, von wo aus ich weitere interessante Spuren verfolgen konnte, denn an dem Schauplatz trafen sich die Akteure, die ich als kulturelle Vermittler bezeichnet habe. Ich fasse darunter Personen wie die Sozialarbeiterin Frau Ü., die Computerlehrerin Frau N. oder den Ausländerbeauftragten Herrn S.. Sie sind alle Personen, die im Bereich des Sozialen, Kulturellen und Politischen besonders aktiv sind und oft eine Vermittlerposition einnehmen. Einrichtungen wie das Ausländerbüro sind für diese Menschen ein wichtiger Anlaufpunkt, um ihre Ideen auszutauschen, zu planen, zu unterrichten oder Einfluss auszuüben. Von dort aus lassen sich weitere Spuren verfolgen, die zur Erforschung der Entwick-

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Eine detaillierte Beschreibung der Aufgaben und Rolle des Ausländerbüros erfolgt im dritten Kapitel (vgl. Fallstudie II).

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lung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielen. Eine zentrale Verbindungslinie besteht zwischen dem Projekt buerger-gehenonline (bgo) und dem Ausländerbüro. Der Leiter des Projekts Herr W. und der Ausländerbeauftragte Herr S. arbeiten bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration zusammen. Besonders deutlich wird das in einem Stadtteilprojekt, das im multiethnischen Stadtteil Pliensauvorstadt durchgeführt und vom Europäischen Sozialfond gefördert wird. An dem Projekt sind einerseits die Hauptakteure von buerger-gehen-online und dem Ausländerbüro beteiligt: Herr W., Herr S., die Computerlehrerin Frau N. und die Sozialberaterin Frau Ü.. Andererseits sind auch Akteure aus verschiedenen NGO’s wie dem Verein Ausländer und Deutsche gemeinsam e.V. und Bewohner aus der Pliensauvorstadt beteiligt. Durch meine Anwesenheit auf Veranstaltungen in der Planungsphase lernte ich die Akteure kennen, die sich am „LOS-Mikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt“ beteiligten. Außer zu zwei Mitarbeitern aus den NGO’s Internationaler Bund und dem Verein Ausländer und Deutsche gemeinsam e.V. konnte ich in der Phase auch Kontakt zu sieben Stadtteilbewohnern aufbauen. In erster Linie sind das Menschen mit türkischem, griechischem und russischem Hintergrund. Zu drei türkischen Frauen entstand im Verlauf der Zeit ein loser Kontakt, der es mir erlaubte, einen Einblick in das Leben im Stadtteil zu gewinnen. Aufgrund der schlechten Infrastruktur in der Pliensauvorstadt gibt es dort nur wenige Orte, an denen sich Bürger treffen und austauschen können. Insofern sind die Veranstaltungen im Rahmen des LOS-Projekts nicht nur für mich eine gute Gelegenheit Daten zu gewinnen, sondern auch für die Bewohner ein willkommener Ort zum Austausch und zum Engagement. Anders als in ethnologischen Studien in multiethnischen Stadtteilen (Baumann 1996; Gillespie 1995), gestaltete sich die Suche nach Kontaktzonen zu Migranten in der Pliensauvorstadt oft schwer. Das Büro der „Sozialen Stadt“ und die Vorbereitungsveranstaltungen des LOS-Projekts stellten die einzige Möglichkeit dar, Kontakt zu Migranten in der Pliensauvorstadt aufzubauen, da es sonst keine weiteren Schauplätze gab, an denen sich für meine Untersuchung relevante Akteure aufhielten. Da die Büroöffnungszeiten und Veranstaltungen immer zeitlich begrenzt waren, wurden meine Kontaktmöglichkeiten zusätzlich beeinträchtigt. Trotzdem konnte ich aber einen Eindruck davon erlangen, wie das multiethnische Zusammensein im Stadtteil funktioniert. Demnach kennt man sich zwar zum Teil über die eigene Gruppe hinaus, trotzdem bestehen auch Grenzen zwischen den im Stadtteil vertretenen Gruppen. Vor allem über die Schule gibt es zwischen den Kindern und Jugendlichen Kontakte über die eigene Gruppe hinaus. Ein Zufall gab mir die Möglichkeit, etwas über das Leben in der

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Pliensauvorstadt zu erfahren. Die Sozialarbeiterin Frau Ü. aus dem Ausländerbüro wohnt selbst im Stadtteil und genießt dort einen gewissen Bekanntheitsgrad. Das rührt daher, dass sie im Stadtteil versucht, in auftauchenden Konflikten zu vermitteln. Im Verlauf der vier Monate in Esslingen konnte sie mir in zahlreichen informellen Gesprächen und in einem fünfstündigen narrativen Interview viele Geschichten über die Pliensauvorstadt erzählen. Im Stadtteil selbst waren teilnehmende Beobachtung und das informelle Gespräch die einzige Möglichkeit, Migranten aus dem Stadtteil als Informanten zu gewinnen. Denn sie reagierten sehr skeptisch gegenüber meinen Bestrebungen, mit ihnen Interviews zu führen. Als Gründe war es einerseits die Angst, in deutscher Sprache vor dem Aufnahmegerät sprechen zu müssen. Andererseits erzeugten die Anfragen nach Interviews auch immer die Vermutung, dadurch ausspioniert zu werden. Insgesamt stellte sich die Suche nach interessanten Geschichten also wesentlich schwerer dar, als in den öffentlichen Einrichtungen, wie dem Ausländerbüro oder in den verschiedenen Kontexten des Projekts buerger-gehen-online. Das führte dazu, dass meine Fragen an Migranten hauptsächlich im Hinblick auf das Thema der digitalen Integration zielten, da ich sie ohnehin in dem Kontext an den verschiedenen Orten traf. Während also in Esslingen neben der Pliensauvorstadt in erster Linie staatliche Einrichtungen die Schauplätze sind, an denen ich geforscht habe, habe ich in Hannover im Umfeld einer Nichtregierungsorganisation geforscht. Die Forschung und Spurensuche gestaltete sich in Hannover einfacher. Da das Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten eine klare Struktur von beteiligten Akteuren und Institutionen hatte, war von vornherein festgelegt, an welche Orte und zu welchen Personen mich meine Forschung führen würde. Außerdem war es durch meine Rolle als Begleitforscher leichter, in alle Bereiche des Projekts vorzustoßen und Kontakte zu Akteuren aufzubauen. In erster Linie bewegte ich mich in Hannover auf zwei Ebenen: im Gebäude der Projektwerkstatt, in der IMES geplant und betreut wurde, und an den verschiedenen Standorten, an denen Migranten Zugang zu PC & Internet haben. Die Orte sind in erster Linie andere NGO’s wie beispielsweise Kulturvereine und öffentliche Einrichtungen wie die Stadtbibliothek. In der Projektwerkstatt stellte sich einmal mehr das Deep Hanging Out als geeignete Methode heraus, die mir bei meiner Spurensuche hilfreich war. Meine Hauptansprechpartner waren dort neben dem Projektleiter Herrn G. die vielen Praktikanten, die bei IMES arbeiten. In zahlreichen informellen Gesprächen mit ihnen brachte ich in Erfahrung, auf welche Weise sie in das Projekt eingebunden sind, welche Aufgaben sie erfüllen und welche Erfahrungen sie an den einzelnen Standorten gemacht haben. In Bezug auf die Standorte konzentrierte ich mich auf den deutsch-türkischen Kulturverein

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Arkadas, in dem es sechs Computer mit Internetanschluss gibt, auf zwei Standorte der Stadtbibliothek und auf eine Schule im Stadtteil Hainholz. Ich besuchte dort jeweils die wöchentlichen Angebote, die von Mentoren betreut werden. Darüber hinaus diskutierte ich regelmäßig mit dem Projektleiter Herrn G. und der Koordinatorin Frau N.. Die kontinuierlichen Gespräche, die ich teilweise mit beiden und teils getrennt führte, ermöglichte mir einen Einblick in die Entwicklung von Strategien, in Erfahrungen, Einschätzungen und Zukunftsvorstellungen der Projektleitung. Zum Abschluss des Methodenteils der Arbeit reflektiere ich im folgenden Abschnitt mein Vorgehen als Forscher. Wie ich bisher gezeigt habe, war meine Forschung ein nicht immer einfacher Prozess. Fehlende Erfahrung, mein Alter, der Umstand Ethnologie in der eigenen Gesellschaft zu praktizieren, selbst Akteur im Untersuchungsfeld zu sein und viele andere Aspekte brachten Probleme mit sich, die ich im Folgenden erörtere. Es geht auch darum, die Stärken und Schwächen der Untersuchung offen zu legen.

Reflektionen: Ethnologisches Forschen „zu Hause“

Learning by doing ist das Motto, mit dem sich nicht nur die Entwicklung meiner Arbeitsweise gut beschreiben lässt, sondern unter dem auch vieles stand, was ich in meinem Untersuchungsfeld beobachtet habe.1 Meine eigene Rolle im Feld und ein komplexer Gegenstand stellten mich nicht selten vor eine große Herausforderung. Ich musste eine Herangehensweise entwickeln, in der ich durch eine Kombination aus Methoden, meinem Engagement und der nötigen Sensibilität erlernte, die notwendigen Kontakte herzustellen. Auf diese Weise eignete ich mir viele der von mir verlangten Fähigkeiten erst im Verlauf der Forschung an, indem ich Altbekanntes anwendete und Neues einfach ausprobierte. In gewisser Weise lag es also beim Ethnographen, die „Kunst des Feldforschens“ zu entwickeln und anzuwenden (vgl. Wolcott 1995). Ein komplexes Netz aus Orten, Menschen, Ideen, kulturellen Prozessen und Diskursen erforderte in vielerlei Hinsicht eine große Sensibilität. Das umfangreiche Reflektieren meines Vorgehens zeigt, dass der Umstand „Ethnologie zu Hause zu betreiben“ einen großen Einfluss auf meine Forschung hatte. Nicht nur, dass – anders als in klassischen ethnologischen Studien an „exotischen“ Orten – die Trennungslinie zwischen dem Eigenen und dem Fremden viel unschärfer ist, stellte mich auch der „Kulturschock“ vor gewisse Hindernisse. In dem Prozess zeigte sich, wie wichtig es 1

Wie ich im empirischen Teil des Buchs noch ausführlich darlege, folgten viele der von mir untersuchten Menschen dem Motto „learning by doing“. Allem voran stehen hier die vielen Computerkurse, in denen sich die Teilnehmer digitale Kompetenzen durch dieses Vorgehen aneignen. Darüber hinaus erlaubt die Analyse des Konzepts Integration, jedenfalls so wie es viele meiner Informanten sehen, zu sagen, dass auch hier bei der praktischen Umsetzung des Konzepts „learning by doing“ im Vordergrund stehen sollte.

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für den Ethnologen ist, sich selbst als wichtigstes Untersuchungsinstrument zu begreifen und zu reflektieren (vgl. Nadig 1997: 11-60). „Ethnographie impliziert Risiko, Unsicherheit und Ungemütlichkeit […]. Nicht nur, dass der Forscher unbekannte Felder zu betreten hat; er geht auch noch ‚unbewaffnet’ ohne Fragebögen, Interviewleitfäden oder Beobachtungsprotokolle, die ihn vor dem kalten Wind der rauen Realität schützen könnten. Sie stehen mit sich allein. Sie selbst sind ihr erstes Forschungsinstrument, mit dem sie Daten ausfindig machen, identifizieren und sammeln müssen.“ (Ball 1990: 157)

Aus dem Grund erscheint es mir wichtig, nun darüber zu reflektieren, wie ich in meinem Feld eingebunden war, wie sich meine Rolle als Forscher und als Angehöriger der von mir untersuchten Lebenswelt darstellt und wie sich das schließlich auf den Forschungsprozess und die Ethnographie ausgewirkt hat.2 „Die Fähigkeit, das eigene Vorgehen, die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen im Feld und die eigenen individuellen, kulturellen, sozialen und existenziellen Voraussetzungen reflexiv durchdringen zu können, wird deshalb auch zur entscheidenden Kompetenz des Ethnographen.“ (Lüders 2000: 395)

Ich werde im Folgenden einen Eindruck davon geben, welche spezifischen Momente und Beziehungen zu bestimmten Informanten einen nachhaltigen Einfluss auf meine Forschung hatten. Durch das Vorgehen möchte ich dem Leser einen Eindruck davon vermitteln, welche Hindernisse, Geschichten und komischen Erlebnisse ich im Rahmen meiner „Ethnographie der digitalen Integration von Migranten“ erlebte. Wie mir einer meiner Professoren, bei dem ich studierte, in einer Diskussion über anthropology at home einmal erklärte, sei dieser Ansatz von Ethnologie nicht wirklich möglich. Er versuchte mir deutlich zu machen, dass der Ethnologe in der „eigenen“ Kultur nicht dazu in der Lage sei, die für den Ethnologen wichtige Trennlinie zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu ziehen. Nicht nur angespornt durch die Situation aus Studentenzeiten, sondern auch durch die feste Überzeugung der Notwendigkeit einer „Ethnologie zu Hause“, habe ich die hier

2

Hammersley und Atkinson (1983: 234) merken hier zu Recht an, dass Forscher und jene, die sich mit Methoden der qualitativen Sozialforschung auseinandersetzen, nur allzu oft vergessen, dass der Forschende und sein Handeln immer selbst als Teile der Kultur bzw. Lebenswelt zu begreifen sind, die untersucht wird.

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vorliegende Forschung in Angriff genommen. Mit der Naivität eines unerfahrenen Ethnologen ging ich davon aus, dass die Ethnologie zu Hause sogar viel einfacher zu bewerkstelligen sei, da mir hier die Dinge viel klarer erscheinen würden, ich meist die gleiche Sprache wie die von mir Untersuchten spreche und ich der Meinung war, nicht mit dem Moment des Kulturschocks kämpfen zu müssen. Meine Annahme war klar: die von mir Untersuchten würden schon ganz genau wissen, wer ich bin und was ich von ihnen will. Schließlich blieb mir ja bei Unklarheiten immer noch die Möglichkeit, mich in meiner eigenen Sprache zu erklären – soweit meine Annahmen. Wie der folgende Dialog zeigt, habe ich mich in nichts mehr getäuscht, als in der Annahme der Klarheit meiner Rolle im Feld. Der Dialog zwischen drei Frauen mit türkischem Hintergrund und mir fand in der Pause einer Veranstaltung zum LOS-Mikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt (Esslingen) statt. Wir kannten uns bereits aus der kurzen Vorstellungsrunde zu Beginn des Abends. Die drei Frauen sind etwa 30 Jahre alt, haben Familie und leben im Stadtteil. Im Rahmen des Projekts erhoffen sie sich aus ihrem Engagement heraus eine Verdienstmöglichkeit zu finden. Im Eingangsbereich vom Gebäude des „Internationalen Bunds“, einer überregionalen NGO, kam es zu folgendem Dialog: Frau I: Sie sind also aus Bremen? Ich: Ja! Frau I: Aber das ist komisch, Sie sprechen so anders! Sind sie Deutscher? Ich: Ja, bin ich. Frau G: Aber er spricht doch so wie in, hm, wie heißt das gleich? Ja, so wie aus Bayern! Ich: Ja, das ist zum Teil richtig, dort bin ich geboren. Aber meine Jugend habe ich in Heidelberg verbracht. Frau I: Aber Bayern ist doch dort wo man jodelt, oder? [lacht] Ich: Ja, das tut man dort auch! Frau I: Aber wie kommt das, dass sie von Bremen nach Esslingen kommen? Das ist doch so weit weg! Was ist so interessant hier? Ich: Ich bin hier, um Computer- und Internetangebote für Migranten zu untersuchen. Zum Beispiel solche Angebote, wie sie im Rahmen des LOS-Projekts angeboten werden sollen. Frau I: Und was sind Sie noch mal? Ich: Ich bin Ethnologe oder besser gesagt Kulturforscher. Frau I: Oh Gott, da haben Sie hier aber viel zu tun! Wie lange bleiben Sie noch mal hier? Ich: So ungefähr drei bis vier Monate. Frau B: Das kann er nie schaffen, in Esslingen gibt es über 100 Kulturen.

134 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? Frau G: Doch! [lacht] Er muss sich einfach aus jeder Kultur eine Freundin suchen. Darüber lernt man die Kultur am besten kennen [lacht]. Frau I: [lacht] Aber das geht doch gar nicht. Er braucht für jede Kultur mindestens ein halbes Jahr.

Zunächst fühlte ich mich nach dem Dialog etwas verunsichert und mir gingen all die Themen der reflexiven Ethnologie durch den Kopf, mit denen ich mich während des Studiums beschäftigte. Wie die Unterhaltung zeigt, wurde ich von den Frauen als Fremder wahrgenommen, als jemand, der nicht aus Esslingen kommt und „anders“ spricht – noch dazu mit einem so exotischen Beruf wie dem des Ethnologen. Das Gespräch demonstriert, dass man im Feld als Forschender stark wahrgenommen wird. Die Menschen der vom Ethnologen untersuchten Lebenswelt haben ihre Fragen an den Forscher und interessieren sich dafür, mit welchen Absichten er in ihren Alltag eintritt. Davon auszugehen, dass empirische Forschung objektiv und neutral sei, ist demnach eine Legende, denn nichts ist subjektiver und konfliktgeladener als empirische Forschung. Wie der Dialog mit den türkischen Frauen zeigt, hat man als Forscher nicht die alleinige Beobachtungsmacht, sondern wird genauso tiefgründig von den Menschen im Feld beobachtet. Sie haben ein großes Interesse daran, was man von ihnen wissen will und was mit dem geschieht, was man als Forscher herausfindet. Der Punkt äußerte sich in meinem Feld nicht nur in dem angesprochenen Dialog. Besonders deutlich wurde der Aspekt in Esslingen, als ich von der lokalen Esslinger Zeitung zu einem Pressegespräch eingeladen wurde. In dem Gespräch, das die Journalistin Frau D. mit mir führte, die selbst Kulturwissenschaftlerin ist, wurde deutlich, wie auch ich von den Esslingern beobachtet und in gewisser Weise erforscht wurde. Als zwei Wochen nach dem Gespräch ein langer Artikel in der Pfingstausgabe der Zeitung erschien, in dem meine Forschung genauer dargestellt wurde, wurde mir klar, wie stark mein Tun in Esslingen verfolgt wurde. In der Esslinger Zeitung war zu lesen: „Nun läuft an den Universitäten Bremen und Manchester das von der Volkswagen-Stifung geförderte internationale Forschungsprojekt „Netzkultur und ethnische Identität“. Und da hat Esslingen die Chance, groß rauszukommen. Geht es in der Studie doch darum zu vergleichen, wie weit die ‚digitale Integration von Personen mit Migrationshintergrund’ in England, Holland, Deutschland und Malaysia bereits gediehen ist.“ (Weinberg 2004, Esslinger Zeitung)

Die Passage aus dem Artikel über meine Forschung in Esslingen zeigt nicht nur das Interesse an meiner Arbeit, sondern demonstriert auch, dass zumindest aus

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Sicht der Journalistin die Forschung für Esslingen eine „Chance“ darstellt. Es zeigt sich darin die Hoffnung, dass die digitale Integration von Migranten zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe führt. Neben dem Rollenwechsel vom Beobachter zum Beobachteten, den ich erlebte, versuchten einige meiner Informanten wie Herr S., mich in meiner Rolle als Forscher dahingehend zu beeinflussen, dass sie mich zum Teil ihrer eigenen Strategie machten. So setzte mich der Ausländerbeauftragte auf die Tagesordnung im Ausländerausschuss im Rathaus. Durch einen Vortrag über meine Forschung und meine ersten Zwischenergebnisse erhoffte er sich, dass die politisch Verantwortlichen den Bemühungen der digitalen Integration von Migranten in Esslingen mehr Aufmerksamkeit schenken. Dadurch, dass ein Forscher aus dem fernen Bremen sich für die Aktivitäten in Esslingen interessiert, so seine Hoffnung, müssten die Politiker noch wesentlich mehr Engagement in diesem politischen Feld zeigen. Durch den Vortrag bot sich für mich die Möglichkeit, mich für das Vertrauen, dass mir Herr S. während der Forschung schenkte, zu revanchieren. Gerne ließ ich mich deshalb überreden, vor den politisch Verantwortlichen der Stadt Einblicke in meine Forschung zu geben. Ich stellte meine ersten Zwischenergebnisse dar, indem ich skizzierte, wie in Esslingen die verschiedenen Maßnahmen zur digitalen Integration entwickelt und umgesetzt werden. Außerdem hatte ich die Botschaft, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen an Migranten zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe führt. Trotzdem waren aber die Reaktionen von politischen Akteuren wie dem Sozialbürgermeister und bei den politischen Parteien verhalten. Ein Vertreter stellte sich sogar als strikter Gegner von neuen Medien dar. Bei den Akteuren, die Teil des Netzwerkes sind, die in Esslingen Strategien zur digitalen Integration ins Leben rufen, rief mein Vortrag erwartungsgemäß großes Interesse hervor. Vor allem Herr S. versuchte in der anschließenden Diskussion immer wieder zu untermauern, wie bedeutend digitale Integration von Migranten in Esslingen ist. Schließlich war es auch er, der das Pressegespräch mit der Esslinger Zeitung arrangierte, auch mit der gleichen Strategie im Hinterkopf – nämlich den Aktivitäten im Rahmen der digitalen Integration von Migranten mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Neben den bisher beschriebenen Schwierigkeiten hatte ich während der Feldforschung ein weiteres Problem, das sich aus meinen eigenen Aktivitäten im Kontext der digitalen Integration von Migranten ergab. Durch meine Tätigkeit bei der Stiftung Digitale Chancen wurde ich oft nicht nur als Forscher, sondern auch als Experte der digitalen Integration wahrgenommen. Vor allem in der Beziehung zu Herrn W., dem Projektleiter von buerger-gehen-online, zeigte sich dies darin, dass er mich selbst zu Rate zog, wenn er Fragen zur digitalen Integration

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von Migranten hatte. Er erhoffte sich dadurch Unterstützung bei seinen Projekten zu bekommen, indem ich ihn mit wichtigen Vermittlern in dem Feld bekannt machen sollte, ihm bei der Beschaffung von Fördergeldern behilflich sein und ihn inhaltlich beraten sollte. Aufgrund meiner Einstellung, dass die Beziehung zwischen Forscher und Erforschten immer reziprok ist, man also auch etwas an seine Informanten zurückgibt, war es für mich selbstverständlich, Herrn W. und andere Informanten zu unterstützen. Vor allem konnte ich für Herrn W. bedeutende Kontakte, etwa zu Herrn G. aus Hannover, herstellen. Das brachte mich manchmal aber auch in die knifflige Situation einer Doppelrolle, denn ich war einerseits Forscher und wurde andererseits aber auch in der Rolle des Experten und Aktivisten wahrgenommen. Deutlich wurde mir während meiner Forschung, dass die Grenze zwischen den Rollen fließend ist und sich teilweise auch nicht trennen lässt. Natürlich hatte dieser Umstand auch einen Einfluss auf meine Ergebnisse, worauf ich an den entsprechenden Stellen im empirischen Teil der Arbeit jeweils eingehen werde. Die Transparenz scheint mir dringend nötig, um zu zeigen, dass es bestimmte Bereiche in meinem Feld gibt, die mir verschlossen geblieben wären, wenn ich nicht selbst Aktivist in der digitalen Integration von Migranten in Deutschland gewesen wäre. Im Folgenden komme ich nun zum empirischen Teil der Studie, in dem ich die Praxis der digitalen Integration von Migranten offen lege und analysiere. Das Werkzeug der Analyse und die methodischen Bedingungen habe ich in den letzten zwei Kapiteln ausführlich dargestellt. Im Zentrum stehen nun die zentralen Akteure in meiner Untersuchung, die New Mediators und die Think Tanks, in denen sie Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickeln sowie die Orte Esslingen und Hannover und die dortigen Aktivitäten.

Dritter Teil: Fallstudien zur digitalen Integration von Migranten

Fallstudie I: Die Praxis von New Mediators und Think Tanks

In den bisherigen Kapiteln meines Buches wurde bereits deutlich, dass sich die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in einem Netz aus Akteuren und Schauplätzen konstituiert. Darin spielen die Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren und die Übersetzungspraktiken, durch die die Verbindungen zustande kommen, eine ausschlaggebende Rolle. Die Ziele der einzelnen Personen, sowie der Zusammenarbeit zwischen ihnen, sind die Schaffung und Umsetzung von geeigneten Strategien, in denen mit Hilfe der Werkzeuge Computer und Internet die gesellschaftliche Teilhabe von Migranten gefördert werden soll. Ein wichtiges Ergebnis meiner Studie zeigt in dem Zusammenhang, dass eine bestimmte Gruppe von Akteuren eine besondere Bedeutung in der Praxis hat. Auffallend ist bei ihnen, dass sie Vermittler sind, die zwischen Akteuren, Einrichtungen und Orten wichtige Übersetzungsarbeit in der Praxis leisten. Sie sind an lokalen Schauplätzen aktiv, rufen Projekte ins Leben, leiten Computerkurse und bringen auf nationaler und europäischer Ebene ihr Wissen in Netzwerke ein. In ihrer Rolle als Produzenten und Vermittler von Wissen treffen sie sich zu Gelegenheiten wie den Redaktionspartnertreffen der Stiftung Digitale Chancen, Workshops des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit, Konferenzen wie der eGo in Düsseldorf und in unzähligen Arbeitstreffen in Esslingen und Hannover. Charakteristisch für die Netzwerke von Vermittlern ist die Offenheit und Dynamik in den Personengruppen, die an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligt sind. Durch die kontinuierliche Verdichtung des Netzes aus Akteuren, Schauplätzen und Praktiken entstehen so genannte Think Tanks, in denen die Vermittler aktiv sind und Strategien entwickeln. Die Vermittler, die ich im letzten Abschnitt skizziert habe, bezeichne ich in meiner Studie als New Mediators. Übersetzt bedeutet der Begriff „neue Vermittler“ – neu deshalb, weil ich ihre Rolle untersucht habe, die im „neuen“ Feld der

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digitalen Integration angesiedelt sind. New Mediators sind sie auch deshalb, weil in ihrer Praxis die Vermittlung der „neuen Kulturtechnik digitale Kompetenz“ (Hinkelbein 2004 b, 2007) an Migranten eine große Rolle spielt.1 Auf der Basis meiner Daten zeige ich im folgenden Abschnitt New Mediators und deren Rolle bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Einerseits erörtere ich ihre Merkmale und zeige an konkreten Akteuren aus dem Feld, was ihre Rolle ausmacht. Im Zentrum stehen die Übersetzungsleistungen, für die sie verantwortlich sind und auf deren Basis konkrete Projekte entstehen. Die Akteur-Netze, in denen sie tätig sind, bezeichne ich als Think Tanks. In ihnen entwickeln New Mediators Strategien. Durch Übersetzungsleistungen zwischen den beteiligten sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Feldern tragen sie wesentlich dazu bei, dass an Schauplätzen wie Esslingen und Hannover Projekte zur digitalen Integration von Migranten ins Leben gerufen werden. In einem weiteren Abschnitt stelle ich dann dar, was Think Tanks charakterisiert. Ich arbeite heraus, welche Akteure in ihnen tätig sind und welche Rolle sie bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielen. Schließlich zeige ich im abschließenden Teil dieses Kapitels die Praxis in lokalen Think Tanks in Esslingen und Hannover.

N EW M EDIATORS VON M IGRANTEN

UND DIE DIGITALE I NTEGRATION

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass es bei der Entwicklung von Strategien viele Ebenen gibt, die in der Praxis eine Rolle spielen. Es ist deutlich zu erkennen, dass es sich bei der Bezeichnung von „verschiedenen“ Ebenen um eine abstrakte Unterscheidung handelt, denn sie sind durch einzelne Personen stark miteinander vernetzt. Es handelte sich bei diesen Akteuren um Politiker, Sozialarbeiter, Wissenschaftler, Beamte, Geschäftsführer, NGO-Vertreter und Praktiker. Ihnen gilt im Folgenden meine Aufmerksamkeit, denn sie sind ein entscheidendes Bindeglied, Vermittler und Übersetzer, die die Schauplätze der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten verbinden. Die Akteure

1

Zu Beginn meiner Studie im Jahr 2002 war die digitale Integration der Bevölkerung, insbesondere von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen wie Frauen, Senioren und Migranten ein neues Aktions- und Arbeitsfeld im Feld von Politik, Wissenschaft, Sozial- und Kulturarbeit. Groß angelegte Aktionsprogramme wie die Maßnahmen „Internet für Alle“ oder „Schulen ans Netz“ belegen das.

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sind Angehörige von flexiblen Quasi-Gruppen (Mayer 1966), die Neues in die Praxis der digitalen Integration einbringen und für das Schaffen von Räumen zu dessen Verbreitung zuständig sind. Ich betrachte sie zu Beginn meiner Analyse in ihrer Rolle als „Cultural Producers“ im Sinne von Marcus (1997). Er umschreibt mit dem Begriff des kulturellen Produzenten Akteure aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Von Bedeutung ist, dass sie jeweils an der Vermittlung von Kultur beteiligt sind und durch ihre Praxis zu Produzenten von Kultur werden. Marcus verfolgt mit der Einführung des Begriffs vom kulturellen Produzenten eine bestimmte Absicht: „It serves the purpose of labelling those who engage in intellectual work in various genres and who are difficult to pin down by any single speciality, craft, art, expertise, or professional role. It is a knowingly vague designation and signifies a cross-cutting or blurring of genres of media in their activities.“ (Marcus 1997: 8)

Während Marcus in seiner Studie Journalisten, Filmemacher, Schauspieler und Intellektuelle als Cultural Producers bezeichnet, sind es in meiner Untersuchung Akteure, die als Innovatoren, als Mittler von Informationen und Geldern, als Träger von Wissen und Kultur und als deren kreative Erfinder oder Neuinterpreten im Bereich der digitalen Integration von Migranten auftreten. Sie schaffen durch den Austausch untereinander, sowie die Bündelung und Produktion von Wissen neue Projektideen, Integrationsansätze, Computerkurse und Handlungsanweisungen für Politiker. Ihre Aufgaben liegen in der Anfertigung von Gutachten, sie machen Politik und erdenken Politikstrategien. Im Wesentlichen aber sind sie Kulturschaffende. Durch ihre Schlüsselstellungen in Institutionen, Organisationen und öffentlichen Verwaltungen auf lokaler und nationaler Ebene setzen sie neue Entwicklungen in Gang und beeinflussen sie. Mit kulturellen Produzenten, wie ich sie bisher dargestellt habe, sind nicht wie in älteren Elitetheorien zwingend Angehörige der oberen sozialen Schichten gemeint, sondern Vertreter verschiedener ethnisch oder sozial differenzierter Gruppen. Demnach sind auch Akteure aus marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen, wie Migranten, Frauen oder Vertreter kleiner und lokaler Nichtregierungsorganisationen als Vermittler, Übersetzer und damit als Kulturschaffende aktiv. Im Folgenden arbeite ich auf der Grundlage meiner Daten ihre Rolle im Prozess der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten heraus. Ausgehend von Marcus Konzept der Cultural Producers entwickle ich den Begriff des New Mediators, mit dem ich die Akteure bezeichne, die in der Studie eine zentrale Rolle spielen.

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New Mediators: Übersetzer und Vermittler An den Prozessen und Praktiken der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligten sich viele Akteure. Es sind Sozialarbeiter wie Herr W. aus Esslingen, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen wie Herr G. von der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. aus Hannover oder Frau J. von der Stiftung Digitale Chancen. Auch Wissenschaftler wie Herr H. von der Universität Bremen, Beamte wie der Ausländerbeauftragte Herr S. und Herr B. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gehören zu dem Personenkreis. Zudem sind lokale Experten wie die Sozialberaterin Frau Ü. und die Computerlehrerin Frau N. aus Esslingen Teil der Gruppe von Akteuren. Als Sozialarbeiter, Wissenschaftler, Beamte, NGO-Vertreter, Aktivisten, Kursleiter und Technikexperten haben sie zwar verschiedene Professionen, ihnen ist jedoch gemeinsam, dass sie Akteure in einem dichten Netz sind, in dem sie das Ziel der digitalen Integration von Migranten verfolgen. Durch Übersetzungspraktiken stellen sie Beziehungen zueinander und zwischen anderen her, tauschen sich aus, diskutieren miteinander und entwickeln durch kontinuierliches Handeln Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Die Akteure begegnen sich in völlig unterschiedlichen Kontexten und an verschiedenen Orten: in Ministerien, auf Workshops und Konferenzen, beim obligatorischen Dinner auf größeren Veranstaltungen, auf Planungs- und Lenkungstreffen, in Arbeitsgruppen, Gesprächen und Diskussionen. Das gilt sowohl für die lokale, wie auch für die nationale und europäische Ebene. Durch diese Praxis werden sie zu Vermittlern, die dafür verantwortlich sind, dass Wissen aus verschiedenen Bereichen zirkuliert, von Politikern die Notwendigkeit der digitalen Integration von Migranten wahrgenommen wird und die Öffentlichkeit ein Bild davon bekommt, wie der Einzelne seine gesellschaftliche Teilhabe durch digitale Kompetenzen verbessern kann. Im lokalen Kontext haben die Akteure sowohl bei der Entwicklung, wie auch bei der Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration eine wichtige Bedeutung. Der Rolle dieser Personen bei der Umsetzung von konkreten Maßnahmen als zentrale Vermittler widme ich mich in den Kapiteln Fallstudie II und III. Hier steht zunächst ihre Aufgabe bei der Entwicklung von digitalen Integrationsstrategien im Vordergrund. Festzuhalten bleibt an der Stelle, dass die Akteure an den skizzierten nationalen und lokalen Schauplätzen Vermittler von Wissen und Kultur sind und sich maßgeblich an der Schaffung von Kultur und kultureller Praxis beteiligen (vgl. Marcus 1997). Aufgrund ihrer jeweiligen Profession sind sie es gewohnt, als Vermittler und Übersetzer aufzutreten. Es gehört zu ihren Qualifikationen, komplexe Sachverhalte zu abstrahieren und sie in verschiedenen Feldern anschaulich darzustellen.

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Durch ihre Übersetzungs- und Transformationsleistungen, in denen sie deutlich machen, was digitale Integration von Migranten beinhaltet und wofür sie gut ist, schaffen sie es, Politiker und Fördereinrichtungen davon zu überzeugen, Mittel für die Durchführung von Projekten zur Verfügung zu stellen. Außerdem zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie kontinuierlich versuchen, Mitstreiter für ihre Ziele zu gewinnen. Es sind Akteure wie der Professor H., die Geschäftsführerin Frau J., der Projektleiter Herr W. aus Esslingen, sowie Frau N. und Herr G. von IMES aus Hannover, die an verschiedenen Schauplätzen wie in Ministerien, Universitäten oder im städtischen Kontext andere mobilisieren, um das gemeinsame Ziel der digitalen Integration von Migranten zu erreichen. In den Praktiken wird das sichtbar, was Callon (2006 b: 146-164) als die „vier Momente der Übersetzung“ bezeichnet: „Problematisierung“, „Interessement“, „Enrolment“ und „Mobilisierung“. Für Latour (2002: 96-136) zeigen sich in der skizzierten Praxis „Übersetzungsketten“. Übersetzungsarbeit verlangt nicht nur Überzeugungs- und Mobilisierungskraft, sondern auch ein Expertenwissen im Feld digitaler Medien und Technologien, um einschätzen zu können, auf welche Weise sich Maßnahmen wie buerger-gehen-online in Esslingen oder IMES in Hannover für den lokalen Kontext entwickeln lassen. Sie müssen aber nicht nur digitale Experten und Vermittler sein, sondern sich auch selbst kontinuierlich auf Neues einlassen. Das beinhaltet das Knüpfen von strategischen Kontakten, das Einlassen auf ständig neue technische Entwicklungen im Bereich neuer Medien aber auch die eigene Kreativität dahingehend, wie Computer, Internet & Co. dazu eingesetzt werden können, die digitale Integration von Migranten zu fördern. Monika Rulfs und Thomas Wormald (2006) zur Folge sind New Mediators Vorreiter und Vermittler, die neue Medien und Technologien sowie deren Anwendung in besonderer Weise fördern. Außerdem stellen sie entscheidende Verbindungen zwischen Akteuren und Einrichtungen her und machen auf ihre Praxis in der Öffentlichkeit aufmerksam (vgl. Grätz 2006).2 John Postill (2006) beschreibt es in seiner Studie über Egovernance in Subang Jaya, einer Nachbarschaft in

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An dieser Stelle weise ich darauf hin, dass die Bedeutung von New Mediators im Bereich der Entwicklung von Politikstrategien im Feld von neuen Medien und Technologien auf einem Workshop der European Association of Social Anthropologists (EASA) umfangreich diskutiert wurde. Die Leiter der Arbeitsgruppe, Monika Rulfs und Tom Wormald, stellen in diesem Zusammenhang fest: „Practice and policy in the apparentlyglobal culture of electronic government and governance differ widely at the ethnographic level and point to the vital role played by mediating personalities“ (Rulfs, Wormald 2006: 111).

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Kuala Lumpur, als entscheidendes Merkmal von New Mediators, dass sie technische, politische und kulturelle Fähigkeiten kombinieren müssen, um politische Strategien neuer Medien zu entwickeln. Ihre Rolle als Vermittler im neuen politischen Feld der digitalen Integration beinhaltete eine ganze Liste von Merkmalen, die sie aufweisen: sie lassen sich auf Neues ein, kennen verschiedene Felder wie Politik, Kultur und Wissenschaft, sie schaffen durch Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit Verbindungen, betreiben Öffentlichkeitsarbeit, nehmen an Konferenzen teil und fördern die Anwendung und Verbreitung neuer Medien und Technologien wie Computer, Internet und elektronisches Regieren. Um die Rolle der Akteure bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten sichtbar zu machen, stelle ich nun exemplarisch bedeutende New Mediators aus meiner Untersuchung vor. New Mediators in der Praxis Ein zentraler Protagonist bei der Entwicklung von Strategien auf nationaler und europäischer Ebene ist Herr H.. Er ist Professor für Angewandte Informatik an der Universität Bremen und vertritt dort die Schwerpunkte Informationsmanagement und Telekommunikation. Seit Jahren hat er im Bereich von neuen Medien, digitaler Integration, Demokratie und Verwaltung als Experte einen internationalen Bekanntheitsgrad. Er ist Leiter der Arbeitsgruppen „Public Administration“ in der COST Aktion „Government and Democracy in the Information Age“ und „Demokratie und Verwaltung“ im Forum Informationsgesellschaft der Bundesregierung. Aber auch als Mitglied des wissenschaftlichen Arbeitskreises bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post hat er einen deutschlandweiten Aktionsradius. Darüber hinaus ist er Leiter vieler anderer Arbeitsgruppen und Projekte. Neben den vielen Aufgaben als Leiter von Arbeitsgruppen, Vermittler und wissenschaftlicher Experte ist Herr H. Leiter des „Instituts für Informationsmanagement Bremen GmbH“ (ifib). „Als Forschungs- und Beratungsinstitut an der Universität Bremen beschäftigt sich das ifib mit Fragen des Informationsmanagement in Wissenschaft und Praxis. Im Mittelpunkt steht die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnik in Bildungseinrichtungen (Educational Technologies) und in der öffentlichen Verwaltung (Electronic Government).“ (ifib)

Herr H. und die Mitarbeiter des Instituts sind Teil der Diskurse um digitale Integration und spielen in der Praxis eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Strategien. Die aktive und gestaltende Rolle von H. drückt sich auch in seiner

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umfangreichen Forschungs- und Publikationstätigkeit aus und zeigt, wie er sich über seine Texte selbst in den Diskurs um digitale Integration, Egovernment und politischer Partizipation einbringt (vgl. Kubicek, Hagen 1999, 2000; Westholm, Kubicek 2001; Kubicek, Westholm 2005). Durch seine Rolle als Vermittler hat er Verbindungen in viele Richtungen: zu Wissenschaftlern, NGO-Vertretern, politischen Entscheidungsträgern, technologischen Experten aus dem Bereich neue Medien und Technologien und zur Wirtschaft. Gleichzeitig ist er auch wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Digitale Chancen. In seinen Rollen tritt er als Akteur auf, der die Themen der „digitalen Spaltung der Gesellschaft“ und der „digitalen Integration der Bevölkerung“ besetzt. Das heißt, dass er an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration genauso beteiligt ist, wie auch an der Umsetzung von konkreten Maßnahmen im lokalen Kontext. Er leistet durch diese Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Problematisierung der „digitalen Integration von Migranten“, mobilisiert andere Akteure aus Wissenschaft, Politik und Praxis dazu, Strategien mit zu entwickeln und bringt sie dadurch in verschiedene Rollen. Durch die Übersetzungsleistungen, die sich darin verbergen, ist er an der Schaffung des dichten Geflechts aus Akteuren beteiligt, in dem in Deutschland Strategien zur digitalen Integration entwickelt werden. Nach Callon (2006 b: 146-164) zeigt seine Praxis die vier Momente in Übersetzungsprozessen. Übersetzen heißt für New Mediators wie Herrn H. den Problemzusammenhang der digitalen Marginalisierung von Migranten öffentlich zu machen, die Notwendigkeit für Maßnahmen in Praxisfelder zu untermauern, Entscheidungsträger für das Problem zu interessieren, zwischen beteiligten sozialen und kulturellen Bereichen Bedeutungen zu vermitteln und Mitstreiter zu mobilisieren. Eine weitere Akteurin, die im Feld der digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielt, ist Frau J.. Sie kommt aus dem Umfeld von Herrn H. und ist die Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Chancen. Frau J. beteiligte sich schon am Netzwerk Digitale Chancen und baute die Stiftung mit auf. Zusammen mit Herrn H. und weiteren Akteuren machte sie die „digitale Integration von Migranten“ zu einem Schwerpunkt der Stiftungsarbeit. Ihre Rolle als Vermittlerin äußert sich in verschiedene Richtungen. Das Expertennetzwerk, auf dem die Stiftung Digitale Chancen aufbaut, wurde von ihr koordiniert. In regelmäßigen Treffen brachte sie Akteure aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zusammen, die von der Stiftung vertreten wurden. Durch Übersetzungspraktiken war sie daran beteiligt, dass das Expertennetzwerk funktionierte und das die Beteiligten sich austauschten, diskutierten und handelten und auf diese Weise Strategien zur digitalen Integration entwickelten. Darüber hinaus ist sie für die Vermittlung der Stiftungsarbeit in der Öffentlichkeit verantwortlich. In ihrer Rolle

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als Geschäftsführerin nimmt Frau J. an vielen Veranstaltungen teil und beteiligt sich als Gutachterin oder Jury-Mitglied bei Wettbewerben. Durch die Praxis übersetzt und vermittelt sie zwischen Experten der digitalen Integration und der sozialen, kulturellen und politischen Öffentlichkeit. Eine wichtige Aufgabe, die sich aus ihrer Arbeit ergibt, ist es, kontinuierlich Experten aus der Praxis an das Akteur-Netzwerk um die Stiftung zu binden. Eine der Verbindungen knüpfte Frau J. zu Herrn W.. Er arbeitet für die Stadt Esslingen und ist dort Leiter von buerger-gehen-online, einem Projekt zur digitalen Integration der Bevölkerung in der Stadt. Der studierte Sozialarbeiter ist dort einer der zentralen Akteure bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Er ruft Maßnahmen und Projekte wie buerger-gehenonline und das LOS-Projekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt ins Leben. Herr W. vermittelt zwischen den beteiligten Bereichen aus der Stadtverwaltung, Migrantenvereinen, Bibliotheken und anderen Einrichtungen. Durch seine Übersetzungsleistung im städtischen Kontext macht er die Bedeutung digitaler Integration von Migranten an den verschiedenen Schauplätzen sichtbar. Eines der Hauptziele seiner Vermittlungsarbeit ist es, kontinuierlich Mitstreiter und Aktive zu finden, die sich an der Entwicklung von Maßnahmen beteiligen. Als New Mediator ist er aber nicht nur Vermittler und Übersetzer im lokalen Kontext. Er stellt gleichzeitig einen wichtigen Knotenpunkt dar, an dem sich Wissen bündelt und von dort aus in verschiedene Richtungen weitergegeben wird. Dadurch hat er eine wichtige Rolle als Wissensvermittler zwischen lokalen, nationalen und europäischen Zusammenhängen und ist Teil in einem dichten Netz aus Akteuren und Schauplätzen. Seine Rolle als Vermittler bezieht sich auf dieser Ebene auf die Übersetzung von lokalen Praktiken der digitalen Integration in Esslingen in den Diskurs um digitale Integration auf nationaler und europäischer Ebene. An seiner Rolle lässt sich gut zeigen, dass sich in dem AkteurNetzwerk die Trennung von Mikro- und Makroperspektive zunehmend auflöst (vgl. Giddens 1997: 192-198). Als Vermittler ist Herr W. ein Akteur, der sowohl den lokalen, wie auch den globalen Kontext gut kennt. Während er als Sozialarbeiter und Projektleiter globale Diskurse und deren Bedeutung in die lokale Praxis übersetzt, vermittelt er als Experte angewandter digitaler Integration lokale Ansätze der digitalen Integration von Migranten und deren Bedeutung auf globaler Ebene. Im lokalen Umfeld von Herrn W. gibt es drei weitere Akteure, die für die lokale Entwicklung eine Rolle spielen. Es sind der Ausländerbeauftragte Herr S., die Sozialberaterin Frau Ü. und die Kursleiterin Frau N.. Sie vertreten die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund und sind deswegen wichtige Vermittler zwischen den Feldern der „Strategieentwicklung“, „Bildung für Mig-

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ranten“ und „Integration“. Durch ihre aktive Rolle als New Mediators bündeln und produzieren sie Wissen, das für die Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration in Esslingen eine maßgebliche Rolle spielt. In meinem Forschungsfeld spielen auch Akteure an anderen Schauplätzen eine wichtige Rolle. Ähnlich wie bei Herrn W. aus Esslingen äußert sich die Rolle als New Mediator bei Herrn G. aus Hannover. Anders als Herr W. vertritt er aber keine staatliche Einrichtung, sondern eine Nichtregierungsorganisation. Er ist der Mitbegründer der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. und hat eine mehr als 15 jährige Erfahrung in der Integrations- und Medienarbeit mit Migranten. Innerhalb der Organisation ist er der verantwortliche Projektmanager, Chef vom Dienst und Moderator des Magazins „blickpunkt tv“, das regelmäßig in den niedersächsischen Bürgermedien ausgestrahlt wird. In der Rolle ist er für die Vermittlung der Aktivitäten seiner Organisation in der Öffentlichkeit verantwortlich. Herr G. stellt durch seine Arbeit Verbindungen zwischen seiner Organisation und anderen lokalen Einrichtungen wie der Stadtbibliothek, dem Kulturverein Arkadaş oder einer Schule im Stadtteil Hainholz her. Durch seine Vermittlungsarbeit verfolgt er das Ziel, die Einrichtungen als Partner bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration zu gewinnen. In seiner Rolle als Geschäftsführer der Projektwerkstatt ist er für die Betreuung des Personals der Einrichtung und für Praktikumsbetreuung zuständig3. Darüber hinaus ist er Mitglied der Versammlung der niedersächsischen Landesmedienanstalt (NLM) und in dieser Rolle an der Einrichtung der Bürgermedien in Niedersachsen beteiligt. Die NLM ist Lizenzgeber, Finanzier und Kontrolleur der niedersächsischen Bürgermedien. Seit 2001 ist er Vorsitzender des h1-Trägervereins4 und seit 2004 auch Vorstandsmitglied des niedersächsischen Landesverbandes der Bürgermedien (LBM). In den Rollen vermittelt er auf regionaler Ebene zwischen angewandter digitaler Integration von Migranten in Städten wie Hannover, Lehrte und Hildesheim sowie Einrichtungen, die an der Entwicklung von niedersachenweiten Strategien zur digitalen Integration beteiligt sind. Als Partner in europäischen Projekten und Netzwerken ist er ein wichtiger Vermittler zwischen lokalen Schauplätzen in verschiedenen Ländern Europas. Neben Herrn G. gibt es in Hannover zwei weitere Akteure, die als New Mediators an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migran-

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Die Projektwerkstatt beschäftigt viele Praktikanten, die in essentielle Arbeitsabläufe einbezogen sind.

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h1 ist ein Sender der niedersächsischen Bürgermedien.

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ten beteiligt sind. Frau A., die nach einem Praktikum bei der Projektwerkstatt die Aufgabe für die Konzeption des EU-Projekts IMES übernahm, stellte durch ihre Arbeit vielfältige Kontakte her. Sie hat Herrn W. aus Esslingen für einen Vortrag in Hannover über seine Aktivitäten in Esslingen gewonnen, hat Kontakte zu nationalen, regionalen und lokalen Einrichtungen hergestellt und im Hannoveraner Kontext Verbindungen zu Projektpartner hergestellt. Ihre Nachfolgerin Frau N. übernahm die Aufgabe als Koordinatorin und Vermittlerin zwischen lokalen Migrantenorganisationen und der Projektwerkstatt. Wie ich im Kapitel Fallstudie III zeige, spielt sie bei der Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Hannover eine wichtige Rolle. In diesem Abschnitt habe ich an Beispielen aus der Empirie deutlich gemacht, was New Mediators charakterisiert und wie sie in ihren verschiedenen Professionen als Sozialarbeiter, Projektleiter, Wissenschaftler, Geschäftsführer und Projektleiter als Übersetzer, Vermittler und Förderer der Anwendung neuer Medien und Technologien aktiv sind. Sie wirken durch ihre Praktiken an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration mit und sind an der lokalen Umsetzung von Projekten beteiligt. Wichtig ist, dass die Darstellung und Analyse der Rolle dieser Akteure selektiv ist und sich danach richtet, mit welchen Informanten ich gearbeitet habe. Ausgehend von ihnen konnte ich ihre Netzwerke identifizieren, denn sie sind nicht nur Vertreter verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen, sondern beteiligten sich auch an so genannten Think Tanks, also Denkwerkstätten in denen Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt werden. Was Think Tanks sind und welche Rolle sie in meinem Untersuchungsfeld spielen, zeige ich im folgenden Abschnitt.

T HINK T ANKS : S CHAUPLÄTZE VON S TRATEGIEN

DER

E NTWICKLUNG

Die Bezeichnung Think Tank kommt aus dem US-amerikanischen Sprachgebrauch und wird heute in vielen Sprachen pauschal dazu genutzt, um Netzwerke von Akteuren, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, zu beschreiben. Der Ursprung des Begriffs geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück. „Er umschrieb einen abhörsicheren Ort (tank), an dem zivile und militärische Experten Invasionspläne schmiedeten und an militärischen Strategien feilten (think)“ (Thunert 2003: 30). In seiner heutigen Verwendung hat sich der Begriff aber weiter entwickelt. Ab den 1960er wurde der Begriff vorwiegend in den USA dazu verwendet, praxisorientierte Forschungsinstitute außerhalb des Militär- und Sicherheitsapparats zu beschreiben (vgl. Lang 2006: 15). In Amerika haftet Think Tanks bis heute das

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Image des „Neoliberalismus“ an, da es sich dort meist um Einrichtungen handelt, die direkt und mit großem Einfluss die US-amerikanische Administration beraten und beeinflussen (vgl. Plehwe, Walpen, Nordmann 2007). Nicht selten stehen ökonomische Interessen im Hintergrund. Think Tanks haben über England auch ihren Einzug in europäische Länder gefunden. Es fällt jedoch auf, dass sehr spezifisch betrachtet werden muss, was ein Think Tank im jeweiligen nationalen Kontext ist, welche Praxis also damit verbunden ist (vgl. Lang 2006). Trotz des Charakters des Neoliberalen, das vielen, vor allem amerikanischen Think Tanks, anhaftet, entwickle ich hier eine Begriffsstrategie, die den Fokus nicht auf den hinter Think Tanks verborgenen Ideologien hat, sondern auf deren tatsächlicher Praxis. Meine Analyse zeigt, dass sich die Motivationen der Akteure, inklusive ihrer Ziele, die sie bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten haben, nicht immer mit neoliberalem Gedankengut erklären lassen. Das schließt natürlich nicht aus, dass die politisch Verantwortlichen durch digitale Integration von Migranten neoliberale Interessen verfolgen, indem sie sich erhoffen, dass Migranten durch verbesserte digitale Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt besser eingesetzt werden können.5 Im Deutschen bedeutet der Begriff Denkwerkstatt, „Denkfabrik“ (Leggewie 1990) oder „Ideenagentur“ (Gellner 1995). Ohne eine bestimmte ideologische Aussage machen zu wollen, verwende ich in dieser Arbeit meistens die englische Bezeichnung, was darauf zurückzuführen ist, dass er auch oft von den Akteuren verwendet wird, die ich untersuchte. Zur weiteren Entwicklung des Begriffs, wie ich ihn in der Arbeit verwende, liefert Thunert eine gute Ausgangsdefinition von Think Tanks. Sie sind „privat oder öffentlich finanzierte praxisorientierte Forschungsinstitute, die wissenschaftlich fundiert politikbezogene und praxisrelevante Fragestellungen behandeln und im Idealfall entscheidungsvorbereitende Ergebnisse und Empfehlungen liefern“ (Thunert 2003: 31). Anders als Thunert verwende ich den Begriff weiter gefasst, da ein Think Tank in der Studie keine bestimmte Institution darstellt. Vielmehr betrachte ich darunter ein dichtes Netz aus Akteuren und Organisationen, in dem Wissen und Erfahrungen zum Prozess der digitalen Integration von Migranten ausgetauscht werden, sowie neues Wissen produziert wird. Durch ihre Praktiken und Hand-

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Diesen Aspekt erörtere ich im Schlussteil meines Buches ausführlich, denn in der Praxis der digitalen Integration von Migranten zeigt sich, dass vor allem Politiker mit ihren Strategien die Absicht verfolgen, Migranten besser auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren – im Kontrast dazu wollen Akteure der Zivilgesellschaft durch digitale Integration mehr gesellschaftliche Teilhabe von Migranten erreichen.

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lungen entwickeln die Beteiligten Strategien, die aus ihrer Sicht dazu beitragen, Migranten durch die Nutzung digitaler Medien mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Wie die Bezeichnung Think Tank andeutet, wird dort etwas „gedacht“ und wie in einer Fabrik üblich auch etwas „produziert“. Da der Prozess der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration eine große Dynamik aufweist, in dem kontinuierlich neue Ansätze entwickelt werden, eignet sich die Fabrikmetapher gut für die Beschreibung der Akteur-Netzwerke, die ich untersucht habe. Im Falle der von mir erforschten Zusammenhänge werden neue Herangehensweisen und Handlungsansätze entwickelt, die darauf abzielen, wie Migranten in Deutschland mehr digitale Fähigkeiten und Medienkompetenzen vermittelt werden können. Demzufolge bezeichne ich das Handlungs-, Kommunikations- und Diskursfeld, in dem New Mediators aktiv sind als Think Tank, Denkfabrik und Denkwerkstatt. „Usually this term refers specifically to organizations which support multi-disciplinary theorists and intellectuals who endeavour to produce analysis or policy recommendations“ (Wikipedia). Wie die Definition aus der weltweit größten Online-Enzyklopädie andeutet, umfasst der Begriff ein weites Feld. Im Kontext meiner Arbeit eigne ich mir den Begriff ethnologisch an und betrete damit Neuland. Als Ausgangspunkt distanziere ich mich zwar nicht grundsätzlich von den bisherigen Definitionen, weise aber darauf hin, dass ich einen Think Tank nicht zwangsläufig als „einzelnes“ Forschungsinstitut oder als eine „bestimmte“ Organisation betrachte. Vielmehr gehe ich davon aus, dass an einer Denkfabrik Akteure aus verschiedenen Institutionen und Organisationen partizipieren, auch wenn eine bestimmte Einrichtung, wie im Falle dieser Studie die Stiftung Digitale Chancen als federführende Organisation auftritt. Langs (2006: 15-16) sehr umfangreicher Diplomarbeit über Think Tanks in Deutschland zur Folge haben diese drei besondere Merkmale: „Gemeinnützigkeit“, „Unabhängigkeit“ und sie verfolgen das „Ziel der politischen Einflussnahme“. Demzufolge stellen Think Tanks ein Kontinuum dar, dass auf der einen Seite an den „privat-rechtlichen Raum“ und auf der anderen an die „institutionelle politische Arena“ grenzt. In dem Spektrum wird in Denkfabriken vorhandenes Wissen gebündelt, diskutiert, ausgewertet und in Form von Strategien an Entscheidungsträger aus der Politik weitergegeben. Das Wissen nutzen Politiker, um sich bei ihren politischen Entscheidungen daran zu orientieren. Den Kontext der Wissensbündelung im Rahmen der Strategieentwicklung zur digitalen Integration von Migranten und die damit verbundenen Praktiken standen im Fokus meiner Feldforschung. Anders als in politikwissenschaftlichen und soziologischen Studien, betrachte ich Denkfabriken jedoch nicht explizit als statische Organisationen. Vielmehr konzipiere ich sie aus der Sicht der Akteure als Netzwerke von Menschen, die persönliche Beziehungen zueinander pflegen,

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die untereinander Bedeutungen vermitteln und übersetzen. Auf diese Weise entwickeln sie Strategien zur digitalen Integration von Migranten. In „Kollektiven“ aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren drücken sich ihre Verbindungen zueinander aus und sie repräsentieren gleichzeitig die kulturelle Praxis, durch die sie Strategien entwickeln (vgl. Latour 2002: 211-264; vgl. auch Theoriekapitel). Der Prozess der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration erscheint dadurch nicht als statischer Akt von bestimmten Organisationen, sondern als kulturelle, gesellschaftliche und politische Praxis, an der viele Akteure beteiligt sind. „The study of policy, therefore, leads straight into issues at the heart of anthropology: norms and institutions; ideology and consciousness; knowledge and power; rhetoric and discourse; meaning and interpretation; the global and the local – to mention but a few.“ (Shore, Wright 1997: 4)

Die Analyse der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten als Politikstrategien führt mitten in den Kern ethnologischen Interesses. In dem Sinne betrachte ich Think Tanks und das Netz aus Akteuren, das sie umgibt, sowie die Ansätze zur digitalen Integration, die sie entwickeln, als bedeutende kulturelle Praxis. Im Rahmen des Policymaking6 spielen Denkfabriken in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle. Durch die Bündelung des Wissens von Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen wie NGO’s, Universitäten, Beratungsinstituten, den Lobbys, Ministerien und EU-Behörden sind Think Tanks bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine treibende Kraft. In ihnen schaffen Akteure wie der Professor Herr H., die Geschäftsführerin Frau J., die Projektleiter Herr W. und Herr G. durch Diskussionen und Austausch, sowie dem Arbeiten an gemeinsamen Zielen und Ideen die entscheidenden Impulse, mit denen Politik und Praxis dazu veranlasst werden, Maßnahmen, Aktionspläne und Projekte ins Leben zu rufen um sie zu fördern. Lang (2006: 18-19) spricht in dem Zusammenhang von vier Grundfunktionen, die Think Tanks im politischen Prozess erfüllen: 1. Innformations- und Ideengewinnung (Produktion); 2. Informations- und Ideenverbreitung (Diffusion); 3. Allokations- und Netzwerkfunktion (Networking) und 4. Elitentransfer bzw. Elitenrekrutierung (Transformation). Neben der Bündelung und Produktion von Wissen haben Think Tanks und deren Akteure auch die Aufgabe der Übersetzung und Vermittlung von Wis-

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Policymaking beschreibt den Prozess durch den Politikstrategien zustande kommen.

