Die Zukunft der Rückständigkeit: Chancen – Formen – Mehrwert 9783412215934, 9783412221362

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Die Zukunft der Rückständigkeit: Chancen – Formen – Mehrwert
 9783412215934, 9783412221362

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David Feest, Lutz Häfner (Hg.)

Die Zukunft der Rückständigkeit Chancen – Formen – Mehrwert Festschrift für Manfred Hildermeier zum 65. Geburtstag

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Rossijskaja Imperija v fotografijach. Konec XIX - načalo XX veka. Hrsg. von: Federal’naja Archivnaja Služba Rossii [Avtor-sost.: E. E. Koloskova]. Sankt-Peterburg: Liki Rossii 2004, S. 134f.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22136-2

Inhaltsverzeichnis

David Feest und Lutz Häfner Die Zukunft der Rückständigkeit. Vorbemerkungen . . . . . . . .

I



Rückständigkeit als analytische Kategorie?

Jürgen Kocka Zukunft in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Horst Möller „Rückständigkeit“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft: Das Exempel fortgeschrittener Gesellschaften . . . . . . . . . . .



Maria Rhode Rückständigkeit und Osteuropa: zwei Seiten einer Medaille?

. . .



Lutz Häfner Rückständigkeit – Zu Geschichte und Nutzen einer umstrittenen Analysekategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



Hartmut Kaelble Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa? Ein Kommentar zu einem aktuellen Problem aus historischer Sicht . . . . . . . . . 

II

Paradoxien der Rückständigkeit

Maureen Perrie How backward was pre-Petrine Russia? State and society under the first Romanovs (–) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 



Malte Griesse Von der Barbarei zur Rückständigkeit: Revolten in Russland als Projektionsflächen eines „aufgeklärten Absolutismus“? . . . . . . .  Ulrike von Hirschhausen Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung? Die Habsburgermonarchie als imperialer Wirtschaftsraum . . . .  Rudolf von Thadden † Pommern – eine rückständige Provinz Preußens? . . . . . . . . . .  Verena Dohrn Alter Glaube, neue Perspektiven? Das Paradox der russischen Altgläubigen (–) insbesondere in Lettland . . . . . . . . 

III Rückständigkeit und politische Gestaltung David Feest Bauerngemeinden und Bürokratie. Rückständigkeit in der russischen Reformdiskussion in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Lutz Häfner Überwindung von Rückständigkeit? Transuralische Migration und landwirtschaftliche Entwicklung im späten Zarenreich in der Rezeption A. A. Kaufmans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Björn M. Felder Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg? Biomedizin, intelligencija und ideologisierte Wissenschaft im späten Zarenreich – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

IV Repräsentationen von Fortschritt und Rückständigkeit Alexander M. Martin Moskau im Fokus der Rückständigkeit, – . . . . . . . . 



Ernst Wawra Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit und für den Fortschritt in den Propagandaplakaten der Revolutions- und Bürgerkriegszeit . . . .  Katja Bruisch „Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“. Das ländliche Amerika als Gradmesser russischer Rückständigkeit . . . . . . . .  Dietmar Neutatz Nachholende Modernisierung oder eigener Weg? Das Automobil in Russland und in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . .  Kirsten Bönker Der sowjetische Fernsehzuschauer als „neuer Mensch“: Die sozialwissenschaftliche Freizeitforschung und das Problem der Rückständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Die Zukunft der Rückständigkeit Vorbemerkungen David Feest und Lutz Häfner

Ein Bauer sitzt barfuß auf dem nackten Boden, sein Gesicht ist sonnenverbrannt, sein Bart ungestutzt und seine Füße sind nackt. Mit einem Stein schärft er seine einfache Sense. Er scheint in jeder Hinsicht ein Repräsentant der russischen Agrargesellschaft des späten Zarenreichs zu sein, die sich in weiten Teilen nur einfachster technischer Mittel bediente und deren Lebensstandard von der zeitgenössischen Öffentlichkeit meist als armselig eingestuft wurde. Der Bauer erscheint gleichsam als Symbol für die Rückständigkeit der breiten russischen Bevölkerung und vielleicht auch des Russländischen Imperiums als Ganzem. Bei näherem Hinsehen lassen sich auch bei diesem Bauern Attribute feststellen, die auf seinen gehobenen Status hinweisen: Er besitzt einen Samowar, Porzellangeschirr sowie eine Brille, und trägt eine eng geschnittene Hose, die mit den alten bäuerlichen Pumphosen nur wenig gemein hat. Seine Rückständigkeit hängt davon ab, mit wem wir ihn vergleichen. Zudem ist auch die Aussage der Fotografie als Ganzes eine Frage des Bewertungsrahmens. Der Bauer kann ebenso gut als Sinnbild eines volkstümlichen Charakters gesehen werden, aus dem löbliche Werte wie Einfachheit, Unverdorbenheit, Zuversicht und Gelassenheit sprechen. Ja, es spricht vieles dafür, dass der Fotograf ein positives Bild schaffen wollte, denn stark stilisierte Genrebilder dieser Art waren zu Beginn des . Jahrhunderts auch andernorts populär. So lässt sich etwa der mallorcinische Fischer auf Abbildung  auf der nächsten Seite als volkstümlicher Typus begreifen, den der Fotograf in ähnlicher Weise ebenso exotisierend wie idealisierend in Szene setzte. Die Rückständigkeit, dies zeigt das Beispiel der Fotografien, liegt gleich in mehrerer Hinsicht im Auge des Betrachters. Welchen Mehrwert kann aber ein Begriff, der so stark von den subjektiven Perspektiven, Werten und methodischen Herangehensweisen dieses Betrachters

David Feest und Lutz Häfner



Abbildung : Mariner. Arxiu Bestard des de  G. Bestard

abhängt, noch als „analytische Kategorie“ haben? Dieser Frage gehen die Beiträge in dem vorliegenden Sammelband nach. Es hilft, den Begriff der „analytische Kategorie“ zunächst in seiner breitesten Bedeutung zu verstehen: Sie erfasst Phänomene systematisch und präsentiert sie in einem Zusammenhang, der zu ihrem besseren Verständnis beiträgt. Die Kategorie der Rückständigkeit verspricht, dies zu leisten. Sie ordnet Personen, Gruppen, Arrangements, Institutionen oder Verfahren nach ihrem Potential, bestimmte erstrebenswerte Ziele zu verwirklichen. Dabei benennt sie jene, die im Vergleich zu anderen ins Hintertreffen geraten sind. Die Zuschreibung von Rückständigkeit ist somit mit dem Begriff des Fortschritts untrennbar verbunden, denn sie ermöglicht eine Positionsbeschreibung in einen positiv bewerteten Entwicklungsverlauf. Darüber hinaus kann der Befund der Rückständigkeit, wie unten gezeigt wird, auch als Grundlage für weitergehende Erklärungen dienen. Die Grundoperation, die eine Zuschreibung von Rückständigkeit ermöglicht, ist ein wertender Vergleich. Er muss sich daher zunächst der Herausforderung jeder komparativen Operation stellen, sinnvolle Vergleichseinheiten zu



Vorbemerkungen

finden. Dem Nationalstaat, der einst „natürlich gegebenen Vergleichseinheit“¹, lassen sich eine Reihe andere Einheiten als mögliche „Datencontainer“ (Welskopp)² gegenüberstellen: Regionen, gesellschaftliche Gruppen, religiöse Gemeinschaften, einzelne wirtschaftliche Sektoren etc. Auch nach Indikatoren für Fortschritt und Rückständigkeit kann auf ganz unterschiedlichen Ebenen gesucht werden, von harten wirtschaftlichen Produktionsziffern über die Art der politischen Institutionen und Verfassungen bis hin zu Formen und dem Grad gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die Vorauswahl von Vergleichseinheiten und Indikatoren entscheidet maßgeblich darüber, wie das Urteil über Fortschritt -und Rückständigkeit ausfällt. Außerdem weist ein an Rückständigkeit interessierter Vergleich zwei wesentliche Besonderheiten auf: Erstens setzt er die Vergleichsobjekte als Teil eines zeitlichen Entwicklungsverlaufs zueinander in Beziehung, in dem sie als fortschrittlich oder rückständig eingeordnet werden können. Er setzt also Modelle oder zumindest klare Begriffe voraus, die adäquat beschreiben, wie eine bestimmte Entwicklung im Normalfall abläuft, muss bestimmen können, nach welchen Kriterien ein gerader Weg bestimmt und von Um- oder Abwegen unterschieden werden kann. Zweitens wird dieser Verlauf als Entwicklung vom Unvollkommeneren zum Vollkommeneren, von Schlechteren zum Besseren präsentiert. Dabei kommen Präferenzen darüber zum Ausdruck, was erstrebenswert ist. Rückständigkeit und Fortschritt sind somit keine Befunde einer neutralen Messung, wie sie ein Thermometer liefert, wenn es Temperaturunterschiede anzeigt. Die Standards, die darüber entscheiden, ob es sich bei einer Entwicklung um Regression, Stillstand oder eine vorwärtsschreitende Bewegung handelt, sind immer auch Produkte einer normativen Bewertung.

 Rückständigkeit in Entwicklungsmodellen In den er Jahren, als Rückständigkeit als analytischer Begriff in den Orbit der Wissenschaft trat, leisteten modernisierungstheoretische Modelle die Vorauswahl von Vergleichsdimensionen, Indikatoren und Bewertungskriterien. Da sie beanspruchten, wesentliche Mechanismen sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen zu erfassen, konnten sie auch Kriterien benennen, nach denen historischen Gegenständen ein Ort in einem allgemeinen Entwicklungsverlauf zugewiesen werden kann. Als zentrale Kriterien galten dabei meistens ¹ ²

Charles Tilly: Big Structures, Large Processes, New York, NY , S. . Thomas Welskopp: Vergleichende Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG) Mainz ––, http: //www.ieg-ego.eu/welskoppt-.de [zuletzt aufgerufen am ..], Absatz .

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wirtschaftliche Indikatoren, so etwa in den Phasenmodellen Walt W. Rostows oder Simon Kuznets’.³ Obwohl sich diese von der universalistischen Marxschen Lehre inhaltlich abgrenzten – Rostow bezeichnete sein Buch über das Wirtschaftswachstum als „nicht-kommunistisches Manifest“ – teilte sie mit dieser doch die Prämisse, dass die gesellschaftliche Entwicklung in jeder Gesellschaft nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten verlaufe. Dasselbe galt für die etwas später formulierte „Konvergenztheorie“, die in besonders rigider Form behauptet, dass sich Industriegesellschaften kraft der Erfordernisse der technologischen Entwicklung einander auf allen Ebenen immer mehr anglichen.⁴ Alexander Gerschenkron hat diese Modelle in Frage gestellt und nach einer Alternative zu den rigiden Stufenmodellen gesucht. Auch Gerschenkron nahm das Industrialisierungsniveau als Gradmesser von Fortschritt und Rückständigkeit, sah aber eine größere Variationsbreite möglicher Entwicklungen. Seiner Analyse nach existierten Fortschritt und Rückständigkeit häufig Seite an Seite, und rückständige Staaten können die mangelnden Voraussetzungen für eine industrielle Entwicklung durch kreative Lösungen kompensieren. In Russland etwa habe die Autokratie in Ermanglung privaten Kapitals, qualifizierter Arbeit und Unternehmertum die Industrialisierung mit staatlichen Mitteln gefördert. Diese Diagnose, die Gerschenkron in einer „Substitutionstheorie“ verallgemeinerte, machte Rückständigkeit somit zu einem relativen Konzept. Die „relative Rückständigkeit“ kann sogar ein Vorteil sein, indem sie dem entsprechenden Land ermöglicht, bestimmte Entwicklungen schneller zu durchlaufen, als dies die fortschrittlichen Länder vor ihm getan hatten.⁵ Freilich teilte Gerschenkron die grundsätzliche Annahme einer einheitlichen Richtung industrieller Entwicklung. Den Unterschied seiner Theorie zu den Stufentheorien sah er lediglich darin, dass sie die Industriegeschichte Europas als „vereinheitlichtes, aber abgestuftes Muster“ (unified, and yet graduated pattern) begriff.⁶ Somit gilt für sein, wie für alle genannten Modelle, dass es auf einem „Variationen³

⁴ ⁵



Walt Whitman Rostow: The Stages of Economic Growth: A non-Communist Manifesto, Cambridge, MA 3  [], S. –; Simon Smith Kuznets: Modern Economic Growth: Rate, Structure, and Spread, New Haven, CT . Vgl. auch Heinz-Gerhardt Haupt: Comparative History, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. , Amsterdam , S. –, hier S.  f. Grundlegend: J. W. Meyer, J. Boli-Bennett, C. Chase-Dunn: Convergence and Divergence in Development, in Annual Review of Sociology (), H. , S. –. Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective, a Book of Essays, Cambridge, MA , darin insbesondere der titelgebende Essay, S. –. Vgl. auch Paul R. Gregory: A Note on Relative Backwardness and Industrial Structure, in: The Quarterly Journal of Economics  (), H. , S. –. Gerschenkron, Backwardness, S. I.



Vorbemerkungen

vergleich“ beruht, der nach Maßgabe eines allgemeinen, universellen Prozesses Abweichungen und Übereinstimmungen feststellt.⁷ Über eine Positionsbeschreibung bestimmter Länder oder Sparten hinausgehend beanspruchen die genannten Modelle für sich, bestimmte Phänomene erklären zu können. Gerschenkrons „relative Rückständigkeit“ etwa dient als Erklärung für eine ganze Reihe von Eigenschaften wie schnellere Wachstumsraten, Vernachlässigung der Konsumindustrie, eine geringere Rolle der Landwirtschaft oder eine aktivere Rolle des Staats. Andere Entwicklungsmodelle gehen noch weiter, indem sie versprechen, die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Besonderheiten bestimmter Länder mit strukturellen Abweichungen vom Normalweg erklären zu können. Ein besonders prominentes Beispiel dafür ist die These des „deutschen Sonderwegs“, nach der unvollständige Entwicklungen und Anachronismen in der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Sphäre der deutschen Geschichte seit spätestens dem . Jahrhundert ursächlich für den Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus gewesen seien.⁸ Die Kritik an solchen Modellen lässt sich analytisch in zwei Gruppen aufteilen, die sich in der Praxis meist überschneiden: Dem Zweifel an den Wertmaßstäben, die häufig stillschweigend in die Analyse der jeweiligen Prozesse mit einfließen, steht eine elementare Absage an die Entwicklungsmodelle überhaupt gegenüber. Grundsätzlich kann die Bewertung der jeweiligen Normalverläufe als unabhängige Variable angesehen werden. Bestimmte Entwicklungsmodelle lassen sich als angemessene Beschreibung historischer Wirklichkeit ansehen, ohne damit notwendigerweise ihre Bewertung als „fortschrittlich“ oder „rückständig“ zu akzeptieren. So galt etwa der „Deutsche Sonderweg“ im ausgehenden . und frühen . Jahrhundert als Leistung, durch die sich Deutschland im positiven Sinne von anderen Ländern abhob. Aufgrund der Erfahrungen des . Jahrhunderts und des Erklärungsansatzes der „verspäteten Nation“ erhielt er eine umgekehrte Bewertung.⁹ Analog ist die intrinsisch positive Bewertung ⁷





Tilly, Big Structures, S. –. Tilly grenzt diesen Vergleichstyp von folgenden anderen ab: individualisierender Vergleich, einschließender Vergleich, universalisierender Vergleich. Vgl. bes. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart  [original: ]; siehe auch die Literaturangaben in Kocka, Asymmetrical Historical Comparision, S. , Anm. . Vgl. auch Horst Möller: „Rückständigkeit“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft, S. – [in diesem Band]. Jürgen Kocka: Asymmetrical Historical Comparision. The Case of the German Sonderweg, in: History and Theory  (), S. –, hier S. . Eine positive Bewertung einer Abweichung vom Normalfall liefert auch die Behauptung eines amerikanischen exceptionalism oder einer exception française.

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des westlichen Entwicklungsprozesses, die in den meisten Entwicklungstheorien mitklingt, in den letzten Jahrzehnten immer mehr in Frage gestellt worden. Manche Fortschrittsvisionen sind durch Umkehr der normativen Vorzeichen sogar in Niedergangsszenarien verwandelt worden, ohne dass damit die Entwicklungsszenarien selbst in Frage gestellt worden wären. Der Bauer auf dem Titelbild etwa erscheint nur den Wertmaßstäben einer mechanisierten Landwirtschaft als rückständig. Nach modernisierungskritischen Maßstäben könnte er auch Sinnbild für eine fortschrittliche Gesinnung sein, die sich einem verderblichen Trend widersetzt und für eine nachhaltige, ökologische Landwirtschaft steht. Doch hat die Forschung inzwischen viel grundsätzlicher in Frage gestellt, dass die Entwicklungsmodelle historische Prozesse adäquat wiedergeben. Der Anspruch, einen Normalverlauf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu formulieren und in explanativen Modellen auf einige Kernindikatoren reduzieren zu können, findet heutzutage kaum mehr Anhänger. Stattdessen ist der kulturelle Aspekt des Wandels in den Blick genommen worden. Shmuel N. Eisenstadt hat in einem einflussreichen Aufsatz ein kulturelles Programm der Modernität formuliert, das in keinem notwendigen Zusammenhang mehr mit der wirtschaftlichen oder institutionellen Entwicklung steht.¹⁰ Seine Entwicklung war nicht von „Konvergenz“ gesteuert, sondern von Pluralität geprägt, und die Elemente dieser „Vielfalt der Moderne“ lassen sich nicht mit Begriffen wie „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ aufeinander beziehen.¹¹ Die damit verbundene Erkenntnis, dass die europäische Entwicklung nicht als einzig gültiges Modell der Moderne Normen setzen kann, stand auch am Anfang des Perspektivwechsels der postkolonialen Studien.¹²

 Rückständigkeit ohne festen Vergleichsrahmen? Was wird aber aus dem analytischen Wert von Rückständigkeit, wenn keine großen Stufenmodelle mehr für einen kategorisierenden und explanativen Rahmen sorgen? Besonders die Entscheidung über adäquate Vergleichseinheiten kann nicht mehr an universalistische Entwicklungstheorien delegiert werden. Daher stellen zwei grundlegende Kritikpunkte, die in letzter Zeit gegen den his¹⁰ ¹¹ ¹²

Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities, in: Daedalus  (), S. –. Zu dieser Begrifflichkeit, die präziser als die viel zitierten „multiplen Modernen“ ist, vgl. ders.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist . Siehe die Einzelbeiträge des Sammelbands: Sebastian Conrad, Sahlini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in der Geschichte der Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main .



Vorbemerkungen

torischen Vergleich erhoben wurden, auch die Kategorie der „Rückständigkeit“ in Frage: Der erste Einwand bemängelt, dass jeder Vergleich die Konstruktion homogener Einheiten erfordere, welche die tatsächliche Vielfalt zugunsten einer angeblichen Einheitlichkeit künstlich reduziere. Dies gilt besonders für den „kontrastierenden“ Vergleich, dessen Ziel es ist, Abweichungen von einem als Norm postulierten Vergleichsobjekt herauszuarbeiten.¹³ Für ihn gilt die Feststellung Heinz-Gerhardt Haupts, dass ein Vergleich umso geringeren Erkenntniswert hat, je größer die Unterschiede zwischen den einander gegenübergestellten Phänomenen sind. Wer etwa bei der Erforschung der italienischen Industrialisierung nach jenen Bedingungen sucht, die in England für sie Voraussetzung waren, wird nur deren Fehlen feststellen können. Über die italienische Industrialisierung aber lässt sich auf diese Weise nur wenig in Erfahrung bringen.¹⁴ „Rückständigkeit“ ist häufig das Resultat eines ebensolchen Vergleichs. Zudem wird gerade dieses Verdikt meist in einem asymmetrischen Vergleich gefällt, bei dem auf der einen Seite ein konkretes Untersuchungsobjekt, auf der anderen Seite aber eine hochgradig vereinfachte und nicht selten idealisierte Einheit steht, die der Analyse nur als Folie dient.¹⁵ In der mit Russland beschäftigten Geschichtsschreibung ist dies meist ein amorphes „Westeuropa“, oder gleich der ganze „Westen“. Der zweite Einwand kritisiert das Gegenteil der künstlichen Vereinheitlichung. Er moniert, dass der Vergleich zum Zwecke einer analytischen Gegenüberstellung Gegenstände trenne, die doch eigentlich miteinander verbunden und verwoben seien.¹⁶ Ein bestimmtes Land, eine bestimmte Region etc. als ¹³

¹⁴ ¹⁵

¹⁶

Zum kontrastierenden Vergleich: Haupt, Comparative History, S. , Sp. ; HeinzGerhardt Haupt und Jürgen Kocka: Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main/New York, NY , S.  f., –. Hartmut Kaelble schreibt an einer Stelle vom „kontrastiven, aufklärenden“, an einer anderen vom „aufklärenden und urteilenden“ Vergleich, Hartmut Kaelble: Historischer Vergleich, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .., http://docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich?oldid= [zuletzt aufgerufen am ..], Abs. ; ders.: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum . und . Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, NY , S. . Haupt, Comparative History, S. , Sp. . Zum „asymmetrischen Vergleich“ siehe die kritischen Ausführungen Jürgen Kockas, der gleichwohl argumentiert, dass Künstlichkeit und Verzerrungen auch vermieden werden kann: Kocka, Asymmetrical Historical Comparision, S. ; vgl. auch: Haupt/Kocka, Vergleich, S. , wo der „asymmetrische“ Vergleich als ein Untertyp des „kontrastierenden“ Vergleichs bezeichnet wird. Haupt, Comparative History, S. , Sp.  f.

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„rückständig“ zu betrachten, hieße folglich, es gewaltsam aus dem Netz vielfältiger Kontakte herauszulösen, durch die es auf unterschiedlichen Ebene mit sogenannten fortschrittlichen Ländern, Regionen etc. verknüpft ist. Historiker haben auf diese Einwände mit methodischen Innovationen reagiert. Einige haben den Anspruch, getrennte Objekte analysieren zu können, vollständig aufgegeben, und sie stattdessen in einer gemeinsamen, „geteilten“ Geschichte zu integrieren versucht.¹⁷ Andere haben an einer Trennung der Vergleichsobjekte festgehalten, aber insbesondere ihre Verschränkung thematisiert, oder sich an einer „überkreuzten“ Untersuchung versucht, die das Ziel verfolgt, die Wechselwirkungen zwischen eigenen und fremden Interpretationskategorien in die Analyse miteinzubeziehen.¹⁸ Auch diese Ansätze arbeiten letztlich komparativ. Doch nähern sie sich, nach der Einteilung Hartmut Kaelbles, dem Gegenstand meist verstehend an und versuchen, auf hegemoniale Analysekategorien zu verzichten.¹⁹ So unterschiedlich diese Herangehensweisen im Einzelnen sind, so haben sie doch eins gemeinsam: „Rückständigkeit“ kann als Befund kaum aus ihnen hervorgehen. Denn die Betonung von Wechselbeziehungen und die bewusst multiperspektivisch gehaltenen Analysekategorien berauben diese Vergleiche ihrer festgefügten Maßstäbe. Auch außerhalb großer Entwicklungsmodelle kann der Befund von Rückständigkeit nur aus einem Raster erwachsen, das einen kontrastierenden Vergleich ermöglicht und klare Wertepräferenzen voraussetzt.

 Rückständigkeit in Relation wozu? Manfred Hildermeier hat in seiner monumentalen,  erschienenen „Geschichte Russlands“ dennoch die Nützlichkeit von „Rückständigkeit“ als analytischem Konzept verteidigt und seine Argumentation an anderen Orten wiederholt. ²⁰ In seinen theoretischen Überlegungen reagiert er auf die genannten ¹⁷

¹⁸

¹⁹

²⁰

Sahlini Randeria: Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen, Hanna Leitgeb, Norbert Jegelka (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main , S. –. Michael Werner, Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderungen des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –. Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum . und . Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, NY , S. –. Kaelble benutzt diesen Begriff in einem Kapitel über die unterschiedlichen Intentionen des historischen Vergleichs. Andere Typen sind der „analytische Vergleich“, der „aufklärende und urteilende Vergleich“, der „Identitätsvergleich“ und als Sonderfall der „historische Zivilisationsvergleich“. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München , S. . Vgl. auch: ders.: Beharrliche Rückständigkeit. Über den



Vorbemerkungen

Entwicklungen und Herausforderungen der neueren Geschichtsschreibung in zweifacher Weise. So relativiert Hildermeier die „relative Rückständigkeit“, wie sie Gerschenkron beschrieben hat, um ein Weiteres: Zum einen fordert er eine Verkleinerung der Untersuchungseinheiten. Durch die Abkehr von einer „nivellierenden Großflächigkeit“ und Zuwendung zu „sektoral wie temporal“ kleineren Einheiten soll die Gefahr vermindert werden, sachfremde Kriterien anzulegen.²¹ Zum anderen soll berücksichtigt werden, in welcher Weise die Elemente der verglichenen Einheiten miteinander verbunden, vermischt oder verschränkt waren. Dabei kann Hildermeier auf Überlegungen zurückgreifen, die er bereits  gemacht, aber im Lichte der neueren Trends der Geschichtsforschung leicht modifiziert hat.²² An die Stelle eines starren kontrastierenden Vergleichs oder der Behauptung einer vollständigen Substitution bestimmter Phänomene tritt eine Vielfalt von Modi der Interaktion und Anverwandlung. Innerhalb dieser Beziehungsnetze lassen sich unterschiedliche Untersuchungsfelder auswählen, die ganz eigene Befunde von Fortschritt und Rückständigkeit mit sich bringen. Durch die Herauslösung aus einheitlichen Standards wird die Rückständigkeit in gewisser Weise dezentralisiert. Allerdings bleibt die Frage offen, wie die normative Bedeutung, die dem Rückständigkeitsbegriff wesentlich zueigen ist, noch aufrechterhalten werden kann. Gewiss erlauben es kleinere Kontexte, intuitiver Werturteile zu fällen: Wer würde nicht eine sinkende Säuglingssterblichkeit für einen medizinischen Fortschritt halten oder einen technischen Fortschritt darin sehen, dass weniger Flugzeuge vom Himmel fallen? Kann aber dieser Vorgehensweise nicht wiederum vorgeworfen werden, durch einen verengten Blick auf rein instrumentelle Fortschritte den jeweiligen Kontext auszublenden – etwa die Umweltzerstö-

²¹ ²²

Umgang mit einer notwendigen Kategorie, in: Ders. und Elise Kimerling Wirtschafter: Church and Society in Modern Russia. Essays in Honor of Gregory L. Freeze, Wiesbaden , S. –. Hildermeier, Geschichte, S. . In seinem Überblickswerk von  sowie in seinen Ausführungen von  nennt Hildermeier: . Rezeption, . Assimilation, . fehlgeschlagene Anleihen, . Absorption, . Substitution, a. produktive Integration, b. Lerneffekte, c. Indigenisierung, . Hybridität, . Verschränkung. Hildermeier, Geschichte Russlands, S. . Im Jahr  lauteten die Modi noch . Rezeption, . vollständige Rezeption (Elimination alter Formen), . Vermischung und Interaktion, . Absorption, . Substitution, . Konsolidierung der tradierten Herrschaftsordnung, . konservative Innovation/Substitution, . Lernen aus Fehlern anderer, . negatives Vorbild, . Beschleunigung und Raffung. Hildermeier. Geschichte, S. –; ders., Beharrliche Rückständigkeit, S. –; ders.: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –, hier S. – .

David Feest und Lutz Häfner



rung durch zunehmenden Flugverkehr, den Verlust älterer Traditionen etc.? Und ist nicht ein breites Verständnis, das auch die Widersprüche und fehlende Eindeutigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen thematisiert, ein Anliegen der Geschichtswissenschaften? Hildermeiers eigenes Vorgehen legt noch eine andere Verwendung des Begriffs „relative Rückständigkeit“ nahe, die auch die normative Bewertung relativiert. In dem mit „Rückständigkeit neu gesehen“ betitelten Resümee seines Werkes taucht der Begriff „Rückständigkeit“ erst bei der Behandlung der Regierungszeit von Nikolaus II. (–) auf. Dabei verweist Hildermeier darauf, dass die „wirschaftlich-technische“ und „administrativ-organisatorische“ Rückständigkeit die zarische Führungsschichte bereits seit Peter I. beschäftigt habe. Der Begriff wird also erst auf eine Zeit angewendet, in der die russischen Eliten selbst damit die Lage Russlands zu beschreiben begannen.²³ Damit eröffnet sich die Möglichkeit, Rückständigkeit als wertenden Begriff nach Maßgabe der zeitgenössischen Erwartungen und Wertmaßstäbe zu fassen, ihn also Quellenbegriff zu behandeln. Hildermeier selbst hat diese Verwendung auch explizit (wenn auch nicht exklusiv) eingefordert, und sie hat viel für sich.²⁴ Denn wer über Russland forscht, muss sich der Tatsache stellen, dass „Rückständigkeit“ als Konzept schon lange präsent war, bevor es in sozialwissenschaftliche Modelle eingebunden wurde. Gegen Ende des . Jahrhunderts war es so weit verbreitet, dass die Gutsadeligen, bürokratischen Eliten und städtische Intelligenz von der Rückständigkeit des Landes, seiner Wirtschaft, Administration oder bestimmter Bevölkerungsgruppen sprachen. Gerade Untersuchungen, die kulturelle Sinngebungen als konstitutiv für soziale Ordnungen ansehen, kommen um eine Analyse der „Rückständigkeit“ nicht herum. Hildermeier hat hier Pionierarbeit geleistet. In seiner bereits  veröffentlichten Analyse der Interpretationsfigur des „Privilegs der Rückständigkeit“ finden sich einige der Unterscheidungen wieder, die bereits genannt wurden:²⁵ Noch im . Jahrhundert sahen Theoretiker wie Gottfried Wilhelm Leibniz für Russland und andere Länder noch die Möglichkeit einer vollständigen Sonderentwicklung, die in „alternativen Zivilisationen“ münden konnte. Aus einer zivilisationskritischen Sicht war dies eine positive Vorstellung, Hildermeier bezeichnet sie als „kontrastive Utopia“.²⁶ Für andere diente Russland als negative „Kontrastfolie des Westens“.²⁷ Später wurde die Andersartigkeit als Rückständigkeit in ei²³ ²⁴ ²⁵ ²⁶ ²⁷

Hildermeier, Geschichte, S. . Ebda., S. . Hildermeier, Privileg. Ebda., S. . Hildermeier, Geschichte, S. .



Vorbemerkungen

nem globalen Modernisierungsprozess gewertet. Bemerkenswerterweise erhielt sie dabei häufig eine positive Bewertung, da sie dem Zarenreich ermögliche, die Fehler „fortschrittlicherer“ Länder auf dem Weg in die Moderne zu vermeiden: Darin bestand das „Privileg der Rückständigkeit“. Hildermeier sieht in dieser Denkfigur eine Vorform der Gerschenkron’schen Substitutionslehre, wenn auch ohne dessen methodischen Rigorismus.²⁸ Obwohl „Rückständigkeit“ in solchen Untersuchungen nicht mehr der Befund, sondern selbst das Objekt der Forschung wird, ist sie doch ein wichtiges Element weiterführender Analysen. Einige Diskursanalysen haben beispielsweise versucht, die Machtverhältnisse aufzudecken, die durch dieses Konzept geschaffen und reproduziert wurden.²⁹ Damit erhält das Rückständigkeitskonzept ein explanatives Potential ganz anderer Art, als dies in den großen Entwicklungsmodellen der Fall war. Seine Analyse hilft zu verstehen und zu erklären, warum Menschen in bestimmter Weise handelten. Darüber hinaus lässt sich aber durchaus über die Diskursanalyse hinausgehend fragen, inwieweit die zeitgenössischen Zielvorstellungen tatsächlich verwirklicht wurden: Glückte der Transfer von Techniken und Praktiken in der Weise, die den zentralen Akteuren vorschwebte? Welche Mischformen oder Verschränkungen mit älteren Traditionen entstanden? Wo und in welchem Maße scheiterte der Transfer? Und wo gelang er womöglich besser, als es die Zeitgenossen meinten?³⁰ Der springende Punkt an einer solchen Bewertung nach zeitgenössischen Maßstäben ist, dass auch diese Interpretationsmuster und -standards keine festen Größen sind, sondern ihrerseits immer Resultat von Transfer, Verflechtungen und Verschränkungen waren. Auch Kernbegriffe wie „fortschrittlich“ und „rückständig“ besaßen in Russland immer ihre ganz eigene Gemengelage an Bedeutungen, die Teil der Forschung sein muss. Eine derartige Historisierung der Bewertungsmaßstäbe lässt im Gegensatz zu teleologischen Phasenmodellen auch Raum für die Suche nach anderen zeitgenössischen Nor²⁸ ²⁹

³⁰

Hildermeier, Privileg, S.  Gelungene Beispiele für einen solchen Ansatz sind Gabriele Scheidegger: Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des . und . Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich ; Yanni Kotsonis: Making Peasants Backward: Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, –, Houndmills, Basingstoke . Als Beispiel können die in russischen Rückständigkeitsszenarien häufig bemühten Bauern gelten, deren wirtschaftliche Produktivität sich laut neuerer Forschungen besser entwickelte, als dies von den Zeitgenossen dargestellt wurde. Vgl. Carol Leonard: Agrarian Reform in Russia. The Road from Serfdom, New York, NY , S. –, –; Paul R. Gregory: Before Command. An Economic History of Russia from Emancipation the First Five-Year Plan, Princeton, NJ .

David Feest und Lutz Häfner



men. Sie kann und soll die Erforschungen der Weltsichten, Erwartungen und Hoffnungen jener Menschen mit einschließen, die nicht der europäisierten Oberschicht des Imperiums angehörten und mit Fortschritts- und Rückständigkeitsszenarien nur wenig anfangen konnten. Daher ist es auch so wichtig, festzustellen, wie diese Werte vermittelt wurden, worin sie verkörpert waren und wie sie anschaulich gemacht wurden. Die Repräsentation von Fortschritt und Rückständigkeit ist ebenso bedeutend wie die Frage, was solche Begriffe im gebildeten Diskurs bedeuteten, welche Tragweite sie besaßen und welche anderen Optionen bestanden. Die Analyse von Rückständigkeit ist damit ein wichtiger Bestandteil von Russlands Beziehungsgeschichte zu und Verflechtungsgeschichte mit Europa, in dem es nach Hildermeiers Urteil kurz vor dem Ersten Weltkrieg vollkommen aufging.³¹ Für die russischen Eliten war der Blick nach Europa spätestens seit Peter dem Großen ein Faktor, der in eine Untersuchung des Imperiums mit einfließen muss.³² Für spätere Jahrhunderte gilt dies umso mehr, als Europa als Maßstab für Fortschritt und Rückständigkeit eine sichere Währung wurde. Jürgen Osterhammel schreibt in seiner konsequent global ausgerichteten Überblicksdarstellung sogar, dass es „Ausdruck kapriziöser Willkür“ wäre, „eine Geschichte ausgerechnet des . Jahrhunderts zu entwerfen, die von der Zentralität Europas absähe“.³³ Die Forderung, die russländische Geschichte „aus sich selbst heraus“ zu beschreiben³⁴ muss sich daher dem alten Vorwurf stellen, diese Beziehungen auszublenden und „Rußland wieder als selbstgenügsame, sich selbst erklärende Einheit zu sehen.“³⁵ Umgekehrt kann aber nur eine Einbeziehung der örtlichen Wahrnehmung Europas verhindern, dass es als externer Maßstab für einen kontrastierenden und asymmetrischen Vergleich herangezogen wird, wo es doch tatsächlich als Gegenstand des innerrussischen Diskurses wirksam wurde. Die Verflechtung mit Europa zeigte sich nicht zuletzt in einem Wandel der Bewertungsmaßstäbe, mit denen große Teile der russischen Eliten selbst ihr Land beurteilten. Wenn Hildermeier in seiner Überblicksdarstellung den Weg des Russländischen Reichs nach Europa nachzeichnet, dann beschreibt er daher paradoxerweise zugleich dessen Weg in die Rückständigkeit. ³¹ ³² ³³ ³⁴ ³⁵

Hildermeier, Geschichte, S. . Vgl. Hildermeier, Beharrliche Rückständigkeit, S. . Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts, Jubiläumsedition, München , S. . Frithjof Benjamin Schenk: Russland, Europa und die Rückständigkeit. Manfred Hildermeiers Geschichte Russlands, in: Osteuropa  (), S. –, hier S. . Hildermeier, Privileg, S. .



Vorbemerkungen

 Themen und Autor/-innen Der vorliegende Sammelband strebt an, das Konzept der Rückständigkeit in seinem methodischen Potential ebenso wie in seiner historischen Wirksamkeit aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch zu analysieren. Theoretische Erwägungen über seinen Nutzen kommen ebenso zur Sprache wie die Rolle, die es bei der politischen Gestaltung spielte, und die Art und Weise, wie es breitenwirksam vermittelt wurde. Im ersten Teil werden die Möglichkeiten einer Verwendung dieses Konzepts als analytische Kategorie an einigen Beispielen diskutiert. Jürgen Kocka sieht die Kategorie der „Rückständigkeit“ fest in der zeitlichen Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verankert, die zwischen Renaissance und Aufklärung zu einem „konstitutiven Element des historischen Denkens“³⁶ wurde. Solange die Geschichtswissenschaft sich dieser Zeitstruktur unterwirft, kommt sie seiner Meinung nach nicht ohne den methodischen Begriff der Rückständigkeit aus. Sie kann ihm lediglich durch behutsame Auswahl der Vergleichskriterien seinen unilinearen und teleologischen Charakter nehmen. Wie umstritten die Frage um Indikatoren für Fortschritt oder Rückständigkeit allerdings sein kann, zeigt Horst Möller in seinen Ausführungen. Allein schon die unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeit verschiedener Sektoren macht es seiner Meinung nach unmöglich, ganze Länder als „rückständig“ oder „fortschrittlich“ zu bezeichnen. Die These des „Deutschen Sonderwegs“ postuliert beispielsweise einen verfassungspolitischen „Normalweg“, der den komplexen Entwicklungen der verglichenen Länder nicht gerecht wird. Ähnlich argumentiert Maria Rhode, die daher Rückständigkeit nur als zeitgenössischen Begriff analysiert. Wie sie am Beispiel Polens zeigt, war er Teil der Selbstverständigungsdiskurse im . Jahrhundert und diente als Mittel nationaler Distinktion und Identitätsstiftung durch Selbst- und Fremdzuschreibungen. Rhode plädiert für einen Verzicht auf den Rückständigkeitsbegriff als analytischem Instrument zugunsten einer „Feinanalyse von Dichotomien als Bestandteil historischer kommunikativer Prozesse“.³⁷ Analog untersucht Lutz Häfner die zentrale Rolle des Begriffs in den Deutungen der gebildeten Schichten Russlands im ausgehenden Zarenreich. Ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, wie willkürlich die dafür gewählten Kriterien mitunter waren. Häfner zieht daher den neutraleren Begriff der „Entwicklung“ vor. Auch das Postulat des fortschrittlichen Nordens und rückständigen Südens hält, ³⁶ ³⁷

Jürgen Kocka: Zukunft in der Geschichte, S.  [in diesem Band]. Maria Rhode: Rückständigkeit und Osteuropa: Zwei Seiten einer Medaille?, S.  [in diesem Band].

David Feest und Lutz Häfner

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wie Hartmut Kaelble zeigt, einer differenzierten Untersuchung nicht stand. Dies verdeutlicht er unter anderem am aktuellen Beispiel der Staatsverschuldung Griechenlands. Zu einer selektiven Erfassung der ökonomischen Realitäten kommt hier ein Wandel der Kriterien hinzu: Noch in den er-Jahren galten niedrige Wohlfahrtsausgaben und ein hohes Rentenalter vielfach als Indikatoren für Rückständigkeit. Kaelble sieht daher Historiker in der Pflicht, gerade die Wandelbarkeit von Modernitäts- und Rückständigkeitskonzepten zu thematisieren. Auch innerhalb der Rückständigkeitsdiskurse gab es inhärente, in manchen Fällen auch produktive Widersprüche. Der zweite Teil liefert Beispiele für solche Paradoxien der Rückständigkeit: Neben dem schon vielfach genannten „Privileg der Rückständigkeit“ gehören dazu Phänomene wie die Modernisierung mit vormodernen Methoden oder die Gleichzeitigkeit von „Rückständigkeit“ und „Fortschritt“. Maureen Perrie stellt in ihrem Beitrag über das vorpetrinischen Russland (–) nicht nur viele Ähnlichkeiten in den Funktionsweisen politischer, kirchlicher und lokaler staatlicher Institutionen zu ihren westeuropäischen Gegenstücken fest. Sie interpretiert auch die lange als „archaisch“ eingestufte Leibeigenschaft im Sinne des Substitutionstheorems als Strategie, Ressourcen für militärische und ökonomische Entwicklung zu mobilisieren, für die andere Voraussetzungen fehlten. In paradoxer Weise erscheint die Leibeigenschaft damit als Instrument, Rückständigkeit zu überwinden. Auch die zeitgenössische Rezeption von Rückständigkeit hatte ihre Widersprüche. Malte Griesse zeigt, dass die großen Revolten im vorpetrinische Russland – etwa der Aufstand Stepan Razins – im orientalisierenden Blick westlicher Beobachter ebenso barbarisch und animalisch erschienen, wie das despotische System. Letzterem gestand man allenfalls, diese destruktiven Kräfte im Zaum halten zu müssen. Dagegen deuteten viele westliche Zeitgenossen den Strelizenaufstand gegen Peter I. als ein rückständiges Aufbegehren gegen dessen Zivilisierungsbemühungen. Die Niederschlagung dieses Aufstands galt ihnen somit als Fortschritt, wenn auch das Paradox, dass sie mit barbarischen Methoden geschah, manchen befremdete. Langfristig schuf das Konzept des rückwärtsgewandten Widerstands gegen den fortschrittlichen Staat aber auch den Raum für sein Gegenstück: den fortschrittlichen Widerstand gegen die rückständige Staatsgewalt. In anderen Fällen sind die Paradoxien das Resultat unterschiedlicher gegenwärtiger Forschungszugriffe. Die Wirtschaft der Habsburgermonarchie etwa, die das Thema Ulrike von Hirschhausens ist, galt aufgrund der gewählten Vergleichseinheiten als rückständig. Als volkswirtschaftliche Einheit gesehen, stach das Fehlen eines herausragendenden Ex-



Vorbemerkungen

portprodukts ins Auge. Betrachtete man das Reich hingegen isoliert als Ansammlung seiner späteren Nationalstaaten, so wurde deren Abhängigkeit vom imperialen Binnenmarkt negativ aufgeführt. Hirschhausen lädt dazu ein, statt nach ökonomischen Unterschieden nach einer „Verteilung des Wachstums zwischen imperialen Zentren, Peripherien und ,Zwischenräumen‘“ zu fragen.³⁸ Ungleichheit und Verflechtung versteht sie als Grundlage für einer Arbeitsteilung, die eine Alternative zu einer Einbindung in die westlichen Märkte bot. Außerdem konnte der imperiale Wirtschaftsraum die unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen integrieren, solange ihre politische Partizipation gewährleistet blieb. Auch Rudolf von Thadden verdeutlicht am Beispiel Pommerns, wie viel Fortschritt in einer angeblich rückständigen Provinz zu finden ist. Das Ständewesen war bereits aus Sicht der preußischen Reformer rückständig. Diese warfen den lokalen ständischen Vertretungen vor, nur eigene Interessen zu verfolgen. gleichzeitig waren die Stände aber durchaus Träger von Modernisierung, die aber ihre eigene Macht unangetastet ließ und damit in den Augen vieler Betrachter unvollständig blieb – „Dampfmaschinen und Dreiklassenwahlrecht konnten Hand in Hand gehen.“³⁹ Eine Mischung aus Tradition und Neuerung lässt sich auch bei der evangelischen Kirche sehen. Vergleiche mit der französischen oder englischen Provinz zeigen zudem, wie unterschiedlich sich bestimmte als rückständig eingestufte Strukturmerkmale in jeweils anderen Rahmenbedingungen auswirken konnten. Traditionen waren auch für das Selbstverständnis der „Altgläubigen“, die Verena Dohrn in ihrem Beitrag behandelt, zentral. Doch obwohl sie nach ihrem Selbstverständnis konservativ waren, erwies sich eben ihre „Gegenkultur“ als besonders geeignet, mit den Herausforderungen der Moderne umzugehen. Dies demonstrierten die Altgläubigen Lettlands, als sie in der Republik der Zwischenkriegszeit die Möglichkeit nutzten, ihr Selbst- und Staatsverständnis neu zu formulieren. Die Schwierigkeiten, die Überwindung von Rückständigkeit in Programme der politischen Gestaltung umzumünzen, sind Thema des dritten Teils. Die Interpretationsfigur der Rückständigkeit war von zentraler Bedeutung für die Bestrebungen staatlicher Eliten, ihren Einfluss auszuweiten und Veränderungen zu erwirken. Doch blieben die Befunde häufig widersprüchlich und waren nicht immer geeignet, ein gradliniges Handlungsprogramm zu begründen. David Feest zeigt am Beispiel der Bauernpolitik nach der Befreiung, wie besonders neue Formen, abstraktes und einheitlich überprüfbares Wissen zu ge³⁸ ³⁹

Ulrike v. Hirschhausen: Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung? Die Habsburgermonarchie als imperialer Wirtschaftsraum, S.  [in diesem Band]. Rudolf v. Thadden: Pommern – eine rückständige Provinz Preußens, S.  [in diesem Band].

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nerieren, Voraussetzung für die Einstufung russischer Bauern als rückständig waren. Damit riefen sie auch einen Handlungsbedarf hervor. Allerdings führte in Russland die Vorstellung, die Bauern müssten aufgrund ihrer angeblichen Rückständigkeit vor den Anfechtungen der Moderne geschützt werden, zu ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Isolation. Die Diskussion um die staatlich geförderte Umsiedlung von Bauern in die peripheren Regionen des Reiches im späten . Jahrhundert ist das Thema eines Beitrags von Lutz Häfner. Auch in ihr spielte Rückständigkeit eine zentrale Rolle: Die Umsiedlung erschien Zeitgenossen, aber auch einigen Historikern als eine Art Substitution der weitgehend ausgebliebenen Intensivierung der Landwirtschaft. Dagegen suchte der Agrartheoretiker A. A. Kaufman in empirischen Studien zu belegen, dass diese Rechnung in der Praxis nicht aufgehen könne. Die Umsiedlung kritisierte er als „Flucht vor dem Kulturfortschritt“⁴⁰, das eigentliche Übel lag seiner Ansicht nach in atavistischen Formen der Landbestellung. Zuletzt zeigt Björn Felder, inwieweit am Vorabend der Ersten Weltkriegs in der medizinischen Entwicklung russische Sonderwege zunehmend als rückständig betrachtet wurden. Die politisch geprägte Sozialmedizin und „liberale“ Rassenbiologie wichen unter dem Einfluss des Positivismus der in Westeuropa dominierenden Eugenik. Mit ihr begann auch eine größere Hinwendung zum Staat als Akteur einer Bio-Politik. Bezeichnenderweise bedienten sich gerade die bol’ševiki, die sich im Sinne der intelligencija des . Jahrhunderts zu den Prinzipien eines sozialmedizinischen Sonderweges bekannten, des neuen Paradigmas. Die Aufsätze des vierten Teils beschäftigen sich damit, wie Vorstellungen von Fortschritt und Rückständigkeit repräsentiert und vermittelt wurden. Alexander Martin beschreibt am Beispiel Moskaus einen Transformationsprozess. Haftete Moskau im . Jahrhundert der Ruf der Rückständigkeit gegenüber St. Petersburg an, streifte es mit seiner städtebaulichen Umgestaltung dieses Stigma ab und avancierte unter Katharina II. zu einem Symbol der von St. Petersburg ausgehenden westlichen Impulse. Der Kampf gegen die vermeintliche Rückständigkeit betraf neben der räumlichen Neugestaltung auch Maßnahmen der Zivilisierung durch Bildung und öffentliche Geselligkeit. Dabei löste die Statistik immer mehr die literarischen Repräsentationen darin ab, Ansprüche und Wirklichkeit darzustellen. Die zunehmende Orientierung an westeuropäischen Wertvorstellungen brachte es aber mit sich, dass die Öffentlichkeit zur Regierungszeit Nikolajs I. aufs Neue in Moskau ein Symbol der Rückständig⁴⁰

Lutz Häfner: Überwindung von Rückständigkeit? Transuralische Migration und landwirtschaftliche Entwicklung im späten Zarenreich in der Rezeption A. A. Kaufmans, S.  [in diesem Band].



Vorbemerkungen

keit sah. Repräsentationen von Rückständigkeit und Fortschritt besaßen auch für die bol’ševiki zentrale Bedeutung, wie Ernst Wawra verdeutlicht: Die visuelle Entmachtung der alten Gegner war Ziel eines Kampfes um Bilder, in dem die Rückständigkeit des alten Systems, der Bildung und Erziehung, der Geschlechterverhältnisse und der Religion eine Folie für deren bolschewistische Überwindung bot. Die bol’ševiki schlossen dabei an einen allgemeinen Fortschrittsdiskurs an und griffen auch auf eine Vielzahl von Symbolen zurück, die bereits von anderen Parteien, Vereinigungen oder Bewegungen verwendet worden waren. Für die sowjetischen Agrarökonomen Čajanov, Kondrat’ev und Makarov, so zeigt Katja Bruisch, waren die Fortschrittsvisionen in erster Linie im American Way of Life symbolisiert. Alle drei reisten in die USA, um die dortige Landwirtschaft kennenzulernen. Ungeachtet ihrer ideologischen Präferenzen für das volkstümelnde neonarodničestvo akzeptierten sie die amerikanische Farm als Muster einer Rationalität, Effizienz und Technisierung, die ihnen auch für das zukünftige Russland vorschwebte. Die Autorin sieht sie als typische Vertreter der intellektuellen Eliten Russlands im frühen . Jahrhundert. Für andere wurde später das Automobil zu einem der wichtigsten Symbole, um die Position der Sowjetunion auf der Skala des Fortschritts zu demonstieren. Ihm ist der Beitrag von Dietmar Neutatz gewidmet. Bis  hatte sich die Motorisierung Russlands noch im europäischen Kontext entwickelt. Die Revolution markierte eine russische Sonderentwicklung, indem der Staat die Entwicklung der Autoindustrie in die Hand nahm, dabei aber dem Nutzverkehr Priorität einräumte. Allerdings war dies dem Ressourcenmangel geschuldet und ist kaum mit einem alternativen Weg in die Moderne zu erklären. Die Interpretationsfigur der Rückständigkeit spielte dabei eine große Rolle, das Schlagwort „Einholen und Überholen“ galt auch hinsichtlich der Motorisierung. Dem unmittelbaren Vergleich mit dem Westen war die Sowjetunion indes erst ausgesetzt, als sie Mitte der er Jahre versuchte, an den internationalen Trend der Massenmotorisierung anzuschließen. Kirsten Bönker rückt die wissenschaftliche Analyse der arbeitsfreien Zeit des „neuen Menschen“ und den Wandel der Freizeitgestaltung in der Chruščev- und Brežnev-Periode in den Blick. Sie nimmt den Aufstieg des Fernsehgerätes zum Symbol für den neuen sowjetischen Lebensstil zum Anlass zu fragen, inwiefern die Rückständigkeit noch eine Deutungskategorie darstellte, um die soziale Wirklichkeit zu beschreiben. Die Interpretation des Fernsehfkonsums stellte eine besondere Herausforderung dar, da die sowjetischen Bürger viele westliche Gesellschaften im Fernsehkonsum bis in die frühen er Jahre ein- und überholten. Zugleich schien er jedoch eine aktive und kultivierte Freizeitgestaltung einzu-

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schränken, die den Lebensstil des „neuen Menschen“ kennzeichnen sollte. Daher mischten sich kulturkritische Stimmen mit avantgardistischen Deutungen der spätsowjetischen Freizeitgestaltung. Die Beiträge wurden anlässlich des . Geburtstags von Manfred Hildermeier am . .  verfasst und entsprechen in der Regel dem Forschungsstand dieses Jahres. Schließlich möchten wir Rudolph von Thaddens gedenken. Sein großer Wunsch war, das Erscheinen der Festschrift noch zu erleben. Es war ihm leider nicht vergönnt. Wir haben einen großen Historiker, charmanten Plauderer, Flur- und Zimmernachbarn verloren.

Zukunft in der Geschichte Jürgen Kocka

I. „Rückständigkeit“ ist ein Verzeitlichungsbegriff. Er dient dazu, den Untersuchungsgegenstand in einem zeitlichen Zusammenhang zu verorten und dabei vor allem seine Zukunft in den Blick zu nehmen: seine Zukunft, wie sie vermutlich sein wird, sein sollte oder sein könnte oder wie sie aus damaliger Sicht sein würde, sollte oder könnte. Dass dabei Wertungen eine zentrale Rolle spielen, es ohne Vergleich und normative Bezugspunkte nicht abgeht und die Rückständigkeitsdiagnose oft mit Kritik verbunden ist, hilft zu erklären, warum dem Rückständigkeitsbegriff bisweilen ausgeprägtes Misstrauen entgegenschlägt. Doch bleibt er lebendig und fruchtbar, wenn er reflektiert und selbstkritisch verwendet wird.¹ Warum die durch ihn bezeichnete intellektuelle Operation vermutlich nicht nur im alltäglichen Denken, sondern auch in der Geschichtswissenschaft unverzichtbar ist, wird klar, wenn man bedenkt, wie zentral die Verzeitlichung und dabei der Umgang mit der Zukunft für das historische Denken sind. Damit beschäftigen sich die folgenden Ausführungen.

¹

Vor allem in der Wirtschaftsgeschichte. Als Beispiel vgl. Ivan T. Berend: An Economic History of th Century Europe. Diversity and Industrialization, Cambridge . Grundsätzlich: ders.: Rückständigkeit und Moderne in Mittel- und Osteuropa, in: Europäische Rundschau  (), H. , S.–; kritischer: Rainer Fremdling: Wirtschaftsgeschichte und das Paradigma der Rückständigkeit, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. . Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial und Wirtschaftsgeschichte in Jena , Stuttgart , S. –. Mit starken Bedenken gegenüber dem Begriff: Maria Todorova: The Trap of Backwardness: Modernity, Temporality, and the Study of Eastern European Nationalism, in: Slavic Review  (), S. –.

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Zukunft in der Geschichte

II. Wenn Historiker sich über die Grundlagen ihres Faches verständigen, diskutieren sie häufig das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beispielsweise notierte Benedetto Croce, dass jede Geschichte Gegenwartsgeschichte und insofern stärker mit der Zeit verwoben sei, in der der Historiker lebt, als mit der Zeit, über die er forscht und schreibt. Währende Croce, der liberale Historiker mit politischem Engagement, dies akzeptierte, nahm der Historiker und Geschichtstheoretiker Francois Hartog die gegensätzliche Position ein und beklagte den „Präsentismus“ der Historiker und die feindliche Übernahme der Vergangenheit durch die Gegenwart.² Historiker sind sich in der Regel bewusst, dass die Erforschung und die Darstellung der Geschichte im Kern darin besteht, die Vergangenheit – oder besser: einen Teil von dieser, soweit in den Quellen überliefert – mit der Gegenwart und ihren Fragen, Gesichtspunkten und Bedürfnissen zu verknüpfen. Aber wenn man die einschlägige Literatur über die Rolle der Zeit im historischen Denken mustert, findet man nur wenig über die Bedeutung der Zukunft – oder besser: über die Antizipation der Zukunft – für die Erforschung und die Darstellung der Geschichte.³ Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, die dafür sprechen, über die Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken, wenn es um die Arbeit des Historikers geht. Und es gibt zahlreiche Beispiele für eine solche Vorgehensweise. Eines der frühesten findet sich bei dem römischen Autor Censorinus im . Jahrhundert, der die „absolute Zeit“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilte: „Von diesen hat die Vergangenheit keinen Eingang, die Zukunft keinen Ausgang. Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfasslich, dass sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen, und außerdem so unbeständig, dass sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu.“⁴ Häufig wird Augustinus zitiert, der in seinen „Bekenntnissen“ über den Zusammenhang von ²

³



Benedetto Croce: La storia come pensiero e come azione, Napoli , S. ; Francois Hartog: Régimes d‘historicité: Présentisme et experiences du temps. Paris , zit. nach Lynn Hunt: Measuring Time, Making History, Budapest/New York , S. . Vgl. aber Reinhard Wittram: Die Zukunft in den Fragestellungen der Geschichtswissenschaft, in: ders. u. a., Geschichte – Element der Zukunft. Tübingen , S.–; Jörn Rüsen: Kann Gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –. Ich danke Jörn Rüsen für wichtige Anregungen. Nach Norbert Elias: Über die Zeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , Amsterdam , S. .

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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nuancenreich reflektierte. Er schrieb über die vermittelte Gegenwart des Vergangenen in der Erinnerung; über die Antizipation des Künftigen in der Erwartung; und über die zwar augenblicklich vorübergehende, aber in der Erfahrung gewisse Dauer gewinnende Gegenwart in ihrem Verhältnis zueinander. Er konzedierte der Gegenwart eine gewisse Priorität, von der aus Vergangenheit und Zukunft wahrgenommen und konstruiert werden.⁵ Jüngst haben Kognitionswissenschaftler und Hirnforscher die Trias Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als universelles Phänomen beschrieben, das empirisch erforschbare Entsprechungen in den neurologischen Prozessen und im Gehirn besitze, wenngleich die linguistische Präsentation der Trias kulturell variiere.⁶ Immer wieder findet sich die Forderung, dass diese drei Dimensionen oder Modi der Zeiterfahrung gemeinsam diskutiert werden sollten, weil sie im Inneren miteinander verknüpft sind. Bestätigt die Geschichte der Historiographie diese Sichtweise? E. H. Carr beobachtete in seiner viel gelesenen Einführung „What is History?“, dass die Schriftsteller der griechischen Antike wenig historischen Sinn besaßen. Thukydides habe beispielsweise angenommen, „that nothing significant had happened in time before the events which he described, and that nothing significant was likely to happen thereafter […]. [For the ancients] history was not going anywhere: because there was no sense of the past, there was equally no sense of the future.“⁷ Moses Finley und andere Kenner des historischen Denkens der Griechen und Römer differenzieren das Bild, aber stimmen grundsätzlich zu. Antike Autoren waren nicht von einer qualitativen Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überzeugt. Deshalb konnten sie hoffen, direkt aus der Geschichte zu lernen. Indem man rekonstruierte, wie Probleme in der Vergangenheit gelöst worden waren, konnte man hoffen, sich auf die Lösung der im Grundsatz ja ähnlichen Probleme in der Zukunft vorzubereiten: Historia Magistra Vitae.⁸ Wie Karl Löwith in „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ gezeigt hat, war ⁵

⁶ ⁷ ⁸

Aurelius Augustinus: Die Bekenntnisse. Übertragung, Einleitung und Anmerkungen von Hans Urs von Balthasar; Trier ² [], S.  (in Buch ,). Zitiert etwa bei: Zachary S. Schiffman: Historicizing History/Contextualizing Context, in: New Literary History  (), S. –, hier  f. Vgl. Vivyan Evans: The Structure of Time. Language, Meaning and Temporal Cognition, Amsterdam/Philadelphia , S. , . E. H. Carr. What is History?, Harmondsworth  [], S.  f. Vgl. M. J. Finley: Myth, Memory and History, in: History and Theory  (), S. – ; Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte [], in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main , S. –.

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Zukunft in der Geschichte

es im Kontext der jüdischen und christlichen Eschatologie, dass die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu gedacht und Geschichte als Bewegung begriffen wurde, die sich von einem Anfang über entscheidende Wegmarken auf ein vorgestelltes Ende hin bewegte, also als ein Prozess, in dem die Zukunft sich radikal von der Vergangenheit unterscheiden, aber gleichwohl mit dieser verknüpft sein würde. Im frühen . Jahrhundert begann Augustinus, die menschliche Geschichte mit einer Pilgerschaft zu vergleichen, d. h. mit einer Bewegung auf ein Ziel. Ein gewisser Sinn für qualitative Wandlungen in der Zeit lassen sich auch in den Geschichtsdarstellungen Gregors von Tours und Bedas entdecken.⁹ Doch der neue Sinn für qualitative Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war bei diesen Autoren vor allem auf einer transzendenten Ebene verortet, er gestaltete noch nicht die dominanten Vorstellungen von der innerweltlichen Geschichte und der Abfolge der Ereignisse um. Eine moderne Vorstellung vom historischen Wandel wurde somit damals noch nicht konstitutiv für die Rekonstruktion und Darstellung der Geschichte. Erst in der Zeit zwischen Renaissance und Aufklärung setzte sich die Vorstellung von einer grundlegenden Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allmählich durch und wurde zu einem konstitutiven Element des historischen Denkens. Petrarcas Kunstbriefe an Cicero und Raffaels Gemälde „Die Schule von Athen“ sind wohl die bekanntesten Beispiele für die teils idealisierende Wiederentdeckung der Antike, mit der sich die Zeitgenossen des ., . und . Jahrhunderts verglichen, indem sie die Unterschiede zwischen ihrer Jetztzeit und der Antike betonten und nach deren Nachahmung oder Renaissance strebten. Aus dieser Perspektive erschien die Zwischenperiode vor allem als Zeit des Abstiegs oder Verfalls, als primär dunkles „Mittelalter“ (dieser Begriff tauchte Anfang des . Jahrhunderts auf ). Dieser Selbstvergleich der damaligen Jetztzeit mit einem Bild der klassischen Antike und der Vorstellung des darauffolgenden Mittelalters trug dazu bei, dass sich die Schriftsteller der Aufklärung als Vertreter der Moderne begriffen. Die vor allem in Frankreich an der Wende vom . zum . Jahrhundert ausgetragene „Querelle des Anciens et des Modernes“ ist das bekannteste, mit Bezug auf die zeitgenössische Literatur und Kunst ausgetragene Beispiel für in verschiedenen europäischen Ländern verbreitete Diskurse über den Ort der Gegenwart im historischen Langzeitvergleich. Dies war der geistesgeschichtliche Ort, an dem sich Vorstellungen von der Moderne herausbildeten. Dazu gehörte die Überzeugung, dass die Gegenwart sich zwar aus der Vergangenheit heraus entwickelt hatte, aber grundsätzlich von der Ver⁹

Vgl. Schiffman: Historicizing History/Contextualizing Contexts, S. –.

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gangenheit unterschieden war, so wie sich auch die Zukunft von der Gegenwart unterscheiden würde. Später führte Montesquieu systematisch die Theorie einer Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus und zeigte die Zentralität dieses Gedankens für historisches Denken. Andere Autoren der Aufklärung argumentierten, dass die Menschheit ihre Geschichte studieren kann, um einen Sinn für die Richtung ihrer zukünftigen Entwicklung zu gewinnen. Vorstellungen über das, was wir sind, im Unterschied zu dem, was wir sein können und sollen, wurden zentral. Fortschritt wurde denkbar, möglich, erwartet und zur Aufgabe. „Entwicklung“ wurde eine zentrale Kategorie, Stufen der Entwicklung wurden konstruiert. In dieser Vorstellung von Geschichte und historischer Zeit war die Zukunft wichtig: immer von der Vergangenheit unterschieden und in der Regel als Ort weiteren Fortschritts, oftmals als Ziel gedacht. Es handelte sich um ein wechselseitiges Verhältnis: Einerseits erhoffte man von dem Studium der Vergangenheit Einsicht in die Richtung, der die zukünftige Entwicklung folgen würde. Andererseits ergaben sich aus der erwartungsvollen oder besorgten Antizipation der Zukunft die Gesichtspunkte und Fragen, die die Rekonstruktion der Vergangenheit in Beziehung auf die Gegenwart erlaubten. Lynn Hunt hat gezeigt, wie dieser Typus historischen Denkens in der Französischen Revolution gipfelte und durch sie zugleich diskreditiert wurde.¹⁰ Im späten . und . Jahrhundert finden sich besonders in Deutschland einflussreiche Schriften, die mit diesem aufklärungsgeprägten Geschichtsdenken konkurrierten, sich an ihm rieben und dennoch seine formale Struktur beibehielten. Johann Gottfried Herder mit seiner „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ () kann als frühes Beispiel dienen. Er betonte die Vielfalt der menschlichen Formen in Abhängigkeit von ihrer Entwicklung und in Relation zu ihren Verhältnissen. Er sah und begrüßte Geschichte als Quelle patriotischen Geistes und als Legitimationsquelle für die beobachtbaren Unterschiede zwischen den Völkern und ihren politischen Gestalten, statt universalistisch das allgemeine Muster zu betonen, das sich in den Vorstellungen der westlichen Aufklärung herausgebildet hatte.¹¹ Auch die Gründerväter der deutschen Schule der Geschichtswissenschaft, Ranke, Niebuhr und Droy¹⁰

¹¹

Vgl. Hunt: Measuring Time, S. – (mit ausführlicher Literaturerschließung). Bereits klassisch: Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ (), in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main  [], S. –. Vgl. Jürgen Burmmack: Herders Polemik gegen die „Aufklärung“, in: Jochen Schmidt (Hg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt , S. –.

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Zukunft in der Geschichte

sen waren Gestalten der Nach-Aufklärung. Sie lebten nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen, sie kritisierten Grundideen der Aufklärung und sie stellten die Fortschrittsvorstellungen in Frage, wie sie von Voltaire, Condorcet, den schottischen Philosophen und Kant, jeweils in unterschiedlicher Weise, entwickelt worden waren. Sie wiesen deren universalistische Implikationen zurück, indem sie Geschichte als eine Quelle der Partikularisierung betrieben und historisches Wissen als eine Grundlage entwickelten, die unterschiedliche Wege in die Moderne begründen und rechtfertigen würde, einschließlich eines deutschen oder sogar preußischen Weges ohne Revolution und ohne Betonung von laissez-faire, aber mit Reformen und einem starken Staat.¹² Aber, und dies sei im Hinblick auf die Rolle der Zukunft im historischen Denken betont: Autoren wie Herder, Ranke und deren Nachfolger trugen nicht nur Entscheidendes zur Herausbildung des später „historistisch“ genannten Paradigmas der Geschichtswissenschaft bei, das sich durchsetzte und trotz zahlreicher Wandlungen und Revisionen im . und . Jahrhundert in Deutschland und darüber hinaus dominant wurde. Sie waren auch entschiedene Kritiker des westlichen Aufklärungsdenkens. Sie antizipierten und artikulierten Fortschrittskritik und Modernisierungskritik, wie sie im . und frühen . Jahrhundert so verbreitet sind. Doch zugleich besaßen auch sie eine Vision, eine Vorstellung von der Zukunft, eine Orientierung an Entwicklungen, die sie erwarteten und entweder erhofften oder befürchteten. Für viele von ihnen war es der deutsche Nationalstaat in einer Welt von Nationalstaaten, der ihnen als mehr oder weniger explizite Perspektive diente, von der her sie ihre Gesichtspunkte und Fragestellungen zur Erforschung und Darstellung der Geschichte bezogen. Aufklärungsgeschichte und Historismus unterschieden sich deutlich voneinander und standen in vieler Hinsicht konträr zueinander. Doch als epistemologische Voraussetzung teilten sie, was Reinhart Koselleck als Disjunktion zwischen dem Raum der Erfahrung und dem Horizont der Erwartung im Denken über Geschichte beschrieben hat, nämlich die Überzeugung, dass eine konstitutive Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft existiere, so sehr diese, verbunden durch die Gegenwart, auch zugleich in einem Verhältnis der Kontinuität miteinander stehen. Zu dieser Verschränkung gehörte eine doppelte methodologische Konsequenz: Auf der einen Seite beeinflussten die Ergebnis¹²

Vgl. Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Neuaufl. Wien/Köln/Weimar  [erstmals engl. ]; Horst Walter Blanke, Jörn Rüsen (Hg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Paderborn .

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se der historischen Analyse die Erwartungen, die in Bezug auf die Zukunft gehegt werden konnten. Auf der anderen Seite beeinflussten die Vorstellungen, die Historiker hoffnungsvoll oder besorgt, skeptisch oder zuversichtlich von der Zukunft besaßen, die Art, in der sie sich mit der Vergangenheit befassten und Geschichte rekonstruierten. In diesem Sinn sind Vorstellungen über Zukunft integraler Bestandteil der Erforschung und Darstellung von Geschichte generell, und nicht nur dann, wenn sie den Fortschritt beschwört und etwa die westliche Moderne als Maßstab der Beurteilung festhält. Es ist einzuräumen, dass sich dieser Zusammenhang deutlicher zeigt, wenn man breite Synthesen verfasst, als wenn man hoch spezialisierte empirische Erforschung von Teilproblemen betreibt, wie sie die Alltagsarbeit der Historiker prägt. Aber auch die geschichtswissenschaftliche Alltagsarbeit wird, wenngleich in sehr indirekter Weise, von den Zukunftsvorstellungen derer beeinflusst, die sie betreiben.

III. Dies ist nicht der Ort, um die Geschichtswissenschaft des . und beginnenden . Jahrhunderts daraufhin zu prüfen, wie sie durch divergente, sich wandelnde und oft implizit bleibende Zukunftsvorstellungen der Historiker unter sich ändernden Zeiterfahrungen beeinflusst worden ist. Doch könnte sich ein solcher Versuch lohnen, wie die folgenden bruchstückhaften Andeutungen zeigen sollen: Der Zusammenhang von Zukunftserwartung und Geschichtsinterpretation ist – bis in die Begriffsbildung hinein – bei Historikern marxistischer Orientierung mit Händen zu greifen. In anderen Fällen haben fortschrittsskeptische, pessimistische Zukunftserwartungen die Fragestellungen, Themenwahl und Deutungsarbeit angetrieben und eingefärbt, wie sich beispielsweise an Jacob Burckhardt zeigen ließe. Auch in Walter Benjamins Interpretation von Paul Klees „Angelus Novus“ als Engel der Geschichte ist der wechselseitig konstituierende Zusammenhang zwischen Zukunftserwartung und Vergangenheitsinterpretation erfasst: Die Erwartung einer unbekannten, dunklen, bedrohlichen Zukunft (der der Engel vom Sturm entgegengetrieben wird) und das Verständnis der Vergangenheit als einer Serie von Katastrophen und fortschreitende Zerstörung gehören im Bild beklemmend zusammen. Zweifellos bestand ein enger und überdies ausführlich diskutierter Zusammenhang zwischen den auf Traditionskritik, Modernisierung und Emanzipation setzenden Zukunftsvorstellungen von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft seit den er Jahren und ihren theoretischen Orientierungen, thematischen Präferenzen und methodischen Neuerungen. Ganz anders wurde das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft im Zei-

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Zukunft in der Geschichte

chen post-moderner Entwürfe gedeutet, die vor allem seit den er Jahren an Boden gewannen: Zusätzlich zur Kritik an den „master narratives“ unterschiedlichster Provenienz und über die Dekonstruktion von Zusammenhangserkenntnis aller Art hinaus betonten die Vertreter post-moderner Ansätze die Diskontinuität. Sie radikalisierten die These von der Unterschiedlichkeit zwischen Vergangenheit und Zukunft mit der Konsequenz, dass jeder Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft bestritten und damit ein Prinzip in Frage gestellt wurde, das für geschichtswissenschaftliches Arbeiten ganz unterschiedlicher Orientierung über lange Zeit konstitutiv gewesen ist. Der Aufschwung der Globalgeschichte in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten lädt zur Beschäftigung mit nichtwestlichen Varianten des Geschichtsdenkens ein, in denen das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft meist anders bestimmt worden ist. Er trägt dazu bei, dass die letzten Reste naiver okzidentaler Selbstsicherheit, wie sie in klassischen Modernisierungstheorien nicht völlig fehlten, aufgelöst werden, sofern sie nicht schon längst in der Fortschrittsskepsis und Teleologiekritik des . Jahrhunderts destruiert worden sind. Doch könnte die Beschäftigung mit unserer Geschichte als Globalgeschichte durch erneuerte und neu durchdachte Vorstellungen von der Zukunft der Menschheit stärker beeinflusst und orientiert werden, als dies gegenwärtig geschieht, vor allem im Modus der Hoffnung und Forderung, weniger in der Form der Erwartung und schon gar nicht der Prognose.¹³ Es liegt an der charakteristischen – und eben nicht auf Fortschrittsgeschichte beschränkten – Einbindung der Geschichtswissenschaft in das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass Historiker oft mit Begriffen arbeiten, die es erlauben, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand nicht nur als Ergebnis seiner bis dato durchlaufenen Entwicklung, sondern auch im Licht seiner zum Untersuchungszeitpunkt (vielleicht) be¹³

Als Beispiel eines marxistischen Historikers, der Zukunftserwartung und Geschichtsinterpretation entschieden verbunden hat, kann Eric Hobsbawm gelten. Vgl. meinen Nachruf auf ihn in: International Review of Social History  (), S. –; Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen ; Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen (IX), in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt , S.  f.; Friedrich Lenger: „Historische Sozialwissenschaft“: Aufbruch oder Sackgasse?, in: Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie: Wolfgang J. Mommsen und seine Generation, Berlin , S.–; Ernst Breisach: On the Future of History. The Postmodernist Challenge and its Aftermath, Chicago . Zum möglichen utopischen Gehalt der alobalgeschichte: Ulrich Beck, Edgar Grande: Jenseits des methodologischen Nationalismus. Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne, in: Soziale Welt  (), S. –.

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stehenden Entwicklungsmöglichkeiten oder -wahrscheinlichkeiten zu begreifen. „Rückständigkeit“ ist ein solcher Begriff. Die Zukunft des Vergangenen auf diese Art ernst zu nehmen, bedeutet weder, dem Glauben an erwartbaren Fortschritt anzuhängen, wie er im . Jahrhundert verbreiteter war als heute. Noch verlangt solche Zukunftsorientierung, die Geschichte als unilinearen oder gar als teleologischen Prozess zu unterstellen, was auch kaum noch geschieht. Man muss Geschichte nicht als Bewegung auf ein Ziel hin auffassen und etwa alles am Maßstab der westlichen Moderne messen, um gleichwohl mit Nutzen den Begriff der „Rückständigkeit“ benutzen zu können. Auch die Kategorie der „Rückständigkeit“ ist ohne Verankerung in teleologisch-unilineare Geschichtskonstruktionen und ohne Verbindung mit Fortschritts- oder Modernisierungsgläubigkeit realisierbar und nützlich. Vielmehr ist es entweder in Anlehnung an empirisch feststellbare Handlungsziele historischer Akteure¹⁴ oder aufgrund normativ angereicherter, aber argumentativer Urteile des Historikers durchaus möglich, jeweils partielle Bewegungsrichtungen – wie beispielsweise (für Untersuchungen zum . und . Jahrhundert) die Steigerung und gerechte Verteilung des Wohlstand auf industriewirtschaftlicher Grundlage, Fortschritte auf dem Weg zu einer freiheitlich-demokratischen Verfasstheit des Gemeinwesens oder die Sicherung des inneren und äußeren Friedens – explizit und kritisierbar zu setzen, Bewegungsrichtungen, in Bezug auf die dann das untersuchte Phänomen, die untersuchte Region oder die untersuchte Periode, auch im Vergleich zu anderen, als prozessual relativ fortgeschritten oder relativ rückständig beurteilt werden kann.¹⁵ Es ist schwer zu sehen, wie die Geschichtswissenschaft ihrer in diesem Beitrag behandelten Zeitstruktur im Spannungsverhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ohne solche methodische Zugriffe gerecht werden könnte.

¹⁴

¹⁵

Beispielsweise in Anlehnung an ostmittel- und südosteuropäische Intellektuelle und Reformer, die im . Jahrhundert ihre Region im Vergleich mit dem Westen für rückständig hielten und ihr nachholende Modernisierung empfahlen: die Diagnose der Rückständigkeit in den Quellen selbst. Vgl. Ivan T. Berend: History Derailed: Central and Eastern Europe in the Long Nineteenth Century, Berkeley, CA , S. –. Siehe als überzeugendes Beispiel die Explikation der die folgende Synthese leitenden Erkenntnisinteressen bei Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. . München , S. –, wobei hier vor allem auf die Struktur der Argumentation verwiesen werden soll, weniger auf die einzelnen Bewegungsrichtungen, die von anderen zu anderen Zeitpunkten und mit anderen Absichten anders formuliert werden mögen.

„Rückständigkeit“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft Das Exempel fortgeschrittener Gesellschaften Horst Möller

Wenn es Fortschritt gibt, gibt es auch Rückschritt, wenn es Entwicklung gibt, gibt es unterschiedliche Grade der Entwicklung, also auch Rückständigkeit. Doch zeigt ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte dieser Kategorien, dass die Terminologie und Anwendungsbereiche einem Wandel unterlagen. Fortschritt als explizite geschichtsphilosophische Kategorie des späten . Jahrhunderts kennt als zeitlichen Relationsbegriff zwar den Rückschritt, nicht aber die Rückständigkeit. Noch die Wörterbücher des . Jahrhunderts nennen ihn nicht. In Johann Heinrich Campes „Wörterbuch der deutschen Sprache“ (–) kommt der Begriff zwar vor, doch bezieht er sich dort wie im Grimm’schen Wörterbuch¹ ganz konkret auf die Rückständigkeit von Zahlungen, nicht von historischen Entwicklungen. Johann Gustav Droysen, der sich eingehend mit Henry Thomas Buckles Fortschrittsdenken auseinandersetzt, konstatiert zunächst einmal den empirischen Tatbestand: „Das Leben in der Geschichte ist nicht ein nur fortschreitendes; die Kontinuität zeigt sich da und dort unterbrochen, überspringend, selbst zeitweise rückläufig“.² Auch Reinhart Koselleck, der sich unter den Historikern am intensivsten mit der Verzeitlichung von Begriffen und formalen Zeitstrukturen befasst hat, thematisiert in seinem Artikel „Fortschritt“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ die „Rückständigkeit“ überhaupt nicht.³ Seine Definition des Fortschritts setzt aber durchaus diese Kategorie voraus: „Als allgemeine Relationskategorie ist ‚Fortschritt‘ so neutral ¹ ² ³

Grimmsches Wörterbuch, Bd. , Sp. . Johann Gustav Droysen: Historik. Hg. von Rudolf Hübner, Darmstadt 4 , S. . Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main ; ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main ; ders. ‚Fortschritt‘ und ‚Niedergang‘ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, Frankfurt am Main , S. –.