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sen. Vergleicht man die vier Grundfunktionen nach Lang mit den vier Momenten der Übersetzung nach Callon (2006 b: 146-164) – 1. Problematisierung; 2. Interessement; 3. Enrolment; Mobilisierung (vgl. Theoriekapitel) – dann weisen sie Ähnlichkeiten auf. Aufgabe der Akteure eines Think Tanks ist es, in Übersetzungsprozessen durch die Produktion von Wissen, dessen Vernetzung und Weiterverbreitung andere Akteure zum Handeln zu bewegen. Im Idealfall entstehen dadurch Strategien zur digitalen Integration von Migranten, die im lokalen Kontext umgesetzt werden. In meiner Untersuchung spielt das Akteur-Netzwerk aus dem Umfeld der Stiftung Digitalen Chancen eine wichtige Rolle als Think Tank. Wie weit das Netz reicht, in dem Akteure wie Professor H., die Geschäftsführerin Frau J. und Projektleiter Herr W. eingebunden sind, zeigt der Entstehungsprozess der Stiftung. Sie ist heute die bedeutendste NGO im Feld der digitalen Integration der Bevölkerung in Deutschland und hat neben anderen Schwerpunkten auch einen Fokus auf die digitale Integration von Migranten. Die Stiftung ging aus dem Netzwerk Digitale Chancen hervor, das von Herrn H. an der Universität Bremen gemeinsam mit AOL Deutschland ins Leben gerufen wurde und vom damaligen Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie im Rahmen der Initiative der Bundesregierung „Internet für Alle“ gefördert wurde. Der Umstand zeigt, wie ein Think Tank auch an andere gesellschaftliche Bereiche wie Politik angrenzt. In einer Pressemitteilung, in der der offizielle Beginn des Netzwerks angekündigt wurde, wird deutlich, welche Zielsetzungen die Akteure des Netzwerks verfolgten: „Am 20.09.2001 wird das Netzwerk Digitale Chancen von Bundeswirtschaftsminister Dr. Werner Müller in Berlin offiziell eröffnet. Ziel des Netzwerks ist es, Menschen für die Möglichkeiten des Internet zu interessieren und sie beim Einstieg zu unterstützen, damit sie die Chancen dieses digitalen Mediums erkennen und für sich nutzen können.“ (NDC 2001)

Darin drückt sich das Ziel aus, die digitale Integration der Bevölkerung zu fördern. Die Beziehungen der Akteure des Ministeriums zu denen der Stiftung – zu dieser wurde das Netzwerk Digitale Chancen im Jahr 2003 – ist bis heute offensichtlich, da es die Schirmherrschaft für die Stiftung trägt. Auf der Ebene besteht der Kontakt zwischen den Beiden zwischen Herrn U., dem verantwortlichen Ministerialrat des Ministeriums, und Frau J., der Geschäftsführerin der Stiftung. Im Rahmen meiner Forschung wurden diese Beziehungen in der Vorbereitungsphase und während der Durchführung der „Berliner Gespräche zur digitalen Integration von Migranten“ deutlich. Unter dem Titel „Integrationsmotor Internet – Di-

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gitale Chancen für Migrantinnen und Migranten“ trafen sich im Januar 2004 etwa 50 Experten aus den Bereichen Bildung, Migrationsarbeit, Verwaltung, Forschung, Sozialarbeit, Politik und Medien, um über Praxisbeispiele und die Rolle des Integrationsmotors Internet zur „gesellschaftlichen Integration und beruflichen Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten“ (SDC 2004 a) zu diskutieren. In der Kooperationsveranstaltung der Stiftung Digitale Chancen und des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit debattierten im Kommunikationsmuseum in Berlin Experten zum Stand der (digitalen) Integration von Migranten in Deutschland7 (vgl. ebd.). Da ich in meiner Rolle als Redaktionspartner bei der Stiftung selbst in die Vorbereitung der Berliner Gespräche involviert war, konnte ich beobachten, wie sehr Politikvertreter darauf bedacht sind, einen guten Draht zu Expertennetzwerken zu haben. Auf einem Treffen in Bremen im Vorfeld der Veranstaltung versicherte Herr B., „dass sich das Wirtschaftsministerium in Zukunft vermehrt für die digitale Integration von Migranten einsetzen wird. Die Berliner Gespräche sind ein erster Schritt“ (PK Nat. Kontext). Die Aussage macht deutlich, wie sehr Beamten aus Ministerien darauf angewiesen sind, dass sie Zugang zum gebündelten Expertenwissen haben, um die Aktionspläne und Strategien ihrer Institution weiter zu entwickeln. Nur dadurch sind sie in der Lage, Versprechen zu halten, die sich in dem Zitat zeigen. Die Ziele von Vertretern der Politik und den Akteuren aus Think Tanks können in sehr unterschiedliche Richtungen gehen. Im Kontext der digitalen Integration von Migranten ist es demzufolge ein Hauptziel der Politik, Migranten durch die Vermittlung digitaler Kompetenzen für den Arbeitsmarkt „brauchbar“ zu machen. Auf der anderen Seite geht es Experten wie Professor H. darum, durch die Vermittlung digitaler Kompetenzen deren gesellschaftliche und politische Teilhabe zu fördern. Durch das Auftreten von politischen Akteuren wie Herrn B. wird aber auch deutlich, dass Think Tanks an die institutionell-politische Arena stoßen (vgl. Lang 2006: 16). Im Umfeld der Stiftung Digitale Chancen ist durch ihre Verbindungen zu Politik, Wissenschaft und Praxis ein Think Tank entstanden, in dem Experten und Vermittler wie Herr H., Frau J., Herrn W. und andere Akteure aus den Bereichen Migrations-, Informations- und Kommunikationsforschung, Sozialarbeit, öffentlicher Verwaltung und Migrationsarbeit Wissen, Erfahrungen und Ideen austauschen. In dem Prozess des Austauschs und den damit verbundenen kulturellen

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Die Berliner Gespräche waren insofern eine bemerkenswerte Veranstaltung weil hier zum ersten Mal auf höchster Ebene und mit höchster Wertschätzung die Thematik der digitalen Integration – unter Einbezug von Migranten – diskutiert wurde.

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Praktiken entstehen neue Perspektiven und Handlungsansätze, die über das Wirtschaftsministerium und seinen Beamten zu den politischen Entscheidungsträgern gelangen. Es wird deutlich, dass Think Tanks bei der Schaffung politischer Strategien treibende Kraft und Motor der Entwicklungen sind. Gleichzeitig wird aber auch klar, welch entscheidende Rolle bestimmte Institutionen und Organisationen wie das Wirtschaftsministerium und die Stiftung Digitale Chancen mit ihren Protagonisten spielen. Aus ihrem Kreis heraus wird bestimmt, wer ein Experte ist und wer nicht. Ihr Votum stimmt darüber ab, wer zu den Denkfabriken Zutritt erlangt. Durch den Selektionsprozess wird gleichzeitig festgelegt, wer auf politische Prozesse Einfluss hat und somit die Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten mitbestimmen kann. Im Folgenden zeige ich, welche Think Tanks in meinem Untersuchungsfeld eine wichtige Rolle spielen. Stiftung Digitale Chancen Basierend auf meinen Forschungsdaten stelle ich nun die Akteure und Einrichtungen dar, die durch ihre Beziehungen zueinander und den Austausch, der sich daraus ergibt, an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligt sind. Da ein Netzwerk beziehungsweise ein Think Tank immer impliziert, dass die Personen in Beziehung zueinander stehen, arbeite ich heraus, wie sich die Verbindungen in der Praxis gestalten. Das Offenlegen erlaubt es mir, die Zusammenhänge sichtbar zu machen, in denen das Wissen produziert und zusammengetragen wird, das für die Entwicklung von Strategien ausschlaggebend ist. Da Denkfabriken den Zweck haben, gebündeltes Wissen und Ziele zu produzieren, um sie an politische Entscheidungsträger weiter zu geben, nehme ich das Wirtschaftsministerium als Ausgangspunkt meiner Darstellung. Die Institution ist auf der Ebene der politischen Entscheidungen eine der federführenden Stellen im Prozess der Entwicklung von Maßnahmen und Aktionsplänen.8 Wie ich bereits angesprochen habe, besteht zwischen dem Wirtschaftsministerium und der Stiftung Digitale Chancen eine enge Beziehung. Ein Akteur, der für die Verbindung mit verantwortlich ist und eine entscheidende Rolle spielt, ist Professor H.. Als wissenschaftlicher Direktor ist er in die Stiftungsarbeit fest eingebunden. Die Position zur digitalen Integration, die er ein-

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Dieser Umstand deutet auch an, dass digitale Integration in engem Zusammenhang mit wirtschaftlicher Integration steht. Es geht also darum, die Bürger dahingehend zu integrieren, dass sie auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden können.

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nimmt, äußert sich in einem Grußwort des Jahresberichts der Stiftung aus dem Jahre 2004: „Der Begriff der digitalen Integration erschöpft sich daher nicht mit der Integration in die digitale Welt, sondern muss auch die Bemühungen um soziale Integration in die Arbeitswelt, in die Gesellschaft insgesamt umfassen“ (Kubicek 2004: 3). Es zeigt sich Herrn H.’s Einstellung, im Prozess der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration dahingehend zu argumentieren, dass digitale Integration eine umfangreiche soziale und gesellschaftliche Integration umfassen muss. Obwohl Herr H. als Berater öffentlicher politischer Institutionen tätig ist, hat er durch die Stiftung und sein Beratungsinstitut ifib eine eigenständige Position, die sich in seinen angesprochenen Publikationen, seinen öffentlichen Auftritten und Forschungstätigkeiten ausdrückt. Die Stiftungsgeschäfte werden trotz der bedeutenden Rolle von Herrn H. in der Organisation von Frau J. gelenkt. Seit Jahren nimmt die Geschäftsführerin eine sehr bedeutende Rolle ein, da sie durch ihre Tätigkeit und ihren großen Kommunikationsaufwand mit vielen Experten entscheidend dazu beiträgt, dass die Stiftung im Diskurs um die digitale Integration eine wichtige Position auf der Bundesebene einnimmt. Damit ist die Einrichtung zu einem wichtigen Knotenpunkt innerhalb der nationalen Denkfabrik geworden, die kontinuierlich an der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten arbeitet. Das drückt sich darin aus, dass die Stiftung eine Reihe von Veranstaltungen zum Thema der digitalen Integration von Migranten veranstaltet und damit in gewisser Weise das Gebäude oder den Raum der Denkfabrik geschaffen hat. Auf zahlreichen Workshops, Konferenzen und Gesprächen wurden jeweils Experten mit den Schwerpunkten Migrationsforschung, Medienarbeit, Sozialarbeit, Kommunikations- und Medienforschung, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Wirtschaft und Migrationsarbeit eingeladen. Eine wichtige Veranstaltung in dem Rahmen war der Expertenworkshop „Auf dem Weg zur digitalen Integration in der Informationsgesellschaft“ im August 2002 im Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. Hier konstituierte sich aus der Perspektive meiner Feldforschung zum ersten Mal das Netzwerk aus Experten, dass ich im weiteren Verlauf der Forschung als Think Tank identifizierte.9 Auf dem Workshop waren Vertreter des Zentrum für Türkeistudien, dem Türkischen Bund, dem Arbeitskreis Neue Er-

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Das bedeutet jedoch nicht, dass die Denkfabrik vor dieser Veranstaltung nicht existent war. Eine Denkfabrik stellt immer einen kontinuierlichen Prozess dar, dessen Anfangspunkt im Falle der von mir untersuchten Denkfabrik mit Sicherheit weiter zurück liegt.

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ziehung, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Universität Bremen, von Berliner Schulen und vom Beratungsinstitut Booz, Alison & Partner anwesend. Auf der eintägigen Veranstaltung wurde das damals aktuelle Wissen zum Stand der digitalen Integration von Migranten in Deutschland gesammelt und gebündelt. Der anwesende Ministerialbeamte des Wirtschaftsministeriums konnte sich auf diese Weise ein Bild vom Stand der Dinge machen. Gleichzeitig erfuhr er durch die vielen Diskussionen, in welchen Bereichen dringender politischer Handlungsbedarf besteht. Frau J. und die anderen Akteure der Stiftung haben es durch Veranstaltungen wie diese nicht nur geschafft, die Stiftung aus einem Aktionsprogramm der Bundesregierung heraus aufzubauen, sondern sie haben es auch umgesetzt, die Organisation zu einer entscheidenden Verbindungsstelle zwischen technischen und wissenschaftlichen Experten, Redaktionspartnern, der Presse, anderen NGO’s und den politischen Institutionen zu machen. Durch ihre verbindende Position spielt die Stiftung als Think Tank eine entscheidende Rolle, da sie nicht nur in der Lage ist, das jeweilige Expertenwissen aufzuspüren und zu bündeln, sondern es durch ihre Kontakte zum Wirtschaftsministerium auch direkt an die politischen Entscheidungsträger weiter gibt. Gleichzeitig gibt das der Stiftung eine mächtige Stellung, da sie die Kontrolle darüber hat, welches Wissen in welcher Form an die Vertreter des Ministeriums weitergegeben wird. Führt man sich die Fabrikmetapher nochmals vor Augen, dann ist die Stiftung Digitale Chancen gewissermaßen der Aufsichtsrat in der nationalen Denkfabrik. Dadurch haben die Akteure der Stiftung einen weiten Radius, in dem sie sich in den Diskurs um die Entwicklung politischer Strategien einbringen können. In ihrer Rolle als Akteure sind sie Kulturschaffende und Vermittler, in dem sie die Stiftung zu einer Stiftung gemacht haben und sie als wichtige Organisation in der politischen Landschaft positioniert haben. Gleichzeit geben sie durch ihre tägliche Arbeit als Geschäftsführer, Öffentlichkeitsarbeiter und Interessenvertreter der Stiftung ihr Gesicht und lassen sie im Sinne kultureller Praxis entstehen. Aus der Sicht der Akteure der Stiftung stellen die „Berliner Gespräche zur digitalen Integration von Migranten“ ein Ergebnis ihrer Arbeit dar. In Bezug darauf, wer an der Denkfabrik beteiligt ist, stellt dieses Event ein gutes Beispiel für die Beziehungsnetzwerke dar, die im Verlaufe der Jahre entstanden sind. Auf der Veranstaltung im Januar 2004 kamen Experten aus dem Feld der digitalen Integration von Migranten in Berlin zusammen, um ihr Wissen und ihre Erfahrungen auszutauschen. Zum ersten Mal wurde in diesem Ausmaß ein Forum auf Bundesebene geschaffen, in dem von bedeutenden Experten der Zustand, die Erfordernisse und die Aussichten für den Prozess der digitalen Integration von Migranten diskutiert wurden (vgl. SDC 2004 b: 24-27). Die genaue Analyse der

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Rolle der Stiftung und ihrer Akteure zeigt, dass sie nicht nur Lobbyarbeit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Hinblick auf die Nutzung neuer Medien und Technologien leisten, sondern auch die Vermittlerposition und die Federführung in der nationalen Denkfabrik einnehmen. Darüber hinaus ist die Stiftung eine wichtige Weiche zwischen lokal agierenden NGO’s im Bereich der digitalen Integration und der Bundesebene. Außer der Stiftung Digitale Chancen, dem Expertennetzwerk, das sich um die Stiftung herum entwickelt hat, und dem Institut für Informationsmanagement von Professor H. gibt es weitere Institutionen und Akteure, die ihr Wissen in den Think Tank einfließen lassen. Um in dem Sinnzusammenhang der Fabrikmetapher zu bleiben, stellen sie im übertragenen Sinne Zulieferbetriebe dar, da sie für die Entwicklung politischer Strategien zur digitalen Integration von Migranten eher eine Nebenrolle spielen. Im Zusammenhang meiner Untersuchung des Bundesprojekts Media@Komm beziehungsweise der Durchführung in Esslingen tauchte das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU) als wichtige Forschungsinstitution auf, das durch seine Begleitforschung und Ergebnisse einen Einfluss auf den Entwicklungsprozess politischer Strategien hat. „Unter Federführung des Difu wird durch eine wissenschaftliche Begleitforschung die Realisierung der Teilprojekte in den Preisträgerstädten unterstützt […] Neben klassischen Forschungsaufgaben besteht die zentrale Aufgabe im Rahmen von MEDIA@Komm in dem Aufbau eines Kooperations- und Kommunikationsnetzwerks, das den Bedarf an Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer decken sowie als Kommunikations- und Diskussionsplattform, aber auch der Darstellung von Best Practices dienen soll.“ (DIfU)

Die Akteure des DIfU zeigen sich in meiner Forschung vor allem in den Publikationen und Begleitmaterialien, in denen die Ergebnisse der Media@Komm Begleitforschung veröffentlicht wurden. Eine wichtige Funktion in dem umfangreichen Material übernehmen die so genannten „Erfolgsfaktoren“, in denen die Forschungsergebnisse in reflektierter und zukunftsweisender Form wieder auftauchen. Auf der eGo Kongressmesse, die ich im Herbst 2003 in Düsseldorf besuchte, begegnete ich Herrn H., einem Wissenschaftler, der für das DIfU arbeitet. In seinem Vortrag fasste er die Ergebnisse aus den drei Jahren Media@Komm zusammen und gab einen Bericht aus den verschiedenen Workshops der Konferenz. Durch ihre dreijährige Begleitforschung hatten die Akteure des DIfU maßgeblichen Einfluss auf die Weiterentwicklung von politischen Strategien, weil die Forschungsergebnisse immer wieder in den fortlaufenden Prozess des Pro-

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jekts eingeflossen sind (vgl. DIfU). Auf diese Weise wurden das DIfU und seine Forscher zu einem der wichtigsten Beratungsgremien der Projektteilnehmer einerseits, und der Projektplaner, also der politischen Akteure andererseits. Obwohl das DIfU durch seine Rolle als autorisiertes Begleitforschungsinstitut eine sehr wichtige Rolle spielt, setzt es sich relativ wenig mit der Thematik der digitalen Integration von Migranten auseinander. Bisher habe ich im Rahmen von Think Tanks vom deutschlandweiten Zusammenhang gesprochen, aus dem die Akteure und Organisationen kommen. Im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses spielen zunehmend auch Netzwerke und Think Tanks auf Europaebene eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Diesen Kontext stelle ich im Folgenden dar. Europäischer Kontext Durch den Einigungsprozess in Europa hat zunehmend auch die europäische Ebene Einfluss auf die Entwicklung politischer Strategien genommen. Es sind vor allem die Institutionen in Brüssel, in deren Umfeld sich wichtige Think Tanks gebildet haben. Von besonderer Bedeutung ist die Rolle der europäischen Kommission, inklusive ihrer Generaldirektionen für Informationsgesellschaft und Kultur, denn sie bedient sich gezielt des Wissens aus Expertennetzwerken. An diesem Punkt sieht man besonders gut, warum, wie zu Beginn meines Buches dargelegt, der gesamte Gegenstand meiner Untersuchung im EU-Kontext zu betrachten ist (vgl. Lissabon Agenda). Durch eine Reihe von Workshops und Tagungen ist durch Impulse aus diesen Institutionen in den letzten Jahren ein Netzwerk aus Experten, Beratern und Gutachtern entstanden. Obwohl die Institutionen der EU für viele fremd und undurchsichtig wirken und als gewaltiger Verwaltungsapparat erscheinen mag, basieren die Netzwerke auf persönlichen Beziehungen. Viele der Akteure, die Teil der europäischen Denkfabriken sind, kennen sich untereinander und tragen ihr Wissen nicht nur an EU-Politiker heran, sondern auch an nationale und lokale Vertreter der Politik. Von besonderer Bedeutung sind die Think Tanks auf der Europaebene deshalb, weil von Brüssel immer mehr gesellschaftliche und politische Bereiche gelenkt und gesteuert werden. Spätestens seit Verabschiedung der Lissabon-Agenda sind alle Bereiche um das Thema „Informationsgesellschaft“ immer auch eine Angelegenheit von Brüssel. Demzufolge gehen im Hinblick auf die digitale Integration der Bevölkerung in Europa die entscheidenden Impulse von Brüssel aus, was sich alleine schon in einem riesigen Förderapparat ausdrückt. Wie wichtig die europäischen Denkfabriken für den nationalen und lokalen Kontext sind, zeigt sich darin, dass

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das „Wort aus Brüssel“ eine immer mächtigere Wirkung hat. So entscheiden zwar lokale Denkfabriken ihre Richtung immer noch selbst, orientieren sich aber bei der Entwicklung politischer Strategien immer mehr an den Diskursen, die auf europäischer Ebene stattfinden. Das beste Beispiel dafür ist das Konzept des „Lebenslangen Lernens“, das auf der Agenda vieler EU-Institutionen ganz oben steht. In dem Konzept verbirgt sich die Aufforderung an alle Bürger der EU, sich mit künftig immer wichtiger werdenden Fertigkeiten wie digitaler- und Medienkompetenz „auszustatten“. Das beinhaltet, dass sich jeder Einzelne im Rahmen von Schule, Ausbildung, Beruf und Weiterbildung darum bemühen soll, sich Computer- und Internetfertigkeiten anzueignen, den Umgang mit neuen Technologien zu erlernen, und digitale Angebote wie eLearning nutzen zu können. Diese Forderungen finden sich in den politischen Programmen der EU wieder. Wie bereits angesprochen, resultieren sie aus den Erkenntnissen der europäischen Denkfabriken. Da die politischen Strategien, die sich dahinter verbergen, immer im lokalen Kontext ihre Anwendung finden, wirken Prozesse und Entwicklungen auf der EU-Ebene immer auch auf der lokalen Ebene. Hier wird die enge Verknüpfung zwischen lokaler, nationaler und europäischer Ebene deutlich. In den vergangenen Abschnitten habe ich dargestellt, aus welchen Personen, Institutionen und Organisationen sich das Netzwerk zusammensetzt, das ich in der Arbeit als Think Tank bezeichne. Es wurde deutlich, dass es in erster Linie Experten und deren Verbindungen zueinander auf nationaler Ebene sind, aus denen heraus das Wissen gebündelt wird, das zur Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten benötigt wird. Außerdem habe ich die europäische Dimension von Think Tanks kurz skizziert. Im Folgenden stelle ich nun dar, wie auf lokaler Ebene in Think Tank ähnlichen Netzwerken Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben gerufen werden.

L OKALE E NTWICKLUNG VON S TRATEGIEN : A KTEUR -N ETZWERKE ALS T HINK T ANKS In den letzten Abschnitten wurde deutlich, dass bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten Denkfabriken und deren Akteure auf nationaler und europäischer Ebene eine wichtige Rolle spielen und damit auch einen Einfluss im lokalen Kontext haben. In meiner Forschung konzentrierte ich mich neben der nationalen Ebene auf den lokalen Zusammenhang der Produktion und Weitergabe von Wissen zur digitalen Integration. Die Analyse der Daten zeigt, dass die Entwicklung von Strategien keiner strengen hierarchischen Ordnung folgt. Beim Blick auf die an den Think Tanks beteiligten Akteure

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zeigt sich zwar, dass die dominanten Impulse von nationalen und europäischen Denkfabriken ausgehen, dass es bei weitem aber nicht so ist, dass die Vorgaben auf der lokalen Ebene unhinterfragt umgesetzt werden. „The ‚local‘, which we view as the place of translation and hybridization, should not be conceived as a spatial fixity of tradition and continuity. We suggest that it is more analytically fruitful to see it as a ‘generating site’; generating because locality appears as something relational and open-ended as it interacts with global dynamics, rather than as unchangeable, closed and passive context.“ (Salskov-Iversen, Krause Hansen, Bislev 2000: 189)

In der Arbeit betrachte ich deshalb die Ebene des Lokalen auch als Teil des Entwicklungsprozesses von Strategien. In dem Zusammenhang spielen lokale Netzwerke aus Akteuren eine entscheidende Rolle, denn in ihnen werden lokales Wissen und Erfahrungen gebündelt, produziert und an entsprechende lokale politische Entscheidungsträger weiter gegeben. Die lokalen Akteur-Netzwerke und ihre Rolle bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten unterscheiden sich von den nationalen und europäischen Think Tanks. Im Vergleich zu diesen sind die Entwicklungen und Strategien immer eng an den lokalen Kontext gekoppelt und müssen nicht in dem Maße „globale“ Kriterien erfüllen. Außerdem ist der lokale Kontext weniger wissenschaftlich, wenngleich das Wissen, das auf lokaler Ebene gebündelt und produziert wird, zum Teil auf wissenschaftlichen Methoden basiert. Darüber hinaus erfüllen die lokalen Netzwerke aus Akteuren die gleichen Funktionen wie der Think Tank um die Stiftung Digitale Chancen. Aus dem Grund wird in den folgenden Abschnitten, in dem ich mich auf den lokalen Blick auf die Entwicklung von Strategien konzentriere, auch von Think Tanks die Rede sein. Durch die Darstellung und Analyse der Akteure, ihren Beziehungen zueinander und der daraus resultierenden Praxis mache ich deutlich, wie sich das im lokalen Kontext auf die Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten auswirkt. Ich zeige, welche Bedeutung lokale Think Tanks in Esslingen und Hannover haben und welche Rolle sie bei der Entwicklung von Strategien spielen. Die Prozesse, den Austausch und die Beziehungen von lokalen Akteuren, die sich daraus ergeben, habe ich in Esslingen und Hannover untersucht. In Esslingen geht der Kern lokaler Wissensproduktion auf staatliche und kommunale Institutionen und Akteure zurück, während in Hannover nichtstaatliche Akteure und Organisationen das Zentrum der Denkfabrik bilden. Im Folgenden zeige ich für Esslingen die lokalen Akteure, ihre Verbindungen zueinander, die Institutionen, die sie vertreten und den Prozess, wie dadurch lokales

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Wissen zusammengetragen und weiterentwickelt wird. Meine Daten und deren Analyse dienen mir als Ausgangspunkt, um zu zeigen, welches Profil die Esslinger Denkfabrik hat. Durch die Darstellung der Akteure und ihrer Rolle demonstriere ich, wie und auf welche Art und Weise in einem Think Tank Ideen und Strategien entwickelt werden, die einen Beitrag zur digitalen Integration von Esslinger Migranten leisten. Esslingen Der Weg nach Esslingen führte über die eGo-Konferenz in Düsseldorf, wo ich auf das Projekt buerger-gehen-online (bgo) aufmerksam wurde. Dadurch lernte ich mit Herrn W. einen zentralen Akteur der lokalen Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten kennen. Eine bedeutende Verbindung im Prozess der lokalen Wissensbündelung und -produktion verläuft in Esslingen zwischen Herrn W. und Herrn S., dem städtischen Beauftragten für Menschen mit Migrationshintergrund. Er ist der Leiter des „Ausländerbüros“, wie das Amt für Menschen mit Migrationshintergrund in Esslingen genannt wird. In der Institution laufen die Fäden zusammen, die mit kommunalen Migrationsfragen zu tun haben.10 Der Austausch zwischen den beiden ist im Rahmen der Entwicklung des Projekts buerger-gehen-online (bgo) entstanden. Aus der Sicht von Herrn W. ging es darum, dass sich Herr S. dazu bereit erklärt, seine Einrichtung als „Zugangsort“ innerhalb des Bürger-PC Netzwerks für Migranten zur Verfügung zu stellen. Durch diese Initialisierung wurde das Ausländerbüro mit seinen PCArbeitsplätzen nicht nur Teil des Zugangsnetzwerkes, sondern es entwickelte sich auch ein kontinuierlicher Gedanken- und Ideenaustausch zwischen den beiden Akteuren. In Bezug auf die Entwicklung lokaler politischer Strategien liefert das Ausländerbüro die entscheidenden Ideen und das Expertenwissen in Bezug auf Migrationsfragen. Der Beitrag des Projekts bgo kommt dadurch zustande, dass aus der Richtung das entscheidende Expertenwissen zur Praxis der digitalen Integration von benachteiligten Menschen kommt. Aus diesem Kontext heraus entwickelte sich die Esslinger Denkfabrik, in der im weiteren Verlauf viele lokale Akteure und Organisationen direkt oder indirekt einen Beitrag zur Produktion von lokalem Wissen leisteten. Eine wichtige Organisation, die daran beteiligt ist, ist der Internationale Bund (IB). Die bundesweit tätige NGO war Träger zahlreicher PC- und Sprachkursangebote für Migranten in Esslingen. Durch die Maß-

10 Welche Aufgaben das Ausländerbüro hat und welche Akteure darin eine Rolle spielen, wird im Kapitel Fallstudie II ausführlich dargestellt.

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nahme SIP häufte der IB Erfahrungswissen im Rahmen der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten an. SIP steht für „SpracheIntegration-PC“ und stellt ein Kursangebot für Migranten dar, in dem Sprachkurse in Kombination mit PC-Kursen angeboten wurden. Das Wissen und die Erfahrungen aus der Maßnahme dienten Herrn W. bei der Konzeption des Projekts buerger-gehen-online. Der Verein Ausländer und Deutsche gemeinsam e.V. ist eine weitere NGO, die einen Teil der Denkfabrik darstellt. Neben den NGO’s gibt es weitere lokale Akteure und Organisationen, die ihr Wissen der Esslinger Denkfabrik als Ressource zur Verfügung stellen. Rückblickend, also für bereits umgesetzte Strategien zeigt sich, dass das Esslinger Computerclubhaus ein wichtiger Ideenlieferant für das Projekt bgo war. Vor allem der Mentorenansatz, der mit dem bgo arbeitet, stammt vom Computerclubhaus, welches seine PC-Arbeitsplätze für Jugendliche selbst mit Mentoren betreut. Im Hinblick auf die Entwicklung von Strategien für jugendliche Migranten ist auch der Jugendladen Claro als Ideenlieferant an der Esslinger Denkfabrik beteiligt. Durch ihr Engagement in diesem Feld sind unter den beteiligten Akteuren Beziehungen entstanden, die ein dichtes Netz aus Akteuren und Einrichtungen bilden. Meine Daten zeigen, dass unter einigen der Akteure bereits langjährige und persönliche Beziehungen bestehen, was bestimmte Kontakte zwischen Akteuren in einem besonderen Vertrauensverhältnis erscheinen lässt. Dadurch herrscht unter den Beteiligten ein hohes Maß an sozialer Kontrolle. Vor allem die sehr aktiven Akteure wissen jeweils um die Ideen, Standpunkte und Aktivitäten der jeweils anderen. In informellen Gesprächen mit ihnen ist mir aufgefallen, wie sehr sie die anderen beobachten und deren Aktivitäten kontrollieren – also ganz in Gestalt einer politischen Technologie der Kontrolle, wie sie Foucault (1977) im Rahmen des panoptischen Schemas beschrieben hat. Durch ihre Verbindungen zueinander ist es den Akteuren möglich, ihre Ideen auszutauschen, die an den entscheidenden Stellen der Denkfabrik – im Ausländerbüro und im Projekt buerger-gehen-online – schließlich zusammenlaufen. Die folgende Abbildung gibt einen Eindruck davon, wie vielschichtig die Verbindungen zwischen den an der Denkfabrik beteiligten Akteuren sind und zwischen wem wichtige Übersetzungsprozesse ablaufen. Die Visualisierung entstand bei der Auswertung meiner Daten und dient mir als Werkzeug, um die Verknüpfungen zwischen Akteuren sichtbar zu machen und sie gleichzeitig in den sozialräumlichen Koordinaten zu „verorten“ – oder dazu, wie ich im Theorieteil des Buches geschrieben habe, eine Kartographie zu erstellen.

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Abbildung 3: Kartographie der Esslinger Denkfabrik

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

Die Grafik zeigt die Akteure, Beziehungen und Bewegungen im Esslinger Netzwerk, das ich als lokalen Think Tank betrachte. Im rot markierten Bereich der Darstellung zeigen sich die zentralen Akteure, Herr W. (W), Herr S. (S), Frau N. (N) und Frau Ü. (Ü). Gleichzeitig wird sichtbar, dass sie im Ausländerbüro bzw. im Projekt bgo tätig sind. Die Felder, in denen die Akteure aktiv sind, betrachte ich als „sozialräumliche Koordinaten“. Insgesamt verdeutlicht die Abbildung, dass am Prozess der Wissensproduktion viele lokale Akteure beteiligt sind. Die Analyse meiner Daten hat ergeben, dass es zwischen Einigen bereits langjährige Beziehungen gibt, die teilweise bis in gemeinsame Schulzeiten zurückreichen. Wesentlich stärker als in nationalen Denkfabriken spielen deshalb persönliche Beziehungen eine große Rolle in der Praxis von lokalen Denkfabriken. Im Prozess des Austauschs und der Kommunikation zwischen den Akteuren wird in der Esslinger Denkfabrik lokales Wissen gebündelt, aus dem heraus neue Ideen entstehen. Sie stellen die Ressource für die Weiterentwicklung des Wissens dar, welches in der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine entscheidende Rolle spielt. Die Analyse meiner Daten zeigt, dass sich die Ideen und das Wissen an bestimmten Punkten verdichten und die Richtung in der Strategieentwicklung vorgeben. Eine zentrale Bündelung des lokalen Wissens findet sich in dem vom Projekt buerger-gehen-online geschaffe-

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nen Zugangsnetzwerk zu PC und Internet. Eine Richtung, die sich in der Denkfabrik während meiner Forschungszeit abzeichnete, betrifft die Zugangsorte für Migranten. Sie sollen stetig verbessert und ausgebaut werden. Von besonderer Bedeutung ist, geeignete Wege zu finden, auch bildungsferne Migranten mit den Angeboten anzusprechen. Die Richtung wurde von Herrn W. vorgegeben, da er feststellte, dass die Gruppe von den Angeboten im Rahmen des Projekts bgo nicht erreicht wird. In dem Kontext steht ein Ideenfeld, das sich aus dem Austausch zwischen Herrn W., Herrn S. und Frau N. entwickelt hat. Frau N. führte während meiner Feldforschung verschiedene PC- und Internetkurse für Migranten im Ausländerbüro durch. Durch ihre Tätigkeit wurde sie Schritt für Schritt in die Entwicklung von zukünftigen Maßnahmen mit einbezogen. Eine zentrale Strategie, die in dem Zusammenhang entwickelt wurde, umfasst den Bereich der Vermittlung digitaler Fähigkeiten und Medienkompetenzen im weiteren Sinn. Das Wissen aus den umgesetzten Strategien führte die lokalen Akteure zu der Erkenntnis, dass sich so genannte „Mikroprojekte“ am besten eignen, um Medienkompetenzen an kleine Gruppen von fünf bis fünfzehn Teilnehmern zu vermitteln. Besonders die Strategie, gezielt Mikroprojekte für Migranten in Esslingen zu entwickeln, wurde in der Denkfabrik eine wichtige Denkrichtung. Eine treibende Kraft bei der Entwicklung von Strategien zur Durchführung von Projekten zur digitalen Integration ist Herr S., der durch die Schaffung von Angeboten erwirken will, dass Migranten durch zusätzliche Kompetenzen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und ihre gesellschaftliche Teilhabe gefördert wird. Unterstützt wird er von der Sozialarbeiterin Frau Ü., die ihn mit wichtigem Wissen aus dem Alltag von Esslinger Migranten versorgt. In der Idee, durch das „Werkzeug PC und Internet“ die aktive Staatsbürgerschaft zu fördern, verbergen sich gleichzeitig die Förderung und Forderung, dass Migranten im Rahmen integrativer Prozesse diese Rolle intensiver besetzen sollen. Eine weitere Absicht, die darin verborgen liegt, ist es, Migranten dazu zu mobilisieren, sich selbst aktiv als Akteure im Prozess der digitalen Integration zu beteiligen. Vor allem geht es den Akteuren der Denkfabrik darum, lokales Wissen zur digitalen Integration so weit zu verbreiten, dass Migranten als Multiplikatoren in ihren Stadtteilen aktiv werden können. In den letzten Abschnitten habe ich die wichtigsten Akteure und Institutionen der Esslinger Denkfabrik dargestellt und gezeigt, durch welche Verbindungen das lokale Wissen gebündelt und produziert wird. Zur Verdeutlichung der Prozesse demonstriere ich im Folgenden die Entstehung und Durchführung eines

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LOS-Mikroprojektes11 in der Pliensauvorstadt in Esslingen. Anhand des Beispiels zeige ich die Praktiken der Denkfabrik und gebe ein detailliertes Bild der lokalen Wissensbündelung und -produktion. Als so genannter „sozialer Brennpunkt“ erfüllt die Pliensauvorstadt die Förderkriterien für das LOS-Programm des Europäischen Sozialfonds. Der Verein Ausländer und Deutsche Gemeinsam e.V. hat als Träger des Mikroprojekts in Kooperation mit dem Esslinger Ausländerbüro und buerger-gehen-online von Februar 2004 bis Juni 2005 daran gearbeitet, ein „niederschwelliges Bildungsangebot“ (Kirst 2005) zu etablieren. Die Absicht war, einen Beitrag zur digitalen Integration von Migranten zu leisten. Betrachtet man den Entstehungsprozess, der sich hinter der Entwicklung dieser Ideen verbirgt, so wird schnell klar, dass ein enger Kreis von Akteuren daran mitgearbeitet hat. Herr W. hat in enger Kooperation mit dem Verein Ausländer und Deutsche Gemeinsam e.V. und mit Frau N., der Computerlehrerin aus dem Ausländerbüro, die wesentlichen Ideen entwickelt. Involviert in den Austausch von Wissen und Ideen waren auch Herr S. und andere Akteure aus dem Stadtgebiet. Bei der Entwicklung von Strategien und Angeboten wurden Migranten aus dem Stadtteil bereits in der Planungsphase mit einbezogen. Das Ziel war, die Einbezogenen als Lotsen zu gewinnen, die in folgenden Projektphasen als Multiplikatoren arbeiten sollten. Als Ausgangspunkt des Plans, in den Migranten aus dem Stadtteil involviert waren, betrachte ich eine Veranstaltung, auf der alle Beteiligten, Initiatoren, Träger und Partner zum ersten Mal zusammenkamen, um den Status Quo des Wissens zu ermitteln, und auch, um die Projektidee im Stadtteil vorzustellen. Aus der Perspektive der Darstellung und Analyse der Esslinger Denkfabrik demonstriert die Veranstaltung zum „LOS-Mikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt“ auch einen Kulminationspunkt. Auf der Veranstaltung, die im März 2004 im Jugendhaus des Internationalen Bunds im Stadtteil stattfand, war ein Großteil der relevanten Akteure anwesend. Dies bot während der fast dreistündigen Veranstaltung einen exemplarischen Einblick in die Arbeits- und Austauschprozesse. Da sich die Denkfabrik an verschiedenen Stellen konstituiert, und die vielen Austauschprozesse zwischen einzelnen Akteuren in Büros, Kantinen und in Organisationen oft im Verborgenen stattfinden, gab die Veranstaltung einen „öffentlichen“ Eindruck davon, wo und wie sich ei-

11 LOS steht für „Lokales Kapital für Soziale Zwecke“. Es beinhaltet ein Förderprogramm des europäischen Sozialfonds und fördert Projekte in sozialen Brennpunkten. Die Pliensauvorstadt ist ein Fördergebiet, in dem thematisch völlig verschiedene Mikroprojekte durchgeführt werden (vgl. Webportal LOS-Esslingen).

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ne Denkfabrik in dem von mir untersuchten Feld typischerweise konstituiert. Anders als in nationalen Denkfabriken manifestieren sich die Orte, an denen Wissen zusammengetragen und weiterentwickelt wird – nicht in großen Konferenzsälen, sondern in meist zu kleinen Seminar- und Tagungsräumen von öffentlichen oder privaten Institutionen. Bereits in einer frühen Phase stellte Herr W. fest, dass der Computer in den Hintergrund rückt und die Lotsen zunehmend an Bedeutung im Projekt gewinnen: „PC und Internet werden zwar nach wie vor als sehr brauchbare Werkzeuge mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten gesehen, es wurde jedoch deutlich, dass der zu Projektbeginn konzipierte Ansatz bürgerschaftlich engagierter ‚zweisprachiger Lotsen‘ ein wesentlich größeres Potential eröffnet: Der eigene Migrationshintergrund und damit verbunden das Verständnis für den jeweiligen kulturellen Hintergrund sowie die eigene Mehrsprachigkeit und die Nähe zur Zielgruppe im Stadtteil sind Faktoren, die für die weitere Kursarbeit als sehr wertvoll angesehen werden.“ (Kirst 2005: 4)

Aus dem Grund entwickelte sich die Sprachförderung zu einer eigenständigen Säule im LOS-Mikroprojekt. Stadtteilorientierung, der Lebensweltbezug der Themen und die gezielte Öffentlichkeitsarbeit sind die Erfolgsfaktoren in dem Projekt. In Bezug auf die Themenorientierung innerhalb der geplanten Kurse zur digitalen Integration hat sich gezeigt, dass vor allem „Kinder, Erziehung und Familie“, „Sprachförderung“ und „Gesundheit“ Themen sind, anhand derer Migranten aus dem Stadtteil lernen, im Internet zu recherchieren und die Informationen in anderen Programmen weiter zu verarbeiten und zu präsentieren. Es hat sich aber gezeigt, dass zielgruppenspezifische Inhalte und Öffentlichkeitsarbeit alleine nicht ausreichen. „Zum erfolgreichen Start brauchen themenbezogene Bildungsangebote zur digitalen Integration lokale Gruppen oder Partner und eine kontinuierliche Begleitung“ (Kirst 2005: 1). Das Wissen wird wiederum dazu genutzt, um künftige Strategien und Maßnahmen zu verbessern und weiterzuentwickeln. In den letzten Abschnitten wurde deutlich, welche Rolle das lokale Netz aus Akteuren und Einrichtungen bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielt. Deutlich wurde auch, dass dies nach einem ähnlichen Muster passiert wie in klassischen Think Tanks. Im Folgenden widme ich mich in dieser Hinsicht dem zweiten lokalen Schauplatz meiner Studie in Hannover.

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Hannover Die Betrachtung der Gesamtsituation innerhalb der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Deutschland zeigt, dass lokal agierende Nichtregierungsorganisationen (NGO’s) eigene Herangehensweisen entwickeln. Im Rahmen meiner Forschung habe ich in Hannover die lokale Wissensproduktion erforscht, in deren Zentrum die Akteure der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. stehen. Die Organisation engagiert sich in den Städten Hannover, Hildesheim und Lehrte durch Maßnahmen und Angebote im Feld der digitalen Integration von Migranten. Ich zeige, welche Akteure an dem lokalen Think Tank beteiligt sind, in welchem Netz aus Organisationen sie eingebunden sind und wie aus den Verbindungen, die sich daraus ergeben, lokales Wissen für die Entwicklung politischer Strategien produziert wird. In Bezug auf das erzielte Wissen und die daraus resultierenden Maßnahmen weisen Hannover und Esslingen einige Ähnlichkeiten auf. Auch in Hannover gibt es ein Netzwerk von lokalen Akteuren und Organisationen, in dem Strategien zur digitalen Integration ins Leben gerufen werden. Im Unterschied zu Esslingen sind hier jedoch keine staatlichen Institutionen federführend beteiligt. Die Übereinstimmung zeigt sich in dem Netz von Zugangsorten zu Computer und Internet, die einen wichtigen Bestandteil der lokal entwickelten Strategie zur Steigerung der digitalen Fähigkeiten von Migranten bilden. Das von der EU finanzierte „Projekt IMES“ bietet Menschen mit Migrationshintergrund an Orten wie Bibliotheken, Schulen und Vereinen in Hannover, Hildesheim und Lehrte Zugang zu Computern und Internet an12. Das Projekt IMES „Neue Bildungsangebote und –Methoden für die Integration von MigrantInnen in die europäische Gesellschaft“13 wurde im Rahmen des Socrates Grundtvig 1 Programms gefördert und von der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. entwickelt. Umgesetzt wird das Projekt von drei Nichtregierungsorganisationen in Hannover (Deutschland), Barcelona (Spanien) und Palermo (Italien). „Das Ziel dieses Projektes ist es MigrantInnen mit Hilfe von neuen und aktuellen Methoden zu integrieren und ihnen das notwendige ‚Werkzeug‘ für die aktive Beteiligung in der europäischen Gesellschaft zu vermitteln. Dazu werden soziokulturelle Kenntnisse benö-

12 Hannover ist zwar der Sitz der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. und das Schwerpunktgebiet für verschiedene Maßnahmen, Hildesheim und Lehrte gehören aber auch zum „Einzugsgebiet“ der Organisation. 13 IMES steht als Abkürzung für diesen Satz.

168 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? tigt, ebenso wie Kenntnisse in den Bereichen Politikmanagement und neue Medien. Das europäische Projekt basiert auf den Zielen der Erwachsenenbildung und des lebenslangen Lernens. […]. Die Themenbereiche soziokulturelle Kompetenz, Politikmanagement und Neue Medien werden so, den Anforderungen entsprechend bearbeitet.“ (IMES)

Das Zitat stammt von der Webseite des Projekts14 und deutet die Strategie an, die entwickelt wurde, um in Hannover, Barcelona und Palermo Migranten in die europäische Gesellschaft zu integrieren. Was eindeutig erkennbar ist, sind die drei Säulen, auf denen die Strategie von IMES basiert: „Soziokulturelle Kompetenz“, „Politikmanagement“ und „Neue Medien“. In Bezug auf die Bündelung und Produktion von lokalem Wissen spielen die drei Schwerpunktbereiche eine bedeutende Rolle, da die verschiedenen Praktiken der Wissensproduktion immer wieder auf die drei Säulen des Projekts rekurrieren. Da ich IMES nicht an allen drei Projektorten, sondern nur in Hannover untersucht habe, konzentriere ich mich auf diesen Schauplatz. Die Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. wurde 1993 als gemeinnütziger Verein gegründet. Ihr Geschäftsführer ist Herr G., der in allen Arbeits- und Handlungsfeldern der Einrichtung eine entscheidende Rolle spielt. Der Schwerpunkt der Aktivitäten der Projektwerkstatt liegt im Bildungsbereich und umfasst laut den Angaben auf der Webseite der Organisation: „Interkulturelle und antirassistische Arbeit, Migration, Entwicklungspolitik, Umweltinformation und -projekte, Projekte im Bereich der Agenda 21 und Neue Medien“ (Projektwerkstatt). Als Zielgruppe spricht die Organisation sowohl junge Menschen wie auch Erwachsene an. „Die Projektwerkstatt Umwelt & Entwicklung zeigt die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Themenbereichen Umwelt, Entwicklung und Migration auf. Viele Entwicklungsprozesse und Veränderungen in der globalisierten Welt lassen sich durch eine vernetzte Sicht besser erklären. Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) und soziale Bewegungen sehen leider allzu oft noch nur einen kleinen Problemausschnitt und bleiben dadurch vereinzelt und schwach. Wir, die Projektwerkstatt Umwelt & Entwicklung, möchten mit unseren Aktivitäten gemeinsame Interessen aufzeigen und die Zusammenarbeit in den o.g. Bereichen fördern.“ (Ebd.)

14 Auf dem viersprachigen Internetportal www.imes.info, welches einen festen Bestandteil des Projekts als Kommunikations- und Austauschplattform darstellt, finden sich alle wichtigen Informationen zum Projekt.

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Das Zitat aus den Vereinsgrundsätzen zeigt, dass sich die Projektwerkstatt darum bemüht, das Wissen aus verschiedenen NGO’s und von unterschiedlichen Akteuren zu bündeln, um durch die „vernetzte Perspektive“ Entwicklungsprozesse besser verstehen zu können. Der Ansatz spiegelt die Grundeigenschaften einer Denkfabrik wieder, so wie ich sie zu Beginn des dieses Kapitels beschrieben habe – also in erster Linie die Praktiken, vorhandenes Wissen zu bündeln und daraus Neues zu produzieren. Genau in diesen Prozessen verortet sich die Projektwerkstatt. Die Analyse meiner Daten legt offen, dass die Organisation im Rahmen der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Hannover eine entscheidende Rolle spielt. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt im Prozess der Wissensproduktion innerhalb der Denkfabrik ist es, schwache und unterdrückte Positionen zu stärken. Es geht bei der Strategieentwicklung darum, Maßnahmen zu schaffen, durch die die Positionen von benachteiligten Migranten gestärkt werden. Das macht die Vorsitzende der NGO, Frau S., deutlich. Im Projekt IMES spielt sie als Projektkoordinatorin eine bedeutende Rolle, was ihr auch innerhalb des lokalen Think Tanks eine wichtige Position zuweist. Wie bedeutend sie für die Produktion des Wissens ist, spiegelt sich darin wieder, dass sie selbst die Hauptverantwortliche bei der Antragsstellung war – eine Rolle, in der sie das Wissen, das in den Projektantrag einfloss, selbst bündelte und in Form des Antrags organisierte. Ein weiteres Vorstandsmitglied der Projektwerkstatt ist Herr F.. Er arbeitet als Sozialpädagoge im Stadtteilmanagement Hildesheim-Drispenstedt, betreut dort das Stadtteilerneuerungsprogramm „Soziale Stadt“ und das EU-Bundes Programm Lokales Kapital für soziale Zwecke (LOS). Motiviert durch seine frühere Mitarbeit in Eine-Welt-Gruppen und in der Fair-Handelsorganisation El Puente engagierte sich der Familienvater zuletzt eher in der passiven Vorstandsarbeit innerhalb der Projektwerkstatt. Die Arbeit drückt sich darin aus, dass er sich zwar an der Wissensproduktion und am Austausch beteiligt, er aber keine aktiven Aufgaben in der NGO hat. Herr G., Frau S. und Herr F. kennen sich bereits seit vielen Jahren und sind ein „eingespieltes Team“, was die Ausarbeitung und Umsetzung von Ideen betrifft. Besonders die Verbindung zwischen Herrn G. und Frau S. spielt für die Wissensproduktion in der Denkfabrik eine entscheidende Bedeutung. In Bezug auf die Entwicklung des Projekts IMES wird das besonders deutlich, denn der Fokus, digitale Integration von Migranten als Schwerpunkt des Projekts in Hannover zu machen, stammt in erster Linie aus der Verbindung und den Ideen von den beiden. Neben diesen Akteuren, zwischen denen mehrjährige Verbindungen bestehen, haben in der Hannoveraner

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Denkfabrik für die Produktion von lokalem Wissen zur digitalen Integration von Migranten weitere Personen eine wichtige Bedeutung. In der Vorbereitungsphase von IMES spielte Frau A. eine wichtige Rolle. Sie war Praktikantin in der Projektwerkstatt und nach Beendigung ihres Praktikums damit beauftragt, IMES vorzubereiten. Sie koordinierte die Recherche und stellte Verbindungen zu Akteuren und Organisationen her, die im Rahmen der digitalen Integration von Migranten Erfahrungen haben. Im Rahmen der Tätigkeiten kontaktierte sie auch mich, da sie über meine Forschungstätigkeiten in Esslingen auf mich aufmerksam wurde. Im weiteren Verlauf stellte sie Kontakt zu meinem Schlüsselinformanten Herrn W. her, dem Leiter des Projekts buerger-gehenonline in Esslingen. Herr W. stellte sein umfangreiches Wissen zur Verfügung, das auf diese Weise Einzug in die Hannoveraner Denkfabrik hielt. Besonders im Hinblick auf den Aufbau des Zugangsnetzwerkes zu PC und Internet gab er wichtiges Wissen preis. Die Verbindung zwischen Herrn W. und den Akteuren in Hannover mündete schließlich in eine Reise W.'s nach Hannover. Er wurde dort zu einem Treffen der „Denkfabrik“ eingeladen, um dort einen Vortrag zu den Erfahrungen der digitalen Integration von Migranten in Esslingen zu geben. Frau A. wurde schließlich von Frau N. als „Nachfolgerin“ beerbt. Sie ist seit 2005 die Koordinatorin des Projekts IMES. Die kurdisch-stämmige Frau bündelt im Rahmen ihrer Aufgaben das Wissen der beteiligten Akteure und steht in engem Kontakt mit dem Projektleiter Herrn G., der mit ihr zusammen aktuelle und künftige Strategien der digitalen Integration von Migranten in Hannover berät und weiter entwickelt. Sie ist auch für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich und kümmert sich um die Kontakte zu den Organisationen, die sich als Zugangsorte an IMES beteiligen. Frau N., die große Erfahrung in der Stiftungsund Frauenarbeit hat, vertritt in der Denkfabrik die Position der Migrantin und lässt ihr Wissen zu migrationsspezifischen Themen einfließen. Gleichzeitig organisiert sie auch wichtige Treffen von den Mentoren und Praktikanten, die als Akteure im Prozess der digitalen Integration von Migranten in Hannover beteiligt sind. Die so genannten „Mentoren Stammtische“ finden einmal pro Monat statt und bilden eine wichtige Einheit innerhalb der Denkfabrik. Teilnehmer sind die Mentoren und Praktikanten, die als Vermittler und „lokale Experten“ an den Zugangsorten arbeiten. Einerseits werden bei den Zusammenkünften wichtige Probleme besprochen und Weiterbildungsmaßnahmen durchgeführt und andererseits wird dadurch auch wichtiges Wissen von den Praktiken an den Standorten gebündelt. Darüber hinaus sind weitere Organisationen und deren Akteure an der Denkfabrik beteiligt. Allen voran sind das die Organisationen, die ihre Computer und Räumlichkeiten als Zugangsorte zur Verfügung stellen und Vereine, die über

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spezifisches Wissen in der Migrations- und Integrationsarbeit haben. Das sind die Stadtbibliothek, der deutsch-türkische Kulturverein Arkadaş, der Freundeskreis Tambacounda e.V. und der Verein Tapas e.V. Zwischen den Akteuren dieser Einrichtungen und denen der Projektwerkstatt gibt es zahlreiche Verbindungen, in denen eine Reihe wichtiger Übersetzungsprozesse stattfinden. Darin tauschen die in diesem Netz beteiligten Akteure und Organisationen ihr Wissen aus, diskutieren und produzieren kontinuierlich neues Wissen, das zur Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration notwendig ist. Aus der Sicht der beteiligten Migrantenorganisationen „Arkadaş“ und des „Freundeskreis Tambacounda“ finden damit Migrantenperspektiven in den lokalen Think Tank Einzug. In den letzten Abschnitten habe ich lokale Akteur-Netzwerke in Esslingen und Hannover als Think Tanks dargestellt, die in der lokalen Produktion von Wissen und der Entwicklung von Strategien eine wichtige Rolle spielen. Damit habe ich gleichzeitig den empirischen Teil der vorliegenden Studie eröffnet. Im folgenden Kapitel geht es darum, die zwei lokalen Schauplätze eingehender zu analysieren, indem ich nicht nur die Akteure und Einrichtungen der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten genauer darstelle, sondern auch die der Umsetzung, in der sich die bedeutende Rolle der New Mediators zeigt, von denen in diesem Kapitel die Rede war.

Fallstudie II: Staatliche Ansätze in Esslingen „Kabelsalat für ‚50 plus X‘ Neuordnung der Sender überfordert viele Besitzer von Fernsehgeräten. Wo ist das Problem? Für die jüngere Generation und deren selbstverständlichen Umgang mit der elektronischen Kommunikation ist die Neuordnung im Bremer Kabelnetz ein Klacks. Doch die älteren Fernsehzuschauer rufen in Massen um Hilfe, weil sie ihre Programme nicht selbst in die richtige Reihenfolge bringen.“ JUNCK 2006 / WESER KURIER

Die Neustrukturierung des Bremer Fernsehempfangs hat auf den ersten Blick nichts mit Esslingen zu tun. Der kleine Ausschnitt aus dem Weser Kurier ist dennoch ein gutes Beispiel für die Grundprobleme, die im Zusammenhang mit neuen Medien und Technologien immer wieder auftauchen. Die massenhafte Einführung von Smartphones, Computern, Internet, digitalem Fernsehen und elektronischen Services hat sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern seit dem Wechsel ins neue Jahrtausend rasant entwickelt (vgl. Demunter 2005). Seit Mitte der 1990er Jahre haben die umfangreichen technologischen Veränderungen eine neue Phase im Informationszeitalter eingeläutet. Im Rahmen dieser Entwicklungen im Bereich der öffentlichen Verwaltungen auf europäischer, nationaler und kommunaler Ebene, im Hinblick auf die Expansion der virtuellen Ökonomie und im Informations- und Freizeitbereich sind immer mehr Bürger mit neuen Technologien in ihrem Alltag konfrontiert. Längst hat auch das Zeitalter der sozialen Medien begonnen. Während in der ersten Hälfte der 1990er Jahre lediglich kleine Expertenrunden über so genanntes IT-Wissen ver-

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fügten, gibt es heute ein Netz aus Akteuren, sozialen Gruppen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die dafür eintreten, dass die größtmögliche Zahl an Menschen Zugang zu und Wissen über die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien haben. Die „Phase“, in der wir uns nach Meinung vieler Experten heute befinden, wird als „Informationsgesellschaft für Alle“ bezeichnet (vgl. Flecha, Gómez, Puigvert 2001). Das Bestreben von Regierungsund Nichtregierungsorganisationen, die gesellschaftliche Teilhabe durch digitale Medien zu fördern, drückt sich darin aus, dass sich Think Tanks gebildet haben, die ich im letzten Kapitel dargestellt habe. In den Denkfabriken werden Strategien entworfen und Maßnahmen ins Leben gerufen, die das Ziel haben, die Implementierung von Egovernment, Ebuisness und Elearning, sowie die digitale Integration der Bevölkerung zu fördern.1 Seit 2004 sind die die Strategien, Maßnahmen und Aktionspläne von der Pilot- in die Transferphase übergegangen. Das bedeutet, dass die Erkenntnisse aus Pionierprojekten mittlerweile in vielen Kommunen in Deutschland umgesetzt werden. Das größte und bekannteste bundesweite Pilotprojekt, das sich Mitte der 2000er Jahre in der Transferphase befand, ist Media@Komm. Im Rahmen der groß angelegten Aktion des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit wurden Ansätze und Lösungen zur Verbreitung des Egovernment auf kommunaler Ebene entwickelt2. Während heute viele Städte ihren Bürgern ein umfangreiches Angebot an elektronischen Diensten (KFZ-Anmeldung, elektronische Steuererklärung, Ummeldung, etc.) anbieten, werden sie bei weitem noch nicht von allen Bürgern gleichermaßen in Anspruch genommen. In der Praxis partizipieren kaum gesellschaftlich benachteiligte Gruppen wie sozial Schwache, Bildungsferne, Senioren und Migranten in der digitalen Welt (Kubicek 2004: 2-3). Wie das Eingangszitat verdeutlicht, gibt es viele Menschen, die schon mit vergleichsweise kleinen technologischen Verän-

1

Die Begriffe Egovernment, Ebuisness und Elearning verwende ich hier als Sammelbegriffe für eine ganze Reihe von Maßnahmen, Aktionsplänen und Modernisierungsstrategien. Im allgemeinen Sprachgebrauch in meinem Feld dienen diese Begriffe auch oft als Umschreibungen zur Benennung technologischer Entwicklungen.

2

Media@Komm (http://mediakomm.difu.de) dauerte von 1999 bis 2003 und ging aus einem Bundeswettbewerb des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (zuvor BMFT und später Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie) hervor. Das Ziel der Preisträger war es, Pionierarbeit auf dem Feld des kommunalen Egovernments zu leisten und für andere Kommunen als Vorbild zu wirken. Mit dem Ende des Projekts Media@Komm leitete das BMWi das Nachfolgeprojekt Media@KommTransfer (www.mediakomm-transfer.de) ein.