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wie elastisch, um alle geschichtlichen Bewegungen benennen zu können, die sich raum-zeitlich vollziehen“.⁴ Man könnte folgern: Was nicht Fortschritt ist, ist Stillstand und damit implizit Rückschritt; denn in Relation des entwicklungsgeschichtlichen Vergleichs erweist sich das Stillstehende als rückständig, wenn es Fortschrittliches gibt. Das kann zeitlich, räumlich oder sektoral definiert werden. Überdies kann es sich sowohl um ein Perzeptions- als auch ein Bewertungsphänomen handeln: Im Fortschrittsglauben entscheidet nicht der objektive, sondern der perzeptive Blick, ob etwas „rückständig“ ist oder als solches bewertet wird. Doch stehen auch diese Dimensionen stets in einer Relation. Während es bei Droysen und Koselleck im begrifflichen Kern um die Kontinuität oder Diskontinuität eines Kontextes, beispielsweise eines nationalen, geht, dominiert heute bei der Anwendung der Kategorien „Rückständigkeit“ bzw. „Gleichzeitigkeit“ eine transnationale Fragestellung. Allerdings haben nur wenige der zahlreichen Historiker, die ihren Interpretationen implizit Kategorien wie „Fortschrittlichkeit“ bzw. „Rückständigkeit“ zugrunde legen, diesen Bewertungsmaßstab auch analytisch reflektiert und es ist kein Zufall, dass Letzteres mit Blick auf Russland erfolgte. So hat insbesondere Manfred Hildermeier unter dem ironischen, jedoch auf die Dialektik von Fortschritt und Rückständigkeit zielenden Titel „Das Privileg der Rückständigkeit“ mit doppeltem Ansatz sowohl die Konzeptionsbildung von Alexander Gerschenkrons Begriff der „relativen Rückständigkeit“ als auch den empirischen Ausgangspunkt der Reformen Peters des Großen in ihren west-östlichen Bezügen diskutiert.⁵ Dabei verweist Hildermeier sowohl auf den anregenden Aspekt dieser Paradoxie, dass Russland aus Rückständigkeit und Ungleichzeitigkeit eine Chance entwickeln konnte, andere, eigene Wege zu gehen. Er definiert ebenfalls die Grenzen des Konzepts, die nicht nur aus dem Schematismus Gerschenkrons erwachsen, sondern aus seiner vielfältigen empirischen Widerlegung. Zu Recht konstatiert Hildermeier, „daß eine überzeugende Alternative zum Rückständigkeitsgedanken im weiteren Sinne bisher fehlt“.⁶ Der komparative und transnationale Aspekt spielt in zahlreichen Werken bis hin zu Aleksandr O. Čubar’jans Werk „Europakonzepte: von Napoleon bis zur ⁴





Reinhart Koselleck/Christian Meier: Fortschritt, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. , Stuttgart , S. – , das Zitat: S. . Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –, das Zitat: S. . Ebda., S. –.

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Gegenwart“ eine zentrale Rolle für die Suche nach der eigenen Identität Russlands, sowie umgekehrt für seine Positionierung in Relation zu Europa.⁷ Schon Reinhard Wittram hat auf die Problematik hingewiesen: „Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat allen vereinfachenden Formeln, mit denen man seit alters die fremde Moskauer Welt ins europäische Bewußtsein aufnahm, den Boden entzogen. Das gilt in erster Linie für die konventionelle Entgegensetzung ‚Russland‘ und ‚Europa‘: es muß gesehen werden, wie tief der Wandel war, dem diese beiden Wirklichkeiten seit dem Mittelalter unterworfen waren, und wie genau die beiden Begriffe von Zeitalter zu Zeitalter bestimmt, wie sorgfältig sie gegen Kurzschlüsse gesichert werden müssen, wenn sie zur Aufhellung der Verhältnisbeziehungen tauglich sein sollen.“⁸ Doch wie und durch wen werden die Maßstäbe definiert und was ist die Norm, an der gemessen wird? Je globaler die Betrachtungsweise der Historiker, desto stärker die Versuchung, außereuropäische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, ihre Religionen und Mentalitäten an europäischen Maßstäben zu messen. Dies aber widerspricht dem mehr als eineinhalb Jahrhunderte gültigen hermeneutischen Grundprinzip, eine Epoche, eine spezifische kulturelle, soziale, ökonomische oder politische Formation aus ihren eigenen Voraussetzungen zu definieren. Erst die Diktaturen des . Jahrhunderts haben das hierauf basierende Prinzip historischen Verstehens obsolet werden lassen: Kann man Auschwitz „verstehen“? Wenn Adorno zu bedenken gab, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, dann stellt sich die Frage: Kann man danach noch Geschichte schreiben? Offensichtlich ist beides möglich, Paul Celan schrieb die „Todesfuge“ und die Zahl historischer Werke ist nicht mehr überschaubar, darunter zahlreiche über Auschwitz. Und doch geschah die historische Auseinandersetzung in einer neuen Form. Zwar ist nicht das ob fragwürdig geworden, aber das wie. Das Erklären dominiert das Verstehen, die Norm prägt die Interpretationsmaßstäbe.⁹ Hieraus resultiert jedoch ein neues Problem: Die Geschichtswissenschaft ist keine normative Wissenschaft, sie kann nicht selbst die Normen setzen, an deren Realisierung sie die Wirklichkeit misst. Genau dies tut sie aber, wenn beispielsweise die Menschenrechte, Religionstoleranz, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Verfassungsordnungen und entsprechende Wahlrechtssysteme die Norm bilden, an der angesichts globaler Differenzierung gemessen wird. Von ⁷ ⁸ ⁹

Aleksandr O. Čubar’jan: Europakonzepte: von Napoleon bis zur Gegenwart. Ein Beitrag aus Moskau, Berlin . Reinhard Wittram: Peter I. Czar und Kaiser, Bd. , Göttingen , S. . Vgl. Horst Möller: Das Institut für Zeitgeschichte –, in: ders., Udo Wengst:  Jahre Institut für Zeitgeschichte, München , S. –, hier v. a. S. –.

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den mehr als  Mitgliedstaaten der UN dürften zwei Drittel diese Postulate nicht erfüllen. Doch handelt es sich nicht nur um eine Problematik horizontaler Differenz, sondern auch vertikaler, versteht es sich doch von selbst, dass auf antike, mittelalterliche oder frühneuzeitliche Strukturen solche Maßstäbe nicht anwendbar sind. Diese Maßstäblichkeit ist jedoch keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern ihrerseits historisch bedingt: Seit die Aufklärung im . Jahrhundert sich selbst als Prozess und nicht als Zustand definierte, ist die Richtung vorgegeben. Auf die Frage: „Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?“ antwortete Immanuel Kant: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“¹⁰ Fortschritt wurde folglich nicht allein in allen Lebensbereichen zum Ziel, sondern zur permanenten Beurteilungskategorie, die die alte Welt herausforderte. Erst seit diesem Zeitpunkt konnte man mit Gotthold Ephraim Lessing und anderen Aufklärern die „Perfectibilität des Menschengeschlechts“ annehmen, mit Antoine Condorcet  eine „Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“ verfassen und mit Hegel zum „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ gelangen.¹¹ Tradition bildete keinen Wert an sich mehr, sondern hatte sich zu rechtfertigen, das „alte Recht“ legitimierte nicht mehr, sondern wurde fragwürdig, frühere Epochen erschienen im Lichte der Aufklärung als dunkel, das „finstere Mittelalter“ etwa. Jacob Burckhardt ist die Verärgerung anzumerken, wenn er diagnostiziert: „Erst die Zeit seit Rousseau hat sich sittlich über der Vergangenheit en bloc gewähnt und sich damit das Recht zum Proceß gegen diese ganze Vergangenheit beigelegt (französische Revolution!). Und eigentlich glaubten es mit vollem Dünkel erst unsere letzten Decennien, welche auch das Alterthum dabei nicht mehr ausnehmen.“¹² Daran änderte erst der Historismus etwas, der allerdings seine Wurzeln ebenfalls im . Jahrhundert hat. Das Kriterium des Fortschritts setzt jeglichen Konservativismus bis heute unter Legitimationsdruck. Dieses notwendig entwicklungsgeschichtliche Fortschrittsdenken hielt jedoch auch eine wesentliche, ja fundamentale Paradoxie bereit: Es kreierte auf der Basis christlicher und naturrechtlicher Ethik die Postulate unveränderlicher, ewiger, überhistorischer, also nicht evolutionär bedingter Menschenrech¹⁰

¹¹

¹²

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift  (), S. . Vgl. insges. dazu: Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im . und . Jahrhundert, Frankfurt am Main ⁴ [], S. –. Horst Möller: Erkenntnis und Geschichte in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in: ders.: Aufklärung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft. Hg. von Andreas Wirsching, München , S.–. Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Hg. von Peter Ganz, München , S.  (Neuausgabe der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“).

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te. In den Menschenrechtserklärungen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges von  und der Französischen Revolution von  kumulierte dieses aufgeklärte Denken, das als genuin kosmopolitisches Denken in den Aufklärungsbewegungen anderer europäischer Staaten und Kulturen vergleichbare Ziele aufwies. Der konstitutionelle Diskurs der europäischen Aufklärungen, der nach Locke, Montesquieu, den preußischen Landrechtsreformern und anderen Theoretikern und Ereignissen mächtig durch die Revolution in Frankreich vorangetrieben wurde, entwickelte sich ideenhistorisch gesehen in einer dialektischen Gemengelage reformerischer und revolutionärer Bewegungen des späten . und frühen . Jahrhunderts und des napoleonischen Reformdrucks. Reform und Revolution mündeten in den liberalen Verfassungsbewegungen des . Jahrhunderts. Sie blieben gesamteuropäisch weiterhin ein Prozess von Reform und Revolution. Modernisierung wurde zur historiographischen Beurteilungskategorie und – wo notwendig – mit ergänzenden Epitheta bedacht: „versäumte“ Modernisierung, „verspätete“ Modernisierung, „nachgeholte“ Modernisierung, „defensive“ Modernisierung. Der zeitgenössische Vergleich, der schon Peter den Großen bewog, Russland zu modernisieren, es „gleichzeitig mit und gegen Westeuropa innerlich und äußerlich stark zu machen“, verstärkte sich in der Auflehnung, aber auch in den preußischen Reformen gegen den übermächtigen Napoleon zu Beginn des . Jahrhunderts. „Niemals zuvor in der Geschichte waren so wenige Gesellschaften als maßstäblich für so viele andere betrachtet worden … Im . Jahrhundert begann etwas ganz Neues: Die westeuropäische Zivilisation wurde zu einem Modell für große Teile der übrigen Welt“, das Rückständigkeitsbewusstsein wurde zum Motor für Reformen.¹³ Doch hatte diese epochenspezifische wechselseitige Perzeption auch eine historiographische Konsequenz: Die Epochen sind seitdem nicht mehr unmittelbar zu Gott, wie noch Leopold von Ranke meinte, sondern unmittelbar zum Historiker, der entscheidet, was modern, was fortschrittlich, was die Norm dieser Beurteilung ist. Durch diese Kategorisierung wurde Westeuropa „fortschrittlich“, Osteuropa „rückständig“, gab es einen „deutschen Sonderweg“, später ein „NordSüd-Gefälle“, gibt es (fortschrittliche) Industriestaaten, Entwicklungsländer, Schwellenländer etc. Nun kann man diese Art der Interpretation durch den allwissenden Soziologen oder Historiker ironisieren, die Crux aber bleibt: Natürlich gibt es in der Geschichte Veränderung und Beharrung. Fundamentale ¹³

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts, Sonderausgabe, München , S. –, die Zitate , . Sowie zu Russland: Manfred Hildermeier, Privileg, S.  u. ö.

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Epochentendenzen oder einzelne Sektoren entwickeln sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit, die auch wertend zu qualifizieren sind. Dies gilt beispielsweise für die technologische Entwicklung, die konstitutiv für die Industrialisierung war. So ist nicht zu leugnen, dass England schon im späten . Jahrhundert eine Frühindustrialisierung kannte, während in anderen Teilen Europas noch agrarische Strukturen dominierten, unbestreitbar verlief die Industrialisierung in europäischen Staaten während des . Jahrhunderts in unterschiedlichem Tempo und stagnierte in manchen Regionen völlig. Schon aufgrund dieser ungleichzeitigen Entwicklungen fällt es indessen schwer, allgemeine Urteile zu fällen, und selbst heute bestehen traditionale agrarische und industrielle Strukturen nebeneinander. In der derzeit dynamischsten Volkswirtschaft überhaupt, der chinesischen, sind metropolitane und industrielle Ballungsräume der Millionenstädte unvergleichbar mit riesigen ländlichen Regionen, in denen nach wie vor die Mehrzahl der Chinesen unter vormodernen Bedingungen lebt. Im . und . Jahrhundert fand global gesehen das Urteil, Staaten seien „rückständig“, selten auf Europa Anwendung und wenn ja, dann eher auf Osteuropa bzw. Russland. Gleichwohl finden sich auch Beispiele für das westliche Europa. Regional gesehen gilt das selbst für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, dann allerdings mit regionaler oder thematischer Spezifik. So schreibt das Grundgesetz „gleiche Lebensverhältnisse“ vor, wobei dieser Grundsatz materiell uneinlösbar ist. Hierzu tragen allein schon die faktischen Voraussetzungen bei: Nicht jede Stadt hat einen Autobahnanschluss, einen ICE-Anschluss, eine oder mehrere Universitäten, vergleichbare Erwerbsmöglichkeiten usw., selbst in ein und demselben Bundesland sind zwischen Stadt und Land, zwischen einzelnen Regionen Unterschiede, darunter auch solche des Einkommens unvermeidbar. Würde man daraus folgern, der Bayerische Wald sei verglichen mit dem Alpenraum oder Oberbayern insgesamt rückständig? Kann man aufgrund der Differenz durchschnittlicher Einkommen in Kiel, Berlin oder München auf Rückständigkeit schließen? Und lässt sich dies durch den wieder einmal heftig diskutierten Finanzausgleich ändern, der derzeit die drei reichsten Bundesländer zu Zahlungen zugunsten der  weniger finanzkräftigen zwingt? Und um welche Form von „Rückständigkeit“ geht es überhaupt? Zählt nicht das arme Berlin kulturell durch eine großartige Museumslandschaft, Bibliotheken, Opern, Theater, Hochschulen, Forschungseinrichtungen usw. zu den reichsten Bundesländern? Die Beispiele zeigen die Unmöglichkeit, die Kategorien „fortschrittlich“ und „rückständig“ in ökonomischer bzw. gesellschaftlicher Hinsicht auf Großräume einzelner Staaten anzuwenden und darauf eine Gesamtbeurteilung dieser

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Staaten zu gründen. Doch ist das Dilemma unverkennbar, auch wenn der Begriff „Rückständigkeit“ vage und schwer operationalisierbar ist, gehört er zu denjenigen Beurteilungskategorien, die angesichts des Fortschritts-Parameters mehr oder weniger explizit historische Interpretationen beeinflussen. Und das bezieht sich nicht allein auf die Gegenwart, sondern auch innerhalb Westeuropas auf historiographische Fragestellungen. Eine sehr intensiv geführte geschichtswissenschaftliche und geschichtspolitische Debatte, für die die Kategorie „Rückständigkeit“ eine wesentliche Bezugsgröße bildet, ist mit dem Begriff „deutscher Sonderweg“ verbunden.¹⁴ Wenngleich eine durchaus berechtigte Fragestellung den Ausgangspunkt bildet, zeigt sich doch an diesem Exempel anschaulich die Problematik von Interpretationen, die mit postulierten Normen arbeiten, um die Bewertung fortschrittlich oder rückständig vorzunehmen. Solche Interpretationen bedürfen oft selbst der historischen Dekonstruktion, die schnell ihre Epochenspezifik aufdeckt. So wurde vor allem nach dem Ersten Weltkrieg die Kategorie „deutscher Sonderweg“ positiv konnotiert¹⁵, weil man das deutsche, durch den Konstitutionalismus des Kaiserreichs geprägte Verfassungsdenken von dem durch Aufklärung und Revolution geleiteten französischen Weg und dem vermeintlich ‚westlichen‘ Parlamentarismus unterschied. Nach / aber wurde in der Bundesrepublik Deutschland diese Bewertung umgekehrt, zur Westorientierung gehört die Integration in die westliche Wertegemeinschaft und ihre politischen Grundprinzipien. Für diese Dialektik und damit die Problemstellung gibt es einen entscheidenden Grund, die Frage nämlich, welchen Ort das Jahr  in der deutschen Geschichte besitzt¹⁶: Wie ist es zu erklären, dass einer der führenden Kulturstaaten der Welt, der auf einer seit dem . Jahrhundert entwickelten rechtsstaatlichen Tradition beruhte und seit / bzw. dem Bismarckreich demokratische Parteien kannte, zur nationalsozialistischen Machtergreifung bzw. Revolution führte?¹⁷ Gab es für diese derart brutale Diktatur und ihre Massenverbrechen, für diesen beispiellosen „Kulturbruch“ spezifische Determinanten oder Dispo¹⁴

¹⁵ ¹⁶

¹⁷

Horst Möller (Hg.): Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte), München, Wien  (Beiträge von Karl Dietrich Bracher u. a. sowie eine Bibliographie). Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München . Thomas Nipperdey:  und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München , S. –, sowie ders. in: Deutscher Sonderweg, S. –, – u. ö. Horst Möller: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Konterrevolution oder Revolution?, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte  (), S. –.

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sitionen in der deutschen Geschichte vor  oder vor ? Wie ist dieser „deutsche Sonderweg“ der nationalsozialistischen Diktatur zu erklären? Diese Frage bleibt tatsächlich fundamental, doch ist sie mit der Kategorie „Sonderweg“, die ihrerseits eine verfassungspolitische Rückständigkeit unterstellt, zu erklären? Dieses Modell beruht zunächst auf der Annahme eines verfassungspolitischen „Normalwegs“ in der politischen Kultur Europas. Doch ein solcher Normalweg existiert nicht. Wenn überhaupt, dann bildet gerade das zur Norm erklärte Modell des britischen Parlamentarismus den Sonderweg, bestand es doch in dieser Form nirgendwo sonst. Auch andere Kriterien, beispielsweise die Rechtsstaatlichkeit, greifen hier nicht als Interpretationsansatz, gehen doch die rechtsstaatlichen Traditionen in Deutschland auf Reformen des späten . und frühen . Jahrhunderts zurück, beispielsweise das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von . Das Kaiserreich von  war zweifellos ein Rechtsstaat. Und auch mit seinen imperialistischen Tendenzen stand es in Europa nicht allein, sondern schlug einen Weg ein, den auch die übrigen europäischen Großmächte beschritten, die allesamt eine größeres Imperium besaßen als das Deutsche Reich. Dasselbe gilt auch für kleinere europäische Staaten wie Spanien, Portugal, Belgien oder die Niederlande. Das Wahlrecht des Kaiserreichs von  war eines der modernsten seiner Zeit, auch wenn in den Einzelstaaten, vor allem in Preußen, das Dreiklassenwahlrecht von  damit verglichen „rückständig“ war. Das britische Wahlrecht seinerseits wurde, obwohl es während des . Jahrhunderts in verschiedenen Schüben bis  modernisiert und demokratisiert worden war, gleichwohl in Deutschland seit der Revolution von / kritisch beurteilt, weil das Mehrheitswahlrecht nicht zwangsläufig die Mehrheit abbildet. Die Weimarer Nationalversammlung ersetzte aus diesem Grund  das Mehrheitswahlrecht des Kaiserreichs durch ein entpersonalisiertes Verhältniswahlrecht. Es war zwar aufgrund der minutiösen Abbildung auch geringer Stimmenanteile demokratischer, bewirkte indes eine Stimmenzersplitterung und eine große Zahl von Parteien im Reichstag, wodurch die Regierungsbildung zusätzlich erschwert wurde.¹⁸ Im Übrigen waren und sind die Verfassungsordnungen und Wahlrechtssysteme der europäischen Demokratien so unterschiedlich¹⁹, dass auch hier kein Normalweg erkennbar ist. Allerdings beruht die Sonderwegsdebatte mit der Diagnose einer deutschen ¹⁸ ¹⁹

Vgl. insges. Horst Möller: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, München ¹⁰, S. –. Dolf Sternberger, Bernhard Vogel (Hg.): Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Ein Handbuch.  Bde., Bd. : Europa, Berlin .

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„Rückständigkeit“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft

„Verspätung“ auch auf anderen Zugängen, beispielsweise dem Buch von Helmuth Plessner „Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“. Doch war dies der Titel der Neuauflage von , die  in der Schweiz erschienene Erstauflage trug eine andere Überschrift: „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“. Tatsächlich wollte der im holländischen Exil lehrende Plessner die ideologischen Wurzeln des nationalsozialistischen Regimes bloßlegen und ging darin bis zu Luther und zu den späteren Widerständen gegen die Aufklärung in Deutschland zurück. Insofern finden sich in diesem vor allem ideengeschichtlich argumentierenden Werk auf hohem Niveau die Ursprünge einer kritischen Sonderwegsthese – kaum aber eine, erst durch den späteren, sich in der Perzeption bald verselbstständigenden Obertitel von  ausgelöste Diskussion über die „verspätete Nation“. Diese Metapher führte allerdings zu einer anderen pointierenden Frage: Waren die beiden – im europäischen Maßstab – „verspäteten“ Nationen des . Jahrhunderts, Italien und Deutschland, gerade deshalb so anfällig für einen übersteigerten Nationalismus, für Faschismus bzw. Nationalsozialismus, weil ihre Formung zu einem Nationalstaat so spät erfolgte, sie also als politische Nationen „rückständig“ waren? Aber auch in dieser Hinsicht greift die Kategorie der „Rückständigkeit“ zu kurz, fällt der Vergleich doch sehr rudimentär aus: Er richtet sich vor allem an der Norm des schon seit der frühen Neuzeit und verstärkt seit der Revolution von  unverkennbar nationalen Charakters der französischen Monarchie bzw. der revolutionären Nation aus. Die noch bis ins . Jahrhundert vorhandenen anderen Staatsbildungen, darunter die Nationalitätenstaaten, werden vernachlässigt oder überhaupt nicht in den Vergleich einbezogen. Dies ergäbe aber ein anderes Bild. Wie wäre dann etwa die Entwicklung Polens einzuordnen, das übrigens mit seiner Reformverfassung von , der ersten geschriebenen Verfassung Europas, den westeuropäischen Staaten voraus gewesen war? Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Polen zwar einen durchaus nachhaltigen Nationalismus, aber keinen Faschismus, die Herrschaft Marschall Piłsudskis war eine Militärdiktatur. Dass Polen erst nach drei „polnischen Teilungen“ und russischer Herrschaft seit dem Wiener Kongress, also einer „Durststrecke“ von ungefähr  Jahren,  zum Nationalstaat wurde, hatte also keineswegs die Wirkungen, die nach der Theorie des Sonderwegs in Analogie zu den „verspäteten“ Nationen, Italien und Deutschland, hätten eintreten müssen.²⁰ ²⁰

Hans Roos: Geschichte der polnischen Nation –, Göttingen ; vgl. auch ders.: Polen und Europa. Studien zur polnischen Außenpolitik, –, Tübingen .

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Vergliche man unter verfassungspolitischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kriterien Deutschland mit Russland, dann könnte von einer deutschen „Verspätung“ schon gar keine Rede sein. In Russland aber entstand keine faschistische, sondern nach der bolschewistischen Oktoberrevolution eine kommunistische Entwicklungsdiktatur, die gerade hier gemäß der marxistischen Theorie wegen der sozioökonomischen „Rückständigkeit“ des Landes gar nicht hätte stattfinden dürfen. Vielmehr wäre England für eine solche Revolution prädestiniert gewesen. So konstatierte Karl Marx im Vorwort zur . Auflage des „Kapital“ (), es handele sich „nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft“.²¹ Marx konkretisiert diese von ihm angenommene historische Gesetzmäßigkeit: „Wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des . Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete, so der amerikanische Bürgerkrieg des . Jahrhunderts für die europäische Arbeiterklasse. In England ist der Umwälzungsprozeß mit Händen greifbar. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den Kontinent rückschlagen.“²² Wenngleich sich hier die Irrtümer einer mechanistischdogmatischen Geschichtsphilosophie zeigen, weist Marx doch auch auf einen für unsere Fragestellung wesentlichen Punkt hin: „Eine Nation soll und kann von der andern lernen. Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist … kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“²³ Hier geht es nicht allein um das „Privileg der Rückständigkeit“, sondern um eine inhärente Dialektik historischer Entwicklungen: Eine „nachholende Modernisierung“ kann nicht allein schneller verlaufen, sondern aufgrund dieses Lernprozesses die Rückständigkeit eines Landes überwinden und ein „fortschrittlicheres“ Land überholen. Solche Phänomene hat es im europäischen Industrialisierungsprozess immer wieder gegeben. So hat beispielsweise die Einführung moderner Technologien in weniger industrialisierten Regionen oft Regionen mit „klassischen“, aber nicht zukunftsfähigen Industrien überrundet. „Rückständigkeit“ ist also nicht zwangsläufig statisch, wenn es technologische Paradigmenwechsel gibt. Auf der anderen Seite wider²¹ ²² ²³

Karl Marx: Das Kapital, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (MEW), Bd. , S. . Ebda., S. . Ebda., S.  f.

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„Rückständigkeit“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft

legen solche Prozesse die Marx’sche Annahme, das „entwickeltere Land“ zeige dem weniger entwickelten „nur das Bild der eigenen Zukunft“, da diese durchaus auf einem spezifischen, vorher nicht beackerten Sektor liegen kann. Anstelle der Revolutionierung durch die Massen auf dem Höhepunkt gesellschaftlicher Antagonismen übernahm mit Lenin eine revolutionäre Avantgarde diese Aufgabe und machte auf diesem Wege dialektisch aus der „Rückständigkeit“ die programmatische Fortschrittlichkeit Sowjetrusslands bzw. der Sowjetunion, die eine „permanente Revolution“ zur Folge hatte. Die revolutionäre Avantgarde insistierte auf den „ganz speziellen Zügen unserer gesellschaftlichhistorischen Entwicklung“²⁴, die es nicht mehr erforderlich machten, diejenige Westeuropas nachzuholen. Lenin ging sogar soweit, das „rückständige Europa und das fortgeschrittene Asien“ zu konfrontieren, da in Europa die Bourgeoisie „alles Rückständige“ unterstütze und im ‚fortgeschrittenen Europa‘ nur das Proletariat eine „fortgeschrittene Klasse“ sei.²⁵ Tatsächlich aber gehörte, wie es Helmut Altrichter formuliert hat, zu den Strukturbedingungen der russischen Revolutionen von  die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die bereits in der Hauptstadt St. Petersburg durch den Zusammenstoß „gegensätzlicher Lebenswelten“ anschaulich wurde.²⁶ Auch hier also zeigt die Kategorie „Rückständigkeit“ ihre Ambivalenz, konkreter gesagt, ihre bloß sektorale Operationalisierbarkeit.²⁷ Gilt dies für Russland selbst, so auch für den internationalen Vergleich, der es sinnvoller erscheinen lässt, statt von Sonderwegen von Eigenwegen (Klaus Hildebrand) zu sprechen. Denn nicht allein im Vergleich zu Russland erscheint die Weimarer Republik alles andere als „rückständig“. Die Erklärung, der Sonderweg Deutschlands mit zumindest retardierenden Elementen habe ihren Untergang bewirkt, führt auch im Vergleich zu den anderen europäischen Demo²⁴

²⁵ ²⁶

²⁷

Hartmut Mehringer: Permanente Revolution und Russische Revolution. Die Entwicklung der Theorie der permanenten Revolution im Rahmen der marxistischen Revolutionskonzeption –, Frankfurt am Main , S. . Vgl. insges. auch HansChristoph Schröder, Die Aspekte historischer Rückständigkeit im ursprünglichen Marxismus, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Festschrift für Theodor Schieder, München-Wien , S.–. V. I. Lenin: Das rückständige Europa und das fortgeschrittene Asien, in: Lenin Studienausgabe. Hg. von Iring Fetscher, Bd. , Frankfurt am Main , S. f. Helmut Altrichter: Russland . Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn , S. –, sowie insgesamt Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution –, Frankfurt am Main ; ders.: Geschichte der Sowjetunion –. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München . Vgl. zu einem Sektor des vorrevolutionären Rußland: Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich –, Frankfurt am Main .

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kratien der Zwischenkriegszeit in die Irre. So waren die demokratischen Verfassungsordnungen in zahlreichen Staaten zum Teil bereits während der er Jahre, also lange vor der Auflösung der Weimarer Republik, gescheitert, der Faschismus siegte in Italien schon . In Ungarn, in Polen, in Spanien, Portugal, auf dem Balkan, im Baltikum usw. brachen die Demokratien aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls vorher zusammen. Andererseits blieben zahlreiche Monarchien, die man anders als die Republiken nicht als „moderne“, sondern verglichen mit den Republiken als „traditionale“ Staatsform bezeichnen kann, politisch vergleichsweise stabil. Das gilt für Großbritannien, die Beneluxstaaten und die skandinavischen Staaten. Doch handelte es sich, außer bei Großbritannien, nicht um große Industriestaaten. Gerade diese sozioökonomisch modernsten Formationen erwiesen sich als besonders krisenanfällig: Die Wirkungen der Weltwirtschaftskrise waren in den am stärksten industrialisierten, also keineswegs rückständigen Staaten, verheerend, nämlich in Großbritannien und besonders in Deutschland, wofür es wiederum spezifische Gründe gab – nicht aber irgendeine Rückständigkeit. Rückständigkeit ist also in jedem Fall relativ zu verstehen. Das weniger industrialisierte Frankreich, als Agrarstaat mit industriellen Zentren insgesamt gesehen geringer entwickelt, traf die Weltwirtschaftskrise weniger hart und zu einem späteren Zeitpunkt, als sie sich bereits abschwächte. Warum? Unter anderem deshalb, weil die verheerende Massenarbeitslosigkeit und Hungerkrisen die großen agrarischen Regionen Frankreichs weniger trafen als den metropolitanen und industriellen Ballungsraum Paris – insgesamt das Land also stärker punktuell als generell getroffen wurde.²⁸ Es ist also verfehlt, die „deutsche Katastrophe“ mit einem Modernisierungsrückstand und einem daraus folgenden Sonderweg zu erklären. Tatsächlich gingen in allen Staaten Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit eine Gemengelage ein, es kommt darauf an, welchen Sektor von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft man betrachtet, und es kommt auf die jeweiligen regionalen Differenzen an, die eine einschlägige Gesamtbewertung erschweren. Betrachtet man den Ursachenkomplex, der zum Scheitern der Weimarer Demokratie führte als Ganzes, so fehlt darin die Kategorie „Rückständigkeit“. Auch wenn man die Defizite der politischen Kultur der Weimarer Republik im Hinblick auf das politische Denken oder die Nachwirkungen des konstitutionellen Systems des Kaiserreichs auf die Parteien mit Ernst Fraenkel als ²⁸

Vgl. Horst Möller, Europa zwischen den Weltkriegen, München ³, S. –, – . Zur Relativität des Rückständigkeitsbegriffs in globaler Perspektive: Osterhammel, Verwandlung, S. –.

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„Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“²⁹ begreift, finden sich solche Charakteristika auch in anderen europäischen Staaten, die nicht in Nationalsozialismus und Faschismus endeten. Diese „Vorbelastungen“ sind durchaus als erschwerende Faktoren, keinesfalls aber als Rückständigkeit zu begreifen, die einen zureichenden Grund einer deutschen Verspätung und eines deutschen Sonderwegs markieren würde. Interessant ist gleichwohl die merkwürdige „Westverschiebung“ des Problems nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Diktatur. Auch wenn das „Rätsel Rußland“³⁰ gegenwärtig blieb, fragte man in Westdeutschland immer wieder vergleichend nach den Unterschieden Deutschlands und Westeuropas: Das galt für Gerhard Ritters „Europa und die deutsche Frage“ (), dem es hier keineswegs um die deutsche Teilung geht, wenn er konstatiert: „Tatsächlich ist der Gegensatz westeuropäischen und deutschen politischen Denkens viel älter und tiefer begründet als durch die Machtgegensätze des späteren . und . Jahrhunderts. Wir betrachten seine Entwicklung in ihren verschiedenen geschichtlichen Phasen, zuerst im Zeitalter der Reformation“.³¹ Und im gleichen Jahr veröffentlichte Rudolf Stadelmann seine Essays „Deutschland und Westeuropa“. Mit Blick auf die nun anhebende ideelle, noch nicht militärische Westintegration forderte er historisch und gegenwartsorientiert zugleich: „Es bleibt wohl nur übrig, daß wir geistig auf den Punkt zurückgehen, wo die revolutionäre Entwicklung in Westeuropa und die deutsche Sonderentwicklung sich gegabelt haben. Das, was der abendländischen Welt zwischen  und  gemeinsam war, muß auch für die Gegenwart wieder die Basis eines gemeinsamen europäischen Denkens ergeben“.³² Ganz offensichtlich geht es auch hier wieder um die erwähnte Norm, die sich aus der reformerischen und der revolutionären Variante der Aufklärung ergibt: Menschenrechte, Rechtsstaat, Verfassungsstaat und demokratische Legitimierung der Nation. Es handelt sich um ethische und politische Postulate mit universalem Geltungsanspruch, die den „Pluralismus der geschichtlichen Welt“ durchdringen, wie es Hans Freyer formuliert hat³³. Damit verlassen wir indes ²⁹ ³⁰ ³¹ ³² ³³

Die klassischen Aufsätze sind versammelt in: Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 5 . Gerhard Ritter: Das Rätsel Russland, in: ders.: Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München , S. –. Gerhard Ritter: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München , S. . Rudolf Stadelmann: Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: ders.: Deutschland und Westeuropa, Laupheim , S. . Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart , S. –.

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den Weg der Geschichtsforschung und machen den demokratischen Rechtsstaat zum universalen politischen Programm, der sich aus dem „europäischen Sonderweg“ ergibt. Ihn haben auf unterschiedliche Weise Michael Mitterauer, Jacques le Goff und Krzysztof Pomian³⁴ beschrieben und bereits aus dem universalen und nicht nationalen Mittelalter hergeleitet – dem Mittelalter, das weder rückständig noch finster war. Aber was würden dazu die Aufklärer sagen, die die Moderne mit dem kantischen „sapere aude“, der Forderung des Selbstdenkens, beginnen lassen?

³⁴

Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München ⁴; Jacques Le Goff: Das alte Europa und die Welt der Moderne, dt. München ; Krzysztof Pomian: Europa und seine Nationen, dt. Berlin . Vgl. auch Reinhard Wittram: Die nationale Vielfalt als Problem der Einheit Europas, in: ders.: Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen , S. –.

Rückständigkeit und Osteuropa: zwei Seiten einer Medaille? Maria Rhode

Begriffe, mit deren Hilfe die historische Forschung versucht, vergangene Zeiten zu beschreiben und Entwicklungen zu erklären, sind konstruierte analytische Kategorien. Sie können der Sprache der Zeitgenossen entnommen sein, wie zum Beispiel die Kategorie des Standes. Sie können aber auch jenseits des Begriffsinstrumentariums der Zeitzeugen liegen, wie etwa der Genderbegriff, also die Bezeichnung für das jeweils in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft sozio-kulturell konstruierte Geschlecht. Die Entscheidung darüber, ob die wissenschaftliche Forschung Begriffe der Zeitgenossen als Forschungskategorien übernimmt, hängt in hohem Maße davon ab, ob sie trennscharf und wertneutral erscheinen. Und auch diese Einschätzung unterliegt einem Wandel, was sich etwa an der Verwendung der Kategorie Rasse beobachten lässt. Der Begriff der Rückständigkeit gehört zu beiden Kategorien. Er war/ist ein Begriff der historischen Analyse, und er war eine Bezeichnung, die Zeitgenossen im . Jahrhundert verwendeten. Darüber hinaus ist er nach wie vor Teil der Alltagssprache: Der Duden, das Wörterbuch der deutschen Sprache, gibt für „rückständig“ folgende Bedeutungen an: in der Entwicklung eine bestimmte Norm nicht erfüllend, rückschrittlich. Als bedeutungsverwandte Begriffe werden unter anderem genannt: unterentwickelt (meist abwertend), unzeitgemäß, altmodisch, überholt, antiquiert und reaktionär.¹ Vor allem die Synonyme machen den Mangel oder die Negation positiver Eigenschaften deutlich und tragen maßgeblich dazu bei, dass auch das Wort „rückständig“ negativ konnotiert wird. Sie zeigen zugleich, wie breit das semantische Feld ist, das es abdeckt. „Rückständig“ erweist sich also als ein qualitativer Begriff. Quantitativ wird er erst, wenn Einigkeit über die Messeinheiten besteht, mittels derer der Abstand zur Norm eindeutig bestimmt werden kann. ¹

http://www.duden.de/rechtschreibung/rueckstaendig, [zuletzt aufgerufen am ..].

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Ihren Weg in die allgemeine historische Forschung fand die Kategorie der „Rückständigkeit“ über Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte. Vor allem Osteuropa, insbesondere das Zarenreich, galt seit den er Jahren als Paradebeispiel für die Analyse des als Normabweichung begriffenen Mangels an Industrialisierung. Doch ist nach Jahrzehnten historischer Forschung die Frage zu stellen, ob auch aus der Perspektive des . Jahrhunderts Rückständigkeit einen eindeutigen und angemessenen Begriff für die Analyse vergangener Zeiten bietet. Im Folgenden soll deshalb in drei Schritten nach einer Antwort gesucht werden: Erstens wird in einem historischen Rückblick nachgezeichnet, wie der Begriff der Rückständigkeit in die historische Forschung kam, welche Hoffnungen er weckte und in welche gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhänge die ihm zugrunde liegende Modernisierungstheorie eingebettet war. Zweitens wird die Historizität und Uneindeutigkeit des Begriffs als Teil der politisch-sozialen Sprache in Europa herausgearbeitet. Dabei wird auf seinen doppelten Charakter – als Kategorie der Fremd- und Selbstwahrnehmung – sowie auf seine Funktion hingewiesen. Ich vertrete die These, dass die Diskussion um Rückständigkeit als ein Element von Selbstverständigungsdiskursen gedeutet werden kann, und dass der Begriff ein Mittel sozialer und im Laufe des . Jahrhunderts auch zunehmend nationaler Distinktion und Identitätsstiftung darstellte. Drittens wird anhand der Untersuchung der Fortschrittsdebatten im geteilten Polen gezeigt, dass die Diskussionen um Fortschritt und Rückständigkeit kein russländisches Spezifikum darstellten und dass sie in einem Land, das sich seiner Selbstverortung im Westen sicher war, mit ähnlichen Argumenten, wenn auch zum Teil mit unterschiedlichen Schlüsselbegriffen, ausgefochten wurden wie im benachbarten Russland. Schließlich wird im Fazit für den Verzicht auf den Begriff der Rückständigkeit als analytische Kategorie, zugleich aber für eine Feinanalyse von Dichotomien als Bestandteil historischer kommunikativer Prozesse plädiert.

 Rückständigkeit als Kategorie historischer Analyse  veröffentlichte der in Odessa geborene, zu großem Teil in Wien sozialisierte und in Harvard lehrende Wirtschaftshistoriker und Ökonom Alexander Gerschenkron sein einflussreiches Werk „Economic Backwardness in Historical Perspective“.² Vorüberlegungen zu dieser Gesamtschau europäischer Wirt²

Alexander Gerschenkron: Backwardness in Historical Perspective, Cambridge, MA  (. Auflage ; alle Angaben beziehen sich im Folgenden auf die . Auflage). Zur Stellung Gerschenkrons in der Wirtschaftsgeschichte: From the Workshop of Alexander Gerschenkron, Economic Historian, Albert Fishlow interviewed by Eugene N. White, in:

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Rückständigkeit und Osteuropa

schaftsentwicklung hatte er bereits elf Jahre zuvor als Konferenzbeitrag formuliert und später publiziert.³ Seine Thesen waren nicht zuletzt deshalb so einflussreich, weil sie zwar auf der Analyse historischer Prozesse beruhten, aber auch für Vorhersagen des ökonomischen Wandels in den sogenannten Entwicklungsländern herangezogen werden konnten.⁴ Gerschenkron beschäftigte sich mit der Frage, welche ökonomischen und sozialen Prozesse Gesellschaften durchlaufen, um in der Moderne anzukommen. Er entwickelte die These, dass die europäische Industrialisierung ein „einheitliches, wenn auch abgestuftes Muster“ darstelle.⁵ Seiner Meinung nach wirkten diese Entwicklungen mit Blick auf das Ziel homogenisierend und stellten ein universelles Phänomen dar, waren in den regionalen Ausprägungen und zeitlichen Abläufen aber durchaus divers. Gradmesser der Rückständigkeit war das Industrialisierungsniveau. Gerschenkrons Theorie basierte auf der Annahme linearer Entwicklungsstufen, wobei er einräumte, dass einige von ihnen übersprungen oder beschleunigt durchlaufen werden können. Der Historiker zeigte überdies mit der Analyse der industriellen Entwicklung in Europa mit besonderem Blick auf Italien, Bulgarien und das zarische und sowjetische Russland, dass wirtschaftlicher Rückstand sich unter bestimmten Bedingungen durchaus als Vorteil erweisen kann. Denn seine Studie zeigte, dass die weniger industrialisierten Länder, auch wenn sie den Pfad der Industrialisierung eigentlich ohne die nötigen Voraussetzungen wie Kapitalressourcen eines investitionsbereiten Mittelstandes betreten, diesen Mangel z. B. durch Staatsintervention substituieren und schließlich sogar zu höherem Wachstum gelangen können als die Pioniere.⁶ Eben dies machte die Theorie auch für die Diskussion zeitgenössischer Themen interessant. Denn die Frage, wie Industrialisierung und sozialer Wandel in „unterentwickelten“ Ländern verlaufen könnten, war in der sich dekolonisierenden Welt höchst aktuell. Sie war politisch und Gerschenkron nahm sie auch als solche wahr. Mehr noch: Seine Lesart von Industrialisierungsprozessen war ein Argument dafür, diesen in den „Entwicklungsländern“ vor allen ande-

³ ⁴ ⁵ ⁶

John Lyons (Hg.): Reflections on the Cliometrics Revolution. Conversations with Economic Historians, London , S. –; Ezequiel Adamovsky: Before Development Economics: Western Political Economy, the “Russian Case”, and the First Perceptions of Economic Backwardness (From the s until the Mid-Nineteenth Century), in: Journal of the History of Economic Thought  (), S. –. Alexander Gerschenkron: Individualism and the Role of the State in Economic Growth, in: Economic Development and Cultural Change  (), S. –. Eine Diskussion von Gerschenkrons Thesen aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht liefert: Patrick Verley: La Révolution industrielle, Paris , S. –. Wörtlich: „a unified yet graduated pattern“: Gerschenkron, Backwardness, S. I. Ebda., S. .

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ren Reformen den Vorrang zu geben, um soziale Revolutionen zu verhindern.⁷ Dass alle Entwicklung auf Industrialisierung hinausläuft, war eine unangefochtene Gewissheit. Gerschenkron gab dieser Gewissheit auch für die Spätentwickler eine optimistische Perspektive. Rückständigkeit und Fortschritt waren bei ihm an wirtschaftlichen Parametern – Industrialisierungsindizes – abzulesen. Eine Definition von Rückständigkeit, die auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasst, findet man bei Gerschenkron nicht.⁸  wandte sich der Historiker explizit einem Europa-Russland-Vergleich (Russia versus Europe) zu, indem er Beispiele staatlichen Dirigismus – in ihrer merkantilistischen Variante zu Beginn des . Jahrhunderts, der Phase aktiver Staatspolitik seit den er Jahren und in der sowjetischen Zeit – genauer unter die Lupe nahm. Wie bereits in seinem Überblick über die europäische Industrialisierung erwies sich der Ökonom ausdrücklich auch als Gesellschaftshistoriker. Gerschenkron zeigte hier noch einmal, dass die rigorose Umsiedlungspolitik Peters des Großen nur durch das System der Leibeigenschaft möglich war, und dass die sowjetischen Industrialisierungserfolge ohne die Zwangsmaßnahmen des Staates mit ihren gesellschaftlichen Folgen nicht denkbar gewesen wären.⁹ Wirtschaftshistorische Überlegungen waren also in eine Gesellschaftsgeschichte eingebettet. Die Verbindung zwischen Modernisierungstheorie und Gesellschaftsgeschichte vollzog sich zeitgleich auch auf Feldern, die mit der Geschichte Osteuropas nichts zu tun hatten. Hans-Ulrich Wehler, einer der Mitbegründer der noch jungen, sich als Abgrenzung zum Historismus verstehenden und auf den Westen ausgerichteten Bielefelder Schule, veröffentlichte  eine Untersuchung zum Verhältnis von Modernisierungstheorie und Geschichte.¹⁰ Wehler folgte darin einem Kriterienkatalog, mit dem unter anderem der amerikanische Soziologe Talcott Parsons traditionale und moderne Gesellschaften beschrieben hatte. Auf der Seite der Moderne wurden darin Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung, Bürokratisierung, auf der anderen bäuerlich-ländliche Formen des Zusammenlebens, politische Systeme ohne Mitbestimmung der Mehrheit, der Vorrang direkter, personaler Beziehungen sowie wenig differenzierte Ökonomien verzeichnet. Auch wenn Weh⁷ ⁸

⁹ ¹⁰

Ebda., S. , , . Gerschenkron spricht von „elements of backwardness“ und bezieht sich im entsprechenden Absatz auf die Marx’sche Unterscheidung von industriell weiter und weniger entwickelten Ländern: Gerschenkron, Backwardness, S. . Alexander Gerschenkron: Europe in the Russian Mirror. Four Lectures in Economic History, Cambridge . Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen .

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ler die Gefahr der Dichotomisierung bei der Beschreibung von Strukturen in Folge einer solchen Gegenüberstellung durchaus wahrnahm und die implizite Annahme, Geschichte laufe auf das amerikanisch-westeuropäische Modell zu, kritisch thematisierte, stellte er die grundsätzliche „Anwendbarkeit“ der Modernisierungstheorie auf historische Prozesse nicht in Frage.¹¹ Einwände gegen eine Geschichtsschreibung, die geschichtliche Verläufe an universell gültigen Strukturmodellen maß und in Folge dessen richtige von falschen und Sonderwegen trennte, kamen zu Beginn der er Jahre aus einer anderen Richtung. Auf der . Versammlung der Historiker Deutschlands  wurden die Kontroversen zwischen der sich als modern verstehenden Sozialgeschichte und der neu entstehenden, an Alltagsphänomenen interessierten Mikro- bzw. Alltagsgeschichte besonders heftig ausgetragen.¹² In dieser Umbruchphase innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft erschien in der epochenübergreifend ausgerichteten, renommierten Historischen Zeitschrift Manfred Hildermeiers Artikel, in dem das von Gerschenkron für die Beschreibung globaler ökonomischer Prozesse entwickelte Konzept der relativen Rückständigkeit als Denkfigur der russischen Geistesgeschichte umgedeutet und in ihrem Wandel analysiert wurde.¹³ Gegenstand der Untersuchung waren hier nicht das ökonomische Konzept der Rückständigkeit oder die Phasen der russischen oder sowjetischen Industrialisierung. Vielmehr wandte sich Hildermeier der Erfahrung und Deutung von Differenz im philosophisch-politischen Schrifttum in einem Zeitraum von ca. zwei Jahrhunderten zu und zeigte, wie groß die Bandbreite kultureller Deutungen für ähnliche Phänomene sein kann. Der Artikel trug den an Gerschenkron angelehnten, provozierenden Titel Vom Privileg der Rückständigkeit. Hildermeier nahm die Kritik an der Modernisierungstheorie zur Kenntnis und fragte, wie das Konzept für die osteuropäische Geschichte, genauer: für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Russland und Europa, fruchtbar gemacht werden kann, wenn man es von seinen zu Recht kritisierten teleologischen Komponenten befreit. Die Extremposition, auf jeden Vergleich zu verzichten, lehnte er als Lösungsmöglichkeit ab. Dieses Verfahren führe zu ver¹¹

¹² ¹³

Chris Lorenz: Wozu noch Theorie der Geschichte? Über das ambivalente Verhältnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie, in: Wolfgang Schluchter (Hg.): Kolloquien des Max-Weber-Kollegs XV–XVIII, Erfurt , S. –, hier S. . Bericht über die . Versammlung der Historiker Deutschlands, Berlin , Stuttgart , S. –. Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur in der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –.

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engten, nationalstaatlichen Deutungen und zu einem Verlust an analytischer Kraft.¹⁴ Hildermeiers Grundüberzeugung, dass der Vergleich ein besonderes Mittel des Erkenntnisgewinns darstellt, wurde hier sehr deutlich. Wie ein Mittelweg zwischen Konzepten, die an die Modernisierungstheorie angelehnt waren, und isolierter Analyse aussehen könnte, demonstrierte er mit seiner Untersuchung der Denkfigur der Rückständigkeit. Ziel der Diskussion war, das Konzept der Rückständigkeit weiter zu differenzieren, um es als analytische Kategorie in veränderter Form zu behalten. Letztlich wollte er also den Vergleich zwischen Russland und Europa vielschichtiger gestalten, als es die Akteure des . Jahrhunderts und ein Teil der Forschungsdiskussion taten, die zwischen den Polen von Fortschritt und Rückständigkeit gefangen blieben. Auch wenn Hildermeier den Begriff Kulturtransfer nicht benutzte, sondern von der „Rezeption von Elementen der zum Leitbild erklärten staatlichen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung“ sprach¹⁵, untersuchte er eigentlich die Haltung der russischen Gesellschaft bzw. ihrer Eliten gegenüber Prozessen von Kulturtransfer. Bei Peter dem Großen angefangen, über den Schriftsteller und Philosophen Čaadaev, die Slavophilen Aksakov und Chomjakov, den utopischen Sozialisten Herzen, den Sozialisten Černyševskij, die Populisten Michajlovskij und Lavrov bis zu Trockij zeigte er, wie und aus welchem Grund die Ideen eines Leibniz, Hegel, Marx, Comte oder Spencer in Russland in ihrer spezifischen Form von diesen angeeignet wurden. Er betonte damit die aktive Rolle der aufnehmenden Gesellschaft bei der Aneignung transferierter Güter.¹⁶ Am Ende seiner Analyse präsentierte Hildermeier eine Liste von elf Typen historischer Verläufe von nachholenden Modernisierungsprozessen, für deren weitere Beschreibung und Analyse er warb.¹⁷ Dabei betonte er – wie Gerschenkron – ihre Selbständigkeit und relative Autonomie, nicht ihre vollständige Regelhaftigkeit. Die Klassifizierung reichte von erwünschter, tatsächlicher und erfolgreicher Rezeption von „Errungenschaften der fortgeschrittenen Länder“, über Vermischung von Alt und Neu, Assimilation, Substitution bis zur Abwehr.¹⁸ Grundsätzlich plädierte er angesichts des Fehlens „eine[r] überzeugende[n] Alternative zum Rückständigkeitsgedanken im weiteren Sinne“ aber da-

¹⁴ ¹⁵ ¹⁶ ¹⁷

¹⁸

Ebda., S. , . Ebda., S. . Ebda. Wörtlich spricht Hildermeier von dem Versuch, „die Wege der Einwirkung der fortgeschrittenen Muster-Länder, die von ihr hervorgerufenen Verlaufsformen“ zu beschreiben. Ebda., S. . Ebda., S. –, Zitat S. .

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für, das Konzept beizubehalten.¹⁹ Russische Verhältnisse aus dem eigenen Kontext heraus zu erklären, führe – unter Verzicht auf erkenntnisgenerierende Vergleiche – zu einer Isolation und, was noch schwerer wiege, einen solchen Verzicht bezahle die Geschichtswissenschaft mit dem Verlust an analytischem Potential.²⁰ Im Laufe der Jahre wurden sowohl die Bielefelder Schule als auch die Modernisierungstheorie weiteren Prüfungen unterzogen und zum Teil historisiert.²¹ Vorschläge für Alternativen zur Modernisierungstheorie und damit zum Rückständigkeitsgedanken kamen von vielen Seiten. Zum einen hatten die Forschungsergebnisse zum Kulturtransfer auf die Vielfalt von Verläufen und Aneignungsprozessen aufmerksam gemacht, ohne sie zu klassifizieren oder zu bewerten.²² Vielmehr machten die Autoren, ähnlich wie Manfred Hildermeier in seinem Privileg der Rückständigkeit, den aktiv artikulierten Bedarf als Auslöser von Kulturtransfers fest, nicht aber Niveauunterschiede oder Gefälle als Motiv für wirtschaftliche und kulturelle „Anleihen“.²³ Auch die Konvergenztheorie, eine Begleiterin der Modernisierungstheorie, war damit als Erklärung für die Veränderung bzw. Angleichung von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen abgelöst.²⁴ Zum anderen sorgte die Auflösung des Ost-West-Konfliktes dafür, dass der Blick für die Vielfalt globaler Prozesse und ihre Vernetzung weiter wurde. Die eurozentrische und bipolare Perspektive wurde damit als Problem und Heraus¹⁹ ²⁰ ²¹

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Ebda., S. . Ebda., S. –. Ute Daniel: Quo vadis Sozialgeschichte?, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Eine Diskussion, Göttingen , S. –; Lorenz, S. ; Lutz Raphael: Anstelle eines Editorials. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ in den  Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –. Michael Werner, Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –; Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen . Matthias Middell: Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Andrea Langer (Hg.): Metropolen und Kulturtransfer im . und . Jahrhundert: Prag, Krakau, Danzig, Wien, Stuttgart , S. –, hier S. ; Michel Espagne, Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Dies (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècles), Paris , S. –, hier S. . John W. Meyer, John Boli-Bennett, Christopher Chase-Dunn: Convergence and Divergence in Development, in: Annual Review of Sociology  (), S. –.

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forderung thematisiert.²⁵ Die Wege in die und die Ausprägungen von Moderne, das betonte Shmuel Eisenstadt, seien nun einmal vielfältig und verschieden.²⁶ Rückständigkeit, die immer auf eine Normgröße bezogen sein muss, war somit als Kategorie historischer Forschung stark in Frage gestellt. , inmitten der Debatte um Verflechtungsgeschichte und die Überwindung nationalstaatlicher Kategorien, griff Manfred Hildermeier das Thema Rückständigkeit vor dem Hintergrund der Diskussionen um den Ansatz der Globalgeschichte wieder auf.²⁷ Dabei plädierte er erneut für den historischen – vor allem den kontrastiven neben dem ‚intra-regionalen‘, also von struktureller Gleichheit ausgehenden – Vergleich auf der Basis exemplarischer Fallstudien.²⁸ Dieser „Königsweg“ historischer Forschung wurde damit zum Teil mit dem neuen Ansatz der Transfer- bzw. der transnationalen Geschichte verknüpft.²⁹ Nur zum Teil, weil Hildermeier den Vergleich als Mittel historischer Forschung stark favorisierte, um durch ihn Unterschiede feststellen zu können. Michel Espagne, Michael Werner und Bénédicte Zimmermann – die Begründer der Kulturtransferforschung – standen diesem Erkenntnismittel deutlich kritischer gegenüber. Espagne wandte ein, mit einem Vergleich käme man „zu einer imponierenden Liste von Strukturunterschieden“, die an sich keinen Erklärungswert hätten.³⁰ Werner und Zimmermann machten auf die Schwierig²⁵

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³⁰

Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Oxford . Eine Zusammenstellung der Ansätze: Gunilla Budde, Sebastian Conrad, Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen . Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist ; Dominic Sachsenmaier, Jens Riedel, Schmuel Eisenstadt (Hg.): Reflections on Multiple Modernities. European, Chinese and Other Interpretations, Leyden ; Chris Lorenz: ‘Won’t you tell me where have all the good times gone?’ On the Advantages and Disadvantages of Modernization Theory for History, in: Rethinking History  (), S. –. Eine Zusammenstellung der Ansätze: Sebastian Conrad, Andreas Eckert, Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte, Frankfurt . Zur nationalen Grundlage jeglicher, besonders der deutschen Sonderwegstheorie und ihrer Verbindung zum Rückständigkeitskriterium: James J Sheehan: Paradise lost? The “Sonderweg” Revisited, in: Budde/Conrad/Janz, Transnationale Geschichte, S. –. Manfred Hildermeier: Deutsche Geschichtswissenschaft: im Prozess der Europäisierung und Globalisierung, in: zeitenblicke  (), http://www.zeitenblicke.de/// hildermeier/ [zuletzt aufgerufen am ..]. Michael Werner, Bénédicte Zimmermann: Beyond Comparison. Histoire croisée, Intercrossings and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory  (), S. – . Zimmermann und Werner antworteten hier auf einen Beitrag von Jürgen Kocka, der dezidiert für den Vergleich argumentierte: Jürgen Kocka: Comparison and Beyond, in: History and Theory  (), S. –. Michel Espagne: Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung, in: Wolfgang

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keiten aufmerksam, einen Standpunkt zu finden, der vollkommen neutral und gegenüber den Untersuchungsobjekten gleich nahe oder gleich entfernt liege. Eine tiefere Kenntnis eines der verglichenen Phänomene ergebe sich in der Regel allein aus der Forschungspraxis. Außerdem hätten Vergleiche häufig die Tendenz, die untersuchten Objekte in der Zeit „einzufrieren“, um die analytische Operation durchführen zu können. Daher sei es schwierig, die jeweils spezifische Dynamik einzufangen, und noch grundsätzlicher formuliert: ein Vergleich nötige dazu, eine Skala oder Ebene festzulegen, auf und an der gemessen werden soll. Allein die starre Festsetzung der Vergleichsgruppen könne zu falschen Ergebnissen führen.³¹ Hildermeiers Argument dafür, am Geltungsanspruch des Rückständigkeitsbegriffs festzuhalten, lag im Kern im immer noch fehlenden Ersatz für das Rückständigkeitskonzept. „Ein solcher [sei] aber nötig, da – neutral formuliert – Unterschiede der Zustände und Niveaus in den verschiedenen Dimensionen der historischen Realität nicht zu übersehen“ seien.³² Die neuen kulturwissenschaftlich angelegten Studien, so Hildermeier weiter, zeigten keinen Weg, wie die „Gretchenfrage nach dem Verhältnis zwischen Rußland und Europa […] zu lösen wäre.“³³ Führt man die Gedanken aus, mit denen hier ein Zusammenhang zwischen Europa, Russland und dem Rückständigkeitskonzept hergestellt werden soll, so heißt das: Zwischen Russland und Europa bestanden Niveauunterschiede, die – wenn man die Modernisierungstheorie als teleologisch angelegtes Konzept ablehnt – nicht als Rückständigkeit benannt werden können. Damit entstehe, so Hildermeier weiter, ein Wertungsdilemma.³⁴ Denn einerseits lassen sich Unterschiede zwischen Russland und Europa empirisch, etwa im Grad der Industrialisierung und Urbanisierung, ausmachen, andererseits kann man diese Unterschiede nicht mit dem aus der Modernisierungstheorie folgenden Begriff der Rückständigkeit begreifen. Hinzugefügt sei, dass dieser Begriff ausgesprochen wertend eine Totalität suggeriert, die von den Wirtschaftshistorikern streng ge-

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Schmale (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im . Jahrhundert, Innsbruck , S. –, hier S. . Werner/Zimmermann, Beyond Comparison, S. –. Verdeutlichen lässt sich dieser letzte Einwand etwa an der Schwierigkeit, in Deutschland eine Debatte zum Thema Laizität zu finden. Die zu parallelisierende Phänomene wären demnach Laizität auf der einen und Säkularisierung auf der anderen Seite. Hildermeier, Deutsche Geschichtswissenschaft, Abs. . Ebda., Abs. . Ebda., Abs. .

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nommen nicht beabsichtigt war. Sie beschrieben industrielle Entwicklungen und nicht Länder. Gegen das vermeintliche Wertungsdilemma lässt sich einwenden, dass die Differenzen zwischen Russland und Europa nicht notwendig als Rückständigkeit – im Sinn eines der Norm nicht genügenden Zustandes – beschrieben werden müssen. Peter der Große, sicherlich kein Leugner der Unterschiede, griff bei ihrer Beschreibung auf die Wandermetapher der Planeten, also einen zyklischen Vorgang zurück. Damit erklärte er die Unterschiede zwar in Abhängigkeit von der Zeit, doch nicht linear.³⁵ Die Niveauunterschiede als Rückständigkeit zu bezeichnen, ist nur möglich, wenn man den angelegten Maßstab als verbindlich akzeptiert. „Rückständigkeit“ ist nicht eine per se gegebene Eigenschaft der Phänomene. Wie im Folgenden dargestellt wird, setzt auch die Bedeutungserweiterung des Begriffs „Fortschritt“ und seiner Kehrseite, der Rückständigkeit, von einem zunächst nur auf die physische Fortbewegung beschränkten Bereich auf eine soziale Phänomene umfassende Ebene hin erst in einer bestimmten Zeit ein, und es ist aufschlussreich, diesen Wandel zu historisieren.

 Rückständigkeit und Fortschritt als Spiegelbegriffe der Sattelzeit Fortschritt und Rückständigkeit sind Kategorien, die bekanntlich in der Sattelzeit aufkamen.³⁶ Sie selbst sind historisch und sollten daher als solche gekennzeichnet werden. In Reformschriften, Reisebeschreibungen oder Handlungsanweisungen aus dem . Jahrhundert, die wie die Rückständigkeitsdebatten in Europa des . Jahrhunderts Normen und Abweichungen formulieren, wird man auch im „Westen“ vergeblich nach diesen Begriffen suchen, auch wenn die Berufung auf Vernunft und das Naturrecht – beide Bestandteile des Aufklärungsdiskurses – durchaus darin vorkommen.³⁷ Schaut man in Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Lexikon aller Wissenschaften und Künste – einen zentralen protestantischen Wissensspeicher des . Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum –, so findet man das Wort „rückständig“ nur im Zusammenhang mit finanziellen Transaktionen, so wie wir es heute noch als Zah³⁵ ³⁶

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Hildermeier, Privileg, S. . Robert Nisbet: History of the Idea of Progress, New Brunswick ; Reinhart Koselleck: ‚Neuzeit‘. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main , S. –, hier: S. , . Merio Scatolla: Naturrecht vor dem Naturrecht: Die Geschichte des ,ius naturae‘ vor dem . Jahrhundert, Tübingen .

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lungsrückstand kennen. Eine kulturelle Dimension ist nicht zu erkennen.³⁸ In Frankreich vollzog sich der Bedeutungswandel des Wortes retard von der Bezeichnung für einen finanziellen Rückstand, über spät auftretende Krankheitssymptome bis zum kulturellen und moralischen Rückstand um die Mitte des . Jahrhunderts.³⁹ Seit wann die Erfahrung von Differenz in Russland genau mit dem Begriff der Rückständigkeit belegt wurde und ob die Verwendung dieses Begriffes nicht auch als Teil anderer Debatten gelesen werden kann, scheint mir bisher nicht genau ausgemacht. Um dies sagen zu können, wäre eine Begriffsgeschichte der Rückständigkeit notwendig. Diese ist noch nicht geschrieben, und die Diskussion über die Brauchbarkeit eines an die Geschichtlichen Grundbegriffe angelegten Projektes dauert an.⁴⁰ Zur Verdeutlichung, warum ich eine solche Chronologie für wichtig halte, möge ein Beispiel dienen: Peter I. bzw. sein Chronist begründete die Veränderungen, die sich aus der Nachahmung anderer Länder ergäben, nicht mit der Absicht, Rückständigkeit zu überwinden, sondern mit der Aussicht auf Ruhm für Russland bei Umsetzung seiner Pläne und Scham, die andere empfinden würden, wenn das Vorhaben gelingt.⁴¹ Es ist unbestreitbar, dass seine Reformen in den Fortschritts- und Rationalitätsdiskurs der Frühaufklärung fallen und

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http://www.zedler-lexikon.de, Bd. , S., Bd. , S. , . [zuletzt aufgerufen am ..] Ulrich Johannes Schneider: „Rußland“ in „Zedlers-Universallexicon“, in: Dittmar Dahlmann (Hg.), Die Kenntnis Rußlands im deutschsprachigen Raum im . Jahrhundert: Wissenschaft und Publizistik über das Russische Reich, Göttingen , S. –. Julie Bouchard: Comme le retard vient aux Français, Villeneuve-d’Asqu , S. – ; David Griffiths: Eighteenth Century Perceptions of Backwardness: Projects for the Creation of a Third Estate in Catherinian Russia, in: Canadian American Slavic Studies  (), H. , S. –. Auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Begriffen auf der Ebene der Quellensprache wie auf der Ebene der wissenschaftlichen Terminologie hat kürzlich Martina Winkler hingewiesen: Martina Winkler: „Mein Besitz, mein Landgut, Erbland, Dorf oder wie auch immer Du es nennen möchtest.“ Eine russische Begriffsgeschichte des Eigentums, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –. Kritisch zum Projekt einer Begriffsgeschichte nach dem Muster der geschichtlichen Grundbegriffe: Walter Sperling: „Schlafende Schöne“? Vom Sinn und Unsinn der Begriffsgeschichte Russlands. Ein Diskussionsbeitrag, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –. Eine Antwort auf die kritischen Einwände: Martin Aust: Kommentar: Russländisches Imperium und Begriffsgeschichte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; Peter Thiergen: Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat, Köln/Weimar/Wien . Zitat bei Hildermeier, Privileg, S. .

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auch die Wege des Transfers sind hinlänglich bekannt.⁴² Ihr Zusammenhang mit den jeweils zeitspezifischen Affekten – Ruhm und Scham – ist aber noch nicht geklärt. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang deshalb die Anregung von Ute Frevert, Gefühle als Motive für Handlungen in der historischen Forschung ernst zu nehmen. Auch ließe sich die Äußerung des Chronisten auf Überschneidungen mit verwandten Überlegenheitsdiskursen untersuchen. Sie lediglich in einem Rahmen, der von den Dichotomien Russland – Europa oder Ost und West aufgespannt wird, zu erklären, würde die Aussage unnötig auf diese Gegensätze reduzieren.

 Rückständigkeit als Wahrnehmungskategorie historischer Akteure Doch Rückständigkeit ist/war nicht nur eine analytische, auf dem Vergleich basierende Kategorie der Forschung oder ein Konzept, mit dem Entwicklungsstufen von Gesellschaften bezeichnet werden können. Sie war (und ist) auch eine jeweils zeitgenössische Kategorie der Selbst- wie der Fremdwahrnehmung bzw. -zuschreibung und damit der Identitätsbildung.⁴³ Ein potentielles Argument, den Begriff beizubehalten, könnte also lauten: Da die Zeitgenossen von Rückständigkeit sprachen, dürfen Historiker diese Beschreibungskategorie nicht übersehen oder mit dem Hinweis auf ihre „falsche“, normative Verhaftung ablehnen, denn damit würden sie Menschen als Subjekten von Geschichte ihre Bedeutung absprechen. Wahrnehmungen von Zeitgenossen sind für Historiker unerlässlich und ihre Rekonstruktion gehört zum Kern historischer Forschung. Und in der Tat ist die Analyse von Rückständigkeit, verstanden als Analyse von Selbst- und Fremdzuschreibungen gerade für die osteuropäische Geschichte ein fruchtbares Untersuchungsfeld. Spätestens in dem Moment, in dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont auseinanderklafften, also seit der Sattelzeit, spielt Rückständigkeit eine zentrale Rolle in den Selbstverständigungsdebatten einer zusehends globaleren Welt:⁴⁴ Immer war man auf der Suche nach Rückständigen und Rückständigkeiten und man fand beides fast überall: Friedrich Nicolai fand ⁴²

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Mechthild Keller: Wegbereiter der Aufklärung: G. W. Leibniz’ Wirken für Peter den Großen und sein Reich, in: dies. (Hg.): Russen und Russland aus deutscher Sicht, München –, S. – und –. Darauf hat Hildermeier ebenfalls hingewiesen: Osteuropa als Gegenstand, S. . Michael Branch (Hg.): Defining Self: Essays on Emergent Identities in Russia Seventeenth to Nineteenth Centuries, Helsinki . Reinhart Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt , S. –.

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sie im katholischen Bayern, Berliner Minister in Pommern, Missionare in der Südsee, Städter auf dem Lande, Aktivistinnen bürgerlicher Frauenvereine in den Wohnungen der Unterschichten.⁴⁵ Dass in diesem Selbstverständigungsdiskurs nationale Kategorien lange Zeit fast keine Rolle spielten, soziale dafür umso wichtiger waren, zeigt die Untersuchung von Bernhard Struck, die mit dem Ansatz eines kontrastiven Vergleichs bisherige Vorstellungen über die mentale Karte Europas korrigiert hat. Hatte Larry Wolff mit seiner Analyse der Konstruktion eines spiegelbildlichen Anderen (Osteuropas) durch den Diskurs der französischen und englischen Aufklärung noch angenommen, die Zuschreibung von Zivilisation und Barbarei folge einer West-Ost-Linie⁴⁶, so konnte Bernhard Struck mit seiner Untersuchung deutscher Reiseberichte über Frankreich und Polen zeigen, dass die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei bis zur Mitte des . Jahrhunderts nicht zwischen West und Ost, sondern zwischen Stadt und Land, zwischen gebildet und ungebildet verlief.⁴⁷ Die Suche und das Auffinden von Rückständigkeit waren gesamteuropäisch, sie waren keine Besonderheiten des Zarenreiches und seiner spezifischen Lage zwischen dem lateinischen Westen und orthodoxen bzw. nicht christlichen Osten. Auch im von Petersburg aus gesehen fortschrittlichen Westen, in Polen, diskutierten die Eliten, wie sie ihrem Land zu einer ,richtigen‘ Zivilisation verhelfen könnten.⁴⁸ Ihre eigene Zugehörigkeit zu Europa stand aber – anders als in Russland – weder von außen noch von innen gesehen – jemals zur Debatte.⁴⁹ ⁴⁵

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Friedrich Nicolai: Unter Bayern und Schwaben. Meine Reise im deutschen Süden , Berlin ; Catherine Hall: Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination –, Cambridge ; Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.): Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische Welt, Göttingen ; Dirk Mellies: Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im . Jahrhundert, Göttingen , S. ; Griffiths, Eighteenth-Century, S. –. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, CA . Wolffs These war bereits durch die Analyse von Lemberg relativiert: Hans Lemberg: Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im . Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –. Auf einen Fall der Konstruktion von „inneren Fremden“ macht auch Richard Hölzl aufmerksam: Richard Hölzl: Landschaftliche Barbarei. Mensch und Umwelt im zivilisatorischen Blick der Spätaufklärung, Themenportal Europäische Geschichte. (), http://www.europa.clio-online.de//Article= [zuletzt aufgerufen am ..], bes. Absatz . Bernhard Struck: Nicht West nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen  und , Göttingen . Jerzy Jedlicki: A Suburb of Europe. Nineteenth Century Polish Approaches to Western Civilization, Budapest . Janusz Tazbir: Poland as the Rampart of Christian Europe. Myth and Historical Reality, Warschau .

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.  Fremdwahrnehmung Rückständigkeit war als zeitgenössische Beschreibungskategorie für ökonomische, aber auch kulturelle Verhältnisse nicht allein dem Zarenreich vorbehalten. Galizien, Spanien, der „Balkan“ kamen, je nach Position der Urteilenden, als potentielle Kandidaten in Frage.⁵⁰ Auf der Londoner Weltausstellung von , dem Paradefeld britischer Freihandelsvorstellungen und industrieller Leistungsschau, wurden neben Russland das Osmanische Reich, Österreich, Spanien und Neapel als rückständig eingestuft.⁵¹ Folgte man der Modernisierungstheorie und Gerschenkron, so könnte man diese Wahrnehmungen als „richtige“, weitsichtige Einschätzungen der Zeitgenossen klassifizieren, die an der Spitze der Industrialisierung stehend das Defizit umso klarer sahen. Die Übereinstimmung zwischen beiden verwundert nicht. Denn sowohl die Londoner Freihandelsprotagonisten, die sich im Komitee für die Vorbereitung der Ausstellung zusammenfanden, als auch der Industrialisierungshistoriker Gerschenkron machten das gleiche Kennzeichen, das Fehlen oder Vorhandensein von Industrie, zur Grundlage ihres Urteils über (relative) Rückständigkeiten.⁵² Dass ausgerechnet die industrielle Entwicklung und nicht etwa das parlamentarische System oder die empirische Philosophie zum vorrangigen Differenzkriterium bzw. Ausstellungsobjekt gemacht wurden, sagt vieles über den sich vollziehenden Wandel in der Konstruktion von Identität im viktorianischen ⁵⁰

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So galt Galizien innerhalb der Habsburger Monarchie als rückständig: Hans-Christian Maner (Hg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im . und . Jahrhundert: Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens, Münster ; Marcin Siadkowski: The Land Exhibition in Lemberg (Lwów, Ľviv) in , Galicia and Schlachzizen in the German Political Discourse in Vienna, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung  (), H. –, S. –; Dietlind Hüchtker: Der „Mythos Galizien“. Versuch einer Historisierung, in: Michael G Müller, Rolf Petri (Hg.): Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg , S. –. Auch die deutsche Sonderwegsdebatte basierte auf der Annahme der Rückständigkeit: Sheehan, S. ; Marija Todorova: Imagining the Balkans, New York ; Dies: Der Balkan als Analysekategorie. Grenzen, Raum, Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –. Eine kürzlich erschienene Studie untersucht den Rückständigkeitsdiskurs für Pommern: Mellies, Modernisierung. Zur Verwendung des Begriffs in den politisch-ökonomischen Schriften seit der Aufklärung, vgl. Adamovsky. Anthony Swift: Russia and the Great Exhibition of : Representations, Perceptions, and a Missed Opportunity, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), H. , S. –, hier . Zu den liberal-ökonomischen und sozialutopischen Vorstellungen der Ausstellungsmacher: James Buzard, Joseph W. Childers, Eileen Gilooly: Introduction, in: James Buzard (Hg.): Victorian Prism: Refractions of the Crystal Palace, Charlottesville, VA , S. –.

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England aus. Genügte im . Jahrhundert noch der Hinweis auf liberty und die parlamentarische Tradition, um die Differenz zum absolutistischen Festland zu manifestieren⁵³, so reichte dies im . Jahrhundert nicht mehr aus. Denn nicht England, sondern Frankreich galt jetzt als das Land der Freiheit und Revolution. Aber Frankreich war nicht das Land der Industrie. Die Selbstdefinition als Pionier der Industrialisierung und die Zuschreibung von Rückständigkeit an alle, die dieses Kriterium nicht erfüllten, war also ein Akt der Identitätskonstruktion durch Distinktion, und ihre Konstrukteure stammten nicht zufällig aus den Reihen der von Freihandel und Industrie profitierenden Eliten.⁵⁴ Dass Rückständigkeit nicht in erster Linie eine objektive, eindeutig bestimmbare Eigenschaften der Objekte wiedergebende, sondern eine mit einer bestimmten Absicht konstruierte Kategorie war, die sehr viel über ihre Architekten sagt, zeigt ein Blick auf zeitgenössische Äußerungen anlässlich derselben Ausstellung. In den Kommentaren der Kataloge konkurrierten Russland, das Osmanische Reich und China um den ersten Platz auf der Skala der Rückständigkeit. Wem der Platz letztlich zugewiesen wurde, scheint angesichts der Unterschiede zwischen den genannten Imperien auf den ersten Blick willkürlich. Auf den zweiten Blick erweist sich diese Zuordnung jedoch als eine Folge der Machtverhältnisse. Denn immerhin durfte das Zarenreich, dessen militärische Bedeutung in Großbritannien durchaus wahrgenommen wurde, selbst darüber entscheiden, was es im Crystal Palace ausstellen wollte, während China neun Jahre nach dem Ersten Opiumkrieg über die Gegenstände repräsentiert wurde, die englische Sammler zufällig in ihren Häusern fanden.⁵⁵ Ein nicht nur loser Anschluss an Foucaults Diskussion von Wissen und Macht liegt hier also nahe.⁵⁶ Auch auf der Pariser Weltausstellung von  entsprach die Einschätzung ⁵³ ⁵⁴

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Nicholas Henshall: The Myth of Absolutism: Change and Continuity in Early Modern European Monarchy, London . Eric J. Evans: The Shaping of Modern Britain: Identity, Industry and Empire, –, London , S.; Wolfram Kaiser: Inszenierung des Freihandels als weltgesellschaftliche Entwicklungsstrategie: Die „Great Exhibition“  und der politische Kulturtransfer nach Kontinentaleuropa, in: Franz Bosbach (Hg.), Die Weltausstellung von  und ihre Folgen.The Great Exhibition and its Legacy, München , S. –. Francesca Vanke: Degrees of Otherness: The Ottoman Empire and China at the Great Exhibition of , in: Jeffrey Aaron Auerbach (Hg.), Britain, the Empire and the World at the Great Exhibition of , Aldershot , S. –. Maria Ciesla-Korytkowska: The Slavs in the Eyes of the Occident, the Occident in the Eyes of the Slavs, Boulder, CO . Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main , S. .