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derungen nicht Schritt halten können. Da die Probleme in jüngerer Vergangenheit verstärkt in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sind in den letzten Jahren eine Reihe von Initiativen und Maßnahmen entstanden, die sich im Feld der digitalen Integration von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen engagieren. Im Kern der Praxis stehen die Schaffung von Zugang zu neuen Medien und Technologien und die Vermittlung digitaler Kompetenzen, die eine angemessene Nutzung erst ermöglichen. Den Gesamtprozess, der sich aus der Förderung der Medienkompetenz bestimmter Bevölkerungsgruppen ergibt, bezeichne ich als „digitale Integration“. Sie bezeichnet alle Praktiken, die sich daraus ergeben, dass sich Bürger technische Fähigkeiten und Medienkompetenz aneignen, die sie dazu befähigen, an gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen teilzuhaben. Die politischen Bemühungen zur Forcierung der digitalen Integration aller Bevölkerungsgruppen drücken sich in der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration aus. Im Rahmen staatlicher und zivilgesellschaftlicher Bestrebungen sind in Deutschland auf lokaler Ebene so genannte best-practice Projekte entstanden, die sich gezielt um die Heranführung von Migranten an den Umgang mit neuen Medien und Technologien bemühen. Die beteiligten Organisationen und Institutionen haben Strategien entwickelt, durch die Migranten, die keine oder kaum digitale Fähigkeiten haben, diese erwerben und ausbauen können. Diese Praxis steht im Fokus des Kapitels. Ich zeige, welche Strategien auf kommunaler- und Stadtteilebene entwickelt und umgesetzt wurden, um Menschen mit Migrationshintergrund an die Nutzung neuer Medien heranzuführen. Auf der Grundlage meiner Daten aus der Feldforschung arbeite ich heraus, welche Akteure und Einrichtungen an dem Prozess beteiligt sind. Im Zentrum steht die Frage, wie die verschiedenen Angebote ins Leben gerufen werden, welche Akteure und Institutionen daran beteiligt sind, welche Inhalte die Maßnahmen haben und an welche Zielgruppen sie sich richten. Medienkompetenz und technische Fähigkeiten, im internationalen Fachjargon digital literacy (Gilster 1997, Hinkelbein 2004 b) genannt, stellen den Schlüssel in die Welt der neuen Medien dar. Das Kapitel thematisiert deshalb, inwiefern die Vermittlung digitaler Fähigkeiten in Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielt und welche Zielgruppen damit im Einzelnen erreicht werden. Im Folgenden zeige ich nun wie Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen ins Leben gerufen wurden. Zunächst gebe ich in dem Zusammenhang einen Überblick zu Esslingen als multiethnischer und postindustrieller Stadt. Ich stelle wichtige lokalpolitische Diskurse dar, die für das Thema der digitalen Integration eine Rolle spielen. Anschließend zeige ich die

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Felder, Projekte und Einrichtungen, die am Prozess der digitalen Integration beteiligt sind. Als Ausgangpunkt dient mir der folgende Ausschnitt aus der Esslinger Zeitung vom Februar 2004. „Die Erwartungen waren höchst unterschiedlich und Missverständnissen war ein fruchtbarer Boden bereitet. Am Ende des insgesamt vierjährigen Projektes MediaKomm schwanken die Verantwortlichen in Esslingen zwischen Lust und Frust.“ (Dörmann 2004 a, Esslinger Zeitung)

Ende 2003 ging der Förderzeitraum für ein Projekt zu Ende, das in Deutschland bis dato einmalig war. Es trägt die Bezeichnung „MediaKomm Esslingen“ und ging aus dem Bundeswettbewerb „Media@Komm“ hervor, den das Ministerium für Wirtschaft und Technologie durchgeführt hat. Die Stadt am Neckar war eine der der drei Gewinnerinnen der Ausschreibung. Daraus entstand das größte kommunale Multimedia-Projekt der Republik, in das die Kommune selbst 3,75 und der Bund 7,9 Millionen investiert haben. Mit dem finanziellen Großaufwand verfolgte man die Absicht, die „Bürgerkommune im Netz“ zu verwirklichen. Im Rahmen des Mammutvorhabens entstanden eine Reihe von Maßnahmen, die im Fokus meiner Forschung stehen – also eine Studie zwischen Lust und Frust, wie es in dem obigen Zeitungsausschnitt anklingt? Oder eine Forschung, in der zum Ausdruck kommt, wie schwer es ist, hinter all das zu blicken, was digitale Integration von Migranten in Esslingen bedeutet? In der Folge des staatlich geförderten Großprojekts wurde in Esslingen der Ruf laut, neben der Erstellung des virtuellen Rathauses auch die Bürgerperspektive in den Vordergrund zu stellen. In der Aufforderung verbirgt sich der Wunsch, dass die Bürger in der Lage sein sollen, die neuen digitalen Möglichkeiten einschätzen und nutzen zu können. Unter der Leitung von Herrn W. entstand in dem Rahmen das Projekt „buergergehen-online“ (bgo). Im Verlauf der Forschung äußerte sich in Gesprächen mit Esslingern deren kritische Haltung gegenüber dem Sinn des virtuellen Rathauses und von bgo. „Was soll uns das bringen?“, bringt es eine 70jährige Esslingerin zum Ausdruck. Genau wie der Zeitungsausschnitt über das Gesamtprojekt, zeigen sich auch auf der Mikroebene, also auf der Ebene der Menschen, viele Zweifel. Im städtischen Diskurs offenbaren sich viele „Pros“ und „Contras“ im Hinblick auf das Projekt. Nun arbeite ich Schritt für Schritt heraus, welche Strategien und Bemühungen es zum Zeitpunkt meiner Untersuchung in Esslingen gab, Migranten im Prozess der digitalen Integration der Bevölkerung einzubeziehen. Ausgehend von der Rolle des Ausländerbüros (Abschnitt Ausländerbüro) zeige ich, welcher Bedeutung die „Plattform buerger-gehen-online“ (Abschnitt bgo), wie sie Herr W.

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selbst nennt, in den digitalen Anstrengungen der Stadt hat. In einem dritten Schritt demonstriere ich digitale Integration als Praxis vernetzt agierender Akteure im multiethnischen Stadtteil Pliensauvorstadt (Abschnitt Pliensauvorstadt). Das Projekt bgo, das Ausländerbüro, das Rathaus, Stadtteilbüros, Schulen und viele andere Initiativen und Maßnahmen waren daran beteiligt. Das Argument lautet, dass in der Esslinger Praxis der digitalen Integration vieles miteinander zusammenhängt, es oft direkte Verbindungen zwischen einzelnen Untersuchungseinheiten gibt. Oft sind es aber auch nur lose Beziehungen, die darauf Einfluss haben. Als Ausgangspunkt meiner Analyse dient mir das Konzept des Rhizoms, wie ich es im Theoriekapitel entwickelt habe, als Werkzeug. Ich betrachte neben den Akteuren die verschiedenen Orte, Einrichtungen, Institutionen und Projekte in Esslingen als Teil des Rhizoms. Wie das in der Praxis aussieht, werde ich im Folgenden zeigen und berücksichtigen, was ich im Theorieteil zu den Konzepten der Assoziation und des Kollektivs geschrieben habe. Beginnen möchte ich damit, dass ich Esslingen und seinen multiethnischen Charakter aus meinen ethnographischen Aufzeichnungen und Fotos rekonstruiere. Ich mache deutlich, an welchen Orten die untersuchte Praxis angesiedelt ist und welche Rolle sie im städtischen Diskurs spielt. Man erreicht die 90.000 Einwohnerstadt Esslingen, wenn man von Stuttgart aus das Neckartal Richtung Südwesten hinauf fährt. Die Stadt im Südosten der Schwabenmetropole verkörpert wie diese den rasanten ökonomischen und kulturellen Wandel, der sich im „Ländle“ seit 50 Jahren vollzieht. Die Entwicklung hin zur Industrieregion hatte zur Folge, dass die Städte der Region zum Einzugsgebiet für zehntausende Arbeitskräfte wurden. Die Biographien der Menschen zeigen, dass die Attraktivität des Gebiets weit über die Grenzen der Region hinausreicht. Neben den „Gastarbeitern“ aus dem Ausland, kamen viele Menschen aus ganz Deutschland nach Esslingen. Unter den Esslingern, die vielen Binnenmigranten nicht mit berücksichtigt, leben heute ca. 18.500 Migranten aus 125 Nationen. Aus welchen Ländern die Migranten kommen verdeutlicht die Abbildung.

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Abbildung 4: Herkunftsländer der Einwohner mit ausländischem Pass

Quelle: Powerpoint-Folie Herr W., 2004

Sie ist Teil einer Folienpräsentation, die Herr W. zum Auftakt eines Projekts zur digitalen Integration von Migranten im Stadtteil Pliensauvorstadt zeigte. Auf der Übersicht mit dem Titel „Migration in Esslingen“ wird deutlich, dass im Juni 2003 21,4 % der Einwohner Esslingens einen ausländischen Pass hatten. Berücksichtig man die vielen Einbürgerungen, die es in Esslingen in den letzten Jahren gab, haben über 30% der Bevölkerung Migrationshintergrund. Bei einer genaueren Analyse der Herkunftsländer der Migranten fällt auf, dass ein Großteil der Menschen aus den „klassischen“ Gastarbeiterländern Türkei, Griechenland, Italien und den Ländern des ehemaligen Jugoslawien kommt. Die Entwicklung in Esslingen hin zu einer Stadt, die von der kulturellen Vielfalt geprägt ist, begann bereits vor 50 Jahren. Damals kam der Italiener Giusepe B. als erster „Arbeitsmigrant“ nach Esslingen. Republikweit gesehen gehört Esslingen zusammen mit dem Großraum Stuttgart zu den Städten und Regionen mit der größten kulturellen Vielfalt in der Bundesrepublik. Steigt man in Esslingen aus dem Zug oder der S-Bahn offenbart sich ein unscheinbarer Durchgangsbahnhof. Die acht Gleise sind mit einer Betonkonstruktion überdacht. Die Szenerie erinnert an die Architektur der 1960er und 70er

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Jahre. Am Ende der Bahnsteige in Richtung Westen führen jeweils Treppen zu einer Unterführung, die in Richtung Süden den Ankunftsbereich und den Platz vor dem Bahnhofsgebäude miteinander verbindet. In Richtung Norden führt der Weg direkt zum Neckar. Besonders zu den Stoßzeiten bewegt sich durch den engen Korridor hinaus ein dichter Menschenstrom in Richtung Bahnhofsvorplatz. An einer kleinen Bäckerei rechts neben dem Ausgang der Unterführung bleiben immer einige Passanten stehen, um sich mit Backwaren einzudecken. Gegenüber befindet sich eine Presseverkaufsstelle, wie sie es in vielen deutschen Bahnhöfen gibt. Auf dem Weg nach draußen präsentiert sich dem Ankommenden die Drehscheibe des öffentlichen Nahverkehrs. Dutzende von Bussen warten hier, um die Bewohner in ihre Stadtteile zu transportieren. Außerdem nehmen die Menschen entweder per pedes oder in einem auf sie wartenden Auto die Straßen und Wege in alle Himmelsrichtungen, um an ihr Ziel zu kommen. Überquert man die Hauptverkehrsader vor dem Bahnhof, befindet man sich im äußeren Ring des Stadtzentrums, in dessen Kern sich die historische Altstadt befindet. Auf einem etwa zehn Minuten dauernden Fußweg in das pulsierende Herz der Stadt, erreicht man schon nach wenigen Gehminuten die Fußgängerzone. Mein täglicher Weg ins Ausländerbüro und zu öffentlichen Zugangsorten zu den Computern des Projekts buerger-gehen-online führte mich meist durch die Fußgängerzone. In der breit angelegten verkehrsberuhigten Zone hatte ich immer den Eindruck, dass Esslingen eine der reicheren Städte Deutschlands sein muss. So ließ mich der Marmor ähnliche Belag, der vom Autoverkehr befreiten Straße, an eine wohlhabende Stadt denken. Rechts und links der Einkaufsmeile sind dutzende Bänke angebracht, auf denen in der warmen Jahreszeit viele Menschen sitzen. Eine genaue Betrachtung der Situation auf der Straße führte mir die kulturelle Vielfalt der Stadt vor Augen. Ich bemerkte im bunten Treiben auf den Straßen, dass auffällig viele junge Menschen in der Fußgängerzone unterwegs sind. Lauscht man den Gesprächen der Menschen auf der Straße, hört man Unterhaltungen auf Türkisch, Russisch, Griechisch, Italienisch oder Kroatisch. Die Hauptsprache ist aber eindeutig „Schwäbisch“. Die kleinen Grüppchen, die sich zu Diskussionen in verschiedenen Sprachen zusammengefunden haben, die spielenden Kinder, die Menschen in den Cafés und das milde Klima erinnerten mich an die südliche Atmosphäre jenseits der Alpen. Von einigen gebürtigen Esslingern habe ich während der Feldforschung erfahren, dass es im Innenstadtbereich sogar einen Ort namens „Klein-Venedig“ gibt. Die Menschen sind stolz auf ihre Stadt und die schönen Plätze, die es dort gibt. Verschwunden waren in diesen Perspektiven meine persönlichen Gedanken an die bizarre Mischung aus tristen Industriebetrieben und idyllischen Weinbergen, die ich auf der Fahrt nach Esslingen hinter mir gelassen habe.

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Erreicht man schließlich durch das Gassengewirr die historische Altstadt, befindet man sich in Mitten der für die Region typischen Fachwerkarchitektur. Die Häuserzüge, die durch enge Gässchen getrennt sind, wirken fast alle wie gerade frisch renoviert. Immer wenn ich mich hier aufhielt, kamen mir die Worte eines Informanten in den Kopf. In einem langen Gespräch über Vergangenheit und Gegenwart Esslingens berichtete mir der vierzigjährige Herr M., „dass es in seiner Kindheit und Jugend hier ganz anders aussah. Damals war hier alles grau und ungemütlich. Es war nicht so, dass man sich hier gerne aufhielt. Im Vergleich zu damals hat sich Esslingen heute zu einem richtig schmucken Städtchen entwickelt“ (IW Herr M. 2004). Die Altstadt ist nicht nur das historische, sondern auch das politische und kulturelle Zentrum. Hier befindet sich das alte Rathaus, in dem sich die Lokalpolitik abspielt. In dem Gebäude tagen der Gemeinderat und die politischen Ausschüsse. Dort präsentiert man den Gästen das Rathaus als Symbol lokaler Esslinger Identität. Nicht weit davon entfernt befindet sich das Ausländerbüro. Es war während meiner Feldforschung ein zentraler Schauplatz und eine bedeutende Kontaktzone, denn ich traf dort viele wichtige Gesprächspartner. Abbildung 5: Esslinger Ausländerbüro

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

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Auf der Längsseite des vor einigen Jahren restaurierten Hauses befindet sich der Eingang. Diesen kann man nicht verpassen, denn links neben der Tür ist ein großes Schild angebracht. Hier findet man die Öffnungszeiten der Einrichtung und die jeweiligen Zeiten für Beratungen in verschiedenen Muttersprachen. Darüber hinaus verrät die Tafel auch, dass der Bürger-PC hier untergebracht ist. Die Nutzungszeiten sind praktischerweise gleich mit angegeben. Hat man schließlich das nicht gerade geräumige Treppenhaus passiert und sich in den dritten Stock hochgearbeitet, befindet sich dort das Amt von Herrn S., dem „Beauftragten für ausländische Einwohner“. Neben seinem Büro und den drei weiteren Arbeitszimmern der Mitarbeiter ist auf dieser Etage auch das Sekretariat untergebracht. Arbeitet man sich ein weiteres Stockwerk nach oben, gelangt man schließlich in ein Dachzimmer, das direkt unter dem Giebel liegt. Die vierte Etage wird als Seminar- und Arbeitsraum genutzt. Außerdem gibt es dort einige Computer mit Internetanschluss, die regelmäßig für Computerkurse und als Zugangsort für das sogenannte Bürger-PC Netzwerk genutzt werden. Das folgende Bild vermittelt einen Eindruck von dieser Räumlichkeit. Abbildung 6: Arbeits- und Seminarraum im Ausländerbüro

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

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Im linken Hintergrund des Bildes befinden sich zwei der fünf internetfähigen Computer, mit denen das Zimmer ausgestattet ist. Dort finden die Computerkurse für türkische Migranten statt, die ich während meiner Forschung regelmäßig besuchte. Die Szene auf dem Bild repräsentiert eine typische Situation in einem Kurs. Während vor Beginn des Unterrichts immer ein ziemliches Durcheinander herrscht, die Teilnehmer sich begrüßen und Neuigkeiten untereinander austauschen, sammeln sich am Anfang der Lerneinheiten immer zwei bis drei Kursteilnehmer an einem Arbeitsplatz, da die fünf Arbeitsplätze nicht für alle ausreichen. Insgesamt empfand ich die Lage des Ausländerbüros und die Arbeitsatmosphäre im Seminarraum immer als sehr positiv. Ein Sinnbild dafür ist der schöne Ausblick auf die Esslinger Altstadt, den man durch die drei Fenster des Raumes genießen kann. Meine Forschertätigkeiten führten mich aber nicht nur ins Ausländerbüro, sondern auch ins nahe gelegene Rathaus. Der städtische „Beauftragte für Einwohner mit Migrationshintergrund“ lud mich während meines Aufenthalts ein, mein Forschungsprojekt in einem Vortrag vorzustellen. Dadurch hatte ich die Gelegenheit, das Rathaus und seine Akteure kennen zu lernen. An dem Abend fand die Sitzung des Ausländerausschusses statt. Ein Schwerpunkt der Veranstaltung war die Praxis der digitalen Integration von Migranten in Esslingen. Neben den Mitgliedern der so genannten Ausländerfraktion waren auch Politiker aus allen gewählten Parteien des Stadtparlaments vertreten. Außerdem weilten auf der Sitzung etwa 30 Zuschauer, die den regen Diskussionen folgten. Zudem war eine Journalistin von der Esslinger Zeitung anwesend. Wie so oft erlebte ich in der Situation einen der Widersprüche, die sich mir im Feld offenbarten. Auf den ersten Blick war das Rathaus für mich nichts mehr, als ein gut erhaltener Teil lokaler Baukunst im Fachwerkstil. Auf den zweiten Blick realisierte ich, dass es tatsächlich der Mittelpunkt lokaler Politik ist. Im Rahmen meines Vortrages wurde mir klar, wie sehr man in Esslingen auf Fortschritt bedacht ist und die Migrationsperspektive nicht außer Acht lassen möchte. Der Wille zum Fortschritt spiegelt sich auch im Gebäude des Rathauses selbst wieder, denn sein Interieur ist mit modernster Computer- und Präsentationstechnologie ausgestattet. Neben Computerzugängen in den Sitzungssälen ist auch jeder Saal mit einem fest installierten Beamer ausgestattet. Die Dateien, die man präsentieren möchte, können weder einfach von einem externen Speichermedium übertragen werden, noch ist es möglich, die Präsentation vom eigenen Laptop aus vorzuführen. Bereits Stunden vorher muss man die Daten ins städtische Netzwerk übertragen – in Esslingen baut man eben auch auf Sicherheit. Neben dem hoch technisierten Rathaus in alter Fachwerkhülle befinden sich viele andere Einrichtungen im Altstadtbereich. Es sind Abteilungen der Kom-

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mune, wie das Ressort des Sozialbürgermeisters, die Touristeninformation, die Kantine der Stadt oder die Stadtbibliothek. Auch das Polizeipräsidium und der Sitz der Esslinger Zeitung liegen im Zentrum. Die Altstadt ist nicht nur für Lokalpolitiker, städtische Angestellte und lokale Journalisten eine zentrale Anlaufstelle, sondern auch für Bürger, wenn sie mit städtischen Einrichtungen und Politikern zu tun haben, sie kulturell aktiv werden möchten oder einfach die Zeit in einem der vielen kleinen Cafés genießen. Die Aufwertung der Innenstadt ist in Esslingen nicht dem Zufall geschuldet. Wie in vielen anderen Städten Deutschlands, die in den 1960er Jahren in großem Maße von der sie umgebenden Industrie geprägt wurden, hat auch Esslingen auf den starken Wandel im Industriesektor reagiert. Unter dem Postulat von Fortschritt und Entwicklung spielt deshalb die kulturelle, politische, ökonomische und touristische Aufwertung der Innenstadt eine wichtige Rolle in den Modernisierungskampagnen. Im Kontext der lokalen Kampagnen, Umstrukturierungsmaßnahmen und Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung, die den aktuellen politischen Diskurs in der Neckarstadt prägen, spielt auch die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle. Zwar steht das Thema nicht besonders weit oben auf der Agenda der politischen Führungsetage, die Einführung neuer Medien und Technologien auf kommunaler Ebene hatte jedoch zur Zeit meiner Forschung Hochkonjunktur. Das zeigt das folgende Zitat aus dem städtischen Portal im Internet. „Die multimediale Zukunft der Neckarstadt hat mit dem Sieg des Städtewettbewerbs Multimedia MediaKomm begonnen. So verfügt Esslingen zwischenzeitlich über einen virtuellen Marktplatz mit Geschäften und über ein virtuelles Rathaus.“ (Webportal Esslingen)

Durch den Wettbewerb „MediaKomm Esslingen“ rückten auf städtischer Ebene Fragen der Einführung neuer Medien und Technologien auf der Verwaltungsebene ins Zentrum. Das virtuelle Rathaus beinhaltet eine Reihe von elektronischen Dienstleistungen, die Bürger über die Internetseite der Stadt in Anspruch nehmen können. Pauschal gesagt beinhaltet das Angebot einige Verwaltungsprozesse wie etwa der Beantragung eines Bauvorhabens, die der Bürger nun auch online erledigen kann. Auf dem virtuellen Marktplatz haben sich Esslinger Geschäfte auf der städtischen Webseite niedergelassen. Wie mir Herr W. vom Projekt buerger-gehen-online und ein anderer Informant in einem Interview erzählten, „war MediaKomm und der Wettbewerb von Anfang an eine Chefsache des Bürgermeisters. Er wollte dieses Projekt unbedingt und es spielte auch in seinem Wahlkampf eine Rolle“ (IW W. 2004). Durch den Gewinn der Ausschreibung zu „Media@Komm“ flossen Millionen in den Aufbau des virtuellen

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Rathauses mit all seinen interaktiven Möglichkeiten und elektronischen Diensten. Die umfangreichen Maßnahmen gingen auch an Esslinger Bürgern nicht spurlos vorüber. Einige meiner Informanten wussten „etwas“ zu „MediaKomm Esslingen“ zu sagen, wobei ihre Standpunkte gegenüber dem Projekt kritisch sind. Sie können den Nutzen der digitalen Maßnahmen nicht einschätzen und vermuten Ausgaben, die in anderen Bereichen eingespart werden. Die Opposition (CDU) nutzte das zum Angriff auf den politischen Gegner. Aus der Bürgerperspektive brachte es mein Informant Herr N. zum Ausdruck: „Was hat MediaKomm den Esslingern gebracht? Gut, es gibt etwas, wo man hingehen kann, aber der Bürger-PC ist ein Abfallprodukt von MediaKomm und funktioniert nicht“ (TBP Esslingen 2004). Die drastische Einschätzung lässt das Projekt buerger-gehen-online in keinem guten Licht erscheinen. Obwohl der Bürger-PC vom Projekt bgo eingeführt wurde und mehr oder weniger unabhängig vom Gesamtprojekt MediaKomm ist, wird er in der Öffentlichkeit von vielen negativ bewertet. In den Augen der Bürger wäre es besser gewesen, die umfangreichen städtischen Ausgaben, die sich aus der Eigenbeteiligung Esslingens ergeben haben, immerhin 3,75 Millionen Euro, in andere Bereiche zu investieren. Aufgrund der hohen Ausgaben werden in Esslingen alle Maßnahmen zur digitalen Integration aus der Bürgerperspektive eher kritisch betrachtet – egal, ob sie direkt mit MediaKomm in Verbindung stehen, oder nicht. Dadurch bezieht sich der negative Diskurs nicht nur auf das virtuelle Rathaus, sondern auch auf alle Bestrebungen, die zur digitalen Integration der Bürger beitragen sollen. An der Stelle zeigt sich gut, wie im Sinne des Rhizoms die Dinge miteinander verbunden sind (vgl. Theoriekapitel). In einem dichten Netz aus Akteuren und Schauplätzen zirkulieren die Diskurse um die städtische Modernisierungskampagne, in der die Einführung neuer Medien und Technologien gefördert wird. Wie sich zeigt, werden die städtischen Maßnahmen zur digitalen Integration von den Bürgern kritisch betrachtet. In dem Zusammenhang äußern die Verantwortlichen nicht nur die Vorteile des Projekts, sondern weisen explizit auch auf die Missverständnisse hin, die im Rahmen der Durchführung des Projekts MediaKomm und anderer Maßnahmen entstanden sind. „Womit wir bei den Missverständnissen angelangt sind. Andreas Kraft: ‚Der Gemeinderat fragt: Was bringt das für Esslingen? Und der Bund fragt: Was bringt das für Deutschland?‘ Genau hier scheint der Hase im Pfeffer zu liegen. Entgegen einer weit verbreiteten Einschätzung ging es bei MediaKomm nicht darum, einen speziell auf die Esslinger Multimedia-Welt zugeschnittenen und öffentlich geförderten Anwendungs-Produktionsbetrieb aufzubauen. Vielmehr sollte das, was in Esslingen quasi zur ‚Serienreife‘ entwickelt wur-

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de beispielhaft sein: für Deutschland und sogar darüber hinaus […] Offenkundig ist es den Projekt-Verantwortlichen nie gelungen, MediaKomm aus dem Focus kleinräumiger Betrachtungsweisen herauszuholen. Ein Versäumnis, das im Rathaus mittlerweile offen eingeräumt wird.“ (Dörmann 2004 a, Esslinger Zeitung)

Das Zitat zeigt, dass das Projekt im städtischen Diskurs mit vielen Missverständnissen und Kritiken verbunden ist. Der Ausschnitt aus dem Artikel nimmt Bezug zu Aussagen von Andreas Kraft, dem Leiter des Projekts MediaKomm Esslingen. Der Mitgestalter, Koordinator und Repräsentant der städtischen Maßnahme gesteht, dass es nicht gelungen ist, die Vorteile des Projekts in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. In der öffentlichen Rede gibt es Vorwürfe dahingehend, dass die Bürgerperspektive viel zu wenig berücksichtigt wird. Trotz aller Kritik daran bleibt zu konstatieren, dass Esslingen die einzige Stadt im Bundeswettbewerb Media@Komm ist, die überhaupt die Bürgerperspektive stark macht. Im Vergleich zu Bremen und dem Städteverbund Nürnberg / Erlangen hat der Esslinger Ansatz eindeutige Zielsetzungen, die explizit auch die Bürger betreffen. Betrachtet und analysiert man in den Diskursen über MediaKomm sowohl die Positionen der Befürworter, wie auch die der Kritiker, dann wird deutlich, dass es den verantwortlichen Akteuren durch ihre Übersetzungsleistungen nicht gelungen ist, die Maßnahme und deren Ziele in der Öffentlichkeit transparent zu machen. Im Sinne von Callon (2006 b: 146-164) sind „Übersetzungen“ schief gelaufen. Das führte zu einem großen Kreis von Kritikern des Projekts. Das bedeutet jedoch nicht, dass Übersetzungen in alle Richtungen negativ verlaufen sind – im Gegenteil, denn im weiteren Verlauf des Kapitels wird deutlich, dass sich auch viele Akteure in Esslingen aktiv daran beteiligen, die Praxis der digitalen Integration zu gestalten. In den letzten Abschnitten habe ich Esslingen, die Schauplätze meiner Forschung und die öffentliche Rede über Maßnahmen zur digitalen Integration von Bürgern und Stadtverwaltung rekonstruiert. Das dient mir als Basis, um im Folgenden auf die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten zu fokussieren. Während sich Politiker, ein Großteil der Bürger und die Presse in Esslingen oft mit dem Gesamtprojekt MediaKomm kritisch auseinandersetzen, ist der Fokus meiner Forschung einem viel kleineren Gegenstand gewidmet. Die Frage ist, welche Bestrebungen es in Esslingen gibt, aus der Perspektive der Bürger auch die Bevölkerung mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen. Im Windschatten der Entwicklung und Umsetzung des virtuellen Rathauses sind in Esslingen Maßnahmen entstanden, in deren Fokus die digitale Integration von Migranten steht. Im Zentrum meiner

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Analyse steht zunächst das Ausländerbüro, denn es spielt in der Praxis eine zentrale Rolle.

D AS A USLÄNDERBÜRO DER E NTWICKLUNGEN

ALS

M OTOR

Das Ausländerbüro der Stadt Esslingen liegt mitten in der Altstadt und befindet sich in einem alten Fachwerkhaus. Es ist eine städtische Einrichtung, die aktive Integrationsarbeit betreibt, innovative Angebote entwickelt und eine Reihe von Beratungsdiensten für Migranten anbietet. Im Folgenden zeige ich die Rolle, die es im Prozess der Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielt. Die Akteure der Einrichtung haben Maßnahmen wie Computerkurse und Internettreffpunkte ins Leben gerufen. In einem ersten Schritt stelle ich die Akteure der Organisation genauer vor. Wer arbeitet dort und welche Aufgaben haben die Mitarbeiter? Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Mit welchen Themen und Handlungsfeldern haben die Akteure der Einrichtung zu tun und wie sieht ihre Zielgruppe aus? Ich bearbeite das auf Basis meiner ethnographischen Daten, die ich während meines Feldaufenthalts in Esslingen gesammelt habe. In einem zweiten Schritt stelle ich dar, wie und welche Maßnahmen im Bereich neuer Medien das Ausländerbüro auf den Weg bringt, wer daran beteiligt ist und in welchem Sinne das dazu führt, dass die Einrichtung als Motor der Entwicklung betrachtet werden kann. 3 Zum Ausländerbüro hatte ich fast uneingeschränkten Zutritt und konnte dort viele für die Forschung wichtige Kontakte knüpfen. Das eröffnete mir einen Einblick in das Innenleben und die kulturelle Praxis der Einrichtung. Die Untersuchung und Analyse des „Ist-Zustandes“ des Ausländerbüros durch den ethnographischen Zugang unterscheidet sich von Ansätzen, die Organisationen aus ei-

3

Die Metapher des Motors könnte bei einigen Lesern Irritationen hervorrufen weil sie oft dazu verwendet wird, um Kontexte zu beschreiben, die meiner These von Kultur als Netz widersprechen (vgl. Link 1982, 1997). Das Bild des Motors kann auch implizieren, dass sich die Bewegungen immer in einem gleichen und vorgegebenen Muster vollziehen – also an ihre äußere Form (die des Motors) gebunden sind. In meiner Verwendung der Metapher des Motors verbirgt sich aber nicht mehr, als dass ich damit zum Ausdruck bringen möchte, dass vom Ausländerbüro in der Praxis der digitalen Integration von Migranten viele Bewegungen ausgehen und Maßnahmen ins Leben gerufen werden.

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ner Perspektive betrachten, in der sie als Einheit in einer festen gesellschaftlichen Struktur beschrieben werden. Klassische soziologische Herangehensweisen verorten Organisationen in einem „stabilen“ gesellschaftlichen Gefüge, in denen Einrichtungen wie das Ausländerbüro einen festen Platz in der „Struktur“ mit vorbestimmten Funktionen haben. Struktur wird in der Sichtweise als unabhängig von den einzelnen Akteuren dargestellt und kann nicht als Summe der individuellen Vorstellungen, der in ihr handelnden Akteure verstanden werden. In der Perspektive liegt dem Gesellschaftsbegriff immer eine Art vergangener und außerhalb der Summe der Individuen liegender Ursprung zugrunde, auf dem Gesellschaft basiert. Durkheims Gesellschaftstheorie ist hier als klassisches Modell anzuführen (vgl. Durkheim 1984, 2004, 2006). Ganz anders betreibt Bruno Latour gesellschaftliche und kulturelle Analysen. Er verlagert den Fokus „von einem vergangenen zu einem gegenwärtigen Ursprung der Gesellschaft“ (Latour 2006 b: 200). Meine Analyse des Ausländerbüros knüpft genau hier an. Durch die Untersuchung der verschiedenen Perspektiven in der Organisation, durch die Stimmen der Mitarbeiter und den vielschichtigen Handlungen der Akteure entsteht ein Bild der Einrichtung, das in der Gegenwart verankert ist. Demnach ist gesellschaftliche und kulturelle Praxis immer „performativ“, also eine verhandelbare, praktische und revidierbare Sache (vgl. Latour 2006 b: 195). Das impliziert, dass es auf die Beziehungen zwischen den Akteuren ankommt, die die Träger kultureller und sozialer Praxis sind. In Bezug auf die Untersuchung des Ausländerbüros und seiner Beteiligung am Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten bedeutet das, dass die Beziehungen der Akteure zueinander mit betrachtet werden müssen. „Social relations are the actually experienced, especially the more or less stable, patterns of interactions among culture-carrying entities“, schreibt der amerikanische Medienethnologe David Hakken (1999). Er bezieht sich bei der Betrachtung sozialer Formationen und deren Analyse auf den Sozialanthropologen Clyde Mitchell (1969), der dafür plädiert, in der Analyse nicht so sehr die einzelnen Rollen von Akteuren in „Gruppen“ in Betracht zu ziehen, sondern vielmehr die „beweglichen sozialen Netzwerke“ zu analysieren, die sich aus den sozialen Beziehungen gesellschaftlicher Akteure ergeben. Aus der Perspektive demonstriere ich das Ausländerbüro als Organisation und kulturelle Praxis, die sich aus dem Zusammenwirken seiner Akteure ergibt. Im Folgenden stelle ich die Akteure und ihre Aufgaben genauer dar.

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Akteure und ihre Aufgaben Zur Zeit meiner Forschung arbeiteten 15 Personen im Ausländerbüro. Der Leiter der Einrichtung, Herr S., ist der „Beauftragte für Menschen mit Migrationshintergrund“ in Esslingen. Eine hauptamtliche Mitarbeiterin ist die Sekretärin Frau C.. Sie ist für Schreibarbeiten, Kommunikation und Organisation zuständig. Außerdem führt sie das kleine und gut sortierte Pressearchiv des Ausländerbüros, in dem alles gesammelt wird, was in lokalen Zeitungen zu „Migration und Integration“ geschrieben wird. Frau Ü. ist als Sozialberaterin angestellt. Sie ist für die Sozialberatung von Esslingern mit türkischem Hintergrund zuständig und war für mich eine wichtige Informantin. Sie brachte mir den Arbeitsalltag im Ausländerbüro näher und eröffnete mir auch einen Einblick in den transkulturellen Lebensalltag in Esslingen. Eng zusammengearbeitet habe ich auch mit Frau N.. Sie ist als Honorarkraft tätig und bietet einen Computer- und Internetkurs für Bürger mit türkischem Hintergrund an. Darüber hinaus arbeiten sechs weitere Sozialberater in der Einrichtung, die in türkischer, griechischer, italienischer, russischer, spanischer und serbokroatischer Sprache soziale Beratung anbieten. Außerdem sind eine psychologische Beraterin und weitere Honorarkräfte für die Einrichtung tätig. In den nächsten Abschnitten stelle ich die Akteure vor, die für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielen. Herr S. ist der Leiter der Einrichtung und spielt als New Mediator eine wichtige Rolle. Er pflegt zu seinen Mitarbeitern ein intensives Verhältnis und ist in ihren Augen ein „guter“ Chef, der sich für ihre Belange einsetzt. Als „Ausländerbeauftragter“ der Stadt ist der Familienvater Teil eines dichten lokalen und regionalen Kontakt-Netzwerks. Er befindet sich in einem kontinuierlichen Austausch mit Akteuren der Migrations- und Integrationsarbeit in Esslingen und darüber hinaus. Herr S. ist Diplom-Verwaltungswirt und hat norddeutsche Wurzeln. Er ist überaus interessiert an interkulturellen Themen, bewegt sich oft in inter-ethnischen Lebensumfeldern, schlichtet Konflikte und begreift seine Tätigkeiten als „Ombudsarbeit“. Wie mir Herr S. in einem Interview erzählte, kam er zur Stelle des Ausländerbeauftragten wie die „Mutter zum Kinde“. Zu Beginn seiner Tätigkeit vor mehr als 15 Jahren war der Arbeitsbereich für ihn völliges Neuland. Er schilderte mir, dass er im Feld von Migration und Integration keine Ahnung hatte. Auch privat kannte er früher kaum Menschen mit Migrationshintergrund. Das veränderte sich jedoch im Verlauf der Jahre durch seine Arbeit grundlegend. Heute ist aus seinem Leben der Kontakt zu Menschen im interkulturellen Feld nicht mehr wegzudenken. Er hat viele Freunde mit Migrationshintergrund, ist immer neugierig, hört sich gerne andere Perspektiven an und scheut

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sich auch nicht vor der Lösung von Konflikten. Außerdem ist er in der Öffentlichkeit ein vehementer Vertreter einer offenen Gesellschaft. Er tritt dafür ein, dass nicht nur Migranten eine offene und bekennende Perspektive für die deutsche Gesellschaft einnehmen, sondern auch, dass die Deutschen selbst die Bereitschaft zur Offenheit mitbringen müssen. Mit dem Wissen über seinen Standpunkt lässt sich seine Meinung zum Thema Integration besser verstehen. Integration ist für ihn eine „Zweiwegstraße! Keine Einbahnstraße. Also nicht dieses berühmt berüchtigte‚ ihr müsst euch integrieren!‘ und oftmals auch die falsche Begrifflichkeit drunter subsumiert, von Assimilation, also ‚kuckt, dass ihr in irgendeiner Form deutsch werdet!‘, […] Integration heißt die Menschen fühlen sich hier wohl und sind hier angekommen weil sie gleichberechtigt behandelt sind. Weil sie sich hier heimisch fühlen, aufgrund ihres Umfeldes, aufgrund ihrer Lebenssituation, weil sie merken, sie werden nicht schief angekuckt, weil sie ne andere Hautfarbe haben oder weil sie eben nicht deutscher Herkunft sind, und sie dürfen trotz alledem ihre Eigenheiten behalten. […] Das wär meine Idealvorstellung von der Begrifflichkeit Integration. Und es wär auch meine Idealvorstellung, dass die noch deutsche Mehrheit sich genauso in die Richtung entwickelt, dass sie sich zubewegt und die Hand einfach mal reicht […] deswegen ist es so für mich ne Zweiwegstraße.“ (IW Herr S. 2004)

Er verwendet das Bild der „Zweiwegstraße“, um seine Idealvorstellung von Integration zum Ausdruck zu bringen. Darin äußert sich eine reziproke Auffassung, die er in der gesellschaftlichen Praxis vermisst. Seine Hauptaufgabe als Ausländerbeauftragter ist es, Integration zu fördern und Strategien zu entwickeln, mit denen er das erreichen kann. Das beinhaltet, dass er sowohl als Berater und Ombudsmann für Menschen mit Migrationshintergrund eintritt, wie auch als Vermittler zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Lebenswelten tätig ist. In meiner Feldforschung zeigte sich, dass er in einem dichten Netz aus Akteuren und Schauplätzen immer als Ansprechpartner für Fragen und Hilfe zur Verfügung steht – auch in Bezug auf Themen, die weit über seinen Aufgabenbereich hinausgehen. Er pflegt zu vielen Akteuren ein persönliches Verhältnis, wie etwa zu Menschen aus dem multiethnischen Stadtteil Pliensauvorstadt. Wie er mir berichtete, sind die persönlichen Beziehungen eine große Hilfe, denn besonders bei interkulturellen Fragen, die er immer wieder hat, kann er sich dadurch selbst Rat holen. Das ist dann sehr hilfreich, wenn Herr S. in Konflikten schlichten muss, die etwa in einer Familie oder zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen auftreten. Wie ich im Verlauf des Kapitels zeige, spielen die Einstellungen zu Integration und seine Rolle als Vermittler eine entscheidende Rolle für

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die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Frau Ü. ist eine weitere Protagonistin, die im Ausländerbüro arbeitet und in meiner Forschung eine wichtige Bedeutung hat. Geboren wurde sie in einem Ort, der nicht weit von Esslingen entfernt liegt. Sie ist das Kind von türkischen „Gastarbeitern“ und in einem konservativen, religiös gefärbten Elternhaus aufgewachsen. In jungen Jahren heiratete sie in den Niederlanden einen Holländer, der selbst türkischer Herkunft ist. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebte 13 Jahre in den Niederlanden. Nach ihrer Scheidung zog es sie wieder zurück nach Deutschland. Trotzdem hat sie immer noch einen niederländischen Pass. Ein Bild zeigte sie im niederländischen Fußball-Nationaldress auf einem Foto, das in der Esslinger Zeitung erschien (Fritz 2004). Der Artikel, zu dem das Bild abgedruckt wurde, handelt von der Fußballeuropameisterschaft, die zur Zeit meiner Forschung stattgefunden hat. Im Vorfeld des Spiels Deutschland gegen Holland wurde sie gefragt, für wen sie bei dem Fußballklassiker sei. Sie antwortete, dass in ihrer Brust bei dem Spiel zwei Herzen schlagen werden. So wie ich sie kennen gelernt habe, schlagen aber nicht nur beim Fußballspiel mehrere Herzen in ihr. Frau Ü. lebt gerne in multiethnisch geprägten Lebenswelten, da sie das, wie sie ihr Leben gestaltet, aus vielen Kulturen zieht, wie sie mir erzählte. Wie sich im Gespräch mit ihr herausstellte, bezieht sie sich bei ihren Ideen zum Konzept der Integration oft auf ihre Erfahrungen, die sie in den Niederlanden gemacht hat. Dort sei für Migranten vieles einfacher. Außerdem herrsche dort ein ganz anderes Selbstverständnis in Bezug auf Integration.4 So war es dort etwa selbstverständlich, dass es keine großen Hürden für sie gab, beruflich tätig zu werden. Sie will sich aber nicht eindeutig als Holländerin, Deutsche oder Türkin bezeichnen. Das Phänomen hat Avtar Brah in ihrem Buch Cartographies of Diaspora. Contesting identities (1996) beschrieben. Darin setzt sich die Autorin, die selbst in asiatischen, afrikanischen, amerikanischen und europäischen Zusammenhängen lebt, mit theoretischen und politischen Fragen von „difference“ und „diversity“ auseinander und zeigt auf, welche Rolle das in Identifikationsprozessen spielt. Die verschiedenen Identitätsbezüge, die auch Frau Ü.’s Leben prägen, stehen oft im gegenseitigen Wettbewerb zueinander und integrieren auf diese Weise die Vielfalt an kulturellen, sozialen und politischen Bezügen und Lebensentwürfen.

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An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass sich in den Niederlanden die Offenheit gegenüber Migranten in den letzten Jahren dramatisch ins Negative entwickelt hat.

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Sie ist im Ausländerbüro als Sozialberaterin für Menschen mit türkischem Hintergrund zuständig, insbesondere für türkische Mädchen und Frauen. In der Rolle berät sie Hilfesuchende zu nahezu allen Themen, die sich aus dem Alltag der Menschen ergeben: Rentenfragen, Kommunikation mit der Krankenkasse, Scheidung, Gewalt, familiäre und religiöse Konflikte oder der Umgang mit Behörden. Zu diesen und anderen Fragen des täglichen Lebens steht sie während der Woche als Ansprechpartnerin zur Verfügung. Wie sie mir erzählte, hört sie sich immer erst einmal die Geschichten und Probleme an, mit denen die Menschen zu ihr kommen. Währenddessen macht sie sich ein Bild von der Situation, um eine Beratungsstrategie zu entwickeln. Ganz offensichtlich wird bei der Analyse ihrer Tätigkeit die Aufgabe als Vermittlerin in den vielen, teilweise Konflikt geladenen Arbeitszusammenhängen. Sie übersetzt zwischen den Hilfesuchenden und Behörden, Kranken- oder Rentenkassen und versucht, die Parteien zusammen zu bringen. Zu ihren Aufgaben gehören aber genauso die Kenntnis der lokalen Gegebenheiten, die Kontaktpflege zu einem großen Personenkreis und die aktive Integrationsarbeit in Esslingen. Sie spielt als New Mediator eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in dem Stadtteil Pliensauvorstadt. Direkt im Arbeitsfeld neuer Medien und Technologien im Ausländerbüro ist Frau N. tätig. Sie arbeitete zur Zeit meiner Forschung seit einem Jahr als Honorarkraft in der Einrichtung. Frau N. ist nicht nur an der Entwicklung der Angebote beteiligt, sondern arbeitet mit Herrn S. und Herrn W. auch auf der strategischen Ebene zusammen. Hier geht es darum, die Angebotsstruktur für Migranten weiterzuentwickeln. Außerdem spielt sie als Vermittlerin dahingehend eine bedeutende Rolle, dass sie in das lokale Netzwerk aus Akteuren ihre Migrationsperspektive einbringt. Sie knüpfte zu den türkischsprachigen Migranten gute Kontakte und versucht, deren Standpunkte bei der Entwicklung von Angeboten zur digitalen Integration stark zu machen. Im Verlaufe meiner Feldforschung wurde Frau N. eine wichtige Schlüsselinformantin. Sie lebt seit 1990 in Deutschland, hat hier Politikwissenschaft studiert und ist 34 Jahre alt. Während meiner Forschung heiratete sie einen Mann aus den Niederlanden. Ursprünglich wollte sie gar nicht längerfristig in Deutschland bleiben, wie sie mir im Interview erzählte. „Ich wollte erst mal eigentlich nur Deutsch lernen und wollte gar nicht hier bleiben zuerst. Dann habe ich Deutsch gelernt und dann habe ich mich doch für das Studium interessiert und habe gesagt das probier ich mal, ob es klappt. Dann habe ich hier studiert, Politikwissenschaft als Hauptfach und Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft als Nebenfach, also Magister-Abschluss. Mein Studium habe ich beendet im September 2002, es hat ein biss-

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Mehr oder weniger durch Zufall hat sie davon gehört, dass in Esslingen jemand mit entsprechender Erfahrung gesucht wurde, um Computerkurse für Menschen mit türkischem Hintergrund durchzuführen. Trotz Lehrerfahrungen in anderen Bereichen traute sie es sich zunächst nicht zu und zwar „weniger wegen der Sprache“, sondern weil sie sich fürchtete, „die digitalen Kompetenzen nicht vermitteln zu können“. Doch Herr S. überzeugte sie davon, zusammen mit ihm eine Herangehensweise zu entwickeln, wie man für Esslinger mit türkischem Hintergrund Computerkurse anbieten kann. Frau N. wurde im Verlauf meines Forschungsaufenthalts zu einer wichtigen Vermittlerin und kulturellen Produzentin in Esslingen. Ihr Wirkungskreis erweiterte sich zunehmend, sie knüpfte selbst immer mehr Kontakte im lokalen Netzwerk der digitalen Integration und sie brachte ihre Kompetenzen in verschiedenen Maßnahmen ein. In den letzten Abschnitten habe ich für meinen Untersuchungsgegenstand wichtige Akteure des Ausländerbüros und ihre Aufgaben dargestellt. Neben diesen, die direkt für die Einrichtung tätig sind, spielen im Rahmen von Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten weitere Personen eine aktive Rolle im Umfeld des Ausländerbüros. Das sind in erster Linie die Teilnehmer der Computerkurse und einer interkulturellen Computergruppe. Sie stelle ich an der Stelle genauer vor, wenn ich die entsprechenden Maßnahmen beschreibe. Im Folgenden erörtere ich die Arbeits- und Handlungsfelder, die das Ausländerbüro als städtische Einrichtung hat. Arbeits- und Handlungsfelder Offiziell heißt es auf der Webseite der Stadt Esslingen, dass es die Aufgabe des „Beauftragten für ausländische Einwohner“ ist, Integration und Gleichstellung der nichtdeutschen Bevölkerung zu fördern. Er soll helfen, ein besseres gegenseitiges Verständnis zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zu entwickeln (vgl. Webportal Esslingen). Die Aufgaben und Handlungsfelder des Ausländerbüros ergeben sich aus den Vorgaben, die der Ausländerbeauftragte der Stadt hat. Das Ausländerbüro ist Anlauf- und Beratungsstelle für Migranten, es dient als Informationszentrum, ist Wegweiser in verschiedenen Lebenslagen und die Geschäftsstelle des Ausländerausschusses (vgl. ebd.). Durch den „Ausländerausschuss“ fließen in Esslingen migrantenspezifische Angelegenheiten in den Entscheidungsbildungsprozess des Gemeinderats ein. Obwohl die Interessensvertretung eine sehr bescheidene Einflussmöglichkeit auf die lokale Politik hat, bietet

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sie Migranten die Möglichkeit der demokratischen Partizipation. In Esslingen gibt es seit 1972 eine Ausländervertretung, die als lose Vertretung ausländischer Vereine, Verbände, Organisationen und Parteien geschaffen wurde. In einem Übersichtspapier aus der Feder des Ausländerbeauftragten heißt es: „Mit über 50 Mitgliedern und ohne Anhörungsrecht vor Stadtverwaltung und Gemeinderat war das in Baden-Württemberg eine der ersten Ausländervertretungen mit dem Anspruch, Migrationsthemen mehr Gehör zu verschaffen“ (Herr S., Material 2004). In den Jahren 1981 bis 1986 entwickelte sich daraus der Ausländerbeirat mit benannten Mitgliedern aus Vereinen, Verbänden und den Stadträten nach dem Proporz ihrer Gemeinderatsfraktionsstärke. Der Beirat hatte jedoch nur sehr eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in Form eines Rederechts. Im Februar 1989 beschloss der Gemeinderat die Bildung eines „Ausländerausschusses“. In seiner Form stellte er ein beratendes Gremium des Gemeinderats dar. Aus den Entwicklungen ergaben sich erstmals gesetzlich verankerte Rechte und Pflichten von Migranten nach der Gemeindeordnung Baden-Württemberg. Das stellte damals die höchste politische Partizipationsmöglichkeit für Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik dar. Im Oktober 1989 wurden schließlich erstmals „auf Beschluss des Gemeinderates ausländische Mitglieder in diesen Ausschuss gewählt“ (Herr S., Material 2004). 1994 erfolgte auf der Basis eines Gemeinderatsbeschlusses eine erneute Wahl des Ausländerausschusses. Dieses Mal war es eine Wahl ohne Nationalitätenbindung. Der Minderheitenschutz blieb jedoch erhalten. Im Jahr 2000 erfolgte die bisher letzte Wahl.5 Im offiziellen Papier zur Geschichte der Esslinger Ausländervertretungen gibt Herr S. mit Hinblick auf das demokratische Prinzip Folgendes zu bedenken: „Bei den drei letzt vorangegangenen Ausländerausschusswahlen handelte es sich im eigentlichen Sinne des Wortes nicht um eine Wahl. Lediglich die nach der Gemeindeordnung Baden-Württemberg durch den Gemeinderat zu bestellenden sachkundigen Einwohner wurden dadurch ermittelt. Dies hätte auch durch ein anderes Verfahren geschehen können. Um die gewollte demokratisch legitimierte Form zu wahren, erschien die Urwahl als die richtige Variante in der Vergangenheit.“ (Herr S., Material 2004)

Die kritische Einschätzung von Herrn S. deutet die mangelnde politische Integration von Migranten an. In verschiedenen informellen Gesprächen gab er mir zu verstehen, dass eine vollständige (politische) Integration nur dann erfolgen kann, wenn es die staatsrechtlichen Normen möglich machen, dass Migranten

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Diese Angaben beziehen sich auf die Zeit meiner Feldforschung im Jahr 2004.

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vollständig über demokratische Rechte verfügen – also inklusive dem vollen aktiven Wahlrecht. Nach der aktuellen rechtlichen Lage haben weder Migranten aus EU-Ländern, noch die aus nicht-EU Staaten die Möglichkeit, in vollem Maße demokratisch zu partizipieren. Die vollen politischen Rechte von Migranten sind für Herrn S. jedoch die Basis für eine positive Integration. Eng damit verknüpft sind auch seine Vorstellungen zur digitalen Integration, denn in den verschiedenen Maßnahmen des Ausländerbüros wie der interkulturellen Computergruppe und den Computerkursen lernen die Teilnehmer Fähigkeiten, die ihre demokratischen und politischen Partizipationsmöglichkeiten fördern. Die Förderung dieser Fähigkeiten spiegelt sich auch in den Aufgabenbereichen wieder, die mit Herrn S. Amt in Verbindung stehen. In seiner Stellenbeschreibung wird seine Arbeit als kommunale Integrationsförderung für Einwohner ausländischer Herkunft bzw. mit Migrationshintergrund beschrieben. Der Ausländerbeauftragte führt das eigenständige „Amt 19“ mit Stabstellen- und Querschnittsfunktion und arbeitet in fast allen Aufgabenbereichen eigenverantwortlich und selbstständig. Herr S. gestaltet wichtige Ziele, Grundsätze, Richtlinien und Anweisungen, ist für die selbstständige Öffentlichkeitsarbeit der Einrichtung zuständig, entscheidet fachliche, personelle, organisatorische, räumliche und finanzielle Angelegenheiten. Er fördert die Integration und Partizipation der ausländischen Bevölkerung und betreibt seine Einrichtung als Innovationswerkstatt, in der neue Ideen und Prototypen integrativer Aktivitäten entwickelt und erstmals umgesetzt werden sollen. Die Förderung von Partizipation und die Rolle als Ideenfabrik im Feld der interkulturellen Arbeit nimmt circa ein Fünftel seiner Arbeitszeit ein und ist das wichtigste Aufgabenfeld. Die Forderung nach innovativen Integrationsansätzen ist eng mit dem Untersuchungsgegenstand der Studie verknüpft, denn die Bestrebungen zur digitalen Integration im Ausländerbüro sind genau unter diesem Aspekt zu verstehen. In der Einleitung zu diesem Kapitel habe ich das Ausländerbüro als Motor bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration bezeichnet. Im Folgenden zeige ich, wie sich aus der Praxis der Akteure, den Aufgaben und Handlungsfeldern des Ausländerbüros eine Dynamik entwickelte, durch die Maßnahmen wie Computerkurse und Internettreffs ins Leben gerufen wurden. Ich gehe also auf die Frage ein, warum das Ausländerbüro als Motor der Entwicklungen zu betrachten ist. Warum der Motor läuft Der Druck, aufgrund der Aufgabenbeschreibung innovativ zu sein, aber auch Herrn S. persönliche Einstellungen, Motive und Vorlieben spielen in der Praxis

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eine entscheidende Rolle. Als Ausgangspunkt dient seine Begeisterung für technische Geräte und neue Medien wie Computer, Digitalkamera, Internet, Software, Email oder portablen Mini-PCs. Er arbeitet schon lange mit Computern, hat die Entwicklungen nicht erst seit dem Boom des Internet in den 1990er Jahren mitverfolgt und ist von den Möglichkeiten überzeugt, die sich in der Nutzung von Computern, Internet, Digitalkameras & Co verbergen. In seinem etwa 15 Quadratmeter großen Büro spielen nicht nur sein Schreibtisch, eine Espressomaschine und ein Besprechungstisch eine wichtige Rolle, sondern auch die Technik. Er verfügt über einen modernen Computerarbeitsplatz, der mit dem Internet verbunden ist und testet immer mal wieder neue Software. Zudem ist er mit den verschiedenen digitalen Diensten vertraut. An seinen Rechner hat er einen Minicomputer angeschlossen, den er bei Arbeiten außerhalb der Einrichtung immer dabei hat, um Termine, Adressen und dergleichen zu notieren. Aufgrund seiner Funktion als städtischer Beamter nutzt er das Intranet6 der Stadt, inklusive der digitalen Verwaltungsprogramme, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen. Der positive Bezug zu Informations- und Kommunikationstechnologien, seine grundsätzliche Neugier und der Druck, innovativ zu sein, formten seine Ideen und Bestrebungen, die Nutzung und das Wissen über Computer und Internet auch bei Menschen mit Migrationshintergrund zu fördern. Aufgrund seiner Bestrebungen kamen ihm die Aktionen im Zusammenhang von MediaKomm Esslingen sehr gelegen. Vor allem der Bürger-PC im Rahmen des Projekts buerger-gehen-online (bgo) stieß bei ihm auf großes Interesse. Das führte zum Kontakt mit Herrn W., dem Hauptverantwortlichen von bgo. Das hatte zur Folge, dass sich Herr S. und Herr W. darauf einigten, das Ausländerbüro zu einem Standort im Bürger-PC-Netzwerk zu machen. Im Kontext der Entwicklung und Umsetzung der Esslinger Strategien zur digitalen Integration von Migranten war das ein bedeutender Schritt im Hinblick auf die Vergabe wichtiger Rollen in dem Prozess. In der Akteur-Netzwerk-Theorie wird das als eine Phase in Übersetzungsprozessen bezeichnet. Das so genannte Enrolement ist eine sehr dynamische Phase. Es geht darum, die Akteure im Feld der Ziele zu positionieren und sie mit Handlungskraft auszustatten (vgl. Callon 2006 b: 156). Genau das zeigt sich in der Beziehung zwischen Herrn S. und Herrn W.. Durch die Verankerung des Bürger-PC im Ausländerbüro definierten sie Rollen, die

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In einem Intranet sind auf lokaler Ebene (in einem Unternehmen, einer Behörde, einer Stadt, etc.) autorisierte Rechner miteinander verbunden. Geschützt durch ein Passwort können alle berechtigten Personen auf gemeinsam benötigte Dokumente und Dienste zugreifen.

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mit bestimmten Akteuren in Verbindung stehen. Es beinhaltet etwa die Rolle von Herrn H.. Er ist der erste Mentor, der an den vier Bürger-PC’s im Dachgeschoss des Ausländerbüros sein ehrenamtliches Engagement aufnahm. Es betrifft aber auch die Rolle von Herrn S. selbst. Denn er ist auch dafür verantwortlich, dass die PC’s funktionieren, ans Internet angeschlossen sind und die entsprechende Software darauf läuft. Außerdem resultierte daraus die Aufgabe für den Bürger-PC im Ausländerbüro zu werben und ihn für Migranten (und Deutsche) interessant zu machen. Auch für Herrn W. ergab sich daraus eine neue Rolle. Das beinhaltet die Betreuung des Standorts, das Entwickeln von Ideen, wie und von wem der Bürger-PC gut genutzt werden kann und auch, wie und durch welche Mentoren der Standort betreut werden sollte. Gleichzeitig passte es gut in Herrn W.’s Strategie, da er ein großes Interesse daran hat, die Migrantenperspektive innerhalb des Projekts buerger-gehen-online zu fördern. Die Rollenzuweisungen führten dazu, dass sich im vierten Stock des alten Fachwerkhauses in der Esslinger Altstadt, in dem sich das Ausländerbüro befindet, eine interkulturelle Computergruppe etablierte. Die Teilnehmer haben verschiedene kulturelle Hintergründe. Zu vier von ihnen hatte ich während meiner Forschungszeit regelmäßigen Kontakt. Das bedeutet, dass ich sie während meiner dreimonatigen Feldstudie jede Woche im Ausländerbüro getroffen habe, viele informelle Gespräche mit ihnen führte und sie bei ihrer Praxis an den Computern beobachtete. Mit der Eröffnung des Standortes im Ausländerbüro fanden sich dort immer mehr Bürger ein, die das offene Zugangsangebot nutzen. An einem der wöchentlichen Termine versammeln sich donnerstags von 14 bis 16 Uhr immer zwischen fünf und sieben Menschen. Im Verlaufe der Zeit hat es sich so ergeben, dass sich die Gruppe, inklusive der Mentoren Herrn H. und Frau E., selbst als interkulturelle Computergruppe bezeichnet. Herr H. kam vor über vierzig Jahren als Arbeitsmigrant nach Esslingen. Er war für eine Zulieferfirma der Autoindustrie tätig. Der Rentner hatte schon während seiner Berufstätigkeit viel mit Computern zu tun und interessierte sich auch immer für Hardware. Er bezeichnet sich selbst als offenen Menschen und ihm ist daran gelegen, dass Integration in Deutschland voran geht. Außerdem ist er der Meinung, dass sich viel mehr Bürger ehrenamtlich betätigen sollten. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, sich als Mentor zu bewerben, als er vom Projekt buerger-gehen-online in der Presse erfuhr. Aufgrund seiner Offenheit gegenüber Menschen aus anderen Kulturen kam es ihm sehr gelegen, als ihm Herr W. die Möglichkeit gab, im Ausländerbüro als Mentor tätig zu sein. Zu Beginn war er zunächst lange alleine dort tätig und es war ihm im Gespräch anzumerken, dass er sehr stolz darauf ist, dass der Zugangs- und Lernort so gut angenommen wird und es ihm Spaß macht, anderen etwas beizubringen. Er wies mich darauf hin,

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dass er nicht ganz unbeteiligt daran war, dass sich die interkulturelle Computergruppe gebildet hat. Das gemeinsame Tee- und Kaffeetrinken in den Pausen ist seiner Meinung nach ein wichtiger Grund für das gute Funktionieren der Gruppe. Denn in diesen Situationen kommen die Teilnehmer miteinander ins Gespräch, lernen sich kennen und haben Spaß am sozialen und kulturellen Austausch untereinander. Es zeigt sich, wie urbane soziale Netzwerke entstehen (vgl. Mitchell 1969), Akteure verschiedene Rollen einnehmen und mit ihren sozialen Beziehungen zueinander die Praxis der Organisationen formen, in denen sie aktiv sind (vgl. Latour 2006 b, Callon 2006 b). Auch Frau E. nimmt durch ihre Tätigkeit als Mentorin der interkulturellen Computergruppe eine wichtige Rolle im mikrolokalen sozialen Netzwerk ein. Sie lebt seit einigen Jahren in Esslingen, ist in Peru geboren und hat in ihrem bewegten Leben viele Jahre in der Schweiz verbracht. Sie ist Mitte Vierzig und als Journalistin tätig. Neben Deutsch spricht sie Spanisch und Englisch. Ihr ehrenamtliches Engagement als Mentorin kam durch einen persönlichen Kontakt zu Herrn S. zustande. Auch sie hat ein großes Interesse an einer integrativen Gesellschaft und versucht, durch ihr Engagement einen Beitrag dazu zu leisten. Sie möchte anderen ihre eigenen Migrationserfahrungen weitergeben und die Teilnehmer unterstützen, sich zu beteiligen und einzumischen. Herr A. kommt aus dem nördlichen Irak, Frau A. und Herr T. aus der Türkei und Herr Sch. aus „Bayern“, worauf er im Gespräch mit Nachdruck hingewiesen hat. Das Bild auf der folgenden Seite zeigt zwei Mitglieder der interkulturellen Computergruppe. Im Dachzimmer des Ausländerbüros kommen die Teilnehmer an den fünf Bürger-PC’s zusammen, um jeweils an ihren persönlichen Vorhaben zu arbeiten. Herrn A., der sich links auf dem Bild vor einem Computer befindet, habe ich fast jeden Donnerstag am Bürger-PC Treffpunkt angetroffen. Er ist pensionierter Religionswissenschaftler und Mitglied des Esslinger Ausländerausschusses. Er kommt ins Ausländerbüro, um den Computer und das Internet für eine Koran-Übersetzung zu nutzen. Er ist mit einer Deutschen Frau verheiratet und hat zwei Töchter. Als seine ältere Tochter nach Berlin gezogen ist, hat sie seinen Computer „entführt“, wie er mir erzählte. Er hat zwar seit kurzem wieder einen eigenen PC zu Hause, allerdings weiß er nicht, wie er ihn ans Internet anschließt. Der fehlende Internetzugang zu Hause ist aber nicht der alleinige Grund seines Kommens, denn er schätzt nicht nur die Möglichkeit, den Bürger-PC und das Internet zu nutzen, sondern auch den Kontakt zu anderen Menschen.

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Abbildung 7: Mitglieder der interkulturellen Computergruppe

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

Die gute Atmosphäre, der Austausch mit anderen und die Möglichkeit, Wissen im Umgang mit Computern zu sammeln, ist für alle Teilnehmer ein wichtiger Beweggrund für ihr regelmäßiges Kommen – eine Erkenntnis, die an vergleichbaren Orten immer eine sehr entscheidende Rolle spielt. Auch für Frau A. spielen die gute Stimmung in der Gruppe und der Kontakt zu Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund eine bedeutende Rolle für ihre Teilnahme. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie kommt gerne ins Ausländerbüro und hat ein ganz persönliches Interesse, was die Nutzung des BürgerPC’s betrifft. Sie erzählte mir, dass sie ihre Cousine in der Türkei darauf gebracht hat, „Computer zu lernen“, denn die könne das schon lange. Ihre Cousine überzeugte sie davon, dass das Internet gut ist, um ihr gemeinsames Hobby „Kochen und Rezepte“ zu teilen. In der PC-Gruppe lernt sie mit der Hilfe der Mentoren das Textverarbeitungsprogramm Word und Email zu nutzen. Sie tippt während der Treffen ihre handschriftlichen Kochrezepte auf Türkisch ab. Damit sammelt sie nicht nur alles und bringt Übersicht in ihre vielen Rezepte, sondern sie tauscht sie auch über Email mit ihrer Cousine in der Türkei. Frau A. nimmt auch an einem Computerkurs in türkischer Sprache im Ausländerbüro teil. Dorthin bringt sie ihren Mann mit. Ihrer Meinung nach ist es wichtig, dass sich El-

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tern mit Computer und Internet auseinandersetzen, um einschätzen zu können, was die Kinder damit alles machen können. Auch der „bekennende“ Bayer Herr Sch., der einen Rauschebart hat und meist bayerische Tracht trägt, kommt gerne in die Computergruppe. Er schätzt es, dass er sich hier mit Menschen aus anderen Kulturen austauschen kann, denn schließlich sei er ja selbst aus einer anderen Kultur. Der etwa 60jährige Mann ist in der Stadt bekannt wie „ein bunter Hund“ und erledigt unterschiedliche Dinge am Bürger-PC. Zur Zeit meiner Forschung war er damit beschäftigt, eigene Visitenkarten anzufertigen. Die unterschiedlichen Teilnahmemotive der Akteure aus der interkulturellen Computergruppe zeigen sich auch bei den weiteren zwei bis vier Personen, die die Gruppe regelmäßig besuchten. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie die sozialen Aspekte, die Offenheit des Zugangs und den Austausch mit anderen Menschen schätzen. Herr T. nimmt am Computertreff teil, um dort seine Fähigkeiten anzuwenden, die er in einem Kurs erworben hat. Seine grundlegende Motivation beim Erlernen von Computer, Internet und Software ist, dadurch seine Bewerbungen besser machen zu können. Er sucht schon seit längerer Zeit Arbeit und hat die Erfahrung gemacht, dass viele Betriebe vor einem persönlichen Gespräch eine elektronische Bewerbung verlangen. Außerdem muss man ohnehin ein Textverarbeitungsprogramm beherrschen, um die Bewerbungsunterlagen anzufertigen. Er kommt gerne zu den regelmäßigen Terminen, weil er sich dort austauschen und andere Menschen kennen lernen kann. In Bezug auf das „Enrolment“ als Phase in Übersetzungsprozessen (vgl. Callon 2006 b: 146-164), das ich vor einigen Abschnitten als den Prozess angesprochen habe, in dem Akteuren in einem (sozialen) Netzwerk verschiedene Rollen zugewiesen werden, ist das Gefüge aus Akteuren um den Bürger-PC sehr interessant. Die Rollen sind zwar in dieser „Phase von Übersetzung“ (vgl. Theoriekapitel) noch nicht fest zugeschrieben, werden aber in ihrer Funktionsfähigkeit „getestet“. Sowohl Herrn S. aus der Perspektive des Ausländerbüros, wie auch Herrn W. aus der Sicht des Projekts buerger-gehen-online, ist es gelungen, neue Akteure in die von ihnen geförderten Netzwerke einzubinden. Durch die Zuweisung der Mentorenrolle an Herrn H. und Frau E. haben sie es geschafft, sie als Akteure im Netzwerk rund um den Bürger-PC im Ausländerbüro zu positionieren. Gemeinsam ist Herrn S., Herrn W., Herrn H. und Frau E., dass sie wichtige Vermittler im Prozess der digitalen Integration von Migranten sind. Akteure wie sie werden in der ethnologischen Forschung zu politischen Strategien im Bereich neuer Medien und Technologien als New Mediators bezeichnet (vgl. Fallstudie I). Es sind Personen, die als Mittler und Vorreiter neue Medien und deren Nut-

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zung in besonderer Weise fördern und Verbindungen zwischen Akteuren herstellen, die an diesen Prozessen beteiligt sind. Es sind Sozialarbeiter, Mentoren, Kulturschaffende, Computerlehrer und weitere Multiplikatoren, die sich meist mit einem sehr innovativen Engagement dafür einsetzen, dass Computer, Internet & Co möglichst viele Menschen erreicht. In ihrer Rolle als Vermittler ist es Herrn S. und Herrn W. nicht nur gelungen, Herrn H. und Frau E. als aktive Akteure zu gewinnen, sondern auch, etwa sieben bis acht Menschen mit Migrationshintergrund von dem Lernangebot Bürger-PC zu überzeugen. Die vielfältigen Kontakte, Gespräche, Handlungen und Übersetzungen demonstrieren, warum ich das Ausländerbüro im Titel zu dem Kapitel als „Motor der Entwicklungen“ bezeichnet habe. In der Einrichtung gibt es eine große Dynamik und Bestrebungen, die am Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen einzubeziehen. Der Druck von Herrn S., in seiner Einrichtung innovative Integrationsansätze zu entwickeln und Herrn W.’s Bestreben nach einem erfolgreichen Projekt liefern dem Motor den nötigen Treibstoff. In dem komplexen Gefüge finden aber nicht nur Übersetzungen im Hinblick auf den Bürger-PC statt. Herr S. entwirft auch unabhängig vom Projekt buergergehen-online Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten in seiner Einrichtung und erhofft sich dadurch einen besonders innovativen Integrationsansatz auf die Beine zu stellen. Er entwickelt zusammen mit anderen im Ausländerbüro ein Angebot von Computerkursen für Menschen mit Migrationshintergrund. Zur Zeit meiner Forschung gab es Kurse auf Russisch und Türkisch. Einer der Kurse, den ich regelmäßig besuchte, richtet sich an türkischsprachige Menschen und findet donnerstags von 12.30 bis 14.00 Uhr im Dachzimmer des Ausländerbüros statt. Die Kurse vermitteln in der Muttersprache PC- und Internetgrundlagen. Hierzu gehört einerseits das Kennenlernen der grundlegenden Funktionsweisen eines PC’s, andererseits werden wichtige Anwendungen wie Word oder Email behandelt. Die Leiterin des Kurses ist Frau N.. Die Computerkurse im Ausländerbüro, die Frau N. selbst zusammenstellt, sind modular aufgebaut. Sie bietet sowohl Basiskurse wie auch Fortgeschrittenenkurse an. Bei dem Kurs, den ich hauptsächlich besuchte, handelte es sich um einen Anfängerkurs. Er ist darauf ausgerichtet, den Teilnehmern grundlegende digitale Fähigkeiten zu vermitteln. Wie Frau N. aus ihren Erfahrungen mit den Teilnehmern zu berichten weiß, beginnt die Vermittlung digitaler Fähigkeiten meist mit einer Einführung in eine Reihe technischer Kompetenzen. In vielen Fällen bedeutet das im Kursalltag, dass besonders zu Beginn der Kurse Grundlagen wie das Bedienen der Maus vermittelt werden müssen. Aber auch das Einund Ausschalten eines Computers ist für Anfänger keine Selbstverständlichkeit.

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„Sitzen“ schließlich die grundlegenden Fähigkeiten, folgt die Vermittlung von Basis-Anwendungen wie dem „Datei-Manager“ oder dem Zeichenprogramm „Paint“. Durch das Erlernen der Programme eignen sich die Kursteilnehmer auf spielerische Art und Weise ein Grundverständnis von Dateien, Ordnern, Verzeichnissen, Programmen und dem Papierkorb an. Gerade das Zeichenprogramm Paint eignet sich nach Frau N.’s Aussagen hervorragend, um einem Anfänger den Umgang mit der Maus zu vermitteln. Der Ansatz ist bei Lehrenden ein sehr beliebter, den ich aus vielen anderen Einführungskursen bereits kenne. Erst wenn die Teilnehmer das Basiswissen zum Bedienen eines Computers haben, vertieft Frau N. das Wissen und führt sie in Anwendungen wie Word, Excel, Internet und Email ein. Das heterogene Angebot über die Kursdauer hinweg spiegelt sich auch in den Motivationen der Kursteilnehmer wieder. Die sechs bis sieben Teilnehmer kommen mit verschiedenen Absichten. Ein dominantes Motiv ist das Erlernen bestimmter digitaler Fähigkeiten zur Verbesserung der persönlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt. So hofft der ausgebildete Mechaniker Herr M. durch die erlernten digitalen Kompetenzen seine Chancen bei Bewerbungen zu steigern. Wie er berichtete, verlangen diverse Kfz-Betriebe eine Bewerbung per PDFDokument und Email. Seine Frau A. hat hingegen völlig andere Teilnahmemotive. An erster Stelle steht bei ihr der Wunsch, Word und Email zu erlernen, um ihre Kochrezepte digitalisieren zu können. Im Anschluss will sie diese dann per Email an ihre Cousine in die Türkei schicken. Am undurchsichtigsten erschien mir zunächst Herrn K.’s Teilnahmemotiv. Als ich den Anfang Sechzigjährigen einmal fragte, was für ihn das wichtigste Lernziel im Kurs sei, zeigte er mir ein paar türkische Zeilen auf dem Bildschirm. Er hatte den Text in großen Lettern und dickem Schrifttyp formatiert und es war zu lesen: „Hayatta enzor es. Aile gemesini idare etmek, Okyanustaki Firtinali korkunc dalgalarin icersinde bir yelkenli gemiyi idare etmekten dahada zordur . Basarabilene ne mutlu“ (PK Ausländerbüro 2004). Etwas verdutzt über seine Antwort fragte ich ihn, was da geschrieben steht. Ich wies ihn darauf hin, dass ich leider nicht genügend Türkisch verstehe. Er sagte mir, dass es ein Gedicht von einem Philosophen sei. Herr K. übersetzte es mit den Worten: „Es ist schwerer eine Familie zu führen als ein Segelschiff über den Ozean zu navigieren“. Etwas erstaunt nickte ich ihm zu. Meine Geste schien für ihn wie eine Aufforderung zum Erzählen zu wirken. Denn er begann sich in etwas schlechter Stimmung zu beklagen, dass das Familienleben immer mehr zugrunde gehe. Das gelte seiner Meinung nach für Deutsche und Türken gleichermaßen. Seine eigene Ehe sei auch kaputt. Er ist sehr enttäuscht und sehe einfach überall, wie immer mehr Familien kaputt gehen. Das sei äußerst fatal,

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„denn Kültür kann man nur in der Familie lernen“. Die Interpretation der Gespräche mit ihm führte mich schließlich zu seinem Teilnahmemotiv im PC-Kurs. Er kommt, um soziale Kontakte zu knüpfen. Er erzählte mir, dass es kaum Menschen gebe, mit denen er seit seiner Trennung noch zu tun habe. Aber auch sein Interesse an anderen Menschen und Perspektiven ist es, was ihn als Motiv in die Kurse begleitet. Außerdem lernte ich im Gespräch über das Gedicht, das er im Computerkurs in Word eingetippt hat, seine Standpunkte zum Thema Integration kennen. Seiner Meinung nach hat Kultur etwas mit Familie zu tun, denn Kultur „lernt“ man in der Familie. Da aus seiner Sicht immer mehr Familien auseinander brechen, lernen vor allem die Jüngeren keine „Kultur“ mehr. Dadurch verlernen sie gleichzeitig, sich mit anderen auseinanderzusetzen und Kontakt zu haben. Nach Herrn K.’s Meinung ist aber genau das der Grundstein für Integration. Betrachtet man die Konzepte von Integration, die einige meiner Informanten explizit geäußert haben, fällt auf, dass sich die Standpunkte und Meinungen stark unterscheiden. Während der Ausländerbeauftragte Integration im Kontext gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge reflektiert, denkt Herr K. über sie im Umfeld der Familie nach. Interessant werden die Positionen zu Integration genau dann, wenn sie Einfluss in politischen Feldern bekommen. Das Ausländerbüro und seine Aufgabe, Integration und Partizipation ausländischer Mitbürger zu fördern, sowie das Akteur-Netzwerk, das mit der Einrichtung in Verbindung steht, sind Teil des politischen Feldes. Hier wird in „innovativen Ansätzen“ festgelegt, was Integration ist und wie sie vollzogen werden soll. In Übersetzungsprozessen zwischen den Beteiligten finden zahlreiche Perspektiven, Konzepte, Einstellungen und Handlungen Einzug in die Praxis der (digitalen) Integration. In analytischer Hinsicht ist es interessant, zu untersuchen, wie sich wichtige Konzepte bei ihren Bewegungen in einem sozialen und kulturellen Netzwerk aus Akteuren unterscheiden und sich kontinuierlich verändern – die persönlichen „Integrationskonzepte“ von Herrn S. und Herrn K. zeigen das. Die niederländische Kulturanalytikerin Mieke Bal (2002: 7-27) hat den Prozess mit dem Begriff der „wandernden Konzepte“ umschrieben. Wichtig ist es demnach, sich die Bedeutungsverschiebungen eines Konzepts wie dem der Integration genau anzusehen, um die Vielfalt des Inhalts nicht aus dem Blick zu verlieren. Nur so kann herausgefunden werden, was sich in einem Konzept verbirgt. Geht man davon aus, dass digitale Integration von Migranten eine bestimmte Strategie beinhaltet, ist es wichtig diese zu kennen. Im Hinblick auf politische Entscheidungsprozesse sind es vor allem die Konzepte der Entscheidungsträger wie von Herrn S., die von Interesse sind. Denn sie sind es, die in der Praxis mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet sind, um „integrative Maßnahmen“ auf den Weg zu bringen.

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Herr S. hat in seiner Funktion als Ausländerbeauftragter Einfluss auf die politischen Entscheidungsbildungsprozesse. Trotzdem repräsentiert er nicht alleine das Ausländerbüro und das es umgebende Netzwerk aus Akteuren wie der Sozialberaterin Frau Ü., den Bürger-PC-Mentoren Herrn H. und Frau E., der Computerlehrerin Frau N. oder dem Kursteilnehmer Herrn K.. Als Leiter der Einrichtung möchte und muss er innovative Integrationsansätze auf den Weg bringen. Aber dafür braucht er andere, die ihn unterstützen und bestimmte Rollen in der Praxis einnehmen. Um auf diese Weise ein Netzwerk aufzubauen, das ihn unterstützt, hat er ein Vielzahl an Übersetzungsprozessen angestoßen, die alle das Ziel haben, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, wie digitale Integration von Migranten entwickelt und umgesetzt werden kann. Er verfolgt die Absicht, ein stabiles Netzwerk zu entwickeln, in dem die beteiligten Akteure eine Rolle einnehmen. Um das zu erreichen versucht er, die anderen Akteure zu überzeugen und Akzeptanz für seine Handlungen zu erreichen. Das erreicht er dadurch, dass er in unzähligen Kontakten und Gesprächen mit anderen versucht, deren Standpunkte bei wichtigen Entscheidungen zu berücksichtigen. Der Prozess aus Vermittlung, Verknüpfung und Übersetzung verdeutlicht die Rolle des Ausländerbüros als Motor der Entwicklungen bei der Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Gleichzeitig zeigt sich darin die Rolle von Akteuren wie Herrn S., Frau Ü. und Frau N. als New Mediators, die mit ihrer Praxis Maßnahmen wie Computerkurse ins Leben rufen. Das Ausländerbüro lässt sich nicht nur durch die Handlungen und Einstellungen seines Leiters verstehen, sondern umfasst alle Akteure, die mit ihm in Verbindung stehen. Als Teil gesellschaftlicher und kultureller Praxis lässt es sich im Sinne von Bruno Latour als „Kollektiv“ bzw. „Assoziation“ bezeichnen (vgl. Latour 2002, 2006 b). Der Begriff des Kollektivs bezieht sich in dieser Perspektive auf die Assoziierungen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen. In meiner Studie sind das die vielfältigen Verbindungen zwischen kulturellen Vermittlern wie Herrn S., Herrn W. und Frau N., Kursteilnehmern wie Herrn K. oder Frau A., Mitarbeitern des Ausländerbüros wie Frau Ü. aber auch Computern, Programmen und dem Internet. Menschen, genauso wie Geräte und Technologien, sind auf diese Weise an der Umsetzung und Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligt. Durch die Betrachtung des Ausländerbüros als Kollektiv lässt sich analysieren, wie die beteiligten Akteure ihre Verbindungen zueinander knüpfen und wie sich die Einrichtung als Netzwerk aus verschiedenen Akteuren oder als Kollektiv verschiedener Assoziierungen betrachten lässt. Die Perspektive erlaubt es mir, das Ausländerbüro nicht im klassischen soziologischen Sinne als geschlossene Einheit in einer kulturellen oder gesellschaftlichen Struktur darzustellen, sondern als ein dynamisches Gefü-

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ge, in dem die Ideen, Motive, Handlungen, Kommunikationen und Beziehungen der Akteure zueinander das Gesicht der Organisation ausmachen. Es wird deutlich, dass der Prozess der Umsetzung und Entwicklung von Strategien zur digitalen Integration vom „Kollektiv Ausländerbüro“ maßgeblich beeinflusst wird. Die Aktivitäten in der Neckarstadt beschränken sich aber nicht auf das Ausländerbüro. Im Gegenteil, mit dem Projekt, das ich im Folgenden darstelle und analysiere, findet sich eine Maßnahme, die sich intensiv um die digitale Integration auf Stadtebene bemüht.

D AS P ROJEKT

BUERGER - GEHEN - ONLINE „Bürgerinnen und Bürger zur Begleitung von Computerprojekten in Esslingen am Neckar gesucht.“ FLYER ESSLINGEN 2001 / BGO

Der Text ist auf einem Faltblatt zu lesen, das die Stadt Esslingen 2001 im Rahmen des MediaKomm Projekts herausgegeben hat. In schlichtem Design mit schwarzer Schrift auf hellbeigem Hintergrund werden Bürger dazu aufgerufen, sich ehrenamtlich im Feld digitaler Integration zu engagieren. Sie sollen anderen Bürgern beim Erlernen von Computer und Internet zur Seite stehen. In kurzen Text- und Listenblöcken wird das Ziel des Projekts beschrieben und die Erwartungen an jene, die mitmachen sollen und wollen. Es ist das aufgelistet, was den engagierten Bürgern geboten wird, sowie Informationen über die Standorte des Projekts und die wichtigsten Kontakte. Das Faltblatt ist insofern interessant, als dass es die „ältesten“ Daten zu buerger-gehen-online beinhaltet, die ich während meiner Feldforschung ausfindig machen konnte. Da ich das dichte Netz aus Akteuren, in dem Strategien zur digitalen Integration von Migranten ins Leben gerufen werden, nicht von Anfang an als Forscher begleiten konnte, war es Teil meiner Untersuchung, die Spuren der Phänomene zurückzuverfolgen. Der Flyer, auf dem für buerger-gehen-online (bgo) geworben wird, war hier ein wichtiger Anknüpfungspunkt. Ich habe ihn von Herrn W. bekommen, der bgo zu dem gemacht hat, was es ist.7 Ein Ergebnis meiner Studie ist, dass das Projekt nicht nur durch die Vorgaben aus MediaKomm bestimmt wird, sondern auch durch die

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bgo besteht bis heute. Da Projekte einen kontinuierlichen Prozess darstellen, zeigt sich bgo aber nicht mehr in der Form wie zur Zeit meiner Forschung.

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persönlichen Bestrebungen und das Engagement von Herrn W.. Aus dem Grund stelle ich im Folgenden meinen Hauptinformanten genauer vor, um zu verstehen, wie seine persönliche Perspektive bgo prägte. Der studierte Sozialarbeiter ist um die 50 Jahre alt und von Anfang an am Projekt beteiligt. Bis zum Jahr 2000 war er als Angestellter für die Caritas in der Wohnsitzlosenhilfe tätig. Mit dem Start von buerger-gehen-online im Jahr 2001 wurde er an die Stadt Esslingen „ausgeliehen“, wie er es mir im Interview beschrieb (vgl. IW W. 2004). Er begegnete mir in der Feldforschung als offener und neugieriger Mensch, der viele Kontakte pflegt. Schon als Jugendlicher reiste er zum Schüleraustausch nach Australien, wo zum ersten Mal sein interkulturelles Interesse geweckt wurde. Er ist verheiratet und macht keinen Hehl daraus, dass seine Philosophie, die ihn in der Projektarbeit begleitet, auf den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire zurückgeht. Für Herrn W. spielt vor allem Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ (Freire 1973) eine entscheidende Rolle bei der Herangehensweise, die er für bgo entwickelt hat. Im Zentrum steht für ihn, dass die Nutzung digitaler Medien genauso eine Kulturtechnik darstellt, wie Lesen, Schreiben und Rechnen (vgl. Hinkelbein 2007: 85; 2004 b). Durch das Erlernen von Fähigkeiten wie „das Internet nutzen können“, „Bewerbungen in Word zu verfassen“ und „per Email zu kommunizieren“, erhofft sich Herr W. für benachteiligte Menschen, dass sie dadurch aus ihrer benachteiligten Position heraustreten können, indem sie etwa durch die erlernten Qualifikationen einen neuen Arbeitsplatz finden. Dass sich Herr W. gerne für Benachteiligte einsetzt zeigt sich auch in seiner Biographie. Schon als Jugendlicher engagierte er sich in der katholischen Jugend, wo er erste Erfahrungen sammelte, wie man durch soziale und kulturelle Praxis aktiv in Problemfeldern der Gesellschaft arbeiten kann. Seine spätere Tätigkeit in der Wohnsitzlosenhilfe untermauert das. Das Engagement, sich für Schwächere stark zu machen, floss meiner Meinung nach auch in seine Aktivitäten im Projekt bgo ein. Herr W. ist Initiator, Ideengeber, Koordinator und Leiter von buerger-gehenonline. Während meiner Forschung wirkte er auf mich wie ein unermüdlicher Arbeiter, der sich weit mehr für das Projekt einsetzte als er das müsste. Herr W. pflegt im Rahmen seiner Arbeit für das Projekt Kontakte zu einer Vielzahl von Akteuren: zu anderen Sozialarbeitern der Stadt, zu Leitern verschiedener Einrichtungen wie der Caritas oder des Internationalen Bundes, zu städtischen Institutionen wie dem Ausländerbüro, zu den Mentoren und Bürgern, die sich am Projekt beteiligen. Es wirkt oft so, als kenne er wirklich „Gott und die Welt“, denn wann immer ich mit ihm in der Stadt unterwegs war, traf er eine ihm bekannte Person. Er präsentiert sich in der Beziehung zu anderen immer als sehr zuvorkommend und freundlich. Außerdem ist er ein guter Zuhörer und hat ein

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Geschick dafür andere Menschen zu verbinden. Das war mir während der Feldforschung sehr willkommen, da ich auf diese Weise viele wichtige Kontakte in Esslingen knüpfen konnte. Seine persönliche Verbundenheit mit buerger-gehenonline wurde mir aber auch in vielen Gesprächen mit ihm in der städtischen Kantine oder auf den vielen gemeinsamen Fußwegen durch Esslingen bewusst. Er machte sich sehr oft Gedanken über das Projekt, reflektierte darüber und versuchte kontinuierlich, neue Ideen ins Leben zu rufen, um das Projekt vorwärts zu bringen. Aufgefallen ist mir auch seine Akribie, denn er arbeitet sehr gewissenhaft und überlässt kein Detail dem Zufall. Herr W. ist der einzige Hauptamtliche, der für das Projekt arbeitet. Er ist der wichtigste Vermittler, der durch seine Praktiken versucht, das Projekt im öffentlichen Diskurs sichtbar zu machen. Unterstützt wird er von rund 60 ehrenamtlich agierenden Mentoren und von der Honorarkraft Frau N.. Herr W. hat im Rahmen des Projekts Strategien ins Leben gerufen, die im Antrag für MediaKomm Esslingen festgelegt waren. „‚buerger-gehen-online‘ wurde in den Teilprojekten Bildung und Soziales innerhalb des Bundesforschungsprojekts MediaKomm entwickelt und wird jetzt von der Stadt Esslingen am Neckar weitergeführt“ (Webportal Esslingen). So ist es auf dem städtischen Internetportal zu lesen. Bereits in der Entwicklungsphase des Projekts zeigte sich, wie wichtig bereits bestehende Strukturen und Netzwerke für buergergehen-online sind. Im Sinne eines „Rhizoms“ (Deleuze, Guattari 2002: 11-42) finden durch die Beziehungen zwischen den Einheiten in den Netzwerken, also zwischen städtischen Behörden, Einrichtungen und Vereinen, eine Reihe von Übersetzungsprozessen und Umformungen statt, die für den von buerger-gehenonline entwickelten Ansatz der digitalen Integration eine entscheidende Rolle spielen (vgl. Latour 2006 a: 561ff). Im Interview erwähnte Herr W. das „Computer Clubhouse Esslingen“ als eine wichtige Stelle, zu der es zu Projektbeginn eine entscheidende Verbindung gab. Die Idee des Computer Clubhouse, das es in vielen Ländern gibt, kommt aus den Vereinigten Staaten. 1993 eröffnete das MIT-MediaLab in Boston das erste seiner Art im „The Computer Museum“. Die Fachhochschule Esslingen übernahm den Gedanken aus den USA und entwickelte ein auf deutsche Verhältnisse zugeschnittenes Projekt. Maßgeblich daran beteiligt sind interessierte Jugendliche, Vertreter der deutschen Wirtschaft, die Hochschulen für Technik (FHTE) und Sozialwesen (HfS) sowie deren Studierende. Seit Ende 1996 haben bis zu 20 Jugendliche jeden Nachmittag in einem in der FHTE eigens für das Projekt eingerichteten Clubraum die Möglichkeit, den Umgang mit digitalen Technologien und neuen Medien auf spielerische Art und Weise zu erlernen. Sie arbeiten mit Studenten der beiden Hochschulen und anderen ehrenamtlichen Mentoren an

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gemeinsamen Maßnahmen. Auf diese Weise entstehen Kunstwerke, wissenschaftliche Arbeiten und Projekte in Zusammenarbeit mit den Sponsoren. Die Ansätze des Computer Clubhouse waren für das Projekt buerger-gehenonline im Hinblick auf das Mentoren-Konzept bedeutsam. Durch die Unterstützung von Herrn U. von der Hochschule für Technik entwickelte Herr W. einen Ansatz, in dem ehrenamtliche Mentoren eine entscheidende Rolle spielen. Herr W., der selbst ein Verfechter des Ehrenamts ist, sagt, „dass buerger-gehen-online ohne die Mentoren gar nicht möglich gewesen wäre“ (IW W. 2004). Die rund 60 Ehrenamtlichen unterstützen an den 19 Standorten des Bürger-PC’s interessierte Bürger bei der Nutzung von PC und Internet. Die öffentlichen Zugangsorte demonstrieren die Verbindungen der einzelnen Entitäten im Rhizom, wie ich sie bereits mehrfach angesprochen habe. Die genaue Betrachtung der Zugangsorte – die Bürgerämter in den Stadtteilen, das Ausländerbüro, die Stadtbibliothek, das IB-Bildungszentrum, das Mütterzentrum, die Seniorenzentren und Schulen – zeigt, wie durch buerger-gehenonline ein Netzwerk aus Einrichtungen entstanden ist, das es vorher in Esslingen nicht gab. Der Bürger-PC ist ein Computer mit Internetzugang und beinhaltet neben den Standardanwendungen wie Word auch die Möglichkeit zu drucken. Zur Zeit meiner Forschung erhält man über eine Diskette, die das Profil des jeweiligen Nutzers beinhaltet, Zugang. Das Bild auf der folgenden Seite zeigt den Bürger-PC in der „Laborsituation“. Die beiden Rechner mit identischer Konfiguration stehen bei Herrn W. im Büro. An den beiden Computern hat er die Profile für die Bürger-PCs entwickelt und sie anschließend erprobt. Die „Prototyprechner“ in seinem „Testlabor“ zeigen, dass Herr W. nichts dem Zufall überlässt. Wie bei allen seinen Tätigkeiten ist er sehr gewissenhaft und hat durch die beiden Computer die Möglichkeit, bei auftretenden Problemen an den Standorten die Konfiguration zu ändern und zu testen.

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Abbildung 8: Prototypen des Bürger-PC im Büro von Herrn W.

Abbildung 9: Drei Jugendliche am Bürger PC im Jugendinfoladen Claro

Quelle für beide Abbildungen: Oliver Hinkelbein, 2004

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Das zweite Bild auf der zurückliegenden Seite zeigt einen dieser Standorte. Drei Jugendliche arbeiten hier an einem Bürger-PC im Jugendinfoladen Claro. Trotz der Ausrichtung der Einrichtung auf Kinder und Jugendliche steht der Zugangsort auch allen anderen Esslingern zur Verfügung. Die Jugendlichen auf dem Bild sind Kinder von türkischen und griechischen Eltern. In der Szene chatten sie gerade auf einer regionalen Chat-Plattform mit gleichaltrigen Mädchen aus der Region. Das Chatten ist eine ihrer Lieblingsaktivitäten beim Umgang mit neuen Medien. Während meiner Forschung beobachtete ich sie oft, wie sie im Jugendinfoladen ihre Zeit damit verbrachten, sich in virtuellen Räumen mit anderen auszutauschen. Sie unterhielten sich dabei immer angeregt untereinander, lachten und machten Sprüche über Mädchen, mit denen sie gerade chatteten. Nicht selten stellt die Nutzung des Bürger-PCs durch die Jugendlichen einen Konfliktherd dar. Wie mir Herr W. und ein Mitarbeiter aus der Einrichtung erzählten, beschwerten sich einige ältere Nutzer des Bürger-PCs über die Jugendlichen. Angeblich wären sie unhöflich gewesen, als man ihnen gesagt hat, dass sie nicht dauerhaft den Zugangsort besetzten könnten. Als Konsequenz daraus entschieden die Jugendsozialarbeiter im Claro, die Nutzungszeit des Computers pro Jugendlichem auf eine halbe Stunde am Tag einzugrenzen. Darauf reagierten die Drei dadurch, dass sie ihre jeweiligen Zeiten zusammenlegten, um dann gemeinsam zu Chatten – eine Situation, die gut zeigt, dass bei der Nutzung von Computer und Internet auch die sozialen Kompetenzen gefördert werden können. Der Einsatzort der Mentoren befindet sich an Orten wie denen im Jugendinfoladen. Sie unterstützen unter dem Stichwort der „Begleitung“ die Bürger an den PCs und vermitteln ihnen auf diese Weise Medienkompetenzen, die sie im Umgang mit dem Computer sicherer und vertrauter machen. Auf der Internetplattform von buerger-gehen-online findet sich eine Beschreibung, welche Rolle die Mentoren spielen. „Unter dem Aspekt des Lernens miteinander und untereinander agieren die Mentoren zum einen als Ansprechpartner bei fachlichen Fragen, vor allem aber fördern sie bei den Besuchern die Motivation, selbst die Verantwortung für den Lernprozess zu übernehmen.“ (Webportal bgo)

Das beinhaltet viele Erwartungen an die Mentoren. Es verlangt von ihnen Interesse am Kontakt mit Menschen und die Bereitschaft, sich auf unterschiedliche Menschen einzulassen. Außerdem erfordert es die Begeisterung die eigenen Kenntnisse weiterzugeben, sich regelmäßig weiterzubilden, die kontinuierliche Mitarbeit an den Standorten und die Teilnahme an regelmäßigen Treffen zum Erfahrungsaustausch. Geboten wird interessierten Personen die Aus- und Wei-

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terbildung zum Mentor. Das beinhaltet technische und pädagogische Schulungen, in denen PC-Grundkenntnisse, Internet, Office-Anwendungen, die Wahrnehmung von unterschiedlichen Lerntypen, das „Motivation-Schaffen“ und das „Erfolge-Sichtbarmachen“ geschult werden (vgl. Flyer Esslingen 2001). Diese Fähigkeiten brauchen die Mentoren, um die Arbeit an den Standorten erledigen zu können. Für die Lösung von Problemen sind die Schulungen für die Mentoren von besonderer Bedeutung, da sie in ihnen lernen, zusammen mit den Teilnehmern Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Außerdem erhalten die Mentoren, die an für Migranten gedachten Zugangsorten tätig sind, zusätzlich Schulungen zum interkulturellen Arbeiten, um auf die Aufgaben gut vorbereitet zu sein. Alle Mentoren erhalten zudem eine hauptamtliche fachliche Begleitung, Fort- und Weiterbildungsangebote, Versicherungsschutz und Informationen über interessante Aktivitäten. Darüber hinaus werden die Mentoren zu Gruppenaktivitäten wie Exkursionen und Festen eingeladen. Der Bürger-PC und die Mentoren sind laut Herrn W. die beiden Säulen von buerger-gehen-online. Die Maßnahme hat die Aufgabe und das Ziel, die Bürger bei der Einführung neuer Medien und Technologien auf städtischer Ebene zu unterstützen. „Ziel ist es, für breite Bevölkerungsgruppen den Zugang zu Neuen Medien herzustellen und die Akzeptanz dieser Medien insgesamt zu fördern. Das Projekt soll einer weiteren Ausgrenzung bestimmter Personenkreise entgegenwirken, bestehende ‚digitale Gräben‘ sollen überbrückt werden.“ (Webportal bgo, vgl. auch Flyer Esslingen 2001)

Herr W. macht sich dafür stark, dass mit der Maßnahme explizit alle Bevölkerungsgruppen und Träger in Esslingen angesprochen werden, sich zu beteiligen. „Ich denke mein Thema ist es halt schon, […], zu sagen, ich möchte mit bürger-gehenonline so ne Plattform bieten, wo die unterschiedlichsten Träger, die in Esslingen mit diesem Thema schon Erfahrungen haben, weil es ist zum einen der Internationale Bund, es ist aber zum Beispiel auch dieses CAM, dieses Computer Arbeit Mädchen, das es bisher als Projekt gab., von der Esslinger Beschäftigungsinitiative, von der EBI.“ (IW Herr W. 2004)

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Er versteht buerger-gehen-online als eine „Plattform“8, auf der Erfahrungen im Hinblick auf die Arbeit mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen gebündelt werden, auf der die Mentoren in einem Netzwerk ständig begleitet und weitergebildet werden und auf der die Bürger Qualifikationen im Umgang mit digitalen Medien erwerben können. Herr W., der selbst digitale Medien und Techniken umfangreich nutzt und einsetzt, hat die Säulen des Projekts auf einer Powerpoint-Folie zusammengefasst. Abbildung 10: Konzept des Projekts buerger-gehen-Online

Quelle: Powerpoint-Folie Herr W., 2004

Die Folie zeigte er im Rahmen eines Vortrages zum Thema „Stadtteilorientierte digitale Integration“, den ich während meiner Feldforschung besuchte. Darauf wird sichtbar, dass die Strategie des Projekts unter der Zielsetzung einer „Bürgerkommune im Netz“ auf zwei Säulen basiert: die Eine – der Bürger-PC – ist auf der linken Seite der Abbildung zu sehen, die andere – das Mentoren8

Mit „Plattform“ meint er hier nicht eine Internetplattform. Vielmehr will er damit ausdrücken, dass bgo ein Forum für möglichst viele Esslinger sein soll.

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Netzwerk – auf der rechten Seite. Durch den Zugang zu PC und Internet und die Begleitung durch die Mentoren soll die Medienkompetenz der Bürger in der Kommune gestärkt werden. Zum Erreichen der gesetzten Ziele und um einer weiteren digitalen Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entgegenzuwirken, hat Herr W. ein spezielles Augenmerk auf benachteiligte gesellschaftliche Gruppen wie Senioren, Frauen und Migranten. „Also Zielsetzung von bürger-gehen-online allgemein ist es ja möglichst vielen Menschen den Zugang zu dem Medium zu beschaffen und Tatsache war auch, das war auch schon da klar, dass neben den Senioren und der Gruppe der Frauen jetzt insgesamt mal schon auch insbesondere die Personen mit Migrationshintergrund besonders wenig Zugang zu neuen Medien haben. Also jetzt auch bei den wenigen Statistiken, die es gibt, war auch da schon relativ früh klar, Migration ist im Prinzip so etwas wie eine Zugangsbarriere. Und von daher war schon auch der Punkt zu sagen, wir möchten auch Standorte mit aufnehmen von vornherein, wo wir Migranten und Migrantinnen speziell ansprechen. […] Und dort haben wir eben dann auch erlebt, dass gerade diese Zielgruppe das Projekt überhaupt nicht annimmt. Und man dort auch alles Mögliche treiben konnte und die das trotzdem nicht angenommen haben. Und das halt auch einer von den Punkten war, wo wir gesagt haben, allein dieses Schaffen von Zugängen und das Angebot von einer Qualifizierung reicht in diesem Fall nicht aus. Das war so die eine Phase.“ (IW Herr W. 2004)

Die Erkenntnis aus der ersten Projektphase führte dazu, in buerger-gehen-online die Migrantenperspektive stärker zu machen. Obwohl es von Anfang an auch Zugangsorte an von Migranten frequentierten Einrichtungen gab, interessierten sie sich so gut wie überhaupt nicht dafür. Genau wie unter den deutschen Bürgern Esslingens herrscht bei den Migranten vielerorts Skepsis gegenüber dem Projekt. Während buerger-gehen-online auf der einen Seite als best-practice Beispiel deutschlandweit für Aufsehen sorgt, wird es aus Teilen der Bevölkerung kritisch betrachtet. Ein 40jähriger Esslinger mit griechischen Wurzeln sagte mir, all diese Maßnahmen seien nur dazu da, die Migranten anpassen zu wollen. Seiner Meinung nach gingen all die Projekte an den Migranten vorbei weil sie nicht wirklich berücksichtigen, was deren Standpunkt ist. Der kritischen Meinung stehen aber auch positive Sichtweisen gegenüber. So äußerte sich eine 45jährige Türkin, die regelmäßig den Bürger-PC im Ausländerbüro nutzt, sehr positiv über das Projekt. Ihrer Meinung nach müsse es viel mehr Möglichkeiten dieser Art geben, denn das bringe die Leute raus aus ihren eigenen Kreisen. Außerdem erfährt man viele neue und interessante Dinge, die man für sich nutzen kann. Gleichzeitig sagte sie aber auch, dass sie ja „gebildet“ und der Meinung

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sei, dass man für bildungsferne (türkische) Migranten ein ganz spezielles Angebot schaffen müsse. Aufgrund von Meinungen wie die der beiden Migranten wurde Herrn W. klar, dass es besonderer Anstrengungen und Maßnahmen bedarf, um den Bürger-PC und digitale Medien für Migranten in Esslingen attraktiver und zugänglicher zu gestalten. Ein entscheidender Schritt war, dass zwischen buerger-gehenonline und dem Ausländerbüro eine Verbindung entstanden ist. Durch die Zusammenarbeit von Herrn W. mit dem Leiter des Ausländerbüros, Herrn S., bekam buerger-gehen-online entscheidende Impulse im Hinblick auf die Migrantenperspektive. „Der zweite Aspekt war der, dass wir dann auch im Ausländerbüro Fuß gefasst haben, wo ich mir jetzt im Moment gar nicht mehr so 100%ig sicher bin, in welcher Reihenfolge da wer auf wen und wie zugegangen ist. Aber ein Teil war sicher, dass der Herr S. von sich aus auch formuliert hat, er hätte gerne auch so einen Bürger-PC bei sich in diesem Bereich, um einfach da noch mal zu kucken. […] Und dass man dann gekuckt hat, wie kann man diese türkischen Senioren z.B. dann da auch mit an dieses Projekt mit heranführen, wie weit kann man eventuell auch türkische Senioren dann auch als Mentoren nutzen. Das war so diese eine Schiene. Und da im Prinzip schon auch die Überlegung, gut, was können wir jetzt auch tun mit diesem offenen Ansatz von bürger-gehen-online, um so ein Projekt, um auch diese Zielgruppe zu erreichen.“ (IW Herr W. 2004)

Ein Ergebnis hinsichtlich des Akteur-Netzwerkes in Esslingen ist, dass durch die Verbindung zwischen Herrn W. und Herrn S., also zwischen buerger-gehenonline und dem Ausländerbüro, wichtige „Übersetzungsprozesse“ stattgefunden haben. In diesen versuchen Protagonisten wie Herr W. Mitstreiter für ihre Idee zu gewinnen. Aus seinem Kontakt zum Ausländerbüro und den Verhandlungen mit Herrn S. gingen Impulse hervor, die die Zielgruppe Migranten fördern sollen. Diese Absicht spielt in der „Übersetzung“ eine zentrale Rolle als Kern seines Vorhabens. Herr W. nennt die Zielsetzung explizit. „Und wenn das Projekt das Ziel hat, Zugangsbarrieren abzubauen, dann müssen wir uns natürlich auch ganz massiv darüber Gedanken machen, wie wir denn speziell diese Zielgruppe erreichen und aber gleichzeitig Tatsache war, dass wir mit den klassischen Methoden, die wir von bürger-gehen-online in einem ganz offenen Ansatz hatten, eigentlich diese Gruppe nur ganz schwer erreichen.“ (IW Herr W. 2004)

Gleichzeitig offenbart er auch das Dilemma, in dem sich buerger-gehen-online befindet, denn durch den bisherigen Ansatz wurde das erstrebte Ziel verfehlt.

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Dem Projekt war es bis dato nicht gelungen, die Gruppe der Migranten in umfangreichem Maße zu erreichen. Wie schon angedeutet, baute Herr W. deshalb auf die Zusammenarbeit mit dem Ausländerbüro, um Angebote zu entwickeln, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Migranten zugeschnitten sind. An der Stelle zeigt sich nicht nur eine wichtige Verbindung im Rhizom (vgl. Theoriekapitel), sondern auch eine entscheidende Phase im „Prozess der Übersetzung“. Callon (2006 b: 146-164) hat diese in die „vier Momente der Übersetzung“ unterteilt. Im Aufbau der Verbindung zwischen Herrn W. und dem Ausländerbüro wird die erste der Phasen, die „Problematisierung“, sichtbar. Darunter versteht man alle Praktiken und Prozesse, die ein Akteur wie Herr W. durchläuft, um auf eine bestimmte Problematik oder ein Phänomen aufmerksam zu machen. In der Verbindung zwischen Herrn W. und dem Ausländerbüro äußert sich der Auftakt des Übersetzungsprozesses darin, dass er in den Gesprächen mit Herrn S. immer wieder darauf aufmerksam machte, dass die digitale Integration von Migranten unbedingt vorwärts gebracht werden muss. Es geht ihm darum, einen Zustand herzustellen, in dem er die Akteure aus dem Ausländerbüro für das eigene Vorhaben gewinnen möchte. Er will Herrn S. auch davon überzeugen, dass er selbst auf das besagte Problem in seinen Netzwerken aufmerksam macht und sich engagiert. Das Ziel des Vorgehens ist es, durch das eigene Handeln und Kommunizieren die eigenen Standpunkte und Ideen so weit in den Fokus von Herrn S. zu bringen, dass er unweigerlich auf das Problem stößt und sich damit konfrontiert. Herr W. will erreichen, dass das Problemfeld der digitalen Integration von Migranten bei den Akteuren aus dem Ausländerbüro unübersehbar wird. Dieser Phase im Übersetzungsprozess schließt sich das so genannte „Interessement“ an (Callon 2006 b: 151-156). In der Phase versuchen die Protagonisten, die Situation zu stabilisieren, die sie in der Problematisierung angestoßen haben. Potentielle Mitstreiter sollen dadurch wirkliches Interesse an dem Vorhaben gewinnen. In der Praxis zeigt sich das in den Bemühungen von Herrn W., Herrn S. und die Akteure des Ausländerbüros für seine Ideen zu „interessieren“. „Interessiert sein bedeutet, dazwischen zu sein (inter-esse), d.h. zwischengeschaltet zu sein“ (ebd. 152). Genau die Strategie verfolgte Herr W., um das Ausländerbüro zur Kooperation im Rahmen von buerger-gehen-online zu gewinnen. Teil des Vorgehens ist es, die potentiellen Mitstreiter immer weiter in das eigene Vorhaben zu integrieren. Herr W. versuchte durch das Angebot an Herrn S., einen Bürger-PC im Ausländerbüro zu etablieren, ihm eine feste Rolle zuzuweisen. Callon (2006 b: 156-159) nennt die Taktik in Übersetzungsprozessen „Enrolment“. Es geht darum, den Mitstreitern zunehmend eine Rolle im eigenen Vorhaben zuzuweisen. Das tut Herr W., wenn er Herrn S. die Verantwortung für einen Bürger-PC im

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Ausländerbüro überträgt. Es entsteht eine Allianz, in der die beiden fortan gemeinsam für die digitale Integration von Migranten in Esslingen eintreten. Im Sinne der vierten Phase in Übersetzungsprozessen, der „Mobilisierung“ (ebd.: 159-164), treten sie nun gemeinsam auf, um weitere Mitstreiter für die digitale Integration von Migranten zu gewinnen. Wie das in der Praxis aussieht und was daraus entsteht, zeige ich in den folgenden Abschnitten. Bisher habe ich in dem Kapitel erörtert, wie im Ausländerbüro und im Projekt buerger-gehen-online Strategien ins Leben gerufen werden, die die digitale Integration von Migranten in Esslingen im Blick haben. Es wird deutlich, dass ein Netz aus Akteuren und Einrichtungen, sowie Übersetzungsprozesse eine zentrale Rolle beim Zustandekommen von Maßnahmen wie buerger-gehenonline spielen. Im Folgenden zeige ich, wie durch die Netzwerkarbeit von Akteuren wie Herrn W. und Herrn S. in einem multiethnischen Stadtteil eine weitere Maßnahme in Esslingen entstanden ist.

S TADTTEILORIENTIERTE DIGITALE I NTEGRATION IN DER P LIENSAUVORSTADT In den vergangenen Abschnitten habe ich die wichtige Bedeutung der Vernetzungspraxis im Umfeld des Ausländerbüros und des Projekts buerger-gehenonline (bgo) dargestellt. Eine wichtige Rolle für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielen in den Netzwerken Übersetzungsprozesse. Der Bürger-PC im Ausländerbüro ist ein gutes Beispiel für diese Praxis. Es wird deutlich, wie sich die Akteure, ihre Ziele und Handlungen durch das Eintreten in eine neue Assoziation, den Bürger-PC im Ausländerbüro, verändert haben.9 Die von den assoziierten Akteuren angestoßenen Maßnahmen, Entwicklungen und Strategien haben sich zu einem weiteren Ansatz der digitalen Integration von Migranten in Esslingen verdichtet. Ausgehend von Herrn W. und seinen Erfahrungen aus dem Projekt buerger-

9

Wie ich bereits mehrfach deutlich gemacht habe, stammt das Konzept der Assoziation aus dem Repertoire der Akteurs-Netzwerktheorie (ANT). Demnach konzeptualisiert die ANT „Wirklichkeit als Assoziation von Einheiten, den menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren / oder auch: den Aktanten, die im Namen Latours Bezugnahme auf die Greimas’sche, strukturalistische Erzähltheorie aufbewahren“ (Bonz 2007: 2). Assoziationen sind demnach „die in einer gegebenen Situation anwesenden Aktanten“ (ebd.) (vgl. Latour 2006 b).

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gehen-online, von Herrn S. neuer Medienpraxis im Ausländerbüros und den Bestrebungen des Vereins Ausländer und Deutsche gemeinsam e.V. wurde für den multiethnischen Stadtteil Pliensauvorstadt ein neues Projekt entwickelt. Es hat zum Ziel, dort neue Medien als Werkzeug zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund zu nutzen. Die Untersuchung des Vorhabens war neben buerger-gehen-online und den Aktivitäten im Ausländerbüro mein dritter Forschungsschwerpunkt in Esslingen. Im Folgenden stelle ich den Stadtteil dar, in dem die Aktivitäten verortet sind. Ich gehe auf die Diskurse ein, die inner- und außerhalb der Pliensauvorstadt dazu beitragen, dass der Stadtteil in den Fokus der aktiven Integrationsarbeit rückte. In einem zweiten Schritt erörtere ich die Rolle der beteiligten Akteure, die Inhalte der Praxis und ihre Ziele. Ich lege offen, wie und warum ihre Verbindungen zueinander zu der Maßnahme geführt haben. Ich analysiere also nicht nur ihre Assoziationsmethoden, sondern stelle die Praxis im Rahmen der theoretischen Überlegungen der Studie dar. Gleichzeitig untermauere ich dadurch meine These, wonach Beziehungsnetzwerke von Akteuren, die für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten verantwortlich sind, rhizomartigen Charakter haben und den Dynamiken von Assoziationen gehorchen (vgl. Theoriekapitel). Die Pliensauvorstadt liegt südöstlich der Altstadt und ist vom Stadtzentrum durch den Neckar getrennt. In der Vergangenheit, als Esslingen noch eine Freie Reichsstadt war, gehörte das Gebiet nicht zu Esslingen, sondern zu Württemberg. Heute wie damals erreicht man die Gegend vom Zentrum aus in einem etwa zehnminütigen Fußmarsch über die ehemalige Zollbrücke, die auf dem Bild auf der kommenden Seite zu sehen ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte sich die Pliensauvorstadt zu einem Arbeiterstadtteil. In Gesprächen mit alten Esslingern fand ich heraus, dass es vor allem „Eisenbahner“, also Angestellte der Deutschen Bundesbahn waren, die dort wohnten. Bis heute leben einige von ihnen in der „Vorstadt“, wie man in Esslingen auch gerne sagt. Sie sind längst im Rentenalter. Viele von ihnen zogen jedoch aus dem Stadtteil weg, denn sie fühlten sich nicht mehr „heimisch“ und finden dort heute kein für sie angenehmes Wohnumfeld vor. Es gibt keine Einrichtungen für ältere Menschen wie Seniorentreffs, kaum Einkaufsmöglichkeiten und insgesamt hat es eine wenig seniorenfreundliche Infrastruktur vorzuweisen.

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Abbildung 11: Zollbrücke, die in die Pliensauvorstadt führt

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

Aber nicht nur im Hinblick auf ältere Menschen ist die Pliensauvorstadt ein strukturarmer Stadtteil. Es gibt lediglich eine Schule, einen Sportplatz und einige Einzelhändler. Auch Cafés, Kneipen und sonstige Freizeitangebote sind rar gesät. Was nahezu völlig fehlt, ist ein Netzwerk aus Vereinen, Bürgerinitiativen und sonstigen Einrichtungen der Zivilgesellschaft, die sich für eine Verbesserung der lokalen Wohnsituation einsetzen. Allerdings sind in den letzten Jahren einige Initiativen entstanden, die sich direkt an die Bürger richten. Ein gutes Beispiel ist das „Vorstadtstudio Pliensau“ in der Karl-Pfaff Straße. Es entstand im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ und ist eine Art Koordinationszentrum für soziale Projekte auf Stadtteilebene. Eine weitere Einrichtung, die sich im Stadtteil befindet, ist die Jugendbildungsstätte des Internationalen Bundes, einer bundesweiten NGO. Dort ist ein Internat untergebracht, in dem Jugendliche aus vielen Ländern wohnen, die gerade eine Ausbildung machen. In den letzten 20 Jahren hat sich die Bevölkerungsstruktur im Stadtteil stark verändert. Vom Arbeiterstadtteil hat sich die Pliensauvorstadt zu einem multiethnischen Lebensumfeld entwickelt. Marie Gillespie (1995) beschreibt in ihrer medienethnologischen Studie Televison, Ethnicity and Cultural Change Gebiete wie diese als „multiethnic“. Die Zusammensetzung der Bevölkerung aus Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft trifft auch auf die Pliensau-

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vorstadt zu. Dort leben heute etwa 7000 Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Neben einer deutschen Minderheit setzt sich die Stadtteilbevölkerung aus Menschen aus den klassischen „Gastarbeiterländern“ Türkei, Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien, Italien und Spanien, sowie aus einigen afrikanischen und vielen anderen Ländern der Welt zusammen. Abbildung 12: Straßenzüge in der Pliensauvorstadt

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

Das Bild zeigt zwei typische Straßenzüge in der Pliensauvorstadt. Auf der linken Seite sind die klassischen alten „Eisenbahnerhäuser“ zu sehen. Diese genauso wie die zweistöckigen Reihenhäuser im Vordergrund auf der rechten Bildseite prägten den Stadtteil in den Nachkriegsjahren. In der Mitte auf der rechten Hälfte befinden sich die fünfstöckigen Mehrfamilienhäuser, die gebaut wurden, als die Bevölkerungszahl im Stadtteil zunahm. In den siebziger Jahren wurden schließlich die Hochhäuser errichtet, die im Bildhintergrund gen Himmel ragen. Neben den erwähnten pensionierten Rentnern, die oft Deutsche sind, leben heute hauptsächlich Familien unterschiedlicher kultureller Herkunft im Stadtteil. Nicht selten wohnen sie in einem Mehrgenerationenhaushalt. Die Menschen in der Pliensauvorstadt haben oft geringe Bildung und wer keinen Arbeitsplatz in den vie-

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len Firmen der Region hat, ist arbeitslos. Das betrifft in besonderem Maße die jüngeren Generationen, die es schwer haben, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Besonders davon betroffen sind junge Männer mit Migrationshintergrund, die einen schlechten oder keinen Schulabschluss haben. Aufgrund der mangelnden Infrastruktur bietet der Stadtteil kaum Freizeitangebote für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie zieht es in ihrer Freizeit deshalb zunehmend ins Stadtzentrum Esslingens.10 In der öffentlichen Esslinger Rede über die Pliensauvorstadt handelt es sich bei ihr aus der Sicht vieler Bürger und Politiker um einen so genannten „Problemstadtteil“. In politischen und öffentlichen Diskussionen wird deshalb eine verstärkte Integration in der Pliensauvorstadt gefordert. Ein Beispiel aus dem Zukunfts-Projekt „Stadt 2030 Esslingen-Pliensauvorstadt“11 verdeutlicht, dass in Esslingen die Angst vor einer zunehmenden Segregation umgeht. Im Forschungsbericht zu dem Praxisprojekt, das die Bürgerbeteiligung im Stadtteil fördern soll, heißt es: „Es muss dafür Sorge getragen werden, dass sich die städtischen Lebensbedingungen nicht noch weiter auseinander entwickeln, als dies gegenwärtig zu beobachten ist. Darüber hinaus muss durch gezielte Förderung den fortschreitenden Segregationstendenzen entgegengewirkt werden.“ (Forschungsverbund Esslingen 2030 2004: 9)

Die Studie weist auf die Angst hin, dass veränderte Lebensbedingungen zu einer Verschlechterung der Lage von Bewohnern in der Pliensauvorstadt führen könnten. Es wird befürchtet, dass sich Migranten zunehmend von der Gesellschaft abkoppeln und in so genannte „Parallelgesellschaften“ abtauchen.

10 Einen guten Überblick über die soziale, kulturelle und ökonomische Situation der Bewohner und die Infrastruktur in der Pliensauvorstadt findet sich in einer umfangreichen Studie im Rahmen der „Stadt 2030“ (Forschungsverbund Esslingen 2030 (2004). 11 „Das Projekt ‚Stadt 2030‘ verfolgt in der Stadt Esslingen am Neckar, und hier exemplarisch im Stadtteil Pliensauvorstadt, unter dem Motto ‚Bürger sein heute – Bürger sein 2030‘ das Ziel, zusammen mit Bewohnern des Stadtteils sowie mit Experten aus dem Stadtteil und der Gesamtstadt (Politik und Verwaltung) für drei verschiedene Bereiche der Stadt bzw. Lebensbereiche Leitbilder und Zukunftsvisionen für das Jahr 2030 zu entwickeln. Die drei Bereiche umfassen die ‚physischen Strukturen‘, die ‚sozial-kulturellen Strukturen‘ und die ‚politischen und Verwaltungsstrukturen‘“ (Weeber et al 2002).