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Russlands in den französischen und englischen Kommentaren dem seit Astolphe de Custines La Russie en  weit verbreiteten Stereotyp eines barbarischen Landes. Daran änderte auch nichts, dass Russland nur über privat organisierte Exponate dargestellt wurde, seine Teilnahme also dem zivilgesellschaftlichen Engagement der Ausstellenden zu verdanken war.⁵⁷ Denn die Regierung befürchtete, mit einer offiziellen Teilnahme die Revolution aufzuwerten. Aus demselben Grund war das Deutsche Reich gänzlich ferngeblieben.  dagegen, als die autokratische Regierung die Präsentation kontrollierte, reagierte die französische Presse deutlich positiver. Denn jetzt, nach Abschluss der russisch-französischen Allianz , galt das Zarenreich als vielversprechender Partner auch für die französische Wirtschaft.⁵⁸ Dieses Beispiel zeigt, dass die Zuschreibung von Rückständigkeit an politische Konjunkturen gebunden und von objektiven Kennzeichen abgelöst war. Und es macht auch deutlich, dass sie in Westeuropa an eine bestimmte soziale Schicht bzw. an bestimmte Axiome der Weltdeutung gebunden, mithin ein liberal-bürgerliches Projekt war.⁵⁹ Sie als Analysekategorie der Forschung zu übernehmen, hieße, den Diskurs fortzuschreiben, statt ihn zu analysieren. .  Selbstwahrnehmung Rückständigkeit war nicht nur, wie oben erläutert, ein Akt der Fremdzuschreibung. In Turgenevs Roman „Väter und Söhne“, veröffentlicht , fällt das Wort mehrfach und zwar als Selbstbeschreibung: „Da stellt sich heraus, dass ich zurückgeblieben (otstalyj) bin und er [Arkadij, sein Sohn M. R.] weiter fortgeschritten ist und wir einander nicht verstehen können“, lässt der Autor den als Farmbesitzer und damit modern wirtschaftend eingeführten Nikolaj Petrovič Kirsanov sagen.⁶⁰ Turgenev deckt mit „rückständig“ – durchaus in ironischer Distanz – ein weites Feld von Überzeugungen und Praktiken ab: Wer Byron und Shakespeare liest, ist rückständig, wer sich an Ludwig Büchner hält, fort⁵⁷

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Laurence Aubin: La Russie á l’Exposition Universelle de , in: Cahiers du monde russe  (), H. , S. –; David C. Fisher: Exhibiting Russia at the World’s Fairs –, Bloomington, Indiana, IN  (Ph.D. Diss.), S. . Fisher, Exhibiting Russia, S. . Michael G. Müller: Die Historisierung des bürgerlichen Projekts – Europa Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte  (), S. –. Mit einem sehr breiten Verständnis von Liberalismus: Ezequiel Adamovsky: Euro-Orientalism. Liberal Ideology and the Image of Russia in France – , Oxford , S. . Iwan S. Turgenjew [Ivan Sergeevič Turgenev]: Väter und Söhne, München  [Erstausgabe ], S..

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schrittlich; George Sand erscheint als „eine rückständige Frau“, die „nie etwas von Embryologie gehört“ [hat], und Moskau kann mit Paris nicht mithalten.⁶¹ Nicht nur Schriftsteller, auch russische Staatsmänner, Beamte, Statistiker und Ärzte bezeichneten ihr Land als rückständig und bemühten sich, diesen Zustand zu objektivieren und dann zu ändern.⁶² Die Kritik galt der Autokratie als politischem System, dem Mangel an „staatsbürgerlicher“ Betätigung und Bildung, der schlechten gesundheitlichen Versorgung und insbesondere der Korruption. Das semantische Feld war weit und die Kategorie damit in hohem Maße handlungsleitend. Die Feststellung von Rückständigkeit löste, wenn die Phänomene einmal als solche und nicht mehr als des Bewahrens werte Tradition wahrgenommen wurden, den Wunsch nach Veränderung aus. Sie konnte aber auch, das hat Manfred Hildermeier in seiner Analyse dieser Denkfigur eindrücklich gezeigt, positiv umgedeutet werden. Die Umwertung der Rückständigkeit als Eigenheit (samobytnost’) bis zur ihrer Steigerung als slavische Mission gegenüber dem Westen (und dem Osten) ist als Kompensation gedeutet worden.⁶³ Und tatsächlich lässt etwa Dostoevskijs Aussage, die er vor dem Hintergrund der Expansion des Zarenreiches nach Zentralasien traf, eine solche Deutung mehr als plausibel erscheinen: „In Europa waren wir Gnadenbrotfresser und Sklaven, nach Asien kommen wir als Herren. In Europa waren wir Tataren, in Asien aber sind wir Europäer. Unsere Mission, unsere zivilisatorische Mission in Asien wird unseren Geist verlocken und uns dorthin ziehen, wenn nur erst die Bewegung angefangen hat“.⁶⁴ ⁶¹ ⁶²

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Ebda., S. . Grundlegend zur Wissensproduktion mittels Statistik: Erich Bödeker: On the Origins of ‘Statistical Gaze’. Modes of Perception, Forms of Knowledge and Ways of Writing in the Early Social Sciences, in: Peter Becker, William Clark (Hg.): Little Tools of Knowledge. Ann Arbor, MI , S. –. Andrzej Walicki: Russia, Poland, and Universal Regeneration: Studies on Russian and Polish Thought of the Romantic Epoch, Notre Dame, IN . Fjodor Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. München  [], S. . Zum Charakter der russischen Herrschaft in Zentralasien und den Grenzen ihrer Durchsetzung vgl. Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent –, Bloomington, Indiana, IN ; Alexander Morrison: British Rule in Samarkand –. A Comparison with British India, Oxford . Auf die Grenzen der Zivilisierungsmission und die Notwendigkeit, das von Edward Said entwickelte Konzept des Orientalismus in Bezug auf das Zarenreich zu differenzieren, haben zuletzt Schimmelpenninck und Tolz hingewiesen: David Schimmelpenninck van der Oye: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven ; Vera Tolz: Russia’s own Orient: The Politics of Identity and Oriental Studies in Late Imperial and Early Soviet Period, Oxford .

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Die Umwertung von Rückständigkeit in eine Zivilisierungsmission eigener Art leuchtet als Kompensationsleistung durchaus ein. Doch es finden sich genügend Belege dafür, dass Zeitgenossen Russland, seine Institutionen, sein politisches System – und damit, wie es scheint, sich selbst – als rückständig sahen. Warum aber sollte jemand sich selbst eine Eigenschaft zuschreiben, die ihn eigentlich als ein Mangelwesen entwerteten müsste? Genau genommen setzte der Befund, rückständig zu sein, den Sprecher bereits in eine überlegene Position. Denn Rückständigkeit lässt sich nur dann als solche benennen, wenn ihr Gegenstück, der Fortschritt, bekannt ist und als erstrebenswert betrachtet wird. Wer also Rückständigkeit im Zarenreich fand, fand sie nicht bei sich selbst, sondern bei den anderen: den Gestrigen, den Ungebildeten, den Bauern, den Massen, den inorodcy.⁶⁵ Was also für die Fremdzuschreibung gilt, die Tatsache, dass sie ein Mittel der Identitätskonstruktion und Distinktion ist, lässt sich auch für die Selbstzuschreibung sagen: Allen, die sich die Überwindung von Rückständigkeit auf die Fahnen schrieben, sicherte ihre Entdeckung eine Position als fortschrittlich, gebildet, modern, und sie verschaffte ihnen im Osten Europas, wo die für den Westen entwickelten Kategorien bürgerlich-nicht bürgerlich nur begrenzt anwendbar sind, einen Platz in der Gruppe der Gebildeten, der „aufgeklärten Bürokraten“ oder der intelligencija.⁶⁶ Die Entdeckung der „fremden“ Rückständigkeit eröffnete zugleich eigene Handlungsräume, ermöglichte Aktionen, legitimierte Zivilisierungsmissionen in unterschiedlichen geographischen und sozialen Räumen. So konnte der Orientalist Grigor’ev, seinen Dienst in Orenburg verrichten, geleitet von der Überzeugung, russische Aufklärung in den Osten zu bringen, zugleich aber enttäuscht darüber, dass seine Expertise in der Zentrale wenig beachtet wurde.⁶⁷ ⁶⁵

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Michael Khodarkovsky: Ignoble Savages and Unfaithful Subjects. Constructing NonChristian Identities in Early Modern Russia, in: Daniel R. Brower, Edward Lazzerini (Hg.): Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, –, Bloomington, IN , S. –; John W. Slocum: Who, and When, Were the Inorodtsy? The Evolution of the Category of ‘Aliens’ in Imperial Russia, in: The Russian Review  (), S. – . Zum Verhältnis zwischen Volk und intelligencija: Nathaniel Knight: Was the Intelligentsia Part of the Nation? Visions of Society in Post-Emancipation Russia, in: Kritika  (), S. –. Richard Pipes (Hg.): The Russian Intelligentsia, New York ; Tomasz Zarycki: Kapitał kulturowy, Inteligencja w Polsce in w Rosji, Warschau ; Ryszarda Czepulis-Rastenis (Hg.): Inteligencja polska w XIX i XX wieku, Warschau . Magdalena Miciska: Inteligencja na rozdrożach:  – , Warschau ; Denis A. Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz: zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen . Nathaniel Knight: Grigor’ev in Orenburg, –: Russian Orientalism in the Ser-

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Lehrer und Priester gründeten Zeitschriften und starteten Kampagnen, um den „dunklen Massen“ das Licht der Bildung zu bringen.⁶⁸ Ärzte, wie die Stadtduma-Ärztin Ekaterina Slanskaja, arbeiteten mit hohem persönlichem Einsatz unter widrigsten Umständen, doch auch sehr darauf bedacht, ihre Autorität und distinkte Position immer wieder zu behaupten.⁶⁹ Der Vorwurf der Rückständigkeit war auch innerhalb der privilegierten Schichten ein Mittel, um potentielle Konkurrenten von der Beteiligung an Entscheidungen auszuschließen. So bezichtigte der aufgeklärte Beamte Nikolaj Miljutin  den Adel – wie sich herausstellen sollte zu Unrecht –, nur vom Eigeninteresse geleitet und unterentwickelt zu sein, um dessen Beteiligung an der Vorbereitung der Großen Reformen zu vereiteln.⁷⁰ Der Topos der Rückständigkeit war, wie die Beispiele zeigen, also höchst variabel. Wie sehr die Zuschreibung von Rückständigkeit die eigene Identität stabilisierte, konnte Yanni Kotsonis mit seiner Untersuchung der bäuerlichen Kooperativen nach  zeigen. Die Überzeugung der Agronomen und Statistiker, Bauern seien passiv, zu eigener Organisation, rationalem Handeln und Entwicklung unfähig, legitimierte ihre eigene „Fürsorgepflicht“, d. h. ständige Kontrolle und trug zu einer Naturalisierung der Rückständigkeit bei, mit der die Bauern diskursiv auch aus der Vorstellung der Nation ausgeschlossen, wie Fremde behandelt werden konnten.⁷¹

 Der Westen, Polen, Russland und die Rückständigkeit Ein besonders fruchtbares Feld für die Untersuchung der Konstruktion von Rückständigkeit ist das polnisch-russische Verhältnis und das Dreiecksverhältnis zwischen Polen, Russland und dem Westen, genauer gesagt der Eliten, die

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vice of Empire?, in: Slavic Review  (), S. –; ders.: On Russian Orientalism. A Response to Adeeb Khalid, in: Kritika  (), S. –. Małgorzata Abassy: Dylemat Rosja Zachód, Typowe postawy inteligencji wobec ludu w XIX w., in: Slavia Orientalis  (), H. , S. –. Toby Clyman (Hg.): Russia through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia. New Haven, CT , S. –, hier S. –. Bruce Lincoln: In the Vanguard of Reform: Russia’s Enlightened Bureaucrats, –, DeKalb, IL , S. . Yanni Kotsonis: Making peasants backward: Agriculture cooperatives and the Agrarian Question in Russia –, Houndmills/Basingstoke , besonders, S. –. Kotsonis betont hier den Unterschied zum polnischen Fall, wo die Bauern ausdrücklich für die Nation gewonnen werden sollten. Vgl. auch: Stephen Frank, Confronting the Domestic Order: Rural Popular Culture and Its Enemies in fin de siècle Russia, in: Stephen Frank, Mark D. Steinberg (Hg.): Cultures in Flux: Lower-class Values, Practices, and Resistance in Late Imperial Russia, Princeton, NJ , S. –.

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sich in den jeweiligen Ländern an den öffentlichen Debatten beteiligten, zunehmend eine nationale Identität entwickelten und sich nicht mehr vorwiegend ständisch definierten. An der Veränderung der Positionen, die diesen Ländern auf der Skala der Rückständigkeit zugeschrieben wurden, bzw. die sie sich selbst zuschrieben, lässt sich nicht nur die Relativität, sondern auch die Fluidität des Begriffs demonstrieren. Polen lag von Moskau oder Petersburg aus gesehen nicht nur geographisch im Westen. Es galt auch bis zu Karamzins konservativ-patriotischer „Istorija gosudarstva rossijskogo“ kulturell und zivilisatorisch als fortgeschritten.⁷² Polnische Eliten aller drei Teilungsgebiete dagegen maßen den Zustand ihres Landes seit der Mitte des . Jahrhunderts verstärkt an den Verhältnissen, die sie im westlichen Ausland vorfanden oder imaginierten, und sie fanden die eigene Lage in Bereichen, die sie der Zivilisation zurechneten, zunehmend unbefriedigend. Zugleich betonten sie die Unterschiede zum Zarenreich und waren wichtige Vermittler des Bildes von der russischen Barbarei in Westeuropa.⁷³ Das Verhältnis Frankreichs und der deutschen Länder, um die wichtigsten Länder im Westen zu nennen, gegenüber Polen, einem Land, das es zwar nicht mehr als souveränen Staat gab, dessen Anspruch auf Souveränität die europäische Öffentlichkeit dennoch immer wieder beschäftigte, änderte sich im Verlauf des . Jahrhunderts und es lässt sich häufig als eine Funktion ihres Verhältnisses zu Russland betrachten. Der Wahrnehmung Russlands als Chance für neue Gesellschaftsentwürfe, wie sie Voltaire eingeleitet hatte, folgte das Bild von zivilisatorischer Leere, das wiederum von romantischen Vorstellungen einer Alternative zum kapitalistischen System abgelöst wurde.⁷⁴ Die polnische Aufklärung hatte sich an den französischen und englischen Vorbildern orientiert, und ihre gemäßigt-konservativen Vertreter suchten praktische Politikberatung bei den französischen philosophes.⁷⁵ Frankreich blieb auch über die ⁷²

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Daniel Beauvois: Lumières et société en Europe de l’est : l’université de Vilna et les écoles polonaises de l’Empire russe (–), Lille ; Leonid Gorizontov: „Pol’skaja civilizovannost’“ i „russkoe varvarstvo“: osnovanija dlja stereotipov i avtostereotipov, in: Slavjanovedenie (), H. , S. –, hier ; Natalja Fiłatowa: Polska w rosyjskiej myśli historycznej, in: Agnieszka Magdziak-Mniszewska, (Hg.): Polacy i Rosjanie.  kluczowych pojęć, Warschau , S. –. Das gilt vor allem für die Gruppe der Emigranten nach dem Aufstand von /. Andre Liebich: Poles unlike Russians. Drawing distance from Paris, in: Michael Branch (Hg.): Defining Self: Essays on Emergent Identities in Russia Seventeenth to Nineteenth Centuries, Helsinki , S. –. Andrzej Walicki: Russia, Poland, and Universal Regeneration. Jean-Jacques Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne. Paris ; Gabriel Mably: Du Gouvernement et des lois de Pologne, Paris  (deutsch: Über die Re-

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Napoleonische Zeit hinweg das wichtigste Objekt polnischer Hoffnungen auf die Wiedergewinnung der Souveränität. Aus der Wahrnehmung der französischen Liberalen war Polen in der zweiten Jahrhunderthälfte, bis auf wenige Ausnahmen, weitgehend verschwunden oder es wurde als Teil Russlands, und zwar häufig als ein nicht distinkter Teil, gesehen.⁷⁶ Einem Teil der Konservativen wie der Sozialisten diente der Osten als Projektionsfläche für ihre Utopien. Balzac z. B., der die Ukraine und Russland  bereist hatte, schwärmte für den blinden Gehorsam des russischen Volkes und stilisierte sich in seinen Briefen an Ewelina Hańska zu einem „mougik“.⁷⁷ In Deutschland konkurrierten Vorstellungen von der polnischen Wirtschaft als Inbegriff mangelnder Ordnung und nicht feststellbarem Fortschritt mit der Wertschätzung der Liberalen für polnischen Heldenmut im Kampf gegen „russische Tyrannei.“⁷⁸ „Vor des Zaren finsterem Angesicht // Beugt der freiheitslie-

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gierung und die Gesetze Polens), in: Hans Erich Bödeker und Peter Friedemann (Hg.): Gabriel Bonnot de Mably. Politische Texte –, Baden-Baden , S. –; Vgl.: Jerzy Michalski: Rousseau i sarmacki republikanizm, Warschau ; ders.: Sarmacki repubikanizm w oczach Francuza. Mably i konfederaci barscy, Wrocław ; Stanisław Fiszer: L’image de la Pologne dans l’œuvre de Voltaire, Oxford . Zu den Verflechtungen zwischen der polnischen und der europäischen Aufklärung vgl.: Jean Fabre: Stanislaus-August Poniatowski et l’Europe des lumières. Étude de cosmopolitisme, Paris . Die wenig distinkte Position Polens im französischen Diskurs des . Jahrhunderts spiegelt sich auch in der Forschungsliteratur wider. Es gibt kaum Arbeiten, die dem französischen Polenbild gewidmet sind. Dem  aus einer Konferenz hervorgegangenen Sammelband sind keine weiteren Studien gefolgt: Marthe Molinari, Dominique Triaire (Hg.): Pologne-France: la vision de l’autre, Paris . Der kürzlich erschienene Sammelband stellt lediglich bekannte Knotenpunkte polnisch-französischer Beziehungen überblickartig dar: Mariusz Mróz, Joanna Orzeł (Hg.): Kontakty, stosunki, tradycje polskofrancuskie od XVI do poczatków XX wieku, Warschau . Für die Gleichsetzung von Polen und Russland exemplarisch: François-Louis Escherny: La philosophie de la politique, Paris , Bd. . S.–; Adolf Chaisés: La question polonaise et européenne. Le congrés et Napoléon III., Paris ; Michel Folomrey: La Russie et la Pologne, Paris . Adamovsky, Euro-Orientalism, S. . Hubert Orłowski: „Polnische Wirtschaft.“ Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden ; Hans-Jürgen Bömelburg: „Polnische Wirtschaft“. Zur internationalen Genese und zur Realitätshaltigkeit der Stereotypie der Aufklärung, in: ders., Der Fremde im Dorf: Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte. Rex Rexheuser zum . Geburtstag, Lüneburg , S. –; Stefan Kieniewicz: Die Polenbegeisterung in Westeuropa, in: Adolf Birke (Hg.): Die Herausforderung des europäischen Staatensystems: nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus, Göttingen , S. –; Alix Landgrebe: Wenn es Polen nicht gäbe, müßte es erfunden werden. Die Entwicklung des polnischen Nationalbewußtseins im europäischen Kontext von  bis in die er Jahre, Wiesbaden .

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bende Pole sich nicht“, dichtete der deutsche Liberale Siebenpfeiffer in seinem Hambacher Lied.⁷⁹ Der Umschwung hin zur Essentialisierung vermeintlich nationaler Eigenschaften aus dem Umfeld des Stereotyps der ‚polnischen Wirtschaft‘ vollzog sich in den er Jahren im Zuge der nationalen Emphase und verfestigte sich im Kaiserreich – um die antikatholische Komponente erweitert – zur Zuschreibung völliger kultureller Fremdheit.⁸⁰ „Es gibt keine Rasse“ – ließ Gustav Freytag den Prinzipal in seinem  erschienenen „Soll und Haben“ sagen – , „welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische.“⁸¹ In der Wahrnehmung der konservativen und liberalen Öffentlichkeit beider Länder lag Polen also an der Peripherie europäischer Kultur oder gar außerhalb und war mental dem Gebiet der Rückständigkeit zugeordnet. Wie sah in diesem Kontext das Selbstbild der polnischen Eliten aus?⁸² Spielte die Kategorie der Rückständigkeit in der Selbstwahrnehmung überhaupt eine Rolle? .  Fortschrittsdebatten im dreigeteilten Polen Rückständigkeit oder das Adjektiv rückständig (zacofany, zacofanie) ist in den polnischen Lexika des beginnenden . Jahrhunderts nicht zu finden. Und selbst in der äußerst kritischen Analyse der Verhältnisse in Galizien, dem  erschienenen, toposbildenden Werk des Ökonomen und Unternehmers Sta⁷⁹

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Philipp Jacob Siebenpfeiffer: Hambacher Lied. Ein Lied für Handwerksburschen, in: Johann Georg August Wirth (Hg.): Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Neustadt an der Haardt , . Heft, S. . Zur Funktion der Polenfreundschaft für den deutschen Liberalismus vgl.: Dieter Langewiesche: Humanitäre Bewegung und politisches Bekenntnis. Polenbegeisterung in Südwestdeutschland –, in: Dietrich Beyrau (Hg.): Blick zurück ohne Zorn. Polen und Deutsche in Geschichte und Gegenwart, Tübingen , S. –. Struck, S. –; Christian Pletzing: Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutsch und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen –, Wiesbaden , S. –; Philipp Ther: Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Jürgen Osterhammel (Hg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt –, Göttingen , S. –. Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in  Büchern, München , S. ; Kristin Leigh Kopp: Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space, Ann Arbor, MI . Andrzej Walicki: Poland between East and West: The Controversies over Self-Definition and Modernization in Partitioned Poland, Cambridge ; Alexander Maxwell: The East-West Discourse: Symbolic Geography and its Consequences, Oxford , S. – .

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nisław Szczepanowski, erscheint das Wort nur ein einziges Mal.⁸³ Den Gegenbegriff der Rückständigkeit, den Fortschritt, verwendete Bogumił S. Lindes Wörterbuch der polnischen Sprache aus dem Jahr  in den Bedeutungserklärungen von Lauf, Gang oder Wachstum. Die nicht mehr nur wörtliche Bedeutung scheint im allgemeinen Sprachgebrauch gerade erst im Entstehen begriffen gewesen zu sein.⁸⁴ Mitte des . Jahrhunderts wurde Fortschritt auch lexikographisch in seiner gesellschaftlichen Dimension fassbar.⁸⁵ Die in der polnischen Emigration wie in den einzelnen Teilungsgebieten gegen Ende des . Jahrhunderts – nach dem Verlust der Souveränität – verstärkt wieder aufgenommene politische Debatte um die Zukunft des Landes kreiste nicht so sehr um das Gegensatzpaar Fortschritt-Rückständigkeit. Sie konzentrierte sich vielmehr auf den umfassenden Begriff der Zivilisation.⁸⁶ Westliche, d. h. vor allem französische Zivilisation galt im konservativen und zum Teil russophilen Lager als pseudofortschrittlich und die Alternative wurde, ähnlich wie bei den russischen Slawophilen, in der Bauerngemeinde und in der Stärkung der Monarchie gesehen. Die Gegensätze, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Möglichkeiten verhandelt wurden, die das eigene Land auf dem Weg in die Zukunft zu wählen hätte, hießen natürliche versus künstliche Entwicklung.⁸⁷ Das westliche Modell der Industrialisierung und Verbürgerlichung galt nicht grundsätzlich als nachahmenswert. Vor allem bei den in Frankreich lebenden Emigranten fanden sich auf der radikal linken wie auf der reaktionären Seite nicht wenige Stimmen, die in dem agrarischen Charakter des eigenen Landes einen Vorteil für zukünftige Entwicklungen sahen, ja sogar einen slawischen Messianismus vertraten und die Erlösung des Westens durch christliche Werte und den slawischen Geist propagierten.⁸⁸ Gemeinsame, in der Roman-

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Stanisław Szczepanowski: Nędza Galicji w cyfrach. Lwów , S. XV. Das verwandte ciemnota findet sich dreimal: S. XV, , . Vgl. Dietlind Hüchtker: Der „Mythos Galizien“. Versuch einer Historisierung, in: Michael G. Müller, Rolf Petri (Hg.): Die Nationalisierung vonGrenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen, Marburg , S. –. Samuel Bogumił Linde: Słownik języka polskiego, Warschau –, http://poliqarp. wbl.klf.uw.edu.pl/en/slownik-lindego [zuletzt aufgerufen am ..]. Aleksander Zdanowicz u. a., Słownik języka polskiego, Vilnius , S. . Hier wird Fortschritt auch als „Streben nach Wahrheit und dem allgemeinen Wohl“ bezeichnet. Ebda., Cywilizacja: okrzesanie, uobyczajenie, stan oświecenia narodu, S. . Jedlicki, S. –. Walicki: S. –, ; ders.: Andrzej Mickiewicz and Polish romantic messianism, in: Dialogue and Universalism: Metaphilosophy as the Wisdom of Science, Art, and Life  (), S. –.

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tik wurzelnde Grundlagen der russischen und polnischen Zivilisationsdebatten lassen sich hier deutlich erkennen. Die Befürworter einer langsamen Industrialisierung verwiesen mit ihren Aufrufen zu mehr Fleiß, Initiative, Handel und Gewerbe nicht nur auf das Beispiel der Nachbarländer, sondern auch auf die eigene, ehemals glorreiche Vergangenheit. „Jawohl, das polnische Volk war ehemals zahlreich, gesittet, geordnet und wohlhabend […] Lasst uns die Hoffnung nicht verlieren. Unser Vaterland kann sich leicht aus seinem Elend erheben.“⁸⁹ Der tatsächlich neuen liberalen Doktrin wurde so diskursiv die Weihe der Tradition verliehen und das Odium des Fremden genommen. England, das am stärksten industrialisierte Land in Europa, galt auch den Liberalen in Polen als ein aufmerksam zu beobachtendes Laboratorium. Allerdings sahen sie darin kein obligatorisches Entwicklungsmuster. Kritik an den sozialen Folgen der Industrialisierung kam nicht nur von Seiten der Konservativen, sondern auch von den liberalen Ökonomen.⁹⁰ Ein zu schneller Wandel durch übermäßigen staatlichen Dirigismus führe zu unerwünschten Folgen, argumentierte Fryderyk Skarbek. Die verhältnismäßig geringere Mechanisierung der Landwirtschaft im Königreich Polen sei ein Vorteil, weil sie mehr Arbeitskräfte absorbieren könne und den Pauperismus verhindere.⁹¹ Der Vorteil der industrialisierten Länder, ihr Fortschritt auf dem Weg zu mehr Bildung und Wohlstand, sei nicht zu leugnen, aber er sei nur vorübergehend.⁹² „Das Leben der Handelsnationen“, schrieb Skarbek Ende der er Jahre, „unterscheidet sich darin vom Leben der Agrarvölker, dass jene mit schnelleren Schritten im Wettbewerb um Wohlstand und Bildung fortschreiten, dass sie die letzten darin überholen, und sie lange Zeit an Wohlstand übertreffen. Doch in langem Lauf der Jahrhunderte, wird ihre industrielle Überlegenheit aufhören, und wenn die Agrarvölker mit ihnen im Hinblick auf die Vervollkommnung der Industrie gleichziehen, wird diesen die Überlegenheit über die handwerklichen und Handelsländer zuteil, sobald die Früchte ihres Bodens für alle zum begehrtesten Gut werden.“⁹³ Ohne den Gegensatz Fortschritt-Rückständigkeit ⁸⁹ ⁹⁰

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Wawrzyniec Surowiecki: O upadku przemysłu i miast w Polsce, Poznań , S. –. (Erstausgabe Warschau ). Zu ihnen gehörten Fryderyk Florian Skarbek (–), Wawrzyniec Surowiecki (–), Dominik Krysiński (–): Fryderyk Florian Skarbek: Gospodarstwo narodowe, Warschau ; Dominik Krysiski: O ekonomii politycznej, Warschau ; vgl. Jedlicki, S. –. Jedlicki, S. – bezogen auf Skarbek. Skarbek, Elementarne zasady gospodarstwa narodowego, Warschau , Bd. , S.  f. Ders., Ogólne zasady nauki gospodarstwa narodowego czyli Czysta teorya ekonomii politycznej, Bd. , Warschau , S. .

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zu benutzten, formulierte Skarbek damit die „polnische“ Variante des Privilegs der Rückständigkeit. Ähnlich argumentierten auch die Konservativen im ausgehenden . Jahrhundert.⁹⁴ Erst nach dem Fiasko der „romantischen“ Aufstandsversuche dominierte eine Haltung die Debatten, welche im Namen des Positivismus die Arbeit an den gesellschaftlichen Grundlagen (praca u podstaw) – Wirtschaft und Bildung – betonte.⁹⁵ Ihre Anhänger nannten sich Fortschrittler (postępowcy), später setzte sich die Bezeichnung Positivisten durch. Werte, die als „westlich“ bezeichnet werden könnten, also ökonomisches Wachstum, säkulare Bildung, radikaler Szientismus, wurden als Voraussetzungen für das Erringen der Eigenstaatlichkeit gedeutet und damit gleichsam nationalisiert. Aleksander Świętochowski, einer der führenden Vertreter des radikaleren Flügels des Warschauer Positivismus, deutete das Fehlen eines eigenen Staates sogar als Vorteil. Denn unter den Bedingungen der Fremdherrschaft würden die eigenen Energien nicht für eine kostspielige Außenpolitik oder das Militär abgeschöpft. Auch biete das russische Imperium einen riesigen Absatzmarkt für polnische Industrieprodukte.⁹⁶ Im polnischen Diskurs um Zivilisation lassen sich neben Parallelen zum Privileg der Rückständigkeit, verstanden als eine eigenständige, von westlichen Mustern abweichende gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung, auch universalistische Annahmen beobachten: Der einzige Weg zur Zivilisation sei die Industrialisierung, und diese sei auch ohne einen eigenen Staat möglich, argumentierten die liberalen Positivisten.⁹⁷ Auch wenn antiwestliche, d. h. antibürgerliche und antikapitalistische Stimmen durchaus artikuliert wurden, zeugte die Praxis vor allem im preußischen Teilungsgebiet von einer Übernahme des westlichen Musters.⁹⁸ Das wirtschaftsliberale Prinzip, den Wohlstand der Gesellschaft im Wohlstand des Individuums zu sehen, wurde in den preußischen und russischen Teilungsgebieten durch die Verpflichtung zu uneigennütziger Arbeit für das „Volk“ ergänzt. In Galizien, wo seit den er Jahren die Rah⁹⁴ ⁹⁵

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Andrzej Jaszczuk: Spór pozytywistów z koserwatystami o przyszłość Polski –, Warschau , S. , . Stanislaus A. Blejwas: Realism in Polish Politics: Warsaw Positivism and National Survival in Nineteenth Century Poland, New Haven, CT ; Tomasz Sobieraj: Pozytywizm polski i duch nowoczesności, in: Roczniki Humanistyczne  (), S. –. Walicki, Between, S. –.  wurde die Zollgrenze zwischen dem Königreich Polen und Russland aufgehoben. Dies verschaffte der um Lodz boomenden Textilindustrie großen Aufschwung. Ebda., S. . Ebda., S. –; Rudolf Jaworski: Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf: Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (–), Göttingen .

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menbedingungen für die Artikulation politischer Programme am günstigsten waren – vorausgesetzt sie zielten nicht über die Autonomie hinaus –, wurde der Grundsatz „organischer Arbeit”, d. h. der Arbeit aller Schichten für die allgemeine Entwicklung des Landes, zwar ebenso wie in den anderen Teilungsgebieten verfolgt. Die galizischen Konservativen bemühten sich allerdings, den Status quo – das Bündnis zwischen Thron, Aristokratie und Klerus – als den richtigen, organischen Fortschritt zu propagieren.⁹⁹ Modernisiserung als Verbürgerlichung kam für sie nicht in Frage. Industrielle Betätigung wurde deshalb als patriotischer Dienst, nicht als das Verfolgen privater Interessen interpretiert, auch wenn es letztlich darum ging, die eigene Position gegen die bürgerliche Konkurrenz zu verteidigen.¹⁰⁰ Wie Andrzej Walicki zeigen konnte, hatte das Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus neben der grundsätzlichen Kritik an seinen sozialen Folgen auch eine nationale Komponente. Denn die Hauptträger der propagierten Industrialisierung – die Unternehmer und das Bürgertum – waren entweder Deutsche oder Juden. Ihre Assimilation wurde auch deshalb zu den wichtigsten Postulaten des Warschauer Positivismus.¹⁰¹ Im Zuge der Debatten über den richtigen Weg zu einer modernen Gesellschaft tauchte auch die Denkfigur der übermäßigen, übertriebenen Zivilisation auf. Diese drohe, wenn der Materialismus zum einzigen leitenden Prinzip erhoben würde. Eliza Orzeszkowa, eine der wichtigsten Fürsprecherinnen der benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen, der Juden und der Frauen, warb in ihren späten Werken deshalb dafür, das Prinzip des materiellen Wohlstands durch jenes der humanitären Güte zu ergänzen.¹⁰² Einwände gegen den Glauben der Positivisten an eine automatische Entwicklung zum Besseren – und das bedeutete in Polen auch: zur Eigenstaatlichkeit – kamen zwar in den er Jahren nach wie vor von den Konservativen, zunehmend aber auch von den Marxisten und den Sozialisten bzw. Sozialdemokraten.¹⁰³ Besonders eindrücklich lassen sich die Fortschrittsdebatten der Jahrhundertwende auch in den Karikaturen von Franciszek Kostrzewski nachverfolgen, die das Gegensatzpaar rückständig– fortschrittlich nota bene stark ⁹⁹

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Marcin Król: Konserwatyści a niepodległość: studia nad polską myśla konserwatywną XIX wieku, Warschau ; Józef Szujski: O fałszywej historii jako mistrzyni fałszywej polityki, Warschau , S. . Król, S. –, . Walicki, Between, S. . Zur Emanzipation der Juden vgl. Alina Cała: Asymilacja Żydów w Królestwie polskim –. Postawy, konflikty, stereotypy, Warschau . Magdalena Kreft: Koncepcja „przecywilizowania” w twórczości Elizy Orzeszkowej, in: Roczniki Humanistyczne  (), S. –.  wurde die erste marxistische bzw. sozialrevolutionäre Partei Ludwik Waryńskis Proletariat gegründet. Jaszczuk, S. ; Walicki, Between, S.  f.

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ironisieren.¹⁰⁴ Fortschritt bzw. Fortschrittler wurde seit den er Jahren zu einem polemischen Kampfbegriff.¹⁰⁵ Während die Konservativen für sich beanspruchten, mit einem auf Katholizismus, nützliche Arbeit und Landbesitz gründenden Programm die richtige Art Fortschritt zu verkörpern, sahen die Sozialdemokraten die Notwendigkeit kapitalistischer Transformation als Teil einer gesetzmäßigen Entwicklung.¹⁰⁶ Auf der linken Seite betrachtete die sozialrevolutionäre Richtung die „Unreife“ der ökonomischen Verhältnisse in Polen nicht als ein Hindernis für den wahren Fortschritt, die Revolution. Die polnische Arbeiterschaft sei, durch die Erfahrungen ihrer Brüder aus dem Westen belehrt, auf einer höheren Ebene des Bewusstseins, als es ihrem ökonomischen Status eigentlich entspräche. Auch in diesem Gedankengebäude wurde der niedere Stand der ökonomischen Entwicklung zu einem Vorteil umgedeutet. Auch Teile der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) glorifizierten die Arbeiterklasse als die modernste Kraft, der zugleich eine nationale Aufgabe zugeschrieben wurde. Das Proletariat, nicht die Eliten, werde Polen in die Unabhängigkeit führen.¹⁰⁷ Schließlich diskutierten auch die Neoromantiker darüber, welchen Weg die polnische Gesellschaft einschlagen sollte. Mit ihrer Modernekritik, die in den er Jahren einsetzte, prangerten sie den westlichen Materialismus und die ihm vermeintlich immanente rohe Gewalt an, während sie Polen eine besonders hohe Moral zuschrieben. Allerdings erreichte ihre Position niemals die gleiche Resonanz wie die Gedanken der Romantiker ein halbes Jahrhundert früher.¹⁰⁸ Wie die skizzenhafte Übersicht der jeweiligen Haltungen zeigt, war Fortschritt ein äußerst flexibler Begriff, mit dem sehr unterschiedliche politische Programme verbunden waren. Sie alle beanspruchten mit ihrer Umsetzung, die richtige Art der Zivilisation zu bringen. So entwickelte sich vor allem in der Pariser Emigration eine gegenüber dem Okkzidentalismus skeptische Haltung, die in einem slawischen Messianismus die wahre Zivilisation suchte. In den jeweiligen Teilungsgebieten versuchten die Eliten, einen Modus vivendi zu finden, mit dem sie Muster und Grundsätze der westlich-liberalen Entwicklung an die eigene Situation anpassen konnten. Die Prinzipien der dabei entwickelten Programme reichten von der Überzeugung, Industrialisierung und ¹⁰⁴ ¹⁰⁵ ¹⁰⁶ ¹⁰⁷ ¹⁰⁸

Franciszek Kostrzewski: Ludzie XIX w. Album Franciszka Kostrzewskiego. Seria I, Warschau . Popiel, Pod adresem rzekomych postępowców, in: Niwa  (), S. . Adam Goltz, Listy o konserwatyzmie, Warschau , S. . Zu nennen ist hier vor allem Stanisław Brzozowski. Vgl. Walicki, Between, S. –. Zu ihnen gehörten u. A.: Wincenty Lutosławski, Stanisław Szczepanowski und Antoni Górski.

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Modernisierung seien universale Muster gesellschaftlicher Entwicklung bis hin zur Propagierung eines eigenen, sei es liberalen, sei es sozialistischen Weges in die Moderne. Die Zuschreibung der Rückständigkeit war ein rhetorisches Mittel der Kommunikation, mit dem der Gegner disqualifiziert werden sollte. Ihre Inversion, – der sich selbst zugeschriebene Fortschritt – war zugleich ein Mittel der Selbstvergewisserung. .  Russland und Polen in der gegenseitigen Wahrnehmung So vielfältig die Definitionen von Fortschritt und angemessener Zivilisation auch waren, so eindeutig waren die Vorstellungen von ihrem Gegenteil, das jeweils der östliche Nachbar verkörperte. Von Polen aus gesehen galten das Moskauer Reich wie später das russländische Imperium als der Inbegriff roher Sitten, mangelnder Zivilisation und aus ihrer mongolischen Vergangenheit herrührender Despotie.¹⁰⁹ Häufig wurden diese Vorstellungen auf das Adjektiv „asiatisch“ reduziert. Selbst Befürworter eines Aufgehens Polens im großen slawischen Meer, wie der Konservative Kazimierz Krzywicki, sahen die russische Zivilisation als asiatisch-fremd.¹¹⁰ Die Überlegenheit der polnischen Kultur gegenüber der russischen stand ebenso wie die eigene Zugehörigkeit zu Europa niemals zur Debatte, auch wenn die Akzeptanz der westlichen modernen Zivilisation vor allem in der vorpositivistischen Periode noch heftig umstritten war.¹¹¹ Die Stereotype entsprachen damit durchaus dem Bild, das sich der Westen vom Osten machte. Was die Selbstwahrnehmung der polnischen Eliten mit ¹⁰⁹

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Marek Kornat: Między wyobraźnią a wiedzą. Rosja w polskiej myśli historycznej XIX i XX wieku, in: Agnieszka Magdziak-Mniszewska (Hg.): Polacy i Rosjanie.  kluczowych pojęć, Warschau , S. –, hier S. –; Jacek Borkowicz: Ambiwalencja sąsiedztwa, in: Magdziak-Miniszewska (Hg.): Polacy i Rosjanie.  kluczowych pojęć, Warschau , S. –, hier S. –. Grundlegend für dieses Thema sind auch folgende Konferenzbände: Tadeusz Epsztein (Hg.): Polacy i Rosjanie. Materiały z konferencji „Polska – Rosja. Rola polskich powstań narodowych w kształtowaniu wzajemnych wyobrażeń“, Warszawa-Płock – maja  r, Warschau ; Viktor Chorev (Hg.): Rossija – Pol’ša. Obrazy i stereotipy v literature i kul’ture, Moskau . Vgl. auch: Antoni Giza, Polaczkowie i Moskale. Wzajemny ogląd w krzywym zwierciadle (–), Szczecin . Kazimierz Krzywicki: Polska i Rossya w  r, Dresden ; Roman Dmowski: Myśli nowoczesnego Polaka, Wrocław  (Erstausgabe ), S. . Eine Ausnahme von der Vorstellung einer grundsätzlichen Andersartigkeit der russischen Zivilisation lässt sich bei den polnischen Slawophilen zu Beginn des . Jahrhunderts beobachten. Vgl.: Stanisław Staszic: Uwagi do rodu ludzkiego, in: ders.: Pisma filozoficzne i społeczne, hrsg. v. Bogdan Suchodolski, Bd. , Warschau , S. –. Die im Russländischen Reich lebenden Polen verglichen ihre Zivilisation mit der der Griechen im römischen Reich: Gorizontov, „pol’skaja civilizovannost’“, S. .

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dem „westlichen“ Diskurs verband, war ihre Überzeugung, eine besondere zivilisatorische Pflicht gegenüber dem Osten erfüllen zu müssen.¹¹² Was sie von der westlichen Perspektive unterschied, war die Tatsache, dass sie sich als Subjekt, nicht Objekt der Zivilisierung betrachteten. Die besondere Verpflichtung zur Zivilisierung wird auch unter den Aufklärern, die noch von einer universalen Entwicklung ausgingen, fassbar. Exemplarisch kann die Ansicht von Stanisław Staszic, einem polnischen Slawophilen, angeführt werden. Dieser schrieb : „Polen, das mitten im großen slawischen Volk gelegen ist, welches selbst ein Drittel von Europa besitzt, würde, indem es die Aufklärung selbst von Frankreich nimmt, das Licht auch auf viele Völker desselben Stammes, derselben Sitten und einer Sprache verteilen. Bald würden diese slawischen Völker, die heute so wenig zivilisiert sind, […] immer besser geeignet in die allgemeine Zivilisation einzutreten.“¹¹³ Die tatsächliche Zusammenarbeit zwischen dem russischen Staat und dem polnischen Adel in den Westgouvernements des Reiches oder im Königreich Polen zwischen  und , die nicht nur konflikthaften Beziehungen im Alltag, die von den Militärs und Beamten wahrgenommenen Karrierechancen des Imperiums hatten, wie es scheint, auf das grundsätzliche Überlegenheitsgefühl keinen Einfluss.¹¹⁴ Die romantisch geprägte Emigration unterschied zwar zwischen dem unterdrückten russischen Volk und seiner vermeintlich demokratischen Tradition auf der einen und der Despotie der Regierenden auf der ¹¹²

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Wacław Lednicki: Russia. Poland and the West, Port Washington ; Małgorzata Morawiec: Antemurale christianitatis: Polen als Vormauer des christlichen Europa, in: Jahrbuch für europäische Geschichte  (), S. –; Janusz Tazbir: Poland as the Rampart of Christian Europe. Myth and Historical Reality, Warschau . Józef Ujejski: Dzieje polskiego mesjanizmu do powstania listopadowego włącznie, Lwów , S. . Stellvertretend für die Karriere polnischer Magnaten am russischen Hof: W. H[ubert] Zawadzki: A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland –, Oxford . Zu den russisch-polnischen Beziehungen während der Napoleonischen Feldzüge und danach vgl. Natal’ja Filatova: Rossija v političeskoj propagande Knjažestva Varšavskogo v chode kampanii  goda, in: Slavjanovedenie (), H. , S. –; dies.: Vzaimootnošenija russkich i poljakov v Korolevstve Pol’skom v – gg (na materiale memuaristiki), in: Joanna Marszałek-Kawa, Zbigniew Karpus (Hg.): Stosunki polsko-rosyjskie. Stereotypy, realia, nadzieje, Toruń , S. – . Zum Verhältnis in den Westgouvernements vgl. Jörg Ganzenmüller: Zwischen Elitenkooptation und Staatsaufbau. Der polnische Adel und die Widersprüche russischer Integrationspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches –), in: Historische Zeitschrift (), S. –. Zum Selbstverständnis als Zivilisierungsagenten vgl. Zbigniew Wójcik: Między oczekiwaniem a spełnieniem. Działalność cywilizacyjna Polaków na Syberii (XVII-XIX wiek), in: Antoni Kuczyski (Hg.): Syberia w historii i kulturze narodu polskiego, Wrocław , S. –.

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anderen Seite, sah sich zugleich selbst in der Vorreiterrolle einer umfassenden Neuordnung.¹¹⁵ Und auch die konservative Krakauer Schule ging davon aus, dass „Polen, das aus dem Schoß des Slawentums entstand, als seine rechtmäßige Herrin und Anführerin“ gesehen werden müsse.¹¹⁶ Wie Natal’ja Filatova in ihrer Untersuchung der polnisch-russischen Wahrnehmungen gezeigt hat, war die Zuschreibung mangelnder Zivilisation gegenseitig. Rückständigkeit, Wildheit und Barbarei konnten auch auf polnischer Seite verortet werden, als Gesetzlosigkeit, Selbstherrlichkeit, mangelnde Organisation, Entfremdung zwischen Eliten und Volk.¹¹⁷ Vor allem nach dem Januaraufstand  und der Enttäuschung der russischen Eliten über die „polnische Undankbarkeit“ wurde das Bild des zivilisierten Polens durch einen Teil der russischen Öffentlichkeit stark in Frage gestellt. Die polnische Zivilisation, jetzt umgedeutet als Bereicherung des Adels auf Kosten des einfachen Volkes, bekam als konkurrierende Einschätzung zum bis dahin gültigen westlichen Muster den Stempel des Gestrigen, Überholten und daher nicht Nachahmenswerten.¹¹⁸

 Fazit Die diskutierten Beispiele von Selbst- und Fremdzuschreibungen von Rückständigkeit oder Fortschritt zeigen, dass diese Begriffe ihren Sinn aus kommunikativen Praktiken im Rahmen sozialer Selbstverortung und nationaler Identitätsbildung beziehen. Polen, das der „Westen“ spätestens seit der Mitte des . Jahrhunderts im Bereich der Rückständigkeit verortete, konnte mit dem Hinweis auf eine noch fernere Peripherie europäischer Kultur die eigene Position heben – so die gängige Erklärung für diese Selbstverortung.¹¹⁹ Sie sei als Folge eines „Komplexes der Unfreiheit“ oder der Minderwertigkeit zu verstehen.¹²⁰ Ähnliche Erklärungen hat die Geschichtsschreibung auch für die russischen Debatten um die eigene Identität geliefert. ¹¹⁵ ¹¹⁶

¹¹⁷

¹¹⁸ ¹¹⁹ ¹²⁰

Adamovsky, Euro-Orientalizm, S. . Józef Szujski: Kilka prawd z dziejów naszych. Ku rozważeniu w chwili obecnej, in: Marcin Król (Hg.): Stańczycy: antologia myśli społecznej i politycznej konserwatystów krakowskich, Warschau  (zuerst erschienen ), S. –, hier S. –. Natal’ja Filatova: Russkie i poljaki v Korolevstve Pol’skom (–): stereotipy vzaimnogo vosprijatija, in: Viktor Chorev (Hg.), Rossija – Pol’ša. Obrazy i stereotipy v literature i kul’ture, Moskau , S. –, hier S. . Gorizontov, „Pol’skaja civilizovannost’“, S. f. Tomasz Zarycki: Uses of Russia: The Role of Russia in modern Polish national identity, in: East European Politics and Societies and Cultures  (), S. –, hier S. –. Borkowicz, S. ; Kornat, S. .



Rückständigkeit und Osteuropa

Berücksichtigt man, dass die Debatten um Fortschritt und Rückständigkeit seit der Sattelzeit ein allgemein europäisches Phänomen darstellen, so lassen sich die oben beschriebenen Beispiele nicht nur psychologisch-funktional als Kompensation für mangelnde Anerkennung deuten. Vielmehr lassen sie sich als spezifische Formen der Aneignung dieses Diskurses und zugleich als Selbstverständigungsdebatten einzelner Gruppen bzw. Schichten begreifen. Wie Dietlind Hüchtker gezeigt hat, bringt ihre Untersuchung mehr Schattierungen, mehr Variabilität, mehr Kreativität im Umgang mit zugeschriebenen Eigenschaften und mehr verschlungene Pfade von Kulturtransfer zum Vorschein, als es die Dichotomie von Fortschritt und Rückständigkeit vermuten lässt.¹²¹ Gerade diese Dichotomie zu einem gesetzten Analysekriterium zu machen, hieße, der (Osteuropäischen) Geschichte ihre Vielfalt und Komplexität unnötig zu nehmen und die mit dem Begriff der Rückständigkeit verbundenen Synonyme: unzeitgemäß, altmodisch, überholt, antiquiert, und reaktionär, wenn auch unbeabsichtigt, auf die gesamte Region zu übertragen. Die Frage, wie Unterschiede in der Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb Europas und weltweit zu erklären sind, beschäftigt (Wirtschafts-)Historiker schon seit geraumer Zeit.¹²² Nicht zuletzt von Historikern aus Ostmitteleuropa wie Marian Małowist, Witold Kula und Jenő Szűcs, die ein besonderes Bewusstsein für die periphere Lage ihrer Länder hatten, sind dazu wichtige Beiträge geliefert worden.¹²³ Der Verzicht auf den Begriff der Rückständigkeit als Analysekategorie bedeutet keinen Verzicht auf Erkenntnis. Man gewinnt sogar einen offeneren Blick, um vorhandene Phänomene wahrzunehmen, anstatt den Mangel der nicht vorhandenen festzustellen und ¹²¹

¹²²

¹²³

Dietlind Hüchtker: Rückständigkeit als Strategie oder Galizien als Zentrum europäischer Frauenpolitik. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte (), http://www. europa.clio-online.de//Article= [zuletzt aufgerufen am ..]. Immanuel Wallerstein: The Modern World System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York ; Fernand Braudel: Civilisation materielle. Économie et capitalisme XV–XVIII siècles, Bd. : Les jeux de l’échange, Paris . Marian Małowist: The Problem of Inequality of Economic Development in Europe in the Later Middle Ages, in: The Economic History Review  (), S. –; Witold Kula: An Economic History of the Feudal System. Towards a Model of the Polish Economy –, London ; Jenő Szcs: Les trois Europes, Paris . Vgl. auch: Nancy M. Wingfield: The Problem with ‘Backwardness’: Ivan T. Berend’s Central and Eastern Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: European History Quarterly  (), S. –. Zuletzt Daron Acemoglu/James A. Robinson, Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty, London , bes. S. –,  f.,  f.

Maria Rhode



sie mit wissenschaftlicher Autorität unter dem höchst wertenden Begriff der Rückständigkeit zu subsumieren.

Rückständigkeit – Zu Geschichte und Nutzen einer umstrittenen Analysekategorie Lutz Häfner

Otstalyj čelovek

Der rückständige Menscha

Ivan Stepanyč Muchoboev – Sovsem otstalyj čelovek, I, po starinke žizn’ postroiv, On ėtim liš’ sramit naš vek!

Ivan Stepanyč Muchoboev – Fliegentod Bringt uns’rer Ära Schand und Not. Er ist ganz Mann der alten Zeit – Nennen wir’s: Mensch geword’ne Rückständigkeit. Um ihn herum auf Schritt und Tritt Zum Staunen aller der Fortschritt sich vollzieht. Und er, der Arme, sieht ihn nicht, Sein Leben ist ein finstres Dickicht. Aus Gründen, die wir kennen nicht, Seine Wohnung mit sechs Kammern Erleuchtet er mit Ölflammen, Dabei gibt es doch elektrisch’ Licht! Durch’s Telephon zu sprechen, Möcht’ er keinen – das ist doch Unsinn, fast Verbrechen! Das Auto zu benutzen, fürchtet er, Und liebt das Pferd bis heut’ gar sehr. Wie einst in Katharinas Zeiten Schätzt er sättigende Mahlzeiten. Wie unsere Großväter Kleidet sich auch er. Der Medizin schenkt er kein Vertrauen. Um nach dem Grund zu schauen, Wenn er eine Krankheit hat, Sucht er beim Wunderheiler Rat.

Krugom ego stezej pobednoj! Idet i vsech divit progress, A on ego ne vidit, bednyj – Žizn’ dlja nego – dremučij les! Po neizvedannym pričinam, Svoju kvartiru (komnat šest’) On osveščaet …* kerosinom Chot’ ėlektričestvo uže est! Po telefonu sgovorit’sja Ni s kem ne chočet: vot, mol, vzdor! V avtomobil’ on sest’ boitsja I …* ljubit „kon’ku“ do sich por! On ljubit sytye obedy „Ekaterinskich vremen“, Kak odevalis’ naši dedy, Tak odevaetsja i on. Ne verit vovse ne medicinu, Kol’ zachvoraet inogda, – Najti bolezni čtob pričinu, On iščet „znacharja“ vsegda … a

Otstalyj čelovek, in: Russkoe Slovo, No. , .., S. . Nachdichtung von Lutz Häfner. * = Auslassung im Original.

Lutz Häfner

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[…] I nosit, – rab svoich privyček, – Dopotonnye očki. Ne priznaet on švedskich spiček: Upotrebljaet „sernjački“! Uznav, čto est’ aėroplany, On dolgo verit’ ne chotel V osuščestvivšiesja plany, Čto čelovek už „poletel“. I vot ešče fakt neobyčnyj, Ego ponjat nel’zja nikak, Čudak kon’jak p’et zagraničnyj, Kogda est’ Šustovskij kon’jak!

Und als ein Sklave seiner Grillen Trägt er vorsintflutliche Brillen. Die Schwedenhölzer – welch ein Frevel – Nimmt er nicht und bleibt beim Schwefel. Als er erfuhr vom Aeroplan, Fehlt’ ihm lang der Glaube dran: In Erfüllung ging der Plan, Dass der Mensch nun fliegen kann. Noch einen Punkt gibt’s zu berichten Und man versteht’s mitnichten: Der Sonderling den fremden Branntwein liebt, Obwohl es doch Cognac Šustov gibt!

Dieses von einem anonymen Werbetexter verfasste Gedicht erschien Anfang  in der Moskauer Tageszeitung Russkoe Slovo, einem vergleichsweise preisgünstigen, regierungskritischen Organ. Ihm gelang die Quadratur des Kreises, seriöse Berichterstattung zugleich volkstümlich zu präsentieren, so dass es in Hörsälen und Märkten gleichermaßen gelesen wurde.¹ Dieses Reklamegedicht für den renommierten, international wiederholt prämierten „Cognac“ aus der Alkoholdestille des Moskauer Kaufmanns Nikolaj Leont’evič Šustov zeigt, dass die Worte „rückständig“ und „Rückständigkeit“ keineswegs nur Bestandteil zeitgenössischer Intellektuellendiskurse war, sondern gleichsam in die Niederungen des Alltags, ja sogar in die profane Reklame der auflagenstärksten Zeitung des Zarenreichs Eingang gefunden hatte.² Das Werbegedicht bediente sich eines binären Argumentationsmusters und kontrastierte Alt und Neu, Rückständigkeit mit Moderne bzw. Fortschritt.³ Der Clou bestand freilich darin, dass ungeachtet aller mit dem Fortschritt identifizierter Weihen das Alte, das Bewährte, die Tradition, die in diesem Fall der Cognac Šustov verkörper¹

²

³

Christoph Schmidt: Russische Presse und Deutsches Reich, Köln/Wien , S.  f.; Aleksandr Georgievič Mendeleev: Žizn’ gazety „Russkoe Slovo“. Izdatel’. Sotrudniki, Moskau , S. , ,  f. Bemerkenswert ist, dass Vladimir Ivanovič Dal’: Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskago jazyka Vladimira Dalja. -e, ispravlennoe i značitel’no dopolnennoe, izdanie pod red. Ivana Aleksandroviča Boduna-de-Kurten, v -ch tt., St. Petersburg, Moskau –, hier t. : I–O, Sp.  zwar das Adjektiv otstalyj bzw. ostaloj verzeichnet, aber nicht das durchaus gebräuchliche Substantiv otstalost’. Zur Kontextualisierung des Gedichts in der zeitgenössischen Reklame des Zarenreichs vgl. Sally West: I Shop in Moscow. Advertising and the Creation of Consumer Culture in Late Tsarist Russia, DeKalb, IL , S. . Mein Dank gilt der Autorin, die mich auf das Gedicht aufmerksam machte.



Rückständigkeit

te, seinen bleibenden Wert hatte. Ihm sei der Vorzug zu geben, den zwar der moderne, nicht aber der rückständige Mensch zu erkennen vermochte. Rückständigkeit war zumindest schon an der Wende zum . Jahrhundert ein nicht selten verwendeter Quellenbegriff. Fasst man beispielsweise gesellschaftliche Perzeptionen und Klassifikationsschemata wie Stand, Klasse oder eben Rückständigkeit als einen Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit auf, dann wird deutlich, dass sie als Abbildungen des Sozialen keine Neutralität beanspruchen können. Vielmehr enthalten kollektive Repräsentationen Strategien und Praktiken ihrer „Vorstellungs-Hersteller“.⁴ Weil aber die gedachte Welt nicht weniger real ist als die wirkliche, beruht die vermeintliche Objektivität solcher Kategorien letztlich auf ihrer intersubjektiven Akzeptanz. Daraus folgt für die Geschichtswissenschaft, dass quantifizierende Methoden nicht mehr Objektivität beanspruchen können als handlungsleitende Weltbilder, Werte, Wahrnehmungen etc., die die Kulturwissenschaft in historischer Absicht thematisiert.⁵ Eine solche handlungsleitende Repräsentation war die Rückständigkeit.⁶ Ihre Wirkungsmächtigkeit zu untersuchen, ist somit geschichtswissenschaftlich nicht weniger wichtig als Kategorien gesellschaftlicher Stratifikation. Dabei gilt es, zwei Perspektiven zu unterscheiden: die Selbst- und die Fremdwahrnehmung. Es gehörte seit dem . Jahrhundert zur geistesgeschichtlichen Tradition der Eliten westeuropäischer Staaten, das Zarenreich als „anders“ zu charakterisieren: als barbarisch, orientalisch, asiatisch, rückständig.⁷ Diese Ka⁴

⁵ ⁶



Roger Chartier: Kulturgeschichte zwischen Repräsentationen und Praktiken, in: ders.: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung. Aus dem Französischen v. Ulrich Raulff, Berlin , S. –, hier S. ; ders.: Die Welt als Repräsentation, in: Matthias Middell, Steffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten –, Leipzig , S. –, hier S.  f.; vgl. Kirsten Bönker: Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (–), Köln/Weimar/Wien , S. . Chartier, Kulturgeschichte, S.  f. Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München , S. . Diesen Aspekt übersieht Martin Schulze Wessel: Eine europäische Macht. Von der Kiewer Rus bis zum letzten Zaren. Manfred Hildermeiers Geschichte Russlands, in: Süddeutsche Zeitung, No. , .., S. , wenn er davon spricht, die Beschäftigung der Forschung der zurückliegenden zwei Jahrzehnte mit Repräsentationen und Wahrnehmungen spiegele das Werk nicht wider. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, CA , bes. S. ; vgl. Manfred Hildermeier: Beharrliche Rückständigkeit. Über den Umgang mit einer notwendigen Kategorie, in: ders./Elise Kimerling Wirtschafter (Hg.): Church and Society in Modern Russia. Essays in Honor of Gregory L. Freeze, Wiesbaden , S. –, hier S. .

Lutz Häfner

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tegorisierungen dienten nicht nur der eigenen Identitätsbildung durch Abgrenzung, sondern auch der Stigmatisierung des Fremden. Zur umstrittenen Analysekategorie avancierte die Rückständigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Pathogenese ist untrennbar mit dem Namen Alexander Gerschenkron verbunden, der in seinen Forschungen „Rückständigkeit“ als zentrales Deutungsmusters etablierte.⁸ Mit seiner Hilfe versuchte er, die „nachholende Modernisierung“ des Zarenreichs und seines sozialistischen Nachfolgestaates, aber auch anderer Staaten Mittel-, Süd- und Südosteuropas zu erklären. Als ihre Manifestation betrachtete er den jeweiligen Anspruch, die fortgeschritteneren Staaten des Westens einzuholen und zu überholen.⁹ Gerschenkrons Forschungen prägten eine Generation von Osteuropaforschern, vor allem amerikanische wie Nicholas V. Riasanovsky und Martin Malia,¹⁰ aber auch den lange in England lehrenden Agrarsoziologen Teodor Shanin.¹¹ In der bundesdeutschen Osteuropahistoriographie ist es Manfred Hildermeier gewesen, der sich seit den er Jahren in seinem umfangreichen Œuvre intensiv mit der Interpretationsfigur der Rückständigkeit bzw. des etwaigen Privilegs, rückständig zu sein, auseinandergesetzt hat. Dabei hat er das modernisierungstheoretische Design Gerschenkrons kritisiert und sich von den daraus ergebenden normativen Konsequenzen zu lösen versucht.¹² ⁸



¹⁰

¹¹

¹²

Dietrich Geyer: Rußland in den Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine zeitgeschichtliche Problemskizze, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. –, hier S.  f. Alexander Gerschenkron: Notes on the Rate of Industrial Growth in Italy, –, in: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge, MA , S. –; ders.: Some Aspects of Industrialization in Bulgaria, –, in: ebda., S. –; ders.: An Economic Spurt That Failed, Princeton, NJ . Martin Malia: Russia under Western Eyes. From the Bronze Horseman to the Lenin Mausoleum, Cambridge, MA/London , S. ; ders.: The Soviet Tragedy. A History of Socialism in Russia, –, New York , S. ; Nicholas Riasanovsky: Martin Malia and the Understanding of Russia, in: Catherine Evtuhov, Stephen Kotkin (Hg.): The Cultural Gradient. The transmission of Ideas in Europe, –. Landham, MD , S. –. Teodor Shanin: The Roots of Otherness. Russia’s Turn of the Century, vol. : Russia as a „Developing Society“, New Haven, CT , bes. S. –, –; vgl. dazu John Bushnell: Peasant Economy and Peasant Revolution at the Turn of the Century. Neither Immiseration nor Autonomy, in: Russian Review  (), S. –, bes. S. . Manfred Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands. Agrarsozialismus und Modernisierung im Zarenreich (–), Köln/Wien ; ders.: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: HZ  (), H. , S. –; ders.: The Socialist Revolutionary Party of Russia and the Workers, –, in: Reginald E. Zelnik (Hg.): Workers and Intelligentsia in Late Imperial Russia. Realities, Representation, Reflections., Berke-

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Rückständigkeit

Im Folgenden will dieser Beitrag für das . und beginnende . Jahrhundert, also jenen langen Zeitraum, der von Industrialisierung, der Ausbreitung der (kapitalistischen) Weltwirtschaft, der massenmedialen Öffentlichkeit und der Wissensgesellschaft geprägt war, in gebotener Kürze im Wesentlichen für das Zarenreich, aber auch mit einem Blick über dessen westliche Grenzen hinweg zeigen, wie Rückständigkeit und ihr vielversprechendes Privileg als zeitgenössische Quellenbegriffe verwendet wurden. Während sich der zweite Abschnitt mit Hildermeiers Überlegungen, den Begriff der Rückständigkeit als Analysekategorie zu implementieren, beschäftigt, greift der dritte die Kritik daran auf. Der Schluss präsentiert eine synthetisierende Perspektive auf Grenzen und Potential des Rückständigkeitskonzepts.

Rückständigkeit als zeitgenössischer Quellenbegriff In der russländischen Geistesgeschichte hatte das Privileg der Rückständigkeit einen festen Platz. Spätestens seit Čaadaev zu Beginn der er Jahre in seinem ersten philosophischen Brief konstatiert hatte, Russland imitiere Entwicklungen des Westens,¹³ kreisten nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen den beiden geistesgeschichtlichen Schulen der Westler und Slavophilen¹⁴ um

¹³

¹⁴

ley, CA , S. –; ders.: Hoffnungsträger? Das Stadtbürgertum unter Katharina II., in: Eckhard Hübner, Jan Kusber, Peter Nitsche (Hg.): Rußland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus, Köln/Weimar/Wien , S. –; ders.: Max Weber und die russische Stadt, in: Hinnerk Bruhns, Wilfried Nippel (Hg.): Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen , S. –; ders.: Traditionen der Aufklärung in der russischen Geschichte, in: Heinz Duchhardt u. Claus Scharf (Hg.): Interdisziplinarität und Internationalität. Wege und Formen der Rezeption der französischen und der britischen Aufklärung in Deutschland und Russland im . Jahrhundert, Mainz , S. –; ders.: Sozialgeschichte Rußlands und der frühen Sowjetunion. Leistungen und Grenzen, in: Dittmar Dahlmann (Hg.): Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart , S. – ; ders.: Deutsche Geschichtswissenschaft im Prozess der Europäisierung und Globalisierung, in: zeitenblicke  (), H. , http://www.Zeitenblicke.de///hildermeier/ [zuletzt aufgerufen am ..]; ders.: Geschichte. Dmitrij Tschižewskij, Dieter Groh (Hg.): Petr Jakovlevič Čaadaev: Erster Philosophischer Brief, in: Europa und Russland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt , S. –, hier bes. S. ; Susanna RabowEdling: The Role of “Europe” in Russian Nationalism. Reinterpreting the Relationship between Russia and the West in Slavophile Thought, in: Susan P. McCaffray, Michael Melancon (Hg.): Russia in the European Context –. A Member of the Family Houndmills, Basingstoke , S. –, hier S. . Ihnen attestierte Leo Trotzki: Geschichte der Russischen Revolution, Teil : Februarrevolution, Frankfurt am Main , S.  „einen Messianismus der Rückständigkeit“.

Lutz Häfner

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Russlands Stellung zu, in oder gegen Europa. Der Brief wirkte laut Alexander Herzen wie ein „Schuss […] in dunkler Nacht“.¹⁵ Die mit ihm verbundene Diskussion thematisierte letztlich Originalität, Einzigartigkeit und die Möglichkeit eines autochthonen Pfades bzw. eines Sonderwegs des Ancien Régime. Nach  lebte die Sonderwegsdebatte wieder auf,¹⁶ die bis in die Gegenwart nicht verstummt ist, obwohl es gute Gründe gibt, die Überlegung eines Sonderwegs als nicht produktiv zu den Akten zu legen.¹⁷ Im Oktober  beschwor der slavophile Jurij Fedorovič Samarin das Privileg der Rückständigkeit zwischen den Zeilen seines Memorandums der Redaktionskommission der Bauernbefreiung: „[…] In anderen Staaten haben die Regierungen diesen Weg [der Aufhebung der persönlichen Leibeigenschaft und der Errichtung der Selbstverwaltung der Bauerngemeinden, LH] in einigen Etappen [v neskol’ko priemov] beschritten, mit Unterbrechungen, und, sozusagen, tastend, weil er in der Praxis noch nicht erkundet war, und als sie ihn einschlugen, konnte man ihn noch nicht bis zu seinem Ende überblicken. Daher rief die Reihenfolge der Maßnahmen zur sukzessiven Erweiterung der Rechte und zur Verbesserung des Daseins des leibeigenen Standes fast überall unvorhergesehene gesellschaftliche Krisen hervor. In dieser Beziehung ist Russland glücklicher. Ihm ist die Möglichkeit gegeben, die Erfahrungen anderer Länder und sogar der eigenen (im Königreich Polen und den Ostseegouvernements) auszunutzen, sofort den gesamten bevorstehenden Weg zu erfassen […].“¹⁸ Samarin deutete an, von Europa zu lernen. Sein europäisches Paradigma aber war nicht England, sondern vielmehr das ökonomisch weniger entwickelte, aber ¹⁵ ¹⁶

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Alexander Herzen: Mein Leben. Memoiren und Reflexionen –.  Bde., Berlin (Ost) , hier Bd. , S. . Stefan Wiederkehr: Die Rezeption des Werkes von L. N. Gumilev seit der späten Sowjetzeit – Rußlands Intelligencija auf der Suche nach Orientierung, in: Martina Ritter, Barbara Wattendorf (Hg.): Sprünge, Brüche, Brücken, Debatten zur politischen Kultur in Rußland aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Politikwissenschaft. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Tagung, Berlin , S. –, bes. S. . Vgl. Reinhart Koselleck: Deutschland – eine verspätete Nation?, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main. , S. –, hier S.  f.; Michael David-Fox: Multiple Modernities vs. Neo-Traditionalism. On Recent Debates in Russian and Soviet History, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), H. , S. –, hier S. ; entschieden weniger dezidiert mit Blick auf Deutschland Gunilla-Friderike Budde, Jurgen Koka [Jürgen Kocka]: Koncept nemeckogo „osobogo puti“. Istorija, potencial, granicy primenimosti, in: Ab Imperio (), H. , S. –. Jurij Fedorovič Samarin: Sočinenija, t. : Krest’janskoe delo s Ijunja  po Aprel’  goda, Moskau , S. .

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Rückständigkeit

politisch nähere Preußen. Insbesondere die Reformen Stein-Hardenbergs hatten es ihm angetan, das Konzept also, die Bauern bei ihrer Befreiung mit Land auszustatten, um bäuerliche Unrast zu vermeiden.¹⁹ Das Privileg der Rückständigkeit erlaubte sogar eine gewisse Konvergenz inkompatibler Lager: Nicht nur führende Staatsmänner Russlands – von Peter I. über Katharina II. bis zu den aufgeklärten Bürokraten in der Mitte des . Jahrhunderts, sondern auch die sozialistische intelligencija waren von der Reformbedürftigkeit Russlands überzeugt, wollten eine Entwicklung des Landes anstoßen oder korrigieren: auf jeden Fall aber abkürzend beschleunigen.²⁰ Regierende wie auch seit  die Sozialisten gelangten aus eigener Anschauung und eigenem Impetus zu ihrer Ansicht und implementierten ihre Politik ohne ausländischen Oktroi.²¹ An der Wende zum . Jahrhundert redeten gleichermaßen Staatsmänner wie Finanzminister Sergej Jul’evič Vitte und Revolutionäre dem Privileg der Rückständigkeit das Wort.²² In seinen Großfürst Michail Aleksandrovič gehaltenen volks- und staatswirtschaftlichen Vorlesungen betonte Vitte, Russland könne die Fehler der früher industrialisierten Staaten vermeiden und daher einen in sozialer Hinsicht harmonischeren Entwicklungsweg beschreiten.²³ Im sozialistischen Lager erfreute sich die Idee des „Privilegs der Rückständigkeit“ insbesondere unter den Adepten des narodničestvo²⁴ und des neonarodničestvo²⁵ beträchtlicher Popularität. Mit Rekurs auf die deutsche Schule des ¹⁹ ²⁰ ²¹

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Vgl. Esther Kingston-Mann: In Search of the True West. Culture, Economics, and Problems of Russian Development, Princeton, NJ , S. . Ebda., S. . Bertram D. Wolfe: Backwardness and Industrialization in Russian History and Thought, in: Slavic Review  (), H. , S. –, hier S.  f. Wolfe dekonstruierte nicht nur den „Westen“, sondern redete auch einem Pluralismus der historischen Entwicklung das Wort, ebda., S. , . Sergej Jul’evič Vitte: Vsepoddanejšij doklad ministra finansov Nikolaju II  g., in: Dokumenty po istorii monopolističeskogo kapitalizma v Rossii. Otv. red. Arkadij Lavrovič Sidorov, Moskau , S. –, hier S. ; Leo Trotzki [Lev Davidovič Trockij]: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen v. Helmut Dahmer und Richard Lorenz, Frankfurt am Main 2 , S. ; ders., Geschichte, S. , ; Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. :  bis Juni , Berlin (Ost) , S. . Sergej Jul’evič Vitte: Konspekt lekciij o Narodnom i Gosudarstvennom chozjajstve, čitannych Ego Imperatorskomu Vysočestvu Velikomu Knjazu Michailu Aleksandroviču v – gg., St. Petersburg , S. . V. V. [V. P. Voroncov]: Sud’by kapitalizma, v Rossii, St. Petersburg , S. ; vgl. Hildermeier, Sozialrevolutionäre Partei, S. ; Andrzej Walicki, The Controversy over Capitalism. Studies in the Philosophy of Russian Populists, Oxford . S.  f. Partija socialistov-revoljucionerov. Dokumenty i materialy. – gg. v  tt., t. : Do-

Lutz Häfner

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ökonomischen Historismus um Wilhelm Roscher propagierten sie insbesondere auf dem Gebiet der Landwirtschaft einen Entwicklungsweg, der die Schattenseiten des Kapitalismus vermeide.²⁶  entwickelte der Ökonom und Soziologe Vasilij Pavlovič Voroncov das Privileg in extenso²⁷ und bekräftigte es  in der Neuauflage seines kapitalismuskritischen Klassikers. Ungeachtet der im neopopulistischen Lager verbreiteten Kritik am Determinismus des Marxismus, der Menschen die Rolle von Puppen, aber nicht handelnden Subjekten zuweise, ging Voroncov von einem für alle „zivilisierten Völker“ verbindlichen kapitalistischen Weg aus, den sie zu beschreiten hätten. Die Resultate der produktiven Tätigkeit des Menschen seien dagegen abhängig von natürlichen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen. Voroncov klagte über Russlands klimatische Bedingungen, seine geographische Lage einschließlich des fehlenden Zugangs zu den Ozeanen und damit zum Warentausch. Hier klang ein geographischer Determinismus an, der ursächlich für Russlands Rückständigkeit sei – eine Überlegung, die Montesquieu bereits im . Jahrhundert angestellt hatte, sich aber auch bei russischen Historikern des . Jahrhunderts Sergej Michajlovič Solov’ev, oder dem Marxisten Georgij Valentinovič Plechanov, fand.²⁸ Wenn Russland den langsamen Entwicklungsprozess Westeuropas wiederholen müsste, so Voroncov, würde es von der zivilisierten Welt getrennt und versklavt von den kulturell höher entwickelten Völkern. Aufgrund seiner Rückständigkeit bzw. – und hier griff er auf eine Formulierung Čaadaevs zurück – seiner „Jugend“ könne Russland sich die Erfahrungen seiner „älteren“

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kumenty i materialy – gg., Sostavitel’, avtor predislovija, vvdenija i kommentariev Nikolaj Dmitrievič Erofeev, Moskau , S. ; Onisim Lukič Čižikov: Puti razvitija socialističeskoj revoljucii, in: Puti revoljucii. (Stat’i, materialy, vospominanija), Berlin , S. –, hier S. ; Rezoljucii i postanovlenija I i II vserossijskich s“ezdov partii levych social.-revoljucionerov (internacionalistov). S priloženiem proekta programmy i organizacionnago ustava, Moskau , S. . Katja Bruisch: Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Köln/Weimar/Wien , S.  f.; Kingston-Mann, In Search, S. –. V. V. [Vasilij Pavlovič Voroncov]: Sud’by kapitalizma, bes. S. . Sergej Michajlovič Solov’ev: Istorija Rossii s drevnejšich vremen v -i knigach, otv. red. Lev Vladimirovič Čerepnin, kn.  (t. ): Istorija Rossii v ėpochu preobrazovanija, Moskau , S.  f.; vgl. Mark Bassin: Geographical Determinism in Fin-de-siècle Marxism. Georgii Plekhanov and the Environmental Basis of Russian History, in: Annals of the Association of American Geographers  (), H. , S. –, hier S. –, , ; ders.: Turner, Solov’ev, and the “Frontier Hypothesis”. The Nationalist Signification of Open Spaces, in: Journal of Modern History  (), S. –, hier S. , .

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Rückständigkeit

Nachbarn zu eigen machen. Hier formulierte er das Privileg der Rückständigkeit.²⁹ So heterogen das sozialistische Lager Russlands in nahezu allen theoretischen wie tagespolitischen Fragen auch sein mochte, hinsichtlich der Rückständigkeit des Zarenreichs gab es unter ihnen keinen Dissens.³⁰ In der russländischen Sozialdemokratie mit ihrem eurozentrischen, fortschrittsorientierten, teleologischen Geschichts- und Gesellschaftsmodell herrschte über alle Fraktionsgrenzen hinweg Konsens.³¹ Ihrem manichäischen Weltbild entsprechend verglichen sie das Zarenreich mit extremen und plakativen, aber eben nicht zur Differenzierung geeigneten Formulierungen: Dessen Erscheinungsbild sei wie „in rückständigen asiatischen oder halbasiatischen Ländern“. Die Kombination der aziatščina einerseits mit dem Terminus Rückständigkeit andrerseits war das größtmögliche Verdikt.³² Hier bedienten sich auch die europäischen Sozialisten beispielsweise des seit der Aufklärung gepflegten Topos der Barbarei.³³ Der legale Marxist Petr Berngardovič Struve beklagte zu Beginn der er Jahre beredt Russlands fehlende Kultiviertheit. Bildung schien ihm das Vehikel zu sein, Rückständigkeit zu überwinden.³⁴ Insbesondere auch in der russischen Sozialdemokratie, vor allem bei den bol’ševiki mit ihrem Anspruch, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, stellten die Bauern die rückständigen Menschen

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V. V. [Vasilij Pavlovič Voroncov]: Sud’ba kapitalističeskoj Rossii. Ėkonomičeskie očerki Rossii, St. Petersburg , S. ,  f., –; vgl. Bassin, Geographical, S. –. Rezoljucii i postanovlenija I i II vserossijskich s“ezdov, S. ; Rezoljucii prinjatye na -m Sovete partii Lev. S. R. (Internacionalistov), Moskau , S. . L. Martoff [Julij Osipovič Martov]: Die preußische Diskussion und die russische Erfahrung, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. –, hier S. ; Julius Martow: Geschichte der russischen Sozialdemokratie. Mit einem Nachtrag von Theodor Dan: Die Sozialdemokratie Rußlands nach dem Jahre . Autorisierte Übersetzung von Alexander Stein, Berlin , Nachdruck Erlangen , S. ; Lydia Dan, in: Leopold H. Haimson (Hg.): The Making of three Russian Revolutionaries. Voices from the Menshevik Past, Cambridge/Paris , S. –, hier S. , ; vgl. Jane Burbank: Waiting for the People’s Revolution. Martov and Chernov in Revolutionary Russia –, in: Cahiers du Monde Russe et Soviétique  (), H. –, S. –, hier S. , ; Ziva Galili y García: The Menshevik Leaders in the Russian Revolution. Social Realities and Political Strategies, Princeton, NJ , S. , , , , . Grigorij Vladimirovič Cyperovi: Fal’sifikacija i surrogat, in: Sovremennyj Mir (), No. , S. –, hier S. ; W. I. Lenin: Werke, Bd. , Berlin (Ost) , S.  f. Vgl. beispielsweise Lenin, Werke, Bd. , S. . Vgl. Alberto Masoero: Territorial Colonization in Late Imperial Russia. Stages in the Development of a Concept, in: Kritika  (), H. , S. –, hier S. .