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Auch ein Pressegespräch mit der Lokaljournalistin Frau D., das sie während der Feldforschung mit mir führte, wies zunächst in diese Richtung. Sie ist bei der Esslinger Zeitung unter anderem „für die Pliensauvorstadt zuständig“. Die studierte Kulturwissenschaftlerin berichtete mir von vielen Gesprächen, die sie in einer Schule im Stadtteil führte. Eine ihrer Informantinnen, eine Lehrerin, beklagte die mangelnde Teilnahmebereitschaft der Eltern von „Migrantenkindern“ an Elternabenden. Ganz im Sinne einer auf Objektivität bemühten Journalistin stellte sie aber auch die Gegenperspektive dar. Sie erklärte mir, dass man an der Schule den Grund der mangelnden Teilnahme herausgefunden hat. Offensichtlich kamen die Eltern nicht zu Veranstaltungen in der Schule, weil sie Angst hatten, aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse nichts zu verstehen. Offenbar schämten sie sich und blieben deshalb den Elternabenden fern. Getrieben durch diese Erkenntnis wurden in der Pliensauvorstadt gezielt Sprachkurse für Mütter angeboten. Ziel war, sie so weit im Deutschen zu unterrichten, dass sie in der Lage sind, sich zu verständigen. Frau D. zur Folge stieg die Teilnahme an Elternabenden durch die Maßnahme stetig. Folgt man den Ausführungen der Journalistin, stehen in der öffentlichen Rede über den Stadtteil den „Schreckengespenstern“ viel versprechende Tendenzen gegenüber. Die Kennerin der Pliensauvorstadt konstatiert dem Stadtteil, „dass er kein typisches Migrantengetto ist“.12 Trotz aktueller Diskussionen in Deutschland über Gettoisierung und Parallelgesellschaften bezeichnet sie Esslingen und die Pliensauvorstadt als nicht zu der Problematik gehörend. Viel mehr ist sie der Meinung, dass nicht nur in Esslingen, sondern auch im Großraum Stuttgart Migranten als vergleichsweise „gut integriert“ betrachtet werden können. „Auch wenn es noch viele Anstrengungen zu unternehmen gilt!“, wie sie ihrer Perspektive noch hinzufügt. Eine ähnliche Einschätzung zur Pliensauvorstadt hat Frau Ü. vom Ausländerbüro. Mehr noch als die Journalistin ist sie eine wirkliche Kennerin des Stadtteils. Sie wohnt dort und hat viele Kontakte im Gebiet. Sie gab mir während der Feldforschung das Gefühl, sich dort wirklich gut auszukennen und zu wissen, wie die Menschen dort „ticken“. In Bezug auf die Bewohner in der Pliensauvorstadt, repräsentiert sie gut den Stadtteil, denn ihr Leben weist eine interessan-

12 Der Begriff „Migrantengetto“ und seine Synonyme wie etwa „Parallelgesellschaft“ haben in Deutschland seit spätestens Mitte der 1990er Jahre Hochkonjunktur. Nach den Vertretern der „Leitkulturdebatte“, die meist aus dem politisch konservativen Lager kommen, sind all jene multiethnischen Lebensumfelder „Gettos“, deren soziale und kulturelle Praxis sie nicht verstehen, also Orte, in denen ihnen die Macht entglitten ist.

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te multiethnische Biographie auf. Nicht nur aufgrund der Vielfalt, die Frau Ü. in sich trägt, lebt sie gerne in der Pliensauvorstadt. Sie schätzt dort den Kontakt zu Menschen mit anderer kultureller Herkunft. Es dominieren zwar die Beziehungen zu Menschen mit türkischem Hintergrund. Oder besser gesagt, „kennt sie sich mit den Türken am besten aus“, wie sie selbst sagt. Trotzdem hat sie auch Kontakt zu Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen. Sie reflektiert ihre Beziehungen und die ihrer Umwelt. In einem analytischen Blick schilderte sie mir auch einige kritische Gegebenheiten und Entwicklungen im Stadtteil. An einem der Tage, an dem sie mir Esslingen zeigte, mir Geschichten zu verschiedenen Orten erzählte und viel aus ihrem aufregenden Leben berichtete, sagte sie mir, „dass sie schon oft mal von den älteren Türkinnen genervt sei“, denn die sprechen schlecht Deutsch und unterhalten sich immer nur auf Türkisch. Ihrer Meinung nach sollten alle, die hier leben, gut Deutsch sprechen, alleine schon deswegen, um sich durch mangelnde Sprachkompetenz nicht selbst von vornherein ins gesellschaftliche Abseits zu stellen. Sie geht deshalb auf diejenigen zu, die sich weigern oder Angst haben, besser Deutsch zu lernen, um ihnen klar zu machen, dass das zu ihrem eigenen Nachteil ist. In ihrer Tätigkeit als Sozialberaterin „bekommt sie ja mit“, wie nachteilig es ist, wenn man beispielsweise für die Auskunft bei der Krankenkasse einen Dolmetscher braucht. Außerdem hindert das viele daran, Kontakt zu Menschen außerhalb der eigenen Gruppe aufzubauen. Bei den jüngeren Generationen sieht sie die Problematik hingegen viel weniger. Ihre eigenen Töchter haben Kontakt zu Deutschen und zu Kindern mit anderer kultureller Herkunft. Das ist bei vielen anderen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen genauso, wie sie mir schilderte. Außerdem sind die meisten der Jüngeren in Esslingen aufgewachsen und haben Deutsch spätestens in der Schule gelernt. In ihrer Gesamteinschätzung über die Pliensauvorstadt kommt sie zu dem Urteil, dass sie nicht nur selbst gerne dort lebt, sondern auch die Menschen, die sie dort kennt. Da sie nicht nur im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit, sondern auch als lokale Streitschlichterin, Übersetzerin und als Privatperson im Stadtteil unterwegs ist, ist sie auch eine wichtige kulturelle Vermittlerin, die in dem von mir untersuchten Projekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt eine wichtige Rolle spielt. Darauf komme ich in Kürze zu sprechen. Abschließend möchte ich zur Situation der Pliensauvorstadt sagen, dass trotz der Sichtweisen von Kennern des Stadtteils in der öffentlichen Rede über Migranten in Esslingen auffällt, dass ihre Lebenswelten besonders stark problematisiert werden. Meist wird ein pauschales und essentialistisches Bild geschaffen, in dem nur noch von „den“ Migranten gesprochen wird. Auffallend ist, dass der

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Prozess der Essentialisierung aus vielen Richtungen geschieht. Also nicht nur aus der Sicht einer relativ uninformierten lokalen Öffentlichkeit, sondern auch aus der Sicht von Politikern, Förderantragstellern und teilweise sogar aus der Position der Migranten selbst. Hier kommt die Ambivalenz von neuen Medien und Technologien, wenn sie als Politikstrategie in multiethnischen Settings eingesetzt werden, zum tragen. Einerseits bergen die Technologien in der Tat Befreiungspotentiale für Migranten. Die Aneignung von Wissen über Computer, Internet & Co durch die Bürger selbst reduziert die Überlegenheit des berufsmäßig Wissenden in der Bürokratie. Insofern kann man annehmen, dass der Aspekt „Herrschaft kraft Wissen“, der laut Weber jeder bürokratischen Verwaltung innewohnt (Weber 1980: 129), heute unter den Bedingungen der Stärkung der Zivilgesellschaft durch neue Medien und Technologien zu einem „Herrschaftsverlust kraft Wissen“ (Stehr 2000: 136) führt. Es ist aber auch eine Stärkung bürokratischer Herrschaft zu erwarten: Bezogen auf die von mir untersuchten staatlichen Maßnahmen zur digitalen Integration ist zu beobachten, dass Projektgelder zur Förderung der Maßnahmen ganz gezielt an solche Gruppen gegeben werden, die erst im Kontext der Hilfsmaßnahmen als zusammengehörig, weil bedürftig, definiert werden. So ist es zu erklären, dass gezielt Computerkurse für „Türken“, „Russen“ oder „afrikanische Frauen“ angeboten werden. Die Maßnahmen schaffen in ihrer Umsetzung erneute Ausgrenzungspotentiale, indem hier Personen in den Genuss von Förderung kommen, die als „ethnisch“ definiert werden oder sich so definieren – zumindest in den Förderanträgen. Der Prozess ist auch in dem Projekt zu finden, das ich im folgenden Abschnitt genauer darstelle. Schon im Titel „Digitale Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt“ werden alle Menschen mit Migrationshintergrund in dem Stadtteil „ethnisch“ als Zielgruppe des Projekts definiert. Intendiert oder nicht läuft hier ein Ethnisierungsprozess, der statt Grenzen aufzulösen dazu neigt, alte und neue Grenzen zu verstärken und damit fortzuschreiben. In dem Fall die Grenze zwischen der „deutschen Mehrheit“ und der „ethnischen Minderheit“. Der Wettbewerb um staatliche Mittel führt letztlich dazu, dass sich Gruppen als marginal und benachteiligt definieren müssen, um Gelder zu erhalten (Anthias, Yuval-Davis 1992). Das trifft vor Ort durchaus mit Bestrebungen in multikulturellen Settings zusammen, „traditionelle“ Zusammengehörigkeit zu erfinden oder zu stärken (Hobsbawm, Stranger 1983). Die neue Essentialisierung13 von

13 Die ethnologisch-soziologische Migrations- und Diasporaforschung hat sich wesentlich mit diesen politisch-strategischen Momenten beschäftigt, ebenso wie einige Autoren aus den Cultural Studies (z. B. Brah 1996, 1999; Modood, Werbner 1997 a, 1997

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Kultur und Community wird zu einer strategischen Ressource, zu einer situativ anwendbaren „nützlichen Fiktion“, wie Baumann (1996; 1997) in einer Studie über Identität in einem Londoner multiethnischen Vorort nachwies. Eine Fiktion, die in der Esslinger öffentlichen Rede über Migranten als „Problemgruppe“, „sozialer Brennpunkt“ oder „Parallelgesellschaft“ gut funktioniert und quasi als Wirklichkeit angenommen wird. In den letzten Abschnitten habe ich auf Basis meiner ethnographischen Daten die Pliensauvorstadt und die Diskurse über sie rekonstruiert, um deutlich zu machen, warum genau dort ein Projekt zur digitalen Integration von Migranten initiiert und durchgeführt wurde. Betrachtet man die letzten Jahre, dann fällt auf, dass die Pliensauvorstadt regelrecht ins Visier von Initiativen, Projekten, Politikern und Forschern geraten ist. Ihnen ist gemeinsam, dass sie dort aktive Integrationsarbeit leisten oder im und über den Stadtteil forschen. Ein Projekt, das darauf abzielt, mit Hilfe neuer Medien und Technologien Integrationsarbeit zu leisten, geriet schließlich in mein Visier. Es handelte sich um ein „LOSMikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt“, wobei LOS für „Lokales Kapital für Soziale Zwecke“ steht. Es beinhaltet ein Förderprogramm des europäischen Sozialfonds (ESF) und fördert Maßnahmen in sozialen Brennpunkten.14 Mit verhältnismäßig geringen Fördergeldern unterstützt der ESF so genannte „Mikroprojekte“ zur beruflichen Chancenverbesserung und sozialen Integration der Bevölkerung in benachteiligten Stadtteilen. Auf der offiziellen Internetplattform von LOS heißt es dazu: „Mit LOS sollen soziale und beschäftigungswirksame Potenziale vor Ort aktiviert werden, die durch zentrale Programme wie die Regelförderung des Europäischen Sozialfonds nicht erreicht werden. Mit Mikroprojekten von bis zu 10.000 € werden lokale Initiativen angeregt und unterstützt. Die Mittel müssen nicht kofinanziert werden.“ (Webportal LOS)

Auf nationaler Ebene wird die Fördermaßnahme des ESF als „Bundesprogramm“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführt. Durch die Aufnahme der Pliensauvorstadt in die Akti-

b; Gilroy 1987; Hall 1996a, 1996b). – Essentialismen negieren die Relevanz von verschiedenen Facetten der Identität und Identifizierung mit der Gemeinschaft, z. B. neben ethnischen Momenten ebenso solche, die nach Gender und sozialer Schicht differenzieren etc. (Modood 1997). 14 Die von mir untersuchte Pliensauvorstadt ist ein Fördergebiet, in dem thematisch völlig verschiedene Mikroprojekte durchgeführt werden (www.los-esslingen.de).

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on standen dem Stadtteil 80 000 Euro für Mikroprojekte zur Verfügung. „Durch diese sollen die Beschäftigungschancen für am Arbeitsmarkt benachteiligte Menschen sowie ihre soziale Integration erhöht werden“ (Dörmann 2004 b, Esslinger Zeitung). Pro Mikroprojekt wurden maximal 10000 Euro vergeben. Gemeinsam ist den 13 geförderten Maßnahmen, dass sie soziale, berufliche und kulturelle Integrationsprozesse in der Pliensauvorstadt in Gang setzen und unterstützen wollen. Zielgruppe der Mikroprojekte sind sozial schwache Menschen. Ihre Benachteiligung läuft entlang einer Linie von soziokulturellen Kategorien wie Alter, Geschlecht, kulturelle Herkunft, Beruf und Bildung. Wie sich im Verlaufe meiner Forschung herausstellte, basieren die Projektansätze zur Steigerung lokaler, sozialer und kultureller Kohärenz auf bereits vorhandenen lokalen Netzwerken. Das betont auch der LOS-Projektkoordinator und Sozialplaner Stephan Schlöder, der in der Esslinger Zeitung wie folgt zitiert wird: „Hier kommen die positiven Strukturen zum Tragen, die sich über einen längeren Zeitraum im Rahmen eines überaus vielfältigen und bunten Beteiligungsspektrums der Menschen und Akteure in der Pliensauvorstadt entwickelt haben und die nun genutzt werden konnten“ (Dörmann 2004 b, Esslinger Zeitung). Ausgehend von den bereits vorhandenen Strukturen zielen die einzelnen Mikroprojekte auf unterschiedliche Schwerpunkte ab. Thematisch reicht das Repertoire von der „Verbesserung der Arbeitsplatzchancen“ über „Beratungsangebote“ bis hin zur „Vernetzung der Bürger im Stadtteil“. Es gibt Maßnahmen zur Schuldnerberatung, Elternschulen, Jobbörsen, sozialem Training und viele mehr. Auf der lokalen LOS-Webseite finden sich kurze Informationen zu einigen der Mikroprojekte, zudem eine Auflistung der lokalen Träger. Die Trägerschaft zu allen 13 Mikroprojekten in der Pliensauvorstadt haben fünf lokale Institutionen übernommen: Ausländer und Deutsche Gemeinsam e.V., CVJM Esslingen, CVJM Jugendtreff Makarios, Internationaler Bund und Tri-Colore. Sie engagieren sich in den Bereichen Chancenverbesserung, Bildungsarbeit, interkultureller Dialog und Integrationsarbeit von benachteiligten Menschen. Durch ihr Engagement möchten sie Gemeinschaftsbildungs- und Integrationsprozesse in Gang setzen und fördern. Die Mikroprojekte richten sich an eine Zahl von jeweils fünf bis zwanzig Bewohner. Wichtige Zielgruppen sind benachteiligte Schüler und Jugendliche, Arbeitslose und Migranten. Vergegenwärtigt man sich die Fördergelder von wenigen tausend Euro für jedes Projekt, wird deutlich, dass die Maßnahmen nur in sehr begrenztem Rahmen durchgeführt werden können. Trotz der geringen finanziellen Unterstützung sind die politisch Verantwortlichen zuversichtlich, dass die Maßnahmen positive Ergebnisse erzielen. Die Esslinger Zeitung fasste das folgendermaßen zusammen:

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„Sozialamtsleiter Bruno Raab-Monz sieht in dem breiten Spektrum der bewilligten Projekte eine große Chance zur Beteiligung derjenigen Gruppen im Stadtteil, die bisher nicht in den Genuss einer direkten Förderung kommen konnten. Nun gelte es, die mit den Projekten verbundenen Chancen zur Qualifizierung für die unterschiedlichen Zielgruppen zu nutzen und sich in den Projekten einzubringen.“ (Dörmann 2004, Esslinger Zeitung)

Auch das „LOS-Mikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt“ ist als integrative Maßnahme in dem Kontext konzipiert. Der Verein Ausländer und Deutsche Gemeinsam e.V. hat als Träger in Kooperation mit dem Esslinger Ausländerbüro und dem Projekt buerger-gehen-online von Februar 2004 bis Juni 2005 daran gearbeitet, ein „niederschwelliges Bildungsangebot“ (Kirst 2005) zu etablieren. Durch den Einsatz neuer Medien sollte die Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt vorwärts gebracht werden. Zielgruppe sind im Stadtteil lebende Migranten, die bei der Entwicklung von Angeboten in die Konzeptfindungsphase mit einbezogen werden. Ein Anliegen ist es, die in der Startphase Einbezogenen als Lotsen zu gewinnen, die in folgenden Projektphasen als Multiplikatoren arbeiten sollen. Durch das Vorgehen wollen die verantwortlichen Akteure von Beginn an die Beteiligung von Migranten an sozialen und kulturellen Prozessen fördern. Da der Verein Ausländer und Deutsche Gemeinsam e.V. als Träger des Projekts in der Umsetzung keine nennenswerte Rolle spielte, verzichte ich hier darauf, ihn genauer darzustellen. Initiatoren, Verantwortliche und Leiter des Projekts sind ohnehin andere.15 Aufmerksam auf das Projekt wurde ich schon vor dessen offiziellem Start im Stadtteil im März 2004. Meine Informanten Herr W. und Herr S. machten mich darauf aufmerksam. Außerdem erfuhr ich, dass auch Frau N. am Projekt beteiligt ist. Den ersten Kontakt zu den Projektteilnehmern hatte ich an einem Abend Anfang März 2004. Eingeladen waren die Bewohner der Pliensauvorstadt und Akteure aus verschiedenen Einrichtungen. Herr W. und Herr S. warben für die Veranstaltung durch persönlichen Kontakt in ihren Netzwerken. Außerdem machte Herr W. mit einem offiziellen Einladungsschreiben auf die Auftaktveranstaltung aufmerksam. Groß hervorgehoben, sozusagen als Ausgangsfrage für die potentiellen Teilnehmer des Projekts, stand in der Einladung folgendes geschrieben: „Das Internet als Integrationsmotor? - Bieten die neuen Medien Chancen, um in

15 Die Praxis, dass Einrichtungen als Träger von Projekten auftauchen, jedoch mit Konzeption, Antragstellung und Umsetzung wenig oder nichts zu tun haben ist nicht selten.

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der Pliensauvorstadt einen zusätzlichen Beitrag zur Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu leisten?“ (EL Material Esslingen 2004). Die Thematik lockte ca. 30 Personen zum konstituierenden Treffen des Projekts. Die Veranstaltung fand in der Pliensauvorstadt in einem Gebäude des Internationalen Bundes statt. Unter den Teilnehmern waren neben den Bewohnern die Projektverantwortlichen, der LOS-Netzwerkkoordinator, der Vorsitzende des Vereins Ausländer und Deutsche gemeinsam e.V., Schulvertreter, ein Vertreter der Esslinger Beschäftigungsinitiative und weitere Akteure verschiedener Einrichtungen. Anwesend ist Herr W., der an dem Abend als Projektleiter vorgestellt wurde. Außerdem sind Herr M. von der Diakonie, einige Bewohner der Pliensauvorstadt und Frau Ü. vom Ausländerbüro, die durch ihre vielen Kontakte im Stadtteil dazu beigetragen hat, dass viele Bewohner zu dem Treffen gekommen sind. Außerdem sind die drei Freundinnen von Frau Ü., Frau F. Frau A. und Frau B., die im Stadtteil wohnen, dabei. Natürlich ist auch der Ausländerbeauftragte Herr S. da, der an der Konzeption des Projekts beteiligt war und in Folge dessen auch viel Werbung für das Vorhaben machte. Neben ihm sitzt an diesem Abend Frau C., eine Bewohnerin, die sich im Projektverlauf als sehr aktive Teilnehmerin herausstellte. Auch die Computerlehrerin vom Ausländerbüro und dem Projekt buerger-gehen-online, Frau N. ist da, die im Projekt nicht nur konzeptionell und inhaltlich mitarbeitete, sondern auch Herrn W. bei seiner Arbeit unterstützte. Vier von den anwesenden Akteuren und ihre Verbindungen zueinander sind für die Entwicklung und Umsetzung des LOS-Mikroprojekts besonders wichtig: Herr W., Frau Ü., Herr S. und Frau N.. Das zeigte sich bereits in der Konzeptionsphase. In dem Abschnitt der Studie beobachtete ich einen zentralen Moment, der die These meines Buches stützt. Demnach finden die sozialen und kulturellen Praktiken bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in rhizomartigen Beziehungsnetzwerken von Akteuren statt (vgl. Theoriekapitel). Dem zur Folge entstehen politische Strategien nicht in einem hierarchisch vorgegebenen Feld, in dem gewisse Akteure mehr und andere weniger Einfluss auf die Entwicklung haben. Vielmehr entstehen neue Strategien der digitalen Integration durch das Zusammenspiel zwischen vielen Akteuren und Einrichtungen. Aus diesen Verbindungen heraus ergeben sich die sozialen, kulturellen und politischen Tatsachen, die für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ausschlaggebend sind. Bruno Latour argumentiert an der Stelle, dass vor allem die Methoden ausschlaggebend sind, mit deren Hilfe sich Akteure assoziieren und neue Verbindungen zueinander eingehen (vgl. Latour 2006 b: 195-196). In meiner Studie spielen die Verbindungen zwischen Herrn W., Frau N., Herrn S. und Frau Ü. eine wichtige Rolle. Durch ihre Assoziierungen zueinander entstand ein

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Beziehungsnetzwerk, durch das ein Wissenstransfer angestoßen wurde, in dem Frau Ü. und Herr S. aus dem Ausländerbüro ihr Wissen über die aktuelle multiethnische Lebensrealität der Menschen in der Pliensauvorstadt einbrachten. Frau Ü. hat nicht nur aufgrund ihrer Arbeit als Sozialberaterin viel Wissen. Auch als „grundsätzlich integrativ denkender Mensch“, wie sie selbst sagt, kennt sie sich mit den Verhältnissen in der Pliensauvorstadt bestens aus. Sie konnte durch ihr Expertenwissen und ihre vielfältigen Kontakte schon in der Entwicklungsphase wichtige Informationen und Ansprechpartner ins Projekt einführen, die im Vorfeld als potentielle Teilnehmer angesprochen wurden. Das fußt darauf, dass sie im Stadtteil lebt und bei den Bewohnern viel Vertrauen und Ansehen genießt. So stellte sie Kontakt zwischen Herrn W. und den Bewohnerinnen Frau F. und Frau B. her. Sie wurden zu Teilnehmerinnen im Projekt in der Pliensauvorstadt. Genau wie Frau Ü. war auch Herr S. in der Konzeptionsphase sehr aktiv, indem er versuchte, bei möglichst vielen Akteuren Werbung für das Vorhaben zu machen. Wie bei Frau Ü. flossen aber nicht nur seine Kontakte mit in die Entwicklung des Projekts ein, sondern auch seine Ideen und Vorstellungen zum Konzept der Integration. Auffallend ist, dass sich die beteiligten Akteure schon in der Konzeptionsphase intensiv mit dem Integrationsbegriff auseinandergesetzt haben. Das Ziel des Vorgehens ist, das meist sehr eindimensional gedachte Konzept von Integration „aufzubrechen“, um der Komplexität multiethnischer Lebenszusammenhänge gerecht zu werden. Auf diese Weise fließen verschiedene Positionen zu Integration in die Diskussion ein. So verfolgt Frau Ü. durch die Herstellung der Kontakte zu potentiellen Teilnehmern ihre eigene Strategie. Sie erhofft sich durch die Teilnahme möglichst vieler Stadtteilbewohner am Projekt, dass sie lernen, sich mit Menschen aus anderen kulturellen Kontexten auseinandersetzen, besser Deutsch zu sprechen und selbst beginnen, integrativ zu denken. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, durch die Maßnahme etwas über Computer und Internet zu lernen. Auch das schätzt Frau Ü. sehr positiv ein, wie sie mir erzählte. Neben ihren Standpunkten finden auch Herrn S. Positionen in die Auseinandersetzung mit dem Integrationsbegriff Einzug. Er vertritt nicht nur die Meinung, dass durch das Projekt eine innovative Integrationsarbeit entsteht, sondern auch, dass daraus Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen hervorgehen – ein Mix aus Personen, bei denen nicht nur Migranten, sondern auch Deutsche dabei sind. Hier macht er seinen Standpunkt deutlich, wonach Integration eine „Zweiwegstraße“ ist. In den Verhandlungen über ein geeignetes Integrationskonzept spielt auch Frau N. ein wichtige Rolle. Die Computerlehrerin aus dem Ausländerbüro hat nicht nur jede Menge Erfahrung in der Vermittlung digitaler Fähigkeiten an türkische Migranten, sondern sie vertritt

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zum diskutierten Konzept eine Meinung, die sie in der Entwicklung des Projekts in der Diskussion mit dem Projektleiter Herrn W. stark machte. Von allen Akteuren hat sie die vielleicht stärkste emotionale Bindung zum Integrationskonzept. Das hat sicher damit zu tun, dass sie sich selbst noch sehr gut daran erinnern kann, wie sie mit „Integration“ in ihrem Alltag in Deutschland konfrontiert war und ist. Sie kam 1990 nach Deutschland und kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie „schwer“ es am Anfang für sie war, hier Fuß zu fassen. Eine Hürde war sicherlich die Sprache. Denn durch fehlende Sprachkompetenzen hatte sie nicht nur Probleme im Alltag, sondern auch im Umgang mit Behörden, beim Beantragen eines Stipendiums und bei der Suche nach einem Nebenjob. Trotzdem gab es zu Beginn ihres Lebens in Deutschland auch viele andere Gründe, die es für sie schwer machten, Kontakt zu Deutschen zu finden. Auch das allmähliche Lernen der Sprache in Kursen machte die Dinge nicht unbedingt leichter für sie. Wie sie mir im Interview erzählte, war sie in der Anfangszeit sehr oft traurig weil sie sich sehr einsam fühlte. „Ich hatte keine Freunde hier und ich habe gesagt, ich weiß nicht, ob ich es schaffe, ich habe fast jeden Tag geweint. Am Anfang wollte ich es ja aber auf einmal fühlte ich mich sehr alleine“ (IW Frau N. 2004). Aufgrund des Traurigseins setzte sie sich damit auseinander, wieder in die Türkei zurückzugehen – ein langer Prozess des Nachdenkens, der jedoch dazu führte, dass sie blieb. In der Folge des Entschlusses tauchte sie tiefer in das Leben in Deutschland ein, setzte sich mit Integration auseinander, studierte, lernte Freunde kennen und heiratete einen Niederländer. Auch ihr Leben weist eine bunte Biographie auf, die, ähnlich wie bei Frau Ü., multiethnisch geprägt ist. Frau N. hat aufgrund ihrer Erfahrungen einen ganz persönlichen Standpunkt zum Integrationskonzept, der sich von den anderen unterscheidet. „Ich finde Integration eigentlich […], dass es nicht der passende Begriff ist. Weil […] er wird immer verwendet, ‚Integration‘, also wenn man von Integration redet wird da immer an Ausländer gedacht, ja?! Also ‚wie‘ integrieren wir die Ausländer? In diese Gesellschaft. Und dann haben sich natürlich, hab ich auch letzte Woche mit Herrn W. besprochen, dass dieser Begriff eigentlich wirklich sehr sparsam verwendet wird.“ (IW Frau N. 2004)

Es ist ihr sehr wichtig, den Begriff „sparsam“ zu verwenden, da er ihrer Meinung nach sehr negativ bei Migranten belegt ist. Aus dem Grund sollte man den Begriff sehr vorsichtig und sensibel verwenden, denn viele Menschen mit Migrationshintergrund, die ihn irgendwo lesen oder hören, bekommen automatisch das Gefühl, dass sie minderwertig sind. Durch die Reflektion der Betroffenen

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werden bei ihnen Fragen aufgeworfen, in denen die Angst verborgen liegt, dass sie unfähig sind und bestimmte Dinge nicht können. „Kann ich mich nicht in diese Gesellschaft integrieren? Ich bin. Die wollen mich integrieren weil ich einfach unfähig bin, ja. Weil ich einfach nicht in der Lage bin, mich selbst zu integrieren und ich bin einfach, ja, manche denken einfach ich bin blöd“ (ebd.). Aus dem Grund kritisiert sie den Titel des LOS-Mikroprojekts, da schon dort der ungeliebte Begriff auftaucht. Sie erzählte, dass sie es schade findet, nicht schon früher in der Entwicklung des Projekts eingebunden gewesen zu sein, da sie sich sonst für einen anderen Titel stark gemacht hätte. Integration ist ihrer Meinung nach etwas, was man „tut“ oder „tun soll“ – und zwar alle, die in der Gesellschaft leben. Es ist eine Praxis, an der alle beteiligt sein müssen, wenn Integration positiv verlaufen soll. „Aber ich denke Integration ist einfach eine Sache, die beide Gesellschaften leisten müssen. Also sowohl die Deutschen als auch die Ausländer. Wenn ein Ausländer sich integrieren will, die Deutschen sich aber nicht auch an ihn anpassen wollen. Was heißt anpassen? Wenn er einfach unfreundlich, oder wenn er einfach verurteilt wird? Wie kann ein Ausländer sich dann integrieren? […] Aber der andere muss es auch akzeptieren. Genauso akzeptieren wie ich, wie ich sein Leben akzeptiert habe. Ich muss ihn akzeptieren und er muss mich akzeptieren. Dann kommt vielleicht richtige Integration.“ (Ebd.)

Die Position, die Frau N. stark macht, stellt Integration als Praxis dar, die darauf basiert, dass sich Minderheiten und Mehrheit auf der Grundlage einer gegenseitigen Akzeptanz beteiligen. Die Menschen sollen sich viel intensiver miteinander auseinandersetzen, sich kennen und lernen, wie der Alltag anderer aussieht. Wie sie mir erzählte, sind es genau das gegenseitige Kennen, der Austausch und auch die kleinen Dinge des Lebens, wie sich gegenseitig auf der Straße grüßen, die eine Integrationspraxis erfolgreich machen. Durch ihr Mitwirken am LOSMikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt erhofft sie sich, genau die Perspektive in den Vordergrund zu rücken. Herr W. war als Projektleiter derjenige, der die Perspektiven bündelte. Durch die Vernetzung bedeutender Personen entstand ein Wissensaustausch zwischen Akteuren aus der Pliensauvorstadt, Teilnehmern an PC-Kursen, Computerlehrern und Akteuren, die in der Integrationsarbeit tätig sind. Darüber hinaus stellte Herr W. Kontakte zu Migranten aus der Pliensauvorstadt her. Sie mit einzubeziehen war von Anfang an eines seiner Hauptziele, sollte doch das gesamte Projekt auf diesem Ansatz basieren, um damit Gemeinschaftsbildungsprozesse und Bürgerbeteiligung anzuregen. Betrachtet man die eben beschriebenen Personen, die an der Konzeption des Mikroprojekts mitwirkten, wird vor allem eins deut-

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lich: alle sind am Einbeziehen von Migranten in Kultur und Gesellschaft interessiert. Einigkeit besteht bei den am Netzwerk Beteiligten darüber, dass das LOSMikroprojekt auf integrative Art und Weise zu mehr Bürgerbeteiligung führen soll. Zudem will man die digitalen Fähigkeiten der Menschen auf breiter Basis fördern und bildungsferne Menschen mit Migrationshintergrund durch das Projekt gewinnen. Besonders Herr W. setzte hier auf emanzipatorische Ansätze, die auf den Ideen der „Pädagogik der Unterdrückten“ von Paulo Freire (1973) basieren. Besonders augenscheinlich wird Herrn W.'s Standpunkt auf dem folgenden Bild. Abbildung 13: Herrn W.’s Standpunkt

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2004

Er zeigte die Textpassage den Teilnehmern des Projekts auf einem der ersten Arbeitstreffen. Darin verbirgt sich seine Position, wonach Integration nur dann gelingen kann, wenn man die Menschen nicht stumpf auffordert, gewisse Aufgaben zu erfüllen, sondern ihnen die „Sehnsucht“ nach einer integrativen Gesell-

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schaft vermittelt. Nur dadurch lässt sich ein Prozess der Integration in Gang setzen. Für die Praxis hat das zur Folge, dass er sehr darauf bedacht ist, möglichst früh die Teilnehmer in die Konzeptionsphase des Projekts einzubinden, um schon hier die angesprochene Sehnsucht zu fördern. Er will dadurch erreichen, dass die Teilnehmer selbst über die Inhalte des Projekts bestimmen, um dadurch eine Maßnahme mit hoher Akzeptanz zu schaffen. Außerdem eröffnet sich ihnen dadurch die Möglichkeit, an der „Konzeption“ eines Integrationsprojekts mitzuwirken, wodurch auch Migrantenperspektiven einbezogen werden – ein Vorgehen, das in vergleichbaren Projekten eher selten vorkommt. Um das Ziel zu erreichen machte sich Herr W. bereits vor Beginn der Projektdurchführung ein genaues Bild über die Situation vor Ort. Er ging hier wie ein Ethnograph vor, der sich über die Methoden des Interviews und des informellen Gesprächs einen Überblick über einen Schauplatz verschafft. Von der Herangehensweise verspricht sich Herr W., an die relevanten Themen zu gelangen, die für die Menschen vor Ort von Interesse sind. Er vertritt die Meinung, dass ein integratives Projekt, das die Gemeinschaftsbildung fördern soll, nur dann erfolgreich sein kann, wenn es Realitäten mit einschließt, die eng mit dem Lebensalltag der Menschen verknüpft sind. In dem Punkt erhielt Herr W. von Frau N. große Zustimmung. Aus ihren Erfahrungen als Lehrerin in vielen PC-Kursen weiß sie zu berichten, dass Menschen am besten lernen, wenn sie es anhand von Themen tun, die eng mit ihrem Alltag in Verbindung stehen. Zudem diskutierten die beiden darüber, dass die alltagsrelevanten Aspekte dafür wichtig sind, dass die Menschen den jeweiligen Alltag der anderen kennen lernen können. Denn nur durch eine bessere Kenntnis der jeweils anderen könne Gemeinschaftsbildung und Integration erfolgreich verlaufen, so die Meinung der beiden. Durch die Verbindung von Akteuren, Ideen und Standpunkten entstand der Projektansatz zum LOS-Mikroprojekt, dessen offiziellen Beginn ich vor einigen Abschnitten bereits beschrieben habe. Auf dem Eröffnungsabend des Projekts stellte Herr W. die Phasen des Projekts vor. Zunächst gilt es, dass alle interessierten Teilnehmer für das Vorhaben im Stadtteil werben sollen. Das Ziel ist, eine Gruppe von etwa zehn Personen zu etablieren, die sich im Projekt zu Computerlotsen ausbilden lassen wollen. Sie sollen zu Vermittlern zwischen verschiedenen kulturellen Feldern werden und so Gemeinschaftsbildungs- und Integrationsprozesse im Stadtteil in Gang setzen. Durch ihre erlernten Kompetenzen in den Bereichen neue Medien, Sprache und Kommunikation können die Computerlotsen dann in der zweiten Förderphase an die Bewohner der Pliensauvorstadt herantreten, um dort Hilfe zur Selbsthilfe beim Erwerb digitaler Fähigkeiten anzubieten. Die Planung sieht wöchentliche

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Treffen mit den Teilnehmern vor. Aus diesen entwickeln sich regelmäßige Zusammenkünfte der Akteure an verschiedenen Orten in der Pliensauvorstadt, in denen unter der Anleitung von Herrn W. und Frau N. die Inhalte des Projekts erarbeitet werden. In der Praxis bildete sich ein fester Kern von etwa zehn Personen, die regelmäßig am Projekt teilnehmen. Die Teilnehmer sind meist weiblich und haben hauptsächlich türkischen, griechischen und russischen Hintergrund. In den Veranstaltungen kommen verschiedene Bildungsmethoden wie Gruppenarbeit, Diskussionen, Einzel- und Gruppenvorträge, Arbeit am Computer und im Internet, sowie das Verfassen von Texten sowohl auf Deutsch wie auch in der jeweiligen Muttersprache zum Einsatz. In der ersten Projektphase stellte sich heraus, dass in der Praxis der Computer in den Hintergrund rückt und die Lotsen zunehmend an Bedeutung im Projekt gewinnen. Durch das Einbeziehen ihrer Standpunkte und Ideen – das war ja auch eins der erklärten Ziele des Projekts – entwickelte sich die Maßnahme dahingehend, dass zunächst weniger die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten im Vordergrund steht, sondern viel mehr der soziale und kulturelle Austausch zwischen den am Projekt beteiligten Akteuren. Ein Resümee des Projekts zeigt der folgende Ausschnitt aus einer Publikation. „PC und Internet werden zwar nach wie vor als sehr brauchbare Werkzeuge mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten gesehen, es wurde jedoch deutlich, dass der zu Projektbeginn konzipierte Ansatz bürgerschaftlich engagierter ‚zweisprachiger Lotsen‘ ein wesentlich größeres Potential eröffnet: Der eigene Migrationshintergrund und damit verbunden das Verständnis für den jeweiligen kulturellen Hintergrund sowie die eigene Mehrsprachigkeit und die Nähe zur Zielgruppe im Stadtteil sind Faktoren, die für die weitere Kursarbeit als sehr wertvoll angesehen werden.“ (Kirst 2005: 4)

Aus dem Grund entwickelte sich die Sprachförderung zu einer eigenständigen Säule im LOS-Mikroprojekt, indem diejenigen Teilnehmer gezielt Sprachkurse bekamen, die es für nötig erachteten. Das ist insofern von Bedeutung, als dass Sprache im Prozess des Austauschs und der Kommunikation zwischen den Akteuren des Stadtteils eine wichtige Rolle spielt, da die Teilnehmer in ihrer Funktion als Lotsen zunehmend zu kulturellen Vermittlern werden, deren Arbeit auf Sprache und Kommunikation basiert. Neben Sprache stellt der Bezug zu Themen aus dem Alltag eine wichtige Säule im Projekt dar. Das hängt damit zusammen, dass sich in den ersten Projekttreffen herausstellte, dass sich die kulturellen Lebenswelten des multiethnischen Stadtteils nur dann in einen Austauschprozess bringen lassen, wenn es Zugänge zum Alltag der Menschen gibt. Hier zeigte sich, dass die Themen

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„Kinder, Erziehung und Familie“, „Sprachförderung“ und „Gesundheit“ Bereiche sind, mit denen die Teilnehmer in ihrem Alltag zu tun haben. Die Alltagszusammenhänge werden durch die Teilnehmer des LOS-Mikroprojekts problematisiert und finden auf diese Weise im Projekt besondere Beachtung. Es sind vor allem die Frauen, die sich für den Themenkomplex Kinder, Erziehung und Familie stark machen. Auf den vielen Projekttreffen stellte sich heraus, dass sich gerade in dem Bereich für Menschen mit Migrationshintergrund viele Fragen, Ängste und Informationslücken offenbaren. Während den regelmäßigen Arbeitssitzungen erarbeiten die Teilnehmer gemeinsam die angesprochenen Alltagsthemen, die für den weiteren Projektfortgang so wichtig sind. Schnell stellte sich heraus, dass es viele gemeinsame Themen gibt, die in allen unterschiedlichen ethnischen Gruppen im Stadtteil eine wichtige Rollen spielen und von den Menschen diskutiert werden. Warum das Thema Kinder, Familie und Erziehung zentral ist, liegt auf der Hand, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Pliensauvorstadt viele Familien mit Kindern leben. Aber auch das Thema Gesundheit, das etwa Kinderimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen beinhaltet, wird von den Frauen im Projekt stark gemacht, da sie immer wieder erzählten, dass viele Frauen mit Migrationshintergrund ihre eigenen Informationsdefizite beim Thema Gesundheit beklagen. Vor allem dann, wenn es darum geht, an brauchbare Informationen zu kommen, die für sie auch verständlich sind. Anhand der Themen, die auf den Arbeitstreffen intensiv von und mit den Teilnehmern bearbeitet werden, lernen sie, im Internet zu recherchieren und die Informationen in anderen Programmen zu verarbeiten und zu präsentieren. Dadurch eignen sie sich Kompetenzen an, die sie als Lotsen im Stadtteil benötigten. In der Kombination aus der Vermittlung digitaler Kompetenzen und dem Themenbezug zum Lebensalltag erlangen sie Fähigkeiten, die notwendig sind, um als Vermittler im Stadtteil tätig zu sein. Darin verbirgt sich ein Konzept von digitaler Kompetenz, das weitaus mehr beinhaltet, als das Wissen um die Bedienung eines Computers oder des Internets. Nach meiner Definition beinhalten digitale Kompetenzen technische Fähigkeiten und Medienkompetenzen im weitesten Sinne. Die so genannte Digital Literacy umfasst das Einschätzungsvermögen, wo und wie sich Informationen finden lassen. Hinzu kommt die Fähigkeit, den Nutzen von Informationen erschließen zu können, und die Kompetenz, die Qualität von Informationen einzuordnen und zu interpretieren. Digitale Kompetenz beinhaltet die Befähigung, Ressourcen, die im Umfeld zur Verfügung stehen, mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien zu erschließen und in der Lage zu sein, sich über aktuelle Entwicklungen im Lebensumfeld zu informieren. Umfangreiche digitale Kompetenzen erhöhen ArbeitsplatzChancen auch in weniger qualifizierten Betätigungsfeldern, erweitern die Nut-

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zungsmöglichkeiten staatlicher und privater Dienstleistungen, schaffen Chancengleichheit in der Ausbildung und vergrößern die Teilhabe am gesellschaftliche Leben (vgl. Hinkelbein 2004 b, 2007). Daraus wird ersichtlich, dass digitale Kompetenz in dem Sinne zu einem wichtigen integrativen Werkzeug wird, das die Lotsen des LOS-Mikroprojekts dazu befähigt, sich und anderen zu helfen, gesellschaftlich aktiver zu werden. So gesehen ist digitale Kompetenz eine Kulturtechnik, „die ein zentrales Werkzeug gesellschaftlicher, kultureller und politischer Integration darstellt. Sie ist eine wichtige Schlüsselqualifikation für alle Mitglieder der Gesellschaft geworden und befähigt sie, ihre aktive Staatbürgerschaft wahrzunehmen“ (ebd. 2007: 96). Die digitale Integration von Migranten ist demnach der Prozess der Vermittlung digitaler Fähigkeiten und deren Anwendung. Denn genau darum ging es im LOS-Mikroprojekt zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt, das im Förderzeitraum etwa 50 Personen erreichte. Die Analyse zeigt auch Probleme auf, die es im Projekt gab. So ist es nicht gelungen, bildungsferne Menschen in umfangreichem Maße als Teilnehmer zu gewinnen. Das stimmte die Beteiligten insofern nachdenklich, als „dass damit eine wichtige Zielgruppe nicht erreicht werden konnte“, wie mir Herr W. betroffen schilderte. Ganz offensichtlich war es nicht gelungen, die Gruppe zu mobilisieren. Das lässt sich darauf zurückführen, dass „Übersetzungsprozesse“ fehlgeschlagen sind. Das heißt, dass es Herr W. und seine Mitstreiter nicht schafften, bildungsferne Menschen aus dem Stadtteil von den Inhalten des Projekts zu überzeugen. Betrachtet man die Praxis des Kontaktaufbauens, das Knüpfen von Verbindungen im Stadtteil und vor allem die gemeinsame Konzeption des Projekts, inklusive seiner Teilnehmer, so wird deutlich, was in der AkteursNetzwerk-Theorie als die Phase der Mobilisierung in Übersetzungsprozessen beschrieben wird (Callon 2006 b: 159-164). In der Phase werden Verbündete für eine bestimmte Idee dazu bewegt, sich dem gemeinsamen Ziel anzuschließen, das mit einem Vorhaben erreicht werden soll. Im Rahmen der Arbeit ist es das Bestreben von Personen wie Herrn W. und Herrn S., die digitale Integration von Migranten in Esslingen vorwärts zu bringen. Aus dem bereits bestehenden rhizomartigen Netz aus Beziehungen zwischen Akteuren wie Herrn W., Herrn S., Frau Ü. und Frau N. wurden von den Verantwortlichen Vertreter oder Sprecher ausgewählt, die jeweils verschiedenen Assoziationen angehören. Wichtig ist hier vor allem die Einrichtung des Ausländerbüros, die als relativ stabile Assoziation aus Akteuren, Ideen, Aufgaben und Technologien betrachtet werden kann. Aber auch das gefestigte Setting des Projekts buerger-gehen-online ist eine wichtige Assoziation aus verschiedenen Akteuren, durch die es möglich wurde, dass sich durch die Verbindung mit anderen eine ganz neue Assoziation gebildet hat, die

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sich in dem Netzwerk ausdrückt, dass sich durch die Entwicklung und Umsetzung des LOS-Mikroprojekts zur digitalen Integration von Migranten in der Pliensauvorstadt gebildet hat. Die beteiligten Akteure haben in ihren Kontexten für die entstandene Allianz geworben und versuchten, neue Mitstreiter und Unterstützer zu finden. Durch diese Praxis verdichtet sich das Beziehungsnetzwerk zunehmend und gewinnt an Form. Außerdem werden durch den Prozess fortschreitend Kräfte gebündelt, die dazu nötig sind, die angestrebten Ziele des Projekts zu erreichen. Zudem werden dadurch die Handlungsspielräume der jeweiligen Akteure und Entitäten abgesteckt. „Die anfängliche Problematisierung definierte eine Reihe von verhandlungsfähigen Hypothesen bezüglich Identität, Beziehungen und Zielen der verschiedenen Akteure. Jetzt, am Schluss der vier beschriebenen Momente, ist ein zwingendes Netzwerk von Beziehungen geknüpft worden“ (Callon 2006 b: 164). Betrachtet man die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen, dann demonstrieren sie in ihrer Summe die von Callon beschriebenen „vier Momente der Übersetzung“. In Esslingen hat sich gezeigt, dass für die gesamtstädtische Sicht und das Bestreben der digitalen Integration von Migranten eine Reihe von wichtigen Übersetzungsprozessen notwendig waren, um das Thema in der Stadt bekannt zu machen und es zum Tragen zu bringen. Die beteiligten Akteure haben durch verschiedene Assoziationsmethoden versucht, ein Akteur-Netzwerk zu schaffen, das es ermöglicht, viele Kräfte für ihr Ziel zu gewinnen und somit eine Stabilisierung der Praxis zu erreichen. Die Wirklichkeit ist ein sich in Bewegung befindender Prozess, der stets brüchig ist, sich verändert, Akteure bindet und andere ausschließt. „Die Wirklichkeit, im Sinne einer lesbaren Welt, im Sinne einer Handlung ermöglichende Ontologie, wird in der ANT als etwas Instabiles gedacht“ (Bonz 2007: 2). Wichtig ist, dass die Welt in kleinen Schritten „gelesen“ werden muss, um sie sichtund verstehbar zu machen (Latour 2005 a: 221). Aus dem Grund bin ich in den letzten Abschnitten auch Schritt für Schritt vorgegangen, um das von mir untersuchte Feld und die daraus resultierende Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten nachvollziehbar zu machen. Wäre ich zu schnell und stichpunktartig vorgegangen, würde das von Latour (2002: 59) beschriebene „leicht zerreißbare Band“ reißen, „das das Eine mit dem Anderen verbindet, verbinden muss, wenn sie im Zusammenhang gesehen werden sollen; das notwendige Band, das aber eben leicht reißt“ (Bonz 2007: 2). Genau die „leicht zerreißbaren“ Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren und Einrichtungen habe ich in den letzten Abschnitten analysiert und die Bedingungen offen gelegt, unter denen sie entstanden sind. Betrachtet man die

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Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration als Laboratorium, in dem es gilt, innovative Ansätze zu entwickeln, so fällt im Rückblick auf, dass es in Esslingen einige „Bänder“ gibt, die gerissen sind, oder erst gar nicht zustande kamen. Es ist den im LOS-Mikroprojekt assoziierten Akteuren nicht gelungen, die angesprochenen bildungsfernen Menschen zu erreichen. Auch auf der Ebene der lokalen Politik gibt es nicht nur Freunde des Projekts. Es zeigt sich, dass gesellschaftliche Wirklichkeit immer von Instabilität geprägt ist. Die Feststellung ist der Beleg dafür, dass sich Assoziationen, also Gesellschaft, immer in Bewegung befinden und sich verändern. Wie im Rahmen meiner Studie in Esslingen sichtbar wird, stehen im Feld der digitalen Integration von Migranten Assoziationen wie das Ausländerbüro und das Projekt buerger-gehen-online in Verbindung zueinander. Das beinhaltet, dass ihre Akteure untereinander zirkulieren. Am Beispiel des LOS-Mikroprojekts in der Pliensauvorstadt habe ich schließlich demonstriert, dass aus den Verbindungen neue Assoziationen erwachsen. Akteure wie Herr W., Frau Ü., Frau N., Herr S. aber auch nicht-menschliche Akteure wie der Bürger-PC erfahren in dem Prozess eine Transformation. Das bedeutet, dass sie nicht in jeder Assoziation die gleiche Bedeutung haben. Die Bedeutungsverschiebungen – Frau N. hat etwa im LOS-Mikroprojekt nicht die gleiche Bedeutung wie als PC-Lehrerin im Ausländerbüro – werden durch Übersetzungen vollzogen, die ich im Theoriekapitel ausführlich analysiert habe. Es zeigt sich, dass es von besonderer Bedeutung ist, immer genau hinzusehen und offen zu legen, in welchem Kontext die untersuchten Akteure welche Bedeutung haben (vgl. Bonz 2007). Ursprünglich wäre an dieser Stelle der empirische Teil der Studie abgeschlossen gewesen, da die Darstellung staatlicher Ansätze zur digitalen Integration von Migranten am Beispiel Esslingens hier zu Ende ist – die Aufgabe, die sich aus dem Forschungsexposé bei der VW-Stiftung ergab war die Erforschung staatlicher Maßnahmen. Aus der Forschungsdynamik heraus, und ganz der Logik von den von mir beschriebenen Netzwerken folgend, hat es sich aber ergeben, dass ich in Hannover zivilgesellschaftliche Ansätze zur digitalen Integration von Migranten erforscht habe. Das ermöglicht es mir, die staatlichen mit den nicht-staatlichen Ansätzen zu vergleichen. Aus dem Grunde stelle ich im nächsten Kapitel die Praxis der digitalen Integration von Migranten am Beispiel einer Nichtregierungsorganisation in Hannover dar.

Fallstudie III: Zivilgesellschaftliche Ansätze

in Hannover „Hier ist Frau A. von der Projektwerkstatt Umwelt und Entwicklung e.V. in Hannover. Wir haben im Internet von ihrer Forschung in Esslingen gelesen und würden gerne mehr von ihnen darüber erfahren weil wir selbst ein Projekt in diese Richtung planen.“ HINKELBEIN/FORSCHUNGSMATERIAL

Diese Worte aus dem Herbst 2004 markieren den Beginn meiner dritten Fallstudie. Ich führte sie von November 2004 bis Oktober 2005 in Hannover durch. Ergänzende punktuelle Feldaufenthalte fanden bis ins Jahr 2012 statt. In der räumlichen Ausdehnung meines Forschungsfeldes spiegelt sich meine These wieder, nach der sich kulturelle Praxis im Feld der digitalen Integration von Migranten in Rhizomen konstituiert (vgl. Theoriekapitel). Es zeigt sich, dass die Bemühungen der beteiligten Akteure und Einrichtungen an einzelnen Orten über diese hinausstrahlen und das Handeln an anderen Lokalitäten beeinflussen. Die Verbindung zwischen Esslingen und Hannover kam durch die Projektwerkstatt zustande. 2004 steckte die Nichtregierungsorganisation (NGO) mitten in den Vorbereitungen für ein Projekt, in dem Migranten in Hannover an die Nutzung von Computer und Internet herangeführt werden sollten. Frau A., von der eingangs schon die Rede war, führte zusammen mit Herrn G., dem Geschäftsführer der NGO, die Vorbereitung der Maßnahme durch. In dem Rahmen stießen die beiden auf meine Forschungsergebnisse aus Esslingen, die ich im Internet veröffentlichte (Hinkelbein 2004 a). Das führte dazu, dass mich Frau A. im November 2004 interviewte. In einem Bremer Café befragte sie mich zu meinen Erkenntnissen aus Esslingen und stellte anschließend den Kontakt zwischen Herrn G. und mir her. Er wurde zu meinem zentralen Schlüsselinformanten in Hannover

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und lud mich ein, einen Vortrag über meine Esslingen-Studie in der Projektwerkstatt zu halten. Außerdem bot er mir an, die Begleitforschung für das anstehende Projekt zu übernehmen. Auf Herrn G.’s Wunsch stellte ich Kontakt zu Herrn W. aus Esslingen her, der dann zu einem Vorbereitungstreffen nach Hannover reiste, um seine Erfahrungen aus Esslingen Preis zu geben. Durch die kurz skizzierten Entwicklungen rückten die Projektwerkstatt, ihr Umfeld und die Aktivitäten der beteiligten Akteure in den Fokus meiner Studie. Es eröffnete sich dadurch die Möglichkeit, die Praxis in Esslingen mit der in Hannover zu vergleichen. Das ist insofern interessant ist, als dass sich die Strategien in Hannover dadurch auszeichnen, dass sie aus der Perspektive der Zivilgesellschaft ins Leben gerufen werden. Anders als die staatlichen Einrichtungen in Esslingen ist in Hannover eine NGO die maßgebliche Instanz, die Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten entwickelt und umsetzt. Aufgrund meiner Rolle, die ich als Begleitforscher hatte, stellte sich die Untersuchung im Vergleich zu meinem Vorgehen in Esslingen in einigen Punkten anders dar, denn mein Forschungshorizont war kleiner und hatte eine andere zeitliche Intensität. In Hannover habe ich den gesamtstädtischen Diskurs um (digitale) Integration nicht in dem Umfang untersucht, wie ich das in Esslingen getan habe. Außerdem ergaben sich aus der Untersuchung eines zivilgesellschaftlichen Umfeldes andere Blickwinkel. Zum Einstieg in die Fallstudie erörtere ich das Hannoveraner Umfeld, bedeutende Organisationen und ihre Rolle für das Projekt, das im Zentrum meines Interesses stand. Im Anschluss lege ich dar, welche Rolle die Projektwerkstatt als „Motor der Entwicklungen“ für das EU-Projekt IMES hat. Von zentraler Bedeutung sind die Menschen, die die Projektwerkstatt zu dem machen, wie ich sie wahrgenommen und beobachtet habe. Die Analyse der Akteure und ihrer Aufgaben in der NGO ist deshalb unerlässlich, um verstehen zu können, wie die Projektwerkstatt als Organisation arbeitet. Sie geben ihr nicht nur ein Gesicht, sondern die Akteure haben auch als New Mediators eine wichtige Bedeutung in der untersuchten Praxis. Neben ihnen spielen bei der Analyse auch die Arbeitsund Handlungsfelder der Organisation als solcher eine wichtige Rolle. Durch sie positioniert sich die NGO im Feld zivilgesellschaftlicher Einrichtungen. Schließlich gehe ich der Frage nach, „warum der Motor läuft“, d. h., dass ich herausarbeite, warum die Projektwerkstatt im Feld der digitalen Integration ein eigenes Projekt ins Leben gerufen hat. Im zweiten Teil des Kapitels widme ich mich dem EU-Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover. Ich stelle die beteiligten Akteure und ihre Rolle im Projekt dar. Ausgehend davon erörtere ich die kulturelle Praxis, die ich in Hannover erforscht habe.

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Hannover ist die Hauptstadt Niedersachsens und wird weit über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen. Seit 1947 ist der Ort als Messestandort weltweit bekannt. Jährlich findet dort seit 1986 mit der CEBIT die größte Computermesse der Welt statt, auf der die neusten Entwicklungen im Bereich neuer Medien und Technologien vorgestellt werden. Von allen Kontinenten reisen Experten an, die dort ihr Wissen preisgeben und sich untereinander austauschen. Anders als die internationalen Messegäste, die nur kurz in der Stadt verweilen, hat es im Verlauf der letzten 50 Jahre viele Menschen aus der ganzen Welt in die 520.000 Einwohnerstadt gezogen, um sich dort niederzulassen. Im Januar 2007 waren 14,4 Prozent der Bevölkerung „Ausländer“, die aus insgesamt 175 Nationen kommen. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, nennt die offizielle Statistik zwar nicht aber es haben zusammengenommen ca. 24 Prozent der Menschen einen anderen kulturellen Hintergrund. Die größte Gruppe bilden, wie in deutschen Städten meist üblich, die türkischstämmigen Menschen. 3,7 Prozent der Einwohner hatten demzufolge zu Jahresbeginn einen türkischen Pass, gefolgt von 1 Prozent Polen, 0,9 Prozent Ukrainer und 0,8 Prozent Griechen, um hier nur die größten Gruppen zu nennen. Wandert man durch Hannover, fällt in vielen Stadtteilen auf, dass die Menschen aus anderen Ländern das Gesicht der Stadt mit prägen. Hannover wurde im zweiten Weltkrieg zu zwei Dritteln zerbombt. Das führte dazu, dass das ehemalige „Venedig des Nordens“ heute kaum ein „historisches Gesicht“ hat. Trotz der großen Zerstörungen ging der Wiederaufbau der Stadt schnell voran und sie entwickelte sich zu einer kleinen Metropole, ein Prozess, der bis heute anhält. Vor allem in den letzten beiden Dekaden sind viele neue Gebäude und Straßenzüge entstanden, die der Stadt an vielen Stellen ein modernes, manchmal sogar futuristisches Aussehen geben. Vom modernen Bahnhof aus erreicht man nach etwa zehn Minuten Fußmarsch in westlicher Richtung das Steintor. In unmittelbarer Nähe befindet sich in der Hausmannstraße die Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V., die der Ausgangspunkt meiner Feldforschung in Hannover ist. In der Gegend um das Steintor zeigt sich der multiethnische Charakter der Stadt besonders eindrucksvoll. Überall gibt es Läden, Juweliere, Banken, Anwaltskanzleien, Arztpraxen, Imbisse, Kneipen und Restaurants, die von Menschen mit Migrationshintergrund geführt werden. Allein der Blick auf die vielen Namensschilder an den Häusern und Geschäften verrät, dass sich hier viele Menschen mit türkischem und kurdischem Hintergrund niedergelassen haben. Wie mir Informanten berichteten, haben sie sich hier angesiedelt, um an der städtischen Ökonomie zu partizipieren. Frau N., eine Mitarbeiterin der Projektwerkstatt mit kurdischen Wurzeln, wies mich während vieler Gespräche darauf hin, dass es im Sinne ei-

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nes „differenzierten Blicks“ sehr wichtig sei, genau zwischen türkisch- und kurdischstämmigen Menschen zu unterscheiden. Sie seien kulturell und politisch so verschieden, „dass man sie auf keinen Fall in einem Atemzug nennen sollte“. In der Vehemenz und in dem bestimmenden Ton, in dem sie mir das näher brachte, drückt sich ihre selbstbewusste Position als Kurdin aus. Sie reiht sich nahtlos in den Diskurs um Türken und Kurden ein – den ich hier allerdings nur sehr schemenhaft ansprechen möchte. Auch Herr G. schilderte mir, dass es in Hannover eine klare Trennung der beiden Gruppen gibt. Das basiert darauf, dass es viele politisch Aktive in diesem Feld gibt, bei der die einen (Türken) versuchen, die kurdische Daseinsberechtigung als „eigene Kultur“ zu negieren und die anderen (Kurden) sich dagegen wehren. Trotz des Konfliktpotentials, das sich darin verbirgt, gibt es auch andere Meinungen zu dem Thema, zum Beispiel bei Arkadaş1, einem Verein für interkulturelle Erziehung, Bildung, Kultur und Sport e.V.. Die NGO verfolgt das Ziel, eben genau die angesprochenen Differenzen zwar zu akzeptieren, sie aber nicht weiter politisch auszuschlachten. Nicht nur dadurch beteiligt sich die Einrichtung, die sich nicht weit vom Steintor in der Stiftstraße befindet, an der lokalen Integrationspraxis. Auf die Organisation komme ich später wieder zu sprechen, da sie ein wichtiger Partner im Projekt IMES ist, das ich in Hannover untersucht habe. Festhalten möchte ich, dass der Bezug auf türkischkurdische Realitäten in Hannover nicht zufällig kommt, sondern damit zusammenhängt, dass sie die mit Abstand größte Gruppe im Hannoveraner multiethischen Kontext sind. Das ist aber längst nicht alles was die Stadt auszeichnet. Hannover ist als Landeshauptstadt Niedersachsens das Zentrum und der Hauptsitz vieler landesweit agierender Einrichtungen und Institutionen. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, nur auf die einzugehen, die in meiner Studie eine Rolle spielten. An erster Stelle möchte ich auf die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) zu sprechen kommen. Die NLM ist eine selbstständige Anstalt des öffentlichen Rechts und hat ihren Sitz in Hannover. Die Rechtsgrundlagen, auf deren Basis die NLM agiert, sind der Rundfunkstaatsvertrag und das Niedersächsische Mediengesetz. Eine der Hauptaufgaben der NLM ist die Entwicklung und Förderung des privaten Rundfunks in Niedersachsen. Außerdem unterstützt sie Projekte, die die Medienkompetenz der Bürger fördern und auch Forschungen, die sich damit beschäftigen. Die NLM hat einen Direktor und eine Versammlung, die sich aus dem Vorstand, den Mitgliedern und den Fachausschüssen zusammensetzt. In der seit 2004 aus 25 Mitgliedern bestehenden Versammlung sind die po-

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Das Wort stammt aus dem Türkischen und heißt übersetzt „Freund“.