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dar.³⁵ Vor allem sie galt es zu verändern.³⁶ Allerdings war der intellektuelle Überlegenheitsdünkel keineswegs eine russische Besonderheit. Er war auch in anderen Ländern Europas im . Jahrhundert verbreitet.³⁷ Laut Struve war die materielle und geistige Kultur an den Kapitalismus gekoppelt. Daher forderte er insbesondere auch die narodniki auf, ihre Positionen zu überdenken und zu Adepten des Kapitalismus zu werden. Fortschritt bedeutete für Struve die kapitalistische Durchdringung des Landes. Ohne die kapitalistische Entwicklung bleibe das Zarenreich kulturell und ökonomisch rückständig.³⁸ Dies blieb das sozialdemokratische Credo auch über die Russische Revolution von  hinaus. Die radikaleren Sozialdemokraten, wie Lev Davidovič Trockij oder auch Rosa Luxemburg, hoben auf das Privileg der Rückständigkeit ab. Trockij bereicherte die Debatte darüber schon zu Beginn des . Jahrhunderts mit seiner Konzeption der ungleichen und „kombinierten Entwicklung“.³⁹ Während Marx noch seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, dass Großbritannien den Nachzüglern nur den Spiegel ihrer eigenen Zukunft vor Augen halte, ging Trockij davon aus, dass die Nachzügler zwar von außen durch den Kapitalismus in ein internationales System integriert würden, zugleich aber durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die partielle Übernahme von Technologien etc. sowie die Substitution bestimmter Phänomene eine den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen besondere Sozialstruktur hervorbringen würden. Deren Merkmale, eine schwache Bourgeoisie und ein in wenigen Zentren konzentriertes Proletariat, verhinderten eine Wiederholung: „England zeigte seiner Zeit die Zukunft Frankreichs, beträchtlich weniger Deutschlands und schon gar nicht Rußlands oder Indiens.“⁴⁰ Trockij wandte sich bereits von einer unilinearen historischen Entwicklung ab. Gemessen an Großbritannien waren alle

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Lenin: Werke, Bd. , S. . Fedor Nikitič Samojlov: Po sledam minuvšego. S predisloviem E. Jaroslavskogo, Moskau  (), S. . Yanni Kotsonis: Making Peasants Backward. Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, –, Houndmills, Basingstoke , S. ; Igor’ Vladimirovič Narskij: Intellectuals as Missionaries. The Liberal Opposition and their Notion of Culture, in: Studies in East European Thought  (), S. –, hier S. . Petr Berngardovič Struve: Kritičeskie zametki k voprosu ob ėkonomičeskom razvitii, St. Petersburg , S. , , . Trotzki, Geschichte, S.  f.; vgl. Ben Selwyn: Trotsky, Gerschenkron and the political economy of late capitalist development, in: Economy and Society  (), H. , S. – , hier S. . Trotzki, Geschichte, S. .

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Rückständigkeit

übrigen Staaten vom ausgehenden . bis zum beginnenden . Jahrhundert rückständig. Dieses Phänomen war nicht die Ausnahme, sondern die Norm.⁴¹ Ein hiervon abweichendes Szenario entwickelten die neopopulistischen Linken Sozialrevolutionäre im Verlauf der Russischen Revolution von . Vladimir Evgen’evič Trutovskij, einer ihrer Theoretiker, kritisierte, dass der Marxismus ausschließlich auf die entwickelten kapitalistischen Staaten fixiert sei und den „rückständigen“ Staaten der Dritten Welt keine revolutionäre Entwicklungsperspektive gebe. Die Linken Sozialrevolutionäre hingegen wollten das agrarrevolutionäre Potential der Dritten Welt und die Parallelität unterschiedlicher Revolutionen zum Sturz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in der westlichen Hemisphäre nutzen.⁴² Einmal mehr verwahrten sich die Linken Sozialrevolutionäre gegen die marxistische Orthodoxie. Für sie gab es eben keinen für alle verbindlichen Weg in den Sozialismus: „Wir sind keine Marxisten; deshalb können wir auch nicht einen Weg in der Geschichte anerkennen. Es gibt viele Wege, die uns so schnell wie möglich zum Ziel führen, zum Sozialismus.“⁴³ In Trutovskijs Denken keimte die Abkehr vom eurozentrischen Weltbild auf. In einem Punkte konvergierten Trockijs und Trutovskijs Ausführungen. Sie nahmen die Idee der relationalen Moderne vorweg, wie sie Shmuel N. Eisenstadt an der Wende zum . Jahrhundert in die suggestive Formulierung der „multiple modernities“ kleidete.⁴⁴ In welchen Bereichen konstatierten Zeitgenossen Rückständigkeit im Zarenreich, woran machten sie sie fest? Die Größe des Imperiums, seine ethnokulturelle Pluralität und seine strukturelle sozioökonomische Vielschichtigkeit galten den neonarodniki als Erklärung seiner Rückständigkeit.⁴⁵ Als Achillesferse betrachteten sie vor allem die geringe Produktivität der Landwirtschaft.⁴⁶ ⁴¹

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Justin Rosenberg: Isaac Deutscher and the lost history of international relations, in: New Left Review  (), H. , S. –, hier S. ; vgl. Laura Engelstein: Combined Underdevelopment. Discipline and the Law in Imperial and Soviet Russia, in: American Historical Review  (), H. , S. –, bes. S.  f. Vladimir Evgen’evič Trutovskij: Perechodnyj period. (Meždu kapitalizmom i socializmom), Petrograd , S. –. Vladimir Evgen’evič Trutovskij: Petrograd,  maja, in: Zemlja i Volja, No. , .., S. . Shmuel N. Eisenstadt: Multiple Modernities, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences  (), No. , S. –. A–va: Čto teper’ nužno?, in: Izvestija Oblastnogo Komiteta Zagraničnoj organizacii (Paris) No.  (Mart ), S. –, hier S. . Nikolaj Petrovič Oganovskij: Zakonomernost’ agrarnoj ėvoljucii, t. : Obnovlenie zemledel’českoj Rossii i agrarnaja politika, vyp. : Naselenie, pereselenčeskij vopros, Saratov , S. . Mit neuen Erkenntnissen zum ursächlichen Zusammenhang von obščina und landwirtschaftlicher Rückständigkeit David Kerans: Toward a Wider View of the Agra-

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Zeitgenossen beklagten ihre technische Rückständigkeit.⁴⁷ Gründe sahen sie u. a. in der obščina, der rechtlichen Lage der Bauern, aber auch in ihrer Armut und fehlenden Kreditmöglichkeiten.⁴⁸ Wie sehr Rückständigkeit der Subjektivität des Betrachters unterworfen ist,⁴⁹ zeigt das Beispiel eines Disputs zwischen den beiden geistigen Präzeptoren des narodničestvo: Während der seit  in Paris lebende Petr Lavrovič Lavrov die Rückständigkeit Russlands hervorhob, drehte Nikolaj Konstantinovič Michajlovskij den Spieß gleichsam um: Russland stelle eine höhere Gesellschaftsform als der Westen Europas dar, deren Garant die weitgehend egalitäre Bauerngemeinde mit ihrer Selbstverwaltung sei.⁵⁰ Im Allgemeinen stimmte die intelligencija dahingehend überein, aus der konstatierten bäuerlichen Rückständigkeit, die eine Folge deren geringer Bildung und fehlender Zivilisiertheit war,⁵¹ den eigenen paternalistischen Führungsanspruch abzuleiten.⁵² Bauern avancierten zum zivilisatorischen, man könnte sa-

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rian Problem in Russia, –, in: Kritika  (), H. , S. –, hier S. –  et passim; Dietmar Neutatz: Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreiches im Vergleich, in: Victor Herdt, Dietmar Neutatz (Hg.): Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga, Wiesbaden , S. –, hier S.  f. S. J. Anin: Der Vereinigungskongreß der russischen Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. –, hier S. ; Theodor Dahn [Fedor Dan]: Die Bedingungen des erneuten Aufschwungs der russischen Revolution, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. –, hier S. ; Aleksandr Apollonovič Manujlov: Pozemel’nyj vopros v Rossii, in: Agrarnyj vopros. Sbornik statej. Otv. red. Pavel Dmitrievič Dolgorukov i Ivan Il’ič Petrunkevi, Moskau , S. –, hier S. ; I. Vvedenskij: Po novomu puti, in: Voprosy Kolonizacii (), H. , S. –, hier S. . Manujlov, S.  f., vgl. auch Vincent Barnett: Historical political economy in Russia, –, in: European Journal of the History of Economic Thought  (), H. , S. –, hier S. . Dies hat auch Börries Kuzmany: Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen . Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien  in seiner Darstellung deutlich gemacht: Reisenden erschien die Stadt entweder als letzter Vorposten des Westens oder bereits als Inkarnation des „rückständigen“ Ostens. Christoph Schmidt: Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in Rußland, in: Historische Zeitschrift  (), S. –, hier S. . Gavriil Markovič Bubis: Malozemel’e i vyroždenie, in: Zdorov’e. Žurnal populjarnoj mediciny i gigieny  (), H. , Sp. –, hier Sp. ; Peter Maßlow [Maslov]: Die Agrarfrage in Rußland. Die bäuerliche Wirtschaftsform und die ländlichen Arbeiter. Autorisierte Übersetzung von Moskau Nachimson, Stuttgart , S. . Vgl. Catherine Evtuhov: Portrait of a Russian Province. Economy, Society, and Civilization in Nineteenth-Century Nizhnii Novgorod, Pittsburgh, PA , S. ; KingstonMann, In Search, S. ; Narskij, Intellectuals, S. .

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Rückständigkeit

gen: binnenkolonisatorischen Projekt der intelligencija.⁵³ Diese sah in den Bauern ein bloßes Objekt,⁵⁴ eine zwar amorphe, aber zu modellierende Masse, die sich außerstande zeige, die eigenen Interessen ohne Hilfe der intelligencija artikulieren zu können. Dass es sich um ein asymmetrisches Verhältnis zwischen intelligencija und den Bauern handelte, kann nicht überraschen. Bereits die Rahmenbedingungen standen einer gleichberechtigten Kommunikation entgegen: Bildung, die Struktur der Öffentlichkeitsforen von der Versammlungsebene bis hin zu den Massenmedien – überall verfügte die intelligencija über einen privilegierten Zugriff. Im Grunde hat sich diese Konstellation bis heute nicht gewandelt.⁵⁵ Der verbeamtete Revisor der Hauptverwaltung für Landeinrichtung und Landwirtschaft [Glavnoe upravlenie zemleustrojstva i zemledelija, GUZiZ] Gennadij Fedorovič Čirkin machte auf ein innerimperiales west-östliches Kulturgefälle aufmerksam: Er kontrastierte das Beharrungsvermögen und die kulturelle Rückständigkeit der nach Sibirien migrierten Russen, der sibirjaki, mit dem kulturellen Fortschritt, den die asiatischen Landesteile dem permanenten Übersiedlerzustrom zu verdanken hätten: Sie brächten Maschinen, landwirtschaftliches Wissen und praktisches Know-how, also wirtschaftliches und kulturelles Kapital mit sich.⁵⁶ Aber diese Zivilisierungsmission galt nicht nur Sibirien, das gemeinhin als „Hort der Rückständigkeit“⁵⁷ betrachtet wurde, und den Indigenen des Imperiums, sondern letztlich auch den Bauern Zen-

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Kotsonis, Making, S. –; Kingston-Mann, In Search, S. ; Aleksandr Ėtkind: Bremja britogo čeloveka, ili Vnutrennjaja kolonizacija Rossii, in: Ab Imperio (), H. , S. –, hier S. , ; Willard Sunderland: Empire without Imperialism? Ambiguities of Colonization in Tsarist Russia, in: Ab Imperio (), H. , S. –, hier S. ; vgl. dazu die Kritik von Lars T. Lih: Experts and Peasants, in: Kritika  (), H. , S. –, hier S. , –. Kotsonis, Making, S. , ; ders.: How Peasants Became Backward. Agrarian Policy and Co-operatives in Russia, –, in: Judith Pallot (Hg.): Transforming Peasants: Society, State and the Peasantry, –. Papers presented to the Fifth World Congress on Slavic and East European Studies, Warsaw, August , Houndmills, Basingstoke , S. –, hier S. . Wenn immer Reformen im Namen bzw. zugunsten unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen auf der politischen Agenda stehen, man denke nur an die Bundesrepublik des . Jahrhunderts von Hartz IV bis zum Mindestlohn: Sie bleiben vor allem Objekt der Diskussion als gleichberechtigtes Subjekt der Verhandlungen über sie. Gennadij Fedorovič Čirkin: O zadačach kolonizacionnoj politiki v Sibiri, in: Voprosy Kolonizacii (), H. , S. –, hier S. . Vgl. Eva-Maria Stolberg: Russlands „wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im . und . Jahrhundert, Stuttgart , S. .

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tralrusslands. Auch diese figurierten für die intelligencija als Gegenstand und Betätigungsfeld.⁵⁸ Karl Kautsky, der wiederholt die wirtschaftliche und verkehrsinfrastrukturelle Rückständigkeit Russlands betonte,⁵⁹ argumentierte marxistisch, wenn er die geringe politische Partizipation als Konsequenz der ökonomischen Rückständigkeit des Zarenreichs erklärte.⁶⁰ Zugleich machte er aber im Erfurter Programm der SPD deutlich, dass es eine der wichtigsten Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie sei, das zwischen den einzelnen Staaten bestehende Entwicklungsgefälle abzuschaffen. Gleiche Voraussetzungen seien die Voraussetzung internationaler Solidarität. Es gelte also, die Rückständigkeit im globalen Maßstab zu überwinden.⁶¹ Aber selbst die europäischen Metropolen, die im Rufe standen, Laboratorien der Moderne zu sein, blieben vor Unbilden, die sich als Signum der Rückständigkeit deuten ließen, nicht verschont. Die Choleraepidemie grassierte  nicht nur in St. Petersburg⁶² oder in Wolgastädten wie Saratov,⁶³ sondern auch in Hamburg. Hier rief Robert Koch angesichts der unhygienischen und unsozialen Lebensumstände im Hamburger Gängeviertel aus: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin.“⁶⁴ In Hamburg erwies sich die Cholera als großer Modernisierer: Sie gab den Anstoß für umfangreiche Gesundheitsreformen und städtische Infrastrukturmaßnahmen auf dem Gebiet der Daseinsfürsorge. Im Zarenreich aber blieben Städte und Gemeinden, die über eine Kanalisation verfügten, die große Ausnahme,⁶⁵ so dass kurz vor Ausbruch des Ersten ⁵⁸ ⁵⁹

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Vgl. Sunderland, Empire, S. . Karl Kautsky: Kautsky gegen Lenin. Hg. v. Peter Lübbe, Berlin, Bonn , S. ; ders.: Die Differenzen unter den russischen Sozialisten, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. –, hier S. ; ders.: Die Aussichten der Russischen Revolution, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. –, hier S. . Karl Kautsky: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Gedächtnis, in: Der Sozialist. Unabhängige sozialdemokratische Wochenschrift  (), S. –, hier S. . Karl Kautsky: Das Erfurter Programm. In seinem grundsätzlichen Teil erläutert. Mit einer Einl. v. Susanne Miller, Berlin/Bonn 2 , S. . Ol’ga Jur’evna Malinova-Tziafeta: Iz goroda na daču. Sociokul’turnye faktory osvoenija dačnogo prostranstva vokrug Peterburga (–), St. Petersburg , S. . Charlotte E. Henze: Disease, Health Care and Government in Late Imperial Russia. Life and Death on the Volga, –, London/New York , S. . Zit. nach Richard J. Evans: Tod in Hamburg: Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren –. Aus dem Englischen von Karl A. Klewer, Reinbek bei Hamburg , S. . Alison K. Smith: Public Works in an Autocratic State. Water Supplies in an Imperial Russian Town, in: Environment and History  (), H. , S. –, hier S. ; noch drastischer formuliert bei Gerasimov, On the Limitations of a Discursive Analysis of

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Rückständigkeit

Weltkriegs der liberale Arzt und Staatsdumabgeordnete Andrej Ivanovič Šingarev zu seinem großen Bedauern konstatieren musste, dass das Zarenreich in sanitärer Hinsicht besonders rückständig sei.⁶⁶ Dies war allerdings kein russisches Spezifikum. Zu Beginn des . Jahrhunderts galt dies auch für viele USamerikanische Städte. Und selbst in Großbritannien stellte beispielsweise die Tbc-Infektion von Kindern durch Kuhmilch bis in die er Jahre ein außerordentliches Hygieneproblem dar, dass dem Mutterland der Industrialisierung keineswegs zur Ehre gereichte. Diese willkürlich gewählten Beispiele illustrieren die Doppelbödigkeit bzw. Fragwürdigkeit von Begriffen wie „entwickelt“ oder „modern“, die im Allgemeinen wenige Historiker zur Charakterisierung der Lebensverhältnisse in Großbritannien für das beginnende . Jahrhundert ablehnen würden. Gleichwohl stimmten im Zarenreich liberale und sozialistische intelligencija in Bezug auf die Gestaltung des großstädtisch-urbanen Raumes dahin gehend überein, dass das Privileg der Rückständigkeit den Metropolen des Ancien Régime ein einzigartiges Entwicklungspotential zur Verfügung stellte, weil sie die modernste Technologie einführen konnten. Rückständigkeit war hier keine Bürde, sondern eine Chance, Fehler und überflüssige Investitionen zu vermeiden. Hier deutete sich eine teleologische Entwicklung an: die Konvergenz des modernen Lebens westlicher Metropolen wie London, Paris oder Berlin mit St. Petersburg und Moskau.⁶⁷ Allerdings betonten schon die Zeitgenossen sektorale Diskrepanzen, denn der soziale und ökonomische Fortschritt vor  kannte durchaus seine Schattenseiten: Krankheit, Umweltverschmutzung zählten ebenso zu den negativen Begleiterscheinungen wie die politische Rückständigkeit des Ancien Régime gerade mit Blick auf die eingeschränkte gesellschaftliche Partizipation.⁶⁸ Wichtig war darüber hinaus, um wessen Wahrnehmung es sich handelte. Der Mensch neigt dazu, Fremdes schneller mit Verdikten zu belegen als das vertraute Eigene. Bei Eigenwahrnehmungen ist es daher geboten zu untersuchen, inwieweit solche Urteile sich in bereits bestehende internatio-

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“Experts and Peasants”, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), H. , S. – , hier S. . A. Shingarev [Andrej Ivanovič Šingarev]: The Reform of Local Finance in Russia, in: Russian Review  (), H. , S. –, hier S. . Aleksej Zorin [i.e. Gastev]: Rabočij mir. (Novyj Piter), in: Žizn’ dlja vsech. Ežemějsačnyj literaturnyj, chudožestvennyj, naučnyj i obščestvenno-političeskìj žurnal () , Sp. –, bes. Sp. . Vgl. Mark D. Steinberg: St. Petersburg. Fin de Siècle, New Haven, CT/London , S. .

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nale Diskurse einschrieben oder möglicherweise unabhängig von ihnen und als Selbstdefinitionen zu demselben Resultat gelangten. Auch andere Staaten bzw. Regionen waren Gegenstand eines Rückständigkeitsdiskurses oder pflegten ihn.⁶⁹ Am Beispiel der Habsburger Monarchie wäre zu prüfen, seit wann dies der Fall war, wer als rückständig galt und wer die Referenzgrößen der Orientierung waren.⁷⁰ Das aufstrebende liberale Bürgertum sah zwar den Adel innerhalb der Gesellschaft des Habsburger Reiches im Fin de Siècle als gesellschaftlich führend, zugleich aber als rückständig an. Aber die Stände waren keineswegs homogen, es gab progressive und konservative Elemente, fortschrittliche und rückständige. Gesellschaftliche Zuschreibungen überlagerten sich und ergaben ein sehr diffuses Bild gesellschaftlicher Stratifikation.⁷¹ Schaute Kakanien ausschließlich nach Norden und Nordwesten⁷² auf der Suche nach der Moderne oder auch nach Osten bzw. mit Blick beispielsweise auf Bosnien-Herzegowina nach Süden? Auch wäre zu fragen, welche Kronländer bzw. welche gesellschaftlichen Akteursgruppen einen solchen Diskurs pflegten.⁷³ War er in Böhmen oder in Cisleithanien ebenso ausgeprägt wie in Galizien? Welche Argumentationsmuster fanden Verwendung und wurde mit dem Argument kultureller Überlegenheit politische Hegemonie legitimiert?⁷⁴ ⁶⁹ ⁷⁰

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Andrej Alekseevič Isaev, O socializme našich dnej, Stuttgart , S.  betonte Österreichs wirtschaftliche Rückständigkeit verglichen mit dem Deutschen Reich. Reinhart Koselleck: Fortschritt, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck: (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Studienausgabe, Bd. : E–G, Stuttgart , S. –, hier S. . Carl E. Schorske: Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture, New York , S.  f., , , . Die in Wien um sich greifende Wahrnehmung der eigenen Rückständigkeit gegenüber Berlin betonen Juliane Mikoletzky: Die Wiener Sicht auf Berlin, –, in: Gerhard Brunn, Jürgen Reulecke (Hg.): Metropolis Berlin. Berlin als deutsche Hauptstadt im Vergleich europäischer Hauptstädte –, Bonn/Berlin , S. –; Heidemarie Uhl: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne, in: Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck/Wien/München , S. –, hier S. . Hanna Kozinska-Witt: Die galizische Selbstverwaltung und der unternehmerische Geist. Das Problem der öffentlichen Wirtschaftsförderung in einem rückständigen Kronland. Ein Versuch, in: Jörg Gebhard, Rainer Lindner, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Unternehmer im Russischen Reich. Sozialprofil, Symbolwelten, Integrationsstrategien im . und frühen . Jahrhundert, Osnabrück , S. –, hier bes. S. – geht auf diese Fragen nicht ein. Uhl, S. ; Peter Stachel: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnographischen Populärliteratur der Habsburgermonarchie, in: Johannes Feichtinger, Ursu-

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Rückständigkeit

Marx bezeichnete das „deutsche Regime“ vor der Revolution von  als „anachronistisch“⁷⁵ – gleichwohl entwickelte sich der Staat binnen weniger Jahrzehnte zu einer der führenden Industrienationen und überholte in einigen Bereichen vor  sogar England.⁷⁶ Rückständigkeit könnte hier als ein bloßes Phasen- oder Sektorphänomen gedeutet werden, das sich in einem relativ kurzen Entwicklungsprozess überwinden ließ. Die politischen Verhältnisse insbesondere in Preußen blieben von dem Wandel allerdings unberührt.⁷⁷ Vom Deutschen Reich ist schließlich bekannt, dass hier eine Rückständigkeitsdebatte geführt wurde⁷⁸ – Stichwörter wären hier vor allem politische und rechtliche Defizite. Das Deutsche Reich rühmte sich nicht nur seiner Kultur, sondern auch des hohen Entwicklungsgrades seiner Industrie. Zugleich existierten wie in einem Imperium unterschiedliche Rechtsräume. Die in einzelnen Bezirken Preußens vor  zum Teil seit hunderten von Jahren gültigen Gesindeordnungen legten Landarbeitern Pflichten auf, die ihnen nahezu „den Stempel der Hörigkeit aufdrücken“.⁷⁹ Als noch gravierender erachtete insbesondere die SPD die politischen Verhältnisse in Preußen mit dem „unerträglichen“ Dreiklassenwahlrecht. Nach der Februarrevolution  in Russland hieß es in

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la Prutsch (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck/Wien/München , S. –, hier S. . Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. , Berlin (Ost) 13 , S. ; vgl. Viktor Michajlovič Černov: Uprazdnenie narodničestva, in: Zavety (), H. , S. –, hier S. . Hans-Henning Nolte: Tradition des Rückstands. Ein halbes Jahrtausend „Russland und der Westen“, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte  (), H. , S. –, hier S. . Vgl. Arthur Rosenberg: Die Geschichte der deutschen Republik, Karlsbad , S. – ; Erich Matthias: Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, in: Iring Fetscher (Hg.): Marxismusismus-Studien, Bd. , Tübingen , S. –, hier S. . Der den legalen Marxisten nahestehende Politökonom Isaev: O socializme, S.  betonte Deutschlands an seinen westlichen Nachbarn gemessene politische Rückständigkeit vor . Fragwürdig ist das Vorgehen von Maria Todorova: The Trap of Backwardness. Modernity, Temporality, and the Study of Eastern European Nationalism, in: Slavic Review  (), S. –, hier S. . Sie schreibt: „This sense of lag and lack, analytically subsumed in the notion of backwardness, has been a dominant trope not only in non-European historiographies. For long decades it had been painfully present in German self-perceptions.“ In der Fußnote verweist sie nicht auf die Studie von Helmut Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart  (), sondern auf Reinhart Koselleck: Deutschland – eine verspätete Nation? Koselleck hält die Frage nach einer „Verspätung“ für „falsch gestellt“, ebda., S.  (Zitat),  f. Karl Severing: Die nächsten der dringendsten Forderungen an die preussische Sozialpolitik, in: Sozialistische Monatshefte  (), H. –, S. –, hier S. .

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der sozialdemokratischen Publizistik: „Ganz Deutschland erwartet […], dass seine innenpolitische Entwicklung nicht hinter der russischen zurückbleibt.“⁸⁰ Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewann in linken Kreisen der SPD um Georg Ledebour und Adolf Hoffmann eine darwinistische Deutung überhand: aus ökonomischer Rückständigkeit resultiere politische Schwäche. Die Kombination beider Parameter wecke den Appetit der Großmächte, sich solche Staaten einzuverleiben.⁸¹ Eines ähnlichen Argumentationsmusters bediente sich Stalin, um Ende der er Jahre die forcierte Industrialisierung zu implementieren.⁸²

Manfred Hildermeier und das Rückständigkeitsparadigma Die Rückständigkeit ist in zahlreichen Publikationen Hildermeiers zur russischen und sowjetischen Geschichte Russlands der zurückliegenden vier Jahrzehnten eine zentrale Analysekategorie gewesen. Sie strukturiert auch seine „Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution.“ Dabei grenzt sich Hildermeier aber deutlich vom Gerschenkron’schen Modell der Rückständigkeit ab, das er in weiten Teilen als widerlegt betrachtet.⁸³ Hierzu haben die wirtschaftshistorischen Forschungen Paul Gregorys in erheblichem Maße beigetragen. Gregory betrachtet das Zarenreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs als eine funktionierende Marktwirtschaft. Ungeachtet aller Schwierigkeiten des Agrarsektors sei die landwirtschaftliche Produktion schneller gestiegen als die Bevölkerung. Die Wachstumsraten hätten nicht unter denen des übrigen Europa gelegen. Das Zarenreich habe sich auf dem internationalen Markt als Agrarexporteur behaupten können.⁸⁴ Zwar habe Russland gemessen an den westeuropäischen Nachbarn institutionelle und infrastrukturelle Schwächen aufgewiesen, auch sei der staatlich-administrative Einfluss auf die Wirtschaft groß gewesen, er habe sie jedoch nicht paralysiert. Das Zaren⁸⁰ ⁸¹

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Max Cohen: Russische Revolution und deutsche Politik, in: Sozialistische Monatshefte  (), H. , S. –, Zitate S.  u. . Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution. Vom Kaiserreich zur Republik – Die Novemberrevolution – Der Bürgerkrieg in Deutschland. Hg. v. Jochen Gerster, Ralf Hoffrogge u. Rainer Knirsch, Berlin , S. . Josef Wissarionowitsch Stalin: Über die Aufgaben der Wirtschaftler, Rede vom . Februar , in: ders.: Werke, Bd. , Dortmund , S. . Ansatzweise bei Hildermeier, Privileg, S.  f.,  f.; dezidiert ders., Geschichte, S. . Pol Gregori [Paul Gregory]: Ėkonomičeskij rost Rossijskoj imperii (konec XIX – načalo XX v.). Novye podsčety i ocenki. Perevod s anglijskogo I. Kuznecova, A. i N. Tichonovych, Moskau , S. –.

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Rückständigkeit

reich sei in den Weltmarkt integriert gewesen⁸⁵ und die beträchtlichen Auslandsinvestitionen in Russland seien nicht nur wegen der beträchtlichen Rendite erfolgt, sondern auch Ausdruck der erwarteten Zukunftsperspektiven des Landes gewesen. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten hätten diesen Optimismus genährt.⁸⁶ Hildermeier konzediert zwei Defizite des Rückständigkeitsparadigmas: Es habe zum einen Fortschritt ausnahmslos in Europa lokalisiert. Zum anderen teilt er die von Kritikern der Rückständigkeitskategorie monierte Normativität des Begriffs. Sie könne dazu führen, Kriterien an das Untersuchungsobjekt heranzutragen, die diesem fremd seien. Um das Rückständigkeitsparadigma zu retten, plädiert Hildermeier dafür, es von einem makroanalytischen Konzept auf eine Untersuchungskategorie beschränkter Reichweite zu reduzieren, das dennoch eine systematische Erklärung „zeitlich und inhaltlich definierte[r] Teileinheiten“ erlaube.⁸⁷ Rückständigkeit sei somit als Kategorie geeignet nicht nur für komparativ angelegte, sondern auch für globalgeschichtliche Studien oder solche der Verflechtung. Zugleich flexibilisiert er die Kategorie: Rückständigkeit sei nicht statisch, sondern vielmehr relativ, an keinen Ort gebunden und nicht selten ein sektorales Phänomen.⁸⁸ Nachzüglergesellschaften kopierten keineswegs nur Prozesse, Institutionen und Strategien. Sie substituierten sie auch nicht, wie es noch bei Gerschenkron hieß,⁸⁹ sondern hätten eigene Lösungen gefunden und damit den multiple modernities Rechnung getragen.⁹⁰ Diese Gesellschaften seien insofern privilegiert, als sie die jeweils modernste bzw. effektivste Form übernehmen konnten. Heterogenität und Hybridität könnten hierfür als Schlagworte geltend gemacht werden.⁹¹

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Leonid Borodkin, Brigitte Granville, Carol Scott Leonard: The Rural/Urban Wage Gap in the Industrialization of Russia, –, in: European Review of Economic History  (), S. –, hier S. . Gregori, S. –; Nolte, Tradition, S. , ; Judith Pallot, Denis J. B. Shaw: Landscape and Settlement in Romanov Russia –, Oxford , S. ; Boris Ananich: The Russian Economy and Banking System, in: Dominic Lieven (Hg.): The Cambridge History of Russia, vol. : Imperial Russia, –, Cambridge , S. –, hier S.  f. Hildermeier, Geschichte, S.  f. Ebda., S. , . Alexander Gerschenkron: Problems and Pattern of Russian Economic Development, S. ; James H. Bater: St. Petersburg. Industrialization and Change, Montreal , S. . Hildermeier, Geschichte, S. . Ebda., S.  f.

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Kritik am Begriff und Paradigma der Rückständigkeit Als der Terminus Rückständigkeit im Kontext der Modernisierungstheorie der er und er Jahre Hochkonjunktur hatte, schrieb der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Harvard University Adam B. Ulam: „There is, for example, that wretched word, ‘backwardness.’ A prize should be set aside for a book on Russia which will manage to avoid this term altogether, for it surely conceals more that it reveals about the nature of the country’s society before .“⁹² Ulam fuhr nicht nur mit Blick auf das bemerkenswerte Industrialisierungstempo vor dem Ersten Weltkrieg fort, dass ein Vergleich in einigen Wissenschaftsdisziplinen, von Kunst und Literatur ganz abgesehen, mit den USA zugunsten des Zarenreichs ausgefallen wäre. Ulams Fazit lautete, dass Rückständigkeit bestimmt sei, für Konfusion zu sorgen.⁹³ Gleichwohl ist die Geschichte Osteuropas, vor allem Russlands und der Sowjetunion, über mehrere Dezennien hinweg unter der Prämisse geschrieben worden, dass die Entwicklung seit  bzw. seit dem Zweiten Weltkrieg als Deformation zu betrachten sei, dass auch diese Regionen den Pfad „westlicher“ Modernisierung, wenn auch nachholend, beschreiten müssten.⁹⁴ Letztlich blieb Karl Marx teleologisches Diktum Richtschnur historischer Prozesse: „Das entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft.“⁹⁵ Im Besonderen die russische Geschichte wurde als defizitär begriffen. Edward Louis Keenan griff Mitte der er mit seiner Deprivationshypothese diese Geschichtsschreibung auf. Russlands Devianz sei eine Folge seiner entwicklungsgeschichtlichen Defizite: Weder die Renaissance noch die Aufklärung usw. hätten hier stattgefunden.⁹⁶ Das Zarenreich figurierte als Kontrastfolie der „alten Welt“ par excellence. Mal galt es wegen seiner direkten, unvermittelten Gewaltaktionen als rückstän-

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Adam B. Ulam: The Price of Revolution. Rez. von J[ohn]. P[eter]. Nettl: The Soviet Achievement, Harcourt , in: Commentary  (..) , S. –, hier S. . Ebda. Vgl. Michael Müller: Die Historisierung des bürgerlichen Projekts. Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte  (), S. –, hier S.  f.; Todorova, Trap, S. . MEW, Bd. , S. . Edward Louis Keenan: Muscovite Political Folkways, in: Russian Review  (), S. –.

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Rückständigkeit

dig,⁹⁷ mal galt dies ohne Unterschied für Industrie,⁹⁸ Landwirtschaft und Bauern.⁹⁹ Allerdings hat die Forschung in den vergangenen drei Jahrzehnten viel dazu beigetragen, dieses sehr homogene Negativbild zu dekonstruieren und die sektorale und regionale Binnendifferenzierung von Landwirtschaft und Bauernschaft aufzuzeigen.¹⁰⁰ Der sich Mitte der er Jahre anbahnende Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft ließen Modernisierungstheorie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zunehmend in den Hintergrund treten. Mikro- und Alltagsgeschichte, die Untersuchung von Wahrnehmungen und Erfahrungen im Zuge des cultural Turn, post-colonial Studies und die Globalgeschichte als neue Fixsterne am Wertehimmel der Geschichtswissenschaft führten zu wachsender Kritik an der Rückständigkeit.¹⁰¹ Verdikte wie „Rückständigkeitsklischee“ sind keineswegs selten.¹⁰² Die Kritik galt erstens einem abwertenden Konstrukt, das Errungenschaften, Entwicklungen und Maßstäbe des „Westens“ als normative Basis eines Vergleichs setzte.¹⁰³ Zweitens erschütterte der Vorwurf des Eurozentrismus den Kern des westlichen Weltbildes und mehrte die Zweifel an seiner Selbstreferenzialität.¹⁰⁴ Die US-Historiker Michael Melancon und Susan McCaffrey zogen den Nutzen der Rückständigkeit als Interpretationswerkzeug in ⁹⁷

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Ian D. Thatcher: Late Imperial Urban Workers, in: idem (Hg.): Late Imperial Russia. Problems and Prospects. Essays in Honour of R. B. McKean, Manchester , S. , hier S. ; Jakob Schissler: Die Diskussion über Gewalt in der russischen Revolution, in: Wolfgang Huber u. Johannes Schwerdtfeger (Hg.): Frieden, Gewalt, Sozialismus. Studien zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung, Stuttgart , S. –, hier S. . Gerschenkron, Economic Backwardness; Hans-Heinrich Nolte: Eisen und Stahl im Zarenreich und in der Sowjetunion, in: Martin Aust (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte –, Frankfurt am Main , S. –, hier S. . So z. B. Teodor Shanin: The Awkward Class. Political Sociology of Peasantry in a Developing Society: Russia –, Oxford , S. . Vgl. Boris B. Gorshkov: Serfs on the Move. Peasant Saisonal Migration in Pre-Reform Russia, –, in: Kritika  (), H. , S. –, bes. S. . Vgl. Evtuhov, Portrait, S. . Martina Winkler: „Mein Besitz, mein Landgut, Erbland, Dorf oder wie auch immer Du es nennen möchtest.“ Eine russische Begriffsgeschichte des Eigentums, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), H. , S. –, hier S. . Andreas Kappeler: Der Tausendfüßler. Russland ist ein Teil Europas: Über Manfred Hildermeiers große Geschichte des Zarenreichs, in: Zeit Magazin, No. , .., S. – , hier S. . Ibrahim Kaya: Modernity, Openness, Interpretation: A Perspective on Multiple Modernities, in: Social Science Information  (), H. , S. –, hier S. ,  f.; Hildermeier, Geschichte, S.  f.

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Zweifel. Sie verwiesen beispielsweise auf die Einführung einer allgemeinen Unfallversicherung für Arbeiter im Zarenreich im Jahre , während sie in den USA erst in der Depression realisiert worden sei. Die rhetorische Frage der beiden Verfasser lautete: Hätten die USA deswegen eine Anleihe im rückständigen Russland gemacht? Was sei rückständig? Hiervon ausgehend plädierten sie dafür, den Begriff sorgfältig zu definieren.¹⁰⁵ Yanni Kotsonis zählte am Ende des . Jahrhunderts zu den dezidiertesten Kritikern des Rückständigkeitsparadigmas. Ein Aspekt der Aufklärung, der Rationalität und des Fortschritts sei zu einer eigenständigen „Ideologie“ avanciert. Rückständigkeit sei zugleich zum Maßstab, Hypotheserahmen und Erklärungsmodell geworden:¹⁰⁶ „[…] the key to analyzing such diverse groups lies in the one foundation on which they all rested, a perception of ‘backwardness’ — the assumption that the peasantry was ‘backward’, and the conclusion that ‘backwardness’ necessitated the intervention or passive benevolence of those who were not. […] If ‘backwardness and progress’ as a construction was pervasive among these groups, it was as an opposition and a taxonomy sooner than as a trajectory promising universal ‘progress’. ‘Progress’ was used to posit that most of the population was ‘backward,’ and in the process precluded the emergence of an ideology in which peasants might understand themselves, and which they might use as a basis for participation as legitimate actors in one or another vision of a political order.“¹⁰⁷ Ein Jahr später ergänzte Kotsonis die Rückständigkeit um den Begriff „Moderne“ als eine Analysekategorie. Er begründete sein methodisches Vorgehen damit, dass die Akteure des Zarenreichs an den europäischen Diskursen über Aufklärung, Universalismus, Integration partizipierten. Sie waren eingebunden in die Diskussionen über die europäische Moderne, sie versuchten, sich, ihre Gesellschaft, ihren Staat darin zu verorten.¹⁰⁸ Gerade bei der Standortbestimmung stellten die Akteure immer wieder eine Entwicklungsdifferenz fest,¹⁰⁹ die ¹⁰⁵

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Susan Purves McCaffray, Michael Melancon: Introduction. A Member of the Family – Russia’s Place in Europe, –, in: dies. (Hg.): Russia in the European Context –. A Member of the Family, Houndmills, Basingstoke , S. –, hier S. . Kotsonis, Peasants, S. . Ebda., S. . Yanni Kotsonis: Introduction. A Modern Paradox – Subject and Citizen in Nineteenthand Twentieth-Century Russia, in: David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills, Basingstoke , S. –, hier S. . Peter Gatrell: Poor Russia. Environment and Government in the Long-Run Economic History of Russia, in: Geoffrey Hosking, Robert Service (Hg.): Reinterpreting Russia, London , S. –, S.  verwarf aber als Erklärungsansatz von Armut und geringe-

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Rückständigkeit

sie mit dem Begriff otstalost’ fassten. Und dies betraf keineswegs ausschließlich den intereuropäischen Vergleich, beispielsweise die gesellschaftliche Stratifikation, die Hildermeier als rückständig rubrizierte.¹¹⁰ Auch zur Beschreibung der Verhältnisse im eigenen Imperium, der dualen Kultur, der Beziehungen zwischen Eliten und Volk, zwischen bürgerlich-westlicher Aufklärung und traditioneller bäuerlicher Kultur mit ihren archaischen Praktiken der Gewalt,¹¹¹ die über Arbeitsmigranten bis in das städtische Umfeld hineingetragen wurde,¹¹² zwischen Zentrum und Peripherie, Christen und Nichtchristen, zwischen Russen und Nichtrussen,¹¹³ hier in erster Linie der indigenen Bevölkerung der asiatischen Landesteile, hatte diese Entwicklungsdifferenz Gültigkeit.¹¹⁴ Ethnizität war ein zentraler Gradmesser, der sich mit Rückständigkeitszuschreibungen bestens kombinieren ließ.¹¹⁵ Für alle Misserfolge und Phänomene des Scheiterns konnte „Rückständigkeit“ im Sinne einer „catch-all“-Kategorie verwendet werden.¹¹⁶ Die den Bauern attestierte Rückständigkeit besaß für die intelligencija eine kompensatorische Komponente. Sie argumentierten mit einem binären Mus-

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rer Dynamik des Zarenreichs bis zur Mitte des . Jahrhunderts die Unterentwicklungshypothese. Manfred Hildermeier: Rossijskij “dolgij XIX vek”. “Osobyj put’” evropejskoj modernizacii?, in: Ab Imperio (), H. , S. –, hier S. . Igor’ Vladimirovič Narskij: Pervaja mirovaja i Graždanskaja vojny kak učebnyj process. Voenizacija žiznennych mirov v provincial’noj Rossii (Ural – godach), in: Bol’šaja vojna Rossii. Social’nyj porjadok, publičnaja kommunikacija i nasilie na rubeže carskoj i sovetskoj ėpoch. Sbornik statej. Red. Katja Bruiš, Nikolaus Katcer, Moskau , S. –, hier S. . Vgl. Thatcher, Late Imperial Russia, S. . Zu den Aspekten von Ethnizität und Religion vgl. Jörg Baberowski: Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –, hier S. ; Kotsonis, Peasants, S. –; Sunderland, Empire, S. . Anatolij Remnev, Natal’ja G. Suvorova: “Russkoe delo” na aziatskich okrainach. “Russkost’” pod ugrozoj ili “somnitel’nye kul’turtregery”, in: Ab Imperio (), H. , S. – ; Mark Bassin: Russian Geographers and the ‘National Mission’ in the Far East, in: David Hooson (Hg.): Geography in National Identity, Oxford , S. –, hier S. , . Vgl. Aleksej Voronežcev: Bauernschaft, Bauerngemeinde und Geistlichkeit im Wolgagebiet während der Stolypinschen Agrarreform (am Beispiel von Quellen aus dem Staatsarchiv des Gebietes Saratov), in: Victor Herdt, Dietmar Neutatz (Hg.): Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga, Wiesbaden , S. –, hier S. . Judith Pallot: The Stolypin Land Reform as “Administrative Utopia”. Images of Peasantry in Nineteenth-Century Russia, in: Madhavan K. Palat (Hg.), Social Identities in Revolutionary Russia, Houndmills, Basingstoke , S. –, hier S. .

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ter. Indem sie den Anderen Rückständigkeit zuschrieben, nahmen sie für sich das Gegenteil in Anspruch. Sie dünkten sich modern respektive fortschrittlich, vergewisserten sich durch Abgrenzung ihrer kulturell superioren Identität. Sie übernahmen damit die im Westen vorherrschenden Narrative über das Zarenreich und schrieben sich – vor allem im Kontext der inneren Kolonisation¹¹⁷ – in sie ein.¹¹⁸ Kotsonis argumentiert, die Rückständigkeit des Objekts habe die es kritisierende Diskursgemeinschaft amalgamiert.¹¹⁹ Dies bedarf der Korrektur. Ebenso wenig allerdings wie das Objekt war auch das handelnde Subjekt, die intelligencija, homogen. Über Raum und Zeit und in Abhängigkeit weiterer Vektoren waren ihre Vorstellungen und Rezepte, die Rückständigkeit zu überwinden und die Moderne im Zarenreich herzustellen, einem Wandel unterworfen. Handlungsoptionen und Entscheidungen lagen Interessen zu Grunde und betrafen solche, gingen also mit Vor- und Nachteilen für einzelne Bevölkerungsgruppen einher. Ein Teil der intelligencija verstand die eigene Expertise, die sie den Bauern zuteilwerden ließen, als Hilfe zur Selbsthilfe.¹²⁰ Diese Protagonisten betonten, wie beispielweise der linksliberale Publizist und Ökonom Vladimir Aleksandrovič Rozenberg, Anfang des . Jahrhunderts das Ziel einer vollständigen Emanzipation der Bauern. Es umfasste ihre rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung ebenso wie ihre umfassende Bildung und die Beendigung ihrer Bevormundung – letztlich auch durch die intelligencija; denn die Bauern sollten an den öffentlichen Debatten eigeninitiativ partizipieren. Rozenberg forderte die Bürgerrechte ein, die Aufhebung der Zensur, aber auch eine selbständige lokale Selbstverwaltung.¹²¹ Es wäre ein verdienstvolles Projekt, diese erhebliche Spannweite der intelligencija-Konzepte zu untersuchen und damit

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Vgl. Mark Bassin: Imperialer Raum / Nationaler Raum. Sibirien auf der kognitiven Landkarte Rußlands im . Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. – , hier S. . Edward Said: Orientalism, New York ; Mark Bassin: Inventing Siberia. Visions of the Russian East in the Early Nineteenth Century, in: American Historical Review  (), S. –, hier S. ; Kotsonis, Peasants, S. ; Rhode, Rückständigkeit, S.  [in diesem Band]. Kotsonis, Peasants, S. . Ilya V. Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, –, Houndmills, Basingstoke , S. ; Alessandro Stanziani: L’économie en révolution. Le cas russe, –, Paris , S. . Vladimir A. Rozenberg: Iz chroniki krest’janskago dela, in: Očerki po krest’janskomu voprosu. Sobranie statej pod red. Aleksandra Apollonoviča Manujlova, vyp. , Moskau , S. –, hier S.  f.

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Rückständigkeit

den Faden aufzunehmen, den Kingston-Mann vor eineinhalb Jahrzehnten zu spinnen begonnen hat.¹²² Indem Kotsonis Bandbreite und Ausdifferenzierung der intelligencija aber nicht thematisiert und empirisch verifiziert, bleibt der intelligencija-Paternalismus gegenüber dem bäuerlichen Objekt bloß axiomatisch. Darin besteht eine große methodische Schwäche seines diskursgeschichtlichen Ansatzes, der eine Kommunikation zwischen Bauern und intelligencija für fraglich hält.¹²³ Im Übrigen bedarf seine These der Modifikation. Einige Protagonisten der intelligencija hingen durchaus dem Gedanken der Hilfe zu Selbsthilfe an, setzten beispielsweise auf landwirtschaftliche Genossenschaften. Andere, wie die Agraristen als Exponenten eines „alternativen Modernisierungsdiskurses“, erblickten in den Bauern Träger des Fortschritts und plädierten für deren gleichberechtigte Integration in die Strukturdimensionen des Ancien Régime: Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.¹²⁴ Zum Zweiten handelten die Bauern durchaus selbständig: Nicht nur im Rahmen der Migrationsprozesse, vom oft saisonalen otchod bis zum transkontinentalen pereselenie, der Übersiedlung in neue Welten jenseits des Urals oder des Atlantiks, nahmen Bauern ihr Schicksal selbsttätig in die Hand. Bäuerliche Staatsdumaabgeordnete diskutierten die Agrargesetzentwürfe / intensiv. Die landwirtschaftliche Publizistik des . Jahrhunderts bot Bauern ein breites Forum, ihre Anliegen vorzutragen und zu diskutieren. Bäuerliche Korrespondenzen und Korrespondenten waren keine Ausnahme mehr. Der von Kotsonis beschriebene Monolog der intelligencija nahm eine dialogische Qualität an.¹²⁵

Schluss: Zur Zukunft der Rückständigkeit Mit Blick auf die Hungersnot im Zarenreich von / sprach Jürgen Osterhammel von einem „wachsenden Rückstand des Zarenreiches hinter den fortschrittlichen und prosperierenden Ländern des Westens“.¹²⁶ Ein solches Diktum erklärt wenig und verstellt eher den Blick. Vieles bleibt in diesem Deklarativsatz indifferent: Um welche Länder des Westens handelt es sich? Sind Fortschritt und Prosperität Zwillinge? Auf welche Bereiche und welchen Zeit¹²² ¹²³ ¹²⁴ ¹²⁵ ¹²⁶

Kingston-Mann, In Search. Kotsonis, Peasants, S. , ; vgl. Ilya Gerasimov: Limitations, S. . Vgl. Bruisch, S.  f. N. Jakuškin: Iz krest’janskich pisem, in: Krest’janskoe Delo, No. , .., S. – ; Gerasimov, Limitations, S. ,  f. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts, München 4 , S. .

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raum bezieht sich die wachsende Entwicklungsdifferenz? Und schließlich: Inwieweit ist eine solche Aussage faktisch haltbar? Bei allen Debatten über die Rückständigkeit des Zarenreichs vor dem Ersten Weltkrieg darf nicht aus den Augen verloren werden, dass das Ancien Régime eine europäische Großmacht war und auch – ungeachtet etwaiger branchenspezifischer Technologiedefizite – zu den führenden Industrienationen der Welt zählte.¹²⁷ Rückständigkeit ist ein Bestandteil eines implizit zumindest gedachten Begriffspaars. Bei der Anamnese der Rückständigkeit geht es weniger um ihren organischen Befund,¹²⁸ sondern eigentlich um die Überwindung des deplorablen Erfahrungshorizonts, d. h. des Ist-Zustands. An seine Stelle tritt der Erwartungsraum, charakterisiert durch die Perspektive, emphatisch formuliert: auf eine bessere Zukunft, durch Fortschritt oder schlechthin die Moderne.¹²⁹ Geschichte ist ein Prozess, aber nicht die Bewegung auf ein Ziel.¹³⁰ Um diesen zu beschreiben, sind Kategorien, die eine Entwicklung um- bzw. erfassen geeigneter als solche, die einen Zustand wie Rückständigkeit beschreiben, der noch dazu in aller Regel überwunden werden soll.¹³¹ Rückständigkeit ist ein Bewegungsbegriff, aber kein osteuropaspezifischer. Wann immer Prozesse im Gange sind, die sich nicht parallel und gleichförmig vollziehen, wird es Ungleichzeitigkeit, schnellere respektive weniger schnelle Entwicklung, mit einem anderen Wort: Rückständigkeit geben. Dies gilt auch für die europäische Geschichte. Im ausgehenden . und beginnenden . Jahrhundert waren die Hektarerträge in der italienischen Landwirtschaft nur unbedeutend größer als die im Zarenreich. Für den bedeutenden russischen Agrarwissenschaftler Aleksandr Ivanovič Čuprov diente dies ebenso als Indiz der Rückständigkeit wie der verbreitete Analphabetismus.¹³² Für die Moderne und ihre Geschichte hat Christoph Dipper bezüglich der er Jahre auf eine „Rückständigkeit ohne¹²⁷

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So stand z. B. die russische Zuckerfabrikation an der Wende zum . Jahrhundert weder in Bezug auf ihr technisches Niveau noch auf die Qualität anderen Staaten nach, vgl. Dittmar Dahlmann: St. Petersburg, Bonn und Trostjanec. Leben und Werk von Leopold Koenig, Rußlands „Zuckerkönig“, von der Mitte des . Jahrhunderts bis , in: Dittmar Dahlmann, Klaus Heller u. Jurij A. Petrov (Hg.): Eisenbahnen und Motoren – Zucker und Schokolade. Deutsche im russischen Wirtschaftsleben vom . bis zum frühen . Jahrhundert, Berlin , S. –, hier S. . Manfred Hildermeier: Deutsche Geschichtswissenschaft im Prozess der Europäisierung und Globalisierung, in: zeitenblicke  (), H. , Abs. , http://www.zeitenblicke.de/ //hildermeier/ [zuletzt aufgerufen am ..]. Koselleck, Fortschritt, S. . Vgl. Jürgen Kocka: Zukunft in der Geschichte, S.  [in diesem Band]. Christoph Schmidt: Russische Geschichte –, München , S. . Aleksandr Ivanovič Čuprov: Reforma zemledelija v Italii, in: Aleksandr Aleksandrovič Čuprov, N. Speranskij (Hg.), Krest’janskij vopros. Stat’i – godov, Moskau

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Rückständigkeit

gleichen“ verwiesen, mit der sich die räumliche Entwicklungspolitik des jungen italienischen Nationalstaates im Süden konfrontiert sah.¹³³ Insofern erscheint der Begriff Entwicklung im Sinne von Wandel und Veränderung weniger ideologisch und neutraler. In Verbindung mit Adjektiven wie schneller, höher, weiter etc. bietet er gerade auch als temporale Kategorie eine erhebliche Bandbreite der Rubrizierung.¹³⁴ Fortschritt ist nicht nur Gegenbegriff zur Rückständigkeit, er ist auch ein Bewegungsbegriff. Was aber Fortschritt ist, daran werden sich die Geister wohl ebenso scheiden wie an der Verwendung von Rückständigkeit als analytischer Kategorie. Fortschritt ist eine ebenso entwicklungsoffene und interpretierbare Kategorie wie Rückständigkeit. Während es Stimmen gibt, die fordern, Rückständigkeit aus dem wissenschaftlichen Instrumentarium der Sozialwissenschaften zu verbannen, scheint die Fortschrittskategorie noch weniger umstritten zu sein. Allerdings mutet es paradox an, in der Beschränkung von Erkenntnismöglichkeit einen Vorteil zu erblicken. Es ist allerdings unabdingbar, den epistemologischen Mehrwert der Kategorie Rückständigkeit zu bestimmen,¹³⁵ ohne dabei ihr Analysepotential apodiktisch zu beschwören und es als axiomatisch gegeben zu betrachten: „Ohne die Geschichte der Rückständigkeit aber könnten wir nicht verstehen, was in Russland geschieht.“¹³⁶ Das Konzept der Rückständigkeit a priori als „normativ“ in Bausch und Bogen zu verurteilen, heißt, das ihm innewohnende Potential des Vergleichs zu verkennen.¹³⁷ Der Vergleich scheint eine zentrale Kategorie kognitiver Orientierung zu sein: Bereits von Kindheit an verortet sich der Mensch durch Vergleich. Sich mit Rückständigkeit zu beschäftigen, bedeutet nicht nur zeitgenössische Perzeptionen zum Gegenstand zu machen,¹³⁸ sondern eben auch die in Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geronnenen Sichtweisen über die Wahrnehmungen und Weltbilder sowie die Konflikte um sie zu thematisieren. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Betrachtungen einer historischen Gegenwart. Reflektiert werden muss der Prozess, also die Entwick-

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, S. –, hier S. , ; ders.: Agronomičeskaja pomošč’ naseleniju v Italii, in: Ebda., S. –, hier S. . Christof Dipper, Moderne, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .., http: //docupedia.de/zg/Moderne?oldid=, S.  [zuletzt aufgerufen am ..]. Koselleck, Deutschland, S. . Vgl. Gerasimov, Limitations, S. . Jörg Baberowski: Russland verstehen. Zum sechzigsten Geburtstag von Manfred Hildermeier, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, No. , .., S. ; im Befund ähnlich Nolte, Eisen, S. . Kocka, Zukunft, S. . Hildermeier, Osteuropa, S.  hat ihre Untersuchung ausdrücklich begrüßt.

Lutz Häfner



lungen, die dorthin führten, wie auch die mit dem Rückständigkeitsbegriff verbundenen Zukunftserwartungen der Untersuchten. In Abhängigkeit von Interessenlagen und Parametern wie Alter, Geschlecht, Wohnort, sozialer und geographischer Lage (Zentrum/Peripherie) etc. dürften sich die gruppenspezifischen Begriffsverständnisse und Argumentationsmuster unterschieden haben, weil sie hier auch gesellschaftliche und politische Differenzen und Konflikte verhandelten.¹³⁹ Eine produktive Verwendung der Analysekategorie Rückständigkeit hängt von den Perspektiven, der Fragestellung, dem Zeitrahmen, den Vergleichsparametern ab, wie folgendes Beispiel illustriert: Der Konsument hat sich seit der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts daran gewöhnt, dass industriell gefertigte Lebensmittel zahlreiche Zusatzstoffe enthalten wie Emulgatoren, Stabilisatoren, naturidentische Aromastoffe etc. Aus der Sicht der Produzenten und vom Standpunkt der angewandten Chemie sind solche Produkte zeitgemäß, während Konsumenten, die Bioprodukte bevorzugen, dies mit anderen Augen sehen dürften. Bereits Mitte der er Jahren pries die MoskauKorrespondentin des New York Herald Tribune Marguerite Higgins die Qualität sowjetischer Eiskrem: „[…] after my return from Russia I couldn’t resist engaging in some gentle teasing of American ice cream manufacturers. In answer to their queries I always expressed the opinion that the reason that Russia produced such a good ice cream is because that country is so backward: the Russians haven’t invented artificial sugar, artificial flavoring, artificial cream, etc.“¹⁴⁰ Dieses Beispiel lässt sich auf zwei Weisen deuten: im Sinne des Privilegs der Rückständigkeit, wie es Higgins durchaus mit einem gewissen Dünkel tut – denn artifizielle Süß- und Aromastoffe waren schon im ausgehenden . Jahrhundert entwickelt worden –, oder modernekritisch. Technischer Fortschritt oder Moderne sind kein Wert an sich, die Entwicklung birgt auch ihre Schattenseiten. Wie sie zu beurteilen ist, ist abhängig vom Kontext, der Fragestellung und letztlich vom Wertmaßstab des Betrachters. Die Messlatte muss keinesfalls die „westliche“ Moderne sein. Nicht von der Hand zu weisen bleibt der methodische Einwand Maria Rhodes, dass es nur möglich sei, Niveauunterschiede „als Rückständigkeit zu bezeichnen, […] wenn man den angelegten Maßstab als verbindlich akzeptiert.“¹⁴¹ ¹³⁹

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Vgl. auch Hartmut Kaelble: Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?, S.  [in diesem Band]; Dietlind Huechtker: Rückständigkeit als Strategie oder Galizien als Zentrum europäischer Frauenpolitik, in: Themenportal Europäische Geschichte (), http://www.europa.clio-online.de//Article= [zuletzt aufgerufen am ..], S. /. Marguerite Higgins: Red Plush and Black Bread, Garden City, NY , S.  f. Rhode, Rückständigkeit, S.  [in diesem Band].



Rückständigkeit

Soll Rückständigkeit als analytische Kategorie Erkenntnis fördern, ist sie ihres ideologischen Ballasts, den sie im Rahmen der geistesgeschichtlichen Debatten über Russlands Stellung in Europa erhalten hat, zu entledigen. Nur so ist es möglich, müßige Diskussionen über Sonderwege oder Prädestinationen zu vermeiden.¹⁴² Auf Fremdwahrnehmungen beruhende, oft kulturell aufgeladene Urteile mögen illustrativ sein, sagen aber in der Regel weniger über das beurteilte Objekt als vielmehr über das urteilende Subjekt aus. In eine vergleichbare Richtung zielen auch Einseitigkeit implizierende Begriffe wie Kulturgefälle oder Wissenstransfer. Wer diesen semantischen Aspekten keine Rechnung trägt, bleibt nicht nur standortgebunden, sondern vor allem wertbefangen und damit zugleich auch in einem engen Erkenntnisrahmen gefangen.¹⁴³ Im Übrigen gibt es gute Gründe, das Zarenreich mindestens seit der Mitte des . Jahrhunderts als in einen wechselseitigen Kulturaustausch integriert zu betrachten.¹⁴⁴ Dass die Rückständigkeit ein Quellenbegriff ist, ist aber per se kein Vorzug.¹⁴⁵ Einen heuristischen Nutzen als Analysekategorie besitzt ein Begriff nur, wenn er trennscharf und wertneutral ist. Die jahrhundertelangen emotionalen Diskussionen um den Begriff zeugen vom Gegenteil. Benjamin Schenk stößt sich nicht nur an der Perspektive einer russländischen „Defizit-Geschichte“, sondern vor allem daran, dass eine „fortschrittliche Geschichtsregion als Norm und die im Vergleich dazu ‚rückständige‘ als Abweichung [Kursive im Orig., LH] vorgestellt wird.“¹⁴⁶ Auch in seiner Monographie „Russland. Fahrt in die Moderne“ stört er sich an dem ebenso indifferenten wie „imaginären (West)Europa“ als Maßstab. Im Sinne der multiple modernities existiert kein Modell, insofern lässt sich auch nicht von Abweichung sprechen, von „rückständig“ allenfalls im Sinne der vergleichenden Perspektive eines Früher oder Mehr als etc. ¹⁴²

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Vgl. Terence Emmons: On the Problem of Russia’s „Separate Path“ in Late Imperial Historiography, in: Thomas Sanders (Hg.): Historiography of Imperial Russia. The Profession and Writing in a Multinational State, Armonk, NY, London , S. –. Einige Urteile mögen genügen, um die Dilemmata zu veranschaulichen: „Europa hat Russland nie sonderlich wohlwollend behandelt. […] Die Tendenz zur Ausgrenzung war deutlich.“ (S. ) Russland sei eine „Kontrastfolie des Westens“ gewesen, die eine „normative Degradierung“ zum Ausdruck brachte, Hildermeier, Geschichte, S.  f. Elena Veniaminovna Alekseeva: Diffuzija evropejskich innovacii v Rossii (XVIII – načalo XX vv.), Moskau , S. . Hildermeier, Geschichte, S. ; ders.: Osteuropa als Gegenstand vergleichender Geschichte, in: Gunilla Budde, Sebastian Conrad, Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen, Theorien, Göttingen , S. –, hier S. ; vgl. dazu Rhode, S.  [in diesem Band]. Frithjof Benjamin Schenk: Russland, Europa und die Rückständigkeit. Manfred Hildermeiers Geschichte Russlands, in: Osteuropa  (), H. , S. –, hier S. .

Lutz Häfner



Hierin liegt des Pudels Kern: Welcher Maßstab könnte einer vergleichenden Untersuchung der multiple modernities zugrunde gelegt werden? Mit der Akzeptanz existierender multiple modernities einher geht die Notwendigkeit, sich von liebgewonnenen Kategorien zu verabschieden. Es existiert keine unilineare historische Entwicklung, kein „Normalweg“. Gibt es keine Norm, kann es auch keine Sonderwege geben.¹⁴⁷ Auch von „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ wird man sich folglich verabschieden müssen, weil es keine „Weltzeit“ historischer Prozesse gibt, die sich gleichsam an Greenwich orientiert. Dass es eine ubiquitäre synchrone respektive parallele Entwicklung ohne sektorale Unterschiede gibt, wird wohl niemand behaupten wollen. Es gilt also, die Vielfältigkeit der Moderne, die Offenheit historischer Entwicklung zu beachten. Aber diese Erkenntnisse sprechen weder gegen die heuristische Operation des Vergleichs noch gegen die Kategorie der Rückständigkeit, sofern sie von ihrem normativen Ballast befreit worden ist.¹⁴⁸ Hildermeier verspricht sich von der Rückständigkeit als Analysekategorie einen heuristischen Nutzen, wenn man sie vom teleologischen Modell der Modernisierungstheorie abkoppelt, präzise definiert und als sektoral bzw. temporal begrenzte Kategorie verwendet. Rückständigkeit wäre somit keine überzeitliche Referenzkategorie, sondern trüge vielmehr einer Historisierung Rechnung. Bezogen auf das Gebiet der Wirtschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs kann so Großbritanniens führende Position verdeutlicht werden, ohne es in dem jeweiligen Untersuchungszeitraum zum allein gültigen Paradigma zu erheben und dessen Weg zum Weltmarktführer für alle verbindlich zu machen. Genauso ließe sich nach Gründen der relativen Rückständigkeit des Landes hundert Jahre später fragen. Zugleich fiel schon Zeitgenossen auf, dass die politischen Rechte englischer Arbeiter keineswegs mit dem hohen wirtschaftlichen Niveau des Landes korrespondierten, z. T. sogar hinter denen des Kontinents zurückstanden.¹⁴⁹ Hildermeiers jüngstes Opus magnum kulminiert in dem emphatischen Schlusswort: „Rückständigkeit“ kann als „eine unverzichtbare ana-

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Vgl. Bernd Faulenbach: Besonderheiten der deutschen Sozialdemokratie im Kontext der europäischen Entwicklung, in: Rudolf Traub-Merz (Hg.): Sozialreformismus und radikale gesellschaftliche Transformation. Historische Debatten in der Sozialdemokratie in Deutschland und Russland, Moskau , S. –, hier S. . Diese Konsequenz verkennt Catherine Evtuhov: Introduction, in: Catherine Evtuhov and Stephen Kotkin (Hg.): The Cultural Gradient. The Transmission of Ideas in Europe, –, Lanham, MD , S. –, hier S. . Rhode, S. f. [in diesem Band] widerspricht dem. Isaev, S. .



Rückständigkeit

lytische Kategorie zum Verständnis der russischen Geschichte“ betrachtet werden.¹⁵⁰ Den Beweis gilt es anzutreten.

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Hildermeier, Geschichte, S. .

Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa? Ein Kommentar zu einem aktuellen Problem aus historischer Sicht Hartmut Kaelble

Mit der Schuldenkrise kam in Europa eine neue Rückständigkeitsdebatte auf. In ihrem Zentrum steht der Süden Europas, der angeblich nicht nur unfähig ist, seine Schulden in den Griff zu bekommen, sondern darüber hinaus in wichtigen Bereichen des Staatshaushaltes, der Steuerverwaltung und des Wohlfahrtsstaates, überhaupt in der Einstellung der Bürger zum Staat im Vergleich zum reicheren nördlichen Europa rückständig geblieben sein soll. Nicht selten wird diese Rückständigkeit des Südens Europas als eine lange geschichtliche Entwicklung angesehen. Die Industrialisierung, die im späten . Jahrhundert einsetzte, blieb im Süden Europas aus und beschränkte sich auf regionale Inseln der Modernisierung.¹ Diese Rückständigkeit schlägt auf Europa als Ganzes zurück: Sie hat enorme wirtschaftliche und soziale Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union verursacht, die sich weiter verschärfen. Die Währung des Euro ist deshalb in dieser Sicht weit krisenanfälliger als andere, homogenere, große Währungsräume wie vor allem die USA. Die alten Ost-West-Gegensätze mit ihren eingefahrenen und gleichzeitig um¹

Vgl. zur Geschichte des Südens Europas: Frithjof Benjamin Schenk, Martina Winkler: Einleitung, in: dies. (Hg.): Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion, Frankfurt am Main/New York , S. –; Martin Baumeister, Diesseits von Afrika. Konzepte des europäischen, in: ebda., S. –; Stefan Troebst: Le monde méditerranéen – Südosteuropa – Black Sea World. Geschichtsregionen im Süden Europas, in: ebda., S, –; Manual Borutta, Sakis Gekas: A Colonial Sea. The Mediterranean, –, in: European Review of History/Revue européenne d‘histoire  (), H. , S. –; Lucy Riall: Which Road to the South? Revisionists revisit the Mezzogiorno, in: Journal of Modern Italian Studies  (), S. –; Hans-Jürgen Puhle, Nation States, Nations and Nationalisms in Western and Southern Europe, in: Justo G. Beramendi (Hg.): Nationalism in Europe. Past and Present, Santiago de Compostela , Bd. , S. –; vgl. auch Claus Leggewie: Zukunft im Süden, Hamburg .



Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?

strittenen Vorstellungen von einer Rückständigkeit des östlichen Europa traten in den Windschatten dieser Diskussion. Von Disparitäten zwischen den östlichen und westlichen Ländern der Europäischen Union ist jedenfalls kaum noch die Rede, von einer verhaltenen Debatte über Rumänien und Bulgarien abgesehen. Es bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um eine kurzfristige Konjunktur oder um einen säkularen Schwenk der geographischen Denkachsen in der inneren Aufteilung Europas handelt. Dieser erschiene fast wie eine Rückkehr zur frühen Neuzeit, in der schon einmal die Nord-Süd-Gegensätze im Vordergrund der europäischen Repräsentationen standen, allerdings in der ganz anderen Bedeutung eines kulturell und lange Zeit auch wirtschaftlich führenden Südens. Diese Debatte kommt in einem Kontext auf, in dem sich Rückständigkeitsvorstellungen erheblich veränderten. Die globale Rückständigkeit zwischen dem Norden und dem Süden verliert an Brisanz, da große Länder des Südens – China, Indien und Brasilien – ein enormes Wachstum erleben und zu neuen Schwergewichten in der Weltwirtschaft aufsteigen. Selbst Afrika, lange Zeit als der verlorene Kontinent betrachtet, entwickelt eine erstaunliche wirtschaftliche Dynamik. Die globalen Nord-Süd-Unterschiede gehen zurück.² Der neue Nord-Süd-Gegensatz in Europa lässt sich deshalb nicht ohne Weiteres in einen globalen Nord-Süd-Gegensatz einordnen. Gleichzeitig politisierte sich seit den er Jahren die Debatte über innere Unterschiede in Europa. Internationale Organisationen wie die Europäische Union und die OECD benutzen erfolgreich den internationalen Vergleich als Instrument der Mobilisierung von Öffentlichkeiten. Die Europäische Union hat für diese Politik einen eigenen Begriff entwickelt: die offene Methode der Koordination, die sie in vielen Politikfeldern anwendet. Die OECD hat mit der ersten PISA-Studie  eine heftige Debatte über Rückständigkeit von Bildungssystemen ausgelöst. In den letzten Jahren hat sie mit dem gleichen politischen Ziel Studien über Einkommensverteilung () und Bildungsaufsteiger () veröffentlicht. Die Debatte über die Nord-Süd-Gegensätze ist daher Teil einer breiteren Debatte über innereuropäische Unterschiede, die sich allerdings um viele Unterschiede, keineswegs nur um Nord-Süd-Gegensätze dreht. Rückständigkeitsdebatten beruhen immer auf einer zugespitzten und zugerichteten Interpretation der Wirklichkeit. Große historische Debatten über Rückständigkeit wie die über den deutschen Sonderweg, über die exception française, über das Zurückfallen Asiens während der Industrialisierung oder umgekehrt über die Fortschrittlichkeit des skandinavischen Wohlfahrtsstaates ²

Vgl. dazu etwa François Bourguignon: La mondialisation de l’inégalité, Paris  (Bourguignon war Chefökonom der Weltbank).

Hartmut Kaelble



sind von solchen Vereinfachungen geprägt. Auch die neue Debatte über die Rückständigkeit des europäischen Südens besteht aus solchen Zurichtungen der Wirklichkeit. Drei wesentliche Elemente in dieser Debatte der Eurozone sollen im Folgenden in aller Kürze diskutiert werden: das Übermaß an Staatsverschuldung im Süden Europas, sein zu freigiebiger, teurer und ausgabenüberlasteter Wohlfahrtsstaat und die daraus resultierenden, für die europäische Währung bedrohlichen inneren Disparitäten der Eurozone. Nur eine kurze Bemerkung zur Staatsverschuldung: Es sei nur daran erinnert, dass in den vergangenen zehn Jahren die Staatsverschuldung im Süden Europas klare Grenzen besaß. Keiner der südeuropäischen Staaten hat das Ausmaß der Verschuldung Japans erreicht. Zudem waren die Unterschiede der Verschuldung in den südeuropäischen Ländern in den letzten Jahren sehr groß. Nur drei Länder, Griechenland, Italien und Portugal, überschritten die staatliche Verschuldung der USA und auch den weit darunterliegenden, durchschnittlichen staatlichen Schuldenstand der Eurozone und der Europäischen Union. Dagegen lagen Spanien, aber auch Malta, Zypern, die Balkanstaaten und außerhalb der EU auch die Türkei durchweg erheblich unter der durchschnittlichen Verschuldung der Eurozone und auch der Europäischen Union. Auch ein historischer Pfad zur hohen Verschuldung von südeuropäischen Ländern ist nicht erkennbar. Unter den Fällen besonders dramatischer Verschuldung von über   des BSP waren in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten die westeuropäischen Fälle sogar etwas zahlreicher als die südeuropäischen Fälle.³ Von einer systematischen Rückständigkeit der Länder Südeuropas durch hohe Staatsschulden konnte man nicht sprechen. Auch das beliebte Argument von dem zu teuren, aufgeblähten Wohlfahrtsstaat im Süden Europas folgte nicht immer der Wirklichkeit. Darauf sei etwas ausführlicher eingegangen. Die Sozialausgaben der südlichen Länder Europas lagen im Verhältnis zu ihrem Sozialprodukt nach der OECD-Statistik seit den er Jahren im Durchschnitt immer unter den Sozialausgaben einiger westund nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Seit dem Ausbruch der Schuldenkrise  hat sich daran nichts geändert.⁴ Für einen langfristig angelegten Pfad von aufgeblähten, die Wirtschaftskraft übersteigenden Sozialausgaben im gan³



EZB. Statistics pocket book online. Table . General government debt (–); World Economic Outlook. Coping with High Debt and Sluggish Growth, in: International Monetary Fund, October , S.–; vgl. zudem Carmen M. Reinhart, Keneth Rogoff: This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly, Princeton, NJ ; David Graeber: Schulden. Die ersten  Jahre, Stuttgart . Vgl. für –: OECD. Statextracs, in: http://stats.oecd.org/index.aspx?QueryId=  [zuletzt aufgerufen am ..].



Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?

zen Süden Europas gibt es keine Hinweise, sofern man den Zahlen der OECD trauen kann. Es wurde dabei oft übersehen, dass die südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten auf einer ganz anderen Geschichte von Wohlfahrtsregimen gründen. Bis in die Zwischenkriegszeit haben die südeuropäischen Länder von Portugal bis zur Türkei ihre Wohlfahrtsregime vor allem auf die Familie, auf Berufsorganisationen, auf lokale soziale Organisationen der Kommunen, auf kirchliche Organisationen oder im Fall des italienischen Faschismus auf Parteiorganisationen, aber kaum auf staatliche Wohlfahrtsstaatseinrichtungen aufgebaut. Sie lagen damit nicht auf der Linie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das sich schon in der Zwischenkriegszeit bemühte, den nord- und westeuropäischen Wohlfahrtsstaat in Europa durchzusetzen. Die südeuropäischen Länder sahen damals das Fehlen eines Sozialstaates nicht als Defizit an. Italien versuchte während der faschistischen Zeit sogar, sein eigenes Modell in der europäischen Öffentlichkeit als ein alternatives europäisches Modell zu propagieren und das Modell des nord- und westeuropäischen Wohlfahrtsstaates zurückzudrängen. Andere südeuropäische Länder wie Spanien, Portugal oder die Türkei entwickelten eine autoritäre Staatsideologie, in der teils die Familie, teils Berufsorganisationen, teils die Kirche, teils lokale Institutionen als Träger der Wohlfahrt in das Zentrum gerückt wurden. Diese politische Linie wurde in den er Jahren zwar schon etwas eingeschränkt. Eine Reihe südeuropäischer Länder beschloss Gesetze zur Einführung von staatlichen Sozialversicherungen, führte sie aber in der Regel nicht durch. Die südeuropäischen Wohlfahrtsregime waren damals nicht einfach defizitär, sondern setzten auf nichtstaatliche soziale Sicherung.⁵ ⁵

Vgl. Maurizio Ferrera: Welfare States and Social Safty Nets in Southern Europe, an Introduction, in: Maurizio Ferrera (Hg.): Welfare State Reform in Southern Europe, London , S. –; Richard Gunther, Nikoforos P. Diamandouros, Hans Jürgen Puhle (Hg.): The Politics of Democratic Consolidation. Southern Europe in Comparative Perspective, Baltimore ; Giovanni Arrighi: Semiperipheral Development. The Politics of Southern Europe in the t Century, Beverley Hills ; Ole Peter Grell, Andrew Cunningham, Bernd Roeck (Hg.): Health Care and Poor Relief in t and t Centuries Southern Europe, Aldershot  (für die Frage der längeren Besonderheiten Südeuropas); Aldo Mazzacane, Alessandro Somma, Michael Stolleis (Hg.): Korporativismus in den südeuropäischen Diktaturen/Il corporativismo nelle dittature sudeuropee, Frankfurt am Main ; Martin Rhodes (Hg.): Southern European Welfare States Between Crisis and Reform, London ; Giulio Sapelli: Southern Europe since . Tradition and Modernity in Portugal, Spain, Italy, Greece and Turkey, London ; Pekka Kosonen: European Welfare State Models. Converging Trends, in: International Journal of Sociology  (), S. –; Marie-Janine Calic: Sozialgeschichte Serbiens –. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung, München ; Madeleine Herren:

Hartmut Kaelble



In der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts folgten die südeuropäischen Länder nach und nach dem nord- und westeuropäischen Modell der staatlichen sozialen Sicherung. Sie wurden trotzdem weiterhin als defizitäre Wohlfahrtsstaaten angesehen und tauchen in der am meisten zitierten, in den er Jahren entwickelten Typologie des europäischen Wohlfahrtsstaates von EspingAndersen gar nicht als eigener Typus auf. Wie wenig man die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates im südlichen Europa während der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts einfach als eine Geschichte von Rückständigkeit beschreiben kann, sei an der Entwicklung eines besonders stark diskutierten Aspekts des Wohlfahrtsstaates, des Rentenalters, erläutert. Den südeuropäischen Ländern wurde in der Schuldenkrise vorgeworfen, dass sie mit Staatsausgaben für Renten viel zu verschwenderisch umgingen. Die vielen, in den Cafés von südeuropäischen Städten herumsitzenden, früh verrenteten Männer gehören zu dieser Vorstellung südeuropäischer Rückständigkeit. Ein ganz anderes Bild zeigen die historischen Statistiken der ILO seit  über die Entwicklung der Erwerbstätigen im Alter zwischen  und  Jahren, dem kritischen Alter, in dem sich Veränderungen der Verrentung besonders stark bemerkbar machen. Der dramatische Rückgang der Erwerbstätigen in dieser Altersgruppe fand genau in den Ländern statt, in denen die Vorwürfe gegen die südeuropäischen Länder besonders scharf in der Öffentlichkeit erhoben wurden, darunter auch in Deutschland. Der geringste Rückgang der Erwerbstätigen in dieser Altersgruppe fand, wie bekannt, in den nordeuropäischen Ländern statt, in denen länger gearbeitet wird als in anderen Teilen Europas. In den südeuropäischen Ländern ging die Erwerbstätigkeit in dieser Altersgruppe zwar ebenfalls deutlich zurück, aber sie sank erheblich langsamer und blieb deutlich höher als im westlichen Europa.⁶ Die Vorstellung von den zu früh verrenteten Südeuropäern geht also nicht mit der Wirklichkeit in eins.