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litischen Parteien des Niedersächsischen Landtags (CDU, SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grünen) und gesellschaftlich relevante Gruppen vertreten (Kirchen, Deutscher Gewerkschaftsbund, Unternehmerverbände, Handwerksverbände, Landesfrauenrat, Landesjugendring, Film- und Medienbüro, etc.).2 Die NLM hat im Rahmen meiner Studie insofern eine Rolle gespielt, als dass es Bezüge zwischen den Aktivitäten der Projektwerkstatt und denen der NLM gibt. Das rührt daher, dass sich Herr G. seit Jahren im Umfeld der NLM engagiert und durch seine Rolle als Medienaktivist viele persönliche Verbindungen zu Akteuren aus der Einrichtung hat. Eine weitere bedeutende Organisation ist die Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte in Niedersachsen e.V. (LAG Soziale Brennpunkte). Sie befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Verein Arkadaş, von dem vor einigen Abschnitten schon die Rede war. Die LAG Soziale Brennpunkte wurde 1989 gegründet und verfolgt das Ziel, Bewohner sozialer Brennpunkte und Wohnungslose bei der Wahrnehmung ihre Belange zu unterstützen. Sie setzt sich dafür ein, dass sich Menschen aus sozial benachteiligten Gebieten gleichberechtigt an Entwicklungen im Gemeinwesen beteiligen. „In diesem Sinne werben wir für ein friedliches Miteinander, Toleranz und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe“ (LAG), heißt es dazu auf der Internetplattform des Vereins. Die LAG begreift sich als Interessengemeinschaft, die Selbsthilfeinitiativen, Projekten, Unternehmen, der Wohnungswirtschaft, Politik und Verwaltung unterstützend und beratend zur Seite steht. Im Rahmen ihrer Arbeit hat die Projektwerkstatt Kontakte zur LAG Soziale Brennpunkte, da sie selbst mit der Zielgruppe arbeitet, deren Belange von der LAG vertreten werden. Neben diesen befinden sich natürlich weitere Einrichtungen in Hannover und haben dort ihren Hauptsitz. Einige von ihnen engagieren sich in multiethnischen Lebensumfeldern und bieten Maßnahmen für Migranten an, in denen digitale Kompetenzen vermittelt werden. In dem Rahmen bietet der Migrationsdienst der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Zusammenarbeit mit lokalen Schulen Lernaktivitäten im Feld von Computer und Internet an. Sie richten sich an Menschen, die in Deutschland gerade neu angekommen sind. Die Maßnahme ist Teil eines breiter angelegten Programms, das die schulische, soziale und berufliche Integration insgesamt fördern soll. Zur Vermittlung deutscher Sprachkompetenzen werden sowohl Online-Software, wie auch andere Bildungsmethoden angewandt, die Computer und Internet als Werkzeug nutzen (vgl. e-migra 2006). Trotz der auch

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Diese Zusammensetzung bezieht sich auf die Zeit meiner Feldforschung in den Jahren 2004 und 2005.

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für die Studie interessanten Ansätze konnte ich auf die Aktivitäten der AWO nicht näher eingehen weil das meine zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten gesprengt hätte. Es wird aber deutlich, dass es in Hannover unabhängig voneinander Bestrebungen gibt, die sich mit der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beschäftigen. Darin zeigt sich ein wichtiges Kennzeichen der kulturellen Praxis, wie man sie im Feld der digitalen Integration von Migranten immer wieder findet. Im Theorieteil der Arbeit habe ich argumentiert, Kultur als Rhizom zu konzeptionalisieren. Einerseits wurde deutlich, dass die Analyse der Praxis einen starken Fokus auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Entitäten in einem Rhizom haben muss, denn sie sind es, die ein Rhizom mit Leben füllen (vgl. Deleuze, Guattari 2002: 12-42). Es ist es aber auch ein Merkmal von rhizomartig organisierten kulturellen Praktiken, dass es verschiedene „Mittelpunkte“ für die Praxis gibt. Deleuze und Guattari setzen sich gezielt gegen eine Auffassung ein, die davon ausgeht, dass kulturelle Entwicklungen von einem einzigen „Ursprung“ ausgehen. Insofern widerspricht es meiner These von „Kultur als Rhizom“ (vgl. Theoriekapitel) nicht, dass die AWO in Hannover ein Projekt zur digitalen Integration von Migranten durchführt, ohne dass es direkte Verbindungen zu den Aktivitäten der Projektwerkstatt gibt. Es wird auch deutlich, dass das multiethnische Hannover ein großes „Freiluft-Laboratorium“ zur Erprobung neuer Integrationsansätze ist, in dem sich viele Einrichtungen der Zivilgesellschaft unabhängig voneinander tummeln, um entsprechende Maßnahmen durchzuführen. Zudem wird offensichtlich, dass das Thema Integration ein wichtiges Betätigungs- und Handlungsfeld von nichtstaatlichen Einrichtungen wie der AWO und der Projektwerkstatt darstellt. Die Beteiligung der Organisationen an der lokalen Integrationspraxis lässt sich aber nicht nur mit deren Zielen erklären. Fakt ist, dass Integration spätestens seit Mitte der 1990er Jahre ein politisch brisantes Thema geworden ist, das von heftigen politischen und gesellschaftlichen Diskursen begleitet wird – die vor Jahren angestoßene Debatte um „deutsche Leitkultur“ ist hier nur ein Beispiel unter vielen. In der Folge dessen sprießen seit Jahren Integrationsprojekte wie Pilze aus dem Boden. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Einrichtungen der Zivilgesellschaft in dem Feld engagieren, nicht nur zuletzt deshalb, um die Finanzierung der eigenen Organisation aufrecht zu erhalten, indem sie um knappe Mittel konkurrieren. Auf den finanziellen Druck, mit dem viele, vor allem kleinere NGO’s, zu kämpfen haben und welche Rolle die Durchführung von Projekten spielt, komme ich im Schlusskapitel der Arbeit noch ausführlich zu sprechen.

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In Bezug auf Ansätze zur digitalen Integration von Migranten fällt in Hannover auf, dass es nicht-staatliche Organisationen sind, die sich in dem Feld engagieren. Ein städtischer Ansatz, wie es ihn in Esslingen gibt, existiert in Hannover nicht. Im städtischen Diskurs tauchen Menschen mit Migrationshintergrund zwar in vielen anderen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Diskursen und Handlungsfeldern auf, im Feld der Vermittlung digitaler Kompetenzen hat „die Stadt“ jedoch kein eigenes Konzept. Genau wie in vielen anderen Städten spielen Migranten in der öffentlichen Rede oft dann eine wichtige Rolle, wenn es um Probleme oder kriminelle Delikte geht. Dahingehend nimmt Hannover keine gesonderte Position ein. Trotzdem hat man aber das Gefühl, dass in Hannover migrantische Strukturen über Jahre gewachsen sind, die im Verlaufe der Zeit ein fester Bestandteil städtischer Aktivitäten wurden. So haben alle politischen Parteien heute Mitglieder mit Migrationshintergrund. Die skizzenhafte Darstellung von Organisationen aus dem Bereich der Zivilgesellschaft, die für die Praxis der digitalen Integration von Migranten eine direkte oder indirekte Rolle spielen, sagt noch wenig über die Verbindungen aus, die es zwischen ihnen gibt. Argumentiert man mit theoretischen Konzepten wie dem Netz (Serres 1991), dem Rhizom (Deleuze, Guattari 2002) oder dem Akteur-Netzwerk (Latour 2005 a) – so wie ich es durch die ganze Arbeit hindurch getan habe – dann ist es von besonderer Bedeutung, auf das „Prinzip der Konnexion“ (Deleuze, Guattari 2002: 16-17) einzugehen, das in kultureller Praxis immer wieder zu Tage tritt. Wie zeigt sich das im Feld der Organisationen, die ich in den vergangenen Abschnitten dargestellt habe? Dreh- und Angelpunkt sind die Akteure, die in und für die Einrichtungen wie den Verein Arkadaş oder die Projektwerkstatt tätig sind – insbesondere diejenigen, die ich in Fallstudie I als New Mediators eingeführt habe. Sie begegnen sich in ihrer täglichen Arbeit, haben persönliche Kontakte zueinander, kennen sich teilweise schon über Jahre, nehmen gemeinsam an lokalen Konferenzen teil und versuchen, das jeweilige Ziel ihrer Einrichtung im lokalen Kontext zu vertreten. Durch die Akteure aus den einzelnen Organisationen entstehen die Verbindungen, die es zwischen ihnen gibt. In ihrer Summe stellen sie das Netzwerk dar, das für politische, soziale und kulturelle Handlungen ausschlaggebend ist. In dem Sinne kommen verschiedene Sachverhalte miteinander in Berührung, es entsteht ein Austausch zwischen ihnen und einige der Protagonisten treten in Kooperationen ein. Genau darin äußert sich der rhizomartige Charakter von kultureller Praxis, wie ich ihn in diesem Buch schon mehrfach angesprochen habe. Mit der Betonung der Rolle von Akteuren zeigen sich darin die Akteur-Netzwerke, die durch die Verbindungen entstehen, die es zwischen den Vertretern der verschiedenen Organisationen gibt. Ein zentrales Moment, durch das die Konnexionen zu Stande kommen, ist

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das der Übersetzung, wie ich es im Theorieteil der Arbeit ausführlich dargestellt habe (vgl. Theoriekapitel). Durch Praktiken wie dem „Problematisieren“ eines bestimmten Sachverhalts, die „Werbung“ für Projekte und das „Mobilisieren“ von Mitstreitern transportieren die Akteure ihre Ideen und Handlungsansätze in den Bereich anderer Akteure und Einrichtungen. Wie das in der Praxis aussieht, darauf komme ich immer wieder zu sprechen, wenn ich nun im Folgenden die Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. genauer analysieren und herausarbeite, welche Rolle die Organisation und die Übersetzungspraktiken, die von ihren Akteuren ausgehen, für das Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover spielt.

D IE P ROJEKTWERKSTATT U MWELT UND E NTWICKLUNG E .V. ALS M OTOR DER E NTWICKLUNGEN Die Projektwerkstatt befindet sich in der Hausmannstraße, nur wenige Fußminuten vom Steintor entfernt. Die Nichtregierungsorganisation (NGO), die 1992 als gemeinnütziger Verein gegründet wurde, betreibt seitdem aktive Bildungs-, Integrations- und Medienarbeit. Im Folgenden zeige ich, wie und warum die Projektwerkstatt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Umsetzung lokaler Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielt. Um die Position und Rolle der NGO besser einordnen zu können, stelle ich zunächst die Organisation genauer dar. Wer ist für die Projektwerkstatt tätig und welche Aufgaben haben die Mitarbeiter? Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Mit welchen Themen und Handlungsfeldern haben die Akteure der Projektwerkstatt zu tun und wer sind ihre Zielgruppen? Ich bearbeite das auf Basis der ethnographischen Daten, die ich während der Feldforschung gesammelt habe. Abschließend führe ich meine Analyse zusammen und setze die Projektwerkstatt als „Kollektiv von assoziierten Akteuren“ in den theoretischen Zusammenhang der Arbeit. Die Projektwerkstatt befindet sich im dritten Stock des Umweltzentrums, das in einem der wenigen alten Häuser in der Gegend untergebracht ist, das den zweiten Weltkrieg überlebt hat. Die Organisation hat in dem sanierten, hellen und sehr freundlich wirkenden Gebäude in der dritten Etage vier Räume angemietet. Der größte, ca. 20 Quadratmeter große Raum ist Sekretariat, Arbeitszimmer und Besprechungsraum in einem. Etwa in der Mitte des Zimmers bilden drei aneinander gestellte Schreibtische die Arbeitsplätze. Auf ihnen befindet sich jeweils ein Bildschirm, auf einem Schreibtisch gibt es ein großen Faxgerät und ein Telefon. Die Computer sind unter den Schreibtischen und durch ein Kabelgewirr an das Intranet der Projektwerkstatt angeschlossen. Die Wände sind von

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Bücherregalen verdeckt, in denen die kleine Bibliothek untergebracht ist, die im Laufe der Jahre entstanden ist. Im zweiten Raum, der etwas kleiner ist, werden Video- und Audioaufnahmen gemacht. Das „Studio“ ist spärlich, mit einem Tisch und zwei Stühlen ausgestattet. Außerdem befindet sich an der einen Wand eine Ablage, die aber teilweise mit einem dekorativen, weißfarbigen Stoff verdeckt ist. Im Raum befinden sich auch zwei Studiolampen, die bei Videoaufnahmen das nötige Licht spenden. In den zwei anderen Räumen, die sehr klein sind, befinden sich jeweils drei Computerarbeitsplätze. Dort spielen die Akteure der Projektwerkstatt hauptsächlich Video- und Audioaufnahmen ein und bearbeiten sie mit Schnittsoftware. Die Endprodukte, fertige Sendungen, werden schließlich im Niedersächsischen Bürgerfunk ausgestrahlt. In der Regel ist die Projektwerkstatt montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die kurze Beschreibung der Örtlichkeit liefert einen ersten Eindruck der Einrichtung. Da eine Nichtregierungsorganisation weniger von politischen und staatlichen Vorgaben bestimmt wird, vor allem was die Ziele betrifft, die sie vertritt, treten die Akteure, die das Leben der Einrichtungen bestimmen, in den Vordergrund. Sie sind es, die aus der Organisation das machen, als was sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Sie sind durch ihre Übersetzungsleistungen dafür verantwortlich, dass die Einrichtung gemeinsam mit Kooperationspartnern Projekte entwickelt und durchführt. Aus dem Grund stelle ich in den folgenden Abschnitten die Akteure der Projektwerkstatt genauer vor. Akteure und ihre Aufgaben Frau S. ist die Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins und gehört neben Herrn F. und Frau C. zur Zeit meiner Feldforschung zum Vorstand. Geschäftsführer der Organisation ist Herr G.. Unterstützt wird die Einrichtung von sechs Honorarkräften, von denen ich während meiner Forschung Frau D. und Frau N. kennenlernte. Von zentraler Bedeutung für das aktuelle Tagesgeschäft der Projektwerkstatt sind neben Herrn G. jeweils sechs bis zehn Praktikanten, die für mindestens drei Monate ein Praktikum in der Projektwerkstatt machen. Außerdem absolvieren zwei Personen ihr freiwilliges ökologisches Jahr in der Organisation. Der einzige hauptamtlich Beschäftigte ist Herr G.. Er ist der Mitbegründer der Projektwerkstatt und hat eine mehr als 20 jährige Erfahrung in der Integrations-, Medien- und Umweltarbeit. Seine Standpunkte speisen sich aus Erfahrungen seiner langjährigen Tätigkeit im interkulturellen und journalistischen Feld, sowie aus seinem gesellschaftlichen und kulturellen Engagement. Er ist tief in der Umweltbewegung verwurzelt, hat klare Vorstellungen darüber, wie eine bessere Klimapolitik aussehen müsste und er macht sich für ein demokratisches und ega-

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litäres Gesellschaftsmodell stark, in dem auch sozial Benachteiligte und Migranten eine Stimme haben – man kann ihn in diesem Feld als Aktivist bezeichnen. Wie er mir oft erzählte, ist es ihm wichtig, demokratische Prozesse und Strukturen zu fördern. Damit verknüpft ist seine Forderung nach gesellschaftlicher Beteiligung aller. Er hat die Meinung, dass hier auch das freiwillige Engagement der Bürger eine wichtige Rolle spielt weil dadurch gemeinschaftsbildende und integrative Prozesse unterstützt werden. Seine Positionen fließen in die Konzeption und Durchführung von Maßnahmen der Projektwerkstatt ein. Wenig begeistert zeigt er sich gegenüber der allgemeinen Entwicklung, dass sich immer weniger junge Menschen freiwillig engagieren. Darüber hinaus ist Herr G. seit dem Bestehen der Projektwerkstatt an allen Ausstellungen, Austauschprogrammen, EU- und vielen anderen Projekten sowie an deren Entwicklung, Planung und Umsetzung beteiligt. Innerhalb der Organisation ist er nicht nur Geschäftsführer, verantwortlicher Projektmanager und „Chef vom Dienst“, wie es auf der Webseite der Organisation heißt, sondern hat auch seine politischen und gesellschaftlichen Standpunkte, die in die Arbeit der Projektwerkstatt einfließen. Eine seiner Positionen ist es, vor allem bei jungen Menschen politisches und gesellschaftliches Bewusstsein und deren Engagement zu fördern. Nicht zuletzt deshalb beschäftigt die Projektwerkstatt kontinuierlich sechs bis zehn junge Erwachsene als Praktikanten, für deren Betreuung Herr G. zuständig ist.3 Durch die Möglichkeiten eines arbeitsintensiven aber befähigenden Praktikums sollen die Studenten, die aus ganz Deutschland kommen, nicht nur die allgemeinen Arbeitsabläufe in einer NGO kennen lernen, sondern sich auch interkulturelle und journalistische Fähigkeiten aneignen. Wie er mir in dem Zusammenhang in vielen Gesprächen zu verstehen gab, hat er selbst ein großes journalistisches Interesse und versucht das in seiner Arbeit zu verwirklichen. So orientieren sich etwa die Öffnungszeiten der Projektwerkstatt am journalistischen Alltag, den die meisten Praktikanten haben, die in der Einrichtung ihr Praktikum absolvieren. „Journalisten wirst du nie vor 10 Uhr in den Redaktionsbüros antreffen“, sagte mir Herr G. einmal, als ich ihn

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Obwohl in Deutschland immer mehr junge Erwachsene als Praktikanten gern gesehene, billige und gut ausgebildete Mitarbeiter in Unternehmen und Organisationen sind, offenbart sich in der Projektwerkstatt ein anderes Bild. Wie die vielen Praktikumsberichte und Einzelgespräche mit den Praktikanten zeigen, hat die Mehrheit das Gefühl, hier auf der Basis von Eigenverantwortung etwas zu lernen – insbesondere journalistische Fähigkeiten und interkulturelle Kompetenzen. Insofern begreifen sie ihr Praktikum als Bildungsangebot, das ihnen viel Spaß macht.

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fragte, warum das Büro der Projektwerkstatt erst so spät am Tag öffnet. Die Praktikanten, auf die ich noch näher zu sprechen komme, sind hauptsächlich damit beschäftigt, Radio- und Fernsehbeiträge für den niedersächsischen Bürgerfunk journalistisch zu erarbeiten und zu produzieren. Herr G. ist der „Chefredakteur“ und betreut die Praktikanten bei ihrer Arbeit. Als Mitglied der Versammlung der niedersächsischen Landesmedienanstalt (NLM) war er an der Einrichtung der Bürgermedien in Niedersachsen beteiligt. Die journalistischen Möglichkeiten des Bürgerfernsehens „faszinieren“ ihn bis heute. Aus dem Grund organisiert und moderiert er das Umwelt-Magazin „blickpunkt umwelt“, das interkulturelle Magazin „blickpunkt global“ und die Livesendung „19h-regional“ mit Themen aus der Region Hannover. Als großer Weltmusik-Fan hat er nicht nur eine große CD-Sammlung zu Hause, sondern führt auch Regie bei der jährlichen h1-Liveaufzeichnung vom Masala-Weltmusik-Festival in Hannover. Seit 2001 ist er zudem Vorsitzender des h1-Trägervereins und seit 2004 Vorstandsmitglied des niedersächsischen Landesverbandes der Bürgermedien (LBM).4 Die vielfältigen Aktivitäten und Mitgliedschaften in Einrichtungen machen Herrn G. zu einem „Übersetzer“ par Excellence. Seine Vereins-, Verbands- und Medienarbeit bringt es mit sich, dass er Wissen bündelt, sich mit anderen austauscht und seine Ideen und Handlungsansätze mit denen seiner Mitstreiter abgleichen muss, um als New Mediator erfolgreich zu sein. Ganz im Sinne der Callonschen Theorie (Callon 2006 b) ist Herr G. der Protagonist eines kontinuierlichen Übersetzungsprozesses. Er wendet die Praktiken des Thematisierens von soziokulturellen Problematiken an, weckt bei möglichen Kooperationspartnern das Interesse für seine Ziele, er versucht, Akteuren in seinen Vorhaben Rollen zuzuweisen und er mobilisiert andere, bei Maßnahmen der Projektwerkstatt mitzuwirken. In der Praxis zeigen sich die „vier Momente der Übersetzung“: „Problematisierung“, „Interessement“, „Enrolment“ und „Mobilisierung“ (ebd.: 146164). Dem Übersetzungskonzept liegen zwei grundlegende Bedeutungen zugrunde. In erster Linie geht es um die Übertragung von Ideen eines Akteurs wie Herrn G. auf andere. Durch eine Kombination aus Sprechakten, Erklärungen, Diskussionen und Handlungen versucht er, einem anderen Akteur seine Absichten, Motive und Ziele deutlich zu machen, um ihn von seiner Idee zu überzeugen – zum Beispiel davon, bei einem Projekt zur digitalen Integration von Migranten in Hannover mitzumachen. Akteure wie Herr G. verfolgen durch den Prozess der Übersetzung das Ziel, bestimmte Vorhaben aus einem Bereich (z.B. aus mul-

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Diese Angaben beziehen sich auf die Zeit meiner Feldforschung in den Jahren 2004 und 2005.

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tiethnischen Lebensumfeldern in Hannover) in einen anderen (z.B. europäische Förderung) zu übertragen, um Prozesse in Gang zu setzen, die zu Synergieeffekten zwischen den Feldern führen. In seiner Rolle als Übersetzer der eigenen Ideen, die das Ziel haben, möglichst viele Mitstreiter für die eigenen Vorhaben zu gewinnen, äußert sich ein wichtiges Merkmal eines New Mediators (vgl. Fallstudie I). Als solcher versucht Herr G. kontinuierlich, den Kreis von Personen zu erweitern, die sich am Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover beteiligen. Es zeigt sich, dass er in besonderem Maße für neue Medien als Werkzeug zur Integration und entsprechende Bildungsmethoden in dem Bereich wirbt und versucht, sie in der Praxis zu etablieren. Neben seinen vielfältigen Tätigkeiten als Medienaktivist und „Übersetzer“ ist Herr G. für alle anderen Vorhaben und Maßnahmen der Projektwerkstatt verantwortlich. Er schreibt Förderanträge, entwickelt Ideen, ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und hat stets Kontakt mit den Vorstandsmitgliedern, die, genau wie er, an den inhaltlichen Zielsetzungen der NGO arbeiten. Die Vorstände, Frau S., Herr F. und Frau C., sowie der Geschäftsführer Herr G. treffen sich drei bis viermal im Jahr, um längerfristige Strategien, formale Fragen und den Haushalt des Vereins zu besprechen. Sie sind untereinander befreundet und pflegen eine gute Beziehung zueinander. Darüber hinaus finden sie sich einmal pro Jahr zur obligatorischen Mitgliederversammlung zusammen, auf der der Vorstand „entlastet“ wird. Neben den Treffen stehen sie telefonisch und über Email in einem regelmäßigen Kontakt. Besonders stark ist die Verbindung zwischen Herrn G. und Frau S.. Sie sind es, die gemeinsam Projektideen entwerfen und zusammen Förderanträge schreiben. Das Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover, das ich später analysiere, ist ein Ergebnis der intensiven Zusammenarbeit zwischen den beiden. Frau S. ist die Vorsitzende der Projektwerkstatt und seit Beginn aktiv am Vereinsgeschehen beteiligt. Zunächst war sie einige Jahre hauptamtlich beschäftigt und später dann als Honorarkraft tätig, bevor sie dann Vorsitzende wurde. Beruflich ist sie seit vielen Jahren im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit tätig. Frau S. Ist mit einem Spanier verheiratet und lebt seit einigen Jahren in Barcelona. Trotzdem kommt sie aber regelmäßig nach Hannover – nicht selten im Rahmen von Aktivitäten der Projektwerkstatt. Sie vertritt die Organisationen auf Konferenzen und beteiligt sich an europäischen Netzwerken, in denen die Projektwerkstatt Mitglied ist. Ihre Kompetenzen in der interkulturellen Bildungsarbeit drücken sich darin aus, dass sie seit vielen Jahren als Supervisorin, als Beraterin und Koordinatorin für europäische Projekte in dem Bereich tätig ist. Auf der Webseite der Organisation beschreibt die Mutter von zwei Kin-

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dern ihre zentralen Interessen, die für ihr Engagement bei der Projektwerkstatt ausschlaggebend sind. „Mir liegen die Themen Umwelt, Entwicklung und Migration sehr am Herzen. Die Entwicklung von neuen Ausstellungsideen, von neuen innovativen Konzepten, die diese Themen den Menschen näher bringen und so Veränderungsprozesse in Gang setzen, macht mir Spaß und ist mein Anliegen.“ (Projektwerkstatt)

In den Gesprächen, die ich mit ihr während der Forschung führte, kommt genau das zum Ausdruck. Sie ist stets offen für neue Impulse und denkt gerne darüber nach, wie man neue und innovative Projekte entwickeln kann. In Bezug zu „Integration“ hat sie ein großes Interesse, sinnvolle Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Da sie von der Arbeit in dem Feld lebt, hat sie natürlich auch ein persönliches und ökonomisches Interesse daran, innovative Projekte ins Leben zu rufen. Daraus lässt sich auch ihr großes Engagement erklären, das sie in dem von mir untersuchten Projekt zur digitalen Integration von Migranten in Hannover gezeigt hat. In dem von der EU geförderten Projekt IMES war sie nicht nur die Koordinatorin des Gesamtprojekts mit Partnern aus Italien und Spanien, sondern hat das Projekt auch maßgeblich mit entwickelt und war am Schreiben des Förderantrags beteiligt. Die Rolle beinhaltete für sie das Organisieren von Konferenzen und die Verantwortung für die Evaluation und das Monitoring des Projekts. Genau wie Herr G. ist sie maßgeblich an Übersetzungsprozessen beteiligt, auf deren Basis Projekte wie das zur digitalen Integration von Migranten in Hannover zustande kommen. Wie die Analyse meiner Daten zeigt, spielte die enge Zusammenarbeit zwischen ihr und Herrn G. eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der Inhalte der Maßnahme. Diese Verbindung ist aber nicht allein ausschlaggebend, denn es gibt weitere Akteure der Projektwerkstatt, die für die Entstehung und Konzeption von Projekten eine wichtige Rolle spielen. Einer von ihnen ist Herr F., der zum Vorstand der Projektwerkstatt gehört. Der studierte Sozialpädagoge ist verheiratet und hat vier Kinder. Er arbeitet als Stadtteilmanager in Drispenstedt, einem so genannten „sozial benachteiligten“ Stadtteil in Hildesheim. Er betreut dort das Stadtteilerneuerungsprogramm „Soziale Stadt“ und das EU-Bundesprogramm „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS). Im Rahmen seiner Tätigkeit ist er „von morgens bis abends mit Integrationsarbeit beschäftigt“, wie er mir erzählte. Auf der Webseite der Projektwerkstatt sagt er zu dem Thema: „Beruflich spielen die Auseinandersetzung mit Interkulturalität und Fragen der Integration eine Hauptrolle neben Fragen der Integration in den Arbeitsmarkt und Projekten zur

250 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? Aktivierung und Beteiligung von Bewohner/innen zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Global denken, lokal Handeln – es bleibt viel zu tun, um die bereichernden Elemente der Globalisierung neben den zunächst zunehmenden Spaltungstendenzen sichtbar und kraftvoll werden zu lassen!.“ (Projektwerkstatt)

Wie die Selbstbeschreibung andeutet, hat er ein großes Interesse an „Integration“. Es ist für ihn von großer Bedeutung, Globalisierung nicht negativ zu sehen, sondern die Möglichkeiten zu nutzen, die sich aus ihr ergeben. Das ermöglicht es seiner Meinung nach aktuellen gesellschaftlichen Spaltungstendenzen entgegen zu wirken. Eine der Möglichkeiten stellen für ihn die neuen Medien und Technologien wie Computer und Internet dar. Er unterstützt Maßnahmen in der Richtung nicht nur im Stadtteil, in dem er arbeitet, sondern er beteiligte sich auch aktiv an der Entwicklung des Konzepts zum Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten in Hannover. Er schätzte die Projektidee von Beginn an als sehr innovativ ein und sieht darin ein großes Potential zur Befähigung von Migranten. Was sich aber in seinem Enthusiasmus für ein Projekt wie diesem auch offenbart, ist der enorme Innovationsdruck, unter dem er aufgrund seiner Anstellung bei der Stadt Hildesheim steht. Das drückt sich darin aus, dass von ihm verlangt wird, die soziale, kulturelle und ökonomische Integration von benachteiligten Gruppen im Stadtteil voran zu bringen. Im Rahmen seiner Berufspraxis steht auch die Integration von Migranten ganz oben auf seiner Agenda, da in Drispenstedt der Migrantenanteil an der Bevölkerung hoch ist. Aus seinen Erfahrungen heraus sieht er sich selbst als „Berater“ der Projektwerkstatt. Während meiner Feldforschung zeigte sich, dass sich Herr F. im Hintergrund und rein ehrenamtlich für die Projektwerkstatt engagiert. Er lässt bei der Entwicklung von Projekten seine Erfahrungen einfließen und beteiligt sich an den Diskussionen, die mit der Entwicklung und Durchführung von Projekten im Zusammenhang stehen. Motiviert durch seine frühere Mitarbeit in Eine-Welt-Gruppen und in der Fair-Handelsorganisation El Puente, beteiligt er sich gerne an der Vorstandsarbeit in der Projektwerkstatt. Wie die Analyse der Verbindungen zwischen Herrn G., Frau S. und Herrn F. sowie ihrer Praktiken der Wissensproduktion zeigen, sind die Prozesse von ihren persönlichen Beziehungen abhängig. Die drei kennen sich seit vielen Jahren und sind ein „eingespieltes Team“. Neben Herrn G. spielt vor allem Frau S. eine bedeutende Rolle bei der Produktion von Wissen zur digitalen Integration von

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Migranten5. In Bezug auf das EU-Projekt IMES wird das besonders deutlich, denn der Fokus, digitale Integration von Migranten als Schwerpunkt des Projekts in Hannover zu etablieren, stammt aus der Verbindung und den Ideen von Herrn G. und Frau S.. Ähnlich wie in Callons Studie (2006 b) über die Domestikation von Kammmuscheln in der St. Brieuc-Bucht in Frankreich, zeigt sich auch bei der Entwicklung des Projekts IMES, wie bedeutend die persönlichen Motive, Handlungen, Ideen und Ziele der beteiligten Akteure sind. Insbesondere die Übersetzungsprozesse, die Herr G. und Frau S. kollektiv in Gang setzten, spielen eine maßgebliche Rolle für das Zustandekommen des Projekts IMES. Neben diesen Akteuren haben in der Hannoveraner „Denkfabrik“ und damit für die Produktion von lokalem Wissen zur digitalen Integration von Migranten weitere Personen eine wichtige Bedeutung. In der Vorbereitungsphase von IMES spielte Frau A. eine bedeutende Rolle. Wie ich zu Beginn des Kapitels schon geschrieben habe, war sie meine erste Kontaktperson in Hannover. Sie studierte während dieser Zeit Informationsmanagement und absolvierte wie viele andere ihr Praktikum bei der Projektwerkstatt. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit wurde sie von Herrn G. damit beauftragt, als Honorarkraft das EU-Projekt IMES mit vorzubereiten. Sie koordinierte die Recherche und stellte wichtige Verbindungen zu Akteuren und Organisationen her, die im Rahmen der digitalen Integration von Migranten Erfahrungen haben und als Partner oder Experten für das Projekt gewonnen werden sollten. In den Worten der Übersetzungskonzeption aus der Akteur-Netzwerk-Theorie problematisierte sie im Umfeld der Projektwerkstatt und darüber hinaus das Thema digitale Integration von Migranten. Sie versuchte das Interesse von Akteuren zu gewinnen und sie dazu zu bewegen, sich am Projekt IMES zu beteiligen (vgl. Callon 2006 b: 146-164). Im Rahmen ihrer Aktivitäten kontaktierte sie auch mich, da sie durch meine Forschungstätigkeiten in Esslingen auf mich aufmerksam wurde. Im weiteren Verlauf baute sie den Kontakt zu Herrn W. auf, dem Leiter des Projekts buerger-gehen-online aus Esslingen. Herr W. stellte sein umfangreiches Wissen zur Verfügung, das Einzug in den Hannoveraner Projektansatz fand. Besonders im Hinblick auf den Aufbau des Zugangsnetzwerkes zu Computer und Internet gab er wichtige Erfahrungen preis. In der Rolle von Frau A. spiegeln sich die Merkmale eines New Mediators wieder: sie wirbt für das

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Herr F. ist zwar seit der Gründung der Projektwerkstatt im Vorstand, sieht seine Rolle aber viel mehr als „beratendes Vorstandsmitglied im Hintergrund“. Insofern trägt er mit seinen Erfahrungen im Prozess der Ideen- und Strategieentwicklung mit bei, ist aber nicht aktiv, etwa als Antragsteller/-schreiber involviert.

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Vorhaben zur digitalen Integration von Migranten in Hannover, stellt Kontakte zu Experten her, diskutiert mit ihnen und fördert mit der Praxis in besonderer Weise die Verwendung von neuen Medien und Technologien in integrativen Prozessen. In ihrem Vorgehen als New Mediator wendet sie Übersetzungspraktiken an (vgl. Callon 2006 b; Latour 2002), mit denen sie erreichen möchte, möglichst viele Mitstreiter für das Projekt IMES zu finden. Frau A. wurde schließlich von Frau N. als „Nachfolgerin“ beerbt. Sie war ab 2005 die Koordinatorin von IMES.6 Die kurdisch stämmige Frau bündelt innerhalb des Projekts das Wissen der beteiligten Akteure und steht in engem Kontakt mit dem Projektleitern Herrn G., der mit ihr zusammen aktuelle und künftige Strategien der digitalen Integration in Hannover berät und weiter entwickelt. Sie ist für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich und bemüht sich um die Kontakte zu den Organisationen, die sich als Zugangsorte an IMES beteiligen. Frau N., die eine große Erfahrung in der Stiftungs- und Frauenarbeit hat, vertritt in der Projektwerkstatt die Position der Migrantin und lässt ihr Wissen zu migrationsspezifischen Themen einfließen. Gleichzeitig organisiert sie wichtige Treffen von den Vermittlern, die als Akteure am Prozess der digitalen Integration von Migranten in Hannover beteiligt sind. Die so genannten „Mentorenstammtische“ finden einmal pro Monat statt und bilden eine wichtige Plattform des Austauschs der ehrenamtlichen Akteure der NGO. Die Freiwilligen sind Mentoren und Praktikanten, die als Vermittler an denn Zugangsorten arbeiten. Einerseits werden bei den Zusammenkünften wichtige Probleme besprochen und Weiterbildungsmaßnahmen durchgeführt, andererseits wird wichtiges Erfahrungswissen von den Standorten gebündelt. Die Gruppe der Ehrenamtlichen, auch diejenigen mit eingerechnet, die in anderen Arbeitsfeldern der Projektwerkstatt tätig sind, bilden eine wichtige Gruppe von Akteuren, die für die Projektwerkstatt tätig sind. Vor allem die Praktikanten, die ein mindestens dreimonatiges Praktikum bei der Projektwerkstatt absolvieren, tragen wesentlich zum Alltagsgeschehen in der Organisation bei. Die meisten von ihnen sind nach einer Reihe von Schulungen in Kameratechnik, Videoschnitt und in redaktionellem Arbeiten damit beschäftigt, Radio- und Fernsehbeiträge für die

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IMES (www.imes.info) wurde bis Ende 2005 von der EU finanziert. Seit dem Ende der Förderung besteht das Angebot in Hannover weiter, d.h. es gibt bis heute betreute Zugangsorte zu PC und Internet an verschiedenen Standorten in Hannover.

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Magazine zu produzieren, die die Projektwerkstatt im niedersächsischen Bürgerfunk ausstrahlt.7 Abschließend möchte ich mit Frau D. eine Akteurin vorstellen, die zwar eher im Hintergrund arbeitet, die aber für die Projektwerkstatt von besonderer Bedeutung ist. Sie ist ausgebildete Ingenieurin der Elektrotechnik und arbeitet seit fünf Jahren als Honorarkraft für die Organisation. Sie ist für das Schnitt-Training neuer Praktikanten zuständig. Die Tätigkeit beinhaltet, dass sie die Neulinge in den Umgang mit dem Videoschnittprogramm einarbeitet. Außerdem ist sie Computeradministratorin der Projektwerkstatt und betreut die Webseite. Im Rahmen meiner Forschung begegnete ich ihr regelmäßig wenn sie bei den Computern und der Kommunikationstechnik nach dem Rechten sah. Außerdem hat sie die Internetplattform des EU-Projekts IMES programmiert und betreut diese bis heute. Es zeigt sich, dass Frau D. umfangreiche Kompetenzen, wie Webseiten- und Datenbankprogrammierung hat, denn die Internetseite des Projekts hat vielfältige Funktionen. In den vergangenen Abschnitten habe ich die Akteure der Projektwerkstatt, ihre Verbindungen zueinander und ihre Aufgaben dargestellt. Aus dem Netzwerk aus Akteuren, Ideen, Standpunkten aber auch Technologien, wie den Videoschnittplätzen, ergeben sich die Arbeits- und Handlungsfelder der Projektwerkstatt. Es wird deutlich, dass sich die Arbeit in der Organisation aus den Beziehungen der Akteure zueinander ergeben, denn sie sind dafür verantwortlich, welche Projektideen sie entwickeln und in welchen Feldern sie sich betätigen. Im Folgenden zeige ich die Arbeits- und Handlungsfelder der Projektwerkstatt, um deutlich zu machen, warum die Projektwerkstatt im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Hannover als Motor der Entwicklungen zu betrachten ist. Arbeits- und Handlungsfelder Die Felder, in denen sich die Akteure der Projektwerkstatt bewegen, sind vielfältig, folgen aber bestimmten Grundsätzen, die der Verein in seinen Aktivitäten vertritt. Die Basis, auf der die Arbeit der Organisation fußt, ist die Forderung nach einer „gerechteren“ und „gleichberechtigten“ Welt – ein Ziel das viele Ein-

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Die Praktikanten und Mentoren habe ich hier nur angedeutet aber nicht vorgestellt. Diejenigen, die in meiner Feldforschung eine Rolle gespielt haben, führe ich im folgenden Abschnitt ein, wenn ich das EU-Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten erörtere.

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richtungen der Zivilgesellschaft verfolgen. Die Position drückt sich durch das aussagekräftige Symbol aus, das auf der Startseite des Webauftritts der NGO zu sehen ist. Die schlicht gehaltene Homepage zeigt im Zentrum der Seite die so genannte „Peterskarte“. Abbildung 14: Peterskarte auf der Homepage der Projektwerkstatt

Quelle: www.projektwerkstattue.de

Durch die Verwendung des Symbols will der Verein zum Ausdruck bringen, dass er sich für eine „gerechtere“ Welt einsetzt. Auf der Webseite wird man nicht alleine gelassen, denn die Peterskarte und ihre Bedeutung wird in einer umfangreichen Erläuterung näher erklärt. „Die Peterskarte gibt die Größenverhältnisse auf der ganzen Erde richtig wieder, ihr rechtwinkliges Gradnetz erleichtert die Orientierung. Wenn dieses Projektionsprinzip durch seine paritätische Darstellungsweise die vom weißen Manne bewohnten Länder kleiner darstellt als die bisherigen Karten es taten und die Länder Europas auch aus dem Karten-Mittelpunkt verbannt, ist dies im Zeitalter der Gleichberechtigung aller Völker ein zusätzlicher Vorteil, der notwendig aus ihrer durch Flächentreue, Achstreue und Lagetreue bestimmten Objektivität folgt.“ (Projektwerkstatt)

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Interpretiert man das Zitat als Aufruf für eine gerechtere, auf Gleichberechtigung basierenden Welt, dann fällt es einfacher, die Aktivitäten der Akteure der Projektwerkstatt zu verstehen. Die Motivationen, die sich hinter der Entwicklung und Umsetzung von Projekten verbergen, haben immer das Ziel, mit den verschiedenen Maßnahmen zu einer demokratischen Welt beizutragen. Der Wille zu einem größeren Einsatz für mehr Gerechtigkeit äußert sich auch in den informellen Gesprächen, die ich mit Herrn G. und Frau S. während meiner Forschung geführt habe. Abgeleitet aus den Grundannahmen liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten im Handlungsfeld Bildung. Die Projektwerkstatt entwickelt neue und innovative Konzepte im Bereich der Erwachsenenbildung. Ein besonderes Augenmerk bei der Entwicklung von Maßnahmen legt die Organisation auf Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Durch die interkulturelle Bildungsarbeit soll die soziokulturelle und politische Befähigung benachteiligter Bevölkerungsgruppen wie Migranten erreicht werden. In den letzten Jahren hat die NGO zunehmend auch die Zielsetzung entwickelt, spezifische Bildungsangebote für „bildungsferne“ Migranten ins Leben zu rufen. Das EU-Projekt IMES, das ich später genauer darstelle, ist ein gutes Beispiel dafür. Das Engagement im Bildungsbereich umfasst inhaltlich nicht nur das Thema neue Medien, sondern auch interkulturelle und antirassistische Arbeit, Migration, Entwicklungspolitik, Umweltinformation und -projekte sowie Maßnahmen im Bereich der Agenda 21. Als Zielgruppe spricht der Verein in seinen Projekten immer nationalitätenübergreifend sowohl junge Menschen wie auch Erwachsene an. Ein Arbeitsschwerpunkt der Projektwerkstatt, der sich aus den Zielsetzungen ergibt, ist die Produktion von Fernsehbeiträgen, die im niedersächsischen Bürgerfunk ausgestrahlt werden. Herr G. ist in dem Handlungsfeld der Chefredakteur. Die Praktikanten, die meist in einem Team aus vier bis sechs Personen arbeiten, lernen zunächst Kameratechnik, Bildgestaltung, Licht, Ton und Beitragsdramaturgie. Nach der Schulung in digitalen und journalistischen Kompetenzen beginnt ihr Arbeitsalltag in der Projektwerkstatt. Sie sind in den Räumlichkeiten hauptsächlich damit beschäftigt, für neue TV-Beiträge zu recherchieren und zu planen oder bereits gedrehte Aufnahmen zu schneiden.

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Abbildung 15: Praktikanten bei der Arbeit

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2005

Das Bild zeigt drei Praktikanten bei einer typischen Arbeitssituation im Hauptraum der Organisation. Die jungen „Redakteure“, „Journalisten“ und „Produzenten“ stehen während ihres Praktikums in einem intensiven Prozess des Austauschs von Ideen, Standpunkten und Handlungsansätzen. Sie unterstützen sich gegenseitig bei der Vorbereitung und Realisierung von Interviews, sowie beim Erstellen von Videomaterial. In der Praxis sieht das so aus, dass sie meist zu zweit oder dritt zum „Dreh“ eines Beitrags gehen. Ein Praktikant ist als „Redakteur“ hauptverantwortlich und führt die Interviews, die für den Beitrag benötigt werden. Der oder die Begleiter übernehmen während des Drehens die Aufnahme von Bild und Ton an der Videokamera. Nach der Aufnahme des Materials schneidet der „Redakteur“ den Beitrag in Eigenverantwortung oder holt sich gegebenenfalls bei andern Praktikanten, sowie bei Herrn G. Hilfe, wenn es um Probleme geht, die bei der Arbeit auftauchen (vgl. Rist Material H 2006). Produziert werden die Beiträge für „h1“, einem offenen Fernsehkanal, der in Hannover über Kabel zu empfangen ist. Einer Untersuchung des Instituts EMNID aus dem Jahr 1998 zur Folge kennen über 60 Prozent der Kabelempfän-

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ger den Kanal. Über 30 Prozent haben ihn auch schon gesehen. Die Sendungen werden von der Projektwerkstatt unter dem Label „blickpunkt tv“ produziert. Abbildung 16: Vorder- und Rückseite des Flyers von blickpunkt tv

Quelle: Projektwerkstatt

Die Produktion von Medienbeiträgen stellt das „Alltagsgeschäft“ der Einrichtung dar. Die „Magazine für Umwelt und Entwicklung“ beinhalten die Rubriken „umwelt“, „masala“, „jugend“, „spezial“, „global“ und „food“. Die „Produktion blickpunkt tv“ ist eine Art Container für das gesamte Themenspektrum, das die Einrichtung vertritt. In den Sendungen wird über die Themen berichtet, für die sich die Projektwerkstatt einsetzt. Die Beiträge haben meist einen Bezug zur Region Hannover und versuchen, unterrepräsentierte Sichtweisen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Aus dem Grund werden oft Sendungen von und mit Migranten produziert. Insgesamt ist mir während der Forschung aufgefallen, dass die Praktikanten große Eigenverantwortung und Freiheit bei der Gestaltung von Beiträgen haben. Das Vertrauen von Herrn G. in die Praktikanten drückt sich dadurch aus, dass er ihnen viele Freiheiten lässt. Es zeigt sich darin der Ansatz der Gleichberechtigung, den er bei seiner Arbeit verfolgt. Dadurch gelangen neue Themen, Perspektiven, Standpunkte und Handlungsansätze in das Erfahrungswissen der Projektwerkstatt. Herr G. sagte mir, dass durch die gezielte Auswahl der Praktikanten, die aus verschiedenen Studienrichtungen kommen, kontinuierlich ein Team aus Akteuren vorhanden ist, das die Dynamik in der Or-

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ganisation positiv beeinflusst. Durch die wechselnden Praktikanten können immer wieder neue und innovative Ideen Einzug in die Projektwerkstatt finden. Ein weiteres Projekt, das eine dauerhafte Institution in der Projektwerkstatt darstellt, ist das „Regenbogen Radio“. Die Maßnahme ist ein „interkulturelles Radio zum Mitmachen für Migranten in und um Lehrte“, wie es auf einem Projektflyer dazu heißt. Genau wie das Projekt zur digitalen Integration von Migranten in Hannover, wurde das Regenbogen Radio im Rahmen des EU-Projekts IMES entwickelt, dessen Träger die Projektwerkstatt ist. Zielgruppe sind Migranten in Lehrte, einer Kleinstadt wenige Kilometer von Hannover entfernt. Sie haben in dem Angebot die Möglichkeit, eigene Radiosendungen zu produzieren, in denen sie Themen aus ihrem Alltag vor das Mikrophon bringen können, sowie ihre Meinungen, Wünsche und Kritik ausdrücken können. Um sich auf diese Weise selbst repräsentieren zu können, werden ihnen von den Akteuren der Projektwerkstatt technische und inhaltliche Grundlagen vermittelt. Das beinhaltet Themensuche und -festlegung, Interview, Umfrage, Reportage, Moderation, Aufnahme- und Schnitttechnik und Schreiben für das Hören. Durch die Vermittlung der vielfältigen Kompetenzen lernen die Teilnehmer der Radiogruppe, wie man einen Beitrag von der ersten Idee bis zur fertigen Sendung erstellt. Ausgestrahlt werden die Medienerzeugnisse im Bürgerradio „Radio Flora“. Das Ziel der Aktivitäten ist nicht nur, Migranten zu befähigen, sich selbst in der Öffentlichkeit zu repräsentieren, sondern auch, sie dadurch als Multiplikatoren zu gewinnen, die die Ziele von Regenbogen Radio in ihren Lebenswelten „übersetzen“ und dadurch andere zum Mitmachen bewegen. Auf diese Weise leistet die Maßnahme einen Beitrag zur Integrationspraxis. Die letzten Abschnitte haben gezeigt, dass in der Arbeit der Projektwerkstatt intensiv Medien als Werkzeuge eingesetzt werden und die Akteure selbst Medienbeiträge produzieren. In einem dynamischen Prozess aus der eigenen Beteiligung an der Medienproduktion und der Vermittlung von Kompetenzen werden andere befähigt, selbst im Feld der Medien aktiv zu werden. Dadurch entstehen Synergieeffekte, die den Akteuren zu gute kommen, die sich für die Projektwerkstatt und deren Ziele engagieren. Es wird nicht nur ein Prozess des gegenseitigen Lernens angestoßen, sondern die Projektwerkstatt zeigt auch die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Themenbereichen Umwelt, Entwicklung und Migration auf. Die Einrichtung möchte mit ihren Aktivitäten gemeinsame Interessen aufzeigen und die Zusammenarbeit verschiedener Nichtregierungsorganisationen in den oben genannten Themenbereichen fördern. Als Erfolgsparameter für eine effektive Bildungs-, Integrations- und Medienarbeit hat sich die Projektwerkstatt selbst zum Ziel gesetzt, in ihren Projekten immer Migranten und Migrantenorganisationen mit einzubinden. Dem zur Folge wird bei der Eva-

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luation von Projekten immer berücksichtigt, inwiefern Migranten durch die einzelnen Maßnahmen angesprochen und zum Mitmachen bewegt werden können. Mit der Herangehensweise verfolgt die Projektwerkstatt das Ziel, auch organisationsintern integrativ zu sein. Man will mit gutem Beispiel voran gehen. Die komplexen Handlungsansätze, die ich in den letzten Abschnitten dargestellt habe, zeigen, warum die Projektwerkstatt ein wichtiger Motor der Entwicklungen in Hannover ist. Wie keine andere NGO ihrer Größenordnung in Hannover bemüht sie sich um einen heterogenen Ansatz, der versucht, nicht nur alte, sondern auch neue Medien als Werkzeug zur Integration von Migranten zu nutzen. Ich stelle nun dar, „warum der Motor läuft“. Warum der Motor läuft In den letzten Abschnitten habe ich die Projektwerkstatt als Organisation, ihre Akteure, Aufgaben und die Arbeits- und Handlungsfelder dargestellt. Es zeigt sich, dass Menschen wie Herr G., Frau S., Herr F., Frau N., Frau D. und eine Vielzahl von Praktikanten und ehrenamtlichen Mentoren für die Organisation tätig sind. Sie konstituieren durch ihre Handlungen, Kommunikations- und Übersetzungsleistungen ein dichtes Beziehungsnetz, in dem sich die kulturelle Praxis vollzieht, mit der sich die Projektwerkstatt an zivilgesellschaftlichen Prozessen beteiligt. Es bestätigt sich meine These, die ich im Theorieteil aufgestellt habe. Demnach hat die kulturelle Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien der digitalen Integration von Migranten, so wie sie in der Projektwerkstatt zu beobachten ist, rhizomartigen Charakter. Das bedeutet, dass durch die Beziehungen, die es zwischen den Akteuren gibt, viele Ideen, Standpunkte und Handlungsansätze in den Entwicklungsprozess von Integrationsstrategien einfließen. Genau darin liegt ein wichtiges Moment, warum die Projektwerkstatt eine Dynamik hat, aus der eine Praxis entsteht, in der auf innovative Weise Projekte entstehen. Es sind die Verbindungen der Akteure und das gebündelte Wissen, was sich daraus ergibt. „Niemand verbindet alle notwendigen Kompetenzen in einer Person“ (Lovink 2003: 261). Durch verschiedene Methoden und in unterschiedlicher Intensität gehen die Akteure deshalb Beziehungen zueinander ein – Latour hat den Prozess mit den „Assoziationsmethoden“ beschrieben (Latour 2006 b: 195ff). Es sind Praktiken wie Sprechen, Diskutieren, Streiten, Wissen produzieren und Übersetzen, auf deren Basis sich kulturelle Praxis vollzieht. Betrachtet man die Projektwerkstatt und ihre Akteure auf diese Weise, dann zeigt sich in ihr eine „Assoziation“, in der menschliche und nicht-menschliche Wesen miteinander verbunden sind (vgl. Theoriekapitel). Es sind Personen wie Herr G., Frau S., Frau N., die Praktikanten und Mentoren der Projektwerkstatt, sowie nicht-

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menschliche Akteure wie die Video-Schnittplätze oder die Internetplattform, die der Assoziation ihr Gesicht geben. Menschliche und nicht-menschliche Akteure verschmelzen in einer Assoziation gewissermaßen zu einer handelnden Entität. In der Verbindung der Akteure zueinander zeigen sich die Austausch-, Übersetzungs- und Transformationsprozesse, in denen die Akteure kontinuierlich neue Bedeutungen erlangen und verschiedene Rollen einnehmen. Aus dieser dynamischen Assoziation heraus formen sie die Ziele der Projektwerkstatt, entwickeln gemeinsame Ideen und Strategien. Durch die Praxis versuchen die Protagonisten der NGO kontinuierlich genügend Akteure in die Umsetzung ihrer Vorhaben mit einzubeziehen. Während ich im letzten Abschnitt den Fokus auf das „Innen“ der Projektwerkstatt gelegt habe, gibt es aber auch das Außen. Wichtig ist jedoch, dass die Trennung von innen und außen rein analytischer Natur ist. Genau wie in einem Theater gibt es dass Innen, das aus dem Inventar, der Bühne, den Schauspielern, dem Gebäude und den Gästen besteht. Aber die Gäste kommen und gehen, die Schauspieler haben ein Leben außerhalb des Theaters, der Betrieb ist von Zuwendungen abhängig – kurz gesagt: es gibt auch ein „Außen“, was für das Bestehen und den Erfolg eines Theater mindestens genauso wichtig ist, wie das Innen. Gleichzeitig wird offensichtlich, dass die Grenzen zwischen innen und außen fließend sind, sich gewissermaßen auflösen. Das Kontinuum verleiht dem Theater eine Dynamik und Lebendigkeit, durch die es wandel- und veränderbar ist. Genauso ist das bei der Betrachtung der Projektwerkstatt zu verstehen. Die Analyse zeigt, dass sich die Assoziation kontinuierlich verändert und neue Formen annimmt, da sie sich mit anderen Assoziationen verbindet. An dem Punkt wird der Bezug zu Latours Konzept der Assoziation und des Kollektivs besonders deutlich (vgl. Latour 2002: 236-264, 2006 b: 209-211). Es geht darum, die Verbindungen zwischen all jenen Elementen, Personen und Akteuren zu untersuchen, die miteinander im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und politischer Prozesse und Sachverhalte assoziiert sind. Assoziationen, die sich in Kollektive konstituieren, bleiben also nie die gleichen. In der Art und Weise, wie ihre Akteure Verbindungen zu anderen Assoziationen eingehen, verändern sie sich und ihre Bedeutung. Es entstehen neue Kollektive, die in meinem Untersuchungsfeld dadurch sichtbar werden, dass sich andere Einrichtungen, die ihre Computer und Räumlichkeiten als Zugangsorte zur Verfügung stellen und Vereine, die über spezifisches Wissen in der Migrations- und Integrationsarbeit haben, einem Projekt zur digitalen Integration von Migranten in Hannover anschließen. Es sind Zweigstellen der Stadtbibliothek, der deutschtürkische Kulturverein Arkadaş, der Freundeskreis Tambacounda e.V. und der Verein Tapas e.V., die als Akteure und Assoziationen das besagte Kollektiv er-

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weitern. Auf diese Weise zirkulieren menschliche und nicht-menschliche Akteure und ihr teils materialisiertes Wissen in dem rhizomartigen Netz aus Assoziationen und Akteuren. Das eröffnet für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten ein Wissensarsenal, das die assoziierten Akteure dazu befähigt, unabhängig von staatlichen Vorgaben Maßnahmen zu entwickeln. Lovink weist an der Stelle auf die Gefahr hin, dass durch den Aufstieg des Netzes und seiner Implikationen aber auf der Kehrseite der Medaille zunehmend auch Abhängigkeiten entstehen. „Der Aufstieg des Netzes wird Nutzerinnen und Nutzer nur noch abhängiger von Kräften von außen machen, wie von Übertragungskapazitäten, Services- und Software-Providern“ (Lovink 2003: 261). Neben den technischen Abhängigkeiten entstehen aber auch Bindungen zu anderen NGO’s, Stiftungen und Geldgebern. So ist es nach Lovink (ebd. 263) heute Gang und Gebe, dass NGO’s fünf oder zehn verschiedene Geldgeber auftreiben müssen, um ihr Budget aufrecht zu erhalten. Betrachtet man die Bedeutung der vielen Mikropraktiken einer Organisation wie der Projektwerkstatt, also das, was innerhalb der NGO passiert, sowie die Makropraktiken, die sich darin zeigen, dass es vielfältige Verbindungen zu anderen Einrichtungen und Akteuren gibt, dann wird deutlich, wie wichtig es ist, bei der Analyse die Grenze zwischen Mikro- und Makroebene aufzulösen. Weder lässt sich ein Phänomen wie die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten durch die Projektwerkstatt dadurch verstehen, wenn man sich nur mit der Mikroebene beschäftigt. Noch reicht es auf der anderen Seite, wenn man sich dem Phänomen nur auf einer Makroebene nähert (vgl. Giddens 1997: 192-198). Auf der Mikroebene sind es die Handlungen, Praktiken, Beziehungen und Übersetzungsprozesse, die der kulturellen Praxis von Einrichtungen, Assoziationen und Kollektiven ihr Gesicht geben. Die Makroebene ist das, was oft als größere oder höhere Ebene betrachtet wird, die in vielen Sichtweisen als das angesehen wird, was Kultur und Gesellschaft letztendlich ausmacht (vgl. Castells 2001). In meinem Untersuchungsfeld in Hannover kann die Ebene der Zivilgesellschaft als die strukturelle Ebene betrachtet werden. Es ist der Kontext, in dem es um die Rolle geht, die Nichtregierungsorganisationen spielen, in welcher Form sie von Zuwendungen abhängig sind, wie sie mit staatlichen Einrichtungen in Verbindung stehen und welche gesellschaftlichen Aufgaben übernommen werden. Die kulturelle Praxis der Projektwerkstatt und die Dynamik, die sich darin verbirgt, werden jedoch nur verstehbar, wenn man alle verschiedenen Ebenen in die Betrachtung mit einbezieht. Genau wie die Mikroebene das Geschehen beeinflusst, wird es auch von der Makroebene mit geformt. Es ist also sinnvoll, alle Ebenen und die Verbindungen zwischen ihnen zu untersuchen, um zu zeigen, aus welchen Quellen eine Einrichtung wie

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die Projektwerkstatt ihre Energie schöpft, die sie benötigt, um als NGO in der Zivilgesellschaft aktiv zu sein, indem sie zum Beispiel Projekte zur digitalen Integration vom Migranten ins Leben ruft. Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn Herr G. sagt, „wie wichtig es ist, sich als Einrichtung in Netzwerken zu organisieren, denn dadurch hat man mehr Kraft und Wissen, um Ideen umzusetzen und Ziele zu erreichen“. Die Verbindungen von Akteuren und ihre Handlungen stehen bei der Analyse der kulturellen Praxis, in der die Projektwerkstatt Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt und umsetzt, aufgrund ihrer Bedeutung als ein zentrales Moment von Kultur und Gesellschaft in meinem Fokus. Nachdem ich deutlich gemacht habe, wie bedeutungsvoll die Praxis des Netzwerkens sowie die Mikro- und Makroebenen von Assoziationen wie der Projektwerkstatt für deren Funktionieren als NGO in der Zivilgesellschaft sind, muss nun ein weiterer Aspekt angesprochen werden, der der Projektwerkstatt als wichtige Energieressource dient. Es geht hier um Macht und Machtwirkungen. Indem ich in meiner Forschung die besagten Netzwerke rekonstruiere, die die Gestalt von Assoziationen ausmachen, leiste ich einen Beitrag zur Beschreibung und Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Es zeigt sich, dass es auf die produktiven Faktoren von Macht ankommt und auf deren Mikrophysik, die sich im alltäglichen der Akteure in vielfältigen Machtbeziehungen äußern (vgl. Latour 2006 c: 369-398; Giddens 1997: 65-67; Foucault 1983). Es wird deutlich, dass Macht grundsätzlich eine Rolle in sozialer und kultureller Praxis spielt. Sie ist nicht einem bestimmten Akteur zu Eigen und einem Anderen nicht, sondern sie entfaltet sich immer in den Beziehungen zwischen den Akteuren – und zwar auf allen Ebenen. Macht ist nichts, das einem Akteur zu Eigen ist, sondern vielmehr eine Instanz, durch die Verbindungen in einem Netzwerk aus Akteuren organisiert und geregelt werden. In dem Sinne kann man also von Machtwirkungen sprechen, denn Macht wirkt, indem sie die Beziehungen zwischen Akteuren beeinflusst. Sie spielt sowohl für die kulturelle Praxis innerhalb der Projektwerkstatt eine Rolle, wie sie sich auch in den Verbindungen äußert, die die Akteure der Organisation zu anderen Akteuren und Einrichtungen haben. Macht spielt mit, wenn Kooperationen geschlossen werden, Fördergelder vergeben werden, Projekte entwickelt und umgesetzt werden oder wenn bestimmt wird, wer Zielgruppe von Maßnahmen ist. Gesellschaftliche und kulturelle Praxis ist gewissermaßen vollkommen von Macht durchdrungen – in einem positiven und produktiven Sinne. Denn sie erzeugt in Netzwerken, in denen Organisationen wie die Projektwerkstatt aktiv sind, Bewegungen und Dynamiken, aus denen heraus die Akteure in der Lage sind zu handeln.