Internationale Sozialpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs, Berlin ; Sandrine Kott: Constructing a European Model: the Fight for Social Insurance in the Interwar Period, in: Jasmin van Daele et al. (Hg.): ILO histories. Essays on the International Labour Organisation and its Impact on the World During the t Century, Bern ; Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München ; Cüneyd Dinc: Sozialstaat als Produkt einer Staatselite. Die Türkei im südeuropäischen Vergleich, Wiesbaden ; Sven Reichardt, Armin Nolzen (Hg.): Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen ; Daniela Liebscher: Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln . ILO. Economically active population –,  Bde., ILO Genf , Bd. , S. – , bis ; http://laborsta.ilo.org/STP [zuletzt aufgerufen am ..].



Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?

Wenn es nach den neuen Vorstellungen eines modernen Wohlfahrtsstaates mit hohem Rentenalter rückständige Länder in Europa gibt, so sind es vor allem die westeuropäischen Länder und unter ihnen auch die beiden größten Länder Deutschland und Frankreich. Es ist dabei nicht zu übersehen, wie sehr sich die Kriterien des modernen Wohlfahrtsstaates in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Während in den er Jahren noch hohe Sozialausgaben und ein abgesenktes Rentenalter unbesehen als Anzeichen eines modernen Wohlfahrtsstaates angesehen und die südeuropäischen Länder mit ihren niedrigen Sozialstaatsausgaben als defizitär eingestuft wurden, sieht man in jüngerer Zeit auch nichtstaatliche Leistungen der Zivilgesellschaft, nicht monetäre, aktivierende Sozialpolitik und ein flexibles, aktives Ruhestandsalter als Anzeichen von Modernität. Niedrige Wohlfahrtsstaatsausgaben und ein hohes Rentenalter sind daher nicht mehr einfach Indikatoren von Rückständigkeit. Dieser Schwenk im Konzept des Wohlfahrtsstaates muss auch im Blick auf die südeuropäischen Länder berücksichtigt werden. Auch die fatalen Auswirkungen der angeblichen Rückständigkeit der südeuropäischen Länder auf die Eurozone, die wachsenden inneren Disparitäten, die die Währung des Euro bedrohen, sind in der Wirklichkeit nicht leicht zu belegen. Ohne Zweifel lagen die inneren Disparitäten in der Eurozone während der Schuldenkrise hoch. Die Unterschiede im Wirtschaftswachstum, in der Arbeitslosigkeit und in den Lohneinkommen sind belastend. Aber die inneren wirtschaftlichen Disparitäten Europas haben sich im Verlauf der Geschichte der europäischen Integration deutlich verringert und sind im globalen Vergleich nicht extrem scharf. Zuerst zur Verringerung der inneren Disparitäten Europas: Noch vor rund sechzig Jahren lagen tiefe Gräben zwischen den südlichen Agrarländern und den nördlichen Industrieländern, zwischen dem niedrigen Sozialprodukt im Süden und dem hohen im Norden Europas, zwischen den ländlichen Gesellschaften des Südens, die oft ein Objekt der nördlichen Romantik waren, und den meist verstädterten Gesellschaften des Nordens, zwischen den hohen Analphabetenraten im Süden Europas noch um  und dem schon lange beseitigten Analphabetismus im Norden Europas, zwischen den Abwanderungsländern im südlichen Europa und den Zuwanderungsländern im nördlichen Europa, zwischen Diktaturen im südlichen Europa, die im Fall der Iberischen Halbinsel und Griechenlands erst in den er Jahren beseitigt wurden, und der erfolgreichen Durchsetzung der Demokratie im nördlichen Europa spätestens direkt nach dem Zweiten Weltkrieg im Fall Österreichs und des Westens

Hartmut Kaelble



Deutschlands. Alle diese Gräben zwischen dem nördlichen und dem südlichen Europa sind in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend verschwunden. Der Agrarsektor ist im südlichen Europa nicht mehr viel größer als im nördlichen Europa. Die Wirtschaftskraft der südeuropäischen Länder nahm deutlich zu: Italien, um  noch ein Entwicklungsland, ist heute genauso reich wie Frankreich oder Deutschland. Portugal, bei seinem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft noch das Armenhaus Europas, hat beeindruckend aufgeholt. Der Süden Europas hat ein viel rascheres Städtewachstum erlebt als der Norden und ist deshalb heute ebenfalls verstädtert. Die Analphabetenraten sind in den südlichen Ländern zurückgedrängt und ihre Bildungssysteme teilweise besser als im nördlichen Europa. Der Süden Europas ist heute genauso Zuwanderungsraum wie der Norden. Auch im Süden Europas hat sich überall die Demokratie durchgesetzt.⁷ Es kommt hinzu, dass im globalen Vergleich die Eurozone mit ihren inneren Disparitäten gar nicht schlecht abschneidet. Die inneren Kontraste in der wirtschaftlichen Leistungskraft zwischen den Regionen in China, Indien, Russland und Brasilien sind um ein Vielfaches höher als zwischen den Mitgliedstaaten in der Eurozone. Die reichsten Regionen dieser BRIC-Länder besitzen eine fünfbis siebenfach höhere wirtschaftliche Leistungskraft als die ärmsten Regionen. Die inneren wirtschaftlichen Kontraste nahmen in den letzten Jahrzehnten teilweise sogar zu. In der Eurozone hingegen war die Wirtschaftskraft des reichsten Mitgliedslandes nur rund dreimal so hoch wie die des ärmsten Mitgliedslandes. Im langen historischen Trend ging dieser Unterschied zurück. Gegenüber den USA besitzt die Eurozone in Bezug auf die inneren regionalen Disparitäten nur einen geringen Rückstand. Das Pro-Kopf-Produkt im reichsten Bundesstaat der USA ist etwas über zweimal so hoch wie im ärmsten amerikanischen Bundesstaat. Nimmt man den reichen District of Columbia oder das arme Territorium von Puerto Rico hinzu, sind die Disparitäten sogar höher als in der



Vgl. Gerold Ambrosius: Konvergenz von Wirtschafts- und Sozialpolitiken in Europa – das . und . Jahrhundert im Vergleich, in: Karl Hardach (Hg.): Internationale Studien zur Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft,  Bde., Frankfurt , Bd. , S. – ; Martin Heidenreich: Die Europäisierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt ; Béla Tomka: Welfare in East and West. Hungarian Social Security in an International Comparison, –, Berlin ; ders.: Western European Welfare States in the th Century. Convergences and Divergences in the Long-Run Perspective, in: International Journal of Social Welfare  (), S. –; Hartmut Kaelble: Konvergenzen und Divergenzen in der Gesellschaft Europas seit , in: Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im . Jahrhundert, Köln , S. –.



Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?

Eurozone.⁸ Verglichen mit den großen Währungszonen der Welt baut daher der Euro eher auf begrenzte innere Disparitäten auf, die sich in der langen historischen Sicht sogar eher verringerten. Ganz sicher leidet die Eurozone nicht an weltweit einmalig scharfen inneren Disparitäten, verursacht durch die Rückständigkeit der südlichen europäischen Länder. Wie brüchig die Konstruktion eines neuen Nord-Süd-Gegensatzes ist, zeigt sich auch in den von der OECD seit  angefachten Debatten mit ihren sicher nicht unumstrittenen Vorstellungen von Fortschritt und Rückständigkeit im Bereich der Bildung sowie der Einkommensverteilung. Sie sind für den Nord-Süd-Gegensatz wichtig, weil sie gerade nicht auf die Schuldenkrise bezogen sind und den Nord-Süd-Gegensatz vor und neben der Schuldenkrise ausleuchten. In der ersten PISA-Studie von  über die Qualität der Ausbildung von Jugendlichen zeichnete sich kein klarer Nord-Süd-Gegensatz ab. Zwar lagen die Ergebnisse in allen südlichen Ländern Europas hinter dem Durchschnitt zurück, aber Deutschland, Luxemburg und ostmitteleuropäische Länder schnitten ähnlich schwach ab. In der PISA-Studie von  blieben die meisten südlichen Länder weiterhin hinter dem OECD-Durchschnitt zurück, auch wenn sich die Resultate deutlich verbesserten. Portugal, in einigen Aspekten auch Italien und Griechenland, schlossen sogar zum OECD-Durchschnitt auf. Sie unterschieden sich nicht von mitteleuropäischen Ländern wie Tschechien, Österreich und Luxemburg. Osteuropäische Staaten wie Russland, Rumänien und Bulgarien lagen noch weiter zurück.⁹ In der Studie der OECD über Einkommensverteilung von  war ebenfalls kein klarer Gegensatz zwischen dem zurückgebliebenen Süden Europas und dem weiter entwickelten Norden Europas zu erkennen. Zwar besaßen alle untersuchten südlichen Länder, also Portugal, Spanien, Italien, Griechenland und die Türkei, deutlich schärfere Einkommensdisparitäten als das nördliche und das kontinentale westliche Europa. Aber Großbritannien, Irland und Polen wiesen ähnliche Disparitäten auf, im Übrigen auch Nordamerika und Ost-





Berechnet nach amtlichen nationalen Statistiken; vgl. zudem: BIP nach Regionen, in: Die OECD in Zahlen und Fakten –, OECD Paris , http://www.oecd-ilibrary.org/economics/die-oecd-in-zahlen-und-fakten--/ bip-nach-regionen_--de, [zuletzt aufgerufen am ..]; Regionale Unterschiede in China, Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. .. PISA . Zusammenfassung und zentrale Befunde. MPI für Bildungsforschung, Berlin , S. , http://www.oecd.org/pisa [zuletzt aufgerufen am ..].

Hartmut Kaelble



asien. Vor allem liefen die Entwicklungstrends der Einkommensverteilung seit den er Jahren in den südlichen Ländern Europas ganz auseinander.¹⁰ In der jüngsten Studie der OECD über Bildungsaufsteiger lässt sich überhaupt kein Rückstand des Südens Europas erkennen. Drei südliche Länder, Griechenland, Italien und Spanien, wiesen sogar überdurchschnittlich viele Bildungsaufsteiger auf. Freilich galt das auch für Frankreich, Ostmitteleuropa und die Benelux-Länder. Dagegen blieben die deutschsprachigen Länder, die meisten nordeuropäischen Länder, aber auch die USA hinter dem Durchschnitt der OECD zurück, wobei die Resultate für Deutschland umstritten sind. Die südlichen Länder Portugal und die Türkei lagen nahe dem Durchschnitt.¹¹ Von einem Zurückbleiben der südeuropäischen Länder kann man nicht sprechen. Insgesamt trifft also die neue Einteilung Europas in den fortgeschrittenen nördlichen Teil und den rückständigen südlichen Teil die Wirklichkeit der letzten Jahrzehnte nur sehr partiell. Zwar sind in den südlichen europäischen Ländern kurzfristige, aber durchaus negative Entwicklungen in der Finanzierung der Staatsschulden, in der Arbeitslosigkeit und im Wirtschaftswachstum nicht zu übersehen, aber ein längerfristiger struktureller Pfad der Rückständigkeit etwa im Bereich des Wohlfahrtsstaates oder der Bildung lässt sich nicht nachweisen. Zudem ist der Süden Europas nicht homogen. Selbst in den besonders heftig diskutierten Themen der Verschuldung oder der Arbeitslosigkeit sind die Unterschiede innerhalb des südlichen Europas groß. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass sich in den Konzepten der Rückständigkeit in den letzten Jahrzehnten ein rascher Wandel durchgesetzt hat. Was in den er Jahre noch als Modernität des wirtschaftlichen Wachstums, des Wohlfahrtsstaates, der Bildung oder der Arbeit galt, wird heute wesentlich anders bewertet und ist zudem umstritten. Ob man den Süden Europas als rückständig ansieht, hängt in hohem Maß von dem Konzept der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Moderne und Rückständigkeit ab. Wie oft bei Debatten über historische Rückständigkeit trifft man allerdings den Kern nicht voll, wenn man nur das Ausmaß der Rückständigkeit diskutiert und vielleicht relativiert. Rückständigkeitsdebatten sind nicht einfach ein Spiegel von historischen Unterschieden, sondern besitzen oft eine davon unabhängige politische Dynamik. Sicher gibt es kaum Debatten über Rückständigkeit ohne tatsächlich vorhandene Unterschiede, aber gleichzeitig lassen sich die Debatten meist nicht allein aus den vorhandenen Unterschieden erklären. Die ¹⁰ ¹¹

OECD. Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? Einkommensverteilung und Armut in OECD-Ländern, OECD Paris , S.. Vgl. OECD. Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren , Tabelle ..



Eine neue Rückständigkeit des Südens in Europa?

neue Debatte über die Rückständigkeit des Südens in Europa seit der Schuldenkrise hat nur bedingt mit der kurzfristigen Verstärkung der Disparitäten der Schuldenfinanzierung, der Einkommen und Arbeitslosigkeit und mit der massiveren wirtschaftlichen Rezession in den Südländern Europas zu tun. Ganz entscheidend ist vielmehr, dass innerhalb der Europäischen Union ein heftiger Umverteilungskonflikt ausbrach. Die hohen Zinsen, die die Südländer Europas für Staatskredite auf dem Weltfinanzmarkt zu bezahlen hatten, konnten entweder durch eine Garantie ihrer Schulden über die Europäische Union oder durch dramatische Reformen bis hin zu Staats- und Bankenbankrotten in den Südländern gesenkt werden. Der Konflikt drehte sich darum, ob die Regierungen des nördlichen Europa bereit waren, den verschuldeten Südländern in dieser Krisensituation durch Garantien beizustehen oder ob die Regierungen der Südländer diese Reformen ganz auf sich allein gestellt unter Beibehaltung des Euro durchsetzen mussten. Die nördlichen Regierungen befürchteten steigende Zinsen ihrer Staatspapiere und riesige Kapitalverluste. Die südlichen Regierungen sahen einen wirtschaftlichen Niedergang und einen Staatsbankrott ihres jeweiligen Landes kommen, nachdem die nördlichen Länder lange Zeit in die südeuropäischen Märkten mit großen Gewinnen exportiert hatten. Ohne eine Lösung dieses Interessenkonflikts drohte die europäische Währung des Euro zu zerbrechen. Da diese Schuldenkrise den Lebensstandard der Masse der Bevölkerung in den südlichen europäischen Ländern teilweise stark absenkte, blieb es nicht bei einem diplomatischen Konflikt zwischen den Regierungen. Die Öffentlichkeiten wurden massiv gegeneinander mobilisiert. Stereotypen wurden ausgegraben und Hass zwischen dem Norden und Süden Europas mobilisiert. Das Vertrauen in die Europäische Union sank in den Südländern, aber auch anderswo so stark ab wie nie zuvor. Dieser Konflikt innerhalb der Europäischen Union war der entscheidende Grund für die neue Nord-Süd-Einteilung Europas. Die These von der Rückständigkeit des Südens Europas wurde als ein Instrument in dieser politischen Auseinandersetzung eingesetzt. Insgesamt ist es für Historiker zweifelsohne wichtig, Rückständigkeit zu untersuchen, wie es sich dieser Band zum Thema setzt. Historiker sollten aber keine der drei Optionen, die sie besitzen, vorschnell aufgeben. Sie können historische Unterschiede, wenn sie ein überzeugendes Konzept dafür besitzen, als Rückständigkeit einordnen, sie analysieren und sich dann natürlich auch die beiden interessanten weitergehenden Fragen stellen, ob es verschiedene Wege gibt, Rückständigkeit zu überwinden, und ob Rückständigkeit auch Vorteile für die eigene Entwicklung besitzen kann. Historiker sollten zweitens auch selbstkritisch hinterfragen, ob ihr eigenes Konzept der Rückständigkeit nicht

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zu sehr an das Selbstverständnis der eigenen Gesellschaft gebunden ist und ob sie andere Gesellschaften nicht vorschnell an der von ihnen als vorteilhaft eingeschätzten Entwicklung der eigenen Gesellschaft messen. Das Verstehen anderer Gesellschaften und auch anderer Modernitätsvorstellungen ist neben der historischen Analyse eines der großen Pfunde der Historiker. Historiker haben viel zur Wandelbarkeit, zur Umdeutung und Zeitgebundenheit von Modernitätsund Rückständigkeitskonzepten zu sagen, ohne deshalb in einen zeitlosen Relativismus zu verfallen. Schließlich sollten Historiker drittens ihre Aufgabe nicht nur darin sehen, zu relativieren und zu historisieren. Rückständigkeitsdebatten sind nicht einfach nur verengte rückständige Sichtweisen. Sie sind auch Anzeichen von gesellschaftlichen und politischen Konflikten – für Historiker herausfordernde Themen, denen sie nachgehen sollten.

How backward was pre-Petrine Russia? State and society under the first Romanovs (–) Maureen Perrie

The view that Peter the Great tried to rescue his country from backwardness was a commonplace of Soviet Marxist historiography. Stalin himself observed in  that “when Peter the Great, having to deal with the more developed countries in the West, feverishly constructed factories and mills to supply the army and strengthen the defence of the country, this was a unique attempt to break the constraints of backwardness”.¹ Stalin’s view was regularly repeated in Soviet history textbooks of the s and s,² and the idea that Peter aimed to make his country modernise, or catch up with the West, has remained influential not only in Russia but also elsewhere. The metaphor that describes countries as either ‘backward’ or ‘advanced’ was particularly appropriate for the unilinear t-century Marxist scheme of development in which all societies were to pass through the stages of primitive communism, slavery, feudalism and capitalism before reaching socialism. From that perspective, a ‘backward’ country at any point in time was one which had not progressed as far along the path of development as the more ‘advanced’ countries that had started out earlier. Some Marxists in the early t century, however, noted that backward countries did not slavishly follow the same stages as the advanced countries. Trotsky proposed the notion of the ‘privilege of historic backwardness’ that enabled a backward country to skip stages of development by borrowing and adapting technology from the more advanced countries, thereby creating a pattern of ‘uneven’ or ‘combined’ development ¹ ²

I.V. Stalin: Sochineniya, t . Moscow , pp. –. Nicholas V. Riasanovsky: The image of Peter the Great in Russian history and thought, Oxford , pp. –.

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How backward was pre-Petrine Russia?

such as that which characterised Russia.³ A similar concept to Trotsky’s notion of the privilege of backwardness was put forward by Alexander Gerschenkron in an influential article on Russian economic development.⁴ Gerschenkron, like Trotsky, was reacting against a linear approach to economic development: in Gerschenkron’s case, against W. W. Rostow’s schema of five stages of economic growth.⁵ Gerschenkron used the terms ‘substitute’ and ‘substitution’ to describe those measures, such as the assimilation of modern Western technology, that the backward country adopted in order to compensate for its lack of factors which in the more advanced countries had served as prerequisites for economic development.⁶ Neither Trotsky nor Gerschenkron wrote in any detail about early modern Russian history, but both believed that Russia’s embarkation on the process of economic modernisation began under Peter, and was spurred by military competition with the more advanced countries to the West.⁷ By implication, therefore, they shared Stalin’s view that pre-Petrine Russia was economically backward in comparison with her Western neighbours, and that this backwardness put her at a military disadvantage. In this article I propose to provide a critical assessment of the view that Russia at the beginning of Peter’s reign was backward, not only in the sense of being at a military disadvantage because of economic underdevelopment,⁸ but also in the political sphere. In the final section of the article, I shall consider the process of enserfment, and discuss whether serfdom represented one of the ‘archaic’ phenomena which, according to Trotsky, coexisted with more modern ³ ⁴



⁶ ⁷ ⁸

Leon Trotsky: The history of the Russian revolution. Vol. , London , pp. –. Alexander Gerschenkron: Problems and patterns of Russian economic development, in: Michael Cherniavsky (ed.): The structure of Russian history. Interpretive essays, New York, NY , pp. –. First published in: Alexander Gerschenkron: Economic backwardness in historical perspective, Cambridge, MA . For the concept of the ‘advantages’ of backwardness, see also Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), no. , pp. –. For a comparison of Trotsky’s and Gerschenkron’s approaches, see Ben Selwyn: Trotsky, Gerschenkron and the political economy of late capitalist development, in: Economy and society  (), no. , pp. –. Gerschenkron, Problems and patterns, pp. , –. Trotsky, The history, vol. , pp. –; Gerschenkron, Problems and patterns, pp. –. There are of course many other definitions of ‘backwardness’, involving economic, social and cultural criteria, in which the ‘backward’ country has a lower level of literacy, intellectual and artistic achievement, agricultural productivity, urbanisation, etc, than the more ‘advanced’ country. Although some of these criteria involve subjective value judgments, or are difficult to quantify for the t century, most of them would rank Russia as backward in comparison with her western neighbours.

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forms in a country such as Russia that manifested combined development;⁹ or whether enserfment was a strategy for resource mobilisation for military and economic development, as some recent historians have suggested.

Military backwardness On his accession to the Russian throne in  Michael Romanov inherited a country that was undoubtedly backward in comparison with its Western neighbours. This backwardness was reflected in military failures. After Russia’s defeats and territorial losses to Poland-Lithuania and Sweden during the ‘Time of Troubles’ in the early t century, the governments of the first Romanov tsars pursued the aim of regaining the lost lands. A limited programme of military reform, based on the model of the ‘new formation’ regiments of the Netherlands and Sweden, was adopted before the Smolensk War of – against Poland-Lithuania, but these measures proved to be inadequate: the war ended in failure and most of the expensive new regiments were disbanded. Further military reforms were, however, undertaken ahead of the Thirteen Years War of –. On this occasion the programme of modernisation proved to be effective, and Muscovy was much more successful, especially against PolandLithuania. Under Tsar Aleksei (–) Russia not only regained Smolensk and other lands lost in the Time of Troubles, but also established control over left-bank Ukraine. The Russians also achieved successes in the Russo-Turkish War of –; and even Prince V. V. Golitsyn’s notorious failure to capture Perekop from the Crimean khan in his campaigns of  and  was the result primarily of logistical failures rather than of military backwardness.¹⁰ Thus Russia had already begun to modernise its armed forces in the t century, and in the second half of the century it competed far more successfully with its immediate neighbours (Poland-Lithuania and Sweden) than it had in the first half. Additional reform under Peter was undertaken not so much in order to defend and preserve the Russian state, as some have suggested, but rather to expand it further. Peter’s decisions to attack first the Turkish fort of Azov in  and then the Swedish-held Baltic port of Narva in  were to ⁹ ¹⁰

Trotsky, The history, vol. , p. . On military developments in t-century Russia see, for example, Carol Belkin Stevens: Soldiers on the steppe. Army reform and social change in early modern Russia, DeKalb, IL ; eadem: Russia’s wars of emergence, –, Harlow ; Robert I. Frost: The northern wars. War, state and society in northeastern Europe, –, Harlow ; Brian L. Davies: Warfare, state and society on the Black Sea steppe, –. London ; idem: Muscovy at war and peace, in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. –.

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How backward was pre-Petrine Russia?

lead to his major transformation of Russia along Western European lines. It might be argued that his aggressive actions against the Ottoman Empire and Sweden were pre-emptive strikes, but there is no evidence that either of these powers had immediate designs on Russian territory. Indeed, after the Polish Prince Władysław’s invasion in , there was no significant enemy incursion on to Muscovite soil: Muscovy’s t-century wars were wars of revanche and expansion, rather than defence. Russia had therefore already overcome its backwardness, in the narrow sense of military uncompetitiveness, before the end of the t century. The military inferiority that had rendered her so vulnerable to foreign invasion during the Time of Troubles had largely been overcome by government policies, including the borrowing of foreign military technology (the importation of weaponry) and methods of troop organisation (the newformation regiments, initially led by mercenary officers from various parts of Europe), and the recruitment of foreign specialists. In these ways, the policies of the Muscovite rulers of the t century made good use of the ‘advantages of backwardness’ identified by Gerschenkron and others, effectively utilising the possibility of assimilating Western technology and expertise in order to modernise its armed forces.

Political backwardness In recent years the concept of backwardness in relation to pre-Petrine Russia has largely moved into the background, although historians have expressed some interest in related concepts such as modernisation.¹¹ The question of the continuity or discontinuity of Peter’s policies with those of his t-century predecessors has also been discussed, most recently in connection with issues of the periodisation of Russian history.¹² In these debates, more attention has been paid to political history than to economic development: North American scholars, in particular, have concentrated on the issue of how far the Muscovite political system can be characterised as an ‘absolutism’ on the Western European model, rather than as a ‘despotism’, either of a uniquely Russian type, or on the lines of an Asiatic or ‘Oriental’ Despotism.¹³ The characterisation of ¹¹ ¹²

¹³

See, for example, Jarmo Kotilaine and Marshall Poe (eds.): Modernizing Muscovy. Reform and social change in seventeenth-century Russia, London . See, for example, the debate in: Slavic Review  (), no. , pp. –, especially Donald Ostrowski: The end of Muscovy. The case for circa , in: Slavic Review  (), no. , pp. –; and Nancy S. Kollmann: Comment: Divides and ends – the problem of periodization, in: Slavic Review  (), no. , pp. –. See, for example, Valerie A. Kivelson: Autocracy in the provinces: the Muscovite gentry and political culture in the seventeenth century, Stanford, CA ; eadem: Merciful

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Muscovy as a despotism has, however, much in common with its depiction as a politically backward state with an administrative system that fell short of the rational bureaucracy that was assumed to characterise absolutist regimes.¹⁴ What, then, were the main features of the t-century Russian state, and how did it compare with its early modern European neighbours? The term ‘autocracy’ (samoderzhavie), which was used by the Russians themselves from the t century onwards, is often taken to indicate an unlimited monarchy, but the Muscovite ruler’s powers were in practice constrained by custom and tradition. The monarch was expected to consult with his aristocratic counsellors (the boyars), and from the middle of the t century he occasionally summoned an ‘Assembly of the Land’ to consider major issues of policy. The assembly comprised representatives of the provincial servicemen, the townsmen, and occasionally even the peasantry, as well as the secular and ecclesiastical elites of the capital. The tsar was however in no sense accountable to the assembly, and it should perhaps best be seen as a two-way channel of communication between the centre and the localities. On the basis of the existence of the Assembly of the Land, some Soviet scholars described early modern Russia before the t century as an ‘estate-representative monarchy’ of the Western European kind:¹⁵ but this view has not found wide acceptance, largely on the basis that Muscovy did not have western-style ‘estates’: the Russia term chin, although it is sometimes translated as ‘estate’, refers more accurately to the social ‘orders’ or ‘ranks’ to which various groups of the population were ascribed on the basis of the type of service that they rendered to the state (hence the occasional application of the Weberian term ‘liturgical’ or ‘service’ state

¹⁴ ¹⁵

father, impersonal state: Russian autocracy in comparative perspective, in: Modern Asian Studies  (), pp. –; Nancy Shields Kollmann: By honor bound. State and society in early modern Russia, Ithaca, NY ; Robert O. Crummey: Seventeenthcentury Russia. Theories and models, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte  (), pp. –. See also the debate on ‘Muscovite despotism’ in: Kritika  (), no. , pp. –, especially Marshall Poe: The truth about Muscovy, in: Kritika  (), no. , pp. –; and Valerie A. Kivelson: On words, sources and historical method. Which truth about Muscovy? In: Kritika  (), no. , pp. –. Some historians now reject the term ‘absolutism’, preferring alternative formulations such as ‘the fiscal-military state’: see, for example, Chester Dunning and Norman S. Smith: Moving beyond absolutism. Was early modern Russia a ‘fiscal-military’ state? In: Russian History  (), no. , pp. –. On political backwardness, see Brian L. Davies: State power and community in early modern Russia. The case of Kozlov, –, Houndmills/Basingstoke , p. . For example, L.V. Cherepnin: Zemskie sobory Russkogo gosudarstva v XVI–XVII vv., Moscow ; N.F. Demidova: Sluzhilaya byurokratiya v Rossii XVII v. i ee rol’ v formirovanii absolyutizma, Moscow .

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How backward was pre-Petrine Russia?

to Muscovy).¹⁶ The role of the state in relation to society was always strong (as reflected in Hans-Joachim Torke’s term, the ‘state-conditioned society’),¹⁷ and Russian society lacked the type of autonomous corporate bodies and institutions, with legally prescribed rights, that characterised many late medieval societies in the West. Indeed, some historians have suggested that the relative weakness of these intermediate bodies made it easier for the Russian state to introduce the kind of centralising and bureaucratising policies that led to the creation of absolutism by the t century.¹⁸ Recent scholarship has, however, argued that even although Muscovite political institutions and communities lacked legal and constitutional rights compared with those of Western Europe, in practice they acted in similar ways.¹⁹ The Assembly of the Land, for example, although it lacked the status of the English parliament, acquired considerable political significance at times: it played an important role in the dynastic crises of  (when the old Muscovite ruling house came to an end on the death of Tsar Fedor Ivanovich) and  (at the end of the Time of Troubles), electing the new tsars (Boris Godunov and Michael Romanov respectively). Assemblies of the Land continued to meet regularly in the first part of the reign of Michael Romanov, embuing the young tsar with an additional source of legitimacy during the period of reconstruction after the Troubles. An important Assembly met in , in response to the uprisings in Moscow and other towns and cities in that year, and discussed the new Code of Laws (Ulozhenie) which was published in . Muscovite local government institutions also bore some similarities to their western counterparts. Reforms of provincial administration in the middle of the t century created some elective offices and institutions in the localities to replace the often corrupt vicegerents (namestniki) who had been appointed by central government. The practice of having such officials elected by their local communities compensated for the shortage of qualified administrators who were available for appointment to the provinces; and for the scarcity ¹⁶

¹⁷ ¹⁸ ¹⁹

Nancy Shields Kollmann: Concepts of society and social identity in early modern Russia, in: Samuel H. Baron and Nancy Shields Kollmann (eds.): Religion and culture in early modern Russia and Ukraine, DeKalb, IL , pp. –; Kivelson, Merciful father, p. ; Boris N. Mironov: Sotsial’naya istoriya Rossii perioda imperii (XVIII – nachalo XX v.) -e izd.  t., St Petersburg , t. , pp. –; Davies, State power, p. . Hans-Joachim Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung, –, Leiden . Crummey, Seventeenth-century Russia, p. ; Nancy Shields Kollmann: Crime and punishment in early modern Russia, Cambridge , pp. –. On the importance of studying political practice as well as legal theory, see Kollmann, By honor bound, pp. –.

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of resources at the disposal of central government for remunerating them.²⁰ These elective institutions were created by the state, to which they were in practice firmly subordinated; and they performed their administrative tasks on the state’s behalf. Nevertheless, they did contain within themselves the potential to exercise greater powers, especially when the state was weakened by internal and external pressures. During the Time of Troubles, for example, the townspeople of many urban communities organised themselves in order to expel the Polish invaders;²¹ and various types of official and unofficial community associations helped to mobilise resistance to the state in the popular revolts of the mid-t century onwards.²² Western historians have not, on the whole, accepted the view of Soviet scholars that the elected local government bodies created in the t century were ‘estate-representative institutions’;²³ but, in the view of some American historians, in the t century certain elite social groups in the provinces were already acting in a similar way to Western-style estates or even classes.²⁴ Thus even before the introduction of significant changes in the second half of the t century, the Muscovite political system may be regarded as more similar to other European states than advocates of the ‘despotic’ model allow.

Political change The process of reconstruction after the Time of Troubles, as we have seen, included military reform, and the t-century military revolution led not only to the greater effectiveness of Russia’s armed forces, but also to changes in the nature of the Russian state itself. These changes were, however (unlike the subsequent Petrine reforms), not primarily dependent on the conscious imitation of foreign models (although – as we shall see – they bore some resemblance to them).²⁵ Military reform required higher taxation to finance it, and administrative reforms to implement it. In the course of the t century, the number of central chancelleries expanded significantly, as did their personnel. Of these ²⁰ ²¹ ²² ²³ ²⁴ ²⁵

Davies, State power, p. . Cherepin, Zemskie sobory, pp. –. Davies, State power, pp. , –, –. The classic statement of this view is N.E. Nosov: Stanovlenie soslovno-predstavitel’nykh uchrezhdenii v Rossii. Izyskaniya o zemskoi reforme Ivana Groznogo, Leningrad . Kivelson, Autocracy; Kollmann, By honor bound, pp. –. For discussion of the origins of and influences on developments in Muscovite statebuilding, see Kivelson, Merciful father, pp. –.

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chancelleries, the great majority were concerned with military and foreign affairs; the military chancelleries were primarily engaged in supplying and provisioning the army, and the financial chancelleries in funding it. By the second half of the century, the chancelleries were beginning to be run in a rational and systematised manner which resembled Weberian bureaucracy.²⁶ This was also true of local administration, where the elected officials were increasingly subjected to the power of centrally appointed town governors (voevody) and their staffs, whose practices were dictated by rules and regulations imposed from Moscow.²⁷ The increased central control over the localities in the second half of the t century was largely a cost-cutting exercise; but it may also be seen as a response to the urban uprisings of – onwards, and to the great cossack-peasant revolt of – led by Sten’ka Razin.²⁸ These uprisings, in their turn, were largely a reaction against high taxation, and against administrative corruption.²⁹ In this respect they bear some similarities to the almost synchronous revolts and revolutions in Western Europe that have been diagnosed as symptoms of the ‘general crisis of the t century’.³⁰ At the same time as the state apparatus was becoming more centralised and bureaucratised, the convocation of Assemblies of the Land became less frequent in the second half of the t century, the last significant meeting being held in  to approve the war with Poland-Lithuania in support of Bohdan Khmelnitsky’s rebellion in Ukraine. Arguably the greater efficiency of communication between the town governors and the centre meant that the assemblies had ceased to perform a useful role in transmitting public opinion in the localities to Moscow, and in informing the provinces, in turn, of policy decisions

²⁶

²⁷

²⁸ ²⁹ ³⁰

Borivoj Plavsic: Seventeenth-century chanceries and their staffs, in: Walter McKenzie Pintner, Don Karl Rowney (eds.): Russian officialdom. The bureaucratization of Russian society from the seventeenth to the twentieth century, London , pp. –; Demidova, Sluzhilaya byurokratiya; Marshall Poe: The central government and its institutions, in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. –; Peter B. Brown: How Muscovy governed. Seventeenth-century Russian central administration, in: Russian History  (), pp. –. Davies, State power, pp. , –; idem: Local government and administration, in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. – . See, for example, N.N. Pokrovskii: Tomsk – gg. Voevodskaya vlast’ i zemskie miry, Novosibirsk , pp. , . Maureen Perrie: Popular revolts, in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. –. Robert O. Crummey: Muscovy and the “General Crisis of the Seventeenth Century”, in: Journal of Early Modern History  (), pp. –.

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taken in the capital.³¹ In the view of those Soviet historians who characterised Muscovy as an estate-representative monarchy, the disappearance of the Assemblies of the Land at the end of the century, and the greater centralisation of state power more generally, marked the introduction of absolutism;³² other historians, mostly in the West, conceptualise this process as a transition from a ‘traditional’ to a bureaucratic early-modern state.³³ The progress of these developments by the end of the t century fell far short of the kind of rationalisation associated with the absolutist ‘well-ordered police state’. Brian Davies and others have, however, argued that the incomplete bureaucratisation of aspects of Muscovite administration did not necessarily make it backward or inefficient in comparison with contemporary Western European regimes, where, as recent research has shown, traditional or proto-bureaucratic methods of governance persisted alongside the newer rational bureaucracies throughout the t century.³⁴ Thus political developments in late t-century Russia, in the view of some recent ‘revisionist’ historians, paralleled those of many early modern Western European states as they moved towards absolutism, and were roughly synchronous with them: the similarities of these developments in Russia to those in the West may be seen partly as autonomous indigenous responses to analogous pressures, such as the military revolution; and partly as the result of intellectual influences derived from the Renaissance and the Counter-Reformation, channelled from Western Europe through Ukraine.³⁵ The parallels with the rest of Europe that we have considered so far relate to the secular sphere, but they have also been detected in ecclesiastical developments. A recent line of analysis extends the concept of ‘confessionalisation’, previously applied primarily to increased state control of spiritual life in the Protestant and Catholic states of post-Reformation central Europe, to the Orthodox lands further east: Ukraine and Muscovy.³⁶ The Church reforms of ³¹ ³² ³³

³⁴ ³⁵ ³⁶

Davies, State power, p. . Cherepnin, Zemskie sobory, p. ; N. F. Demidova: Sluzhilaya byurokratiya, pp. – . Valerie A. Kivelson: The devil stole his mind. The tsar and the  Moscow uprising, in: American Historical Review  (), pp. –; eadem, Merciful father, pp. – . Davies, State power, pp. , ; Kivelson, Merciful father, p. ; Kollmann, By honor bound, pp. –; eadem, Crime and punishment, pp. –. For example Kivelson, Merciful father, p. ; Kollmann, By honor bound, pp. – . Serhii Plokhy: The cossacks and religion in early modern Ukraine, Oxford , pp. – ; idem: The origins of the Slavic nations. Premodern identities in Russia, Ukraine

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How backward was pre-Petrine Russia?

Patriarch Nikon standardised the liturgy and religious practices, mainly on the basis of contemporary Greek models, although Nikon claimed (and may well have genuinely believed) that they represented the authentic practices of the early Church, which had become corrupt in Russia during its years of isolation from Byzantium. The new rituals provoked the opposition of those representatives of the traditional Russian faithful who later became known as Old Believers. The opponents of reform argued that the new rituals were heretical ‘Latinising’ innovations which marked the onset of the Last Days (there was in fact some basis for their identification of the reforms as quasi-Catholic since, after the fall of Byzantium to the Ottomans, the Greek Orthodox published their liturgies in Rome and Venice; and many of their clergy came under the influence of Counter-Reformation Catholicism, as did certain leading Ukrainian Orthodox figures, who helped to transmit the new texts to Muscovy).³⁷ The confessionalisation of Russian Orthodoxy had begun at the start of Tsar Aleksei’s reign, even before Nikon’s accession to the Patriarchate in . Ecclesiastical reforms were introduced which aimed to eliminate what were seen as abuses in Church practices, including the alleged persistence of pre-Christian rites and the prevalence in parishes of lewd folk entertainments. The Law Code of  introduced a degree of secularisation, creating a Monastery Chancellery with juridical powers over the clergy. Although it was abolished in , in the reign of Aleksei’s son Fedor, its introduction was in many respects a precursor of the secularising policies of Peter the Great. When Nikon abandoned the Patriarchate in , after quarrelling with the tsar, he condemned (as the work of the Antichrist) the process of statisation of the Church in which he himself had previously collaborated.³⁸ But the reforms continued, under the leadership of the tsar himself. The ecumenical Church council of – that officially removed Nikon from the Patriarchate also condemned the Old Believers as heretics; a Church council of – declared them to be civil criminals, and paved the way for their active persecution by the state from .³⁹ The Church schism and the resistance of the Old Believers, like the popular upris-

³⁷ ³⁸

³⁹

and Belarus, Cambridge , pp. –; Robert O. Crummey: Ecclesiastical elites and popular belief and practice in seventeenth-century Russia, in: James D. Tracy and Marguerite Ragnow (eds.): Religion and the early modern state. Views from China, Russia, and the West. Cambridge , pp. –. Paul Meyendorff: Russia, ritual, and reform. The liturgical reforms of Nikon in the t century, Crestwood, NY . William Palmer (ed.): The Replies of the humble Nicon, London , pp. –; Valerie A. Tumins, George Vernadsky (eds.): Patriarch Nikon on Church and State. Nikon’s “Refutation”, Berlin , pp. –. Crummey, Ecclesiastical elites, pp. –; idem: The Orthodox Church and the schism,

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ings of  onwards, may be seen as a reaction against an increasingly activist and interventionist state and its policies, and thus as another element in the Europe-wide ‘general crisis’ of the t century. The Muscovite state’s policies towards the Orthodox Church, in their turn, were more or less analogous to the policies of secularisation and liturgical standardisation that were introduced by Western European states, albeit at a slightly earlier period.

Enserfment and economic backwardness But if many of the policies introduced by the first Romanov governments were roughly comparable to and even synchronous with those that led to the establishment of absolutism in Western Europe, there is one important measure that does not correspond to Western European developments, and indeed runs counter to them – namely, the legal implementation of serfdom in the Law Code of . The Marxist historian Perry Anderson has explained this apparent anomaly by identifying Russia as an example of those Eastern European absolutisms that were formed in order to compete militarily with Western European absolutist states. Anderson noted that although serfdom had disappeared in most of Western Europe by the late middle ages, a ‘second serfdom’ was introduced in the early modern period not only in Russia but also in other parts of Eastern Europe, where in some cases – as in Russia – it was closely linked to military needs and the formation of the absolutist state.⁴⁰ In Anderson’s view there was a ‘paradoxical convergence of superstructures’ in Eastern and Western Europe, ‘at a time when infrastructural relations of production were diverging’:⁴¹ because of military rivalry, absolutist states were formed more or less simultaneously in ‘backward’ Eastern and ‘advanced’ Western Europe, in spite of the fact that Eastern Europe witnessed a second serfdom, while Western Europe saw the beginnings of capitalist development. In Russia, in the interests of military survival, the state legally enserfed the peasants in order to

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⁴¹

in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. –; Kollmann, Crime and punishment, pp. –. Perry Anderson: Lineages of the absolutist state, London , pp. –. See also idem: Passages from antiquity to feudalism, London , pp. –. On the ‘second serfdom’ in Eastern Europe, see Jerome Blum: The rise of serfdom in Eastern Europe, in: American Historical Review  (), no. , pp. –; and idem: Lord and peasant in Russia, from the ninth to the nineteenth century, New York, NY , pp. –. Anderson, Lineages, p. .

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guarantee a labour force for the nobility, and thereby gained its acquiescence in the creation of absolutism.⁴² The process of enserfment of the Russian peasantry had been under way since at least the t century, with the imposition of a series of restrictions on peasants’ rights to move from their landlords’ estates. This process was intensified after the Time of Troubles, as a result of pressure exerted on the government by its middle-ranking military servitors.⁴³ At the same time as the Russian government was recruiting its new-formation regiments in the first half of the t century, the old-style gentry cavalrymen, who held their landed estates on condition of military service, found themselves in crisis. The extension of the southern frontier after the Smolensk War, and its fortification by new defensive lines that were designed to deter raids by the Crimean Tatars, secured new territory for settlement. Landowners’ peasants from central Russia flocked to the frontier zones, depriving the cavalrymen of the labour they needed in order to work their estates and provide them with an income to enable them to perform their military service. The cavalrymen also lost peasants to larger-scale landowners in central Russia who could offer them better conditions. From the late s, the cavalrymen began to petition the government for the repeal of the statutes of limitations on the return of fugitive peasants that had been introduced since the late t century. In response to their petition campaigns, the government extended the time-period for the return of fugitives, firstly from five to nine, and then to fifteen years. Finally, the Law Code of  removed the limitations entirely, thereby completing the process of enserfment. Serfdom was in the interests not only of the landowners, but also of the state, enabling it to devolve the administration of around half of the population of the country to the gentry. The  Law Code also subjected the townspeople to restrictions on their movements, in order to guarantee that they all paid their fair share of the tax burden, which was imposed as a collective responsibility on urban communities. These restrictions on the social and

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Anderson, Lineages, pp. –, . Robert Crummey considers Anderson’s concept of Eastern European absolutism to be the most useful model for understanding tcentury Russia. See Crummey, Seventeenth-century Russia, pp. –, –. The classic study of enserfment is Richard Hellie: Enserfment and military change in Muscovy, Chicago, IL . See also idem: The economy, trade and serfdom, in: Maureen Perrie (ed.): The Cambridge History of Russia, vol. , Cambridge , pp. – .

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geographical mobility of the population made it easier for the state to extract tax revenues, and to obtain recruits for the expansion of its armed forces.⁴⁴ Because serfdom had largely been abolished in Western Europe by the end of the middle ages, the legal consolidation of serfdom in Russia in the early modern period has sometimes been regarded as evidence of Russian backwardness. Trotsky, for example, when expounding his conceptualisation of Russia’s ‘uneven’ and ‘combined’ development, identified serfdom as one of the archaic forms that coexisted with more modern phenomena.⁴⁵ In their comparison between Russian and West European serfdom, Rodney Hilton and Bob Smith hinted at the backwardness of the former when they observed that, ‘the Code of Laws finally enserfing the Russian peasant and the execution of Charles I both took place within a few weeks of one another in ’.⁴⁶ Other historians, however, have viewed enserfment not so much as a symptom of Russian backwardness, but rather as a state policy designed to help to overcome backwardness. Gerschenkron argued that enserfment was connected with policies of economic development, undertaken in the military interests of the state.⁴⁷ The view that the introduction of serfdom was a state policy of substitution for ‘missing or inadequate factors of production’ was also put forward by the British economic historian Olga Crisp, who wrote that ‘serfdom, as it was instituted in the seventeenth century, was a state measure connected with the state’s control over the financial and human resources for military purposes rather than a privilege granted to the nobility’.⁴⁸ Two recent historians have integrated enserfment into the ‘modernisation’ paradigm: Jarmo Kotilaine and Marshall Poe present the introduction of serfdom in the t century as an ‘efficiency-oriented’ modernising reform that served as an effective substitute for Western-style preconditions for development. Enserfment ‘promoted efficiency by resolving serious distributional questions and giving many producers greater incentives to invest by strengthening their claims to particular productive resources’.⁴⁹ In any debate on whether enserfment represented an archaic phenomenon ⁴⁴ ⁴⁵ ⁴⁶ ⁴⁷ ⁴⁸ ⁴⁹

On the benefits of serfdom for both the state and the landowners, see David Moon: Reassessing Russian serfdom, in: European History Quarterly  (), , pp. –. Trotsky, The history, vol. , pp. –. R.H. Hilton and R.E.F. Smith: Introduction, in: R.E.F. Smith (ed.): The enserfment of the Russian peasantry, Cambridge , p. . Gerschenkron, Problems and patterns, pp. –, –. Olga Crisp: Studies in the Russian economy before , London , pp. –. Jarmo Kotilaine and Marshall Poe: Modernization in the early modern context. The case of Muscovy, in: iidem: Modernizing Muscovy, p. .

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or a strategy for modernisation, it is important to note that Peter the Great himself evidently did not see serfdom as an indicator of Russian backwardness.⁵⁰ Peter transformed many aspects of Muscovite society that he regarded as symptoms of Russia’s inferiority to Western Europe, whose institutions he admired and sought to emulate. He built on the reforms of his father and siblings in the second half of the t century, but he changed Russia in a much more dramatic fashion than his predecessors had done, by consciously imitating European models. His often chaotic administrative reorganisations introduced greater bureaucratisation , and he adopted secular Western versions of absolutist ideology, with its concept of the general good, in place of the older Orthodox paternalism. Peter abolished a number of Muscovite institutions, including the Patriarchate, the Assembly of the Land, and the boyar council. But far from abolishing the institution of serfdom, he developed it further and reinforced it, in his pursuit of economic development, extending forced labour from agriculture to other sectors of the economy such as transport, construction, mining and metallurgy; binding industrial workers to their enterprises; and equalising the legal status of serfs with that of slaves. This strongly suggests that he recognised the utility of the institution not only as a mechanism for supporting the compulsory state service of the nobility, but also a means of resource mobilisation for military and economic purposes. There are therefore good reasons to accept the arguments of those historians who see the introduction of serfdom in the mid-t century, and its further extension under Peter, as measures to promote economic development. Most of these scholars, however, argue that although serfdom was a successful means of modernisation in the short to medium term, it subsequently acted as an obstacle to further development, and thus contributed to the backwardness of Russia by the first half of the t century.⁵¹ Olga Crisp, by contrast, has argued persuasively that serfdom was not the main cause of Russian backwardness in the t century, and that the other causes included the country’s poor distribution of natural resources, and its unfavourable network of communications.⁵² But even if serfdom was a Gerschenkronian substitute that had outlived its usefulness by the t century, the institution proved compatible with Russia’s successes in her armed confrontations with her European neighbours for nearly two centuries, from the Thirteen Years War of – through the ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²

On Peter and serfdom, see Lindsey Hughes: Russia in the age of Peter the Great, New Haven, London , pp. –. Gerschenkron, Problems and patterns, p. ; Kotilaine, Poe, Modernization, pp. – . Crisp, Studies in the Russian economy before , pp. , –, .

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Napoleonic wars.⁵³ From this perspective, the enserfment of the peasantry in  must be seen not as a symptom of Russian backwardness, but rather as a measure designed to promote military efficiency that helped to lay the basis for further reform under Peter.

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Moon, Reassessing Russian serfdom, pp. –.

Von der Barbarei zur Rückständigkeit: Revolten in Russland als Projektionsflächen eines „aufgeklärten Absolutismus“? Malte Griesse

In der historiographischen Bewertung gibt es eine Parallele zwischen Russland und frühneuzeitlichen Revolten. Beide werden häufig als „rückständig“ bezeichnet. Russland hinke hinter den entwickelten Ländern Europas her. Das war nicht bloß eine abwertende westliche Zuschreibung, sondern wurde (und wird) in Russland selbst oft so dargestellt, besonders deutlich seit den Auseinandersetzungen zwischen Slawophilen und Westlern im . Jahrhundert, wenn sie auch unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus zogen.¹ Aber ebenso häufig werden Revolten als rückwärts gerichtet oder re-aktiv interpretiert, zumindest Revolten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Erst mit der „Moderne“ und den „modernen“ Revolutionen seit dem späten . Jahrhundert stünde der Aufstand im Zeichen wahrer sozialer, politischer etc. Neugestaltung und einer in die Zukunft gerichteten endgültigen Überwindung des Status quo. Generell wird die Französische Revolution  als Startschuss angesetzt.² Die gängige terminologische Unterscheidung zwischen „Revolte“ und „Revolution“ verläuft entlang der (imaginierten) Trennlinie zwischen Regressivität und Progressivität. Dies heißt aber nicht, dass jeder Protest in der Moderne als ¹

²

Vgl. zur Rückständigkeit als zentraler Figur russischer Selbstwahrnehmung in der Neuzeit Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –. So wird die zeitlich frühere Amerikanische Revolution unterschlagen. Dagegen wendet sich Hannah Arendt: Über die Revolution, München/Zürich ⁴. Sie wertet die Amerikanische Revolution als die einzige und erste wahrhaft politische Revolution auf, wohingegen die Französische Revolution letztlich an der sozialen Frage erstickt sei. Zugleich steht sie aber für eine scharfe Abgrenzung von vormodernen Revolten einerseits und Revolutionen als radikale Neuerungen in der Moderne, d. h. seit dem späten . Jahrhundert.

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revolutionär und auf Neuerung gerichtet interpretiert wird. Bis heute kommen die meisten Manifestationen von Protest und Widerstand über das Stadium der „bloßen Revolte“ nicht „hinaus“, auch in ihrer öffentlichen und wissenschaftlichen Betrachtung. Aber selbst jenen Manifestationen des Widerstands in der „Vormoderne“, die gemeinhin als „Revolutionen“ bezeichnet wurden, erkennt man ihren „revolutionären“ Charakter ab. So wird die „englische Revolution“ in der nicht-marxistischen Historiographie zumeist als Bürgerkrieg oder sogar als (verspäteter) Religionskrieg bezeichnet.³ Für heutige Historiker ist die Terminologie der Zeitgenossen selbst meist irrelevant, wenn sie nicht dezidiert zu historischer Semantik arbeiten. Ohnehin stimme der Revolutionsbegriff des . Jahrhunderts nicht mit unserem heutigen Sprachgebrauch überein.⁴ Mir geht es hier aber nicht um eine Revision dieses historiographischen Urteils, sondern um seine Genese, also um die Frage, wie, wann und unter welchen Umständen diese Einschätzung aus den Wahrnehmungen der Zeitgenossen selbst entstanden ist, um dann auch in der Revoltenforschung Fuß zu fassen. Ich vertrete die These, dass die Genealogien der Urteile über die „Rückständigkeit“ Russlands und die „Rückwärtsgewandtheit“ von Revolten miteinander verzahnt sind. Aber es handelt sich nicht um Ideen, die im eingehegten Rahmen von (sich formierenden) Nationalstaaten geboren werden, sondern um länder- und kulturübergreifende Wahrnehmungen und die Verflechtungen solcher Wahrnehmungen. Es scheint gerade die frühe Aufklärungszeit zu sein, die so einen entscheidenden Paradigmenwechsel mit sich brachte, sowohl im Hinblick auf die Russland-Rezeption, als auch auf die Wahrnehmung von Re³ ⁴

Vgl. beispielsweise John Morill: The Nature of the English Revolution. Essays, London/New York . Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass man von Revolution ursprünglich nur in der Astronomie gesprochen hat und damit die zirkuläre Bewegung der Himmelskörper meinte. Höchstens im metaphorischen Sinne sei im Hinblick auf politische Ereignisse von „Revolution“ gesprochen worden, dann aber im Sinne einer Rückkehr zum Ausgangspunkt, wie etwa im Falle der englischen Revolution, wo die Restauration von  als Abschluss einer solchen „revolutionären“ Kreisbewegung galt. Für eine ausführliche historisch-semantische Aufarbeitung zum Revolten- und Revolutionsbegriff vgl. Reinhart Koselleck: Revolution. Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. : Pro–Soz, Stuttgart , –. Zur Verwendung des Revolutions-Begriffs im Kontext der mid-thcentury crisis siehe auch Peter Burke: Some Seventeenth-Century Anatomists of Revolution, in: Storia della Storiografia  (), S. –. Vgl. außerdem die hervorragende – und trotz deutscher Übersetzung leider selten benutze – Studie von Bernhard I. Cohen, der die Revolutionsbegriffe im Hinblick auf Entwicklungen in den Naturwissenschaften und hinsichtlich der sozio-politischen Welt in ihren Interaktionen und Verflechtungen untersucht. Bernhard I. Cohen: Revolution in Science, Cambridge, MA .

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volten, aber v. a. und zunächst einmal auf die Wahrnehmung von Revolten in Russland. Im ersten Teil skizziere ich, wie ausländische Beobachter das Moskauer Reich und das Verhältnis zwischen Zar und Volk vor der Aufklärung beschrieben haben, und frage danach, wie (schwierig) sich Aufstände und Revolten in ihr Russlandbild integrieren ließen. Orientalistische Alterisierungen (Barbarei, Despotismus, Tyrannei) dominierten in der Wahrnehmung des Osmanischen wie des Moskauer Reichs. Aber zum einen lassen sich im abendländischen Europa ähnliche Alterisierungstendenzen gegenüber dem „Volk“ und mehr noch den aufständischen Massen verzeichnen. Zum anderen gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung des (immerhin christlich-)orthodoxen Russlands auf der einen, und des nicht-christlich-muslimischen Osmanischen Reichs auf der anderen Seite. Während man für die Moskowiter Despotie kaum gute Worte findet, kann man der „Tyrannei“ des osmanischen Sultans durchaus Respekt abgewinnen – und hier scheint ein heimliches Vorbild für die aufkommenden Ideale von absolutistischer Herrschaft zu liegen. Im zweiten Teil versuche ich zu zeigen, wie sich dieses Verhältnis in der Frühaufklärung umkehrt. Das Osmanische Reich erleidet nach  einen erheblichen Prestigeverlust. Aus der unter vorgehaltener Hand bewunderten Tyrannis wird bloße „Despotie“, die jeglicher Legitimität entbehrt und alle Anziehungskraft verloren hat. Gegenüber Russland vollzieht sich hingegen ein Paradigmenwechsel, der sich maßgeblich an der Figur Peters I. festmacht, nicht zuletzt an seinem Umgang mit Widerstand und Revolte. In dieser Fremdwahrnehmung entsteht einerseits der Prototyp des „aufgeklärten Herrschers“, so dass „Despotie“ in manchen Fällen als „aufgeklärter Absolutismus“ (im Französischen sogar als despotisme éclairé und im Englischen als enlightened despotism) zu einem positiven Bild gewendet wird.⁵ Andererseits kristallisiert sich in den Darstellungen der Unterdrückung von Widerstand die Vorstellung von der Revolte als Manifestation von Rückständigkeit heraus, die durch den aufgeklärten Des-



Wilhelm Roscher hat den Begriff in seinen Umrissen zur Naturlehre der drei Staatsformen () geprägt. Dort unterscheidet er zwischen konfessionellem, höfischem und aufgeklärtem Absolutismus. Zu den Problemen des Begriffs, der anhaltenden historiographischen Debatte und den unterschiedlichen nationalen Positionierungen, mit ihrer Hauptdemarkationslinie zwischen deutscher Geschichtsschreibung auf der einen, und englischer, französischer und US-amerikanischer auf der anderen Seite, vgl. Charles Ingrao: The Problem of “Enlightened Absolutism” and the German States, in: The Journal of Modern History, Supplement. Politics and Society in the Holy Roman Empire, –,  (), S. –.

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poten ausgemerzt werden müsse, so meine These. Das hat nachhaltige Wirkungen auf die Historiographie, die ich im Ausblick nur andeuten will.

. Vor der Aufklärung Ende der er Jahre schreibt Jakob Reutenfels, einer der ausländischen Leibärzte Zar Aleksejs, die Moskowiter seien „kriecherisch“.⁶ Damit ist er nicht allein und kann sich auf eine lange Tradition von Russlandbeschreibungen stützen. Er und viele seiner Vorgänger meinten, dass freiheitsliebende Menschen sich natürlicherweise gegen tyrannische Herrschaft auflehnten – nicht aber die Moskowiter, denn sie seien geborene Sklaven. So bemühen Reutenfels und andere zeitgenössische Beobachter letztlich ein Argument, das Aristoteles gegenüber den „orientalischen Despotien“ der Antike angeführt hat. Aristoteles hatte tyrannische Herrschaft als notwendigerweise von kurzer Dauer dargestellt. Die politische Veranlagung der Menschen und ihr Bedürfnis, die eigenen Angelegenheiten gemeinsam zu beraten, treibe sie zum Umsturz einer Regierung, die diese ihre natürliche Freiheit unterdrücke. Nur: Wie ließ sich dann die erstaunliche Stabilität orientalischer Reiche erklären? Aristoteles löste das Problem mit dem Verweis auf die Sklavennatur dieser Völker. Letztlich hatte man es nicht eigentlich mit Menschen im vollen Wortsinne zu tun, also nicht mit politischen Wesen. Denn die orientalischen Völker regelten ihre Angelegenheiten durch Befehl und Gehorsam. Despot und sklavische Bevölkerung standen in einem symbiotischen Wechselverhältnis. Sie bedingten und stabilisierten sich gegenseitig, so wie im Haus (oikos), wo der Herr despotisch über Familie und Sklaven herrschte. Die Despotie war insofern ein überdimensionierter patriarchalischer Haushalt.⁷ So sprachen auch westliche Autoren in der frühen Neuzeit von den ⁶



Jacob Reutenfels: De rebus Muschoviticis ad serenissimum Magnum Hetruriae Ducem Cosmum tertium, hrsg. von Marshall Poe, London . Schon  ist das Werk ins Deutsche übersetzt worden, ohne Angabe des Autors und ohne dass angezeigt worden wäre, dass es sich dabei um eine Übersetzung handelte. Vgl. Das große und mächtige Reich Moscovien. Worinnen nicht allein von dieser Völcker Ursprung/ und ReichsNachfolgung/ itziger Regierung/ Krönung/ Beylager/ und Titul der Zaaren/ sondern auch von der Innwohner Ordnung und Sitten/ Religion/ Kleindung/ Sprach und Wissenschafften/ des Reiches Vermögen und Grösse gehandelt wird/ Allerorten mit gehörigen Kupfern versehen und der Teutschen Welt vor Augen geleget von Einer warhafften Feder, Nürnberg . Über Reutenfels wissen wir kaum etwas, selbst seine Geburtsdaten sind unklar. Offenbar war er von – in Moskau. Marshall T. Poe: “A People Born to Slavery”. Russia in Early Modern European Ethnography, –, Ithaca, NY , S. . Vgl. dazu auch Arendt, Über die Revolution, die auf Aristoteles gestützt die Despotie als Herrschaft der Notwendigkeit verstehen will und damit den gesamten Bereich des Ökonomischen aus der Politik verbannt.

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Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Moskowitern als Sklaven, Tieren oder Barbaren. Schon Herberstein hatte darüber sinniert, ob es die Brutalität des Volkes sei, die den Großfürsten zu einem Tyrannen gemacht habe, oder ob die Menschen erst durch die Tyrannei ihres Fürsten so brutal geworden seien. Gewalt war zwar auf der Tagesordnung, nicht aber der Kampf gegen Tyrannei, vielmehr sei die Freiheit der russischen Bevölkerung wesensfremd.⁸ Wie erklärte man aber vor diesem Hintergrund die zahlreichen großen Revolten im Moskauer Reich? Häufig wurden sie bei solchen Räsonnements einfach übergangen, selbst wenn die Autoren sie andernorts recht detailliert schilderten. Reutenfels war in Moskau, als man Stepan Razin, den Anführer eines der größten Kosakenaufstände,⁹ durch die gesamte Stadt zum Schafott führte. Er wohnte der Hinrichtung bei, aber er hat kaum dazu geschrieben. Viele Autoren schilderten die Aufstände weitaus ausführlicher. Besonders charakteristisch ist die Darstellung der großen Kosakenaufstände und der Revolten der Nicht-Russen in der Peripherie. Die Rebellen wurden in besonders negativem Licht als wild und entmenscht gezeichnet, als grausame und unberechenbare Bestien, die nur durch roheste Gewalt im Zaum gehalten werden könnten.¹⁰ Das scheint zwar nicht wirklich in das Bild von der Sklavennatur zu passen, aber eines war den Zeitgenossen offenbar klar: mit einem Kampf um Freiheit und Überwindung tyrannischer Herrschaft hatte ihr Widerstand nichts zu tun. Allenfalls wollten die Aufständischen in dieser Interpretation selbst die Rolle der Tyrannen einnehmen. So wird Stepan Razin in den Ausländerberichten häufig als „Tyrann“ bezeichnet.¹¹ All das klingt nach typisch orientalistischen Wahrnehmungsmustern. Doch nicht nur in den Darstellungen Asiens, der Neuen Welt oder eben Russlands wurde der Bevölkerung oft das Menschliche abgesprochen. Auch im „Herzen Europas“ wurde „das Volk“ mit Tieren oder Vieh gleichgesetzt. Von Ziegler und Kliphausen schreibt in seinem Historischen Labyrinth der Zeit über den „Auffruhr des Pöbels zu Roterdam, Anno “ und nennt das Volk ein „viel⁸ ⁹

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¹¹

Zit. nach Poe, “A People Born to”, S. . Freilich ließe sich argumentieren, dass die Kosaken eine andere Herrschafts- und Selbstorganisationsform praktizierten als sie im (Rest des) Moskauer Reich(es) gängig war. Doch hier geht es um die Wahrnehmungen und nur wenige westliche Beobachter trafen solch subtile Unterscheidungen. Vgl. dazu André Berelowitch: Stenka Razin’s Rebellion. The Eyewitnesses and their Blind Spot, in: Malte Griesse (Hg.): From Mutual Observation to Propaganda War. Premodern Revolts in their Transnational Representations, Bielefeld , S. –. Arkadij Georgievič Man’kov (Hg.): Zapiski inostrancev o vosstanii Stepana Timofeeviča Razina, Leningrad ; ders. (Hg.), Inostrannye izvestija o vosstanii Stepana Razina, Leningrad .

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köpfflichtes Thier“, das Gift sprühe, ein „Lumpen-Gesinde“, „eingefleischte Tieger“, „Männer und Weiber, gleich denen rasenden Bestien“, u. a. m.¹² In solchen Zitaten spiegelt sich nicht nur Verachtung für das „Volk“, sondern gerade auch die Angst der Obrigkeiten vor dessen Unberechenbarkeit, insbesondere bei Aufruhr und Revolte. Deutlich wird das in der Metapher vom Staatsschiff, das der geschickte Kapitän durch die stürmische See steuern muss. Hier werden das Volk durch den Ozean und die Revolten durch Stürme symbolisiert. Das Volk ist eine elementare Naturgewalt und nur schwer zu beherrschen. Der Kapitän sollte es aber nach Möglichkeit für seine Zwecke zu nutzen wissen. Zugleich müsse er auch beachten, wann es klüger sei, im Hafen zu bleiben. In den Emblematiken von Diego de Saavedra Fajardo (–) oder Schering Rosenhane (–) spielt die Schiffsmetapher z. B. eine zentrale Rolle.¹³ Das Volk ist das radikal Andere, das bezwungen werden muss. Seine Launen sind nicht vorhersehbar. Der Unterschied zu den Beschreibungen der Bevölkerung im Moskauer Reich ist also bei Weitem nicht so fundamental, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Wichtig ist die auch rechts- und strafrelevante Unterscheidung zwischen Massen und Rädelsführern – und das in ganz Europa. Den Massen gestand man nicht zu, dass sie zur Eigeninitiative in Sachen Revolte fähig waren. Aber fehlgeleitetes Freiheitsstreben spielte für Revolten durchaus eine Rolle. Immer waren es die „Rädelsführer“, die den Massen das trügerische Freiheitsstreben einflüsterten. In westlichen Selbstdarstellungen präsentierten Juristen, politische Philosophen und andere Autoren die eigenen Regierungen natürlich nicht als Tyrannei. So seien es gefährliche und auf Neuerung fixierte Rädelsführer, die oft sogar versuchten, „ehrliche Gemüther“ mit dem Köder der „Freiheit“ auf ihre Seite zu ziehen und auf diese Weise umso effektiver ihr eigenes tyrannisches Unterdrückungsregime zu errichten. Der anonyme Autor des ¹²

¹³

Heinrich Anshelm von Ziegler und Kliphausen: Historisches Labyrinth der Zeit. Darinnen die denckwürdigsten Welt-Händel, absonderlich aber die richtigsten LebensBeschreibungen aller ietzt-lebenden und verstorbenen Könige in Europa; sammt vielen ergötzlichen Grab-Schrifften und Poesien … und einem dreyfachen vollständigen Register, Leipzig , zit. nach Arnd Beise:, Geschichte, Politik und das Volk im Drama des . bis. . Jahrhunderts. Berlin/New York , S. . Diego de Saavedra Fajardo: Abriß Eines Christlich-Politischen Printzens. Zuvor Aus dem Spanischen ins Lateinische und Teutsche übersetzet; nun aber In unserer Teutschen Sprache aufs neue mit Fleiß übersehen/ in bessere Form gebracht/ und mit schönen Kupffern gezieret, Jena, Helmstaedt , zit. nach Dietmar Peil: Emblematische Fürstenspiegel im . und . Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster  (), S. –.

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Wahrhafftig-abbildenden Aufruhr- und Empörungsspiegel verweist z. B. auf die Englische Revolution: Cromwel/ der ärgste Unterdrucker der Freyheit als jemahln gelebt/ brachte das ganze Britannien in Auffruhr wieder ihren natürlichen König durch die vorgeschützte Vertheidigung der Freyheit! Aus welchem denn erscheinet/ daß/ ob wohl die Freyheit ein unschätzbares Kleinod ist/ man dennoch aber auch leicht dadurch könne verleitet und betrogen werden.¹⁴ Wie verhalten sich die „westlichen“ Darstellungen von Aufständen im Moskauer zu denen im Osmanischen Reich? Wie haben westliche Beobachter das Verhältnis zwischen Sultan und Volk gezeichnet? Tendenziell wird dem Sultan eine ähnlich weitgehende autokratische Macht zugeschrieben wie dem russischen Zaren – und zumindest vordergründig wird sie negativ bewertet. Auch finden sich ähnlich abwertende Bemerkungen über Türken wie über Moskowiter. Sir George Sandys (–) nennt die Türken in seinem Reisebericht von  die „wilden Bestien der Menschheit“ („wild beasts of mankind“), die in die alte Zivilisation hereingebrochen seien und alle Zivilität herausgerissen hätten („rooted out all civilitie“). Das steht im Kontext nostalgischer Reflexionen zum untergegangenen Byzantinischen Reich. In ihrem Verhältnis zum allmächtigen Sultan wurden die osmanischen Untertanen im . und . Jahrhundert hingegen eher selten als „sklavisch“ bezeichnet und den Begriff „Despotie“ verwendeten westliche Beobachter für das Osmanische Reich offenbar nicht. Stattdessen haben sie von „Tyrannis“ gesprochen, was – ganz ähnlich wie beim Moskauer Reich – häufig an den Rechts- und Besitzverhältnissen festgemacht wurde: Das Land gehörte dem Sultan und die Herrschaft über die bäuerliche Bevölkerung durch die adligen timar-Inhaber war gekoppelt an ihren Dienst, insbesondere den Militärdienst. Ein klares Vererbungsrecht gab es nicht und der Sultan konnte die timars theoretisch immer wieder einziehen und neu verteilen.¹⁵ ¹⁴

¹⁵

Wahrhafftig-Abbildender Auffruhr- und Empörungs-Spiegel. In welchem Alle unruhige und verwegene Köpffe gahr leicht und eigentlich zu erkennen seyn/ beydes Ihnen selbst zu nöthiger Betrachtung/ und allen redlichen/ Gottfürchtenden/ ihr Vaterland liebenden/ … Gemüthern zu nützlichem Gebrauche vorgestellet. Worbey Eine kurtze Erzehlung dessen/ was in Hamburg etliche Jahre hero durch die beyde hingerichtete Haupt-Redelsführer Jastram und Schnitger/ verübet worden, Friedberg [i.e. Hamburg] , S. –. Aslı Çırakman: From Tyranny to despotism. The Enlightenment’s Unenlightened Image of the Turks, in: International Journal of Middle East Studies  (), S. –; Thomas Kaiser: The Evil Empire? The Debate on Turkish Despotism in Eighteenth-Century

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Trotzdem wurde dieser Form der Herrschaft Stabilität zugesprochen, ähnlich wie der moskowitischen „Despotie“. Waren die Unterschiede in der Terminologie also belanglos? Offenbar nicht ganz, denn europäische Beobachter begegneten dem Osmanischen Reich im . und . Jahrhundert mit weitaus größerem Respekt, teilweise sogar mit kaum verhohlener Bewunderung. Dies lag zum einen an der Bedeutung der Handelsbeziehungen mit den Osmanen. Zum anderen waren viele Beobachter von ihrem militärischen Potential fasziniert, das sie auf ihre Disziplin, ihre soldatischen Tugenden, aber auch auf die (vermeintlich) effiziente Verwaltung zurückführten. Viele Europäer schätzten darüber hinaus die große Toleranz des Osmanischen Reichs gegenüber anderen Religionen (Judentum, christliche Kirchen).¹⁶ So schrieb Bodin in seinen Six livres de la République bewundernd: der König der Türken, der einen großen Teil Europas beherrscht, hält wie jeder andere Fürst fest an seiner Religion, aber er zwingt niemanden [zum Islam]. Ganz im Gegenteil, er erlaubt jedem, nach seinem Gewissen zu leben …¹⁷ Besonders deutlich zeichnet sich der Respekt vor den Errungenschaften des Osmanischen Reiches auch in Henry Blounts Voyage into the Levant () ab. Blount wollte erklärtermaßen den türkischen Bräuchen und Praktiken unvoreingenommen begegnen, um neues „Wissen“ (knowledge) zu generieren, nicht zuletzt, um die Begrenzungen und Vorurteile der eigenen Kultur offenzulegen. Er ging so weit, die Osmanen als „das einzig moderne Volk“ zu bezeichnen („the only moderne people, great in action“). Zumindest um Verwaltung und Herrschaft effizienter zu machen, müsse man von ihnen lernen.¹⁸ Nach so etwas wird man in den zeitgenössischen Berichten über das Moskauer Reich lange su-

¹⁶ ¹⁷

¹⁸

French Political Culture, in: The Journal of Modern History  (), S. –. Siehe auch Robert Schwoebel: The Shadow of the Crescent; The Renaissance Image of the Turk, –, New York . Daniel Goffman: The Ottoman Empire and Early Modern Europe, Cambridge/New York, NY , S. –. „Mais le Roi des Turcs, qui tient une bonne partie de l’Europe, garde sa Religion aussi bien que [tout autre] Prince du Monde, et ne force personne, [mais] au contraire permet à chacun de vivre selon sa conscience ; et qui plus est, il entretient auprès de son sérail à Péra, quatre Religions toutes diverses, celle des Juifs, des Chrétiens à la Romaine, et à la Grecque, et celle des Mahométistes…“; Jean Bodin/Gérard Mairet: Les six livres de la République. Un abrégé du texte de l’édition de Paris de , Paris , S. . Henry Blount: A Voyage Into the Levant. A Brief Relation of a Journey Lately Performed from England, by way of Venice, into Dalmatia, Sclavonia, Bosna, Hungary, Macedonia, Thessaly, Thrace, Rhodes and Egypt unto Gran-Cairo, London , S. .



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

chen müssen, und das, obwohl die Religionspolitik des Kremls ähnlich tolerant war wie die der Pforte.¹⁹ Die militärische Ausrichtung der Osmanen und sprichwörtliche Effizienz der autoritären Herrschaft war mit Revolten kaum vereinbar. Selbst venezianische Botschafter bei der Pforte, die weitaus besser informiert waren als andere „westliche“ Autoren, idealisierten die Autorität des Sultans und seines Großwesirs. Revolten und Verschwörungen irritierten sie. Sie sahen darin Anomalien, die entweder nur von temporärer Natur waren oder aber schon einen Niedergang bzw. Herrschaftswandel im Osmanischen Reich ankündigten.²⁰ Vielen westlichen Beobachtern erschien die autokratische Macht des Sultans verlockend und geradezu vorbildhaft. Möglicherweise wurde das in Europa entstehende Absolutismus-Ideal durch Berichte über die Herrschaftsverhältnisse im Osmanischen Reich gespeist. Es war wohl kein Zufall, dass der Absolutismus besonders in Frankreich zur Maxime erhoben wurde. Schließlich setzte das Land in seiner Dauerrivalität mit den Habsburgern traditionell auf das Osmanische Reich als Bündnispartner. Was die Darstellungen des „Volks“ in der Zeit vor der Aufklärung angeht, lassen sich die Berichte aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten also auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Das „Volk“ wird als eine relativ unberechenbare Macht angesehen, die es zu beherrschen und einzudämmen gelte.²¹ Es müsse gut beobachtet werden, um rechtzeitig Gegenmaßnahmen treffen zu können, bevor es, durch Rädelsführer angestachelt, in Aufruhr gerate. Revolten konnten unabsehbaren Schaden anrichten. Die Akteure verlangten „Neuerung“ und sähen „aus Verdruß über ihrem Zustande alle Veränderung gerne“.²² Davor hatten die Obrigkeiten extreme Angst und fürchteten um ihre Herrschaft. Neuerung und Veränderung waren also negativ konnotiert. Fortschritt und Rückständigkeit waren (noch) keine relevanten Kategorien.

. Paradigmenwechsel in der Frühaufklärung Mit der Aufklärung änderte sich Grundlegendes. Regierungen wollten das schwer kalkulierbare Machtpotential des „Volkes“ nun nicht mehr nur ein¹⁹

²⁰ ²¹ ²²

Vgl. Karen Barkey: Empire of Difference. The Ottomans in Comparative Perspective. Cambridge/New York, NY ; Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München . Palmira Brummett: Classifying Ottoman Mutiny. The Act and Vision of Rebellion, in: The Turkish Studies Association Bulletin  (), S –. Leopold von Rankes Diktum vom Bauernkrieg () als „größtes Naturereignis der deutschen Geschichte“ spiegelt insofern eindeutig den Tenor der obrigkeitlichen Quellen. Wahrhafftig-Abbildender Auffruhr- und Empörungs-Spiegel, S. .

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dämmen, sondern setzten sich in zunehmendem Maße zum Ziel, das Volk zu erziehen, zu kultivieren und zu zivilisieren. In den vorangegangenen Jahrhunderten hatten Regierungen in Bildung vielfach eine Gefahr gesehen. Den ungebildeten Massen alleine trauten sie eine Rebellion nicht zu; die Rädelsführer hingegen zeichneten sich durch ihre Bildung oder besondere Erfahrungen aus. Als An- und Verführer der Massen wurden sie z. T. sogar mit Zauberei in Verbindung gebracht.²³ Die Vorstellungen vom Volk wandelten sich natürlich nicht schlagartig. Aber die Rezeption Peters I. scheint mir ein entscheidendes Moment in diesem Wandlungsprozess zu sein. Damit meine ich nicht, dass Peter alles reformiert habe. Aber er bot eine ideale Projektionsfläche. An seiner Persönlichkeit entzündeten sich Zivilisierungs- und Erziehungsphantasien der Aufklärer.²⁴ Spätestens mit seiner Großen Gesandtschaft / rückte er ins Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit. Die Zeit der „Reisekönige“ à la Karl V. war längst vorüber. Und schon durch seine Mobilität setzte sich Peter deutlich von anderen Monarchen seiner Zeit ab. Entscheidender war, dass er sowohl die Regierung als auch die Umsetzung seiner Maßnahmen buchstäblich selbst in die Hand nahm und diese wirkungsvoll inszenierte. Freilich schieden sich die Geister daran. Der Zar als Zimmermann war nicht nach jedermanns Geschmack. Viele empfanden solche Tätigkeiten als eines Monarchen unwürdig. Aufklärer sahen darin aber eher einen (rationalen) Verzicht auf überflüssige Etikette und kostspielige höfische Repräsentation. So setzten sie große Hoffnung in den ²³

²⁴

Häufig sprechen frühneuzeitliche Autoren, die sich mit Revolten auseinandersetzen, davon, dass die Anführer die Menge in ihren „Bann“ geschlagen hätten. Dieser Zustand der Verblendung, den wir heute mit Ortega di Gasset, Canetti u. a. im Bereich der Massenpsychologie verorten und auf eine Kombination von „Charisma“ und kollektiver Interaktionsdynamik zurückführen, könne erst durch das aufwendige Strafritual aufgehoben werden, an dem die Menge daher unbedingt teilnehmen müsse. Manchmal war die Terminologie auch noch näher an der Hexerei. Als von außen in den politischen Körper eindringende Fremdkörper fachten demnach Hexen (und Zauberer) Aufruhr und Rebellion an. Vgl. dazu Jonathan Gil Harris: Foreign Bodies and the Body Politic. Discourses of Social Pathology in Early Modern England, Cambridge , S. –. Peter I. als Projektionsfläche für die Zivilisierungsphantasien europäischer Aufklärer haben schon Astrid Blome: Das deutsche Rußlandbild im frühen . Jahrhundert. Untersuchungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Rußland unter Peter I., Wiesbaden ; Astrid Blome, Volker Depkat: Von der „Civilisirung“ Rußlands und dem „Aufblühen“ Nordamerikas im . Jahrhundert. Leitmotive der Aufklärung am Beispiel deutscher Rußland- und Amerikabilder, Bremen  und Eckhard Matthes: Das veränderte Rußland. Studien zum deutschen Rußlandverständnis im . Jahrhundert zwischen  und , Frankfurt am Main/Berlin  in den Blick genommen. Diese Arbeiten waren für meine Fragestellungen in diesem Aufsatz besonders inspirierend.



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Zaren. Er stand nicht mehr für die barbarische Vergangenheit, sondern für lichte (aufgeklärte) Zukunft. Dass er nach Rückkehr von seiner Europareise den höchsten Würdenträgern des Reiches die Bärte scheren ließ, nährte in Russland seinen Ruf als „Antichrist“. Nicht so im westlichen Ausland. Dort galten diese und andere Zwangsmaßnahmen – wie etwa die Einführung ausländischer Kleidung oder die Gründung St. Petersburgs (die viele Ressourcen und Menschenleben verschlungen hat) – als Annäherung des Landes an Europa. „Zivilisierung“ wurde zum Schlagwort. Bärte und Kleidernormen standen für die orthodoxe Kirche, die das westliche Ausland direkt mit der „Barbarei“ der Moskowiter in Verbindung brachte. So bedienten Peters Maßnahmen eine aufklärerische Säkularisierungserwartung – oder sie schürten sie überhaupt erst. Bärte scheren und europäische Kleidung einführen hieß: die Eliten disziplinieren und von religiösen Vorurteilen und Aberglauben befreien. Fortschritt wurde mehr und mehr zu einer relevanten Kategorie. Revolten und Aufstände wurden in diesem Lichte neu kodiert und nun als Zeichen des Widerstands gegen staatliche Erziehungsmaßnahmen interpretiert. Hier kristallisierte sich ein neues Wahrnehmungsmuster heraus, dessen zaghafte Anfänge bis in die Regentschaft Sofijas (–) zurückreichen. So berichtete die London Gazette über die große Strelitzen-Revolte von . Der erbitterte Widerstand richte sich gegen die Europäisierungsversuche des Zaren (Fedors), die von seiner polnischen Frau inspiriert worden seien: Our Letters from Moscow give the following account: That the late Czar Alexis [sic! in Wirklichkeit Fedor] who Married with a Polish Lady, having by her means taken a great Affection to the manners and customs of this Nation, and designed to introduce them among his own Subjects, the more to civilize them, had thereby raised a great hatred in the Boyars, and other great Men against him, who resolved to Poyson him and his Queen […].²⁵ Fedor hatte seiner Frau öffentliche Auftritte in westlicher Kleidung erlaubt und sie war mit der Forderung hervorgetreten, die Männer mögen sich die Bärte scheren. Aber das blieb ohne praktische Folgen und war mit keinerlei Zwangsmaßnahmen verbunden.²⁶ Der englische Berichterstatter knüpfte seinen Zivilisierungsbegriff an die Frage der Kleidernormen. Hier sollen die Eliten zivilisiert werden: „Boyars and other great Men“. ²⁵ ²⁶

London Gazette, From Monday August  to Thursday August ,  (Nr. ). Der Korrespondentenbericht vom . Juli kam aus Warschau. Vgl. Hans-Joachim Torke, Die russischen Zaren –, München , S. .

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

Die Zivilisierungsmission weitete sich unter Peter auf das „Volk“ aus. Hier griffen Projektionen der Aufklärer, tatsächliche Maßnahmen und die Selbstdarstellung Peters nach außen ineinander. Der Strelitzenaufstand von  und Peters Strafgericht gegen die Aufrührer spielten eine Schlüsselrolle. Bei Leibniz lässt sich der Paradigmenwechsel im Hinblick auf Russland besonders deutlich beobachten. Schon  ließ er in zwei Briefen anklingen, er habe gehört, dass Zar Peter „dazu geneigt ist, in Moskowien feinere Umgangsformen aus unserem Europa einzuführen [a du penchant a introduire en Moskovie des façons plus polies de nostre Europe]“ bzw. dass er „die Laster der Seinen erkennt und befiehlt, jene Barbarei nach und nach abzuschaffen [agnoscit vitia suorum et vellet barbariem illam paulatim aboleri].“²⁷ Die Hoffnung auf eine allmähliche Überwindung der „Barbarei“ in Russland verstärkte sich angesichts von Peters Großer Gesandtschaft, mit der sich der Zar in den unmittelbaren Gesichtskreis europäischer Öffentlichkeiten begab. Jetzt galt es Leibniz schon als Selbstverständlichkeit, dass Peter „sein Land debarbarisieren will [veut débarbariser son pays]“ und dass „er dort eine tabula rasa finde, ein Neuland, das es nur urbar zu machen gelte [il y trouvera Tabulam Rasam comme une nouvelle terre, qu’on veut défricher]“.²⁸ Mehrfach bezeichnete er den Zaren als einen Genius, der mit der „Civilisierung“ seines Landes eine heroische Aufgabe angegangen sei, die der ganzen Christenheit oder sogar der gesamten Menschheit zum Nutzen gereichen würde. Obwohl oder gerade weil Leibniz nie selbst in Russland war, wurde ihm die Idee von der tabula rasa ein Leitkonzept, das seine Vorstellungen über das aufklärerische Potential des Landes beflügelte: eine Wachstafel, in die man Bildung und Wissenschaft neu einschreiben und dabei alle Fehler vermeiden könne, die sich in den westlichen Ländern eingeschlichen hätten. Ähnlich verglich er die Situation in Russland mit einer auf dem Reißbrett des Architekten zu entwerfenden Stadt, die weitaus rationaler organisiert werden könne als eine gewachsene und noch wachsende Stadt. Auch die Metapher von der Urbarmachung des Neulandes (terre friche) kommt in seinen Überlegungen immer wieder vor. In einer Denkschrift für den russischen ²⁷

²⁸

Concept eines Briefes an Reyer vom .. und Brief an Ludolf vom . Jan. , in: Woldemar Guerrier, Gottfried Wilhelm Leibniz: Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Grossen. Eine geschichtliche Darstellung dieses Verhältnisses nebst den darauf bezüglichen Briefen und Denkschriften, Hildesheim , S. , –. Concept eines Briefes an Jemand am Wolfenbüttelschen Hof vom .., in: Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen, S. , –. Zu den Begriffen Barbarei und Zivilisation, sowie dem dynamischen Kultur-Verständnis bei Leibniz vgl. auch François Zourabichvili: Leibniz et la barbarie, in: Bertrand Binoche (Hg.): Les équivoques de la civilisation, Seyssel (Ain) , S. –.



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Hof von  schreibt Leibniz über die Erziehung der Jugend. Das Wichtigste sei die Glückseligkeit, die ein der Tugend und Wissenschaft gewidmetes Leben erlaube: Das Mittel die Menschen auff diesen Tugend- und glücksweg zu bringen ist eine guthe Erziehung der jugend; in massen man durch die Erziehung bey den Thieren selbst wunder thun kan, wie viel mehr mit Menschen, welche Gott mit einer ohnsterblichen Seele begabet, die er nach seinem Ebenbild erschaffen. Und kan man die jugend also gewöhnen, dass sie selbst Freude und Lust bei Tugend und Wissenschafft empfindet; dahingegen die alten die dergestalt nicht erzogen, durch Furcht der Straffe vom Bösen abgehalten werden müssen, und man viel gedult mit ihnen haben, auch manches übersehen muss.²⁹ Bei den Alten sei also Hopfen und Malz verloren. Leibniz setzt seine Hoffnungen in die Jugend. Insgesamt sind ihm „die Russen“ nicht mehr bloß Barbaren, sondern sie sind unzivilisiert im Sinne von „noch nicht zivilisiert“, ungebildet, aber darum auch nicht verbildet, und gerade dadurch empfänglich für „wahre“ und unverfälschte Bildung und Aufklärung. Leibniz hält sie für besonders formbar. Volksbildung spielt eine zentrale Rolle für das Zivilisierungsprojekt, das er Russland verschreibt: „Schulen vor die Kinder, Universitäten und Academien vor die Jugend und endtlich Societäten der Wissenschaften und dergleichen vor die schon weit kommen und auff die Verbesserung bedacht seyn.“³⁰ Die Gleichsetzung der Russen mit „Kindern“ – oder „bearded children“, wie später William Richardson schrieb –, und die Vorstellung, dass unterschiedliche Bereiche des russischen Lebens, z. B. die Landwirtschaft, noch in „ihren Kinderschuhen“ (infancy, enfance) steckten, zieht im Laufe des . Jahrhunderts unter ausländischen Beobachtern immer weitere Kreise.³¹ ²⁹ ³⁰

³¹

Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen, Bd. , S. . So Leibniz in seiner letzten Denkschrift von  über die Verbesserung der Künste und Wissenschaften im Russischen Reich, Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen, Bd. , S. . Für Zitate von Richardson, der von  bis  in Russland war, vgl. Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford, CA , S. . Zur Analogie von individuellen und kollektiv-zivilisatorischen Entwicklungsstufen, die sich im Laufe des . Jahrhunderts gerade an der ethnographischen Beobachtung von Naturvölkern herauskristallisiert, vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart , –. Schiller spricht  von „Völkerschaften […] auf den mannigfachen Stufen der Bildung“, die „wie Kinder

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

Interessant ist auch der Verweis auf die „Thiere“, bei denen mit Erziehung schon so viel erreicht werden könne. Es geht hier nicht (mehr) um das Volk als „wildes Tier“, dessen Unberechenbarkeit für die Aufstandsängste der Obrigkeiten steht, sondern um Haustiere, die man zähmt und erziehen kann. Wie man die Tiere insgesamt immer mehr als Objekte von Erziehung und Zähmung entdeckte, so geriet auch das Volk in den Fokus der Pädagogen. Während man zuvor in Erziehung und Bildung gerade die Quelle von Dissens und gefährlichen Neuerungsbestrebungen erblickt hatte, sollte das Volk nun, ähnlich wie die Tiere, durch Erziehung „gezähmt“ werden.³² Der Strelitzenaufstand von ³³ hatte bei Weitem nicht das Ausmaß wie die Revolte von , die die London Gazette auf die Europäisierungsmaßnahmen Zar Fedors zurückgeführt hatte. Aber seine Rezeptionsgeschichte ist instruktiv für das sich wandelnde Russlandbild und die Formierung eines neuen Herrschaftskonzepts, das Historiker des . Jahrhunderts als „aufgeklärten Absolutismus“ bezeichnen sollten.  waren die Strelitzen in den polnischen Grenzregionen im Einsatz. Dort herrschte Dürre und zudem hatte man ihnen über mehr als ein Jahr das Wiedersehen mit ihren Familien in Moskau verwehrt. So schickten sie Vertreter mit ihren Klagen in die Hauptstadt. Peter I., der sich auf seiner „Großen Gesandtschaft“ in Westeuropa befand, hatte für seine Abwesenheit ein InterimsRegiment aus führenden Bojaren eingesetzt. Nach einigem Zögern gingen die Verantwortlichen auf die Forderungen der Strelitzen ein, obwohl sie instruiert worden waren, keine Strelitzen in die Hauptstadt zu lassen, da Peter sie nach wie vor pauschal mit der Regierung seiner Schwester Sofija in Verbindung brachte. Als Peter davon erfuhr, ordnete er brieflich scharfe Sanktionen, eine Strafversetzung der Regimenter und die Auslieferung der Rädelsführer an. Dagegen widersetzten sich vier Regimenter und brachen eigenmächtig nach Moskau auf. Aber sie erreichten die Hauptstadt nicht. Ihre Einheiten wurden noch weit vor der Stadt von den „Truppen neuer Ordnung“ niedergeschlagen.

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verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“ Zit. nach ebda. Zur aufkommenden Haltung und Erziehung von Haustieren vgl. das Dissertationsprojekt von Julia Breittruck, Bielefeld. Zum Aufstand vgl. Alexander Moutchnik: Der „Strelitzen-Aufstand“ von , in: Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden  (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, ), S. –.

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Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Einer der Militärführer, der Schotte Patrick Gordon, hat die Konfrontation in seinem Tagebuch dokumentiert.³⁴ Als Peter I. die Nachricht von der erneuten Rebellion in Wien erhielt, brach er seine Westreise ab, kam zurück nach Moskau und veranlasste sofortige Untersuchungen, Verhöre mit Folter und öffentlichen Massenexekutionen.³⁵ Wie er selbst Bärte schnitt und Zähne zog (zumindest in seiner Außendarstellung), so überwachte er auch die Durchführung der Repressionen persönlich und nahm offenbar eine Reihe von hohen Würdenträgern als Henker in die Pflicht. Einige Berichte kolportieren sogar, Peter habe bei Hinrichtungen und Foltern selbst mit Hand angelegt.³⁶ Das war für einen Herrscher völlig außergewöhnlich. Aber auch im Hinblick auf die Eliten musste das ungeheuerlich klingen, zumindest in west- und mitteleuropäischen Ohren, galt der Henkersberuf doch als völlig unvereinbar mit adliger Standesehre. In westlichen Zeitungen wurde Peter im Zusammenhang mit den Repressionen als sadistischer Rachegott gezeichnet.³⁷ Nach der Kern-Chronica habe er ausländische Gesandte zu Gastmählern mit Blick auf das Schafott und die laufenden Hinrichtungsrituale eingeladen, z. B. den kaiserlichen Botschafter Franz Anton v. Guarient und Rääl, der – über ein Jahr mit seiner Delegation in Moskau verbrachte. Der Zar habe „sich bey demselben sehr vergnügt und lustig [erzeiget]/ endlich aber im Angesicht des Ambassadeurs  von seinen Rebellen in weniger Zeit niedersäbeln“ lassen, ein Spektakel, das sich an den beiden folgenden Tagen wiederholt hätte.³⁸ Johann Georg Korb, ³⁴

³⁵

³⁶

³⁷ ³⁸

Vgl. den Tagebucheintrag vom .., Patrick Gordon: Tagebuch des Generals Patrick Gordon, während seiner Kriegsdienste unter den Schweden und Polen vom Jahre  bis  und seines Aufenthaltes in Rußland vom Jahre  bis , Leipzig –, Bd. , S. . Zu den Repressionen vgl. Olaf Brockmann: Der Bruch Peters mit Alt-Moskau. Korbs Diarium und Diplomatenberichte aus Moskau zu den Ereignissen der Jahre  und , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; Nancy Shields Kollmann:  October . Peter Punishes the Strel’tsy, in: Anthony Glenn Cross (Hg.): Days from the Reigns of Eighteenth-Century Russian Rulers, Cambridge , S. –. Johann Georg Korb: Tagebuch der Reise nach Rußland, Graz , S. , –; Friedrich Dukmeyer: Korbs Diarium itineris in Moscoviam und Quellen, die es ergänzen. Beiträge zur moskowitisch-russischen, österreichisch-kaiserlichen und brandenburgischpreussischen Geschichte aus der Zeit Peters des Grossen, Vaduz , Bd. , S. – widmet sich ausführlich den Quellen, die behaupten, Peter habe persönlich Hinrichtungen vollzogen. Niemand berichtete offenbar aus erster Hand. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, Bd. , S. . Die gestraffte Revolten, in: Kern-Chronica. Der Merckwürdigsten Welt- und Wundergeschichte, Hamburg , S. –.

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

der Sekretär dieser Gesandtschaft, veröffentlichte zwei bis drei Jahre später sein Gesandtschaftstagebuch und beschrieb die Repressionen en détail, hier allerdings schon eingebettet in ein Rechtfertigungsnarrativ.³⁹ Im Hinblick auf die „schrecklichen Hinrichtungen“ mutmaßte Leibniz, es handle sich um „einen Brauch, der noch von den Skythen herrühre“.⁴⁰ und wunderte sich, „ob das die Geistlichen in diesem Land nicht auf eine schiefe Bahn bringe“. Weitaus mehr fürchtete er aber, daß so viele Martern, statt die Feindseligkeiten zu ersticken, die Gemüter verbittern und zu einer Art von Ansteckung führen könnten. Kinder, Verwandte und Freunde der Hingerichteten sind schwer verletzt und die Maxime ‚oderint, dum metuant‘ [mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten] ist gefährlich. Durch diese „Art von Ansteckung“ (manière de contagion) sah er das Werk der Zivilisierung Russlands gefährdet, nicht aber durch die Kompromittierung des Zaren selbst als Zivilisator.⁴¹ Nicolaes Witsen, Sibirienexperte und Bürgermeister von Amsterdam, der den Zaren persönlich kannte und ihn bei dessen Aufenthalt in den Niederlanden beherbergt hatte, suchte Leibniz zu beruhigen. Von Seiten der Freunde der Hingerichteten gebe es „nichts zu befürchten“. Denn im Moskauer Reich sei es üblich, „Frauen, Kinder und sogar alle Verwandten der durch die Marter Getöteten nach Sibirien zu schicken, und zwar in die am weitesten entlegenen Gebiete.“⁴² Mit dieser Sippenhaft schien ihnen das Problem aus der Welt. Die „Alten“, die Strelitzen und ihre Sympathisanten, ließen sich offenbar nicht mehr zivilisieren, ja sie stemmten sich mit allen Kräften gegen das Erziehungsprojekt des Zaren. Sie mussten aus dem Weg geschafft werden, um die Modernisierung des Landes nicht zu gefährden. Korbs Gesandtschaftstagebuch rief einen heftigen diplomatischen Skandal hervor. Die petrinische Diplomatie ließ nichts unversucht, um beim Kaiser ein Verbot des Buches zu erreichen. Als die Bemühungen scheiterten, kauften russische Agenten alle Exemplare auf, die sie bekommen konnten, um damit in Mos³⁹ ⁴⁰ ⁴¹ ⁴²

Korb, Tagebuch der Reise nach Rußland, S. –. Ganz ähnlich sollte Voltaire die Praxis der eigenhändigen Hinrichtung später mit den Bräuchen in Afrika vergleichen. Concept eines Briefes an Witsen,  () März . Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen. Bd. . S. . Witsen an Leibniz .., in Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen, Bd. , S.  f. Zur Verbannungspraxis im Russland der Frühen Neuzeit vgl. Andrew Armand Gentes: Exile to Siberia, –, New York .

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kau eine öffentliche Bücherverbrennung durch den Henker zu veranstalten.⁴³ Diese heftige Reaktion, die bei den zeitlich früheren Zeitungsberichten ausgeblieben war, führe ich in erster Linie auf die Bebilderung des Buchs zurück, die Darstellung von Strafen und Gewalt in Kupferstichen. Sie erschien russischen Betrachtern vor dem Hintergrund ihrer orthodoxen Bildkultur offenbar als Ungeheuerlichkeit.⁴⁴ Aber für die ausländische Wahrnehmung Russlands und seiner Revolten sind die Folgen wichtiger als die Ursachen. Die russische Regierung arbeitete verstärkt an ihrer „Außendarstellung“. Die Gründung der Vedomosti (/) richtete sich nicht zuletzt ans Ausland.⁴⁵ Parallel dazu suchte die Regierung, systematisch auf ausländische Presseorgane und die von ihnen propagierten Russlandbilder Einfluss zu nehmen. Das geschah nicht mehr nur durch Verhinderung unerwünschter Darstellungen, sondern auch durch Lancierung „richtiger“, d. h. der russischen Regierung genehmer Meldungen. Dafür setzte Peter eine Reihe von Agenten in wichtigen „Medienstädten“ wie Hamburg oder Wien ein: Sie übten auf politischer Ebene Druck aus, knüpften Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten, um diese für die russische Sache zu gewinnen, und spielten Verlegern über verdeckte Kanäle „genehme“ Berichte zu, die sie entweder selbst verfasst hatten oder direkt von der russischen Regierung bezogen.⁴⁶ All das hatte Folgen für die Russland-Berichterstattung. Nach dem Skandal um Korbs Tagebuch wurde über den Aufstand in Astrachan’ oder die Revolte der Don-Kosaken unter Bulavin kaum noch berichtet.⁴⁷ ⁴³

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Über diese Bücherverbrennung durch den Henker in Moskau berichtet die Europäische Fama von ; vgl. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, S. . Zu den in ganz Europa praktizierten öffentlichen Bücherhinrichtungen durch den Henker vgl. Hermann Rafetseder: Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel, Wien . Zu den Ursachen vgl. Malte Griesse: State-Arcanum and European Public Spheres. Paradigm Shifts in Muscovite Policy towards Foreign Representations of Russian Revolts, in: ders. (Hg.): From Mutual Observation to Propaganda War. Early-Modern Revolts in their Transnational Representations, Bielefeld , S. –, hier S. –. Ingrid Maier: Pervaja russkaja pečatnaja gazeta i ee inostrannye obrazcy, in: Serge Rolet (Hg.): La Russie et les modèles étrangers, Villeneuve d’Ascq , S. –. Die beste mir bekannte Studie zur stillschweigenden Implementierung dieser neuen Öffentlichkeitspolitik ist Blome, Das deutsche Rußlandbild. Sie nimmt die Presselandschaft in Hamburg und die gesteigerte Einflussnahme der russischen Regierung dort unter die Lupe, wobei der nach Poltava  eingesetzte russische Agent Johann Friedrich Böttiger eine zentrale Rolle gespielt hat. Hendrik van Huyssen war bereits  in Wien als Agent aktiv. Als Erzieher des carevič betrieb er auch dessen mögliche Heiratsallianzen. V. a. gelang es ihm aber, in großem Stil Fachkräfte anzuwerben und eine Reihe von Verlegern für Russland und den Zaren einzunehmen. Vgl. Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen), Bd. , S. –. Das lag nicht daran, dass sich die Ereignisse in der Peripherie abspielten. In den er

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An dem Strelitzenaufstand von  und den darauffolgenden Massenrepressionen rieben sich sowohl Kritiker als auch Anhänger und Apologeten Peters. Die einen interpretierten die Repressionen als Anzeichen für das mehr oder weniger nahtlose Fortbestehen moskowitischer Despotie nach der Formel: tyrannischer Herrscher plus barbarisches Volk gleich Herrschaft über Sklaven. Andere, wie Leibniz, Friedrich Christian Weber oder Voltaire, wollten in den Hinrichtungen ein unvermeidliches Opfer für die Zivilisierungsmission sehen. Korb selbst bietet noch Anhaltspunkte für beide Lesarten. Obwohl nach den „Säuberungen“ durch die russischen Diplomaten nur wenige Exemplare seines Werks übrigblieben, wurde es von Hand zu Hand weitergereicht und diente vielen Aufklärern, die über Russland schrieben, als Quelle.⁴⁸ Korb schreibt über die blutigen Details und ist zugleich sichtlich darum bemüht, den Zaren und seine brutale Vorgehensweise zu rechtfertigen. Besonders die Geistlichen erscheinen ihm als Saboteure der petrinischen Reform- und Zivilisierungspolitik: (Regiments-)Priester hätten die Aufständischen mit Ikonen geführt – daher auch das rigide Vorgehen Peters gegen eine ganze Reihe von Vertretern des Klerus. Kritik an der orthodoxen Kirche war nichts Außergewöhnliches und die Gängelung des Klerus unter Peter wurde von vielen Ausländern mit Genugtuung als Kampf gegen die Wortführer der Barbarei betrachtet.⁴⁹ Interessant ist aber eine zunehmende Differenzierung, die auf Dynamisierung und Verzeitlichung eines zivilisatorischen Gefälles verweist. Denn viele ausländische Berichterstatter gestanden der orthodoxen Kirche eine durchaus positive Rolle gegenüber den Völkern des Ostens und Nordens zu. So verglich der schwedische Offizier Johann Bernhard Müller die Vogulen und Ostjaken praktisch mit Tieren („Hunde lecken sonst ihre Schweren aus“). Es bestehe keine Hoffnung,

⁴⁸ ⁴⁹

Jahren wurde ausführlich über den Razin-Aufstand berichtet. Vgl. die Quellenbände von Man’kov. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, S. . Vgl. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, Bd. , S. – zu den in katholischen Kreisen verbreiteten Hoffnungen, dass mit Peter eine Annäherung an die Papstkirche zu haben wäre. Die Einrichtung des Heiligen Synods deutet Voltaire in seiner Histoire de l’Empire de Russie sous Pierre le Grand als Zeichen des Fortschritts, Voltaire: Anecdotes sur le czar Pierre le Grand; Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand. Edition critique par Michel Mervaud. Directeur de l’édition pour ce vol. Ulla Kölving, Oxford  (= The complete works of Voltaire/Les œuvres complète de Voltaire, –), S. . Zu Peters Kirchenpolitik insgesamt siehe Wolfram von Scheliha: Russland und die orthodoxe Universalkirche in der Patriarchatsperiode –, Wiesbaden ; Igor K. Smolitsch, Gregory L. Freeze: Geschichte der russischen Kirche, Berlin ; James Cracraft: The Church Reform of Peter the Great, London .



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

dass sie jemals „zivilisiert“ würden, „woferne nicht die Annehmung der Christlichen Religion und die dabey eingerichtete Veranstaltungen derer Metropoliten, welche sie zu einem eingeschränckten Leben verbinden, ein besseres fruchten wird.“⁵⁰ Hier ist der Repräsentant der orthodoxen Kirche Dompteur „wilder“ Ethnien, die durch christliche „Zähmung“ auf eine höhere Entwicklungsstufe gebracht werden sollen. In der Peripherie bringt die Orthodoxe Kirche also zivilisatorischen Fortschritt. (Hier ließ Peter der Kirche tatsächlich weitgehend freie Hand und die dortigen Vertreter tobten sich in aggressiver Christianisierung mit massenweisen Zwangstaufen aus.) Auf unterschiedlichen Stufen schienen jeweils andere Akteure und Instanzen als Erzieher und Motoren zivilisatorischen Fortschritts vonnöten zu sein. In der Peripherie entfalte die Orthodoxie fortschrittliche Wirkung, aber die Russen im Zentrum werfe sie zurück. So werden die Russen im Zentrum auf einer höheren Zivilisationsstufe verortet – wenn auch noch weit entfernt von westlichen Standards, denen man sich (zunächst) nur mithilfe der von Peter rekrutierten Ausländer annähern konnte.⁵¹ Entwicklung war das Leitmotiv – das schlug sich in zunehmendem Maße in der Kindheitsmetapher nieder. Bei Friedrich Christian Weber, der – als Diplomat für den englischhannoveranischen Hof in St. Petersburg war, ist vom Strelitzenaufstand selbst schon gar nicht mehr die Rede. Die Strelitzen werden als Gefolgsleute Sofijas ⁵⁰

⁵¹

F. Ch. Weber hat Müllers ethnographische Beschreibungen in sein Russlandbuch eingefügt und damit für eine größere Verbreitung gesorgt. Friedrich Christian Weber: Das veränderte Rußland, In welchem die ietzige Verfassung des Geist- und Weltlichen Regiments, Der Kriegs-Staat zu Lande und zu Wasser, Der wahre Zustand der Rußischen Finantzen, die geöffneten Berg-Wercke, die eingeführte Academien, Künste, Manufacturen, ergangene Verordnungen, Geschäfte mit denen Asiatischen Nachbahren und Vasallen, nebst der allereneuesten Nachricht von diesen Völckern. Ingleichen Die Begebenheiten des des Czarewitzen, Und was sich sonst merckwürdiges in Rußland zugetragen, Nebst verschiedenen bisher unbekandten Nachrichten vorgestellet werden. Mit einer accuraten Land- Charte und Kupferstichen versehen, Frankfurt am Main/Leipzig , Bd. , S. –, hier S. . Ähnlich argumentiert auch schon Leibniz. Als Peter seine außenpolitisch-militärischen Ambitionen Schweden und der Ostsee zuwandte und sich die Konstellation eines Nordischen Krieges abzeichnete, schrieb er an Sparvenfeld, der Zar täte besser daran, seine Waffen nach der Levante zu richten, um „die Barbaren zu unterwerfen, die seine Hoheit noch nicht anerkennen, z. B. die Kalmücken.“ Damit würde er der Christenheit einen größeren Dienst erweisen. Für Schweden und andere westliche Nachbarn würde dagegen seine Herrschaft einen Rückschritt bedeuten, so Leibniz’ Räsonnement. Concept eines Briefes an Sparvenfeld vom .., in: Guerrier/Leibniz, Leibniz in seinen Beziehungen, Bd. , S.  f.. Zuvor hat Leibniz in diesem Brief über die Abrechnung mit den Strelitzen geschrieben und beklagt, dass sich Peter (noch) nicht von seinem Hang zur Grausamkeit befreit hätte.

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

und prinzipielle Gegner jeder Reform beschrieben. Um der „russischen Bosheit“ Herr zu werden, habe sich Peter schließlich dazu entschieden, den „alten Sauerteig ganz auszufegen“ und das Corps der „über  Mann ausmachenden Strelitzen zunichte zu machen, weil diese Soldaten gar zu alt, zu eigensinnig und zu mächtig waren“. Die neue Armee habe schließlich „der Alten [Garde] wegen ihrer Empörung den Hals gebrochen, und des Czaren Thron befestiget, folglich denselben sowol in einheimische Sicherheit, als ausländische Hochachtung gesetzet“.⁵² Weber erwähnt die („notwendige“) Gewalt nur im Nebensatz. Eine Marginalie im Zivilisierungsprozess.⁵³ Auch im Briefwechsel zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen spielen Peter und der Strelitzenaufstand eine Rolle. Nach der Lektüre von J. G. Vockerodts kritischen Erörterungen einiger Fragen, die unter Peters I. Regierung vorgegangenen Veränderungen betreffend ()⁵⁴ wollte Friedrich im Zaren nur noch einen „Phantomhelden“ (fantôme héroïque) und ein abschreckendes Beispiel sehen. In einem Brief von  an Voltaire bezeichnete er Russland als „Land, in dem die Künste und die Wissenschaften überhaupt nicht durchgedrungen“ seien. Zar Peter „habe keine Spur von Menschlichkeit und Großherzigkeit, noch von Tugend“, da er „in der krassesten Unwissenheit aufgewachsen“ sei. Er folge allein „seinen Trieben und zügellosen Leidenschaften“. Friedrich illustriert sein negatives Urteil mit einer Episode aus der Zeit der Massenrepressionen. Dabei beruft er sich auf die Relation des brandenburgischen Botschafters Printzen, der in Moskau Zeuge der Ereignisse gewesen ist.⁵⁵ ⁵²

⁵³ ⁵⁴

⁵⁵

Friedrich Christian Weber: Das veränderte Rußland, In welchem Die jetzige Verfassung des Geistund Weltlichen Regiments, der Kriegs-Staat zu Lande und zu Wasser, Der wahre Zustand der Rußischen Finantzen, die geöffneten Berg-Wercke, die eingeführte Academien, Künste, Manufacturen, ergangene Verordnungen, Geschäfte mit denen Asiatischen Nachbahren und Vasallen, nebst der allerneuesten Nachricht von diesen Völckern, Ingleichen Die Begebenheiten des Czarewitzen, Und was sich sonst merckwürdiges in Rußland zugetragen, Nebst verschiedenen bisher unbekannten Nachrichten vorgestellet werden. Mit einer accuraten Land-Charte und Kupferstichen versehen, Frankfurt/Leipzig , Bd. , S. –. Weber, Bd. , S. –. Vgl. zur Darstellung Peters bei Weber v. a. Matthes, Das veränderte Rußland, S. –. Voltaire hatte sich mit  Fragen über Rußland, v. a. zu Peters Reformen, an den Kronprinzen Friedrich gewandt. Der bat J. G. Vockerodt darum, ihm die Fragen zu beantworten, weil er seit  mit Unterbrechungen in Russland gelebt hatte, davon eine ganze Zeit im diplomatischen Dienst für Preußen. Vockerodt schrieb darauf seine Erörterungen, in denen er jeder Frage ein eigenes Kapitel widmete und die hochgelobten Reformen einer kritischen Prüfung unterzog. Die Bilanz fiel nicht sehr gut aus. Vgl. Peter Brüne: Johann Gotthilf Vockerodts Einfluss auf das Russlandbild Voltaires und Friedrichs II., in: Zeitschrift für Slawistik  (), S. –. Allerdings lässt sich die Geschichte bei Printzen nirgends finden. Offenbar sind in Fried-



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Printzen sei von Peter zu einem luxuriösen Gastmahl eingeladen worden, auf dem maßlos getrunken wurde und die Hauptvergnügung darin bestanden habe, dass Peter zu jedem Trinkspruch einen Strelitzen-Kopf abschlug. Schießlich hatte sogar der Botschafter seine Geschicklichkeit an einem der Strelitzen ausprobieren sollen. Überall sonst wäre „solch eine Aufforderung als Beleidigung aufgefasst worden“, nur „in diesem barbarischen Land galt das einfach als Zeichen der Höflichkeit“. Peter habe den Botschafter sogar sein Missfallen spüren lassen, als der das Angebot ablehnte.⁵⁶ Für den Kronprinzen Friedrich hatten Peters Reformen angesichts der „mangelnden Humanität“ des Zaren jeden Wert verloren. Trotzdem fand er später wieder zu seiner früheren Bewunderung zurück.⁵⁷ Voltaire zeigte sich ebenfalls ernüchtert von Vockerodts Erörterungen. Aber das vernichtende Urteil Friedrichs aus den späten er Jahren teilte er nicht. Für ihn war entscheidend, ob die grausamen Handlungen des Zaren bloßer Selbstzweck (Friedrich) oder aber Mittel zu einem höheren Zweck, dem der Zivilisierung des Volkes, gewesen seien. Offenbar habe es in Russland eines „Wilden“ bedurft, um das „wilde Volk“ zu zivilisieren (policer).⁵⁸ In seinen Anecdotes sur Pierre le Grand spricht Voltaire im Hinblick auf den Aufstand sogar von einem Bürgerkrieg (guerre civile), zu dem einige „Äbte und Mönche“ die „barbarischen“ Strelitzen angestachelt hätten, indem sie zu einem Feldzug „gegen das Rauchen“ aufriefen (gegen Peters Einführung des Tabaks, die Voltaire als Fortschritts begreift).⁵⁹ Lange hatte Voltaire den Wunsch gehegt, eine Peter-Biographie zu schreiben. In den er Jahren fand er bei Elisabeth I. endlich ein offenes Ohr. In seiner Histoire de l’empire de Russie sous Pierre le Grand schildert er die Hinrichtungen recht ausführlich. Sein Narrativ lässt nicht den geringsten Zweifel (mehr) an der Berechtigung der repressiven Gewalt, und das offenbar nicht nur, weil

⁵⁶ ⁵⁷ ⁵⁸ ⁵⁹

richs Imagination Fragmente aus unterschiedlichen Darstellungen wie Korbs Tagebuch, die zitierten Berichte aus der Kern-Chronik, Vockerodts Erörterungen o. ä. zusammengeflossen und haben sich zu einer kohärenten Geschichte verdichtet. Mervaud geht davon aus, dass Printzen Friedrich diese Episode mündlich erzählt habe, vgl. Voltaire, Anecdotes sur le czar, S. . Dagegen spricht, dass Friedrich explizit auf die Relationen Printzens im preußischen Staatsarchiv verweist. Das deutet eher darauf hin, dass er diese oder ähnliche Geschichten gelesen hat. Vgl. Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, Bd. , S. . Brief Friedrichs vom .. an Voltaire, zit. nach Dukmeyer, Korbs Diarium itineris in, Bd. , S. –. Brüne, S. . So in der Charles XII-Ausgabe von . Zit. nach Voltaire, Anecdotes sur le czar, S. . Vgl. auch Wolff, Inventing Eastern Europe, S. . Voltaire, Anecdotes sur le czar, S. .

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

er für die Beschaffung des Quellenmaterials von der Russischen Akademie der Wissenschaften abhing. Voltaire wollte anderen Monarchen erklärtermaßen die Figur Peters I. als leuchtendes (aufklärerisches) Beispiel hinstellen. Dafür nahm er eine Unterbelichtung von Peters grausamen „Kehrseiten“ in Kauf. Er spricht von glücklicher Täuschung (l’univers serait heureusement trompé), mithilfe derer die Fürsten dazu angehalten werden sollten, auf Bosheit und Tyrannei zu verzichten – also ein Plädoyer für die „pädagogische Geschichtslüge“.⁶⁰ Vor allem aber geht es bei ihm nun primär um Revolten-Prävention: Die Strelitzen beschreibt er als latent gefährliche potentielle Aufständische, da sie den alten Sitten verhaftet gewesen seien und sich gegen jede Reform sträubten: Peter hatte in allem vorgesorgt und sogar Mittel zur Repression einer eventuellen Revolte bereitgestellt. Alles, was er an Großem und Nützlichem für sein Land tat, war Grund für die Revolte. Alte Bojaren, denen die alten Bräuche teuer waren, und Priester, denen Neuerungen als Sakrileg erschienen, begannen die Unruhen. Die alte Partei der Prinzessin [Sofija] wurde wach […]; von überall hörte man Befürchtungen, daß die Ausländer kommen und die Nation erziehen könnten.⁶¹ Zivilisiertere Ausländer setzten Peters Reforminitiativen in die Tat um und fungierten als Erzieher des Volks: Auf der Grundlage der Entwicklungsstufentheorie und der Vorstellung vom zivilisatorischen Gefälle war Peters Bündnis mit den Ausländern in Voltaires Augen der einzig gangbare Weg. Denn in Russland mangelte es an hinreichend zivilisierten Leuten.⁶² Voltaire geht es gar nicht in erster Linie um verletzte Individualrechte, sondern um das „gemeine Beste“. Er beantwortet seinen Lesern nicht primär die Frage, warum so viele leiden mussten, sondern warum ein solches Potential an Arbeitskräften, die für den Aufbau des Landes hätten gebraucht werden können, ungenutzt blieb: Wenn der Zar nicht ein furchtbares Exempel hätte statuieren müssen, dann wäre wohl ein Teil der Strelitzen […] zu öffentlichen Arbeiten herangezogen worden; Menschenleben sollten viel zählen, besonders in einem Land, wo die Bevölkerung der Sorge des Gesetzgebers besonders bedarf: er [Peter] meinte den Geist der Nation ein- für allemal unterwerfen zu müssen. ⁶⁰ ⁶¹ ⁶²

Ebda., S. . Ebda., S. . Ebda.



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Dieser (volks-)wirtschaftliche Aspekt spielte in zeitgenössischen Diskussionen eine zentrale Rolle. Die Strelitzen stellten wegen ihrer Rückständigkeit und militärischen Macht eine Gefahr dar, die es aus der Welt zu schaffen gilt. Der ganze Corps der Strelitzen, den keiner seiner Vorgänger auch nur anzurühren gewagt hatte, wurde auf ewig zerschlagen und ihr Name abgeschafft. Diese große Veränderung ging ohne den geringsten Widerstand vonstatten, weil sie gut vorbereitet war. Der Türkeitürkische Sultan Osman [II.] wurde im selben Jahrhundert abgesetzt und erwürgt [], nur weil er die Janitscharen den Verdacht schöpfen ließ, er könne ihre Zahl reduzieren. Peter hatte größeres Glück, weil er seine Vorkehrungen getroffen hatte. So blieben von dieser großen Miliz [den Strelitzen] nur noch einige schwache Regimenter. Sie waren nicht mehr wirklich gefährlich, behielten aber ihren aufrührerischen Geist, rebellierten  wieder in Astrachan und wurden bald unterdrückt.⁶³ Diese Bewertung von Revolten als Manifestationen von Rückständigkeit und Widerstand gegen die staatliche Modernisierung setzt sich bis in die Rezeption des Pugačev-Aufstands fort, nicht nur bei Voltaire, der in direktem Briefwechsel mit Katharina II. stand, und anderen Aufklärern wie Diderot, die von der Zarin großzügig Spesen bezogen.

. Ausblick: Auswirkungen auf Revoltenwahrnehmung in Europa Geburt des Rückständigkeitsparadigmas in der modernen Revoltenforschung Insgesamt lässt sich um  in der orientalistischen Wahrnehmung von Revolten in Russland ein Paradigmenwechsel beobachten, der gerade im Vergleich mit den Darstellungen des Osmanischen Reiches schärfere Konturen gewinnt. Dabei spielte die Figur Peters I. als Projektionsfläche für ein neuartig imaginiertes Verhältnis zwischen Monarch und Volk eine Schlüsselrolle. Peter wurde als tatkräftiger Genius dargestellt, der das Potential habe, Russland aus seiner Barbarei herauszuziehen. Der Strelitzenaufstand von  und die von Peter inszenierten Massenrepressionen in Moskau stellten für die westliche Wahrnehmung eine Herausforderung dar. Zwar wurde die brutale Abrechnung mit den Strelitzen in einigen Fällen noch nach altbewährtem Muster als konkre⁶³

Ebda., S. –.

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

tes Beispiel despotischer Grausamkeit bewertet.⁶⁴ Doch viele Zeitgenossen, die die drakonischen Maßnahmen mit dem lichten Bild des Aufklärers und Zivilisierers nur schwer in Einklang bringen konnten, wollten Eindeutigkeit, also einen positiven Peter, und rangen sich zu einer Rechtfertigung der Strafexzesse durch. Das war nicht allzu schwer, wenn man bedenkt, dass etwa im Frankreich Ludwigs XIV. repressive Staatsgewalt ähnlich exzessiv eingesetzt wurde.⁶⁵ Angesichts der tiefsitzenden „Unsitten“ im russischen Volk erschien massive Gewaltanwendung letztlich alternativlos. Das ebnete einem neuen Konzept von Herrschaft den Weg, dem „aufgeklärten Despotismus“ (ohne dass es sich dabei bereits um einen festen Begriff handelt), eine signifikante Neukodierung und Umwertung des alten Begriffes von Despotismus, der sich nun dem Wohle des Volkes verschreibt, auch wenn dieses Volk oftmals zu seinem Wohl gezwungen werden muss. Allerdings blieb es nicht dabei. „Aufklärerische“ Bedürfnisse nach Kohärenz und Widerspruchsfreiheit griffen eng ineinander mit dem zunehmenden Druck russischer Diplomaten und „Lobbyisten“ auf die öffentliche Meinung im Ausland, um die der Zivilisierungsmission inhärente Gewalt herunterzuspielen und den Herrscher vom Odium des Sadismus reinzuwaschen. So konnte Peter der Große in der westlichen „öffentlichen Meinung“ in immer luftigere Höhen gehoben werden und zum Urbild des aufgeklärten Monarchen werden, wie es von Publizisten im . Jahrhundert besungen und den Herrschern Europas als Vor- und Idealbild hingehalten wurde. Unabhängig davon, was dieses Idealbild (noch) mit Peter selbst zu tun hatte, und letztlich auch davon, was einzelne Monarchen, die sich als „erste Diener des Staates“ verstanden, von der Persönlichkeit Peters sagen oder denken mochten: Sie orientierten sich an diesem Idealbild. Das galt auch für Friedrich II. von Preußen, der sein negatives Urteil nach der Vockerodt-Lektüre nicht lange durchhielt und sich, einmal an der Macht, durchaus auch gewalttätiger Mittel bediente, um seinem Volk die Segen der Zivilisation zu bescheren. So wie die Peter-Darstellungen ihren Helden nach und nach von der Gewalt säuberten, so hängten auch die „aufgeklärten Monarchen“ ihren Einsatz von Staatsund Strafgewalt immer weniger an die große Glocke, bis er dann im . Jahr⁶⁴

⁶⁵

Vgl. z. B. Martin von Neugebauer, Vertrautes Schreiben eines vornehmen teutschen Officirs an eines gewissen hohen Potentatens Geheimen Rath, von den jetzigen Conjuncturen in Moscau, sonderlich dem sehr harten Verfahren Sr. Czaaris. Maj. an denen frembden teutschen Ministern und Officirern, s.l. , der allerdings auch mit Peter eine Rechnung zu begleichen hatte, ist er doch aus dem Dienst als Erzieher des carevič entlassen worden. Vgl. zur Repression Howard A. Brown: Domestic State Violence. Repression from the Croquants to the Commune, in: The Historical Journal  (), S. –.

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Von der Barbarei zur Rückständigkeit

hundert vollständig aus der Öffentlichkeit verbannt und nur noch intra muros exekutiert wurde. Gegenüber dem Paradigmenwechsel in den Darstellungen zu Russland lässt sich in den Wahrnehmungen des Osmanischen Reiches eine genau gegenläufige Tendenz ausmachen. Hier fehlte es an einem Peter, der die Phantasie der Aufklärer beflügelte – was bei dem sichtlich schrumpfenden Imperium vielleicht nicht allzu verwunderlich ist. Was zuvor Ehrfurcht eingeflößt hatte, löste nun nur noch Verachtung aus. Das schlug sich im semantischen Wandel von der ambivalent beurteilten „Tyrannis“ (etwa bis zum Ende des . Jahrhunderts) hin zu der nur noch verachteten „Despotie“ (ohne den qualifizierenden Zusatz „aufgeklärt“) nieder. Der (angebliche) Gehorsam des Volkes, der früher soldatische Tugenden zu symbolisieren schien und mehr oder weniger unausgesprochenen Neid ausgelöst hatte, schlug nun um in ein klassisch orientalistisches Bild vom blinden Gehorsam eines versklavten und zur Sklaverei geborenen Volkes.⁶⁶ Das entsprach kurioserweise der voraufklärerischen Wahrnehmung Russlands. Aber anhand der Russland- und Peter-Wahrnehmungen konnte sich die Vorstellung vom Verhältnis zwischen Herrscher und Bevölkerung neu konfigurieren. Und das hatte direkten Einfluss auf die Konzeptualisierung von Revolten. Pate stand Leibniz’ Konzept von Russland als tabula rasa, in die man Zivilisation und Aufklärung einschreiben könne. Der aufgeklärte Herrscher und sein Staat wurden zum Motor von Entwicklung und Fortschritt. Während vormals die Revolten gefürchtet und ihre Anführer als gefährliche Neuerer gebrandmarkt wurden, erschienen sie nun als Exponenten rückwärtsgerichteten Widerstands gegen die vom offensiv modernisierenden Staat auf den Weg gebrachten Neuerungen. Diese veränderte Rezeption erstreckte sich nach und nach auch auf das Bild von Revolten im „Westen“. So führte beispielsweise das niederelbische Historisch-Politische Magazin einen Artikel über die Brabanter Revolution (/) der habsburgischen Niederlande gegen den (katholischen) Kaiser Joseph II. mit den Worten ein: Wer hätte es je denken sollen, daß in unsern Zeiten, da man dem Reiche des Aberglaubens und der päbstlichen Finsterniß immer mehr Land abzugewinnen, da man das Licht der Wahrheit und Philosophie immer weiter zu verbreiten sucht, die väterlichen Bemühungen des Kaisers, auch in seinen niederländischen Staaten dieß Licht der Wahrheit zu verbreiten, seine Unterthanen von den Fesseln, die Aberglaube und Pfafferey ihnen anlegten, zu befreyen, ⁶⁶

Brummett, Classifying Ottoman Mutiny.

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

die katholische Religion in ihrer ersten Lauterkeit herzustellen, sie von den Flecken, womit das Pabstthum sie verunstaltet hatte, zu säubern, und der Toleranz, diesem Hammelskinde, auch in diesem Lande Eingang zu verschaffen, in Brabant einen Aufruhr veranlassen würden, der, allem Ansehen nach, weiter um sich greifen, und in die benachbarten Provinzen übergehen wird. […]⁶⁷ Die veränderte Wahrnehmung wirkte auf die Obrigkeiten selbst zurück. Revolten, die nach wie vor zahlreich waren und teilweise heftig ausfielen, erschienen in einem immer harmloseren Licht. Das beeinflusste auch den obrigkeitlichen Umgang damit. Je rückwärtsgewandter die Regierungen Revolten einordneten, desto unvorbereiteter traf sie die ungeheure Dynamik der Französische Revolution. Zugleich wurde unter dem Einfluss des aufgeklärten Absolutismus mit dem Paradigma vom rückwärtsgerichteten Widerstand gegen den progressiven Staat ein Konzept geboren, das sich tief in die Historiographie eingeprägt und bis heute kaum an Wirkmächtigkeit eingebüßt hat. Das Bild von den regressiven Untertanen-Revolten findet sich nicht nur in Hegels Geschichtsphilosophie und Apologie des Staates oder bei Ranke in seinem Diktum vom Bauernkrieg als Ausbruch elementarer Kräfte, die den Fortschritt des Staates nur stören, aber nicht aufhalten können, sondern schon im . Jahrhundert, vielleicht sogar am eindrücklichsten wiederum bei Voltaire in seiner Darstellung der Fronde im Siècle de Louis XIV. Da wurde die Fronde zu einer lächerlichen Manifestation rückwärtsgerichteten Auflehnens ohne Sinn und Perspektive, die angesichts der durch den Staat verkörperten Fortschrittlichkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt war.⁶⁸ Das Bild der rückständigen Revolten fand also schon im . Jahrhundert nicht nur auf die Gegenwart Anwendung, sondern wurde auch auf frühere Revolten des . und. . Jahrhunderts rückprojiziert, ungeachtet dessen, dass sie von den damaligen Obrigkeiten völlig anders interpretiert worden waren. Aber auch die Zuschreibungen im Fortschritts- und Rückständigkeitsdiskurs wurden noch im . Jahrhunderts ambivalent. Das lässt sich besonders im ⁶⁷

⁶⁸

[Anonym]: Aufruhr in Brabant, in: Historisch-politisches Magazin, nebst litterarischen Nachrichten /, S. –, online abrufbar unter http://www.ub.uni-bielefeld. de/cgi-bin/neubutton.cgi?pfad=/diglib/aufkl/histpolmag/\&seite=.TIF [zuletzt aufgerufen am ..]. Zur Brabanter Revolution vgl. Janet L. Polasky: Revolution in Brussels –, Brüssel . Voltaire: Le Siècle de Louis XIV, publié par M. de Francheville,… Tome premier. I. [II.] partie. Seconde édition, Leipsic , Bd. , S. –. Vgl. dazu auch M. S. Rivière: Voltaire and the Fronde, in: Nottingham French Studies  (), S. –.



Von der Barbarei zur Rückständigkeit

Frankreich der zweiten Hälfte des . Jahrhundert beobachten, wo der Despotismus-Diskurs im Hinblick auf das Osmanische Reich vielfach eine Stellvertreterfunktion einnahm. Führende Aufklärer sprachen über den Sultan und meinten den französischen König. So geriet die Regierung selbst schnell ins Licht der Rückständigkeit. Wenn Voltaire die Niederschlagung der Fronde durch Ludwig XIV. noch als Akt des Fortschritts gegen die Kräfte der Reaktion bewertete, so galt das für die Politik der Regierung des späteren Ludwig XV. und Ludwigs XVI. nicht mehr. Im Unterschied zur vergleichsweise nachhaltigen Identifikation von aufgeklärtem Absolutismus und Fortschritt in vielen anderen Ländern Europas setzte sich die aufgeklärte Elite in Frankreich mit ihrem Anspruch auf Fortschrittlichkeit immer mehr von ihrer Regierung ab – und paradigmatisch dafür steht die Revolution, die Hegel dann zur Entwicklung seiner Geschichtsdialektik veranlasste. Der fortschrittliche Widerstand der Gesellschaft gegen den rückständig-(geworden)en Staat mündet demnach in eine tiefgreifende Umwälzung, die zu einer grundlegenden Neuformierung des Staates führte. Damit wäre ich zurück bei dem zu Beginn des Aufsatzes angesprochenen Revolutionsbegriff in Historiographie und Alltagssprache, wie er bis heute für uns prägend ist (s. o.). Die hegelianische Vorstellung lebte natürlich auch in der marxistischen Dialektik weiter. Auch wenn Marxisten Staat und Überbau als Exponenten der Beharrung und Erstarrung (ab)qualifizierten und allein die Gesellschaft und die von ihr generierten Produktionsverhältnisse als Motoren geschichtlichen Fortschritts anerkannten, wurde in der Sowjetunion – nach einer kurzen Phase, in der (einige) Bolschewiken der ersten Stunde ein Absterben des Staates verfochten – mit dem ideologischen Konstrukt von der revolutionären (Staats-)Partei der Staat quasi durch die Hintertüre wieder als Träger des historischen Fortschritts eingeführt.

Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung? Die Habsburgermonarchie als imperialer Wirtschaftsraum Ulrike von Hirschhausen

I. Rückständigkeit fand im Osten statt, Fortschritt im Westen. Die Zuordnung wirtschaftlicher Entwicklungsmuster zu bestimmten Räumen Europas war im Theorem der „economic backwardness“, das Alexander Gerschenkron in den er Jahre entwickelte, bereits angelegt. Denn das Anliegen des  verstorbenen russisch-amerikanischen Wirtschaftshistorikers war es, die unterschiedliche Industrialisierung der europäischen Staaten in eine Typologie einzuordnen, die den „großen Spurt“ Großbritanniens implizit als Maßstab nahm, und Abstand oder Abweichung anderer Länder dazu erklären wollte.¹ Zwanzig Jahre später hat Manfred Hildermeier das einflussreiche Konzept der Rückständigkeit erneut aufgegriffen, konstruktiv kritisiert und eine innovative Deutung vorgelegt, wie Vorstellungen von Rückständigkeit das historische Selbstverständnis Russlands prägten.² Mit seiner Interpretation eines „Privilegs der Rückständigkeit“ hat er das ökonomisch markierte Konzept aus seiner wirtschaftlichen Engführung herausgeholt und für sozial- und kulturwissenschaftliche Zugänge zur russischen Geschichte fruchtbar gemacht. So sehr gerade die kulturwissenschaftliche Forschung in der Folge mit der ¹

²

Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge ; ders.: Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: Rudolf Braun (Hg.): Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte, Köln , S. –. Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der Neueren Russischen Geschichte, in: HZ  (), S. – .

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Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung?

räumlichen Verortung von „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ auf der WestOst-Achse Europas aufzuräumen versuchte, so überzeugend neue Zugänge über Mikrostudien, Konzepte „multipler Modernen“, Vergleich, Verflechtung und Globalgeschichte die Vielschichtigkeit und Situativität der Entwicklungen innerhalb Europas herauskristallisierten,³ blieb eine Dimension dabei zunehmend außen vor: Wirtschaft als konstitutiver Faktor historischer Lebenswelt. Nur der Zugang über die Globalgeschichte weist eine hohe Affinität zu wirtschaftsgeschichtlichen Fragen auf, doch sparen entsprechende Studien das östliche Europa als Teil ihrer Untersuchungsräume weitgehend aus.⁴ Die seit den er Jahren erschienenen Regionalstudien des östlichen Europas akzentuieren hingegen politische und ethnische Konflikte, deren soziale Akteure und ihre kulturellen Praktiken. Dadurch werden die Lebenswelten dieses lange versiegelten Raums neu erschlossen. Doch zugleich ist die enge Verflechtung politischen Handelns und kultureller Praxis mit wirtschaftlichen Interessen, und damit die Rückbindung der Akteure an handlungsleitende, ökonomische Lagen und Erwartungen, zunehmend aus dem Blick geraten.⁵ Welche Wege erscheinen geeignet, wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen nach ihrer langen Randexistenz wieder mit der politischen Kulturgeschichte des östlichen Europas zu verbinden? In der Rückkehr einer politischen Ökonomie sieht Charles Maier eine Chance, Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft neu aufeinander zu be³

⁴ ⁵

Vgl. für den Zugang über Mikrostudien: Jeremy King: Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics –, Princeton, NJ ; Klaus Gestwa: Proto-Industrialisierung in Rußland. Wirtschaft, Herrschaft und Kultur in Ivanovo und Pavlovo –, Göttingen . Für das Konzept „multipler Modernen“: Shmuel Eisenstadt: Multiple modernities, in: Daedalus  (), S. –. Für den Vergleich: Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel: Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium, Bonn ; Dominic Lieven: Empire. The Russian Empire and Its Rivals, London . Für die Verflechtung: Frank Hadler, Tibor Frank (Hg.): Disputed Territories and Shared Pasts: Overlapping National Histories in Modern Europe, Basingstoke ; Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen . Für die Globalgeschichte: John Darwin: Der imperiale Traum, Frankfurt ; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts, München . Siehe die völlig marginale Repräsentanz Osteuropas in globalgeschichtlichen Zugriffen belegt bei Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung, München . Vgl. das markante Ungleichgewicht in den neueren Publikationen, das Joachim von Puttkamer: Ostmitteleuropa im . und . Jahrhundert, München , belegt. Relevante Titel zu „Ethnizität, Nationalismus und Politische Ideen“ umfassen über  Seiten, S. – , Titel zur Wirtschaftsgeschichte, zudem primär in den er Jahren publiziert, nehmen hingegen nur  Seiten ein, S. –.

Ulrike von Hirschhausen

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ziehen.⁶ Doch redet er damit nicht einer klassischen Wirtschaftsgeschichte das Wort, deren Fokus auf dem Messen und Zählen von Wachstum und Produktivität im nationalen Rahmen zumal jüngere Historiker kaum mehr anzuziehen vermag. Weniger das Backen des volkswirtschaftlichen Kuchens und seine Ingredienzen als vielmehr die Verteilung des Kuchens in ethnisch, sozial oder konfessionell segmentierten Gesellschaften und die damit einhergehenden Kämpfe um Verteilung, Ungleichheit und Intervention sind Themen, welche Fragen der politischen Ökonomie mit unserem historischen Interesse an solchen Gesellschaften und Räumen verbinden können. Was im Lichte einer solchen Herangehensweise dann aus der Kategorie der „Rückständigkeit“ wird, die lange als Motor des Vergleichs und der Internationalisierung der historischen Perspektive gewirkt hat, sucht dieser Beitrag am Beispiel der Habsburgermonarchie im . und frühen . Jahrhundert zu zeigen. Mit der Habsburgermonarchie als Prototyp „relativer Rückständigkeit“ hat sich bereits Alexander Gerschenkron, der Begründer des Theorems ökonomischer Rückständigkeit, auseinandergesetzt und im starken Entwicklungsgefälle der Regionen den zentralen Grund einer wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit der Monarchie gesehen.⁷ Dieses Diktum entsprach ganz dem Aufkommen zeitgenössischer Modernisierungstheorien, die wirtschaftlichen Fortschritt mit nationaler Staatlichkeit verknüpften und die multiethnischen Großreiche zumal des östlichen Europas nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch als Anachronismus deuteten. Dies hat die tatsächliche wirtschaftliche Dynamik der Habsburgermonarchie lange Zeit verdeckt. Erst in den er Jahren haben primär amerikanische Historiker den langsamen, aber kontinuierlichen Wachstumsprozess der Monarchie herausgearbeitet, diesen aber kaum mit den politischen Verteilungskämpfen einer multiethnischen Reichsgesellschaft verknüpft.⁸ Nach / hat die historische Dezentrierung der Perspektive, politisch stimuliert durch die Loslösung vom sowjetischen Einflussbereich und die Formierung von Nationalstaaten, eine Reihe innovativer Studien zu einzelnen ⁶ ⁷



Charles Maier: Das Politische in der Ökonomie? Zur Machtvergessenheit der Wirtschaftswissenschaft, in: Mittelweg  (), S. –. Alexander Gerschenkron: An Economic Spurt That Failed, Princeton, NJ ; für Ungarn blieben lange nationalistische Kolonisierungsthesen bestimmend, gegen die nachhaltig argumentiert hat: Peter Hanák: Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates, München . Iván Berend und Gyorgy Ránki: Economic Development in East Central Europe in the th and th Century, New York ; David F. Good: Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches –, Köln ; John Komlos: Die Habsburgermonarchie als Zollunion. Die Wirtschaftsentwicklung Österreich-Ungarns im . Jahrhundert, Wien .

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Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung?

Gesellschaften und Räumen Ostmitteleuropas hervorgebracht. Doch deren historische Verbundenheit und Verflechtung im Rahmen des Reichs ist in solchen Narrativen kaum mehr wahrgenommen worden, steht die imperiale Qualität der Habsburgermonarchie doch quer zum politischen Anliegen nationaler Historiographien.⁹ Dadurch wurde auch die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Multiethnizität und Wirtschaft kaum mehr thematisiert.¹⁰ Wendet man sich der Habsburgermonarchie indes als Empire zu, gekennzeichnet also durch Größe, Multiethnizität, supranationale Herrschaft, einer Vielzahl heterogener Gebiete mit unterschiedlichem Rechtsstatus und weichen Grenzen, dann drängt sich dieses Spannungsverhältnis unmittelbar auf.¹¹ Denn regionale Ungleichheit bedeutete in einem multiethnischen Großreich zugleich ethnische Ungleichheit. In der Habsburgermonarchie waren die prosperierenden Regionen im Norden und Westen um  die Heimat von Deutschen, Italienern und Tschechen, während in den wirtschaftlich deutlich ärmeren Regionen im Osten und Süden vor allem Kroaten, Slowaken, Ruthenen, Slowenen, Polen, Rumänen und Ungarn lebten. Dieses Entwicklungsgefälle zwischen Agarländern im Osten und Gewerberegionen im Westen hatte der frühneuzeitliche Staat für eine profitable imperiale Arbeitsteilung im Zeichen eines „Universalkommerz“ genützt. Doch der Industrialisierungsprozess des . Jahrhunderts brach die traditionelle Einteilung, was wirtschaftliches Zentrum, was Peripherie war, radikal auf und vernetzte die Kronländer in Formen, die der hergebrachten Verteilung der territorial gebundenen politischen Macht zunehmend weniger entsprach. Genau diese politische Hierarchie begannen einige ethnische Gruppen des Reiches vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Potenz nun in Frage zu stellen und neu gewonnenes ökonomisches Kapital mit Forderungen nach einem Zuwachs ihres politischen Kapi⁹

¹⁰

¹¹

Eine Ausnahme ist das Großprojekt „Die Habsburgermonarchie –“ in  Bde., hrsg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, Helmut Rumpler, Wien –, dessen Themenbände in sich überwiegend nach nationalen Gesellschaften gegliedert sind. Den Zusammenhang von Wirtschaft und Ethnizität im imperialen Rahmen hat innovativ untersucht: Andrea Komlosy: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung und Peripherisierung in der Habsburgermonarchie, in: Endre Hárs u. a. (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen , S. –. Den Anregungen dieses Aufsatzes verdanken die hier zur Diskussion gestellten Überlegungen viel. Siehe zur Thematik auch die problemorientierte Einleitung von Uwe Müller: Regionale Wirtschafts- und Nationalitätenpolitik in Ostmitteleuropa (–), in: ders. (Hg.): Ausgebeutet oder alimentiert? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (–), Frankfurt am Main , S. –. Jörn Leonhard und Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im . Jahrhundert, Göttingen ², S. .

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tals, in Gestalt politischer Teilhabe oder kultureller Autonomie, zu verbinden. Wie sich Multiethnizität auf die Habsburgermonarchie als imperialer Wirtschaftsraum auswirkte, bildet daher das Erkenntnisinteresse der folgenden Skizze. Entfaltet wird sie anhand von drei Fragen. Stellte, erstens, der industrielle Wandel des . Jahrhundert die regionale Arbeitsteilung zwischen den Kronländern und damit zwischen den ethnischen Gruppen in Frage? Trug, zweitens, die zunehmende ökonomische Verflechtung zur verstärkten politischen Integration in das Empire bei? Oder förderte wachsende ökonomische Potenz eher die politische Desintegration einzelner Gruppen? Und welchen Erkenntnisgewinn kann eine solche Skizze, drittens, für die gegenwärtige Diskussion über eine „Rückkehr der politischen Ökonomie“ in die Geschichtsschreibung überhaupt leisten?

II. Typisch für die Habsburgermonarchie seit Mitte des . Jahrhunderts war der Versuch, die erhebliche wirtschaftliche und soziale Ungleichheit ihrer Kronländer für eine profitable, interregionale Arbeitsteilung zu nützen. Nicht die Angleichung und Nivellierung des wirtschaftlichen Gefälles zwischen West und Ost oder Süd und Nord, sondern die Ausnutzung und Förderung des jeweiligen Charakters als Agrar- oder Handwerksregion, als Handelszentrum oder industriellen Schwerpunkt und ihre gegenseitige Vernetzung wurden zum Programm der habsburgischen Wirtschaftspolitik seit .¹² Konkret bedeutete diese Ausformung des europäischen Merkantilismus, dass die östlichen Provinzen der ungarischen Krone und Galizien mit ihren fruchtbaren Böden als agrarische Lieferzone des Westens dienten. Die Handels- und Handwerkszentren in den westlichen Alpenländern, vor allem in Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten, ebenso wie die Textilindustrie im Wiener Becken und die Zentren von Kohle- und Erzabbau in Böhmen und Mähren fanden hingegen im agrarischen Osten aufnahmebereite Absatzmärkte. Gerade in der Ungleichheit dieser Wirtschaftsräume und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit sah die kaiserliche Regierung die Grundlage allmählichen wirtschaftlichen Wachstums der Gesamtmonarchie. Gefördert wurde diese binnenimperiale Arbeitsteilung durch eine rigide Zollgrenze nach außen, die hohe Steuern auf den Export von Waren erhob, die im Lande verbleiben sollten, Binnenzölle dage¹²

Nachum T. Gross: Die Industrielle Revolution im Habsburgerreich –, in: Carlo M. Cipolla, Knut Borchardt (Hg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. : Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, Stuttgart/New York , S. –, Good, Aufstieg, S. –.

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gen abschaffte oder wie zwischen Österreich und Ungarn massiv senkte. Bereits  kam es zu einer Zollunion, welche die österreichischen Länder mit wenigen Ausnahmen verband und den Freihandel innerhalb der imperialen Grenzen vorantrieb. Hinter dem zeitgenössischen Begriff des „Universalkommerz“ stand das Grundkonzept einer binnenimperialen Arbeitsteilung, deren Grundlage die enorme wirtschaftliche Unterschiedlichkeit der Regionen war, die es daher zu erhalten, nicht anzugleichen galt.¹³ Genau dieses wirtschaftliche Gefälle zwischen den deutschen, italienischen und böhmischen Kronländern einerseits und den von Slawen, Rumänen und Ungarn besiedelten Regionen im Süden und Osten veränderte sich im Laufe des . Jahrhunderts und stellte die Legitimität der politischen Hierarchie für einige der wirtschaftlichen „Newcomer“ in Frage. Zunächst ging das Wachstum in den Leitbranchen des . Jahrhunderts, nämlich Textil, Eisen und Nahrungsmittel, die primär in den deutschsprachigen Kronländern angesiedelt waren, zurück. Rohbaumwolle, früher aus Ägypten oder dem Osmanischen Reich bezogen, kam zunehmend aus den USA und konnte preiswerter über die Elbe nach Nordböhmen transportiert werden. Während Textilien  noch   der gesamten Industrieproduktion des Reiches ausgemacht hatten, sank dieser Anteil bis  auf  .¹⁴ Auch die Herstellung von Eisenwaren verlagerte sich dorthin, wo der Rohstoff am reichsten vorhanden war, nämlich nach Böhmen und Mähren. Zwar wurden diese Wachstumsverlagerungen durch Spezialisierung, beispielsweise im Bierbrauen, teilweise aufgefangen und das Pro-Kopf-Einkommen der Alpenländer blieb weiterhin das höchste innerhalb der Monarchie. Dennoch bedeutete die Verlagerung der Wachstumsindustrien des . Jahrhunderts aus den vormaligen wirtschaftlichen Kernräumen des Reiches einen deutlichen Rückgang ökonomischer Potenz für jene Gruppe, die politisch weiterhin über die größte politische Macht verfügte: die Deutschen.¹⁵ In Oberitalien hingegen waren die ökonomischen Eliten relativ unabhängig vom imperialen Binnenmarkt, was ein Blick auf ihr wichtigstes Produkt erklärt: die Seide. Während die deutschen Handwerks- und Industriebetriebe der Alpenländer maßgeblich in die östliche Reichshälfte lieferten, exportierten die italienischen Seidenzüchter Lombardo-Venetiens  rund   ihrer Produktion ins Ausland.¹⁶ Zollerleichterungen für Exporte in Höhe von über ¹³ ¹⁴ ¹⁵ ¹⁶

Good, Aufstieg, S. –. Gross, Revolution, S. ; Good, Aufstieg, S. –. Good, Aufstieg, S. . Rupert Pichler: Die Wirtschaft Lombardo-Venetiens als Teil Österreichs. Wirtschaftspolitik, Außenhandel und Industrielle Interessen –, Berlin , S. .

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 , die Schaffung eines oberitalienischen Zollvereins und die Aufhebung aller Handelsverbote waren Maßnahmen, die das k. u. k Handelsministerium im Einklang mit den Mitgliedern der oberitalienischen Handelskammern ergriff. Den italienischen Fabrikanten, Händlern, Züchtern und Bankiers, die am Seidenexport gut verdienten, kam die österreichische Wirtschaftspolitik zwar zupass, doch als einzige der führenden wirtschaftlichen Gruppen hatten sie ihre Absatzmärkte fast ausschließlich in Westeuropa. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit vom imperialen Binnenmarkt trug mit dazu bei, dass die oberitalienischen Eliten auch eine politische Loslösung von der Monarchie, die / dann erfolgte, favorisierten. Wo sich wirtschaftliches Wachstum primär hin verlagerte, waren die Kronländer Böhmen und Mähren. Dies lag vor allem an den reichen Vorkommen an Steinkohle, Braunkohle und Eisenerz, welche die neuen Leitbranchen des . Jahrhunderts, Maschinenbau, Elektro- und Chemieindustrie, benötigten. Ein offenes Investitionsklima und große Empfänglichkeit für ausländische Innovationen trugen mit dazu bei, dass in den multiethnischen Regionen Böhmens und Mährens moderne englische Produktionstechniken früher und umfassender als in den deutschsprachigen Alpenländern eingeführt wurden. Wie geschickt innovative Unternehmer das wirtschaftliche Gefälle des Reichs nutzten, kann ein Akteur veranschaulichen: der Industrielle Karl Wittgenstein (–), Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie und der Vater des späteren Philosophen Ludwig Wittgenstein. Karl Wittgenstein lehnte die Übernahme des väterlichen Warenhauses ab, ging in die USA und kehrte mit Kenntnissen der neuen Hochtechnologien nach Böhmen zurück. Dort übernahm er seit den er Jahren in Böhmen Stahlwerke, die er sukzessiv ausbaute. Seinen größten Coup landete der dynamische Unternehmer damit, dass er als Erster das englische Thomas-Gilchrist-Verfahren einführte, wodurch er phosphorarmes und dadurch sehr viel preiswerteres Eisen produzieren konnte. Seine günstigen Eisenbahnschienen waren genau das Produkt, mit dem er den boomenden Ausbau des imperialen Eisenbahnnetzes bedienen konnte. Ein Export seiner Produkte war angesichts der enormen Binnennachfrage kaum nötig.¹⁷ Während die Eisenproduktion in den deutschsprachigen Alpenländern von   () auf   () zurückging, stieg sie gleichzeitig in Böhmen und Mähren von   auf   der Gesamtproduktion an.¹⁸ ¹⁷ ¹⁸

Jean-Jacques Langendorf: Genie und Fleiß. Unternehmergestalten der Monarchie – , Wien , S. –. Herbert Mattis, Karl Bachinger: Österreichs industrielle Entwicklung, in: Alois Brusatti (Hg.): Die Habsburgermonarchie –, Bd. , Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien , S. , Tabelle .

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Die Daten der Volkszählung von  verdeutlichen diese industrielle Schwerpunktverlagerung. Im Norden Böhmens und Mährens sowie in einigen Gebieten Österreichs und der Steiermark arbeiteten um  Tschechen, Deutsche und Slowaken vor allem in Industrie und Gewerbe; in Galizien, der Bukowina, Kroatien-Slawonien und Bosnien-Herzegowina, sowie in großen Gebieten Ungarns, waren Polen, Ruthenen, Ungarn, Rumänen, Kroaten und bosnische Muslime primär in der Landwirtschaft tätig.¹⁹ War die Industrialisierung Böhmens und Mährens bis  auf die deutschsprachigen Grenzräume konzentriert gewesen, so verlagerte sie sich danach in die inneren tschechischsprachigen Landesteile. Karl Wittgenstein konnte seine Eisenbahnschienen überall hin liefern, das Gros der tschechischen Unternehmer fand seine Absatzmärkte indes primär im noch wenig industrialisierten Ungarn, was sie den großen Binnenmarkt der Monarchie positiv sehen ließ. Das enorme wirtschaftliche Wachstum, verbunden mit der höchsten Alphabetisierungsquote des Reichs und hoher Kapitalakkumulation, ließen das Pro-Kopf-Einkommen in Böhmen  auf den zweithöchsten Rang (nach Niederösterreich) aller Kronländer steigen. Doch genau diese Kluft zwischen ökonomischer Potenz als wirtschaftlich erfolgreichste ethnische Gruppe einerseits und fortgesetzter politischer Marginalisierung durch das Fehlen nationaler Autonomie, die den ökonomisch weit schwächeren Ungarn  zugestanden wurde, befeuerte die nationalen Konflikten zwischen tschechischen Eliten und imperialer Regierung noch. Besonders sichtbar wurden sie  durch die Ablehnung einer böhmischen Landesautonomie und verschärft , als ein Gesetz zur sprachlichen Gleichberechtigung von Deutschen und Tschechen bürgerkriegsähnliche Verhältnisse und die zeitweilige Schließung des österreichischen Parlaments nach sich zog. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen den Kronländern und die Industrialisierung spezifischer Regionen luden zunehmend zur Wanderung ein. Um  hatten fast   der Gesamtbevölkerung ihren ursprünglichen Aufenthaltsort verlassen und waren gewandert.²⁰ Die enorme Migration fand vor  fast ausschließlich innerhalb des Reichs statt und erst mit dem Fall aller Auswanderungsverbote  stieg die Zahl jener, die meist nach Deutschland oder Übersee auswanderten.  entfiel   aller Wanderungen auf den Binnenraum der Monarchie,  immer noch  . Die Wanderungen wuchsen meist mit den Warenströmen, und wo die wirtschaftlichen Verflechtungen zunahmen, ¹⁹

²⁰

Vgl. Karte . in: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen; nach dem Zensus von , bearb. von Helmut Rumpler und Martin Seger, Wien . Andrea Komlosy: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien , S. , Tabelle A und S. –.

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stieg auch die Wanderung an. Gerade zwischen agrarischen und industrialisierten Regionen wurde die Verflechtung durch Menschen, die wanderten, ihre Familien zurückließen, besuchten oder nachholten, immer enger: zum einen zwischen den Küsten- und Karpatenländern und Ungarn, zum Zweiten zwischen Böhmen, Mähren und Wien, dessen Wohnbevölkerung um  zu   aus tschechischen Zuwanderern bestand, zum Dritten zwischen den Karpatenländern und den böhmischen Ländern.²¹ Gerade die wirtschaftliche Ungleichheit der Regionen machte den imperialen Binnenmarkt für Wanderungswillige so attraktiv, dass Auswanderung lange Zeit nur für Wenige eine vorteilhafte Option war.²² Im Falle der Habsburgermonarchie führte gerade starke regionale Ungleichheit zu erheblicher Wanderung und Verflechtung zwischen den ethnischen Gruppen. Enger verband der wirtschaftliche Wandel des . Jahrhunderts vor allem Österreich und Ungarn. Bereits in der ersten Jahrhunderthälfte war die gegenseitige Abhängigkeit von Lieferzonen und Absatzmärkten erheblich gewesen, wie das Wiener Polizeidirektorium  feststellte: „Ungarn ist für die österreichische und vorzugsweise für die Wiener Industrie die wichtigste Provinz. Versiegen dort die Absatzquellen, müssen die hiesigen Fabrikanten ihre Tätigkeit sogleich einschränken.“²³ Verbesserte Transportwege, erhebliche auswärtige Konkurrenz durch die USA und Russland, die Kommerzialisierung der ungarischen Agrarwirtschaft und die beginnende Industrialisierung Ungarns ließen die Verflechtung der Märkte in der zweiten Jahrhunderthälfte massiv ansteigen. Wie sehr die unterschiedlichen Exportmärkte aufeinander angewiesen waren, zeigen die zeitgenössischen Handelsstatistiken: Rund   der ungarischen Exporte – vor allem Getreide und Vieh, seit den er Jahren auch Roheisen und Baumwolle – gingen in den er Jahren nach Österreich, rund   der österreichischen Ausfuhr – Textilien, Maschinen, Chemikalien – wurde nach Ungarn geliefert.²⁴ Die wachsende Verflechtung belegt auch die Entwicklung von Preisen, die auf isolierten Märkten stark voneinander abweichen, sich auf vernetzten Märkten indes annähern. Ab  lässt sich ein steter Rückgang

²¹ ²² ²³ ²⁴

Komlosy, Grenze, S. ; Monika Glettler: Die Wiener Tschechen um . Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, Wien . Traude Horvath (Hg.): Auswanderung aus Österreich: von der Mitte des . Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien . Alfred Hoffmann (Hg.): Österreich-Ungarn als Agrarstaat. Wirtschaftliches Wachstum und Agrarverhältnisse in Österreich im . Jahrhundert, München . Alle quantitativen Belege bei Good, Aufstieg, S. –; auch Komlos, Zollunion, S. – .