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Machtwirkungen erzeugen aber auch Druck und Zwang. Zoomt man zum Beispiel hinein in die Verbindung zwischen der Projektwerkstatt und Geld gebenden Fördereinrichtungen, dann wird schnell deutlich, dass die NGO in dem Feld viele Konkurrenten um knappe Mittel hat – Mittel, ohne die eine Einrichtung wie die Projektwerkstatt nicht existieren kann. Daraus ergibt sich ein Druck zur Innovation, denn lokale, nationale und europäische Geldgeber, wie das Land, der Bund oder die Europäische Union verlangen besonders innovative Ideen zur Förderung von Maßnahmen. Der Druck in Verbindung mit dem assoziierten Wissen vieler menschlicher und nicht-menschlicher Akteure hält kontinuierlich eine Bewegung am laufen, durch die kontinuierlich Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden. Der Imperativ für eine innovative kulturelle Praxis, der sich aus Machtwirkungen ergibt, macht Akteure der Projektwerkstatt wie Herrn G. immer wieder aufs neue zu kulturellen Produzenten im Sinne von Marcus (1997: 1-18), oder zu New Mediators, so wie ich sie in meiner Studie bezeichne (vgl. Fallstudie I). Macht in diesem Verständnis ist produktiv, d.h. sie wirkt an kultureller Praxis mit. Sie führt dazu, dass Herr G. Verbindungen zu Akteuren aus anderen Einrichtungen eingeht und die Projektwerkstatt Förderanträge bei der Europäischen Union stellt. Außerdem hat sie Einfluss darauf, welche Ziele die Akteure der Projektwerkstatt für ihre Organisation abstecken und welche Projekte sie durchführen – kurz: sie ist eine zentrale Ressource, die die Einrichtung in Bewegung hält. Nachdem ich die Projektwerkstatt, ihre Akteure, das Umfeld, das Eingebunden Sein in Netzwerken und die theoretischen Implikationen, die sich daraus ergeben, erörtert habe, zeige ich im Folgenden, wie die Projektwerkstatt ein Projekt zur digitalen Integration von Migranten in Hannover entwickelt und umgesetzt hat.

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D AS P ROJEKT IMES „In der Zukunft werden mehr als 20% der Bevölkerung in Europa aus den Ländern außerhalb der EU kommen. Wenn wir unsere soziale Koexistenz und demokratische Partizipation behalten und ausbauen wollen, muss Europa einen verstärkten Integrationsprozess initiieren. Dazu brauchen wir aktive Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten für MigrantInnen in Europa.“ IMES / IMES.INFO

Das Zitat stellt die Ausgangssituation dar, von der aus das EU-Projekt IMES ins Leben gerufen wurde. IMES steht für „New methods for an integration of migrants in the European Society“ und wurde von der Europäischen Union im Rahmen des Grundvig I Programms vom 01.10.2003 bis 30.09.2005 gefördert. Die Projektwerkstatt hat das Projekt zusammen mit Partnern aus Barcelona und Palermo entwickelt. Da die Maßnahmen in den Partnerländern nicht im Fokus meiner Forschung standen, gehe ich auf sie im Folgenden nicht weiter ein. Dem Zitat zur Folge hat ein sinnvoller Integrationsprozess zwei Akteursgruppen: die „alten“ und die „neuen“ Migranten. Beide Gruppen brauchen die gleichen Mittel und das gleiche Wissen um den Prozess sozialer, kultureller und politischer Partizipation der Bevölkerung zu gewährleisten. Der Vermittlung von digitalen Kompetenzen erfordert vom Einzelnen, sich an einem lebenslangen Lernprozess zu beteiligen. Nichtregierungsorganisationen nehmen in dem Rahmen als soziale und zivile Basis eine Schlüsselrolle ein. In Bezug zur Projektwerkstatt drückt sich das bereits in der Zielsetzung zum Projekt IMES aus: „Das Ziel dieses Projektes ist es, MigrantInnen mit Hilfe von neuen und aktuellen Methoden zu integrieren und ihnen das notwendige ‚Werkzeug‘ für die aktive Beteiligung in der europäischen Gesellschaft zu vermitteln“ (IMES). Um die Partizipation von Migranten in der Europäischen Gesellschaft zu fördern, brauchen sie soziokulturelle Kenntnisse, ebenso wie Fähigkeiten in den Bereichen Politikmanagement und neue Medien. IMES basiert auf den Zielen der Erwachsenenbildung und des lebenslangen Lernens. Zum Erreichen einer hohen Identifikation der Teilnehmer mit dem Projekt wurden sie von Beginn an als aktive Partner einbezogen. In der Praxis sah das so aus, dass die Zielgruppe schon während der Vorbereitung in Diskussionen eingebunden wurde und die Möglichkeit hatte, die Maßnahme inhaltlich zu beeinflussen. Das gab den Teil-

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nehmern eine Mitsprachemöglichkeit und erlaubte es ihnen, das Projekt IMES nach ihren Bedürfnissen mitzugestalten. Durch das integrative Vorgehen ist ein innovatives Bildungsangebot für Menschen mit Migrationshintergrund entstanden. In den Städten Hannover, Lehrte und Hildesheim8 haben Migranten in Bibliotheken, Schulen und Vereinen kostenlosen Zugang zu Computern und Internet. Sie können im Rahmen von Kursen und offenen Übungsangeboten digitale Kompetenzen erwerben, die sie im gesellschaftlichen, kulturellen und beruflichen Bereich zu mehr Partizipation befähigen. Betreut werden die Teilnehmer von interkulturell geschulten Mentoren und Praktikanten der Projektwerkstatt und von Tapas, einem Verein für Kultur, Völkerverständigung und Umweltschutz e.V.. Die beiden Nichtregierungsorganisationen sind die Träger von IMES. In den folgenden Abschnitten zeige ich, welche Akteure, Einrichtungen und Schauplätze eine Rolle spielen und wie sie das Projekt entwickelt und umgesetzt haben. Herr G., den ich bereits als Akteur der Projektwerkstatt vorgestellt habe, ist eine der zentralen Figuren von IMES. Zusammen mit der Vorsitzenden der Organisation, Frau S., schrieb er den Projektantrag, der bei der Europäischen Union Anfang 2002 eingereicht wurde. Aus dem Antragstext ergeben sich eine Reihe von Schwerpunkten, die für die Entwicklung und Umsetzung des Projekts maßgeblich sind. Ein wichtiger Faktor, der durch das Projekt berücksichtigt wird, ist die Sensibilität für die demographischen Gegebenheiten. Für die Praxis bedeutet das, dass die multiethnischen Bezüge an den Schauplätzen der Maßnahme in Hannover berücksichtigt werden. Schließlich sind es genau diese Umfelder, aus denen die Zielgruppe von IMES kommt. Eine wesentliche Vorgabe, die sich aus dem Projektantrag ergibt, ist, schon bei der Entwicklung von Lernangeboten wie Computerkursen Migranten selbst in die Planung mit einzubeziehen. Bereits in der Phase nahm Herr G. deshalb auf verschiedenen Veranstaltungen Kontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund und Migrantenorganisationen auf. Wie er mir erzählte, hat die Projektwerkstatt viel Erfahrung in dieser Herangehensweise. Darin verbirgt sich seiner Meinung nach nicht nur eine gleichberechtigte Behandlung von Migranten, sondern es steigere auch die Akzeptanz des Projekts auf Seiten der Zielgruppe. Ausschlaggebend ist, dass durch das Vorgehen Migranten auf Freiwilligenbasis selbst in die Planung und Gestaltung des Projekts mit einbezogen wurden und so die Interessen ihrer jeweiligen „Gruppe“ vertraten. Dadurch konnte ein

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Mein Forschungsschwerpunkt bezog sich auf Hannover, deshalb spreche ich im weiteren Verlauf nicht von Hildesheim und Lehrte.

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weiteres Ziel aus dem Projektantrag umgesetzt werden, denn durch das Einbeziehen von Migranten in die Entwicklung der konkreten Maßnahme schaffte es Herr G., mit Frau N. eine Akteurin mit Migrationshintergrund als Koordinatorin an IMES zu binden. Als Honorarkraft arbeitet sie als wichtige Vermittlerin zwischen den Teilnehmern, den Akteuren der Projektwerkstatt und den Einrichtungen, in denen das Projekt durchgeführt wird. Die Strategie führte zu einer stärkeren Akzeptanz auf der Seite der Teilnehmer und integrierte sie in die Gestaltung der Inhalte, indem ihre Standpunkte durch Frau N. in die Diskussionen um die Entwicklung der Maßnahme Einzug fanden. An der Stelle zeigt sich die Rolle als New Mediator (vgl. Fallstudie I), die Frau N. im Projekt einnimmt. Sie ist dafür verantwortlich, das Projekt und seine Ziele sowohl den potentiellen Teilnehmern, wie auch den teilnehmenden Einrichtungen transparent und verständlich zu machen. Gleichzeitig beinhaltet ihre Arbeit auch, die Positionen von Migranten und ihre spezifischen Bedürfnisse innerhalb des Projekts sichtbar zu machen. Durch die Strategie des Austauschs und des Einbeziehens von Migranten entstand schon in der Entwicklungsphase der Maßnahme ein Netz aus Akteuren und Schauplätzen, in dem das Integrationskonzept diskutiert und ausgehandelt werden konnte, das dem Projekt „zur digitalen Integration von Migranten in Hannover“ zu Grunde liegt. Die eigentliche Entwicklungsphase von IMES begann Ende 2004 in Hannover. Herr G. und Frau A., die später von Frau N. als Koordinatorin abgelöst wurde, veranstalteten einen Informationstag, zu dem etwa 20 Personen eingeladen waren. Unter ihnen befanden sich Vertreter von Einrichtungen und Organisationen wie der Stadtbibliothek und dem Kulturverein Arkadaş, genauso wie Migranten ohne institutionelle Anbindung. Unter den Gästen war auch Frau N.. Außerdem war Herr W. aus Esslingen eingeladen, um einen Vortrag über digitale Integration von Migranten in Esslingen zu halten. Herr G. erhoffte sich durch die Einladung von Herrn W., dass er durch die Darstellung der Praxis aus Esslingen das Thema der digitalen Integration von Migranten den Teilnehmern der Veranstaltung näher bringt. Die Anwesenden stellten potentielle Mitstreiter für das Projekt IMES dar, indem sie sowohl als Akteur einer möglicherweise mitwirkenden Einrichtung, wie auch als künftiger Mentor angesprochen wurden. Bereits auf der Veranstaltung zeigte sich, dass die Akteure unterschiedliche Positionen bezüglich des Integrationskonzepts vertreten, da es intensiv und kontrovers diskutiert wurde. In dem Vorgehen von Herrn G. als Projektleiter wird die Übersetzungsarbeit sichtbar, die er zu Gelegenheiten wie dem Informationstag leistet. Veranstaltungen wie diese und das Einbeziehen von möglichst vielen Personen in die Projektvorbereitung dient der Problematisierung des Handlungsfelds digitale Integration von Migranten. In der Praxis zeigt sich das, was Callon als ersten

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Moment der Übersetzung bezeichnet (vgl. Callon 2006 b: 146-150). Es sind darunter alle Praktiken und Prozesse zu berücksichtigen, die ein Akteur wie Herr G. oder eine Gruppe von Akteuren wie die Projektwerkstatt durchläuft, um andere auf ein Phänomen wie digitale Integration von Migranten hinzuweisen. Es geht ihnen darum, einen Zustand herzustellen, in dem andere Akteure, die sie für das eigene Vorhaben gewinnen möchten, darauf aufmerksam werden. Das Ziel des Vorgehens ist es, durch das eigene Handeln und Kommunizieren die persönlichen Standpunkte und Ideen so weit in den Fokus anderer zu rücken, dass sie unweigerlich darauf stoßen und sich damit konfrontieren. Herr G. und die Projektwerkstatt möchten erreichen, dass digitale Integration bei den Akteuren, die sie zum Erreichen der eigenen Ziele brauchen, unübersehbar wird. Das Konzept Integration spielt in den skizzierten Übersetzungsprozessen eine wichtige Rolle. Aus der Sicht von Herrn G. ist es ein Prozess, an dem Migranten und Deutsche gleichberechtigt beteiligt sind. Wie er nicht nur auf dem vorbereitenden Informationstag sagte, führt Integration im Idealfall dazu, dass alle Mitglieder der Gesellschaft sozial, kulturell und politisch partizipieren. Als wichtige Werkzeuge des Einzelnen betrachtet er Fähigkeiten wie die Kenntnis politischer Institutionen, demokratischer Prozesse und der Mehrheitssprache, genauso wie soziale und kulturelle Kompetenzen. Besonders wichtig ist ihm das Thema Sprache. In ihr sieht er die zentrale Ressource, die es marginalisierten Bevölkerungsgruppen erlaubt, aus ihren benachteiligten Positionen herauszutreten. Das ist ein Grund dafür, dass alle Maßnahmen im Projekt IMES in deutscher Sprache stattfinden. Darüber hinaus spielen für Herrn G. die Netzwerke und Einrichtungen von Migranten eine entscheidende Rolle in integrativen Prozessen. Deshalb basiert IMES darauf, dass die Lernangebote zur Vermittlung digitaler Fertigkeiten in Einrichtungen durchgeführt werden, die in den Bereichen Wissensvermittlung und Migrationsarbeit eine langjährige Erfahrung und Expertise aufweisen. Besonders durch die Einbindung von Kulturvereinen der Migrantenbevölkerung als Anbieter von Maßnahmen zur digitalen Integration (Computerund Internetkurse), wie dem Verein Arkadaş, kann auf deren umfangreiches Wissen in der Integrations- und Migrationarbeit zugegriffen werden. Zudem stellen die Kulturvereine eine wichtige Verbindung zu den Migranten selbst her, denn die Teilnehmer der verschiedenen Angebote von IMES sind in vielen Fällen jene Menschen, die auch an anderen Angeboten der Kulturvereine teilnehmen. In Herrn G.'s Position zum Konzept Integration wird sichtbar, wie wichtig es ihm ist, Migranten und ihre Lebenswelten bei der Entwicklung von Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten einzubinden.

268 | D IGITALE I NTEGRATION VON M IGRANTEN ? „Wenn wir wirklich Integration schaffen wollen, dann müssen wir Migranten und ihre Einrichtungen mit ins Boot holen. Integration ist nur möglich, wenn wir sie gleichberechtigt behandeln und sie wirklich daran beteiligen, gute Angebote zu entwickeln.“ (IW Herr G. 2005).

In der Interviewpassage zeigt sich nicht nur die persönliche Einstellung von Herrn G. zu Integration, sondern es offenbart sich darin auch, in welcher Rolle sich die Projektwerkstatt als Träger des Projekts IMES sieht. Denn Herr G. ist einer der Akteure, der die inhaltliche Ausrichtung der Organisation maßgeblich prägt. Demnach versucht die Projektwerkstatt, ihre Maßnahmen immer schon in der Entwicklungsphase mit Migranten gemeinsam durchzuführen, um eine größere Akzeptanz in multiethnischen Lebenswelten zu erlangen. Auf der vorher erwähnten Informationsveranstaltung zu IMES nahm auch Frau N. teil. Sie war damals einfach als Interessierte gekommen. An der lebhaften Diskussion über das künftige Projekt nahm sie intensiv teil und zeigte großes Interesse mitzuwirken. Im weiteren Verlauf wurde sie schließlich zur Koordinatorin von IMES. Schon auf der Informationsveranstaltung zeigte sich ihre kritische Einstellung gegenüber dem Integrationskonzept. Sie bezeichnet sich selbst immer mal wieder auch als Kurdin, die seit mehr als 20 Jahren in Deutschland lebt. Sie machte deutlich, dass Integration als politisches Programm der Bundesrepublik zu betrachten ist und kaum etwas mit den realen Menschen zu tun hat – und wenn, dann höchstens mit den Deutschen selbst. „Wir Migranten dürfen da höchstens mitmachen. Unsere Position sichtbar zu machen und zu fordern, was wir wollen, das dürfen wir nicht. Das ist so meine Erfahrung in allen Bereichen, in denen ich gearbeitet habe. Selbst bei der XXX-Stiftung9, bei der ich 2 Jahre gearbeitet habe, war ich nur die Quotenmigrantin.“ (IG Frau N. 2005)

Die Passage aus einem informellen Gespräch mit Frau N. zeigt ihre Kritik an integrativen Maßnahmen, die sie erlebt hat. Sie vermisst es, und darin äußert sich auch ihr Missmut, dass Migranten gleichberechtigt eingebunden werden und auf diese Weise Möglichkeiten zum mitgestalten von sozialen, kulturellen und politischen Prozessen bekommen. Ähnlich äußerte sie sich in Bezug auf das Mitwirken von Migranten in politischen Parteien. Aus ihrer Nähe zur SPD machte sie keinen Hehl, betont aber, dass es auch dort für Migranten sehr schwer ist, in Positionen zu kommen, in denen sie wirklich Gestaltungsmacht haben. Interessant

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Auf Wunsch von Frau N. nenne ich diese Stiftung nicht beim Namen.

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ist auch, dass sie sich mir gegenüber normalerweise als Kurdin repräsentierte, immer wenn es aber um das Thema Integration ging, sprach sie häufig von „uns Migranten“. Darin wird deutlich, dass sie im Projekt IMES explizit den Standpunkt von Migranten vertreten möchte. Mit ihrer Aufgabe als Koordinatorin ist sie folglich sehr zufrieden, da sie hier die Möglichkeit hat, tatsächlich auch eigenverantwortlich mitgestalten zu können. Frau N. erzählte mir im Hinblick auf Integration auch, dass dazu die besondere Berücksichtigung von Frauenperspektiven gehört. Ihrer Meinung nach sind Frauen, insbesondere jene mit Migrationshintergrund, oft benachteiligt und müssen deshalb bei der Entwicklung von integrativen Maßnahmen besonders berücksichtigt werden. Im großen Interesse von Frau N. an der Mitarbeit im Projekt IMES zur digitalen Integration von Migranten wird ein weiteres Moment der Übersetzung sichtbar. Nach Callon folgt in Übersetzungsprozessen – in meinem Kontext initialisiert durch Herrn G. und die Projektwerkstatt – dem Moment der Problematisierung das des „Interessement“ (vgl. Callon 2006 b: 151-156). Noch sind in dieser Phase die identifizierten Gruppen, Akteure und Entitäten, die für ein gemeinsames Ziel – der digitalen Integration von Migranten in Hannover – gewonnen werden sollen, hypothetischer Natur. Oder, andersherum ausgedrückt, wenn das Interessement erfolgreich verläuft wie bei Frau N., dann ist es den Protagonisten gelungen, ein wirkliches Interesse bei dem entsprechenden Akteur hervorzurufen. Damit festigt sich die Position und positive Einstellung, die ein Akteur, der für das Vorhaben gewonnen werden soll, mitbringt. Durch diese Praxis sind weitere Akteure auf das Projekt IMES zur digitalen Integration aufmerksam geworden. Herr A. ist einer von ihnen. Auch er war auf dem oben angesprochenen Informationstag. Der arbeitslose Mittvierziger hat russischen Hintergrund und bringt großes Interesse für Technik mit. Im Verlaufe der Entwicklungsphase von IMES wurde er immer neugieriger auf IMES. Daraus resultierte, dass er zum Mentor wurde und an der Umsetzung von Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten in Hannover mitwirkt. Schon früh zeigte sich seine sehr persönliche Einstellung zum Konzept der Integration. Besonders auffällig ist der Bezug zu Technikvermittlung, die er mit Integration assoziiert. Obwohl es aufgrund seiner Sprachkenntnisse oft schwer war, seinen wirklichen Standpunkt zu ermitteln, erzählte er mir, dass „Technologien wie Computer und Internet ein Werkzeug zu Integration sind“. Seiner Meinung nach geht es darum, „Menschen in die technische Welt zu integrieren“. Aus seiner Sicht ist der Alltag von Menschen immer mehr von Technik geprägt. Deshalb ist es notwendig, „dass man sich damit auskennt, um im Alltag weiterzukommen“. Mit Alltag meint er vor allem auch den beruflichen Alltag. Er selbst erhofft sich durch seine erworbenen

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Fähigkeiten als Mentor beruflich wieder Fuß zu fassen. Im Gespräch mit ihm über die Entwicklung von geeigneten Maßnahmen schien durch, dass er eine sehr technokratische Perspektive einnimmt. Seiner Meinung nach können technische Fähigkeiten am besten vermittelt werden, wenn das in einem unterrichtsähnlichen Umfeld geschieht. Damit meint er eine Mischung aus Frontalunterricht und anschließenden Übungen. Im Verlaufe des Projekts zeigte sich, dass er sich zunehmend darauf einließ, auch gleichberechtigte Ansätze zu verfolgen, in dem die Lerner in einem intensiven Austauschverhältnis mit den Mentoren stehen. In Bezug zum Integrationskonzept hat er also eine sehr technikzentrierte Sichtweise. Integration bedeutet demnach eine Partizipation in der Welt neuer Medien und Technologien. In dem Rahmen, so seine Meinung, müssen auch Migranten die Möglichkeit haben, sich die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen. In seiner Rolle als New Mediator, der IMES bei russischen Menschen aus Hannover bekannt macht, ist er sehr erfolgreich. Die regelmäßige Teilnahme von bis zu sieben Personen mit russischem Hintergrund bestätigt, dass er die Ziele von IMES erfolgreich in Richtung seiner Zielgruppe „übersetzt“ hat. Das Diskursfeld um Integration, das ich an den Positionen von Herrn G., Frau N. und Herrn A. sichtbar gemacht habe, war eine wichtige Basis für die Entwicklung von Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten in Hannover. Insbesondere Herr G. versuchte als Leiter des Projekts IMES, alle Standpunkte zu berücksichtigen, um ein möglichst tragfähiges Konzept zu entwickeln. Er nahm die negativen Integrationserfahrungen der beteiligten Migranten ernst und machte sich dafür stark, dass neue Medien wie Computer und Internet einen Beitrag dazu leisten können, positive integrative Prozesse in Gang zu setzen. Als einen der Hauptgründe warum viele Migranten zunehmend ins gesellschaftliche Abseits geraten führt er deren Ausschluss aus der Welt der digitalen Medien an. „Migrants are excluded from the use of Internet. And as it becomes important for the society on the other hand, it is going to be a wall against integration if the migrants are not able to use it“ (ChP G. 2005). Herr G. äußerte diese Meinung in einem Internetchat, an dem Akteure von IMES sowohl aus Hannover wie auch aus den Partnerländern teilnahmen. Die Aussage ist eine wichtige Basis, von der aus die konkreten Maßnahmen entwickelt wurden. Aus dem Grund wurde in dem Netz aus Akteuren und Schauplätzen in Hannover ein Ansatz zur digitalen Integration von Migranten entwickelt, der durch bewährte und neu entwickelte Methoden digitale Fähigkeiten an Migranten vermittelt. Herr G. schreibt dem Internet für die Teilhabe an der Gesellschaft und an demokratischen Prozessen eine zentrale Rolle zu. Durch die Fähigkeit, Computer und Internet nutzen zu können, ist der Einzelne in der Lage, an sozialen, kulturellen und politischen Praktiken zu partizipieren. Darüber hinaus steigern sich

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durch diese Kompetenzen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Da sich Migranten in dem Zusammenhang oft ausgeschlossen fühlen, bietet gerade das Internet gute Chancen für sie. „The migrants in general have no good experience in democracy and participation. They feel quiet often excluded. The internet offers them a kind of protected world, where they can express their ideas and opinions. This we should explain them first in our courses“ (ChP Herr G. 2005). Was sich in der Position von Herrn G. äußert ist seine Meinung, dass die Nutzung des Internets dazu führen kann, dass sich Migranten nicht mehr ausgeschlossen fühlen. So betrachtet hat das Internet nach seiner Einschätzung ein hohes integratives Potential. Schon zu Beginn des Projekts machte er deutlich, dass es für den Erfolg des Projekts sehr wichtig sei, den Teilnehmern zu vermitteln, welche Chancen sich aus der Nutzung des Internets für sie selbst ergeben. Im Verlauf erreichten die am Projekt beteiligten Akteure einen Konsens in Bezug auf die Inhalte und die Praxis von Integration. Das Ergebnis war gleichzeitig eine der wichtigsten Zielvorgaben, als man sich in Hannover dazu entschloss, ein Projekt zur digitalen Integration von Migranten durchzuführen. Durch die in dem Kontext entwickelte Praxis wurde es möglich, alle am Integrationsprozess Beteiligten an einen Tisch zu bringen, von dem aus nachhaltige gesellschaftliche, kulturelle und politische Integration ihren Ausgang nimmt. Schließlich konnten dadurch die ersten Mentoren für das Projekt gewonnen werden. Das hatte den großen Vorteil, dass sie schon früh an den Entwicklungen innerhalb des Projekts eingebunden waren. Es entstand dadurch eine streitbare Projekt-Kultur, die im Verlauf der Durchführung der verschiedenen Maßnahmen eine zusätzliche integrative Wirkung entfaltete. In den letzten Abschnitten habe ich skizziert, wie Herr G. während der Vorbereitungen zum Projekt IMES Akteure wie Frau N. und Herrn A. als Mitstreiter gewinnen konnte. In seiner Praxis, gemeinsam mit den Akteuren auszuhandeln, welche Rolle sie im Projekt übernehmen können, zeigt sich ein weiteres Moment in Übersetzungsprozessen. Callon (2006 b: 156-159) nennt es die Phase des „Enrolment“. In dieser nimmt das Netz aus Akteuren, Einrichtungen und Schauplätzen – ich habe es auch als Rhizom bezeichnet (vgl. Theoriekapitel) – Gestalt an. Im Verlauf des Prozesses nehmen die Akteure mal mehr und mal weniger feste Rollen ein, die sich im Verlaufe von multilateralen Verhandlungen, Diskussionen, Transaktionen, Verführungen und Zustimmungen ergeben haben. Während Herr G. Frau N. im Enrolment als Koordinatorin des Projekts gewinnen konnte, erreichte er bei Herrn A., dass er sich als Mentor in IMES engagiert. In vielen Diskussionen, Vieraugengesprächen, Verhandlungen und Auseinandersetzungen ist es Herrn G. und der Projektwerkstatt gelungen, die Ideen des Projekts in Richtung von diesen Akteuren zu übersetzen. Das hat zur Folge, dass sie aktiv

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am Projekt IMES mitarbeiten und die gemeinsamen Ziele nach außen vertreten. Im fließenden Übergang zeigt sich im Aufspüren weiterer Akteure, die sich auf unterschiedlichen Ebenen an IMES beteiligen – als Mentor, teilnehmende Einrichtung oder Praktikant –, eine weitere Phase in Übersetzungsprozessen. Callon (2006 b: 159-164) zur Folge handelt es sich um die Phase der „Mobilisierung“. Für Herrn G. ging es darum, den Kreis der Verbündeten zu erweitern, um möglichst viele aktive Akteure für das Zugangsnetzwerk zu Computer und Internet für Migranten zu gewinnen. Um das zu erreichen, erforderte es von ihm, die Inhalte und Ziele des Projekts jeweils so zu „übersetzen“, dass die jeweiligen Akteure es verstehen und davon überzeugt werden. Durch die Praxis verdichtet sich das Beziehungsnetz zunehmend und gewinnt an Form. Außerdem werden durch den Prozess fortschreitend Kräfte gebündelt, die dazu nötig sind, die angestrebten Ziele zu erreichen. Auf der Basis der Offenheit des Netzes aus Akteuren, dass IMES entwickelte, wurde das Projekt schließlich in die Praxis umgesetzt. Eine zentrale Rolle spielen hier die Mentoren. Sie sind Personen, die an verschiedenen Orten, wie in der Stadtbibliothek oder im Kulturverein Arkadaş als Ansprechpartner für die Teilnehmer des Projekts zur Verfügung stehen. Ihre Rolle umfasst aber weitaus mehr. Sie sind Vermittler von digitalen Fähigkeiten, organisieren die Kurse an den Standorten und sind die Akteure des Projekts IMES, die von den Teilnehmern wahrgenommen werden. In ihrer Rolle als Vermittler sind sie lokale New Mediators, die bei der Umsetzung der Strategien zur digitalen Integration die Protagonisten sind. Um ihre Aufgaben erfüllen zu können wurden sie zu Projektbeginn von kompetentem Fachpersonal im Hinblick auf interkulturelle und technische Kompetenzen geschult. Das versetzt sie in die Lage, im entsprechenden Feld digitale- und Medienkompetenzen zu vermitteln. Während der Forschung fiel mir auf, dass sich die Qualifikationen der Mentoren kontinuierlich erweiterten. Verantwortlich dafür ist der regelmäßige Austausch mit Herrn G. und Frau N.. Vor allem auf den Mentorenstammtischen, die einmal pro Monat in der Projektwerkstatt stattfinden, gibt es Raum für Diskussionen, das Besprechen von Problemen und das Entwickeln neuer Strategien. Gleichzeitig werden die Veranstaltungen dazu genutzt, die Mentoren kontinuierlich im Umgang mit neuen Medien, in pädagogischen und interkulturellen Kompetenzen weiterzubilden. Es zeigte sich in Gesprächen mit den Mentoren, dass sie das Projekt IMES nach einigen Monaten Dauer auch als „ihr Projekt“ bezeichneten. Sie haben es in ihr eigenes Leben inkorporiert und arbeiten im Rahmen ihres ehrenamtlichen Engagements freiwillig und gerne als Mentoren. So erzählte mir die 35jährige Frau L., dass sie anfangs nur als Mentorin mitgemacht hat weil sie Zeit überbrücken wollte. Sie war arbeitslos und dachte, dass sie im Projekt Qualifikationen lernen

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kann, die der ausgebildeten Informatikerin auf dem Berufsmarkt mehr Möglichkeiten bieten. Später im Projekt hatte sie längst wieder eine Arbeit gefunden, machte aber weiter bei IMES mit weil ihr die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen Spaß macht. Neben den Mentoren sind die Schauplätze, an denen die Angebote von IMES stattfinden, eine wichtige Säule. Es handelt sich um 11 Einrichtungen wie Bibliotheken, Freizeitheime, Kulturvereine und Schulen. Im Rahmen meiner Forschung war ich in erster Linie an Standorten in zwei Hannoveraner Stadtbibliotheken, im Kulturverein Arkadaş, in einer Schule im Stadtteil Hainholz und im Verein Tapas in Lehrte tätig, um dort das Geschehen zu beobachten. Gemeinsam ist den Orten, dass sie über Computerarbeitsplätze mit Internetanbindung verfügen. Die teilnehmenden Einrichtungen stellen ihre Infrastruktur dem Projekt IMES zur Verfügung. Auf diese Weise kann IMES seinen Teilnehmern kostenfreien Zugang zu Computer und Internet bieten. Außerdem stehen den Teilnehmern Mentoren zur Seite, die ihnen in individueller Betreuung die verschiedenen Fertigkeiten im Umgang mit PC und Internet vermitteln. Darüber hinaus werden an den Zugangsorten Kurse angeboten, deren Inhalte vielfältig sind und sich aus den individuellen Bedürfnissen der Teilnehmer ergeben: 10Finger-System, Internet, Email, Recherche, Textverarbeitung, digitale Fotografie, Presse in der eigenen Sprache im Internet. Einerseits richten sich die Lernangebote an Menschen mit unterschiedlichem Wissensstand. Andererseits gibt es auch Angebote, die sich an homogene Gruppen mit bestimmten Lerninteressen, wie etwa Jobsuche im Internet oder Gesundheit im Netz, richten. Das Projekt verfügt über eine intensive Rekrutierungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Durch Werbung auf Plakaten und Flyern werden potentiell Interessierte auf das Projekt aufmerksam gemacht. Sie werden an den Orten auch persönlich angesprochen, um sie als Teilnehmer für die Bildungsmaßnahme zu gewinnen. Zudem nutzt IMES die Netzwerke der Multiplikatoren des Projekts, um weitere mögliche Interessenten direkt anzusprechen zu können. Auf diese Weise wirbt IMES in verschiedenen Migrantennetzwerken in Hannover für das Projekt. Außerdem veranstaltet die Projektwerkstatt regelmäßig öffentliche Veranstaltungen, auf denen die Inhalte des Projekts vermittelt und zur Teilnahme als Kursteilnehmer oder Mentor aufgerufen werden. Die Projektwerkstatt nutzte darüber hinaus ihr großes Netzwerk, um bei staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen auf das Projekt aufmerksam zu machen und sie zur Kooperation zu gewinnen. Mitarbeiter des Projekts stehen in einem intensiven Austausch mit relevanten Akteuren aus verschiedenen Einrichtungen. Das Projekt verfügt zudem über eine umfangreiche Internetplattform, auf der über aktuelle Aktivitäten aufmerk-

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sam gemacht wird. IMES bietet dort umfangreiche Informationen zum Thema der „digitalen Integration“ an. Das Projekt IMES bietet demnach umfangreiche Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten für Akteure an. So gewährleistet IMES einerseits für alle Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit, sich aktiv am Projekt zu beteiligen. In den Kurs- bzw. Bildungsangeboten an den Standorten (Schulen, Bibliotheken, Kulturvereine, Freizeiteinrichtungen) können sich die Teilnehmer in einem niedrigschwelligen Bildungsangebot verschiedene Kompetenzen aneignen. Es sind digitale Kompetenzen, zu denen das Bedienen eines Computers, seiner Basisprogramme wie Textverarbeitung und Bildbearbeitung aber auch das Internet, inklusive Email und Chat, genauso gehört, wie die Fertigkeiten zur Jobsuche, zu Gesundheitsinformationen und zum Nutzen elektronischer Dienste anwenden zu können. Wie die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten durch Mentoren in der Praxis aussieht, zeigt das Kursangebot des russischstämmigen Mentors Herrn A.. Das IMES Angebot, das von ihm begleitet wird, findet zweimal die Woche in der Stadtbibliothek statt. Jede Einheit dauert zwei Stunden. Zu Herrn A. kommen jeweils zwischen drei und sieben Männer mit russischer Herkunft. Obwohl sie sich immer bemühen Deutsch zu sprechen, was Herr G. als wichtige Basis von IMES betrachtet, greifen Teilnehmer und Mentor aber auch auf Russisch zurück. Vor allem dann, wenn Herr A. komplexe Sachverhalte erklärt. Neben den Lehreinheiten, die er mit den Teilnehmern regelmäßig durchführt, gibt er ihnen auch ausreichend Raum, das Erlernte an den Computern zu üben. In diesen Fällen ist mir aufgefallen, dass die Teilnehmer oft zu zweit oder dritt an einem Rechner sitzen, und sich dabei gegenseitig unterstützen. Die Motive der Teilnehmer von IMES an die Standorte zu kommen sind sehr verschieden. Ähnlich wie es sich schon bei meiner Teilstudie in Esslingen zeigte, sind die Teilnahmemotivationen beinahe so zahlreich wie die Akteure selbst. Der Mitte dreißigjährige Herr J. kommt etwa in die Stadtbibliothek, um die Recherchemöglichkeiten des Internet kennen zu lernen. Er verdient sich mit dem Kaufen und Verkaufen von Gebrauchtwagen ein Zubrot, wie er mir erklärte. Früher suchte er entsprechende Autos entweder in Zeitungen oder direkt auf Gebrauchtwagenmärkten. Von einem Bekannten erfuhr er davon, dass es auch im Internet entsprechende Seiten gibt, auf denen man fündig wird. Den Vorteil beim Internet sieht er darin, dass die verschiedenen Seiten nicht nur täglich aktualisiert werden sondern auch, dass man die Autos auf Bildern sehen kann, was ihm schon im Vorfeld einen ersten Eindruck von dem Wagen gibt, der ihn interessiert. Anders sind hingegen die Bedürfnisse von fünf türkischen Frauen, die regelmäßig am IMES Angebot im Kulturverein Arkadaş teilnehmen. Seit seiner

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Gründung im Jahr 1989 hat sich der „Verein für interkulturelle Erziehung, Bildung, Kultur und Sport e.V.“ vorgenommen, „die zeitgenössische, moderne Kultur (Literatur, Kunst, Theater, Gesang) sowohl den türkischsprachigen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch der deutschen Gesellschaft näher zu bringen, um andere Perspektiven als das weit verbreitete ‚Kulturverständnis’ Türkische Kultur=Döner und Bauchtanz zu eröffnen und somit zu versuchen, Brücken zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen.“ (Arkadaş Flyer)

Mit der Textpassage machen die Verantwortlichen deutlich, dass es ihnen bei ihrer Arbeit um kulturelle Vermittlung geht. Das sehen sie als wichtige Basis für integrative Prozesse, wie mir ein Vereinsmitglied schilderte. Neben der Vermittlung hat der Verein seine kulturellen Aktivitäten auch für die Bildung und Integration der türkischssprachigen Bevölkerung eingesetzt, indem er verschiedene Projekte, Kurse und Informationsveranstaltungen durchgeführt hat. Ein Ergebnis in dem Prozess ist die Kooperation mit dem Projekt IMES, in der Arkadaş seinen Computerraum zur Verfügung stellt. Die fünf türkischen Frauen, die auch zu anderen Veranstaltungen der Einrichtung kommen, haben die Absicht, im Projekt „Computer von Grund auf kennen zu lernen“. Zu Beginn wollten sie erst einmal das 10-Finger- System erlernen. Hierbei wurden sie von der Praktikantin Frau C. von der Projektwerkstatt betreut. Sie hat selbst türkischen Hintergrund und macht im Rahmen ihres Studiums ein Praktikum bei der Projektwerkstatt. Ihre Aufgaben unterscheiden sich nicht von denen der Mentoren. Neben der Gruppe türkischer Frauen kommen aber auch andere Teilnehmer zum Angebot im Verein Arkadaş. Die Lernbedürfnisse sind bei ihnen sehr unterschiedlich und reichen von den Themen „Internet“, „Textverarbeitung“ und „Grafik“, über „Musik“ bis hin zu „Chatten“, „Foren“ und „Jobsuche“. Eine weitere Kooperation im Rahmen von IMES besteht zwischen der Projektwerkstatt und dem Freundeskreis Tambacounda e.V.. „Der Verein zur Vermittlung afrikanischen Kulturgutes und zur Förderung von Entwicklungsprojekten in Afrika“, wie es auf seiner Webseite heißt, führt im Stadtteil Hainholz in Hannover ein LOS-Projekt durch, in dem die Projektwerkstatt mit dem Projekt IMES Kooperationspartner ist. Unter dem Titel „Info-Net-Café – Internet und Partizipation für Migrantinnen und Migranten“ werden zweimal die Woche nachmittags Computerkurse für Migranten angeboten, wobei die Hauptzielgruppe Migranten aus Afrika sind, von denen viele im Stadtteil leben. In Bezug auf die Teilnehmer lässt sich sagen, dass es sich in Bezug auf Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung, Religion und ökonomischer Stellung um einen sehr heterogenen Personenkreis handelt. Trotz der gemeinsamen Bezüge lassen sich die

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Teilnehmer aber nicht unter einem einheitlichen Label „Afrika“ zusammenfassen, da sie sich stark voneinander unterscheiden. Das drückt sich etwa in ihren verschiedenen Muttersprachen aus. Neben regionalen Sprachen wird, je nach Herkunft, Arabisch, Englisch und Französisch gesprochen. Ihre Deutschkenntnisse sind zum Teil sehr rudimentär, was von Mentoren und Praktikanten besondere sprachliche Kompetenzen erfordert. Hinsichtlich der Motivationen und Bedürfnisse, die die Teilnehmer mit in die Kurse bringen, zeigt sich abermals die Heterogenität in den Teilnehmerprofilen. Gemeinsam ist zwar allen, dass sie ihre Kompetenzen im Umgang mit Computer und Internet ausbauen wollen. Trotzdem wird deutlich, dass einige der Teilnehmer vor allem daran interessiert sind, die Kommunikationsmöglichkeiten des Internet kennen zu lernen, in erster Linie Email. Das rührt daher, dass der eigene Familien- und Freundeskreis oft weit verstreut in der Welt lebt und Email eine kostengünstige Art des Kommunizierens bietet. Zudem wollen viele Personen das Internet nutzen, um kostengünstig zu telefonieren. Ein anderer Teil der Gruppe hat auch die Motivation, Anwendungen wie Word kennen zu lernen, um ihre beruflichen Qualifikationen zu steigern. Darüber hinaus haben einige von ihnen die Absicht, ihre Recherchefähigkeiten auszubauen, um etwa günstige Flüge im Internet buchen zu können, sich zu bestimmten Themen zu informieren und über berufliche Möglichkeiten schlau zu machen. Ein Grundsatz bezüglich des inhaltlichen Angebots der LOS-Computerkurse ist, sich stark an den Bedürfnissen der Teilnehmer zu orientieren. Zugleich ist das Angebot so ausgerichtet, dass es einen „niedrigschwelligen“ Zugang zu neuen Technologien wie dem Computer ermöglicht. Das vermindert eine Hemmschwelle von vielen Menschen, sich mit neuen Medien auseinanderzusetzen. Zu Beginn der Kurse stehen deshalb die Grundfunktionen des Computers und des Internet im Zentrum. Im Verlauf der Zeit werden die Bedürfnisse jedoch umfangreicher und anspruchsvoller. Das hat zur Folge, dass die Kurse inhaltlich komplexer werden und die Teilnehmer dadurch ihre Qualifikationen zunehmend steigern können. Wie bereits bei den Teilnehmermotivationen angedeutet wurde, bezieht sich ein Schwerpunkt der Vermittlung von digitalen Fähigkeiten auf die Kommunikationsmöglichkeiten des Internet. Im Vordergrund steht zunächst, die Teilnehmer in die Lage zu versetzen, sich eigenständig einen Email-Zugang bei einem kostenlosen Anbieter einrichten zu können. Zudem zeigten die Mentoren, wie man eine Email schreibt und sie versendet. Darüber hinaus werden die Teilnehmer mit den zusätzlichen Funktionen vertraut gemacht, die ein Email-Zugang mit sich bringt. In erster Linie sind das die Verwendung des Adressbuchs und die Möglichkeit, Dateien empfangen und versenden zu können. Gleichzeitig lernen

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sie die weiteren Funktionen der Plattformen der kostenlosen Email-Anbieter kennen. Im Vordergrund stehen hier die Möglichkeiten, sich einen eigenen Terminkalender einrichten und nutzen zu können, Dateien zu speichern und Fotoalben anzulegen. Darüber hinaus werden die Teilnehmer damit vertraut gemacht, dass sie bei den meisten Plattformen die Möglichkeit haben, die Sprache auszuwählen, was für viele eine große Hilfe darstellt. Das Lernangebot erstreckt sich auf weitere Gebiete. Grundlegende Anwendungen wie Word stehen hier im Fokus. Durch gezielte Vermittlung und Übungen können sich die Teilnehmer im Verlauf des Kurses die nötigen Kompetenzen aneignen, um eigenständig mit Word umgehen zu können. Eine geschickte Kombination von bereits erworbenen Fähigkeiten führt zu einer weiteren Vertiefung der angeeigneten Lerninhalte. So lernen sie nicht nur Email und Word als eigenständige Anwendungen kennen, sondern eignen sich auch an, wie man sie in Verbindung nutzen kann, indem man etwa einen Brief oder Bewerbungsunterlagen in Word verfasst, um sie dann per Email zu versenden. Die Herangehensweise vertieft bei den Teilnehmern das Wissen über die Zusammenhänge im Hinblick auf die Computer- und Internetnutzung. Ein weiterer und sehr wichtiger Teil des Angebots erstreckt sich auf die Recherchemöglichkeiten des Internet im weitesten Sinne. Durch die gesteigerten Grundkompetenzen im Umgang mit dem Internet werden im Kurs zunehmend auch jene Kompetenzen vermittelt, die dazu befähigen, sich im eigenen Umfeld über Jobmöglichkeiten, Aktivitäten, Anzeigen, günstige Flüge und zu weiteren Themen zu informieren. Im Zentrum steht hier die Suchmaschine „Google“ mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, an gewünschte Informationen zu kommen. Gleichzeitig wird im Kurs darauf wert gelegt, dass die Teilnehmer ein Gespür dafür entwickeln, welches für sie brauchbare, unbrauchbare, seriöse und unseriöse Informationen sind. Die Vermittlung der umfangreichen Recherchefähigkeiten regt bei den Teilnehmern an, das Internet vermehrt bei der Informationssuche zu nutzen und befähigt sie im Hinblick auf ihren Beruf oder Job, da gerade diese Fähigkeit in der beruflichen Welt in Zeiten der „Informationsgesellschaft“ eine immer größere Bedeutung zukommt. Durch die vermittelten Inhalte ist es durchaus vorstellbar, dass einige der Teilnehmer dahingehend qualifiziert werden, so genannte niedrigschwellige Jobs anzunehmen, wie etwa das Arbeiten an der Rezeption in einem Hotel. Denn gerade dort werden digitale Fähigkeiten und das Kommunizieren in verschiedenen Sprachen verlangt. In der Beschreibung der Teilnehmermotivationen und dem, was Migranten unter dem Label digitale Integration lernen, wird deutlich, dass digitale Kompetenz weitaus mehr beinhaltet, als den Zugang zum Internet zu gewährleisten und zu vermitteln, wie man den Computer bedient. Nicht nur in meiner Feldfor-

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schung hat sich gezeigt, dass digitale Kompetenz aus einer Vielzahl von Fertigkeiten besteht, die nicht nur technische, sondern auch soziale, kulturelle und kommunikative Fähigkeiten beinhaltet (vgl. Fernandes Ferreira 2007; Hinkelbein 2004 b, 2007). Eine wichtige Rolle in der Vermittlung der umfangreichen Kompetenzen spielen die Akteure, die ich in einem früheren Kapitel als New Mediators beschrieben habe. Es sind neben Initiatoren von Projekten wie Herrn G. auch Personen wie Frau N. und Herr A., die neue Medien und die Vermittlung von digitalen Kompetenzen in besonderer Weise fördern. Durch ihr Vermittlungsgeschick, ihre Übersetzungsarbeit und die Offenheit für die Bedürfnisse der Teilnehmer von IMES sind sie die zentralen Akteure in dem Projekt. Wie ihre Praxis aussieht und was die Arbeit an den Standorten mit sich bringt führe ich im Folgenden an zwei Beispielen aus. Der bereits angesprochene Kurs in Hainholz wird vom Mentor Herrn H. und der Praktikantin Frau M. von der Projektwerkstatt betreut. Im Verlauf des Kurses wirkte es sich sehr positiv aus, dass die beiden Französisch und Englisch sprechen. Zwar ist es eine Basis, den Kurs mehrheitlich in deutscher Sprache abzuhalten, trotzdem gibt es aber auch Teilnehmer, die ohne zur Hilfenahme einer anderen Sprache dem Kurs nicht folgen könnten. Hier zeichnet sich die (sprachliche) Flexibilität und Offenheit der Mentoren und Praktikanten in der jeweiligen Situation als sehr positiv aus. Hilfreich für den Vertrauensaufbau der Teilnehmer zum Mentor ist auch, dass der Mentor selbst in einer bikulturellen Ehe lebt, und ihm dadurch der kulturelle Kontext der Teilnehmer wesentlich vertrauter ist. Bemerkenswert in Bezug auf die Multiplikatoren ist, dass sie nicht nur digitale Fähigkeiten in den Kursen vermitteln, sondern dass sie gleichzeitig selbst ihr berufliches Potential steigern. Vor allem Herrn H., der arbeitslos ist, hat sich durch seine Funktion als Multiplikator im interkulturellen Bereich Fähigkeiten angeeignet, die seine Chancen bei der künftigen Arbeitssuche steigern. Aber auch im Hinblick auf die mitwirkenden Praktikanten lässt sich eine Qualifizierung im Hinblick auf ihre zukünftigen Berufe eindeutig erkennen. In den Beschreibungen der Standorte von IMES in der Stadtbibliothek, bei Arkadaş und beim Freundeskreis Tambacounda wurde deutlich, dass die Teilnehmer mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen zu den Angeboten kommen, um sich unterschiedliche digitale Fähigkeiten anzueignen. Daneben haben die Teilnehmer an den verschiedenen Schauplätzen mir gegenüber aber auch geäußert, dass das Erlernen von Computer, Internet & Co. nicht die alleinige Motivation ist, warum sie zu den Kursen kommen. So äußerte Frau J., eine pensionierte Wissenschaftlerin, dass sie einfach gerne in die Stadtbibliothek List in Hannover zu den Computerkursen kommt weil sie dort nicht nur etwas lernt, sondern auch andere trifft, mit denen sie sich austauschen und unterhalten kann. Die Teilneh-

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mer lernen dem zur Folge auch soziale Kompetenzen, kommunikative Fähigkeiten, Zeitmanagement und Selbstdarstellung. Zudem wird durch das Projekt der interkulturelle Austausch gefördert. Abbildung 17: Teilnehmergruppe in der Stadtbibliothek List

Quelle: Oliver Hinkelbein, 2005

Auf dem Bild wird sichtbar, dass das Angebot weit über die Vermittlung digitaler Kompetenzen hinausgeht. In Situationen wie diesen, die Gruppe auf der rechten Seite versucht gerade gemeinsam einen russischen Email-Anbieter im Internet zu finden, entwickeln sich oft lange Diskussionen, die weit über neue Medien und Technologien hinausgehen. Es sind Alltagsthemen wie Freundschaften, Austausch, Bildung, Kultur oder Reisen. An der Stelle zeigt sich, dass der Ansatz, durch digitale Integration weitreichendere integrative Prozesse anzustoßen, aufgegangen ist, da die Teilnehmer aus ihrem privaten Umfeld heraustreten, nicht nur, um das Angebot in der Stadtbibliothek für sich zu nutzen, sondern auch, um dort andere Menschen zu treffen, in der Bücherei zu stöbern oder über das Internet Kontakt zu anderen aufzunehmen. Ein Beispiel für den integrativen Erfolg ist, dass die Gruppe in der Stadtbibliothek List, die zum Großteil aus pen-

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sionierten Wissenschaftlern mit russischem Hintergrund besteht, realen Kontakt zu deutschen Wissenschaftlern aufbaute, um sich mit ihnen auszutauschen. Betrachtet man die verschiedenen Schauplätze, Maßnahmen, Kurse und Aktivitäten im Rahmen von IMES wird deutlich, dass das Projekt umfangreiche digitale – und Medienkompetenzen vermittelt, die Migranten dazu befähigen, mit den technologischen Entwicklung Schritt halten zu können. Außerdem erlernen die Teilnehmer soziale, kulturelle und politische Kompetenzen, die notwendig sind, um eine aktive Staatsbürgerschaft wahrzunehmen. Das beinhaltet Fähigkeiten, staatliche und nicht-staatliche Einrichtungen nutzen und sich ehrenamtlich in der Gesellschaft engagieren zu können. Die umfangreichen Kompetenzen, die in dem innovativen Bildungsangebot für Menschen mit Migrationshintergrund vermittelt werden, leisten einen Beitrag zu sozialer, gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Integration. Durch die besagten Kompetenzen erweitern sie beispielsweise ihr Chancen auf dem Arbeitsmarkt, da digitale Kompetenzen heute eine Grundqualifikation in fast jedem Beruf darstellen. Die digitalen Fertigkeiten befähigen aber auch dahingehend, die heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen besser einschätzen und nutzen zu können – sei es bei der Nutzung neuer Medien durch die „eigenen“ Kinder, sei es bei digitalen Dienstleistungen oder bei den elektronischen Angeboten staatlicher Behörden. Da die Bildungsmaßnahme aber nicht nur qualifizierende, sondern auch soziale, kulturelle und politische Kompetenzen vermittelt, leistet sie einen Beitrag zu gesellschaftlicher Integration, da sie die aktive Staatsbürgerschaft seiner Teilnehmer fördert. Das Projekt trägt dazu bei, eine demokratische Gesellschaft zu „gestalten“, an der sich möglichst viele Bürger, auch aus marginalisierten Gruppen, beteiligen. IMES gelingt es, neue Wege für Integration, Verständigung und politische Teilhabe für Zuwanderer zu fördern, wie sie auch die Agenda 21 und die „UNDekade Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ fordern. Das Internet und digitale Kompetenzen spielen heute im Alltag als Mittel der Information und Kommunikation bereits eine wichtige Rolle. Immer häufiger wird es auch als Werkzeug der gesellschaftlichen Partizipation und politischen Teilhabe genutzt. Städtische Serviceangebote, politische Umfragen und Aktionen der Bürgerbeteiligung finden sich immer häufiger im Internet. In dem Sinne kann das Internet helfen, beispielsweise Kontakt zu fernen Freunden aufzunehmen, Nachrichten in der Muttersprache zu finden, sich schnell zu informieren, Arbeitsangebote zu recherchieren, an politischen Abstimmungen teilzunehmen und die elektronischen Dienste von öffentlichen und privaten Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Die Vermittlung genau dieser Kompetenzen im Projekt IMES stellt eine nachhaltige Bildungsmaßnahme für Migranten dar. Das Lernangebot unterstützt und fördert sie im Aufbau von digitalen Fertigkeiten und zeigt ihnen gleichzeitig

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Wege auf, wie sie die Fähigkeiten auch einsetzen können. Nicht zuletzt die Rückmeldung der Projektteilnehmer bestätigt den Erfolg der Bildungsmaßnahme, sondern auch die Wahrnehmung des Projekts im nationalen und europäischen Kontext. Durch die Aufnahme des Projekts in europäische Netzwerke, etwa in das von der EU geförderte Netzwerk für interkulturelles Lernen (NILE), profitieren über den Förderzeitraum hinaus auch andere Initiativen und Einrichtungen von den Ergebnissen des Projekts. Die Akteure, ihre Beziehungen zueinander, die Diskussionen zwischen ihnen und ihre Handlungen stellen in ihrer Summe das Netz (Serres 1991) oder Rhizom (Deleuze, Guattari 2002) dar, in dem sich die kulturelle Praxis der digitalen Integration von Migranten in Hannover konstituiert. Betrachtet man die beteiligten Akteure und Entitäten, Personen wie Herrn G., Frau N. oder Herrn A., eine Einrichtung wie die Projektwerkstatt, nicht-menschliche Akteure wie die Internetplattform, sowie deren Beziehungen zueinander, dann wird deutlich, dass es sich um eine Assoziation im Sinne von Latour (2006 b) handelt. Er plädiert dafür, dass sich Sozialwissenschaft „von der Erforschung der Gesellschaft zur Erforschung der Assoziationen“ wandeln sollte (ebd. 2002). Das Konzept dient dem Forscher dazu, die Handlungen, Verbindungen und Kommunikationsprozesse von Akteuren sichtbar zu machen, die im Rahmen eines bestimmten Phänomens aktiv sind – die Herangehensweise habe ich in dieser Arbeit gewählt, um sichtbar zu machen, wie sich digitale Integration von Migranten tatsächlich vollzieht. Latour (ebd.) schenkt uns mit dem Begriff des „Kollektivs“ ein weiteres Konzept, mit dem sich die Ergebnisse meiner Forschung mit theoretischen Überlegungen in Verbindung bringen lassen. Dem Konzept liegt die Annahme zu Grunde, dass sich das, was wir als Kultur und Gesellschaft bezeichnen, in Kollektiven von assoziierten Akteuren konstituiert (vgl. Theoriekapitel). Wichtig ist, dass darin nicht nur menschliche, sondern auch nicht-menschliche Akteure mit Handlungsmacht ausgestattet sind. Im Projekt IMES, das ich eingehend analysiert habe, spiegelt sich das wieder. Die beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure aus unterschiedlichen Einrichtungen – Projektleiter, Koordinatoren, Mentoren, Teilnehmer, Computerarbeitsplätze, Räume, das Internet und Internetkurse – stellen in ihrer Verbindung zueinander das Kollektiv dar, in dem das Projekt IMES Wirklichkeit wird. So betrachtet ist es auf der einen Seite die gemeinschaftliche Anstrengung von vielen, Migranten durch das Werkzeug Computer und Internet mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Auf der anderen Seite ist es aber „einfach nur“ kulturelle Praxis, also das, was wir als Kultur und Gesellschaft bezeichnen. Im Folgenden komme ich nun zum Abschluss meiner Studie. In den Schlussbemerkungen führe ich die Argumente der Untersuchung zusammen und

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vergleiche die staatlichen und nicht-staatlichen Ansätze, die ich in den einzelnen Fallstudien umfangreich erörtert habe. Außerdem ordne ich abschließend die in der Arbeit verhandelten Themen kritisch in den Gesamtdiskurs der digitalen Integration von Migranten ein.

Schluss

Digitale Integration – Selbstzweck oder Rettung vor dem Untergang?