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der regionalen Preisunterschiede von Weizen, Fleisch und Wein beobachten.²⁵ Von der wachsenden Verflechtung zwischen beiden Teilen des Reichs profitierten vor allem die agrarischen und industriellen Eliten Ungarns und Österreichs und damit auch die politisch einflussreichsten Gruppen der Deutschen und Magyaren. Nicht zuletzt deshalb setzten sich genau diese Gruppen immer wieder für die politische Verlängerung des österreichisch-ungarischen Ausgleichs ein, weil dieser den für beide profitablen, transnationalen Wirtschaftsmarkt überhaupt erst garantierte. Dass wirtschaftliche Verflechtung ebenso nationale Abgrenzung zu forcieren vermochte, läßt sich am Kapitalmarkt der K.-u.-k.-Monarchie beobachten, der sich nach der Jahrhundertmitte ausbildete. In den ersten Jahrzehnten des . Jahrhunderts hatten die österreichische Nationalbank und wenige private Bankhäuser in Wien dominiert, die Geschäfte mit dem Staat machten und Kredite ausschließlich an den Hochadel, beispielsweise für die Erschließung von Minen und Bergwerken, gaben.²⁶ Kurzfristige Kredite an Handwerker und Kleinindustrielle gab es nicht, Wechsel wurden nur diskontiert, wenn sie in Wien ausgestellt waren, was den Geschäftsverkehr der ferneren Provinzen massiv benachteiligte. Eine regionale Wirtschaftsförderung oder Ausgleichspolitik beabsichtigte die imperiale Regierung auf dem Kapitalmarkt ebenso wenig wie in der Wirtschaft. Erst nach  eröffneten eine Reihe an Aktienbanken wie die Creditanstalt (), die Bodencreditanstalt (), die Anglo-Österreichische Bank () oder die Union-Bank (), die kurzfristige Kredite an Unternehmer und Handwerker gaben. Um  besaß die Monarchie  Großbanken,  Sparkassen und . Kreditgenossenschaften, die den größten Teil der Binneninvestitionen zu finanzieren imstande waren.²⁷ Die Ausbreitung des Kapitalmarkts erfolgte durch ein wachsendes Filialnetz, das die österreichische Nationalbank ebenso wie die Wiener Großbanken mit Standorten in Prag, Brünn, Troppau, Pest, Krakau oder Triest ausbauten. Dass zunehmende Verflechtung indes auch wachsende Abgrenzung bewirken konnte, zeigt die tschechische Reaktion auf die österreichische Dominanz im Kapitalmarktsektor.  gründeten tschechische Wirtschaftseliten die „Zivnostenska Banka“, deren Ziel die Kreditvergabe an tschechische Kleinhändler und Unternehmer war und die die boomenden tschechischen Rohzuckerfabriken in Böhmen finanzierte.²⁸ Seit den er Jahren forderte die Prager Handelskammer eine gleichberechtigte Zentrale der „Österreichisch²⁵ ²⁶ ²⁷ ²⁸

Good, Aufstieg, S. –. Rudolph, Banking, S.  und –. Berendt/Ránki, Economic Development in East Central Europe, S. . Rudolph, Banking, S. –.

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Ungarischen Nationalbank“ in Prag sowie tschechische Geldnoten. Bald zirkulierten illegale Noten mit tschechischer Aufschrift, die zwar in Ungarn für ungültig erklärt wurden, in Österreich jedoch toleriert und umgetauscht wurden. Österreichisches Kapital floss primär nach Ungarn, wo preiswerter Boden, billige Arbeitskräfte und Rohstoffe Investoren anzogen. So finanzierte das Bankhaus Rothschildt über zwei seiner Unternehmen, die österreichische Staatseisenbahn-Gesellschaft und die k. u. k. private Donaudampfschifffahrt, den Ausbau der ungarischen Kohlebecken. Um  wurden   aller ungarischen Staatsanleihen durch österreichisches Kapitel gedeckt, umgekehrt floss etwa   des im „Ausland“ angelegten österreichischen Kapitals nach Ungarn. Dass die ungarische Industrialisierung maßgeblich durch österreichisches Kapital zustande kam, lässt den Vorwurf ungarischer Nationalhistoriker, die Wiener Regierung habe das Entwicklungsgefälle zu fixieren gesucht, obsolet erscheinen.²⁹ Die Investitionen konzentrierten sich indes auf den Raum um Budapest und veränderten die Dominanz des Agrarsektors nur partiell. Im Gegensatz zu Böhmen ging in Ungarn ein wirtschaftlicher Peripheriestatus mit einer politisch zentralen Position innerhalb der Doppelmonarchie einher, weshalb die magyarischen Eliten durch die Verlängerung des Ausgleichs nicht nur den profitablen Binnenmarkt erhalten, sondern auch die politische Hierarchie innerhalb des Reichs zementieren wollten. Wie unterschiedlich der wirtschaftliche Wandel die einzelnen Teile des Reichs erfasste, zeigt ein Blick auf jene Regionen, die ihre agrarische Produktivität nur geringfügig verbessern konnten, von industriellen Impulsen weitgehend ausgeschlossen blieben und in den ökonomischen Austausch mit anderen Regionen kaum eingebunden wurden. So berichtete der deutsche Geologe und Völkerkundler Edmund Suess Anfang der er Jahre von einer Reise in die östlichen Regionen des Reichs: „In Makow, südlich von Krakau, nahe dem Fuße des Hochgebirges, wohnten wir einem Wochenmarkt bei. Hier sahen wir scheibenförmige Wagenräder, ohne Speichen aus dem Querschnitt einer Eiche hergestellt und wahren Tauschverkehr, bei dem einerseits Kartoffeln und Zwiebeln, andererseits eiserne Nägel als Scheidemünze kursierten.“³⁰ Zu solchen „Agrarperipherien“ (A. Komlosy), gehörten die nordöstlichen Kronländer Bukowina und Galizien, Kroatien-Slawonien und das  okkupierte Bosnien-Herzegowina im Südosten des Reichs. Hier deckten sich ökonomische Isolierung mit politischer Nachrangigkeit, denn weder Kroatien konnte die Zugeständnisse, die ihm im ungarisch-kroatischen Ausgleich  zugestanden ²⁹ ³⁰

Komlos, Zollunion, Kap. IV. Edmund Suess: Erinnerungen, Leipzig , S. .

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worden waren, realisieren, noch gelang es den Ruthenen in Galizien, ihre nationalen Forderungen gegenüber der polnische Oberschicht durchzusetzen. In Bosnien-Herzegowina schließlich, das trotz infrastruktureller Erschließung bis  eine reine Agrarregion blieb, kam es überhaupt erst  zu einer sehr beschränkten politischen Mitsprache. Wie sich die mangelnde Einbindung solcher ökonomischer Peripherien in den zunehmend enger verflochtenen Wirtschaftsraum indes ökonomisch auswirken konnten, illustriert ein Blick auf Galizien. In dem bislang rein agrarischen Kronland im äußersten Nordosten wurden seit den er Jahren große Ölvorkommen gefunden.³¹ Öl stellte im frühen . Jahrhundert noch keine profitable Ressource, weshalb die Rechtslage so gestaltet worden war, dass der Besitzer einer Landoberfläche allein ihre Ausbeutung bestimmen konnte. Eine kanalisierte Ausbeutung nach US-amerikanischem Vorbild, in der der Staat Konzessionen an kapitalstarke Gesellschaften vergibt und Überproduktion verhindert, war dadurch nicht möglich. Vielmehr verpachteten die polnischen Grundbesitzer ihr Land an eine Fülle einzelner Kleininvestoren, was im galizischen Boryslaw dazu führte, dass Einzelgrundstücke der Ölausbeutung die Größe eines amerikanischen Fußballfelds hatten. Extreme Parzellierung, der Mangel an technischem Know-how und das Fehlen jeder staatlichen Kontrolle konfrontierten Wien bald mit genau dem Problem einer massiven Überproduktion. Ab  wurde weit mehr Öl produziert als der Binnenmarkt der Monarchie benötigte. Die infrastrukturelle Verbindung des agrarischen Galiziens mit den übrigen Teilen des Reichs war schwach, weshalb das sprudelnde Öl nicht schnell genug in erreichbare Absatzmärkte innerhalb wie außerhalb der Monarchie abfließen konnte. Die Tatsache, dass Galizien  zwar quantitativ der drittgrößte Erdölproduzent der Welt war, sein Anteil am Welthandel aber nur   betrug, verdeutlicht das Verteilungsproblem.³² Die Fixierung von Staat und Gesellschaft auf den Binnenmarkt erschwerte es jedoch, Konsumenten jenseits der imperialen Grenzen zu finden, wie folgende Episode zeigt. Eine Auseinandersetzung zwischen der USamerikanischen Gesellschaft Standard Oil, den polnischen Eliten und der imperialen Regierung wuchs sich  zu einem massiven Konflikt aus: Standard Oil bot den lokalen Produzenten an, moderne Öllager zu bauen und im Gegenzug reduzierte Rohölpreise zu erhalten. Der k. u. k. Finanzminister reagierte empört, bestellte den amerikanischen Botschafter ein und setzte um³¹ ³²

Zum Folgenden: Alison F. Frank: Oil Empire. Visions of Prosperity in Austrian Galicia, Cambridge . Magnus Tessner: Der Außenhandel Österreich-Ungarns von  bis , Köln , S. .

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Abbildung : Die Öltürme Boryslaws/Galizien um  Quelle: Alison F. Frank: Oil Empire. Visions of Prosperity in Austrian Galicia, Cambridge , S. .

gehend Verhandlungen mit den polnischen Produzenten an. Die Subventionierung der Ölpreise war die Antwort Wiens, um den regionalen Interessen der polnischen Grundbesitzer entgegenzukommen und den Außenhandel zu verhindern. Staatliche Intervention, ansonsten die Ausnahme, wurde hier als Mittel eingesetzt, den Binnenmarkt abzuschotten und die regionale Autonomie primär der polnischen Grundbesitzer zu erhalten. Die Kehrseite der zunehmenden Binnenverflechtung durch Industrialisierung, Migration und Kapitalmarkt war die geringe Einbindung der Habsburgermonarchie in die Weltwirtschaft. Ein Vergleich mit anderen großen europäischen Staaten zeigt den Grad der Einbindung (siehe Tabelle  auf der nächsten Seite). Mitverantwortlich für diese geringe Einbindung in den Weltmarkt waren das Fehlen eines herausragenden Exportprodukts, zumal die Ölquellen Galiziens nur wenige Jahrzehnte ergiebig waren, und ein erheblicher Protektionismus seit den er Jahren. Entscheidend war jedoch die Binnenorientierung von Gesellschaft und Regierung, die in der immer profitabler werdenden interregiona-

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Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung?

Tabelle : Anteil am Welthandel ³³ Land

in Prozent

Großbritannien Frankreich Deutsches Reich Russländisches Reich Österreich-Ungarn Italien

, , , , , ,

len Arbeitsteilung der Kronländer ausreichende Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung der Gesamtmonarchie sahen. Auch vorhandene Konzepte eines interregionalen Finanzausgleichs wurden nie umgesetzt, die Verwaltungsbeamten bevorzugten zweckgebundene Zuweisungen an einzelne Kronländer, beispielsweise in Gestalt von Infrastrukturen, und sahen von jeglicher Umverteilung ab.³⁴ Ihre Einschätzung, dass gerade die große regionale Ungleichheit ein wesentlicher Faktor für die Profitabilität des Binnenmarkts war, der sich für Exporte weder sonderlich eignete noch darauf angewiesen erschien, war vom tatsächlichen kontinuierlichen Wachstum durchaus gedeckt.

III. Das Verdikt der Rückständigkeit, das die Habsburgermonarchie als Wirtschaftsraum lange prägte, verdankte sie nicht nur zeitgenössischen Vorstellungen, die vor allem Ungarn in „kolonialer“ Abhängigkeit sehen wollten und der österreichischen Regierung eine Fixierung wirtschaftlicher Rückständigkeit zuschrieben. Vor allem die Forschung des . Jahrhunderts hat immer wieder in der langsamen Wirtschaftsentwicklung der Monarchie, der ein „großer Spurt“ ebenso fehlte wie ein herausragendes Exportprodukt, einen maßgeblichen Faktor wirtschaftlicher Rückständigkeit gesehen, die letztlich auch den politischen Zerfall der Monarchie mit verursacht habe. Die Wahl des analytischen Zugriffs begünstigte solch normative Deutungen noch. Die Habsburgermonarchie wurde entweder als volkswirtschaftliche Einheit betrachtet, deren „Zurückgeblie³³

³⁴

Zahlen für diese Tabelle aus: Brusatti (Hg.): Die Habsburgermonarchie, S. , Tabelle . Dazu auch Nachum T. Gross: Austria-Hungary in the World Economy, in: John Komlos (Hg.): Economic Development in the Habsburg Monarchy in the th Century, Boulder, CO , S. –. Müller, Regionale Wirtschaftspolitik, S. .

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

benheit“ meist mit dem erheblichen regionalen Entwicklungsgefälle erklärt wurde, dessen Disparität der Norm homogener Volkswirtschaften nicht entsprochen und zur Blockade einer nur gesamtstaatlich vorgestellten Modernisierung geführt habe. Einen entgegengesetzen Erklärungsansatz bot die nationale Deutung: Sie betrachtete einzelne Regionen und zwar meist solche, die nach  zu Nationalstaaten wurden, isoliert und hob auf deren nachteilige Abhängigkeit vom imperialen Binnenmarkt ab. Untersucht man die k. u. k. Monarchie indes weniger als einheitliche, quasi „nationale“ Volkswirtschaft, sondern mehr als einen in sich heterogenen imperialen Wirtschaftsraum, dann treten zunächst große regionale Disparitäten und hohe sozioökonomische Ungleichheit hervor. Doch diese stellen nicht zwangsläufig ein Hemmnis wirtschaftlicher Modernisierung dar, wie auch Andrea Komlosy argumentiert hat, sondern lassen sich vielmehr als Grundlage einer zunehmenden Verflechtung des imperialen Binnenmarkts deuten. Zugleich fordert eine solche Sichtweise dazu auf, Anregungen der politischen Ökonomie aufzugreifen und nach der Verteilung dieses Wachstums zwischen imperialen Zentren, Peripherien und „Zwischenräumen“ zu fragen, und damit auch die ethnischen Gruppen in den Blick zunehmen, die hier um Verteilung und Partizipation rangen. Zu untersuchen, welche Regionen, und damit auch welche Gruppen auf welche Weise profitierten, erscheint erhellend, um auf die eingangs gestellte Frage, ob ökonomische Verflechtung sich auf die ethnischen Gruppen integrativ oder eher desintegrativ auswirkte, eine Antwort zu entwickeln. Was wird in einer solchen Perspektive dann aus der „wirtschaftlichen Rückständigkeit“ der Habsburgermonarchie? Als binnenimperialer Wirtschaftsraum erwies sich die Monarchie als erfolgreich. Aus locker verbundenen Kronländern um  hatte sich um  eine dichte komplementäre Arbeitsteilung in regionale Angebots- und Nachfragemärkte entwickelt. Anhand der Indikatoren Wirtschaftswachstum, Vermögensbildung, Pro-Kopf-Einkommen, Steueraufkommen und Bildung hat die neuere Forschung überzeugend auf den kontinuierlichen Zuwachs an ökonomischem und sozialem Kapital hingewiesen, den die große Mehrheit aller ethnischen Gruppen im Laufe des . Jahrhunderts dadurch verzeichnete.³⁵ Die zunehmende Verflechtung konnte die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Österreich und Ungarn partiell verringern, wie sich am Beispiel des „Nati³⁵

Good, Aufstieg; Richard Rudolph: The Pattern of Austrian Industrial Growth from the th to the Early th Century, in: Austrian Historical Yearbook  (), S. –; Michael Pammer: Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im . Jahrhundert, Stuttgart ; Berend/Ránki: Economic Development; Frantz Baltzarek: Integration im Habsburgerreich, in: Eckardt Schremmer (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht, Stuttgart , S. –.



Von wirtschaftlicher Rückständigkeit zur modernen Arbeitsteilung?

onaleinkommens“, also des jeweiligen Sozialprodukts beider Teile der Monarchie veranschaulichen lässt.³⁶ Zwischen  und  stieg das ungarische Nationaleinkommen von  Mio. Kronen auf , Milliarden Kronen an, während das österreichische sich von , Kronen auf , Milliarden Kronen erhöhte. Damit verneunfachte sich das ungarische Sozialprodukt fast, während das österreichische sich im selben Zeitraum etwa versechsfachte. Nahm das sozioökonomische Gefälle zwischen Österreich und Ungarn im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte langsam ab, so blieben erhebliche regionale Unterschiede innerhalb der Kronländer bestehen. Dies belegen die nach wie vor markanten Unterschiede des Pro-Kopf-Einkommens.³⁷ Während das geschätzte Durchschnittseinkommen im Jahr  in Niederösterreich bei  Kronen, in Böhmen bei  Kronen und in Tirol bei  Kronen lag, verdiente der Einzelne in der Krain  Kronen, in Galizien  Kronen und in Dalmatien  Kronen.³⁸ Die größte Ungleichheit innerhalb der Kronländer wiederum trat in Niederösterreich, dem wirtschaftlich stärksten, ethnisch homogenen Kronland der Monarchie auf, ³⁹ nicht hingegen in multiethnischen Agrarregionen wie Galizien, jenen Prototypen „relativer Rückständigkeit“, wo die sozialen Unterschiede auch ethnisch überlagert waren. Die Tatsache, dass soziale Lagen in jedem Kronland unterschiedliche ethnische Träger hatten, erklärt auch, warum es in der Monarchie nicht zu einer übergreifenden sozialen Opposition, wie in westlichen Arbeiterparteien kam, sondern die deutsch geprägte, österreichische Sozialdemokratie im frühen . Jahrhundert eine Interessenallianz mit der Regierung zu formen begann. Während die Wiener Regierung auf der politischen Ebene ethnische Ungleichheit durch Verrechtlichung immer mehr einzuebnen suchte,⁴⁰ agierte sie im wirtschaftlichen Raum entgegengesetzt. Große ökonomische Ungleichheit wurde hier nicht mittels regionaler Ausgleichspolitik zu nivellieren gesucht, sondern blieb bestehen und wurde zur Grundlage jener „modernen Arbeitsteilung“, die Liefer- und Absatzzonen räumlich verteilt und disparate soziale Milieus und ethnische Gruppen durch Profitabilität und Wachstum partiell zu verbinden sucht – eine Arbeitsteilung mithin, welche der ungarische Historiker Jeno Szücs ³⁶

³⁷ ³⁸ ³⁹ ⁴⁰

Peter Hanák: Ungarn in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie – Übergewicht oder Abhängigkeit?, in: ders., Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates, Wien , S. –, hier S. . Good, Aufstieg, S. . Komlosy, Innere Peripherien, S. . Pammer, Entwicklung und Ungleichheit, S. –. Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs –, Wien .

Ulrike von Hirschhausen



als „Abbild jener Arbeitsteilung, die die moderne Weltwirtschaft ins Leben gerufen hatte“ bezeichnet hat. Gerade weil der Habsburgermonarchie die Einbindung in die westlichen Märkte seit der frühen Neuzeit nicht gelungen sei, war „eine westlich-industrielle und eine östlich-agrarische Arbeitsteilung innerhalb (ihres) … eigenen ostmitteleuropäischen politischen Rahmens“ ihre spezifische Alternative geworden.⁴¹ Produktivität und Profitabilität dieser gegenseitigen Dependenz banden die unterschiedlichen ethnischen Gruppen weiterhin an das Empire, auch als die politischen Konflikte um nationalen Ausgleich das österreichische Parlament bereits blockiert hatten. Konfliktstoff löste die wirtschaftliche Ungleichheit vor allem dann aus, wenn ökonomische Potenz nicht mit politischer Partizipation einherging. Dies traf vor allem auf die tschechische Gesellschaft zu, wo die Kluft zwischen wirtschaftlicher Dominanz und politischer Nachrangigkeit zunehmend größer wurde. Doch auch hier zeichneten die Tschechen bis ins vorletzte Kriegsjahr noch österreichische Kriegsanleihen, ebenso wie die österreichischen und ungarischen Eliten das Wirtschafts- und Zollbündnis, das im Ausgleich angelegt war, bis  immer wieder verlängerten. Für die agrarischen und industriellen Eliten in Österreich und Ungarn begründete die Profitabilität der gegenseitigen Verflechtung und Abhängigkeit eine dauerhafte Interessenallianz, die von der österreichischen Sozialdemokratie zunehmend mitgetragen wurde. An die Stelle der Interpretationsfigur wirtschaftlicher Rückständigkeit, welche die Historiographie zur Habsburgermonarchie bis heute prägt, tritt damit die Deutung einer modernen Arbeitsteilung, die disparate soziale Milieus und heterogene ethnische Gruppen in unterschiedlichem Maße integrieren konnte. Aus ihrer wirtschaftlichen Entwicklung vor  lässt sich der Zerfall der Monarchie nicht begründen. Zur Deutung des imperialen Wirtschaftsraums als Integrationsfaktor tragen seine Historisierung ebenso bei wie die gegenwärtigen Anregungen einer neuen politischen Ökonomie, die Wachstumsfragen mit Verteilungsfragen verbindet und von der Frage „Cui bono?“ nicht ablässt. Gerade für die ethnisch vielfältigen Gesellschaften des östlichen Europas kann sich die Rückkehr einer politischen Ökonomie als konstruktiver Weg erweisen, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wieder miteinander zu verbinden.

⁴¹

Jeno Szücs: Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main , S. .

Pommern – eine rückständige Provinz Preußens? Rudolf von Thadden †

Pommern gehörte zu den altpreußischen Provinzen, die gern als rückständig bezeichnet wurden. Dabei blieb freilich vielfach offen, was darunter konkret zu verstehen sei: ein wirtschaftlich wenig entwickeltes Land, ein städtearmes Gebiet, in dem das „platte Land“ übermäßig den Ton angab, eine Region mit geringen kulturellen Einrichtungen oder ein Land mit einer antiquierten gesellschaftlichen Ordnung? In der neuen Forschung bringt man dies alles auf den Begriff eines Defizits an Modernisierung.¹ Unter diesen Umständen lohnt es sich, nach der konkreten Anwendbarkeit des Begriffs der Rückständigkeit zu fragen.² Und dies umso mehr, als in der neueren Forschung die Notwendigkeit einer Differenzierung dieses Verdikts hervorgehoben wird. So schlägt Manfred Hildermeier in seinem Opus magnum über die Geschichte Russlands vor, von Rückständigkeit nur noch im Feld zwischen einem „Transfer“ von Technik und Bildung und einer „Verflechtung“ der Kulturen zu sprechen, und zwar je nach den Besonderheiten von Epochen und Sachgebieten. Entsprechend würden sich generelle Zuweisungen verbieten, ohne dass der Begriff völlig unbrauchbar werde.³ Bei einigen Prozessen reicht es allerdings nicht aus, nur nach Entwicklungen in einer einzigen Epoche zu fragen. So beginnt der Eintritt in die moderne Welt nicht erst mit der Französischen Revolution. Und viele Institutionen, die das politische und soziale Leben im . Jahrhundert bestimmten, waren bereits ¹

² ³

Dirk Mellies: Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im . Jahrhundert, Göttingen , S. ,  und –. Zur Geschichte Pommerns ferner Werner Buchholz (Hg.): Pommern, Berlin , (= Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. –. Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge, MA , S. –. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München , S. –.

Rudolf von Thadden †

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in der frühen Neuzeit ausgeprägt und verlangten nach Reformen. Sie reichten mit Brechungen und Abwandlungen bis ins . und . Jahrhundert hinein.⁴ Besonders deutlich wurde dies bei einem Vorgang, der in der Diskussion über die Rückständigkeit bisher nicht genügend reflektiert worden ist: dem Vorgang der Entfeudalisierung.⁵ Die Stände verloren nämlich in der Zeit der Französischen Revolution nicht überall in Europa gänzlich ihre Macht. Sie waren vielmehr einerseits bereits im Zeitalter des Absolutismus geschwächt worden und wirkten dann andererseits gerade in den meisten Regionen Zentraleuropas auch noch in die nachrevolutionäre Zeit hinein. Entfeudalisierung war ein langwieriger Prozess, der nicht deckungsgleich ist mit dem viel beschriebenen der Demokratisierung.⁶ Für ein als rückständig bezeichnetes Gebiet wie Pommern hatte dieser Vorgang eine tiefgreifende Bedeutung. Er machte das Problem der Modernisierung insofern komplizierter, als diese mehr gegen die als mit den Ständen erfolgte und damit Fortentwicklungen zu späteren zivilgesellschaftlichen Körperschaften erschwerte. Der Staat, das heißt der Gesamtstaat Preußen, wurde zum Motor in fast allen Bereichen der Modernisierung, nicht jedoch die Gesellschaft. In der älteren Preußenforschung wurde dieses Problem mit extrem weniger staatskritischer Distanz gesehen. So charakterisiert der bedeutende PreußenHistoriker Otto Hintze die „enge, dumpfe Welt“ der ostelbischen Territorien als Ausdruck und Ergebnis von jahrhundertealter „Kleinstaaterei“, die nur durch die Machtentfaltung des werdenden preußischen Großstaats schrittweise überwunden worden sei.⁷ Danach ist auch Pommern nur durch seine Integration in die Hohenzollernmonarchie in die moderne Welt hineingewachsen, also aus seiner rückständig wirkenden Provinzialität herausgetreten. Entsprechend war das, was das Land in den Augen der preußischen Reformer in seiner Entwicklungsfähigkeit hemmte, das althergebrachte Ständewesen. Die ständischen Vertretungen verfolgten angeblich nur lokale Interessen und blockierten damit notwendige wirtschaftliche und politische Neuerungen. So ⁴ ⁵





Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. , –, München , S. –. Zum Problem der Entfeudalisierung am Beispiel der Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit vgl. Monika Wienfort: Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht –/, Göttingen , S. –. Zur Modernisierung des Rechtswesens trug wesentlich auch das in Pommern eingeführte „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ bei. Vgl. dazu Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang –, München ², S. –. Otto Hintze: Geist und Epochen der preußischen Geschichte, in: Gerhard Oestreich (Hg.): Gesammelte Abhandlungen, Bd. : Regierung und Verwaltung, Göttingen , S. .

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Pommern – eine rückständige Provinz Preußens?

urteilte der preußische Staatsrat Carl Friedrich von Beyme im Zusammenhang der auch für Pommern verbindlichen Stein-Hardenberg’schen Reformen, dass die Landstände „eine Geburt der finsteren Zeiten des Mittelalters“ seien. Sie seien „ihrem Wesen nach egoistisch und haben ein jeder das Interesse seines Standes zu vertreten, nach dessen Ansichten und Aufträgen.“⁸ In diesem Urteil kam offensichtlich auch eine Kritik an den sozialen Implikationen der Ständeordnung zum Ausdruck. Denn die provinzialständischen Landtage privilegierten den Adel und die besitzenden Kreise in den Städten; sie entsprachen nicht den Anforderungen einer modernen Volksvertretung. In der Sicht der preußischen Reformer waren sie rückständig.⁹ Dieses Urteil war nicht unbegründet. Im Vergleich mit anderen preußischen Provinzen war Pommern besonders stark den Strukturen und Lebensformen des Ancien Régime verhaftet. Es hatte keine vom Geist der Aufklärung geprägte Universität wie Königsberg in Ostpreußen mit seiner Ausstrahlung auf die Reformkräfte im Lande. Es war trotz seiner jahrzehntelangen Teilung in einen brandenburgischen und einen schwedischen Landesteil weniger auf staatliche Integrationskräfte angewiesen als das aus der Habsburger Herrschaft herausgelöste Schlesien mit seinen religionsgeschichtlichen Lasten aus der Zeit der Gegenreformation. Und es hatte nicht in seiner Mitte eine gesamtstaatliche, aufstrebende Regierungszentrale wie die Mark Brandenburg in Berlin.¹⁰ Im . Jahrhundert kamen wirtschaftliche Gründe für die weitreichende Rückständigkeit Pommerns hinzu. Die Entwicklung des Eisenbahnnetzes berücksichtigte wenig die abgelegene Provinz; die große Linie der Ostbahn nach Ostpreußen führte an ihr vorbei und auch der Ausbau des Straßennetzes kam nur langsam voran.¹¹ Eine gewisse Ausnahme bildete die Landeshauptstadt Stettin, die mit ihrem Hafen an der Odermündung einen Kristallisationspunkt für die sonst nur schleichende Industrialisierung des Landes bildete.¹² Seit dem Wiener Kongress von  hatten sich auch durch den Anschluss des Rheinlandes und Westfalens an Preußen die Gewichte innerhalb des Ho⁸ ⁹ ¹⁰ ¹¹

¹²

Karl Friedrich von Beyme, Bericht vom .., zit. nach Thomas Stamm-Kuhlmann: Pommern –, in: Buchholz (Hg.), Pommern, S. –, hier S. . Zu Carl August Fürst von Hardenberg: Hans Hausherr und Walter Bussmann, Artikel in NDB, Bd. , , S. –. Zur Geschichte Schlesiens: Norbert Conrads: Schlesien, in der Reihe: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin , S. –. Heinrich v. Stephan: Geschichte der Preußischen Post von ihrem Ursprung bis auf die Gegenwart, Berlin , Reprint Heidelberg , S.  u. ; ferner Wolfgang Klee: Preußische Eisenbahngeschichte, Stuttgart , S. – u.  f. sowie Mellies, Modernisierung in der preußischen Regierung?, S. –. Martin Wehrmann: Geschichte von Pommern, Gotha ², Reprint Würzburg .

Rudolf von Thadden †

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henzollernstaates weiter nach Westen verschoben. Nun war Pommern noch stärker an den Rand der Monarchie geraten und hätte vor allem wirtschaftlich an gesamtstaatlicher Bedeutung verloren. Mit dem sich entwickelnden Ruhrgebiet konnte die ostelbische Agrarprovinz nicht konkurrieren.¹³ Trotzdem wäre es irrig, aus diesem Sachverhalt zu folgern, dass die Herrschaftseliten Pommerns sich fortan als minderrangig fühlten. Wirtschaftliche Stärke erschien ihnen nicht unbedingt als politischer Vorrang und industrielle Macht begründete vor allem für den Adel keinen Anspruch auf politische Vorherrschaft. Rückständigkeit war für sie allenfalls eine auf technische Leistungen anwendbare Kategorie.¹⁴ Umso mehr ist zu fragen, welche Wirkungen die europäische Revolution von  auf Pommern gehabt hat. Hat sie in dieser Provinz größere Veränderungen hervorgebracht als in anderen Gebieten des preußischen Staates? Oder hat sie im Rückschlag die beharrenden Kräfte gestärkt und zu Verzögerungen notwendiger Modernisierungsschritte beigetragen?¹⁵ Hier zeigt sich deutlich, dass der Begriff der Modernisierung nicht ausreicht, um das ganze Feld dessen zu beschreiben, welches zur Behebung von Defiziten erforderlich ist.¹⁶ Es war möglich, dass Pommern an dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt der Jahrzehnte nach der er-Revolution teilnahm und doch kulturell und gesellschaftlich im bezeichneten Sinne rückständig blieb. Dampfmaschinen und Dreiklassenwahlrecht konnten Hand in Hand gehen, also als Ausdruck einer „partiellen Modernisierung“ gelten.¹⁷ In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, eine Institution des geistigen und politischen Lebens zu erörtern, die für das Verhalten von sozialen Gruppen von erheblicher Bedeutung ist: die Kirche. Sie hatte ihre eigene Geschichte, die nicht notwendig mit der politischen des Landes übereinstimmte, und ge-

¹³

¹⁴ ¹⁵ ¹⁶ ¹⁷

Rüdiger Schütz: Zur Eingliederung der Rheinlande, in: Peter Baumgart (Hg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neu gewonnener Gebiete in den preußischen Staat, Köln, Wien , S. –. Vgl. Theodor Fontane: Der Stechlin, hrsg. von Helmuth Nürnberger, ³München , S. –. (Brief der Domina an Woldemar). Reinhart Koselleck: Wie europäisch war die Revolution von /? in: ders., Europäische Umrisse deutscher Geschichte, Heidelberg , S. –, hier S. –. Hildermeier Geschichte Russlands, S. –. Christian Graf v. Krockow: Die Reise nach Pommern. Bericht aus einem verschwiegenen Land, Stuttgart , S. –; ferner Dietrich Rüschemeier: Partielle Modernisierung, in: Wolfgang Zapf: Theorien des sozialen Wandels, Königstein/Ts. , S. -, hier S. .

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Pommern – eine rückständige Provinz Preußens?

horchte auch weitgehend anderen Gesetzen. Sie hatte auch ihre eigenen Bewegungen.¹⁸ Zunächst war die pommersche Landeskirche, die dem lutherischen Bekenntnis angehörte, weniger in den Gesamtstaat der Hohenzollern integriert als die „weltlichen“ Institutionen. Sie behielt ihr eigenes Konsistorium und ihre eigene Kirchenordnung. Ein Oberkonsistorium für den gesamten preußischen Staat entstand erst unter der Regierung Friedrich des Großen Mitte des . Jahrhunderts.¹⁹ Sodann erfolgte , am . Jahrestag der Reformation, die Gründung einer Verwaltungsunion mit der Minderheit der Calvinisten im Gesamtstaat Preußen, die auch die Provinz Pommern betraf. Hier allerdings löste sie, mehr als in anderen Provinzen, eine heftige Opposition aus, die die Gestalt eines regelrechten Widerstands gegen die obrigkeitliche Anordnung annahm. In der Folge kam es zu einer „Separation“ der bekenntnistreuen Altlutheraner, die zu einer Lockerung der kirchlichen Bindung an den Staat führte. Dies war ein paradoxes Stück politischen Fortschritts aus kirchlicher Rückständigkeit.²⁰ Schließlich trat  auf Anordnung des Königs eine erste gesamtstaatliche Evangelische Generalsynode zusammen, in der die einzelnen Provinzen, also auch Pommern, vertreten waren. Bemerkenswert war dabei, dass die Synode nicht nur Geistliche, sondern auch Laien umfasste. Außerdem versammelte sie sich ein Jahr vor dem Vereinigten Landtag, sicherte also der kirchlichen Vertretungskörperschaft einen kleinen zeitlichen Vorsprung vor der politischen. Ein Anfang von Parlamentarismus in vormodernem kirchlichen Gewande.²¹ Die Evangelische Kirche in Pommern trat also nicht ganz althergebracht ins nachrevolutionäre Zeitalter ein. Sie war zwar nach wie vor stark von Traditionen des Ancien régime geprägt, aber sie war nicht einfach ein verlängerter Arm des Staates. Durch ihre geschichtlichen Erfahrungswelten hatte sie die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen und, gegebenenfalls, Distanz zu poli-

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Rudolf v. Thadden: Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. , Berlin , –, hier S. –. Otto Hintze: Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, in: Gerhard Oestreich (Hg.): Gesammelte Abhandlungen, Bd. : Regierung und Verwaltung, Göttingen , S. –, hier S. –. Dazu Rudolf v. Thadden: Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik, Göttingen ⁴, S.  f. Verhandlungen der evangelischen General-Synode zu Berlin vom . Juni bis zum . August , Berlin .

Rudolf von Thadden †

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tischen Entscheidungen zu halten. Wenn sie dies nicht tat, war sie deswegen nicht notwendigerweise rückständiger als der Staat.²² Im „Kulturkampf“ der er Jahre stießen die kirchlichen und die staatlichen Kräfte in Preußen aufeinander. Während in den Provinzen mit starken katholischen Bevölkerungsanteilen wie dem Rheinland, Westfalen, Schlesien und auch Posen der Konflikt jedoch in erster Linie mit Rom ausgetragen wurde, erlebte die rein evangelische Provinz Pommern Auseinandersetzungen des Staates mit den konservativen Kräften des Protestantismus. Diese hatten zwar mehrheitlich die Bismarck’sche Reichseinigungspolitik unterstützt, lehnten aber seine liberale, säkularisierungsfreundliche Schul- und Kirchenpolitik ab. Sie gerieten in die Nähe der katholischen Opposition.²³ In der Summe war Pommern allerdings kein besonders ausgeprägtes Schlachtfeld des Kulturkampfs. Da Bismarck den Konflikt schließlich nicht auf die Spitze zu treiben gewillt war, blieb das sprichwörtliche Bündnis zwischen Thron und Altar ungefährdet. Aber das Problem der Säkularisierung blieb auf der Tagesordnung. Diese wirkte in Pommern freilich mehr als Entkirchlichung denn als Demokratisierung, sodass die soziale Ordnung davon nur indirekt berührt wurde. Die Restbestände der ständischen Strukturen blieben unangefochten.²⁴ Wirtschaftlich blieb Pommern auch nach dem Zusammenbruch der Monarchie eine erheblich vom Großgrundbesitz geprägte Provinz. So stellte sich die Frage, wie weit das politisch überholte Ständewesen noch Verhaltensformen, vor allem auf dem Lande, bestimmte und Auswirkungen auf die Wahlorientierung der Bevölkerung hatte. Nun wirkten auf die Entwicklung der Provinz jedoch mehr Kräfte des Deutschen Reichs als Preußens ein; der Prozess der Entfeudalisierung wurde stärker deutschnational als preußen-staatlich durchdrungen.²⁵ Die Nationalsozialisten schließlich stellten die Welt der Kirchen als rückständig dar. Sie nahmen für sich in Anspruch, modernere Konzepte zu vertreten als die mit den alten konservativen Kräften verbündeten Kirchen. Damit zwangen sie diese, sich mit ihren überkommenen Positionen auseinanderzusetzen und frühere staatskirchliche Bindungen aufzulösen. Eine vormoderne ²²

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Vgl. Hermann Theodor Wangemann: Sieben Bücher preußischer Kirchengeschichte. Eine aktenmäßige Darstellung des Kampfes um die lutherische Kirche im . Jahrhundert, Bd. , Berlin , S.  f. Thadden, Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen, S. –. Ders.: Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in: ders.: Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen , S. –, hier S. . Dazu v. Krockow, Die Reise nach Pommern, S. –.

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Pommern – eine rückständige Provinz Preußens?

Denkweise konnte in dieser Frontstellung ein Zufluchtsort auch für Verfechter einer demokratischen Moderne werden.²⁶ Entsprechend formierte sich die kirchliche Opposition um Positionen herum, die das Denkmuster sprengten. Sie blieb verflochten mit den Traditionen der Mitverantwortung für das Land, dessen Lebensbedingungen sie teilte. Aber sie lehnte einen Gleichschritt mit den staats- und nationalkirchlichen Kräften ab, die sich nur am Machterhalt des NS-Staates orientierten. Am Ende stieg die nationalsozialistische Partei zur dominierenden Kraft in Pommern auf, weil sie auf volksgemeinschaftliche Weise antidemokratisches und antiständisches Denken demagogisch miteinander verband. Sie mobilisierte Ängste vor Rückständigkeiten, ohne genau zu sagen, was diese ausmache. Sie beschwor Modernisierungen technischer Leistungen ohne Fortschritte der Zivilisation. Sie übersteigerte nationalistisch die eigene enge Welt ohne Gedanken an das Leben der weiten Welt um die Provinz herum.²⁷ Ein tragfähiges Urteil über wie auch immer differenzierte Rückständigkeiten lässt sich freilich nur im Vergleich von verschiedenen Wirklichkeitsbereichen fällen. So ist es ertragreich, preußische Provinzen mit französischen zu vergleichen, die eine ähnliche Sozialstruktur und Wirtschaftslage gehabt haben. In diesem Sinne lässt sich Pommern etwa neben die Bretagne stellen, die in Frankreich den Ruf einer rückständigen Provinz genießt. Allerdings hatte diese eine radikale Revolution erlebt, die dem Ständewesen ein Ende bereitete. Ließe sich Pommern also als eine Bretagne ohne die Geschichte von  begreifen?²⁸ Es wäre zu einfach, daraus zu folgern, dass Rückständigkeiten allein auf Mängel der Entfeudalisierung zurückzuführen seien. Die Bretagne galt noch lange nach der großen Revolution als eine wenig entwickelte französische Provinz, und zwar auf Grund ihrer dominierenden Ländlichkeit, ihrer ruralité. Während ein solcher Ruf in Deutschland und speziell in Pommern jedoch nicht negativ besetzt war und ist, hat er in Frankreich eine eher abwertende Bedeutung. Ruralité ist das Gegenteil von urbanité.²⁹ ²⁶

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Der linkskonservative Publizist Sebastian Haffner schreibt in diesem Sinne: „Um des Anstandes willen … möchte man jetzt zu einer geschlagenen und geschändeten Kirche sich dann doch auch einmal ,bekennen‘.“ In: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen –, Stuttgart/München ⁵, S. . Vgl. Wofram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik –. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik. Düsseldorf , S. –. Jean Delumeau (Hg.): Histoire de la Bretagne, Toulouse . Der Begriff der urbanité findet sich in Verbindung mit dem der civilisation erstmals bei Mirabeau d. Ä. in seiner Schrift „L’amy des femmes ou traité de la civilisation“ (): „Si je demandois à la plupart, en quoy faites-vous consister la civilisation? on me répondrait,

Rudolf von Thadden †



Die Bretagne war durch ihren Ruf, eine „province rurale“ zu sein, also mehr belastet als Pommern. Bei ihr ging es nie nur um ökonomische Defizite, sondern immer auch um kulturelle. Weil in Frankreich die Stadt, nämlich Paris, das Signal zur Überwindung des Ancien Régime gegeben hatte, litt das konservative flache Land unter dem Ruf, rückständig zu sein. Das konnte in Preußen mit seiner völlig anderen Geschichte nicht der Fall sein.³⁰ So war es sicher kein Zufall, dass die substanzreichste Auseinandersetzung mit dem Problem des zu Ende gehenden Ancien Régime von einem französischen Grafen aus der Provinz, von Alexis de Tocqueville aus der Normandie, vorgenommen wurde. In seinem großen Werk „L’Ancien Régime et la Révolution“ resümiert er: „Paris, das mehr und mehr der einzige Lehrmeister Frankreichs geworden war, vermittelte schließlich allen Geistern gleiche Formen und einen gemeinsamen Stil.“ Und er fügt hinzu: „Fast im gesamten Königreich [war] das Eigenleben der Provinzen seit langer Zeit erloschen.“³¹ Ein solcher Zentralismus war in Preußen nicht gegeben. Folglich behaupteten sich die Provinzen hier besser gegen die Hauptstadt. Es bleibt die Frage, ob „Rückständigkeiten“ auch brauchbare Bausteine auf dem Weg zur Errichtung einer modernen Gesellschaft liefern können. Gibt es Verbindungen zwischen dem Ständewesen und der parlamentarischen Demokratie? Kann sich der Kampf um Stärkung der Partizipationsrechte auf Traditionen der Mitwirkungen in den ständischen Landtagen stützen? Argumente für eine positive Beantwortung dieser Fragen wird man eher in der britischen als in der französischen Geschichte finden. Während in dieser eine Bildung von Volksvertretungen nur über einen Bruch mit den alten Ständevertretungen führte, vollzog sich in jener eine konfliktreiche Weiterentwicklung ständischer Körperschaften zu einem modernen Parlamentarismus.³² In Preußen ging man Zwischenwege, die häufig mehr von Hoffnungen als

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³¹ ³²

la civilisation d’un peuple est l’adoucissement de ses moeurs, l’urbanité, la politesse et les connoissances répandues de manière que les bienséances y soient observées et y tiennent lieu de loix de détail […]“, zit. nach: Jörg Fisch: Zivilisation, Kultur, in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. , Stuttgart , S. –, hier S. . Rudolf v. Thadden: Paris in der Zeit der Restauration. Weltstadt ohne Selbstverwaltung, in: Ilja Mieck (Hg.), Paris und Berlin in der Restaurationszeit (–). Soziokulturelle und ökonomische Strukturen im Vergleich, Sigmaringen , S. –, hier S. –. Alexis de Tocqueville: Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart , S.  f. und . Vgl. Rudolf v. Thadden: Guizot et la pensée allemande, in: François Guizot et la culture politique de son temps, ed. par Marina Valensise, Paris .

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Pommern – eine rückständige Provinz Preußens?

von realen Gegebenheiten geprägt wurden. Nachdem es in den Kernprovinzen seit der Mitte des . Jahrhunderts keine Landtagssitzungen mehr gegeben hatte und am Ende der Freiheitskriege gegen Napoleon zu keiner Ausbildung eines modernen Verfassungsstaates gekommen war, traten schließlich nur halbständische Provinziallandtage zusammen. , also ein Jahr vor Ausbruch der er-Revolution, ließ sich der König noch bewegen, einen gesamtstaatlichen Vereinigten Landtag einzuberufen, der freilich mehr ständische als parlamentarische Grundlagen hatte.³³ Die Provinz Pommern hatte an diesen Entwicklungen weniger teil als Ostpreußen. In dieser entlegenen Provinz gelang es den Provinzialständen, Rechte der Partizipation zu erkämpfen, die vom Geist der Reformer geprägt waren. Man versuchte, einen harten Bruch mit dem Bestehenden zu vermeiden, und mit den Ständen, nicht gegen sie liberale Erneuerungen durchzusetzen.³⁴ Das war in Pommern kaum vorstellbar, weil die dortigen Stände schwächer waren als in Ostpreußen und die Kräfte einer wie auch immer gearteten Modernisierung fast nur vom Gesamtstaat Preußen ausgingen.³⁵

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Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte –. Bürgerwelt und starker Staat, Bd. , München , S.  f. u. . Vgl. Lothar Graf zu Dohna: Die Dohnas und ihre Häuser. Profil einer europäischen Adelsfamilie, Bd. , Göttingen , S.  f. Vgl. Wolfgang Neugebauer: Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart ; neuerdings auch Dohna: Die Dohnas, Bd. , S.  f. und Bd. , S.  f.

Alter Glaube, neue Perspektiven? Das Paradox der russischen Altgläubigen (–) insbesondere in Lettland Verena Dohrn

„So erschöpfen sich (z. B.) die Begründer des Christentums – diese direkten Nachfolger der Propheten – in unaufhörlichen Verkündigungen des Weltunterganges und verwandeln seltsamerweise tatsächlich diese Welt.“ – Ernest Renan.¹

I. Gegenwart der Geschichte – die russischen Altgläubigen in Lettland Seit dreihundert Jahren leben russische Altgläubige in Lettland.² Sie gehören zu den Priesterlosen, zu den Fedoseevcy, die sich in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts den Pomorcy annäherten.³ Der östliche Landesteil, Latgale [Lettgallen], und die Hauptstadt Riga sind die beiden lettländischen Zentren des sta¹ ²

³

Ernest Renan: Geschichte des Volkes Israel, Bd. , Berlin , S. . Der vorliegende Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Habilitationsvortrags vor der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen im Frühsommer . In russischer Übersetzung ist eine Kurzform des Vortrags erschienen (Verena Dorn: Starovery – archaisty ili novatory?, in: Illarion I. Ivanov (Hg.): Staroverie Latvii, Riga , S. –). Arnol’d A. Podmazov: Staroobrjadčestvo v Latvii, Riga ; Arnolds A. Podmazovs: Vecticība Latvijā, Rīga ; Peter Hauptmann: Rußlands Altgläubige, Göttingen , S. –; Nadežda Pazuhina: Kulturpraktiken der russisch-orthodoxen Altgläubigen Lettlands. Erfahrung von Stabilität und Wandel in priesterlosen Gemeinschaften (–  und –), Saarbrücken . Von Anfang an entwickelten sich die Gemeinden des Alten Glaubens in zwei Richtungen, die der Priesterlichen und die der Priesterlosen. (Mehr dazu siehe Kap. III:). Die Fedoseevcy sind nach den Anhängern des Feodosij Vasil’ev (er–) aus Novgorod benannt, der die ersten Altgläubigen-Gemeinden jenseits der russländischen Staatsgrenze, im polnisch regierten Livland gründete. Die Fedoseevcy repräsentieren eine der beiden großen Richtungen innerhalb der priesterlosen Altgläubigen, die sich nach dem Konzil von Novgorod  spalteten. Die andere wird durch die pomorcy repräsentiert, die im äußersten Norden, im Küstengebiet des Weißen Meeres und der Barentssee lebten, wonach sie benannt wurden.



Alter Glaube, neue Perspektiven?

roverie [Alter Glaube], auch staroobrjadčestvo [Altritualismus] genannt. In der Moskauer Vorstadt von Riga residiert die Grebenščikov-Gemeinde. Sie feierte  ihren . Geburtstag.⁴ Obgleich sie fast ein Drittel aller Altgläubigen in Lettland repräsentiert, ist sie doch nur eine von  registrierten Gemeinden im Land.⁵ Neben Riga und Daugavpils ist Rēzekne ein Mittelpunkt des Alten Glaubens in Latgale. Rēzekne (deutsch: Rossitten, polnisch: Rzeżyca, russisch: Režica) ist eine der neun Republikstädte und nach Daugavpils das zweitgrößte urbane Zentrum im östlichen Landesteil, etwa  km von der Grenze zu Russland entfernt, am Knotenpunkt der Fernstraßen und Eisenbahnlinien von Petersburg nach Warschau und von Moskau nach Riga gelegen. Im Kreis Rzeżyca hatten von der russisch-orthodoxen Kirche und dem zarischen Staat als Schismatiker und Staatsfeinde Verfolgte bereits Ende des . Jahrhunderts, als der Ort zu Polnisch Livland gehörte, Gemeinden gegründet, in sicherer Entfernung von der russischen Grenze, aber dennoch nicht weit vom alten Handels- und Heerweg von Novgorod über Pskov nach Süden.⁶ Für die Stadt ist die Existenz einer Gemeinde des Alten Glaubens jedoch erst unter russischer Herrschaft, nicht vor der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts verbürgt,⁷ auch wenn die ersten einige Hundert umfassenden Zuwanderer bereits im Jahr  registriert wurden.⁸ Nach der Volkszählung von  hatte die damalige Kreisstadt Režica im Gouvernement Vitebsk gut . Einwohner, von denen fast die Hälfte Juden, mehr als ein Drittel vorwiegend lettische Katholiken und gut ein Fünftel Russen waren, wobei die Altgläubigen die RussischOrthodoxen überwogen. Demnach stellten die Altgläubigen damals in Režica die drittgrößte Konfessionsgruppe.⁹ Rēzekne war und ist in Maßen noch heute ein typisches Städtchen im osteuropäischen Grenzland. Es hatte eine vielfäl⁴

⁵ ⁶ ⁷

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Julius Eckardt: Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga, in: Ders.: Bürgertum und Büreaukratie. Vier Kapitel aus der neuesten livländischen Geschichte, Leipzig , S. –; Arnolds A. Podmazovs: Rižskie starověry. Rīgas vecticībnieki. The Old Believers of Riga, Riga . Hauptmann, Rußlands Altgläubige, S. . Vladimir Nikonov: Staroobrjadčestvo Latgalii (voprosy chronologii), in: Illarion I. Ivanov (Hg.): Staroverie Latvii, Riga , S. –, hier S. . Ebda., S. ; ders.: Iz istorii Režickoj kladbiščenskoj staroobrjadčeskoj obščiny (– ), in: Illarion I. Ivanov (Hg.): Russkie v Latvii. Iz istorii i kul’tury staroverija, Bd. , Riga ², S. –. Ders.: Rezekne. Očerki, istorii s drevnejšich vremen do Aprelja  goda, Riga , S. . Ebda., S. , , . In den er Jahren überwogen nach Volkszählungen die Altgläubigen die Russisch-Orthodoxen im Kreis Rēzekne um das Sechsfache (: . zu .; : . zu .), vgl. Illarion I. Ivanov: Priloženie, in: ders. (Hg.), Russkie v Latvii. Bd. , Riga , S. .

Verena Dohrn

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tige ethnisch-konfessionelle Bevölkerungsstruktur, im Stadtbild repräsentiert durch die Gotteshäuser. Bis zum Zweiten Weltkrieg standen den Einwohnern fünf Kirchen – eine russisch-orthodoxe, eine des edinoverie ¹⁰, zwei katholische, eine protestantische – und ein gutes Dutzend Bethäuser –, mehr als zehn jüdische und zwei altgläubige – zur Verfügung. Das Bethaus der altgläubigen Preobraženskaja [Verklärungs-]Gemeinde wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, die Gemeinde  aufgelöst. Dagegen hielt die altgläubige Kladbiščenskaja [Friedhofs-]Gemeinde den Weltkriegen und der sowjetischen Politik des offiziellen Atheismus trotz vieler Schwierigkeiten stand. Die Gemeinde führt keine Kirchenbücher, aber an der Zahl der Beichtenden und der Gottesdienstbesucher registriert sie zunehmenden Zulauf und wachsendes Interesse.¹¹ Eine Besonderheit in Rēzekne ist die historische Präsenz eines der namhaftesten Altgläubigen-Intellektuellen im . Jahrhundert – Ivan Nikiforovič Zavoloko (–). Geprägt, gequält und herausgefordert von den großen Umbrüchen im östlichen Europa durch den Ersten Weltkrieg, die russische Revolution, die Errichtung der ersten lettischen Republik und den Terror des Stalinisismus entwickelte Zavoloko ein vielfältiges Engagement als Forscher, Sammler, Lehrer, Publizist, Regionalhistoriker und Gemeindeleiter, der sich genealogisch auf die ersten flüchtigen Altgläubigen aus Russland in Latgale zurückführte. Im Prager Migrantenmilieu akademisch sozialisiert, verband er moderne Wissenschaften und Techniken mit russischer Nationalromantik und der Frömmigkeit und dem Traditionsbewusstsein des Alten Glaubens. In seinem Handeln überschnitten und bündelten sich die verschiedenen Kreise, woraus synergetische Effekte entstanden. Zavoloko war in Rēzekne geboren und aufgewachsen, leitete dort die Friedhofsgemeinde und wurde ebenda begraben.¹² Geschichte, Tradition, Religion, die Kulturpraktiken des Alten Glaubens wurden seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Lettland wieder zu einem gesellschaftlichen, mehr noch, gesellschaftspolitischen Faktor. Nach einer fünfzigjährigen Zwangspause sind die starovery seit  wieder auf Landesebene organisiert, als Religions- sowie als Kultur- und Interessengemeinschaft, die ¹⁰

¹¹

¹²

Als edinoverie [‚Einglauben‘ (Hauptmann) oder ‚Glaubenseinheit‘ (Smolitsch)] bezeichnet man die Richtung der Altgläubigen, die mit der Russisch-Orthodoxen Kirche eine Union einging. Sie entstand Ende des . Jahrhunderts, wurde  rechtlich anerkannt und später, unter Nikolaus I., zu einem zwangspolitischen Mittel gegenüber dem Alten Glauben, vgl. Hauptmann: Russische Altgläubige, S. –. Diāna Krastia [u. a.]: Unterwegs im Land der blauen Seen. Die AltgläubigenGemeinden im östlichen Teil Lettlands. Ein Exkursionsbericht, Göttingen , S. – . Illarion I. Ivanov, Ioann Miroljubov (Hg.): Pamjati Zavoloko Ivana Nikiforoviča. Sbornik statej i materialov, posv. -letiju I. I. Zavoloko, Riga .

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Anspruch auf Teilhabe an Gesellschaft, Wissenschaft und Politik erhebt. Das räumliche Zentrum der diversen Aktivitäten bildet der Gebäudekomplex der Grebenščikov-Gemeinde in Riga. Dort befinden sich neben Kirche und Gemeindehaus auch die arebenščikov-Schule, das Geistliche Seminar, die Redaktion des Printmediums der lettländischen Altgläubigen Pomorskij vestnik sowie die Räume der Altgläubigen-Gesellschaft Lettlands. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit dem Institut für Philosophie und Soziologie der Lettländischen Universität. Resultate der Kooperationen sind Konferenzen, Forschungs- und Publikationstätigkeit und Bildungsarbeit.¹³ Erneutes Interesse an und Engagement für den Alten Glauben entstanden im postsowjetischen östlichen Europa nicht in erster Linie aus wissenschaftlichen, sondern vorrangig aus gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Beweggründen. Maßgeblichen Anstoß zur forcierten Auseinandersetzung mit der historischen Protestbewegung gab die brisante politische Lage der russischen Altgläubigen im unabhängigen Lettland. Sie gehören im postsowjetischen lettischen Nationalstaat vor allem in der Hauptstadt zur dominierenden russischsprachigen Minderheit. Aus russischer Perspektive befindet sie sich „im nahen Ausland“, wo sie zeitweilig als Spielball russisch-lettischer bilateraler politischer Beziehungen instrumentali¹³

– sind vier Konferenzbände erschienen: Illarion I. Ivanov (Hg.): Russkie v Latvii. Istorija i sovremennost’,  Bde.: Bd. : , Bd. : , Bd. : , ²; ders.: Staroverie Latvii. Dass die russischen Altgläubigen in der lettländischen Gesellschaft angekommen sind, zeigt der Konferenzband „Modernitāte: Filosofija, kristīgās vērtības, mutvārdu vēsture Latvijā“ [Moderne: Philosophie, Christliche Werte, Mündliche Geschichte Lettlands], herausgegeben vom Institut für Philosophie und Soziologie der Akademie der Wissenschaften, Riga , mit der Abteilung „Die russischen Altgläubigen als ethnokonfessionelle Gemeinschaft innerhalb der lettländischen Gesellschaftsstrukturen“. Des Weiteren erschienen die vier Sammelbände: Meždunarodnye Zavolokinskie čtenija. Sbornik, vyp.  Riga , vyp.  Riga . Illarion I. Ivanov (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija, vyp. –, Riga . Im Jahr  wurde die erste Dissertation über die Altgläubigen Lettlands unter dem Aspekt ihrer Kulturpraktiken in der vor- wie in der postsowjetischen Moderne als deutschsprachige Monographie publiziert (Pazuhina, Kulturpraktiken). Weitere Publikationen sind: Nadežda Pazuhina: The Significance of the Old Believer Culture in Latvia for Creating the Concept of “Local Russians”. Historiography Materials from the s to the Beginning of the th Century, in: Vladislavs Volkovs, Deniss Hanovs, Inese Runce (Hg.): Ethnicity. Towards the Politics of Recognition in Latvia, –, Riga , S. –; Viktorija S. Aleksandrova: Bikadorova daiļrades īpatnības viņa reliģisko uzskatu kontekstā, in: Solveiga Krmia-Kokova (Hg.): Reliģiozitāte Latvijā. Vēsture un mūsdienu situācija, Riga , S. –; Nadežda Pazuhina: Vecticības kultūrvēsturiskā pieredze Latvijā . gadsimtā. Draudze kā vecticībnieku kopienas pašorganizācijas forma, in: Solveiga Krūmiņa-Koņkova (Hg.): Reliģiozitāte Latvijā. Vēsture un mūsdienu situācija, Riga , S. –.

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siert wird und sich dagegen zu behaupten sucht. In den neuen Forschungen und Publikationen zu den russischen Altgläubigen in Lettland geht es um kulturelle und religiöse Selbstverortung, um Differenzierung der russischsprachigen Minderheit und um politische Anerkennung. Indem sich die lettländischen Altgläubigen ihrer Geschichte vergewissern, beweisen sie die Legitimität ihres Anspruchs auf Bürgerrechte und kreative Mitgestaltung der Zivilgesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Die westliche Einbindung Lettlands durch die EUMitgliedschaft verschärft das Problem der bilateralen Beziehungen zwischen Lettland und Russland, verhindert jedoch zugleich nationalstaatliche Alleingänge und schützt die Minderheiten der Grenzregion. Die neue Situation liefert Material und Fragestellungen für neue wissenschaftliche Annäherungen an den Gegenstand. Sie legt es nahe, das Paradigma über die Rückständigkeit gesellschaftlicher Prozesse im östlichen Europa in Zweifel zu ziehen, und das Verhältnis von Tradition und Moderne grundsätzlich neu zu betrachten. War im Fall der russischen Altgläubigen nicht gerade das Festhalten an alten Formen Teil einer Gegenkultur, die erstaunlich erfolgreich mit den Herausforderungen der Moderne zurechtkam? Zeigt sich am paradoxen Phänomen des Alten Glaubens nicht, dass das Paradigma der vom westeuropäischen Fortschrittsmodell definierten Rückständigkeit Osteuropas eben nicht in der Lage ist, die historischen Realitäten zu erfassen? Angesichts des verstärkten Interesses am Alten Glauben und an der Erneuerung der Bewegung im postsowjetischen Osteuropa stellt sich die Frage an die Geschichte, wie die Gemeinschaften, die sich auf vorschismatische, altrussische Traditionen berufen, trotz Verfolgung und Ausgrenzung, trotz negativem Verhältnis zur Welt nicht nur überlebten, sondern sich als lebendig, modern und zukunftsträchtig erweisen. Die Gegenwart des Alten Glaubens und seiner Geschichte in Lettland dient als Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage, denn sie gibt ein – im Vergleich zu Russland – ausgezeichnetes Beispiel relativer Kontinuität, sozialer Diversität und Modernität der Bewegung. Anders als in Russland nutzten die Altgläubigen im Lettland der Zwischenkriegszeit die mit dem Toleranzedikt von  gegebene Möglichkeit, ihre kulturellen Praktiken, ihr Selbst- und ihr Staatsverständnis beziehungsweise ihr Verhältnisses zur umgebenden Gesellschaft neu, das heißt positiv, zu formulieren und weiterzuentwickeln. Sie ergriffen diese einzigartige Chance, fügten sich in eine im Ansatz demokratische und rechtsstaatliche moderne Gesellschaft ein und knüpften nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an diese Tradition an.¹⁴

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Pazuhina, Kulturpraktiken, S. .



Alter Glaube, neue Perspektiven?

II. Zur Rezeptionsgeschichte Der Alte Glaube, von seinen Gegnern auch einfach als Schisma (raskol) bezeichnet, war eine Protestbewegung in der russischen Geschichte, die dem Widerstand gegen die ‚Nikon’sche Reform‘ Mitte des . Jahrhunderts entsprang. Je nach Blickwinkel und Erkenntnisinteresse wurde der Alte Glaube im Laufe der Geschichte unterschiedlich interpretiert.¹⁵ Die vorrevolutionäre „offizielle“ Historiographie im Staats- oder Kirchenauftrag untersuchte ihn mit fiskalischem beziehungsweise inquisitorischem Interesse und lieferte damit gleichwohl auch erstmals brauchbares Material für eine moderne kritische Geschichtsbetrachtung.¹⁶ Die populistische russische Geschichtsschreibung seit der Mitte des . Jahrhunderts verstand ihn als antiklerikalen und antistaatlichen Protest und zugleich als Fundament einer russischen Volkskultur.¹⁷ Sowje¹⁵

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Wolfgang Heller: Die Geschichte der russischen Altgläubigen und ihre Deutung. Ein Forschungsbericht, in: Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde  (), S. –. Andrej Ioannov [Žuravlev]: Polnoe istoričeskoe izvestie o drevnich strigol’nikach, novych raskol’nikach, tak nazyvaemych, staroobrjadcach, o ich učenii, delach i razglasijach, Izd. -oe St. Petersburg , ; Makarij [Michail P. Bulgakov]: Istorija russkago raskola, izvestnago pod imenem staroobrjadstva, St. Petersburg ; Petr S. Smirnov: Istoria russkogo raskola staroobrjadstva, Rjazan’ , St. Petersburg ² (rpt. Farnborough ); ders.: Spory i razdelenija v russkom raskole v pervoj četverti XVIII veka, St. Petersburg ; ders.: Vnutrennye voprosy v raskole v XVII veke. Izsledovanie iz načal’noj istorii raskola po vnov otkrytym pamjatnikam, izdannym i rukopisnym, St. Petersburg ; ders.: Značenie ženščiny v istorii russkogo staroobrjadčeskogo raskola, St. Petersburg ; Nikolaj I. Subbotin (Hg.): Materialy dlja istorii raskola za pervoe vremja ego suščestvovanija, Bd. –, Moskau – (rpt. Moskau ). Afanasij P. Šapov: Russkij raskol staroobrjadstva, razsmatrivaemyj v svjazi vnutrennim sostojaniem russkoj cerkvi i graždanstvennosti v XVII veke i v pervoj polovine XVIII, Kazan’ ; ders.: Sočinenija v trech tomach, t. , St. Petersburg  (rpt. Moskau ), S. –; ders.: Zemstvo i raskol, St. Petersburg  (Ebda. S. –); Vasilij V. Andreev: Raskol i ego značenie v russkoj istorii. Istoričeskij očerk. St. Petersburg  (rpt. Osnabrück ); Aleksandr S. Prugavin: Raskol-sektanstvo. Materialy dlja izučenija religiozno-bytovych dviženij russkago naroda, Moskau  (Verfilmung: Zug ); ders.: Značenie sektanstva v russkoj narodnoj žizni, in: Russkaja mysl’ (), H. , S. –; ders.: Staroobrjadčestvo vo vtoroj polovine XIX veka. Očerki iz novejšej istorii raskola, Moskau ; Iosif I. Jusov [Jozov, Kablic]: Russkie dissidenty-starovery i duchovnye christiane, St. Petersburg ; Nikolaj Ja. Aristov: Ustrojstvo raskol’nych obščin, in: Biblioteka dlja čtenija  (), H. , S. – (sep. Pag.); ders.: Raskol v Simbirskoj gubernii. Istoričeskij očerk, in: Pravoslavnyj sobesednik () Januar, S. – ; Februar/März, S. –; Ivan F. Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Istoričeskij očerk raskol’ničeskago učenija o brake, vyp. –, St. Petersburg ; Pavel’ I. Mel’nikov [Pseudonym: Andrej Peerskij]: Očerki popovščiny, Moskau ; ders.: Istoričeskij očerk edinoverija. St. Petersburg ; ders.: V lesach, vyp. –, St. Petersburg

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tische Historiker betrachteten den Alten Glauben als antifeudalen Protest, verwarfen ihn jedoch als sektiererisch oder als ‚bourgeois‘, wobei nach frühsowjetischer, stalinistischer und poststalinistischer Historiographie zu differenzieren ist: Im Laufe der Zeit fand mit Rückgriff auf die populistische Geschichtsschreibung einerseits und die westliche Forschung andererseits eine Versachlichung statt.¹⁸ In der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges wurde die westliche Rezeption vornehmlich von russländischen Migranten in Gang gebracht.¹⁹ In der Sozialgeschichte orientierte man sich im Westen weitgehend an der populistischen russischen Forschung.²⁰ Die traditionelle westliche Kultur- und Kir-

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²⁰

 (rpt. Moskau , Chabarovsk ); ders.: Na gorach, vyp. –, St. Petersburg ; Vasilij I. Kel’siev (Hg.): Sbornik pravitel’stvennych svedenij o raskol’nikach, vyp. –, London –. Sowjetische Forschung bis zum Zweiten Weltkrieg: O. Rustik: Staroobrjadčeskoe Preobraženskoe kladbišče. Kak nakapivalis’ kapitaly v Moskve, in: Bor’ba klassov  (), H. /, S. –; Vladimir D. Bon-Bruevi: Sektanstvo i staroobrjadčestvo v pervoj polovine XIX v. Izbrannye sočinenija v  tt., hier t. , S. –; ders.: Staroobrjadčestvo i gosudarstvo, in: Ebda., S. –. Nach dem Zweiten Weltkrieg: Pavel’ G. Ryndzjunskij: Staroobrjadčeskaja organizacija v uslovijach razvitija promyšlennogo kapitalizma. Na primere istorii Moskovskoj obščiny fedoseevcev v -ch godach XIX v., in: Voprosy istorii religii i ateizma. Sbornik statej, Moskau , S. –; ders.: Gorodskoe graždanstvo doreformennoj Rossii, Moskau ; Vera S. Rumjanceva: Narodnoe anticerkovnoe dviženie v Rossii v XVII veke, Moskau ; Natal’ja S. Demkova: Žitie protopopa Avvakuma, Moskau ; dies.: Pustozerskij sbornik. Avtografy sočinenij Avvakuma i Epifanija, Leningrad ; Nikolaj N. Pokrovskij: Antifeodal’nyj protest uralo-sibirskich krest’jan-staroobrjadcev v XVIII veke, Novosibirsk ; Vladimir I. Malyšev: Ust’-Cilemskie rukopisnye sborniki XVI–XX vv., Syktyvkar ; Irina V. Pozdeeva: Drevnerusskoe nasledie v tradicionnoj knižnoj kul’tury staroobrjadčestva (pervyj period), in: Istoria SSSR () H. , S. –. Sergej A. Zenkovsky: The Ideological World of the Denisov Brothers, in: Harvard Slavic Studies  (), S. –; ders.: The Russian Church Schism. Its Background and Repercussions, in: The Russian Review  (), S. –; ders. [Zen’kovskij]: Russkoe staroobrjadčestvo. Duchovnye dviženija semnadcatogo veka, München  (Die Monographie wurde in den letzten zwei Jahrzehnten mehrmals nachgedruckt: Moskau ; Moskau ; Minsk ); ders.: Staroobrjadcy technokraty gornogo dela Urala, in: Zapiski russkoj akademičeskoj gruppy v SŠA  (), S. –; Michael Cherniavsky: The Old Believers and the New Religion, in: Slavic Review  (), S. –; Alexander Gerschenkron: Europe in the Russian Mirror. Four Lectures in Economic History, Cambridge , Lecture  & . Robert O. Crummey: The Old Believers & The World of Antichrist. The Vyg Community & the Russian State, –, Madison, WI ; Manfred Hildermeier: Alter Glaube und neue Welt. Zur Sozialgeschichte des Raskol im . und . Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; –; ders.: Alter Glaube und Mobilität, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; ders.:

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chengeschichte verstand den Alten Glauben überwiegend als geistesgeschichtliches Phänomen und Sekte in der orthodoxen Welt²¹ und nur im Ausnahmefall als abgesonderte, jedoch lebendige Gemeinschaften.²² Es sind vor allem westliche Historiker, die den Alten Glauben – in erster Linie auf Max Webers, aber auch auf Niklas Luhmanns Religionssoziologie rekurrierend – im Vergleich mit dem Protestantismus beziehungsweise dem Pietismus zu verstehen suchten.²³ Neuere westliche Forschungen verbinden sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Fragestellungen und beziehen anthropologische und ethnologische Methoden ein. Schon Robert O. Crummey behandelte den Alten Glauben in seiner Monographie über die Vyg -Gemeinde als „counter-culture“.²⁴ William L. Blackwell wies auf die Notwendigkeit hin, den Zusammenhang von Industrialisierung und Religion in Russland zu berücksichtigen.²⁵ Auch Manfred Hildermeier und Hermann Beyer interessierten sich für das Zusammenspiel von Wirtschaftstätigkeit und Glaubenspraxis beziehungsweise – nach Max Weber – für die weltanschaulich geprägten „Bahnen, in denen die Dyna-

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²² ²³

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Old Belief and Worldly Performance. Socioeconomic and Sociocultural Aspects of the Raskol in Early Industrial Russia, in: Georg B. Michels, Robert L. Nichols (Hg.): Russia’s Dissent. Old Believers –, Minneapolis, MN , S. –. Hauptmann, Rußlands Altgläubige; James H. Billington: The Icon and the Axe. An Interpretive History of Russian Culture, New York ⁴, S. –; Wilhelm Hollberg: Das russische Altgläubigentum. Seine Entstehung und Entwicklung,  Bde., Tartu/Dorpat ; Igor Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche, Bd. : Leiden ; Bd. : hrsg. v. Gregory Freeze, Wiesbaden , S. –. Viktoria Pleyer: Das russische Altgläubigentum. Geschichte, Darstellung in der Literatur, München . Gerschenkron: Europe in the Russian Mirror, S. –; Hans-Heinrich Nolte: Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der russischen Kirchenspaltung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –, hier S. ; ders.: Die Reaktion auf die spätpetrinische Altgläubigenbedrückung, in: Kirche im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkunde  (), S. –; Hermann Beyer: Das altgläubige Unternehmertum Russlands in der Forschung seit , München ; ders.: Marxismus, Weber und die russischen Altgläubigen. Das altgläubige Unternehmertum des . und . Jahrhunderts in der Forschung seit , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; Pia Pera: The Old Believers and German Pietism, in: Baldur Panzer (Hg.): Sprache, Literatur und Geschichte der Altgläubigen, Heidelberg , S. –. Crummey, The Old Believers, S. XIII. William L. Blackwell: The Old Believers and the Rise of Private Industrial Enterprise in Early Nineteenth Century Russia, in: Slavic Review  (), S. –, hier S. ; ders.: The Beginnings of Russian Industrialization, –, Princeton, NJ , S. –.

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mik der Interessen das Handeln fortbewegte“.²⁶ Roy R. Robson betrachtete die Altgläubigen (mit Schwerpunkt nach ) als „culture of community“, die dem Prozess der Moderne standhielt. Er behauptete die Einheit symbolischer und konkreter Strukturen, die Identität von sozialer und religiöser Gemeinschaft im Alten Glauben durch die Zeiten hindurch und jenseits aller geographischen Bestimmungen und rituellen Differenzen, woraus ein tendenziell idealtypisches Bild entsteht.²⁷ Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffneten sich nicht nur die Archive. In Russland war auch kulturelle respektive konfessionelle Diversität wieder denkbar und avancierte zu einem aktuellen Thema. Durch reichhaltiges Archivmaterial belegt, rekonstruierte Georg B. Michels den Anfang des Protests, dekonstruierte, die Heterogenität von kircheninternem und sozialem Protest aufzeigend, das überlieferte Selbstbild von der Einheit und Geschlossenheit des raskol sowie die durch die Staatskirche sanktionierte Gleichsetzung von Schisma und Altem Glauben. Aber Michels Forschungen beschränken sich – wie so viele – auf die Entstehungsphase des Protests und suggerieren, man könne durch die Aufdeckung realgeschichtlicher Anfänge das soziokulturelle Phänomen als Ganzes erfassen und in Frage stellen. Seiner These, für das ausgehende . Jahrhundert sei es verfehlt, bereits von einer Bewegung zu sprechen, ist mit Skepsis zu begegnen. Übernahm doch der soziale Protest die Formen, die der kircheninterne Widerstand anbot, so dass beide Bewegungen bereits in jenen Anfängen zusammengingen.²⁸ Die aktuelle postsowjetische, vorwiegend russischsprachige, historische wie philologische Forschung im östlichen Europa wendet sich seit nunmehr zwanzig Jahren dem Alten Glauben mit unverminderter Neugier und verstärktem Engagement zu. Beteiligt sind Wissenschaftler genauso wie aktive Altgläubige. Die Auseinandersetzung findet in neuer Offenheit statt und verfolgt in erster Linie kulturpraktische Zwecke. Man zieht die Geschichte, Kultur, Literatur und Traditionen des staroverie heran, um über russische Nations- und Gemeinschaftsbildung und letztendlich über kulturelle und konfessionelle Zugehörigkeiten in einer russischen Zivilgesellschaft, auch in der Diaspora, nachzudenken. Das ist, wie Ro²⁶ ²⁷ ²⁸

Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. –; Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S. . Roy R. Robson: Old Believers in Modern Russia, DeKalb, IL , S. –. Georg B. Michels: The First Old Believers in Tradition and Historical Reality, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; ders.: At War with the Church. Religious Dissent in Seventeenth-Century Russia, Stanford, CA , S. –; ders.: Some Observations on the Social History of Old Belief during the Seventeenth Century, in: ders., Robert L. Nicols (Hg.): Russia’s Dissident Old Believers –, Minneapolis, MN , S. –.

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bert O. Crummey betonte, im Grunde genommen und vor dem Hintergrund der russischen Geschichte nicht so neu, wie es erscheint, denn die Diskussionen wurden auch in der Ära der Großen Reformen in den /er Jahren und in der Zeit zwischen den russischen Revolutionen (–) in ähnlicher Weise und Funktion geführt.²⁹ Mittlerweile ist eine wahrhafte Flut von Publikationen zu verzeichnen – serielle Sammelbände mit Konferenzbeiträgen,³⁰ Dokumentationen, Monographien, Periodika, aber auch Wissensspeicher: eine umfassende Bibliographie³¹ und Enzyklopädien.³² Einige der prominentesten Forscherinnen und Forscher wie der Begründer der Novosibirsker Schule Nikolaj N. Pokrovskij, die Leiterin des Interdisziplinären Archäologischen Laboratoriums an der Moskauer Staatlichen Universität Irina V. Pozdeeva und der Historiker an der lettländischen Akademie der Wissenschaften Arnol’d A. Podmazov gewährleisten die Kontinuität zwischen sowjetischer und postsowjetischer Ära.³³ Sie lieferten neue Beiträge zur Avvakum-Forschung, zur Historiographie der Klöster des Pomor’e und zur Überlieferungsgeschichte in der Textgemeinschaft des Alten Glaubens. Viele jüngere wie Elena M. Juchimenko, Nikolaj Ju. Bubnov,³⁴ Irina Paert, Nadežda Pazuhina, Grigorij Potašenko ²⁹

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Robert O. Crummey: Past and Current Interpretations of Old Belief during the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Michels/Nichols (Hg.), Russia’s Dissent, S. –, hier S. . Beispielhaft seien drei Serien vorgestellt. Aus der Moskauer Staatlichen Universität: Irina V. Pozdeeva (Hg.): Mir staroobrjadčestva,  Bde., Moskau –. Von Seiten des Staatlichen Historischen Museums in Moskau: Elena M. Juchimenko (Hg.): Staroobrjadčestvo v Rossii. (XVII–XX vv.).  Bde., Moskau –. Unter Federführung des Altgläubigen-Museums für Geschichte und Kultur in Borovsk: Ol’ga P. Eršova u. a. (Hg.): Staroobrjadčestvo. Istorija, kul’tura, sovremennost’,  Bde., Moskau –; Viktor I. Osipov u. a. (Hg.): Staroobrjadčestvo. Istorija, kul’tura, sovremennost’,  Bde., Moskau –. Siehe auch Fußnote  zu den seriellen Sammelbänden aus Lettland. Tatjana Ja. Briskman (Hg.): Staroobrjadčestvo. Istorija i kul’tura; bibliografičeskij ukazatel’ knigi i stat’i na russkom i innostrannych jazykach (–), Moskau . Zu bemängeln ist, dass die westliche Forschung in der Bibliographie nur rudimentär repräsentiert ist. Sergej G. Vurgaft, Il’ja A. Ušakov: Staroobrjadčestvo. Lica, sobytija, predmety i simvoly. Opyt ėnciklopedičeskogo slovarja, Moskau ; Vasilij Baranovskij, Grigorij Potašenko: Staroverie Baltii i Poli kratkij istoričeskij i biografičeskij slovar’, Vilnius . Neuere Herausgaben (Auswahl): Nikolaj N. Pokrovskij (Hg.): Duchovnaja literatura staroverov vostoka Rossii XVIII–XX vv., vyp. –, Novosibirsk –; Irina V. Pozdeeva (Hg.): Mir staroobrjadčestva, vyp. –: Moskau –, vyp. –: Jaroslavl’ –; Podmazov (siehe Fußnote ). Neuere Publikationen (Auswahl): Elena M. Juchimenko (Hg.): Staroobrjadčestvo v Rossii. (XXVII–XVIII vv.), vyp. –, Moskau –; Nikolaj Ju. Bubnov: Pamjatniki staroobrjadčeskoj pis’mennosti, St. Petersburg ; ders.: Knižnaja kul’tura staroobrjadcev. Stat’i raznych let, St. Petersburg .