Seit dem Beginn meiner Studie im Jahr 2002 ist viel Zeit vergangen. Vieles was seither passiert ist, spielt in meinem Untersuchungsfeld eine Rolle. Aus dem Grund habe ich mich dazu entschlossen, die jüngsten soziokulturellen, politischen und ökonomischen Entwicklungen mit in den Fokus des Schlussteils zu nehmen. Damit berücksichtige ich auch den Zeitraum, der seit dem Verfassen meiner Dissertation vergangen ist, ohne jedoch den Inhalt und die Argumente meines Buches wesentlich zu verändern. Einer meiner Ausgangspunkte war, zu sagen, dass sich Entwicklungen, egal welcher Art, immer vor Ort abspielen. Dies ist der Raum, in dem die kulturelle Praxis eingebettet ist. Dort kann man als Ethnologe untersuchen, wie sich globale Entwicklungen und Veränderungen abspielen, welche Geschichten sich darin verbergen. Außerdem wird in meiner Studie deutlich, dass es im Untersuchungskontext Akteure gibt, die bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine herausragende Rolle spielen. Sie sind die Protagonisten, die zwischen globalen und lokalen sowie zwischen Berufs- und Alltagswelten übersetzen. Als New Mediators machen sie in ihren Arbeitsfeldern darauf aufmerksam, dass kommunikative Werkzeuge und mediale Technologien sowie die Kompetenz (Digital Literacy), sie nutzen zu können heute wichtiger sind denn je. Gleichzeitig sind sie Produzenten von Kultur und organisieren in den lokalen Netzwerken die Auswirkungen globaler sozialer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen. An der Stelle greife ich einen weiteren Punkt aus der Einführung zu diesem Buch auf, um die Zusammenhänge zwischen dem Globalen und dem Lokalen zu verdeutlichen. Dort schrieb ich, dass mein Untersuchungsgegenstand, die so genannte digitale Integration von Migranten, als Folge der Auswirkungen der Lissabon Strategie entstand. Sie „ist ein auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 in Lissabon verabschiedetes Pro-

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gramm, das zum Ziel hat, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“ (Wikipedia 2013). Diese Politikstrategie wurde in Zeiten ins Leben gerufen, als in der Europäischen Union (EU) von der Finanzkrise noch nichts zu spüren war. Die Zielsetzung der politischen Strategen war es, die EU zum stärksten Wirtschaftsraum weltweit zu machen. Die Grundidee setzte auf die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien als innovative Ressourcen. Man wollte nicht weniger, als die EU-Mitgliedsstaaten in das postindustrielle Zeitalter zu überführen. In den ersten fünf bis acht Jahren nach der Verabschiedung der Lissabon Strategie wurden schließlich viele groß angelegte Entwicklungsprojekte in verschiedenen Ländern ins Leben gerufen. Dazu gehören auch die von mir untersuchten Maßnahmen. Inzwischen hat sich jedoch in der EU viel getan, denn sie veränderte sich in den letzten Jahren sowohl geographisch wie auch wirtschaftlich und politisch enorm. Fast 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist die EU Osterweiterung fast abgeschlossen. Neue Prosperitäten, wie etwa auf dem transnationalen Lebensmittelmarkt und in der Baubranche, paaren sich mit wirtschaftlichem Zusammenbruch in vielen Regionen. Europa stellt sich gerade neu auf und vielerorts mischen sich europakritische Perspektiven in die Diskurse. Die Finanz- und Wirtschaftskrise stellt bei einigen Akteuren gar die Idee der EU als solches in Frage. Die großen Spähaktionen US-amerikanischer, britischer und vieler anderer Geheimdienste weltweit zeigen, dass Angst und Unsicherheit weitere Themen sind, die heute die Welt bewegen. Die vermeintliche und überall gepredigte Unsicherheit findet an vielen Orten Niederschlag. Ständig neue Meldungen von Überwachungsnetzwerken, die Kommodifizierung der Kommunikationswelt und die Bedienbarkeit der Welt durch Interfaces haben gleichzeitig dazu geführt, dass unser Alltag von Technologien und Medien durchdrungen ist. Sie sind gewissermaßen omnipräsent. Während die Versorgung der Menschen mit diesen Technologien weit fortgeschritten ist, stellt sich die Frage der Nutzungskompetenzen stärker denn je. Wissen wird hier zur Handlungskompetenz, mit der man im 21. Jahrhundert vermeintlich ausgestattet sein muss. Insofern erscheint es nur logisch, wenn die politisch Verantwortlichen Bedingungen schaffen, die eine breitest mögliche Verteilung digitaler Fähigkeiten erlauben. Der Ethnologe und Globalisierungsexperte Arjun Appadurai (2013) spricht in seinem neuesten Buch davon, dass eine „Politik der Möglichkeiten“ für Benachteiligte gefördert werden müsse. Nur so ist es aus seiner Sicht grundsätzlich möglich, Bedingungen zu schaffen, die den Verlierern der Globalisierung eine Chance gibt, aus ihrer oft miserablen Lebenssituation herauszutreten.

D IGITALE I NTEGRATION – S ELBSTZWECK ODER R ETTUNG VOR DEM U NTERGANG ?

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Längst müssen aber viele Initiativen weltweit und selbst Projekte, wie die von mir Untersuchten, mit zunehmend knappen Fördermitteln kämpfen. Das Organisationsprinzip des „Managens“ hat zwar tief in die lokale Projektwelt eingegriffen, ökonomisch geholfen hat es den beteiligten Akteuren aber nicht. Im Gegenteil, denn Fördermittel werden nicht nur knapper, sondern zunehmend in anderen Bereichen eingesetzt. Führt man sich hingegen den Alltag der Menschen weltweit vor Augen, wird schnell klar, dass umfangreiche digitale Fähigkeiten heute ein zentrales soziales, kulturelles, wirtschaftliches und politisches Werkzeug sind. In der Bildung, am Arbeitsplatz und in der Freizeit spielen heute neue Technologien und Medien eine große Rolle. Insofern sind die Gefahren der digitalen Spaltung der Gesellschaft nach wie vor aktuell. Auf der Basis der Ergebnisse meiner Studie erörtere ich nun, welche Rolle die Rhetorik der Krise (vgl. Dracklé 1999) für die Praxis der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten spielt. Ausgehend davon führe ich die Erkenntnisse aus meinen Fallstudien zusammen und unterziehe sie einem strukturellen Vergleich. Auf der Grundlage meiner theoretischen Überlegungen demonstriere ich, wie eng die Ansätze in Esslingen und Hannover miteinander verbunden sind und wie weit sie paradoxerweise auch voneinander entfernt liegen. Im Anschluss ordne ich die Ergebnisse kritisch in den Gesamtdiskurs um Integration und Fortschritt ein. In der kulturellen Praxis von Konzepten wie dem Rhizom (Deleuze, Guattari 2002) oder Netz (Serres 1991) zeigt sich ein gesellschaftliches und politisches Organisationsprinzip, das einer nicht-hierarchischen Logik folgt. Trotzdem – und das sollte auf keinen Fall verschwiegen werden – offenbaren sich darin Machtbeziehungen, Zwänge, stärkere und schwächere Positionen. Es wird sichtbar, dass Projekte von der Planung bis zur Umsetzung von Menschen gemacht werden und in dem Sinne durch und durch menschlich sind. Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten sind keine anonymen Gebilde, die vermeintlich nach einem immer objektiv gleichen Muster ablaufen, sondern bekommen durch die beteiligten Menschen ihr wirkliches Gesicht. Als solche sind sie immer menschliche Praxis und deshalb als solche zu analysieren. Ausschlaggebend für meine kritische Analyse ist das Ergebnis, demzufolge es in meinem Untersuchungsfeld einen starken Imperativ gibt, der die beteiligten Akteure zur kontinuierlichen Innovation zwingt. Insbesondere die New Mediators, also die Innovatoren und Förderer von digitaler Integration, stehen unter dem Druck, immer wieder neue Projekte zu entwickeln, zu beantragen und umzusetzen. Maßnahmen entstehen nicht nur mit dem Ziel einer Steigerung der Partizipation von Migranten in der Gesellschaft, sondern auch aus dem Zwang zur Innovation und der eigenen Sicherung der Position der Protagonisten. Hier stellt sich die Frage, ob die Entwicklung und Umsetzung von

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Strategien zur digitalen Integration von Migranten dem Selbstzweck der beteiligten Akteure oder dem Ausweg aus der konstatierten Krise dienen. Oder, ob es genau die Verbindung von Allgemeininteresse und Selbstzweck ist, die vielen Entwicklungsprojekten innewohnt. Zur Klärung dieser wichtigen Fragen werfe ich zum Abschluss nochmals einen Blick auf das Konzept der digitalen Integration. Ich lege dar, welche Rolle es als Organisationsprinzip spielt und was letztendlich Migranten davon haben, dass in Deutschland für sie Strategien zur digitalen Integration ins Leben gerufen werden. Die Rhetorik der Krise, die in den Erzählungen über die digitale Spaltung der Gesellschaft und durch das Öffnen der Black Box zum Ausdruck kommt, spielt für die Praxis der digitalen Integration von Migranten eine zentrale Rolle (vgl. Einleitung). Sie ist Ausgangspunkt meiner Untersuchung und in ihr liegt die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten begründet. Die fortschreitende digitale Spaltung der Gesellschaft in „User und Looser“ (Merkel 2003) gleicht einer sich öffnenden Schere. „Auf der einen Seite steht die Informationselite, auf der anderen befinden sich die Medienanalphabeten, die den Anschluss an das Internet-Zeitalter verpasst haben“ (ebd.). Die Bedrohung sehen viele Experten darin, dass die digitale Spaltung von heute die soziale Spaltung von morgen bedeuten kann (vgl. Deutscher Bundestag 2001). Die Szenarien der Krise äußern sich auf vielen Ebenen. Aus der Sicht einer neoliberalen Politik, die mit den Herausforderungen der Globalisierung zu kämpfen hat, begründen sich die Gefahren, die aus der digitalen Spaltung entstehen, im Bereich der Ökonomie. Ein global vernetztes Wirtschaftssystem, das zunehmend auf Informations- und Kommunikationstechnologien aufbaut, braucht Menschen, die über digitale Fähigkeiten verfügen. Computer und andere Technologien wie computergesteuerte Produktionsapparate müssen bedient werden, damit sie die propagierten Trümpfe bei der Rationalisierung von Arbeitsumgebungen ausspielen können. Neue Technologien helfen, Produktionsabläufe effizienter zu gestalten und tragen zur Steigerung von Unternehmensgewinnen bei, indem die Aufwendungen für Arbeitskräfte dadurch reduziert werden, dass die breite Masse wenigen gut ausgebildeten Kräften weicht, die moderne Produktionsmaschinen bedienen. Eine auf Rationalisierung und globalen Netzwerken basierende Ökonomie verlangt von Politik und Zivilgesellschaft, sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Verantwortliche Politiker sehen ihre Aufgabe darin, alles zu tun, um die wirtschaftlichen Entwicklungen nicht zu gefährden. Aus dem Grund erklären sich die Visionen und Szenarien der Bedrohung (vgl. Bundestag 2001; Merkel 2003), die in mangelnden digitalen Fähigkeiten von Bürgern begründet liegen, quasi von selbst. Damit verändert sich aus Sicht der Politik auch der Bürgerbegriff. Demnach gehört es heute zum Repertoire der Rechte und

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Pflichten moderner Staatsbürger, dass sich der Einzelne kontinuierlich in einem Prozess des lebenslangen Lernens mit der Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien vertraut machen muss. Interessanterweise werden in der stark an ökonomischen Entwicklungen orientierten Perspektive auf das Konzept des Staatsbürgers „auch“ Migranten als Bürger betrachtet – auch sie haben die Aufgabe, sich digitale Fähigkeiten anzueignen. Das ist insofern interessant, als dass in anderen Diskursen wie Gleichberechtigung oder Chancen weniger davon ausgegangen wird, dass Migranten mit allen Rechten und Pflichten eines Staatsbürgers ausgestattet sein sollten. Die skizzierten Szenarien der Bedrohung äußern sich aber nicht nur in der öffentlichen Rede von Politikern. Auch die Stimmen aus der Zivilgesellschaft sind stark wahrnehmbar. Sozialarbeiter, NGO-Vertreter und Wissenschaftler warnen davor, dass die digitale zu einer sozialen Spaltung der Gesellschaft führt. Digitale Fähigkeiten stellen wie Lesen, Schreiben und Rechnen eine Kulturtechnik dar, die für gesellschaftliche Teilhabe eine entscheidende Rolle spielen (vgl. Gilster 1997; Hinkelbein 2004 b, 2007; Kubicek, Welling 2000). Mangelnde digitale Kompetenzen drängen den Einzelnen ins gesellschaftliche Abseits und erhöhen im negativen Sinne die Chance, dass immer mehr Menschen Teil eines kontinuierlich wachsenden Prekariats1 werden. Die Einrichtungen der Zivilgesellschaft sehen sich dazu verpflichtet, Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen sich Bürger mit Computer, Internet & Co vertraut machen können. Während Wissenschaftler durch ihre Forschungen auf die Bedrohungsszenarien aufmerksam machen, erheben NGO’s den Anspruch, die Lücken in der Lernangebotsstruktur zu füllen, für die sie die Politik verantwortlich machen. Im Fokus der Aktivitäten von NGO’s im Feld der digitalen Integration stehen vor allem benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Migranten. Aus ihrer Sicht sind sie besonders stark von den besagten Bedrohungen betroffen. Durch die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur digitalen Integration möchten sie dazu beitragen, die Gefahren einer zunehmenden digitalen Spaltung abzuwenden. Gleichzeitig sehen vor allem die New Mediators durch das Mitwirken in der Praxis die Möglichkeit für sich selbst, das drohende Prekariat abzuwenden oder den Weg daraus zu finden. Eine ganze Reihe meiner Informanten – vor allem Computerlehrer und Mentoren – betrachten es als Chance, durch ihr Mitwirken

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Der Begriff beschreibt eine neue soziologische Kategorie, in der diejenigen beschrieben werden, die aufgrund von Arbeitslosigkeit oder unterbezahlter Tätigkeiten zunehmend ins gesellschaftliche und wirtschaftliche Abseits geraten (vgl. Bude, Willisch 2006; Kessl 2005).

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in den Projekten zur digitalen Integration beruflich wieder Fuß zu fassen. Bei einer genaueren Betrachtung der Situation bleibt jedoch fraglich, ob dadurch der Weg aus dem Prekariat gelingt oder ob er nicht vielmehr zementiert wird. Denn es ist ein wichtiges Merkmal von New Mediators, dass sie oft hoch gebildet sind und in ihrer Rolle als Vermittler von Wissen viel ehrenamtliches Engagement mitbringen oder sich mit einem vergleichsweise geringen Honorar zufrieden geben müssen. Genau das ist ein wichtiges Merkmal von Mitgliedern des wachsenden Prekariats, wonach Menschen mit hohem Bildungsgrad zunehmend in für sie ökonomisch ungünstigen Beschäftigungsverhältnissen stehen. Wie die vergangenen Abschnitte zeigen, bilden die Szenarien der Bedrohung und Krise die Grundlage für die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Für staatliche Einrichtungen wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, das Stadtparlament oder das Ausländerbüro Esslingens ist es die Triebfeder, um Maßnahmen wie Media@Komm, buerger-gehen-online und Computerkurse ins Leben zu rufen. Einrichtungen der Zivilgesellschaft wie die Projektwerkstatt für Umwelt und Entwicklung e.V. in Hannover nehmen die propagierte Krise zum Anlass, digitale Integration von Migranten als Praxis der gesellschaftlichen Teilhabe zu etablieren. Aus der Perspektive der Wissenschaft wird geäußert, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen dringend notwendig ist, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern und es dem Einzelnen zu ermöglichen, seine aktive Staatsbürgerschaft wahrnehmen zu können. Aufgrund der Gefahren durch mangelnde digitale Fähigkeiten ist es notwendig, an Maßnahmen zur digitalen Integration wie Computerkursen teilzunehmen, um den Anschluss an die Arbeitswelt und die Gesellschaft nicht zu verlieren. Die jüngsten Entwicklungen machen mehr als deutlich, dass ein grundlegendes Verständnis der Kommunikationswelt und digitale Kompetenzen notwendig sind. Nur dann kann man einen Eindruck davon bekommen, was die neuesten Spionagewerkzeuge der amerikanischen National Security Agency oder der britischen Geheimdienste zu leisten in der Lage sind. Behutsam mit der eigenen Identität im Netz umzugehen, ist deshalb wichtiger denn je. Auch dahingehend versuchen die Maßnahmen von heute die Bürger zu sensibilisieren. In Zeiten der virtuellen Ökonomie und sozialen Netzwerke sind die Themen Datenschutz und Sicherheit eine wichtige Grundlage digitaler Kompetenz. In diesem Bereich sollte aus meiner Sicht in den nächsten Jahren ein Schwerpunkt in der Vermittlung von Kompetenzen gelegt werden. Die verschiedenen Positionen, die sich aus meiner Studie ergeben, führe ich nun in einem Vergleich zusammen. Das bietet sich an, weil ich keine Einzelfallstudie

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durchgeführt habe, sondern im Rahmen einer Multi-Sited-Ethnography (Marcus 1995) und Spurensuche (Dracklé 1999) drei Ethnographien erstellt habe (Think Tanks / New Mediators, Esslingen, Hannover). Der methodische und theoretische Bezug zur Akteur-Netzwerk-Theorie (Callon 2006 a, b, Latour 2002, 2005 a, 2006 a, b, c) erlaubt es mir, die einzelnen Ansätze einander gegenüber zu stellen. Dadurch ist es möglich, ein Gesamtbild der digitalen Integration von Migranten zu zeichnen, das tief in aktueller gesellschaftlicher, kultureller und politischer Praxis verortet ist. Der umfassende Blick beinhaltet drei Richtungen, die sich mit dem Phänomen der digitalen Integration von Migranten beschäftigen. Computerkurse und Internettreffs werden in Esslingen in erster Linie aus staatlicher Perspektive ins Leben gerufen. In Hannover ist es eine Einrichtung der Zivilgesellschaft, die durch ihre Anstrengungen die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe von Migranten fördern will. Schließlich ist es die Wissenschaft, die in der Praxis der digitalen Integration eine wichtige Rolle spielt. Ein zentrales Ergebnis des Vergleichs der Ansätze ist, dass sie alle das „Netzwerken“ und „Managen“ als Organisationsprinzip nutzen. Das bedeutet, dass die Praxis in Think Tanks wie der Stiftung Digitale Chancen, in Einrichtungen wie dem Ausländerbüro in Esslingen oder in der Projektwerkstatt in Hannover dadurch gekennzeichnet ist, dass sich viele Menschen miteinander vernetzten, um durch die Bündelung von Wissen aktiver in die Praxis eingreifen zu können. Auf diese Weise entstehen wichtige Verbindungen zwischen maßgeblichen Akteuren, Einrichtungen treten in Kooperationen ein und es wird ein Prozess der Wissensproduktion und des Austauschs initiiert. Eine wichtige Praxis ist in dem Rahmen die Übersetzung. Sie ist ein Vorgehen, durch das Ideen und Herangehensweisen aus einem Bereich (z.B. Zivilgesellschaft) für einen anderen (z.B. Politik) verständlich und kompatibel gemacht werden. In den Übersetzungspraktiken zeigt sich, dass die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine sehr menschliche Angelegenheit ist – es wird gesprochen, diskutiert, gestritten, nachgedacht und es werden Kompromisse gesucht. Obwohl die Projekte durch groß anmutende Programme wie dem „Bundeswettbewerb Media@Komm“ oder dem „Grundvig I Programm der Europäischen Union“ gefördert werden, und dadurch dem unkundigen Betrachter als groß, mächtig und objektiv erscheinen, erlangen sie in der Praxis durch Menschen wie Herrn W., Frau N. oder Herrn G. ihr Gesicht. Es sind Akteure wie sie, die Netzwerke gestalten, Ideen entwickeln, miteinander diskutieren, sich austauschen, Wissen produzieren und durch diese Prozesse Maßnahmen zur digitalen Integration in Gang bringen. Ich habe sie in der Studie als New Mediators bezeichnet, die sich in besonderem Maße für die digitale Integration von

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Migranten einsetzen. Sie sind die Hauptakteure und Vorkämpfer zur Überwindung der Krise, die ich skizziert habe – und die heute offensichtlicher ist denn je. Neben den Gemeinsamkeiten, die die Ansätze und Praktiken der Akteure aufweisen, gibt es auch wesentliche Unterschiede. Das hängt damit zusammen, dass die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten in Esslingen aus staatlicher und in Hannover aus zivilgesellschaftlicher Perspektive erfolgen. In Esslingen sind die Angebote im Ausländerbüro, im Projekt buerger-gehen-online und im LOS-Projekt in der Pliensauvorstadt Teil von kommunalen Bestrebungen. buerger-gehen-online entstand im Rahmen von MediaKomm Esslingen, durch das der Umbau der öffentlichen Verwaltung in der Stadt erreicht werden soll. Das Projekt hat die Aufgabe, die Bürger darauf einzustimmen, in Zukunft viele Angebote der Stadt auf elektronischem Wege zu nutzen – insbesondere die elektronischen Dienste, wie etwa die Genehmigung von Bauaufträgen, innerstädtische Ummeldungen oder die Anmeldung von Fahrzeugen. Die Praxis zur digitalen Integration von Migranten stellt eine Politikstrategie dar, mit der Migranten auf die Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung eingeschworen werden. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sollen als „Kunden“ neuer staatlicher Angebote gewonnen werden. Wie ich später noch zeige, verfolgt die staatliche Perspektive gleichzeitig die Absicht, sich zunehmend aus diesen „Geschäften“ zurückzuziehen. Staatliche Einrichtungen wie das Ausländerbüro in Esslingen verfolgen das Ziel, durch die Schaffung von innovativen Maßnahmen einen Beitrag zur städtischen Integrationspraxis zu leisten. Hier geht es einerseits darum, Zugang zu migrantischen Lebenswelten zu bekommen, sie besser kennen zu lernen und auf der Basis in das städtische Leben mit einzubinden. Man erhofft sich dadurch eine Steigerung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit anderer ethnischer Herkunft. Auf der anderen Seite wird mit der Durchführung von Computerkursen, Internettreffs und Workshops für Migranten die Absicht verfolgt, sie auf die ökonomischen Veränderungen vorzubereiten und als Arbeitskraft weiter zu qualifizieren. Darin verbirgt sich die Absicht, – übrigens nicht nur im Hinblick auf Migranten – die Bürger selbst mehr in die Pflicht zu nehmen, indem sie in einem Prozess des „lebenslangen Lernens“ zunehmend selbst mehr Initiative ergreifen sollen. Der Staat verabschiedet sich zunehmend aus der Verantwortung, um sie den Bürgern und Einrichtungen der Zivilgesellschaft zu übergeben. Hier zeigt sich ein weiteres Paradoxon, dass in den Ergebnissen meiner Studie offensichtlich wird. Wie ich im Rahmen der Rhetorik der Krise erörtert habe, betrachten es Politiker unter dem Druck wirtschaftlicher Entwicklungen als äußerst wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Bürger digitale Fähigkeiten aneig-

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nen können – ist es da nicht ein Widerspruch, dass sich die Politik in der skizzierten Weise aus der Praxis zurückzieht? In dem Sinne betrachte ich die Projektwerkstatt in Hannover und das EUProjekt IMES als Folge der staatlichen Politik des „Verantwortung Abgebens“. Nichtregierungsorganisationen wie die Projektwerkstatt übernehmen zunehmend staatliche Aufgaben. Sie fühlen sich dazu verpflichtet, Strategien zu entwickeln, in deren Kern es darum geht, Bürger und ihre Lebenswelten zu stärken, sich um sie zu kümmern und sie über ihre Bürgerrechte aufzuklären. In dem Rahmen entwickelte die Projektwerkstatt das Projekt IMES. Akteure wie Herr G. verfolgen die Absicht, durch die Vermittlung von digitalen Kompetenzen an Migranten deren aktive Staatsbürgerschaft zu fördern. Sie sollen in die Lage versetzt werden, sich mit staatlichen Einrichtungen auseinandersetzen zu können, sich ehrenamtlich zu engagieren, sich mit ihrer politischen Situation auseinandersetzen zu können und sich gesellschaftlich zu beteiligen. Mit ihrer Herangehensweise verfolgt die Projektwerkstatt das Ziel, einen Beitrag zur Förderung der Demokratie zu leisten. Im Vergleich zu den Bestrebungen staatlicher Einrichtungen in Esslingen, in denen neben der Förderung aktiver Staatsbürgerschaft vor allem das „ökonomische Funktionieren“ von Migranten im Vordergrund steht, engagiert sich die Projektwerkstatt für eine stärkere Position von Migranten in der Zivilgesellschaft. Die Ergebnisse legen nahe, dass sich die Projektwerkstatt dazu verpflichtet fühlt, sich für die Belange von Migranten einzusetzen. In den Aussagen der Protagonisten in der NGO wird deutlich, dass sie sich gewissermaßen als Anwälte für die gesellschaftlich marginalisierte Gruppe der Migranten betrachten. Ideologisch betrachtet, verwundert das auch nicht, sehen doch gerade NGO’s ihre Aufgaben darin verankert, als Interessenvertreter Benachteiligter aufzutreten. Gleichzeitig, und das darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, sind auch Einrichtungen wie die Projektwerkstatt nicht frei von ökonomischen Zwängen, denn sie müssen wirtschaftlich überleben. Projekte wie die zur digitalen Integration von Migranten stellen in der Hinsicht eine wichtige Ressource dar, weil Fördergelder dazu beitragen, dass sich die Interessenvertretung von Migranten ökonomisch gesehen für die Organisation „auszahlt“. Schließlich gibt es noch die Perspektive der Wissenschaft, die sich aus politologischer, technologischer, soziologischer, kommunikationswissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive mit den Phänomenen digitale Spaltung und Integration beschäftigt. In meiner Studie steht das Institut für Informationsmanagement an der Universität Bremen und die Akteure um den Wissenschaftler Herrn H. im Zentrum. Im Rahmen seiner Forschung über die digitale Spaltung der Gesellschaft weist er vehement auf die Gefahren hin, die sich daraus erge-

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ben, dass ein Teil der Bevölkerung keine oder mangelnde digitale Fähigkeiten hat (Kubicek, Welling 2000). Das Engagement von Herrn H. führte zur Gründung der Stiftung Digitale Chancen. Die Einrichtung ist heute eine wichtige Verbindungsstelle zwischen staatlicher Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Hier finden wichtige Übersetzungen zwischen Akteuren aus ganz unterschiedlichen Bereichen statt. Die Stiftung, deren wissenschaftlicher Leiter Herr H. ist, engagiert sich in Deutschland für eine kontinuierliche und nachhaltige digitale Integration von benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Ihr Selbstverständnis liegt darin, Wissen zu bündeln, Interessen zu vertreten und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und sie an ihre Kooperationspartner in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft weiterzuleiten. Wissenschaftler wie Herr H. treten als Berater auf und machen als New Mediator Werbung für digitale Integration, geben entscheidendes Wissen weiter und spielen als Übersetzer zwischen den verschiedenen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Sozialarbeit, Zivilgesellschaft) eine zentrale Rolle. Gleichzeitig sind Herr H. und seine Mitstreiter Teil der lokalen Praxis in Bremen. Genau wie Esslingen war die Hansestadt einer der Gewinner des Bundeswettbewerbs Media@Komm. Herrn H.’s Rolle ist die eines Beraters und Vermittlers im Prozess der Umstellung der öffentlichen Bremer Verwaltung auf Egovernment. Während jedoch in Esslingen die Bürgerperspektive bei der Umsetzung berücksichtigt wird, werden in Bremen in erster Linie Maßnahmen durchgeführt, deren Zielgruppe Akteure wie Anwälte, Richter, Steuerberater und Unternehmer sind. Im Rahmen der Bremer Variante von Media@Komm sollen sie dazu bewegt werden, die elektronischen Dienste in Anspruch zu nehmen, die dazu entwickelt werden, um staatliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Was aktuell aus diesen Ansätzen in den einzelnen Städten geworden ist müsste eine weitere Studie zu Tage tragen. In Esslingen und Hannover, so viel zeigen meine letzten Recherchen aus dem Jahr 2013, bestehen weiterhin die in den 2000er Jahren entwickelten Netzwerke, in denen digitale Alphabetisierung stattfindet. Zum Abschluss meines Vergleichs möchte ich nochmals auf eine gemeinsame Position eingehen, die es in allen Ansätzen gibt, die ich untersucht habe. Es gelingt trotz der bewussten Förderung eines niedrigschwelligen Bildungsangebots in Esslingen und Hannover nicht, in umfangreichem Maße bildungsferne Menschen als Teilnehmer der Maßnahmen zu gewinnen. Trotz einer nicht geringen Anzahl von Bildungsfernen im Kreis der Kursteilnehmer bleibt deren Anteil hinter den Erwartungen zurück – ein Problem mit dem viele Projekte dieser Art in Deutschland bis heute zu kämpfen haben. Die Realität sieht so aus, dass sich sowohl bei der Entwicklung, wie auch bei der Umsetzung von Lernangeboten mehrheitlich Migranten mit einem „Mittelschichthintergrund“ beteiligen. Sie

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sind, wie Deutsche auch, von jeher an der Bildungspraxis beteiligt. Zukünftige Initiativen werden sich daran messen lassen müssen, zu welchem Grad es ihnen gelingt, Migranten mit niedrigem Bildungsniveau zu erreichen. Im Hinblick auf die Tatsache, dass sich der Staat aus dem Bereich der Bildung kontinuierlich zurückzieht, ist es von größtem gesellschaftlichen Interesse, diesen Bevölkerungsgruppen Bildungsangebote zu ermöglichen, in denen sie Kompetenzen erwerben können, die sie zur Teilhabe an der propagierten Wissensgesellschaft benötigen – nur so ist eine Wissensgesellschaft für alle möglich. Außerdem ist diese Entwicklungslandschaft chronisch mit Fördermitteln unterversorgt. Nachdem ich die verschiedenen Handlungsansätze miteinander verglichen habe, komme ich nun auf ein weiteres Ergebnis meiner Untersuchung zu sprechen. Im Fokus stehen hier die Akteure die ich als New Mediators beschrieben habe. Es zeigt sich, dass sie nicht nur wichtige Wegbereiter und Übersetzer sind, sondern dass Projekte zur digitalen Integration auch eng mit ihrem persönlichen Schicksal und dem der Einrichtung, die sie vertreten, verknüpft sind. Der Begriff „Projekt“ war eines der am meist verwendeten Worte in meinem Forschungsfeld. Neben den in der Studie dargestellten Zielen, die sich in der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten zeigen, verbergen sich in der Praxis auch viele persönliche Absichten der beteiligten Akteure und Einrichtungen. Durch Projektanträge, deren Genehmigung und Umsetzung werden nicht nur immer wieder neue Allianzen geschmiedet, sondern es zeigt sich darin auch ein Wettbewerb um Gelder, Stellen und Zukunftsperspektiven. Das Öffnen der „Black Box digitale Integration“ förderte auch zu Tage, dass es einen großen Druck für Akteure gibt, kontinuierlich innovative Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Damit sichern sie nicht nur ihre eigene Position, sondern verschaffen auch den Einrichtungen eine bessere Basis, auf der sie agieren können. Gleichzeitig wird durch immer wieder neue Projekte die Finanzierung von Einrichtungen und Akteuren gesichert. Aus der Perspektive erscheinen Maßnahmen zur digitalen Integration von Migranten nicht nur als Ansatz, mit dem ihre gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden kann. Es zeigt sich darin auch ein hart umkämpftes Feld, in dem es um Fördergelder geht, Allianzen geschmiedet, ehemalige Kooperationspartner zu erbitterten Kontrahenten und vormalige Konkurrenten zu Projektpartnern werden. Auf den Akteuren lastet ein kontinuierlicher Druck, erfolgreich zu sein und Gelder an Land zu ziehen. So betrachtet, sind die Entwickler und Leiter von Maßnahmen selbst Teil ihrer Strategien, da sie durch das Schaffen von Computerkursen, Internettreffs oder Workshops selbst in die Lage kommen, ihre gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe zu sichern – im Sinne von Ferguson (1990) können sie auch als „anti-

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politics-machine“ oder als Black Box betrachtet werden. Aus dem Grund muss die Analyse der digitalen Integration von Migranten berücksichtigen, dass die Praxis immer von mehr bestimmt wird, als von den eigentlichen Zielen der „gesellschaftlichen Teilhabe von Migranten“. Es zeigt sich in meiner Feldforschung, dass der Wettbewerb um neue innovative Projekte und Fördergelder von Menschen ausgetragen wird. Es sind die Akteure, die im Fokus dieser Studie stehen. Neben der Förderung von Integration verfolgen sie stets ihre persönlichen Absichten und die ihrer Einrichtungen, in deren Namen sie tätig sind. Eine umfangreiche Auseinandersetzung und Analyse des Begriffs „Projekt“ und der Praxis, die sich daraus ergibt, ist deshalb ein unverzichtbarer Schlüssel, um die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten zu verstehen. Digitale Integration ist ein entwicklungspolitisches Konzept, das im Fokus der Studie steht und das ich im Hinblick auf multiethnische Lebenswelten – im Jahr 2014 würde man wohl eher „transkulturelle Lebenswelten sagen“ – untersucht habe. Durch die Praxis, die ich in meiner Untersuchung umfangreich dargelegt habe, werden auf Akteure aus dem lokalen Kontext auf Stadt- und Stadtteilebene Aufgaben übertragen, die in der Vergangenheit von staatlichen Einrichtungen erfüllt wurden. Der Ansatz, durch die Förderung von lokalen Netzwerken staatliche Angebote umzuorganisieren, beinhaltet, dass sich auch Bürger ehrenamtlich beteiligen „müssen“. Im Rahmen ihrer aktiven Staatsbürgerschaft sollen sie Aufgaben übernehmen, die sich bisher noch im Verantwortungsbereich von staatlichen Einrichtungen befinden. Durch die so genannte „Verschlankung des Staates“ gibt er seine Aufgaben zunehmend an andere ab. Aus staatlicher Perspektive versucht man, ein neues gesellschaftliches Organisationsprinzip (Governance) zu etablieren, in dem zunehmend Bürger und Einrichtungen der Zivilgesellschaft wichtige Pflichten übernehmen sollen. Die Strategie der digitalen Integration spielt in der Herangehensweise eine wichtige Rolle. Die Formel lautet, dass eine gesteigerte Beteiligung der Bürger durch das Entwickeln und Umsetzen von Maßnahmen zur digitalen Integration den sozialen Austausch fördert und die Teilnehmer von Maßnahmen wichtige Kompetenzen erlernen, die sie in sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Bereichen anwenden können. Also Integration von unten und Ausweg aus der propagierten Krise? Oder digitale Integration von Migranten als Ausdruck des Selbstzwecks von Projektverantwortlichen? Die Rechnung geht jedenfalls aus staatlicher Perspektive nur dann auf, wenn es durch die Strategien wirklich gelingt, Migranten in die Prozesse zu integrieren. Denn wenn Migranten nicht an den Maßnahmen teilnehmen, haben sie gar nichts davon. Ihre Gesamtsituation verändert sich durch das bloße Vorhandensein von Maßnahmen zur digitalen Integration nicht.

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Wichtig wird deshalb in Zukunft sein, Migranten verstärkt in die Entwicklung geeigneter Strategien mit einzubeziehen. Nur dann können Lernangebote ins Leben gerufen werden, die von Migranten in umfangreichem Maße als Bildungsangebote akzeptiert und angenommen werden. Dann wird sich auch der Verdacht verflüchtigen, dass einem Teil der Praxis um die digitale Integration von Migranten der Beigeschmack des „Selbstzwecks“ seiner Protagonisten, im Sinne einer „anti-politics-machine“ (Ferguson 1990), anhaftet.

Anhang

Glossar

Die Idee ein Begriffs-Glossar zu machen habe ich von Bruno Latour (2002: 372382; 2010: 285-301). Inspiriert haben mich seine Bücher „Die Hoffnung der Pandora“ und „Das Parlament der Dinge“, an deren Ende ein umfangreiches Glossar zu finden ist. Die im Folgenden aufgelisteten Begriffe spielen in meinem Buch eine wesentliche Rolle. Die Verbindung der Begriffe zu einzelnen Autoren und ihren Werken findet sich im Haupttext des Buches. Im Glossar liste ich nur die aus meiner Sicht zentralen Literaturhinweise auf. Akteur Dieser Begriff spielt in meinem Buch eine zentrale Rolle, denn auf den Praktiken, Ideen und Verbindungen von Akteuren liegt der Fokus der Untersuchung. Sie sind menschliche und nicht-menschliche Wesen, die durch ihre Praktiken und Kommunikationsleistungen in einem dichten Netz an verschiedenen Schauplätzen die Praxis der digitalen Integration von Migranten gestalten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Personen oder in Form von materialisiertem Wissen, das sich etwa in einem Computer äußert, handeln und kulturelle Praxis gestalten (vgl. Latour 2002: 211-264, 372; 2010: 86-130). Akteur-Netzwerk Es handelt sich hier um das Netz aus Akteuren, Praktiken und Schauplätzen, das ich im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten untersuchte. Im Fokus stehen einerseits die Akteure und ihre Handlungen und andererseits ihre Verbindungen zueinander, die sich in Netzwerken äußern. Es äußert sich darin die Auflösung der Trennung von Mikro- und Makroperspektiven, in denen entweder die lokalen Praktiken von Akteuren oder die übergreifenden globalen Netzwerke im Erkenntnisinteresse stehen. Mit dem Begriff wird eine kulturelle Praxis beschrieben, in der Akteure Teil ei-

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nes Beziehungsnetzes sind, in dem gemeinsame Ziele verfolgt werden – in der Studie ist dies die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten (vgl. Callon 2006 a: 175-194; Latour 2002: 211-264; 2005 a). Akteur-Netzwerk-Theorie Es handelt sich hier weniger um eine Theorie im engen Sinne, sondern vielmehr um einen Forschungsansatz, in dem detaillierte ethnographische Beschreibungen, die Bildung von Listen und der Fokus auf handelnde Akteure und ihre Verbindungen zueinander im Fokus stehen. Die ANT, wie der Ansatz kurzerhand genannt wird, ist Theorie und Methode gleichermaßen und geht auf die französisch-britische Denktradition um Bruno Latour, Michel Callon und John Law zurück. In dem Rahmen haben sie Begriffe und Konzepte (Akteur, Assoziation, Übersetzung) entwickelt, die im Rahmen meiner Studie eine maßgebliche Rolle spielen. Wichtig ist, dass ich die ANT nicht im Sinne eines theoretischen Rahmens „anwende“, sondern dass ich das Vokabular nutze, um auf der Basis meiner ethnographischen Daten das Netz aus Akteuren, Praktiken, Schauplätzen und Verbindungen „lesbar“ zu machen, das bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten eine Rolle spielt (vgl. Belliger, Krieger 2006: 13-50; Latour 2005 a; Law 2006). Assoziation In Bezug auf dieses Buch gehe ich davon aus, dass „Gesellschaft“ in der Gegenwart durch vielfältige Praktiken von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren „gemacht“ wird. Akteure in meinem Forschungsfeld entwickeln in einem dichten Beziehungsnetz Strategien zur digitalen Integration von Migranten. Sie rufen in dem Rahmen Projekte ins Leben, die Wissen über die Nutzung von Computer und Internet verbreiten. Außerdem diskutieren sie in den Stadtteilen das Thema der Integration und binden durch ihre verflochtenen Handlungen nicht nur Migranten in soziale Prozesse ein, sondern auch Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Auf dieses Weise schaffen sie durch ihre Handlungen, Kommunikationsprozesse und Übersetzungsleistungen ein dichtes Netz aus Menschen, Orten und Technologien, in dem sich die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten vollzieht. Es sind Akteure, die durch ihr Verhandeln, Revidieren, Diskutieren und Kommunizieren das zustande bringen, was in der Sozial- und Kulturwissenschaft als Gesellschaft und Kultur bezeichnet wird. In der Denktradition, die ich in meinem Buch vertrete, verabschiedet man sich vom klassischen Begriff der Gesellschaft fast ganz. Anstatt dessen wird das Konzept der Assoziation und des Kollektivs verwendet.

G LOSSAR

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Im übertragenen Sinne dienen diese Konzepte dem Forscher die Handlungen, Verbindungen und Kommunikationsprozesse von Akteuren sichtbar zu machen, die im Rahmen eines bestimmten Phänomens eine Rolle spielen (vgl. Latour 2002: 373; 2006 b: 195-212). Black Box Mit dem Begriff wird eine sehr stabile Assoziation dargestellt, in der viele menschliche und nicht-menschliche Akteure in einem dichten Beziehungsnetz verwoben sind. Auf den ersten Blick wirkt eine Black Box wie ein stabiles und abgeschlossenes Gebilde, das mehr durch seinen Input und Output wahrgenommen wird, als durch sein komplexes Innenleben. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich aber als ein Netzwerk aus Akteuren und Beziehungen, in dem nicht nur Menschen und ihre Handlungen, sondern auch Gegenstände, Teile, Geräte und Ideen eine wichtige Rolle einnehmen. Eine Black Box besteht aus einer Vielzahl von vergangenen und gegenwärtigen Assoziationen, die in ihrer Umwelt, in der sie wahrgenommen wird, oft als unhinterfragte Tatsache betrachtet wird. In dem Sinne stellt auch die „digitale Integration von Migranten“ und die Assoziationen, die sich darin verbergen, eine Black Box dar. Damit wird deutlich, dass „digitale Integration von Migranten“ weitaus mehr repräsentiert, als die Vermittlung verschiedener technischer Fähigkeiten und digitaler Kompetenzen an Migranten (vgl. Hinkelbein 2008; Latour 2002: 373; 2005 a; 2005 b). Blackboxing Der Begriff des Blackboxing ist in dem Rahmen der Prozess, durch den eine stabilisierte Assoziation zu einer Black Box wird. Blackboxing stellt aus der Perspektive der Assoziationen, die an der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten beteiligt sind, eine Strategie dar, mit der sie zu einer stabilen Einheit werden. Sie verbindet menschliche und nicht-menschliche Akteure, Ideen, Ziele, Dinge, Geräte und Materie gewordene Handlungen. Auf diese Weise können städtische Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen digitale Integration zu einem erfolgreichen Programm ihrer Aktivitäten machen. Digitale Integration wird zum Synonym von gesellschaftlicher Integration. Digitale Kompetenzen, Computerkurse und Medienprojekte werden zu Werkzeugen und zu einer „Medizin“, in die man vertraut, weil sie „Gutes“ tut. Nach außen wirkt die Black Box „digitale Integration von Migranten“ wie ein stabiler und sicherer Ansatz, der dazu in der Lage ist, an vielen Schauplätzen die kulturelle und gesellschaftliche Integration von Migranten zu fördern. Damit wird die Arbeit, die sich darin verbirgt, regelrecht unsichtbar. Während die Arbeit aus dem Blickfeld gerät, spricht man nur noch über aufge-

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wendete Mittel und erzielte Ergebnisse. Ein Teil der Strategie des Blackboxing ist es, dass bei einer Black Box wie „digitaler Integration von Migranten“ darauf wert gelegt wird, sie erfolgreich darzustellen. Nicht selten wird deshalb bei erfolgreichen Assoziationen – Computer- und Internetkursen oder Medienprojekten – von den „Erfolgsfaktoren“ gesprochen. Je mehr es die entsprechenden Akteure durch das Blackboxing schaffen die Erfolgsfaktoren eines Projekts in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken, desto mehr wird eine Assoziation wie die der „digitalen Integration von Migranten“ wahrgenommen. Das impliziert aber gleichzeitig, dass immer unklarer wird, was sich überhaupt in einer Black Box abspielt, welche Verbindungen von Akteuren und Assoziationen sie hat – was also ihre interne Komplexität ist. Aus wissenschaftlicher Perspektive gilt es deshalb, die Black Box zu öffnen (vgl. Hinkelbein 2008; Latour 2002: 373; 2005 a; 2005 b). Digitale Integration Dieser Ausdruck ist einer der zentralen Begriffe der Studie. Einerseits wurde der Begriff von den Akteuren in meinem Feld dazu verwendet, die vielfältige Praxis zu beschreiben, mit der die Gefahren einer digitalen Spaltung der Gesellschaft abgewendet werden können. Für die Akteure im Untersuchungsfeld repräsentiert der Ausdruck eine Reihe von Überlegungen und Maßnahmen, mit denen Benachteiligte an die Nutzung neuer Medien und Technologien herangeführt werden können. Dadurch könne schließlich ihre gesellschaftliche Partizipation gefördert werden. Für wissenschaftliche Experten ist der Ausdruck ein Inbegriff für die Vermittlung einer Reihe von soziokulturellen Fähigkeiten und Medienkompetenzen, die der Einzelne zur Ausübung seiner aktiven Staatsbürgerschaft benötigt. Politiker und Wirtschaftsvertreter sehen darin die Chance, die Bevölkerung auf die veränderten ökonomischen Bedingungen vorzubereiten. Andererseits ist der Ausdruck auch eine Art Zauberformel, die immer dann „angewendet“ wird, wenn Akteure ihre jeweiligen Ideen und Strategien beschreiben wollen, mit denen die digitale Spaltung überwunden werden kann. In den Erzählungen der Akteure wird deutlich, dass der Ausdruck eine Formel für die Lösung vielfältiger gesellschaftlicher Probleme darstellt. Obwohl die einzelnen Ansätze und Positionen sehr verschieden sind, gibt es in meinem Untersuchungsfeld einen kleinsten gemeinsamen Nenner, was die Bedeutung von digitaler Integration betrifft: sie wird als ein geeigneter Weg zur Überwindung der digitalen Spaltung betrachtet (Hinkelbein 2007; 2011 a).

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Digitale Kompetenz Nach meiner Definition beinhalten digitale Kompetenzen technische Fähigkeiten und Medienkompetenzen im weitesten Sinne. Die so genannte Digital Literacy umfasst das Einschätzungsvermögen, wo und wie sich Informationen finden lassen. Hinzu kommt die Fähigkeit, den Nutzen von Informationen erschließen zu können, und die Kompetenz, die Qualität von Informationen einzuordnen und zu interpretieren. Digitale Kompetenz beinhaltet die Befähigung, Ressourcen, die im Umfeld zur Verfügung stehen, mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien zu erschließen und in der Lage zu sein, sich über aktuelle Entwicklungen im Lebensumfeld zu informieren (vgl. Gilster 1997; Hinkelbein 2004 b; 2011 a). Digitale Spaltung Das ist ein Ausdruck, der zur Zeit meiner Feldforschung bei vielen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, eine große Rolle spielte. Für Sozialarbeiter, Vertreter von Stiftungen und Nicht-Regierungsorganisationen, Politiker, Beamte, Lehrer, Wissenschaftler und Technikexperten ist es der Inbegriff für eine Situation, die ihnen Kopfzerbrechen und Angst bereitet. In zahlreichen Beschreibungen, Gesprächen und Erzählungen ist von einer regelrechten Gefahr der „digitalen Spaltung der Gesellschaft“ die Rede. Diese Redeweisen tauchen immer dann auf, wenn über den Zusammenhang von Neuen Medien und Technologien, wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Realität gesprochen wird. Im Kern der Auseinandersetzung mit diesem Phänomen geht es darum, dass benachteiligte Menschen wie Frauen, Senioren, Bildungsferne und Migranten nicht das Wissen um die Nutzung von Computer, Internet & Co haben. Damit seien sie nicht in der Lage, als aktive Staatsbürger an sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Prozessen in der propagierten Wissensgesellschaft zu partizipieren. Der Begriff tauchte in den 1970er Jahren als Digital Divide zum ersten Mal in der öffentlichen Diskussion in den Vereinigten Staaten auf. Darin wird deutlich, dass es sich dabei um eine Art Aktualisierung der Diskurse um die „Wissenskluft“ handelte (vgl. Kubicek, Hagen 1999, 2000; Kubicek, Welling 2000). Informations- und Kommunikationstechnologie Es handelt sich hier um eine Sammelbezeichnung – kurz auch als IKT bezeichnet – mit der alle Medien und Technologien bezeichnet werden, die im Rahmen des Aufkommens von Computer und Internet eine Rolle spielen. Neben den beiden bereits genannten Technologien gehören dazu auch mobile Technologien wie Mobiltelefonie, portable Minicomputer aber auch Digitalkameras, Websei-

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ten, elektronische Dienste, Email und viele andere. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von den Akteuren zu Informations- und Kommunikationszwecken eingesetzt werden. In der Arbeit spielen sie insbesondere auch als Werkzeuge in integrativen Prozessen eine wichtige Rolle. Integration Der Begriff ist politisches Handlungskonzept und Diskurs in einem. Im Kern spricht man bei dem Begriff über die Inklusion oder Exklusion benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Der Begriff stellt gewissermaßen eine Strategie dar, durch die marginalisierte Bevölkerungsgruppen gesellschaftlich, politisch und ökonomisch integriert werden sollen. In der Verwendung des Begriffs verbergen sich viele Positionen und Einstellungen. Gleichzeitig ist kein Konzept so umstritten, unklar und diffus. Es kommt letztendlich immer darauf an, zu schauen, was Integration im jeweiligen Kontext bedeutet und was die Akteure, die ihn verwenden, damit verbinden. Ich verzichte in der Arbeit auf eine theoretische Herleitung und stelle statt dessen heraus, was der Begriff im Rahmen digitaler Integration beinhaltet. Multi-Sited-Ethnography Beim ethnographischen Forschungsansatz der Multi-Sited-Ethnography handelt es sich um eine ethnographische Spurensuche, die, von einem Phänomen ausgehend, komplexen Zusammenhängen nachfolgt, die den Gegenstand konstituieren und beeinflussen. Von einem Ort oder von einem Problem ausgehend werden Netzwerke von Beziehungen oder Bedeutungen nachvollzogen, die an andere Orte ausstrahlen, und durch vielfältige Verknüpfungen eng miteinander verbunden sind. Es ist heute nicht mehr möglich, ein ethnographisches Fallbeispiel von äußeren Einflüssen zu isolieren, und seine Verbindungen zu einem größeren System (oder übersetzt: zu globalen Phänomenen) zu vernachlässigen. So wie es keine abgelegenen Orte auf dieser Welt mehr gibt, an denen eine wie auch immer „ursprüngliche“ Kultur anzutreffen ist, so können wir auch in Forschungen über IKT nicht so tun, als sei das jeweilige Beispiel isoliert (vgl. Marcus 1995). New Mediator Hier handelt es sich um Akteure, die in der Studie eine ganz zentrale Rolle spielen. Durch ihre Praktiken und Kommunikationsleistungen sind sie maßgeblich daran beteiligt, dass in Deutschland Strategien zur digitalen Integration von Migranten entwickelt und umgesetzt werden. Sie sind Beamte, Sozialarbeiter, Wissenschaftler, PC-Lehrer, Projektleiter und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und in völlig unterschiedlichen Arbeitsfeldern tätig. Gemeinsam ist

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ihnen, dass sie Teil eines dichten Netzwerks aus Akteuren und Schauplätzen sind, in dem sie vielfältige Kontakte haben. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört es, Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Um das Ziel zu erreichen müssen sie umfangreiche Übersetzungsarbeit leisten, in der sie sehr komplexe Zusammenhänge anschaulich machen, um sie in verschiedenen Kontexten verständlich zu machen. Sie sind Personen, die die Verbreitung neuer Medien in Kultur, Gesellschaft und Politik in besonderem Maße fördern. Sie sind somit in Anlehnung an die Konzeption von George E. Marcus auch Produzenten von Kultur (vgl. Marcus 1997). Praxis Der Begriff ist ein zentraler Bezugspunkt der Studie. Er ist gleichermaßen Gegenstand und das, worauf kulturelle Phänomene wie die Entwicklung und Umsetzung von Strategien zur digitalen Integration von Migranten basieren. Es ist das, was Akteure tun, indem sie gestalten, kommunizieren, sich austauschen, diskutieren und beraten. Eine wichtige Bedeutung haben auch Diskurse, da sich in ihnen die Phänomene und Objekte konstituieren, die in der Praxis eine Rolle spielen. Rhizom In meiner Arbeit dient mir der Begriff zur Beschreibung und Analyse der kulturellen Praxis, die ich im Rahmen der Entwicklung und Umsetzung von politischen Strategien zur digitalen Integration untersucht habe. Der Netzdiskurs, wie ich ihn in der Arbeit verwende, basiert auf einer Denktradition, die ihre Wurzeln in der politischen Protestbewegung und Gegenkultur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat. Das Konzept des Rhizoms und seine Anwendung gehen auf Gilles Deleuze und Félix Guattari zurück. Bei der Analyse und Darstellung des Rhizombegriffs bedienen sie sich bei der Begriffswahl vor allem bei solchen aus der Botanik, der Biologie und der Tierwelt. Durch die Bezugnahme auf diese machen sie bildhaft deutlich, wie sich ein Rhizom mal als „Geflecht von unterirdischen und überirdischen Knollen und Verbindungen“ zwischen ihnen, mal als „Ameisenbau“ und mal als die „Orchideewerdung der Wespe und die Wespewerdung der Orchidee“ zeigt. Als Begriff, Metapher und Form von Denken hat das Rhizom bis heute einen Bekanntheits- und vor allem Interpretationsgrad erlangt, der kaum noch zu überblicken ist. Mit dem Begriff wird eine Denktradition kritisiert, in der Wissen und Sein einem hierarchischen Organisationsprinzip unterworfen sind, das sie mit der Metapher des „Baumes“ oder „Wurzelbaumes“ umschreiben wird. In der Kritik äußert sich das Unbehagen, dass in Konzeptionen von Kultur und Gesellschaft oft von Ursprüngen ausgegangen wird, von

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denen aus sich alles Weitere entwickelt und auf die alles zurückzuführen ist. In der rhizomatischen Sichtweise wird betont, dass einem bestimmten Punkt in einem Netz, in einer Kultur, einer Gesellschaft, einer Ökonomie, einer Politik, einem Gefüge nicht mehr oder weniger Bedeutung und Machtwirkung zugeschrieben werden kann. Eine Rolle spielen hier die Gefüge, die sich um die Punkte scharen und die heterogenen Verbindungen, die zwischen und in Gefügen bestehen (vgl. Deleuze, Guattari 2002). Think Tank Der Begriff kommt aus dem amerikanischen Sprachgebrauch. Der Ursprung des Begriffs, der heute, ganz verallgemeinert gesagt, in vielen Sprachen dazu benutzt, Netzwerke von Akteuren, die ein bestimmtes Ziel verfolgen, zu beschreiben, geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Im engen Sinne stellt er einen abhörsicheren Ort dar, an dem verschiedene Experten militärische Strategien und Invasionspläne schmiedeten. In seiner heutigen Verwendung hat sich der Begriff aber wesentlich weiter entwickelt. Ab etwa den 1960er wurde der Begriff vor allem in den USA dazu genutzt, praxisorientierte Forschungsinstitute außerhalb des Militär- und Sicherheitsapparats zu beschreiben. In Amerika haftet dem Begriff bis heute das Image des „Neoliberalismus“ an, da es sich dort meist um Einrichtungen handelt, die direkt und mit großem Einfluss die Administration beraten und beeinflussen. Nicht selten stehen dabei ökonomische Interessen im Hintergrund. Think Tanks haben über England auch ihren Einzug in europäische Länder gefunden. Es fällt jedoch auf, dass sehr spezifisch betrachtet werden muss, was ein Think Tank im jeweiligen nationalen Kontext ist, welche Praxis also damit verbunden ist. Trotz des Charakters des Neoliberalen, das vielen, vor allem amerikanischen Think Tanks, anhaftet, habe ich eine Begriffsstrategie, die den Fokus nicht auf den hinter Think Tanks verborgenen Ideologien hat, sondern auf deren tatsächlicher Praxis. Das schließt natürlich nicht aus, dass die politisch Verantwortlichen durch digitale Integration von Migranten neoliberale Interessen verfolgen, indem sie sich etwa erhoffen, dass Migranten durch verbesserte digitale Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt besser eingesetzt werden können. Ohne eine bestimmte ideologische Aussage machen zu wollen, verwende ich in der Arbeit meistens die englische Bezeichnung des Begriffs. Der Begriff stellt für mich ein dichtes Netz aus Akteuren und Organisationen dar, in dem Ideen, Wissen und Erfahrungen zum Prozess der digitalen Integration von Migranten ausgetauscht werden. Durch ihre Praktiken und Handlungen entwickeln sie Strategien, die aus ihrer Sicht dazu beitragen, Migranten durch die Nutzung digitaler Medien mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

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Im Kontext meines Buchs eigene ich mir den Begriff ethnologisch an, womit ich auch Neuland betrete. Als Ausgangspunkt distanziere ich mich zwar nicht grundsätzlich von den bisherigen Definitionen, weise aber darauf hin, dass ich einen Think Tank nicht zwangsläufig als „einzelnes“ Forschungsinstitut oder als eine „bestimmte“ Organisation betrachte. Vielmehr gehe ich davon aus, dass an einer Denkfabrik Akteure aus verschiedenen Institutionen und Organisationen partizipieren, auch wenn eine bestimmte Einrichtung wie im Falle dieser Studie die Stiftung Digitale Chancen als federführende Organisation auftritt. Think Tanks stellen ein Kontinuum dar, das auf der einen Seite an den „privatrechtlichen Raum“ und auf der anderen an die „institutionelle politische Arena“ grenzt. In diesem Spektrum wird in Denkfabriken vorhandenes Wissen gebündelt, diskutiert, ausgewertet und in Form von Strategien an Entscheidungsträger aus der Politik weitergegeben. Dieses Wissen nutzen Politiker, um sich bei ihren politischen Entscheidungen daran zu orientieren (vgl. Gellner 1995; Lang 2006; Leggewie 1990; Plehwe, Walpen, Nordmann 2007; Thunert 2003). Übersetzung Die Praktiken der Akteure und die Prozesse, die dazu führen, dass gemeinsame Ziele bei der Entwicklung der besagten Strategien entstehen, lassen sich am besten verstehen, wenn man sie mit dem Konzept der Übersetzung in Verbindung bringt, wie es die Denker der Akteurs-Netzwerk-Theorie (ANT) entwickelt haben. Den Übersetzungsbegriff im Rahmen der ANT prägten Bruno Latour und Michel Callon. In der ANT liegen dem Konzept zwei grundlegende Bedeutungen zugrunde. In erster Linie geht es um die Übertragung bestimmter Ideen eines Akteurs oder eine Gruppe von Akteuren auf Andere. Durch eine Kombination aus Sprechakten, Erklärungen und Handlungen versucht ein Akteur, einem anderen Akteur seine Absichten, Motive und Ziele deutlich zu machen, um ihn von seiner Idee zu überzeugen. Gleichzeitig wird durch den Prozess der Übersetzung das Ziel verfolgt, bestimmte Vorhaben aus einem Bereich (z.B. Wissenschaft) in einen ganz anderen Bereich (z.B. Politik) zu übertragen. D.h., dass eine bestimmte Idee, etwa aus der Wissenschaft, für einen anderen Bereich, z.B. den der Politik, kompatibel gemacht wird. Callon zur Folge gibt es vier Momente der Übersetzung: „Problematisierung“, „Interessement“, „Enrolment“ und „Mobilisierung“. Von Interesse aus analytischer Perspektive sind auch die Verknüpfungen einzelner Übersetzungen, die so genannten Übersetzungsketten (vgl. Callon 1986; Latour 2005 a).

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Material

Während der Feldforschung in Berlin, Bremen, Düsseldorf, Esslingen und Hannover führte ich zahlreiche teilnehmende Beobachtungen, informelle Gespräche und Interviews. Hier liste ich ausschließlich die Materialquellen auf, aus denen ich explizit und wörtlich in diesem Buch zitiere.

Nationaler Kontext PK Nat. Kontext. Transkript von Beobachtungen auf nationaler Ebene.

Esslingen EL Material Esslingen 2004. Einladungsschreiben zum LOS-Projekt in der Pliensauvorstadt. Flyer Esslingen 2001. Werbeflyer der Stadt Esslinger für das Projekt buergergehen-online. IW Frau Na. 2004. Transkript von den Interviews mit Frau Na. IW Herr N. 2004. Transkript vom Interview mit Herrn N. IW Herr W. 2004. Transkript von den Interviews mit Herrn W. IW Herr S. 2004. Transkript von den Interviews mit Herrn S. PK Ausländerbüro 2004. Transkript von den Beobachtungsprotokollen im Ausländerbüro. Herr S., Material 2004. Dokumente, die mir Herr S. zur Verfügung stellte. Herr S., Material SB 2004. Offizielle Stellenbeschreibung von Herrn S.. TBP Esslingen 2004. Transkript von allgemeinen Feldforschungstagebuchaufzeichnungen.

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Hannover Arkadas Flyer. Flyer des Vereins Arkadas e.V. ChP Herr G. 2005. Chatprotokolle aus den IMES Chats. Hannover Material 2004: Beobachtungsprotokolle und Aufzeichnungen aus informellen Gesprächen. IG Frau N. 2005. Transkript von informellen Gesprächen mit Frau N. IW Herr G. 2005. Transkript von den Interviews mit Herrn G. Rist Material H 2006. Praktikumsbericht über die Projektwerkstatt.

MedienWelten Cora Bender Die Entdeckung der indigenen Moderne Indianische Medienwelten und Wissenskulturen in den USA 2011, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1102-1

Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN 978-3-89942-287-0

Julia Dombrowski Die Suche nach der Liebe im Netz Eine Ethnographie des Online-Datings 2011, 378 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1455-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

MedienWelten Angela Dreßler Nachrichtenwelten Hinter den Kulissen der Auslandsberichterstattung. Eine Ethnographie 2008, 268 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-961-9

Eliane Fernandes Ferreira Von Pfeil und Bogen zum »Digitalen Bogen« Die Indigenen Brasiliens und das Internet 2009, 256 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1049-9

Janna Lau Romantische Liebe aus dem Fernsehen Zwischen TV und Tradition: Identitätsaushandlungen junger Frauen in Indonesien 2012, 430 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1678-1

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