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und andere kamen hinzu. Auch wenn die russischen Zentren Moskau und Pomor’e weiterhin im Mittelpunkt stehen, so besticht doch die regionale Vielfalt der Forschungs-, Diskussions- und Publikationsorte. Auch der Erforschung historisch zweitrangiger regionaler Zentren, die gleichwohl bis in die Gegenwart eine nicht unmaßgebliche Rolle spielen, jener im Baltikum sowie anderer Altgläubigen-Gemeinden im nahen und fernen Ausland (Polen, Rumänien, Bulgarien, Österreich, USA, Mongolei, China, Japan, Australien), wird in diesem Kontext Aufmerksamkeit gezollt.³⁵ Resultate der neuen postsowjetischen historischen Forschungen sind vor allem die Erschließung neuer Quellen, Forschungen zu Regional- und Landesgeschichten des Alten Glaubens³⁶ sowie Einzeluntersuchungen unter wissenschaftlich aktuellen Gesichtspunkten wie zum Verhältnis von Altem Glauben und Staatsmacht, zum Geschlechterverhältnis und zu den Kulturpraktiken der Altgläubigen.³⁷ Paradox erscheint Georg B. Michels und Robert L. Nichols, dass angesichts des großen Interesses in der russischen Welt noch immer keine umfassende Monographie über den Alten Glauben geschrieben wurde, weder auf Russisch noch in einer anderen Sprache.³⁸ Eine sinnbildliche Brücke zwischen russischer AltgläubigenTradition und postmoderner, postsowjetischer Übergangsgesellschaft schlägt Vladimir P. Rjabušinskijs Staroobrjadčestvo i russkoe religioznoe čuvstvo [Altritualisten und russisches religiöses Gefühl], erstmals  während des Pariser Exils im Selbstverlag erschienen, das  im Verlag Gešarim [Brücken] für jüdische Literatur in Moskau neu aufgelegt wurde.³⁹ Als Vorlage für den Reprint ³⁵ ³⁶

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Briskman (Hg.): Staroobrjadčestvo. S. –. Beispielhaft seien genannt: Grigorij Potašenko: Staroverie v Litve. Vtoraja polovina XVII – načalo XIX vv. Issledovanija, dokumenty i materialy, Vilnius ; ders.: Kul’tura staroverov stran Baltiki i Pol’ši. Issledovanija i al’bom, Vilnius ; Andrej A. Gorbackij: Staroobrjadčestvo na belorusskich zemljach, Brest ; ders.: Staroobrjadčeskie chramy Belarusi, Minsk ; Sergej V. Taranec: Staroobrjadčestvo Podolii, Kiev ; ders.: Staroobrjadčestvo goroda Kieva i Kievskoj gubernii, Kiev . Ol’ga P. Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’, Moskau ; Yvan Leclère: L’ appel de la Russie. Les Vieux Croyants des territoires baltes de la russification à la soviétisation, –, Paris ; Irina Paert: Old Believers, Religious Dissent and Gender in Russia, –, Manchester [u. a.] ; Hugh D. Hudson: Religious Persecution and Industrial Policy in the Reign of Anna I.: V. N. Tatishchev and the Old Believers Reconsidered, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; Natal’ia S. Gur’ianova: Peasant Antimonarchism and Uprisings in Siberia during the Eighteenth Century, in: Michels/Nichols, Russia’s Dissident Old Believers, S. –. Michels/Nichols: Introduction, in: dies. (Hg.): Russia’s Dissident Old Believers, S. . Der Verleger von Gešarim und Historiker Michail Grinberg veröffentlichte selbst zum Alten Glauben: Michail Grinberg: Sobiratel’, in: Pamjatniki otečestva. Illjustrirovannyj al’manach Vserossijskogo obščestva ochrany pamjatnikov istorii i kul’tury NF  (),

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diente das Buchexemplar aus der Bibliothek von Ivan N. Zavoloko.⁴⁰ Ganz im Trend der postsowjetischen Forschungen und zugleich mit wissenschaftlich aktuellen Fragen zu historischen Lebenswelten, kollektiven Identifizierungen und Kulturpraktiken ausgestattet, setzte sich die Schweizer Historikerin Eva Maeder in einer Mikrostudie mit der Gegenwart der Geschichte eines von Altgläubigen gegründeten russischen Dorfes im südöstlichen Sibirien auseinander.⁴¹ Angesichts des Ansturms der postsowjetischen Rezeption wandte sich der Doyen der westlichen Altgläubigen-Forschung Robert O. Crummey noch einmal dem Old Belief zu, nicht ohne die eigene Geschichte mit dem Objekt seiner Neugier seit den frühen er Jahren auf eindrückliche Weise Revue passieren zu lassen. Crummey verschaffte sich damals, unter schwierigsten Bedingungen, den Zugang zu den sowjetischen Archiven und wurde mit Ivan N. Zavoloko in Riga noch persönlich bekannt. Crummey versteht den Alten Glauben weiterhin als Textgemeinschaft, betont aber stärker seine Bedeutung als russische Volksreligion, die trotz Dissens den Kontakt mit der Hochkultur nicht verlor, sondern deren Ideen und Techniken nutzte, um die eigene Sache voranzutreiben.⁴² Eine markante Stimme in der postsowjetischen Auseinandersetzung um die russische Geschichte erklärte das historische Schisma – dieses negativ und typologisch überhöhend – zum Grundmuster der „gespaltenen“ russischen Kultur. Der Soziologe Aleksandr S. Achiezer, der das Schlagwort von der raskolotaja civilizacija [gespaltene Zivilisation] prägte, lieh sich dafür Methode und Argumentation vom sowjetischen Strukturalismus, genauer von Boris Uspenskij.⁴³ Achiezer verwendete den Begriff des raskol kritisch analytisch.

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S. –. Michail Zelenogorskij [Grinberg]: Žizn’ i dejatel’nost’ archiepiskopa Andreja (knjazja Uchtomskogo), Moskau , ². Vladimir P. Rjabušinskij: Staroobrjadčestvo i russkoe religioznoe čuvstvo, Moskau , S. . Eva Maeder: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (–er Jahre), Zürich ; dies.: „Jede Erinnerung an Gott muß überwunden werden“: Kollektivierung und Kirchenabbruch in einem altgläubigen Rajon Sibiriens, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –; dies.: „Umer – radujsja, a rodilsja – pljač’“. Totenritual und Sowjetisierung in einem altgläubigen Dorf in Sibirien, in: Daniel Weiss (Hg.): Der Tod in der Propaganda (Sowjetunion und Volksrepublik Polen), Bern [u. a.] , S. –. Robert O. Crummey: Old Believers in a Changing World, DeKalb, IL , S. VII–XIII. Aleksandr S. Achiezer: Samobytnost’ Rossii kak naučnaja problema. Vystuplenie na kruglom stole »Rossija raskolotaja civilizacija?«, in: Otečestvennaja istorija (), H. /, S. – ; ders.: Rossija. Kritika istoričeskogo opyta,  Bde., Moskau ; Aleksandr V. Judel’son: Civilizacionnyj podchod i ego vozdejstvie na obraz rossijskoj istoričeskoj nauki, in: Novyj istoričeskij vestnik  (), H.  , http://www.nivestnik.ru/_/.shtml ednref [zuletzt aufgerufen am ..]; Boris A. Uspenskij: Historia sub specie se-

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Er zeigte kein Interesse an seiner positiven Bedeutung im Sinne des alternativen community building. Die Kultur- und Sozialgeschichte synthetisierende und anthropologische wie ethnologische Aspekte einbeziehende Betrachtung könnte geeignet sein, die strukturalistische Deutung des Alten Glaubens als restauratives Element im dualistischen Kulturmodell zu konterkarieren. Geht man von den neuesten Forschungsergebnissen aus, dann stellt sich die Frage, wie aus dem heterogenen und so wenig koordinierten Protest, dem „Krieg gegen die Kirche“ (Michels) in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts die Bewegung des Alten Glaubens entstehen konnte, die zwei Jahrhunderte später, Mitte des . Jahrhunderts, mindestens  , wenn nicht ein Viertel bis ein Drittel, der Gesamtbevölkerung an sich band.⁴⁴ Mit anderen Worten: Wie konnte sich aus der marginalen Protestbewegung in Russland eine Subkultur entwickeln, die wesentlich zur Herausbildung eines positiven, Stadt und Land übergreifenden Gemeinschafts- und Geschäftssinns sowie zur Entstehung einer modernen russischen Literatur und Kunst, eines modernen kulturellen Selbstbewusstseins beitrug und die auf diese Weise das lineare Fortschrittsparadigma konterkariert? Ein handfester Beleg dafür ist das Innovationspotential der AltgläubigenBewegung im Hinblick auf ihr unternehmerisches Engagement – angefangen vom Salzhandel am Vyg bis hin zu den Industriellen in der Textil-, Leder- und Ziegelproduktion, im Teehandel, im Straßen- und Eisenbahnbau des . Jahrhunderts. Dafür sprechen so bekannte Namen wie die der Familien Mamontov, fon Mekk, Abramcev, Morozov, Ščukin, Chludin, Botkin, Soldatenkov, Alekseev, Rjabušinskij, D’jakonov, Kuznecov, Grebenščikov. Die Beachtung verbindlicher Rituale als Einübung in die Zivilgesellschaft wurde vorbildlich im Rahmen der Gemeinschaft des Alten Glaubens gewährleistet. Ein Beispiel dafür, wie diese sich transformierte und über die traditionelle Gemeindepraxis und die Grenze der Einzelgemeinde hinaus wirksam wurde, sind die Institutionen der Wohltätigkeit wie der gegenseitigen Unterstützung von Altgläubigen im Wirtschaftsleben, aus denen sich an der Wende vom . zum . Jahrhundert im Ansatz moderne Organisationen des Kreditgenossenschaftswesen und

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mioticae, in: Kul’turnoe nasledie drevnej Rusi. Istoki, stanovlenie, tradicii, Moskau , S. –; ders.: Raskol i kul’turnyj konflikt XVIII v., in: Sbornik statej k -letiju Prof. Ju. M. Lotmana, Tartu , S. –; ders.: The Schism and Cultural Conflict in the Seventeenth Century, in: Stephen K. Batalden: Seeking God. The Recovery of Religious Identity in Orthodox Russia, Ukraine, and Georgia, DeKalb, IL , S.–. Statističeskie tablicy Rossijskoj imperii, izdavaemye po rasporjaženiju Ministerstva vnutrennich del Central’nym statističeskim komitetom, vyp. : Naličnoe naselenie imperii za  god, St. Petersburg , S.  (zitiert nach Hildermeier, Alter Glaube und Mobilität, S. ); Zenkovsky, The Ideological World, S. /; Robson, Old Believers, S. . Eckardt, Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga, S. .

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Alter Glaube, neue Perspektiven?

der Sozialfürsorge entwickelten. Beste Beispiele dafür geben die Einrichtung von Kranken- und Waisenhäusern, Altenheimen, Suppenküchen, Schul- und Hochschulgründungen in den Altgläubigen Gemeinden von Moskau und Riga.⁴⁵ Ein weiterer Ausdruck dafür ist der Modernität mit Tradition verbindende Kirchenbau des Alten Glaubens.⁴⁶ Geradezu legendär wurde das Engagement von Mäzenen altgläubiger Herkunft in der Kunst, angeführt von Savva I. Mamontov (–), der die russische Oper und russische wie jüdische Künstler und Musiker förderte (Il’ja Repin, Pavel’ Antokol’skij, Valentin Serov, Michail Vrubel’, Viktor Vaznecov, Sergej Rachmaninov).⁴⁷ Auf der Suche nach einer postsowjetischen bürgerlichen russischen kollektiven Identität rückt der Alte Glaube erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier besitzt eine gesellschaftlich verankerte, im Ansatz demokratische religiöse wie soziale Praxis Tradition, auf die sich zurückgreifen ließe. Angesichts der von der aktuellen Forschung behaupteten Diskrepanz zwischen Anfang und Ende der Altgläubigen-Bewegung richtet sich der Blick des Historikers unwillkürlich auf deren zeitliche Mitte. Der Alte Glaube des . Jahrhunderts, vor allem gegen dessen Ende angesichts des erneuten Konfessionalisierungsschubs in der russischen Gesellschaft, ist immer noch ein Forschungsdesiderat.⁴⁸ Die nun folgenden Überlegungen und Thesen zu Grundlehren und Geschichte des Alten Glaubens, verstanden als lebendige Religionsgemeinschaft vor dem Hintergrund seiner erneuten Aktualität, mögen zu neuen Forschungen anregen.

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Blackwell, Old Believers, S. –. Podmazov, Staroobrjadčestvo v Latvii, S. –; Podmazovs: Vecticība Latvijā, S. –; Elena Ageeva: Rižskaja Grebenščikovskaja staroobrjadčeskaja obščina v  g. po dokumentame archiva N. S. Leskova v Rossijskom gosudarstvennom archive literatury i isskustva, in: Ivanov (Hg.), Russkie v Latvii, S. – . Robson, Old Believers, S. . Olga Haldey: Mamontov’s Private Opera. The Search for Modernism in Russian Theater, Bloomington, IN ; dies.: Savva Mamontov, Serge Diaghilev, and a Rocky Path to Modernism, in: The Journal of Musicology  (), S. –. Gregory Freeze: Rechristianization of Russia. The Church and Popular Religion, – , in: Studia Slavica Finlandensia. Yearbook of the Neuvostoliittoinstituutti, Helsinki  (), S. –; ders.: Church, State and Society in Catherinean Russia. The Syndal Instruction to the Legislative Commission, in: Eberhard Müller (Hg.): „… aus der anmuthigen Gelehrsamkeit“. Tübinger Studien zum . Jahrhundert. Dietrich Geyer zum . Geburtstag, Tübingen , S. –.

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III. Die Bewegung der Altgläubigen (im . Jahrhundert) „… merkwürdiges Analogon der radikalen Reformation: im Westen wird das Priestertum überwunden, in Russland stirbt es physisch ab …“ – Th. Masaryk über die priesterlosen raskol’ niki.⁴⁹

. Idee – Ziel – Lehre Die Lehre des Alten Glaubens war – auch ihrem Selbstverständnis nach – konservativ: Man wollte die in der russischen Kirche ursprünglich praktizierten Rituale und Symbole beibehalten, sie in ihren alten, vor-nikonianischen Formen bewahren. Doch gerade das war neu. Der Alte Glaube bildete eine neue, frühneuzeitliche Religionskonzeption in der Tradition der Rechtgläubigkeit, aber alternativ zur offiziellen Kirche. Er stellte eine eigene Antwort auf den Modernitätsdruck dar, der von Reformation und Gegenreformation im Westen angestoßen und von Staat und Kirche weitergegeben wurde. Er war zunächst eine Negativbestimmung, die Verweigerung der Reform und die Verdammung von Staat und Kirche als Antichrist. Die andere Seite und Folge des Protests waren neue, positive Bestimmungen der eigenen Haltung: In der Dogmatik gab es keine Differenzen zur offiziellen Kirche, wohl aber ein gesteigertes Maß an eschatologischer Radikalität.⁵⁰ Erlösung wurde zu einer Naherwartung und Märtyrertum unter Umständen zum Ideal. Die Frontstellung zur offiziellen Kirche evozierte ein dualistisches Weltbild. Die archaisierende Konstruktion des Festhaltens an der Tradition der vor-nikonianischen Rituale, Zeichen und Symbole (am markantesten: das sog. Zweifingerkreuz) sowie die Idealisierung des einfachen Lebens waren für die russischen ‚Protestanten‘ die angemessene Form, ihre Haltung gemeinschaftlich zu leben.⁵¹ Die kirchliche Verdammung des Protests als Schisma, die politisch unangefochten blieb, und, folglich, die konsequente Ausgrenzung des Protests aus Staat und Gesellschaft hatten einen Werte-, Ordnungs- und Orientierungsverlust zur Folge, der – wie so oft im Dissens – zu existenzgefährdenden Fraktionierungen führte, eine Tendenz, der der Alte Glaube jedoch Herr wurde. Seit Beginn der Bewegung kam es zu Sezessionen nach Maßgabe der Kritik an der nach-nikonianischen, der reformierten und hierarchisch strukturierten Staatskirche: Die Bewegung teilte ⁴⁹

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Thomas G. [Tomáš Garrigue] Mazaryk: Russische Geistes- und Religionsgeschichte,  Bde., Frankfurt am Main , Bd. , S. . Titel der deutschen Erstausgabe: Ders.: Russland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Russland.  Bde., Jena . Igor Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche, Bd. , S. ; Gabriele Scheidegger: Endzeit. Russland am Ende des . Jahrhunderts, Bern [u. a.] , S. . Robson, Old Believers, S. –.

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sich zunächst in popovcy [Priesterliche] und bezpopovcy [Priesterlose]. Die einen glaubten, den Kirchenregeln der apostolischen Sukzession durch Gewinnung geweihter Priester und später durch den Aufbau einer eigenen Hierarchie im Ausland entsprechen zu können; den anderen erschien ein solches Verfahren unmöglich. Nach ihrem Dafürhalten war die apostolische Sukzession durch die Reform unterbrochen. Sie regelten ihr Gemeindeleben ohne Priester. Popovcy und bezpopovcy spalteten sich Anfang des . Jahrhunderts erneut in mehr oder weniger radikale Fraktionen – Erstere in beglopopovcy und belokrinicy, Letztere in pomorcy, filippovcy, fedoseevcy, spasovcy; zwischen den beiden Hauptrichtungen – die časovenniki.⁵² Ein zentraler Indikator für das Verhältnis zur Kirchenhierarchie wie für das zur Welt und wiederholt Anlass für Spaltungen war das Problem (des Sakraments) der Ehe beziehungsweise Ehelosigkeit.⁵³ Trotz Zerstreuung und vielfacher Fraktionierung entwickelte sich der Alte Glaube von einer spontanen, apokalyptisch orientierten Protestgemeinschaft zu einem Netzwerk in sich sozial und ökonomisch stabiler, prosperierender soglasija und Gemeinden, die – wie in Lettland – bis auf den heutigen Tag Bestand haben. Seit der Vervielfältigung und Sammlung vor-nikonianischer Psalter und erster ‚protestantischer‘ Schriften (vornehmlich der Sendschreiben und Berichte der ‚geistigen Väter‘ Avvakum, Neronov, Epifanij und anderer) durch den Bischof Aleksandr von Vjatka und Kolomna, den Diakon Fedor Ivanov in der Interimszeit des Patriarchats sowie – nach  – durch die Kopisten und Redakteure von Pustozersk⁵⁴ etablierte die Bewegung einen eigenen Kanon, ‚erfand‘ für sich eine Geschichte und eine Tradition: Nach dem aus dem ‚konfessionellen Zeitalter‘ im Westen wohlbekannten Muster wurden die Altgläubigen auf Initiative eines Konvertiten (des Erzbischofs Pitirim von Novgorod seit ) im Namen der Kirche gezwungen, sich zu rechtfertigen, woraus die ersten apologetischen Schriften entstanden: die Diakonovskie otvety () des Aleksandr von Kerženec und die Pomorskie otvety () des Andrej Denisov, beide von Letzterem bearbeitet und herausgegeben.⁵⁵  lag die erste Selbstdarstellung zur Ge-

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Die Namen verweisen auf Lehrmeinungen, Orte der Siedlung oder Gründer der jeweiligen Richtung. Dazu: Hollberg, Das russische Altgläubigentum, Bd. . Grundlegend dazu Nil’skij: Semejnaja žizn’. Michels, At War with the Church, S. –. P. Johannes Chrysostomus: Die „Pomorskie Otvety“ als Denkmal der Anschauungen der russischen Altgläubigen gegen Ende des . Viertels des XVIII. Jahrhunderts, Rom  (= Orientalia Christiana Analecta, ); Otvety Aleksandra diakona na Kerženece, podannye Nižegorodskomu episkopu Pitirimu v  godu, vyp. –, Nižnij Novgorod ; Hauptmann, Russlands Altgläubige, S. –.

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schichte – Ivan Filipovs Istorija Vygovskoj pustyni – vor.⁵⁶ So wurde der schriftlichen Überlieferung von Geschichte, Erfahrungen und Ideen des Protests im Zeichen des Alten Glaubens, die mit der Bibliothek des Bischofs Aleksandr ihren Anfang genommen hatte, eine eigene, neue literarische Form gegeben. Der Kanon, der sich daraus entwickelte, wurde, dem radikalen, restaurativ orientierten Formalismus des Alten Glaubens entsprechend, lange Zeit handschriftlich übermittelt und bestand – neben der Bibel – im Wesentlichen aus theologischen Rechtfertigungen, Lebensberichten der Märtyrer, Legenden über diese und Sendschreiben. Nirgendwo wurde dieser Kanon während des . Jahrhunderts so kontinuierlich und intensiv gepflegt wie in der Russland nahen russischen Diaspora innerhalb der ersten lettischen Republik und auch später in der Sowjetrepublik Lettland, nicht zuletzt initiiert durch Zavolokos Sammler-, Publikations-, Forschungs- und Unterrichtstätigkeit. Er bezeichnete sich selbst als „Eiferer des russischen Altertums“. Ihm ist es zu verdanken, dass eine zweite Version der Lebensberichte von Avvakum und Epifanij entdeckt und veröffentlicht wurde.⁵⁷ Neu war der Zwang zur praktischen, pragmatischen Antwort auf das Fehlen der apostolischen Sukzession, worin – selbstredend – die Fraktion der priesterlosen Altgläubigen als Neuerer tonangebend war. Von den sieben Sakramenten der orthodoxen Kirche übernahm diese Gruppe nur das für eine Gemeinde Nötigste – die Taufe.⁵⁸ Für ein zweites, das Abendmahl, wurden zuweilen Surrogate gefunden.⁵⁹ Die rituelle Ordnung des Alten Glaubens basierte auf drei Grundlehren: der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der (nahen) Erwartung der Erlösung (deutlich im besonderen Verhältnis zum Tod) und der symbolischen Vergegenwärtigung des Reiches Gottes in Urbildern (siehe die Bedeutung der Ikone, die Etikettierungen der Gemeinden als kladbišče [Friedhof ] oder preobraženskoe [Ort der Verklärung]). Idee, Ziel und Lehre des Alten Glaubens bildeten sich spätestens Anfang des . Jahrhunderts heraus und schufen das Grundmuster seiner „paradoxen Natur“,⁶⁰ eine quasiprotestantische Ethik im Spannungsfeld von eschatologischer Naherwartung und Weltgestaltung. Bereits zu jener Zeit bildeten die Altgläubigen eine Werte⁵⁶ ⁵⁷

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Ivan Filipov: Istorija Vyg ovskoj Staroobrjadčeskoj Pustyni, Dmitrij E. Kožanikov (Hg.), St. Petersburg . Nadežda Pazuchina: I. I. Zavoloko. Vechi žiznennogo puti, in: Ivanov, Miroljubov (Hg.): Pamjati Zavoloko, S. –, hier S. –; Pazuhina, Kulturpraktiken, S. . Irina V. Pozdeeva: Ivan Nikiforovič Zavoloko i kompleksnye issledovanija kul’tury russkogo staroobrjadčestva, in: Ivanov, Miroljubov (Hg.): Pamjati Zavoloko, S. –, hier S. . Dazu grundlegend: Nil’skij, Semejnaja žizn’. Crummey, The Old Believers & The World of Antichrist, S. . Robson, Old Believers, S. .

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Alter Glaube, neue Perspektiven?

und Kommunikationsgemeinschaft, die sich an Zeichen erkannte, sowie eine Textgemeinschaft, aus der sich späterhin eine Buchkultur entwickeln sollte. . Die Bewegung Die Geschichte des Alten Glaubens im . Jahrhundert kontinuierlich zu erfassen, scheint aus zwei Gründen beinahe unmöglich: Erstens entzogen sich die starovery als Geduldete und zur doppelten Steuer Verpflichtete tendenziell dem staatlichen Zugriff; zweitens lebten sie nicht nur an der Peripherie, sondern auch außerhalb des Reiches. Nur eine synthetisierende Betrachtung, die die Zentralperspektive durch den Blick auf die Peripherie ergänzt, könnte ein umfassendes Bild von der Geschichte des Alten Glaubens geben (siehe die lettländischen Gemeinden, die in der Forschung über das . Jahrhundert nur verzerrt als Dependancen jenseits der Grenze zu polnischen und schwedischen Herrschaftsgebieten beziehungsweise in der seit Peter I. zarisch regierten deutschen Kaufmannsstadt Riga figurieren). Zu fragen ist, wann der Alte Glaube sich als Bewegung zu formieren begann, und ob man von einer kontinuierlichen Entwicklung der Bewegung ausgehen kann. Der Protest war das Aufbegehren in einer Krisenzeit – angesichts der Entstehung des Behördenstaates mit seinen Ansprüchen, der „Immobilisierung der Gesellschaft durch ihre korporativ-rechtliche Einfassung“, der endgültigen Festschreibung der Schollenbindung (), angesichts der Pest () und der Verunsicherung durch katholische Einflüsse in der linksufrigen Ukraine, die der Zar nach dem durch die Kosaken ausgelösten Krieg gegen Polen mit den Vereinbarungen von Perejaslavl’ () unter seine Oberherrschaft nahm.⁶¹ Der Protest wurde vom Zentrum, von einigen Klerikern in Moskau und in führenden Klöstern formuliert. Der Erklärung der ‚Protestanten‘ zu Schismatikern (Große Moskauer Synode ) beziehungsweise zu Staatsfeinden (Dekret der Regentin Sof ’ja ), folgten Ächtung, Märtyrertod und Flucht. Die Bewegung formte sich im Laufe der ersten drei Jahrzehnte des . Jahrhunderts im unwirtlichen, staatsfernen Gelände der Reichsperipherie. Als erste namhafte (und gut dokumentierte) entstanden die Gemeinde am Vyg im Norden des Onega-Sees in der Protest- und Klostertradition von Solovki,⁶² in Starodub’ (Gouv. Černigov) und auf der Insel Vetka (im Sož, Gouv. Mogilev) im Westen⁶³ sowie ⁶¹ ⁶² ⁶³

Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. ; Michels, At War with the Church, S. . Zuerst dokumentiert von Smirnov: Spory i razdelenija v russkom raskole; Aristov: Ustrojstvo raskol’nych obščin. Vor allem bekannt durch die Romane von Mel’nikov „V lesach“ und „Na gorach“, aber auch durch Michail I. Lileev: Iz istorii raskola na Vetke i v Starodub’e, vyp. , Kiev ;

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die Gemeinde am Kerženec in der Region Nižnij Novgorod an der mittleren Wolga. Die Zeitspanne von der pragmatischen Akzeptanz der Altgläubigen durch Peter I. bis hin zur Einrichtung des edinoverie, zu deren Integration unter Alexander I., lässt sich als Beginn einer legalen Existenz bei fortgesetzter Beschränkung und besonderer Belastung, als „begrenzte Koexistenz“ von Altem Glauben und Staatskirche charakterisieren.⁶⁴ Auf Dauer belastend wirkten die Bartsteuer und die Kleidervorschriften (), die Einrichtung des „Altgläubigenkontors“ (), einer besonderen Kanzlei im Senat zur Erhebung der Steuern, die von den Altgläubigen in doppelter Höhe zu entrichten waren, und die Kontrolle durch die Staatskirche (den  gegründeten Heiligen Synod). Die Gemeinden an der Nord- und Westgrenze wussten sich in der entscheidenden Phase des Aufbaus während des II. Nordischen Krieges das Recht auf Existenz mit strategisch-politischer Loyalität und ökonomischer Nützlichkeit zu sichern.⁶⁵ Beide überdauerten das Jahrhundert und entwickelten sich zu sozial wie religiös autoritativen Zentren, die das dörfliche Umland verkehrstechnisch erschlossen und wirtschaftlich, sozial wie religiös auf sich zu orientieren verstanden. Als Katharina II. seit  den Altgläubigen im Geiste der Aufklärung Toleranz und Niederlassungsfreiheit im Zentrum Russlands gewährte, setzte dies Migrationen von enormem Ausmaß in Gang, woraus drei neue Zentren entstanden: am Irgiz (Nebenfluss der Wolga, Gouv. Saratov), in Petersburg und Moskau. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verfügten die großen Gemeinden an der Peripherie über Dependancen in Moskau.⁶⁶ Die legale Etablierung des Alten Glaubens in den Metropolen gab der Bewegung eine neue Qualität. Es entstanden Kommunikations- und Verkehrsnetze zwischen den Gemeinden zum Selbstschutz und zur Selbstverständigung sowie in die großen Städte und Handelsmetropolen zur Mission und zum ökonomischen Selbsterhalt. Die Ursprungsgemeinden an der Peripherie blieben jedoch die autoritativen Zentren. Gerade aus dem Spannungsverhältnis und dem Kommunikationskontext von Zentrum und Peripherie, Stadt und Land schöpfte der Alte Glaube Stärke und Innovationspotential. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Kontext die Bedeutung der Gemeinden jenseits der Staatsgrenze im konkurrierenden beziehungsweise politisch liberaleren Ausland – in Polen (Wolhynien, Lettgallen), Preußen (Masuren) und im Habsburger Reich (Buko-

⁶⁴ ⁶⁵ ⁶⁶

ders.: Novye materialy dlja istorii raskola na Vetke i v Starodub’e XVII–XVIII vv., in: Vasilij G. Družinin: Raskol na Donu v konce XVII veka, Moskau  (Erstausgabe St. Petersburg ). Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. . Ebda., S. –. Zuerst dokumentiert von Ryndzjunskij, Staroobrjadčeskaja organizacija.

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Alter Glaube, neue Perspektiven?

wina) beziehungsweise in der auch unter zarischer Oberherrschaft weitgehend autonomen Enklave Riga als Stützpunkte des Alten Glaubens.⁶⁷ Es entstanden unterschiedliche Formen von Altgläubigen-Gemeinden. Im ersten Drittel des Jahrhunderts bildeten sich aus Einsiedeleien sogenannte skity und pustyni – klosterartige Siedlungen. Zu diesen gruppierten sich laizistische Dorfgemeinden und Höfe (kelii). Am Vyg , am Kerženec und in Starodub’ bildeten sich unterschiedliche Sozialstrukturen heraus. Die Gemeinde im Pomor’e war um zwei Klöster – das für Männer am Vyg und das für Frauen an der etwa  km entfernten Leksa – zentriert. Am Kerženec entstanden dezentral angeordnete Einsiedeleien. In Starodub’ dominierten laizistische Siedlungen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kamen die großstädtischen Zentren Preobraženskoe kladbišče und Rogožskoe kladbišče– eine Mischung von Kloster, Herberge, Missions-, Verwaltungs- und Handelsstützpunkt – hinzu sowie Siedlungen (slobody) in Großstadtnähe. In diesem Zuge bildeten sich auch die Gemeinden in den letgallischen Städtchen Rēzekne und Daugavpils sowie in der Moskauer Vorstadt von Riga, laizistische Siedlungen und ein Großstadtzentrum, wenngleich, wie eine sloboda, vor den Toren der alten deutschen Kaufmannsstadt, wo die Altgläubigen zwar in kompakten Nachbarschaften lebten, jedoch zugleich in ethno-konfessionell gemischte Stadtbürgerschaften integriert waren.⁶⁸ Die internen Gemeinschaftsformen werden in der Forschung unterschiedlich interpretiert und definiert. Uneinigkeit besteht über die soziale Herkunft der Altgläubigen, darüber, ob es sich um die Gemeinschaft rebellischer Unterschichten (populistische Variante), um eine Allianz von unterdrückten Bauern und alten, überlebten Eliten (Klerikern, Bojaren, Kaufleuten) gegen die Moderne⁶⁹ oder aber um eine „complete counter society“ parallel zur offiziellen Gesellschaft im imperialen Russland handelte.⁷⁰ In jedem Fall folgte die Gemeinschaftsbildung der Altgläubigen in der russländischen Geschichte eigenen, dem westeuropäischen Fortschrittsmodell nicht gehorchenden Gesetzmäßigkeiten. Diachron betrachtet, bildeten die Gemeinschaften zunächst einen „Querschnitt“ der Gesellschaft. Später wurden sie durch Verfolgung be⁶⁷ ⁶⁸

⁶⁹ ⁷⁰

Eckardt, Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga, S. –. Ebda., S. ; Ulrike von Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga –, Göttingen , S. –; Vladislavs Volkovs: Das Riga der Russen, in: Erwin Oberländer, Kristine Wohlfahrt (Hg.): Riga. Portrait einer Vielvölkerstadt am Rande des Zarenreiches –, Paderborn , S. –, hier S. –. Vgl. Fußnote . Nolte, Sozialgeschichtliche Zusammenhänge, S. , . Crummey, The Old Believers & The World of Antichrist, S. ; Nolte, Sozialgeschichtliche Zusammenhänge, S. ; Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S.  f.

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ziehungsweise Marginalisierung auf die unteren Schichten reduziert. An die Stelle des Adels trat der Kaufmannsstand als Oberschicht. Er übernahm die Funktionen der finanziellen wie der politischen Absicherung der Altgläubigen sowie der Organisation und Modernisierung ihrer gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen Institutionen.⁷¹ Uneinigkeit herrscht auch über die sozialpolitische Verfassung der Gemeinschaft: War sie eher patriarchalisch-hierarchisch nach dem Vorbild der Kirchenorganisation oder aber – wie Crummey vor allem der Vyg-Gemeinde unterstellt – demokratisch wie die Bauerngemeinde (mir) und wie die russischen Klöster organisiert?⁷² Indizien sprechen für eine – je nach Gemeinde unterschiedlich dosierte – Mischung aus beidem. Unumstritten ist wohl, dass die Altgläubigengemeinschaft nicht demokratischer war als die umgebende zumeist bäuerliche Gesellschaft, wohl aber geordneter.⁷³ Namhaft wurden charismatische männliche, auch ‚Väter‘ oder nastavniki [Vorsteher] genannte Führerfiguren wie die Brüder Andrej (gest. ) und Semen Denisov von Vyg , Il’ja Kovylin (gest. ), Ziegeleibesitzer, Kaufmann und Leiter des Preobraženskoe kladbišče in Moskau, in deren Nachfolge sich Ivan Zavoloko im . Jahrhundert verstand. Ein interessanter Indikator für den Grad an Demokratie und Zivilisierung des Alten Glaubens ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Auf der einen Seite galt auch dort die patriarchalische altrussische Ordnung des Domostroj. Auf der anderen stellte die altgläubige Gemeinschaft für Frauen einen Freiraum dar, bot Zuflucht für Waise, Unverheiratete und Witwen; machte die eigenwillige Verbindung eines Paares möglich und erlaubte unter Umständen eine begrenzte Leitungsfunktion der Frau. Ein Beispiel dafür liefert das Leksa-Kloster unter der Führung von Solomonija Denisova. Auffällig war der hohe Frauenanteil in den Gemeinden am Vyg wie am Kerženec.⁷⁴ . Das Verhältnis zur Welt – die wirtschaftliche Tätigkeit Ähnlich wie die jüdische Diaspora vor der Emanzipation war der Alte Glaube, um seine Existenz nicht aufs Spiel zu setzen, nach den Bauern- und Kosakener⁷¹

⁷² ⁷³ ⁷⁴

Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. . Über die Rolle altgläubiger Kaufleute und Industrieller als Initiatoren russischer Geselligkeit und Öffentlichkeit in Riga während der . Hälfte des . Jahrhunderts siehe Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit, S. –; Volkovs, Das Riga der Russen, S. . Crummey, The Old Believers & The World of Antichrist, S. . Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. . Crummey, The Old Believers & The World of Antichrist, S. ; Hildermeier: Alter Glaube und neue Welt, S. –; Robson, Old Believers, S. ; Paert, Old Believers, Religious Dissent and Gender, S. – (mit Bezug auf Smirnov, Značenie ženščiny).

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Alter Glaube, neue Perspektiven?

hebungen, geführt von Stenka Razin () und den Rebellionen des Klosters Solovki () und andernorts (Moskau , , Kursk, Pleskau, Novgorod ) mehr als zwei Jahrhunderte, bis zu seiner Legalisierung durch das Toleranzedikt von , gezwungen, sich in der Politik indifferent zu verhalten. Als Ersatz entwickelten Altgläubige eine rege Wirtschaftstätigkeit. Zunächst ging es darum, die Existenzgrundlage zu sichern und die Selbstversorgung zu gewährleisten, sodann wollte man neue Anhänger gewinnen. Dabei galt es, die natürlichen Bedingungen und Unbilden der Umgebung zu berücksichtigen wie die Chancen der Peripherie zu nutzen. Die klösterlichen Gemeinschaften an Vyg und Leksa entwickelten sich zu vorbildlichen Landwirtschaften, die aus Not auch Handel und Gewerbe im größeren Stil betrieben. Als Fischer und Robbenjäger befuhren die altgläubigen pomorcy das Fluss- und Seegebiet wie die Weißmeerküste, verkauften in Petersburg landwirtschaftliche Produkte, organisierten Handelstransaktionen über die Seen und Flüsse bis nach Moskau, erschlossen die Umgebung verkehrstechnisch durch Straßenbau und Fährdienste über den Onega-See.⁷⁵ Aus der politischen Verpflichtung zur Industriearbeit, zur Eisenverhüttung in den staatlichen Fabriken von Povenec unter Peter I. während des Nordischen Krieges, gewannen Altgläubige aus dem Pomor’e Qualifikationen als Prospektoren, podrjadčiki [Subunternehmer] und Lohnarbeiter, die sie, als die Werke nach Kriegsende geschlossen wurden, in der aufkommenden Eisenverhüttung im Ural und im Kupferbergbau des Altaj weitervermittelten und zur Anwendung brachten.⁷⁶ Die Selbstversorgung der klösterlichen Gemeinschaften wurde durch bäuerliche Wirtschaften im Umland ergänzt und durch die Vermittlertätigkeit laizistischer Glaubensgenossen und Kaufleute in den Städten unterstützt. Anders als am Vyg entwickelten die Einsiedeleien (skity) in den Wäldern jenseits der Wolga keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, sondern lebten vielmehr von der Unterstützung wohlhabender städtischer Mäzene. Im wald- und sumpfreichen Starodub’-Gebiet und auf der Vetka entstanden bäuerlich-gewerbliche und Handwerker-Siedlungen (slobody), die einen regen Handel mit dem Umland betrieben.⁷⁷ In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entfalteten die Zentren in den Großstädten, vor allem in Moskau und in Riga, rege wirtschaftliche Aktivitäten: Sie fungierten als Handels-, Kapital- und Kreditgesellschaften, arbeiteten mit Erbschafts- und anderen Spenden, kauften Leibeigene frei, nahmen, um als Unternehmer billige Arbeitskräfte und Gemeindemitglieder zu gewinnen, illegal Läuflinge auf. Die ⁷⁵ ⁷⁶ ⁷⁷

Crummey, The Old Believers & The World of Antichrist, S.  f. Zen’kovskij, Staroobrjadcy technokraty; Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S. –. Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. –.

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Rigaer Gemeinde unterhielt mit der Moskauer Preobraženskoe kladbišče enge und regelmäßige Kontakte.⁷⁸ Im Gebiet um Moskau herum entstanden in Ivanovo und Lefortovo prosperierende (Textil-)Industrie-Siedlungen, bestehend aus ehemaligen Bauern, die in Moskau zum Alten Glauben konvertiert waren.⁷⁹ Ebenso verhielt es sich in der Moskauer Vorstadt von Riga, wo altgläubige Kaufleute vor allem die Lederindustrie aufbauten, aber auch Fabriken zur Verarbeitung von Baumwolle und Herstellung von Gusseisen und Ziegelsteinen errichteten.⁸⁰ Auffällig ist der religiös motivierte soziale wie ökonomische Protektionismus unter den Altgläubigen als wirksamer Mechanismus für Mission wie für prosperierende Wirtschaftstätigkeit. Altgläubige Händler und Unternehmer fungierten als Mittler zwischen fernen großstädtischen oder ausländischen Märkten und der traditionellen ländlichen Lebenswelt. Bis zum ersten großen allgemeinen Industrialisierungsschub waren altgläubige Wirtschaftspioniere in Russland, während sie in späteren Phasen der Modernisierung eher unauffällig blieben.⁸¹ . Raskol, Alter Glaube und Protestantismus Fremd- und Eigenbezeichnung differieren. Die Bewegung nennt sich selbst Altritualismus oder Alter Glaube. Aber seit dem Kirchenkonzil im apokalyptischen Jahr  (ein magisches Datum auch für den gläubigen Newton, um das Gravitationsgesetz öffentlich zu formulieren, wie für den Pseudomessias Sabbatai Zewi, um den Sturz der weltlichen Macht in Konstantinopel in Gang zu setzen) wird der Alte Glaube gemeinhin mit raskol – dem russischen Wort für Schisma – identifiziert und raskol als die große Kirchenspaltung in Russland angesehen. Diese Konnotation transportierte – so Michels – eine sprachliche Verschiebung von ‚Protest‘ zu ‚Verweigerung der neuen liturgischen Ordnung‘, grenzte den Protest aus und suggerierte einen Dualismus in der russischen Kultur.⁸² Seitdem galt der Alte Glaube als Sekte.⁸³ Erst  wurde das Anathema ⁷⁸

⁷⁹ ⁸⁰

⁸¹ ⁸² ⁸³

Nach Schätzungen von Pavel I. Mel’nikov waren Mitte des . Jh. etwa die Hälfte der Bevölkerung Moskaus und seiner Vororte (.) Altgläubige (zit. nach Blackwell, The Beginnings of Russian Industrialization, S. ); Podmazov, Staroobrjadčestvo v Latvii, S. –. Eckardt, Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga, S. . Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S. –. Arnol’d Podmazov: Russkie starožily i rižskie starovery v XVIII veke, in: Russkie Latvii, http://www.russkije.lv/ru/pub/read/rizhskie-starovery/starovery.html [zuletzt aufgerufen am ..]. Gerschenkron, Europe in the Russian Mirror, S. –. S. ; Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S. . Michels, At War with the Church, S. –. Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen, S. .

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Alter Glaube, neue Perspektiven?

von der orthodoxen Kirche offiziell wieder aufgehoben. Nach dem Zusammenbruch der alten, sowjetischen Ordnung erhielten die Gemeinden der Altgläubigen neue Freiheiten. Die Differenz von Fremd- und Eigenwahrnehmung hat einen weiteren Aspekt. Sie führte zu einer Divergenz zwischen gleichbleibendem Selbstverständnis und sich verändernder Bewegung im Prozess der Geschichte.⁸⁴ Man denke an die Verfolgten, die Rebellen und Märtyrer des . Jahrhunderts im Vergleich mit der postsowjetischen Gemeinde, die man in Lettland zum Beispiel als eine von vielen Konfessionen wahrnimmt und kategorisiert. Seit dem Toleranzedikt von  im Russischen Reich und erst recht seit Inkrafttreten der Minderheitenrechte in der ersten lettischen Republik ist wohl auch die Definition vom Alten Glauben als gemeinschaftlich organisierter Sozialutopie einer Allianz von unterprivilegierten und traditionsgeleiteten Bevölkerungsschichten in einer Umbruchszeit mit variabler sozialer Basis obsolet. Kann man die starovery nun als Traditionalisten oder als Avantgarde bezeichnen? Max Webers religionssoziologische Überlegungen zum Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und protestantischer Ethik wurden – mit unterschiedlicher Akzentuierung – auf den Alten Glauben übertragen. Mit Niklas Luhmanns systemtheoretischem Ansatz deutete Hans-Heinrich Nolte die soziale Funktion des Alten Glaubens im Prozess der Moderne: Er habe der Komplexität der russischen Gesellschaft im . Jahrhundert einen Begriff und ihrer Differenzierung, eine Richtung gegeben,⁸⁵ denn die Protestbewegung entfesselte sowohl in der russischen Gesellschaft als auch innerhalb der russischorthodoxen Kirche und Konfession einen Wettbewerb und bot Unzufriedenen individuelle Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten an. Gerade die rückwärtsgewandte Bewegung erzeugte Fortschritt im Sinne der Schaffung einer Diversität. Pia Peras Forschungen belegen Einflüsse des Pietismus auf den Alten Glauben: Im Streit um das Sakrament der Ehe trat der altgläubige Theologe Pavel Ljubopytnyj (–) aus der Gemeinschaft der priesterlosen Pomorcy Anfang des . Jahrhunderts für naturrechtlich begründete Willensfreiheit in dieser Frage und individuelle, verinnerlichte Frömmigkeit ein.⁸⁶ In Riga mag im Laufe der Zeit die vorwiegend protestantische Umgebung Einfluss auf den Alten Glauben genommen haben.⁸⁷ Dazu mögen auch in der jüngeren Geschichte, zwischen den beiden Weltkriegen, nicht zuletzt die maßgeblich von den protestantischen deutschen Balten geprägten Minderheitenrechte bei⁸⁴ ⁸⁵ ⁸⁶ ⁸⁷

Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. ; ders., Alter Glaube und Mobilität, S. . Nolte, Sozialgeschichtliche Zusammenhänge, S. . Pera, The Old Believers and German Pietism, S. –. Eckardt, Die russischen Altgläubigen in Riga, S. .

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getragen haben. Doch nicht die Prädestinationslehre, nicht die calvinistische Gemeindeordnung, nicht die Formierung einer besonderen Ethik als ‚Bahn‘ des Protests je für sich genommen machten das Gemeinsame zwischen diesen beiden so verschieden historisch bedingten Bewegungen des Protestantismus im Westen und der Altgläubigen-Bewegung im Osten Europas aus – die „funktionale Äquivalenz“ bei „substantieller Differenz“⁸⁸ –, sondern das Zusammenwirken heterogener Faktoren, der Allianz von sozialem und religiösem Protest in Krisenzeiten mit dem Wettbewerb der Kirchen im Prozess der Moderne, der auf Seiten des Alten Glaubens die paradoxe Struktur von eschatologischer Naherwartung und intensiv betriebener Existenzsicherung produzierte. Bei aller Geschlossenheit nach außen differenzierte und veränderte sich der Alte Glaube im Laufe von mehr als drei Jahrhunderten. Diese Elastizität kam der Bewegung angesichts der Herausforderungen durch die Staatskirche, durch die autokratische Herrschaft wie atheistisch-totalitäre Sowjetmacht und durch die Moderne zugute. Am Beispiel des Alten Glaubens zeigt sich das komplexe und dynamische Verhältnis von Tradition und Moderne, und es wird sichtbar, wie die Denkfigur der Geschichte als Fortschritt ins Leere läuft.

⁸⁸

Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt, S. .

Bauerngemeinden und Bürokratie Rückständigkeit in der russischen Reformdiskussion in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts David Feest

Die Erforschung der Geschichte des ausgehenden Zarenreichs muss sich zwei Herausforderungen stellen. Zum einen muss sie die Geschichte Russlands als Teil der europäischen Geschichte erzählen. Ein Rückzug in reine Lokalgeschichten wäre nur ein neuer Weg in die Exotisierung Russlands, der den vielfältigen Verflechtungen zwischen Russland und Europa nicht gerecht werden kann.¹ Zum anderen fordert gerade diese Kontextualisierung, sich jenem Konzept zu stellen, mit dem die Zeitgenossen versuchten, Russlands Position in Europa zu bestimmen: der Rückständigkeit. Denn diese ist mehr als nur eine veraltete Deutung, die wir entsorgen können wie eine ungültig gewordene Fahrkarte. Sie war auch ein historisch wirkungsmächtiger Faktor, der seine Spuren im Denken und Handeln der Zeitgenossen hinterließ und damit ein Gegenstand der Geschichte selbst wurde. Daher wird Rückständigkeit auch weiterhin ein Bestandteil des Forschungsprogramms bleiben müssen, freilich nicht als Analyseinstrument, sondern als Untersuchungsgegenstand, an dem gezeigt werden kann, wie Deutungen gesellschaftlicher Realitäten immer auch unmittelbar auf deren Gestaltung einwirken.² Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich in diesem Sinne mit der Debatte um ¹

²

Manfred Hildermeier warnte in diesem Sinne bereits  davor, „Rußland wieder als selbstgenügsame, sich selbst erklärende Einheit zu sehen.“ Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –, hier S. . Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Yanni Kotsonis: Making Peasants Backward: Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, –, Houndmills, Basingstoke u. a. . Rückständigkeit als Interpretationsfigur in einem breiteren Sinne behandelte bereits  Hildermeier: Privileg.

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Bauerngemeinden und Bürokratie

die russischen Bauerngemeinden während der Bauernbefreiung . Diese Gemeinden hatten in den Jahrhunderten der Leibeigenschaft die innerbäuerlichen Angelegenheiten geregelt, häufig aber auch eine Mittlerposition zwischen der Verwaltung des Gutshofs und den Leibeigenen eingenommen.³ Die Frage, welche Stellung die Bauerngemeinden nach der Befreiung der Leibeigenen aus der gutsherrschaftlichen Macht einnehmen sollte, stand im Mittelpunkt dieser Debatte. Die Diskussion darüber, in welcher Form die Bauerngemeinden in der Reformzeit als Einrichtungen bäuerlicher Selbstverwaltung zu organisieren und in die lokale Verwaltung zu integrieren sei, transportierte sie aber auch in das Schlaglicht neuer Bewertungsmaßstäbe. Die Debatte um die Bauerngemeinde wurde damit zu einer wichtigen Vorbedingung der Diskussionen um die „Bauernfrage“, die spätestens ab den achtziger Jahren des . Jahrhunderts besonders um die angebliche Rückständigkeit der Bauern kreiste. Im Zentrum meines Zugriffs auf dieses Thema stehen die neuen Formen des Wissens, die diesen Bewertungsmaßstäben zugrunde lagen. Denn um bestimmte Gegebenheiten als rückständig oder fortschrittlich einzustufen, ist nicht nur eine Skala erforderlich, in der das Wissen über sie positioniert werden kann; es bedarf auch einer Form des Wissens, die sich dieser Eingliederung nicht widersetzt. So gesehen ist die Wahrnehmung von Rückständigkeit nicht zuletzt ein Produkt neuer Formen, Wissen über die Welt zu generieren und zu organisieren. In Forschungen zur frühen Neuzeit ist den Verfahren, heterogene Dinge und Ereignisse auf homogene Weise repräsentiertbar und behandelbar zu machen, eine zentrale Bedeutung für das moderne Denken beigemessen worden. Im Kern eines neuen „Modells der Realität“ in unterschiedlichsten Lebensbereichen stand die Forderung nach Vereinheitlichung und Berechenbarkeit. So sind besonders jene Techniken ins Blickfeld der Forschung gelangt, die der Erfassung der Wirklichkeit gleichsam ihren Stempel aufdrückten. Von der statistischen Tabelle, der geographischen Karte oder der doppelten Buchführung bis hin zu alltäglichen wirtschaftlichen Transaktionen durch Geld (dem Abstraktionsmedium schlechthin), trugen neue Verfahren dazu bei, von den konkreten Erscheinungen abstrahierende, universelle Standards zu schaffen, die es ermöglichten, Wissen darzustellen, zu ordnen und zu vergleichen.⁴ ³



Ljudmila Sergeevna Prokof’eva: Krest’janskaja obščina v Rossii vo vtoroj polovine XVIII– pervoj polovine XIX v. (na materialach votčin Šeremetevych), Leningrad , S.  f. Allgemein zu ihren unterschiedlichen Funktionen: Steven A. Grand: Obshchina and mir, in: Slavic Review  (), S. –, hier S.  f. Alfred W. Crosby: The Measure of Reality. Quantification and Western Society – , Cambridge , S. xi und passim; Sybille Krämer: Das Geld und die Null. Die Quantifzierung und die Visualisierung des Unsichtbaren in Kulturtechniken der frü-

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Auch in Russland, so soll in diesem Beitrag gezeigt werden, lieferten solche Techniken die Standards, anhand derer ein Begriff wie „Rückständigkeit“ überhaupt erst einen Sinn erhielt.⁵ Am Beispiel der Bauerngemeinden kann dabei zweierlei gezeigt werden: Auf der einen Seite verdeutlicht es, dass solche Standards kaum auf bestimmte Interessensgruppen oder politische Richtungen beschränkt waren. Moderne Praktiken und Mentalitäten sind mit den unterschiedlichsten kulturellen Sinngebungen kompatibel, und gerade der russische Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie das „kulturelle Programm der Moderne“ divers und widerspruchsvoll umgesetzt wurde.⁶ Vertreter dezidiert modernitätsfeindlicher, traditionalistischer Ideen machten sich die neuen Praktiken und Ansprüche ebenso zu eigen wie Anhänger liberaler Zukunftsvisionen.⁷ Denn sie alle sahen sich in den Jahren ab , als nach dem verlorenen Krimkrieg in einer krisenhaften Weise die alten Gewissheiten und Gewohnheiten zur Disposition standen, zu einer Neuorientierung gezwungen. Besonders am Beispiel der Bauerngemeinde wurde dabei wie unter einem Brennglas nichts weniger diskutiert als die besonderen Bedingungen der russischen Moderne. Auf der anderen Seite kann gezeigt werden, wie aus den modernen Ansprüchen eine Konkurrenzsituation zwischen staatlichen und gutsadeligen Eliten erwuchs, die Grundlage für eine Politik der Isolierung der bäuerlichen Selbstverwaltungen bildete. Die Vorstellung, die Bauernschaft sei schutzbedürftig und rückständig, war unmittelbare Folge dieser Entwicklung.







hen Neuzeit, in: Klaus W. Hemfer, Anita Traninger (Hg.): Macht Wissen Wahrheit, Freiburg/Berlin  (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, ), S. –, hier S.  f.; Alfred Sohn-Rethel: Das Geld, die bare Münze des Apriori, in: ders., Hellmut G. Haasis (Hg.): Beiträge zur Kritik des Geldes, Frankfurt am Main , S. –. George Yaney hat dieses Phänomen unter dem Schlagwort der „Systematisierung“ ausführlich behandelt, dabei aber der Verwaltungspraxis nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. George L. Yaney: The Systematization of Russian Government. Social Evolution in the Domestic Administration of Imperial Russia –, Urbana, IL ; ders.: The Urge to Mobilize. Agrarian Reform in Russia, –, Urbana, IL . Yanni Kotsonis: Introduction: A Modern Paradox: Subject and Citizen in Nineteenthund Twentieth-Century Russia, in: David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity, Houndmills, Basingstoke/London , S. –. Shmuel Noah Eisenstadt: Multiple Modernities, in: Daedalus  (), S. –, hier S. –,  f.

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Bauerngemeinden und Bürokratie

Rationalität und Prozeduren Die Ausarbeitung des Befreiungsstatuts war Aufgabe der von  bis  tätigen Redaktionskommission(en),⁸ die mit Mitgliedern der hauptstädtischen Bürokratie und „Experten“ aus dem Gutsadel besetzt war, welche der Bauernbefreiung positiv gegenüberstanden. Der Begriff der Rückständigkeit spielte in ihren Ausführungen noch kaum eine Rolle. Wo er aber auftauchte, bezog er sich nicht auf die Bauern, denn diese wurden vorerst noch kaum als Subjekte wahrgenommen und galten entsprechend nicht als fortschritts- oder rückständigkeitsfähig. „Rückständig“ war vielmehr das politische Prädikat, das die Reformbürokratie dem konservativen Gutsadel aufdrückte, den sie wechselweise auch als „Anhänger der Leibgeigenschaft“ (krepostnik), „Kolonialist“ (plantator) oder als „Auslöscher des Fortschritts etc.“ bezeichnete.⁹ Für die kleine Gruppe von „aufgeklärten Bürokraten“,¹⁰ die in der Redaktionskommission den Ton angaben, diente er damit als Folie, auf der sich die Spezifika der eigenen Reformpläne besonders gut verdeutlichen und deren Dringlichkeit hervorheben ließ.¹¹ Im Kern ihrer Fortschrittsvorstellungen lag die Ablehnung der gutsadeligen Willkürherrschaft zugunsten eines neuen Herrschaftssystem, das auf Vorstellungen von rationalen Prozeduren auf Grundlage objektiver Informationen basierte. Damit meinten sie die Gültigkeit überpersönlicher und überregional geltender Regelungen, denen nicht die zufälligen Präferenzen Einzelner zugrunde lagen. Ganz ähnlich dem wissenschaftlichen Denken dieser Zeit, das Lorraine Daston und Peter Galison beschrieben haben, lag das Ziel darin, jeg⁸



¹⁰ ¹¹

Formal wurden zwei solcher Kommissionen gegründet, die aber faktisch zusammengezogen wurden und unter einem einzigen Vorsitzenden arbeiteten. Daher ist im Folgenden nur von einer Redaktionskommission die Rede. So das gutsadelige Mitglied der Redaktionskommission Golicyn über seine eigenen Erfahrungen. Nikolaj Petrovič Semenov: Osvoboždenie krest’jan v carstvovanie imperatora Aleksandra II. Bde. –, St. Petersburg , , , , , Bd. , Teil , S. ; in diesem Sinne beklagte sich auch das Gouvernementskomitee aus Simbirsk in einer Adresse an den Zaren, der Adel sei als „rückständiger Stand, der die Leibeigenschaft bewahren will“ dargestellt worden. Ebda., Bd. , S. . Der Begriff wurde geprägt in W. Bruce Lincoln: In the Vanguard of Reform: Russia’s Enlightened Bureaucrats, –, DeKalb, IL . Zum Gutsadel als Feindbild: Daniel Field: The End of Serfdom. Nobility and Bureaucracy in Russia, –, Cambridge/London , S. . Siehe etwa die von Miljutin verfasste Denkschrift des Innenministers Lanskoj über die Rolle des Gutsadels „Blick auf die Lage der Bauernfrage in der gegenwärtigen Zeit“ vom August  in: Semenov, Osvoboždenie, Bd. , S. –. Zur Autorenschaft Miljutins siehe Igor’ Anatol’evič Christoforov: „Aristokratičeskaja“ oppozicija Velikim Reformam. Konec – seredina -ch gg., Moskau , S. .

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liche „Intervention zwischen Subjekt und Repräsentation auszurotten“.¹² „Patriarchalische Methoden“, mochten sie auch noch so wohlwollend sein, entsprachen nicht mehr dem neuen Objektivitätsverständnis, sondern galten als Ausweis von Willkür.¹³ Grundlage der Politik sollten nicht mehr fehlbare Personen, sondern saubere, nach universellen Standards verständliche Prozeduren sein. So neutral diese Ansprüche auch erscheinen mögen, so dienten sie doch immer auch dazu, einheitliche Herrschaftsräume zu schaffen. In einem technischen Sinne forderten sie den Übergang von einer intermediären Herrschaft, die nur bis zu den Mittelsmännern der Verwalteten reicht, zu einer bürokratischen Herrschaft. Die neuen Ansprüche setzten voraus, die Lebenswelten der Beherrschten viel weiter mit universellen Rationalitätsstandards zu durchdringen, und selbst über die entfernteste Gemeinde Informationen einer Art zu beziehen, die sie auch für Außenstehende verständlich, kontrollierbar und manipulierbar machten.¹⁴ Solche Ansprüche waren keinesfalls neu. Das Ministerium für Staatsdomänen, das für jene Bauern zuständig war, die unmittelbar dem Staat gehörten, hatte dieses Ziel schon seit seinem Gründungsjahr () verfolgt. Großangelegte Reformen, die sein Leiter Pavel Dmitrievič Kiselev ab  durchführte, und die als Kiselev’sche Reformen bekannt wurden, zielten auf eine reibungslosere Einbindung der staatsbäuerlichen Selbstverwaltungen in die Instanzenzüge der staatlichen Verwaltung ab. Dabei ging es zunächst darum, überhaupt operationalisierbare Wissensbestände über die ländlichen Gegegebenheiten herzustellen: Die Bauern wurden mit neuen Tabellen und Formularen zur Erfassung ihrer Steuerangelegenheiten konfrontiert, die Buchführung einer Revision unterzogen und die Bauerngemeinden hinsichtlich ihrer Größe vereinheitlicht.¹⁵ Am augenfälligsten war das dichte Netz an Regeln und Vorschriften, mit denen ¹² ¹³ ¹⁴

¹⁵

Lorraine J. Daston, Peter Galison: The Image of Objectivity, in: Representations  (), S. –, hier S. . Siehe etwa: Žurnaly Rjazanskogo gubernskogo zemskogo sobranija -go očerednogo sozyva. Dek. , Moskau , S. . Gerd Spittler: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie  (), S. –. Ausführlichste Beschreibung der Bedingungen dieser Revision: Nikolaj Michajlovič Družinin: Gosudarstvennye krest’jane i reforma gr. P. D. Kiseleva. Bde. –, Moskau , , Bd. , S. –. Zur Verwaltung: ebda., Bd. , S. –; vgl. auch Boris Mironov: Local Government in Russia in the First Half of the Nineteenth Century – Provincial Government and Estate Self-Government, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –.

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Bauerngemeinden und Bürokratie

die Planer der Reform einen gleichförmigen Ablauf der Prozeduren verwirklichen wollte. Eine einzige Anordnung über die Verwaltung von Staatseigentum enthielt über   Paragraphen.¹⁶ Bestrebungen dieser Art waren indessen auch den Gutsbesitzern in Bezug auf ihre Leibeigenen nicht fremd. Zwar unterschied sich der kleine, häufig verarmte Gutsadel in seiner Lebensweise und seinen Ordnungsvorstellungen nur wenig von seinen Bauern.¹⁷ Von Großgrundbesitzern sind dagegen bereits für das . Jahrhundert Versuche bekannt, nach der Befreiung aus der Dienstpflicht auf ihren Gutshöfen Maßstäbe zu verwirklichen, die sie im Staatsdienst erlernt hatten.¹⁸ War für die abwesenden Gutsherren ein intermediärer Herrschaftsstil noch die praktikabelste Verwaltungsform gewesen, so strebten sie nun an, ihre Rationalitätsstandards bis zu den Leibeigenen auszuweiten. Diese „aufgeklärten Feudalherren“, wie Edgar Melton sie in Anlehnung an die „aufgeklärten Bürokraten“ genannt hat, stellten der Willkür früherer Jahre ausgefeilte Regelwerke entgegen.¹⁹ Im . Jahrhundert waren solche Bemühungen dann zunehmend an einer wirtschaftlichen Rationalität orientiert. Dies lässt sich besonders gut am Gouvernement Rjazan’ darlegen, wo eine Gruppe von „Rationalisierern“ bemüht war, wirtschaftliche Abläufe zugunsten einer längerfristigen Gewinnmaximierung zu optimieren, und über neue Formen nachdachte, den eigenen Besitz (einschließlich der Bauern) effizienter zu verwalten.²⁰ Eine von Michail Nikolaevič Semenov erarbeitete „Anleitung zur Gutsverwaltung“, die als Buch überregionalen Einfluss ausübte, führte etwa auf, wie alle potentiellen Arbeitszeiten peinlich genau auf sämtliche im Umkreis des Gutshofs fälligen Arbeiten umzurechnen waren.²¹ Wie engmaschig das Netz von Vorgaben sein konnte, das aus solchen Berechnungen entstand, zeigt das Beispiel des erfolgrei¹⁶ ¹⁷

¹⁸ ¹⁹ ²⁰

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Ebda., S. . Manfred Hildermeier: Der russische Adel von  bis , in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel –, Göttingen  (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft ), S. –, hier S. . Marc Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia: The Eighteenth Century Nobility. New York , S.  f. Edgar Melton: Enlightened Seigniorialism and Its Dilemmas in Serf Russia, –, in: Journal of Modern History  (), S. –. Die Bezeichnung „Rationalisierer“ für sie wurde geprägt von: Ivan Dmitrievič Kovalenko: Krest’jane i krepostnoe chozjajstvo Rjazanskoj i Tambovskij gubernij v pervoj polovine XIX veka. K istorii krizisa feodal’no-krepostničeskoj sistemy chozjajstva, Moskau , S. , ; vgl. auch Petr Vladimirovič Akul’šin: Povsednevnaja žizn’ rjazanskogo dvorjanstva, in: Svetlana A. Inikova (Hg.): Russkie Rjazanskogo kraja, Bd. , Moskau , S. –, hier S.  f. Michail Nikolaevič Semenov: Rukovodstvo k upravleniju imeniem, selom Archangel’skim Ranenburgskago uezda Rjazanskoj gubernii, Moskau , S. .

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chen Großgrundbesitzers und politischen Publizisten Aleksandr Ivanovič Košelev, auf dessen Gutshof die Arbeit, wie ein Zeitgenosse festgestellt hat, „nach genauer Berechnung“ und „fast ohne Unterbrechung“ durchgeführt wurde.²² Solche Praktiken gingen über das Streben nach Profitmaximierung allerdings weit hinaus – für einige Gutsherren scheinen sie zu einer Lebenshaltung geworden zu sein. Sergej Vasil’evič Volkonskij etwa, ein Gutsherr mit militärischem Hintergrund, schätzte, so berichtete sein Sohn, in allem eine „gewisse Definiertheit“, sei „nie der Kalkulationen und Berechnungen müde“ geworden und habe sie „mit der ihm eigenen Konsequenz sogar auf zweitrangige Gegenstände“ angewendet.²³ Und auch auf Košelevs Gutshof gab es nach zeitgenössischen Aussagen „keine Nichtigkeit, über die nicht Buch geführt worden wäre.“²⁴ Košelev und Volkonskij sind daher von besonderem Interesse, da sie zwei der herausragenden Vertreter der lokalen Selbstverwaltung (sing.: zemstvo) des Gouvernements werden sollten. Die Mentalität der Quantifizierung verband sie aber durchaus mit den Beamten des Ministeriums für Staatsdomänen, unter denen nach dem Historiker Boris Nikolaevič Mironov eine „bürokratische Euphorie“ verbreitet war, ein „manisches Verlangen, alles im Detail vorzuschreiben, alles zu regulieren, alles vorherzusehen.“²⁵ Es ist nicht verwunderlich, dass sich solche „Rationalisierer“ von den weniger rationell geführten Gutshöfen älteren Typs durch „größere Einmischung in das Leben der Leibeigenen, und größere Besitzergreifung, sowohl des Bodens als auch in die Arbeit von Leibeigenen“ unterschieden, wie Volkonskijs Sohn später kritisch bemerkte.²⁶ Die Einmischung in „alle Kleinigkeiten“ der Gutswirtschaften machte vor den Lebenswelten der Bauern nicht halt.²⁷ Traditionelle Spielräume, Forderungen neu auszuhandeln, von den vorgegebenen Plänen abzuweichen oder sich ihnen, so weit es ging, zu entziehen, schwanden dadurch immer mehr. Für Zufälle war hier kein Platz mehr: Die Organisation

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Zit. nach Aleksandr Dmitrievič Povališin: Rjazanskie pomeščiki i ich krepostnye. Očerki iz istorii krepostnogo prava v Rjazanskoj gubernii v XIX stoletii, Rjazan’  [], S. . Nikolaj Sergeevič Volkonskij: Nekotorye dannye o knjaze Sergee Vasil’eviče Volkonskom i ego otnošenij k krest’janskoj reforme, in: Trudy Rjazanskoj učenoj archivnoj komissii  (), H. , S. –, hier S. . Zit. nach Povališin, Pomeščiki, S.  f. Mironov, Governement, S. . Nikolaj Sergeevič Volkonskij: Uslovija pomeščič’ego chozjajstva pri krepostnom prave, I–II, in: Trudy Rjazanskoj učenoj archivnoj komissii  (), H. , S. –, hier S. . Povališin, Pomeščiki, S. .

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der Arbeit verlief nach Kriterien, die gleichförmig, verständlich und überprüfbar sein sollten. Die Folgen einer solchen Regulierungswut ähnelten sich bei Staats- und Gutsbauern. Regelwerke, die sich als nicht durchsetzbar erwiesen, forderten immer weitere, detailliertere Vorschriften, deren Kontrolle jedoch kaum zu gewährleisten war. So blieb im besten Falle hinter der Fassade bürokratischer Pflichterfüllung faktisch alles beim Alten. Im schlechtesten Falle aber setzten sich die Bauern gegen die neuen Zumutungen aktiv zur Wehr: Volkonskij wurde Mitte der fünfziger Jahre auf dem Heimweg zu seinem Gutshof Opfer eines Überfalls von Leibeigenen, die besonders die Lage des Hofgesindes beklagten; auf mehreren Gutshöfen Košelevs brachen unmittelbar nach der Bauernbefreiung Aufstände aus, deren Niederschlagung den Einsatz von Armeeeinheiten forderte.²⁸

Lokale Gesellschaft und Einheitsmythen Die wachsenden Ansprüche auf lückenlose Machtausübung musste die Konkurrenz zwischen staatlichen und gutsadeligen Machthabern verschärfen. Staatliche Zentralisierungsforderungen stellten die unterschiedlichen informellen Arrangements, die das örtliche Leben strukturiert hatten, ebenso in Frage, wie die neuen örtlichen Regelwerke. Und Ankündigungen der Regierung, die Lage der Bauern gegebenenfalls durch zentrale Vorgaben (Inventarisierung) zu reglementieren, forderten neue Methoden, die eigene Vormachtstellung zu begründen. Spätestens als abzusehen war, dass die Bauernbefreiung unumkehrbar war, erschien die prekäre Lage, in der sich der russische Adel aufgrund schwacher korporativer Strukturen befand, in einem grelleren Licht.²⁹ Die bange Frage: „Wer sollen wir sein?“ wurde für viele Gutsadelige gleichbedeutend mit der Frage „sein oder nicht sein“.³⁰ Die Schlüsse aus diesen Bedrohungsze²⁸

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Volkonskij, Uslovija, S. ; Walter Markov (Hg.): Die Bauernbewegung des Jahres  in Rußland nach Aufhebung der Leibeigenschaft, Berlin (Ost) , S. ; Vladimir Anatol’evič Gornov: Aleksandr Ivanovič Košelev, „Puše vsego nam dolžno izbegat’ fanfaronit’ liberalizmom …“, in: Aleksej Alekseevič Kara-Murza (Hg.): Rossijskij liberalizm, idei i ljudi, Moskau , S. –, hier S. . Überblick: Friedrich Diestelmeier: Soziale Angst. Konservative Reaktionen auf liberale Reformpolitik in Rußland unter Alexander II. Frankfurt am Main  (= Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; ). Michail Dmitrievič Dolbilov: Soslovnaja programma dvorjanskich „oligarchov“ v – -ch godach, in: VI (), H. , S. –, hier S. ; Aleksandr Ivanovič Košelev: Čto takoe russkoe dvorjanstvo i čem ono byt’ dolžno?, in: ders., Kakoj ischod dlja Rossii iz nynešnogo eja položenie?, Leipzig , S. –, hier S. .

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narien waren über politisch-programmatische Grenzen hinweg sehr ähnlich: Für alle war es von dringendster Wichtigkeit, die lokale Machtausübung in einer Weise zu institutionalisieren, die ihr über die unsicheren Zeiten hinaus Beständigkeit verleihen konnte. Der Anspruch an eine klarere Regelung ihres Einflussbereiches und die Ausschaltung willkürlicher Herrschaftsausübung war bei Konservativen wie Petr Andreevič Šuvalov oder Nikolaj Aleksandrovič Bezobrazov ebenso vorhanden wie bei dem ausgemachten Liberalen Aleksej Michajlovič Unkovskij.³¹ Und nicht nur der liberale Adel versuchte, wie Vladimir Aleksandrovič Čerkasskij es ausgedrückt hat, sich „politisch zu erschaffen“³², auch die „Aristokraten“ wollten nicht zurück in die nikolaitische Ordnung.³³ Den meisten Zukunftsvisionen lagen Vorstellungen lokaler Einheit zugrunde, die eine so starke Legitimations- und Orientierungsfunktion erfüllten, dass von „Einheitsmythen“ gesprochen werden kann. Nicht selten wurden sie als Topos der „verlorenen Einheit“ weit in die Vergangenheit zurückprojiziert und durch historische Konstruktionen legitimiert.³⁴ Die politischen Vorstellungen, wie diese Einheit herzustellen und abzusichern sei, waren dagegen durchaus unterschiedlich. Projekten, eine korporative „Aristokratie“ nach westeuropäischem (besonders englischem) Vorbild zu schaffen, standen Forderungen gegenüber, die Adelsprivilegien im Gegenteil vollständig abzuschaffen, um den Landadel zu einem integrierten (wiewohl noch immer dominanten) Teil einer noch größer gedachten lokalen Gesellschaft werden zu lassen.³⁵ Gerade Košelev argumentierte in diesem Sinne immer wieder, dass die formale Sonderstellung den Adel schwäche, weil er ihn von der Gesellschaft trenne und damit letztlich seiner natürlichen lokalen Führungsrolle als Bildungs- und Leistungselite berau³¹

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Zu Šuvalovs Plänen von , die explizite Normierung, Transparenz, eine ständeübergreifende Verwaltung und die Wählbarkeit der Amtsleute vorsah, siehe Frederick S. Starr: Decentralization and Self-Government in Russia, –, Princeton, NJ , S.  f.; zu Bezobrazov: Nikolaj Aleksandrovič Bezobrazov: Ob usoveršenii uzakonenij kasajuščichsja do votčinnych prav dvorjanstva, in: Dve zapiski po votčinnomu voprosu. S predisloviem i obščim zaključeniem, Berlin , S. –; ders.: Predloženija dvorjanstvu, Berlin . Unkovskijs Vorstellungen der örtlichen Verwaltung sind dargelegt in Aleksej Michajlovič Unkovskij, Aleksej Adrianovič Golovaev: Mysli ob ulučšenii byta pomeščič’ich krest’jan tverskoj gubernii, izložennye tverskim gubernskim predvoditelem dvorjanstva Unkovskim i korčevskim uezdnym predvoditelem dvorjanstava Golovačevym.  g, in: Klassiki teorii gosudarstvennogo upravlenija: upravlenčeskie idei v Rossii, Moskau , S. –. Ol’ga Nikolaevna Trubeckaja: Materialy dlja biografii kn. V. A. Čerkasskogo, Bd. , Buch –, Moskau , , hier Buch , S. . Christoforov, Oppozicija, S. . Zur historischen Untermauerung: Starr, Decentralization, S. –. Dolbilov, Programma; Christoforov, Oppozicija; Košelev, Čto takoe.

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be.³⁶ Dieser Gedanke, der auch vielen liberalen Programmen der gutsadeligen „Gouvernementskomitees“ zugrunde lag, erhielt bei ihm zudem eine slavophile Note, nach der Vergemeinschaftung in Russland auf einer organischen Verbreitung originär russischer Werte geschehen müsse, die er als Alternative zu jedem westlichen Konstitutionalismus sah.³⁷ Über das zentrale Feindbild, gegen das diese Einheit konstruiert wurde, waren sich fast alle Richtungen einig. Es war die dysfunktionale staatliche Bürokratie, brachte sie doch beständig Unordnung dorthin, wo der Adel gerade versuchte, Ordnung zu schaffen. War diese Bürokratie früher ein ungeliebter, aber doch integraler Teil des lokalen Lebens gewesen, so beschrieben liberale wie konservative Protagonisten sie in immer schärfer werdenden Angriffen als „fremd“, „schädlich“ sowie „unrein“ und führten historische Beweise, dass sie nie ein Teil der lokalen Gesellschaft gewesen sei.³⁸ Die Trennung von Staatsdienern und Gutsadeligen, die sozial bereits eine Tatsache war, erhielt so eine ideologische Untermauerung.³⁹ Ganz gleich, wie sich die gutsherrschaftlichen „Rationalisierer“ längerfristig die Formen der Partizipation vorstellte, ob als Repräsentation des Landadels in der Form der vorpetrinischen „Landesversammlungen“ (sing: zemskij sobor) oder in überständischen konstitutionellen Arrangements – die lokale Gesellschaft sollte eine Größe sui generis sein. Welchen Platz die befreiten Leibeigenen in diesem homogenen Raum einnehmen sollten, war umstritten. Während sie für einige Gutsadelige allenfalls als Objekte ihrer Ordnungsentwürfe existierten, wurden sie für andere bereits als aktiver Bestandteil der örtlichen Gesellschaft wahrgenommen. Freilich war es auch für Letztere noch ein weiter Weg bis zur tatsächlichen Integration der Bauern. Die meisten Konzepte sahen ein graduelles Hineinwachsen der gebil³⁶ ³⁷

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Ebda., S. . Evgenija Aleksandrovna Dudzinskaja: Obščestvenno-političeskie vzgljady A. I. Košeleva v poreformennoe vremja, in: Revoljucionery i liberaly Rossii, Moskau , S. –, hier S. . Zu den liberalen Aspekten von Košelevs Programm siehe Richard Wortman: Koshelev, Samarin, and Cherkassky and the Fate of Liberal Slavophilism, in: Slavic Review  (), H. , S. –. Beste Überblicksdarstellungen zu den Slavophilen: Peter K. Christoff: An Introduction to Nineteenth Century Russian Slavophilism. Bd. –, Princeton, NJ , , , . Zu den liberalen Programmen siehe Christoforov, Oppozicija, S. . Dolbilov: Programma, S. ; Aleksandr Ivanovič Košelev: Kakoj ischod dlja Rossii iz nynešnogo eja položenija?, Leipzig , S. –. Zur sozialen Ausdifferenzierung der Bürokratie siehe Walter McKenzie Pintner: Civil Officialdom and the Nobility in the s, in: ders., Don Karl Rowney (Hg.), Russian Officialdom: The Bureaucratization of Russian Society from the Seventeenth to the Twentieth Century, Chapel Hill, NC , S. –, Starr: Decentralization, S. –.

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deteren Bauern in die niederen örtlichen Führungspositionen vor.⁴⁰ Die dafür notwendige kulturelle Integration war für Viele die dringlichste Aufgabe. Immer wieder beklagte etwa Volkonskij, wie weit sich die Kulturen auseinanderentwickelt hätten, „sowohl in den Begriffen als auch in den Gewohnheiten und Interessen“. Viel Mühe müsse daher investiert werden, die Bauern wieder „an sich anzunähern, sie wieder weniger fremd zu machen“.⁴¹ Was früher eine durch die Loyalität zum Zaren legitimierte lokale Machtausübung war wurde im Laufe der Debatten um die Bauernbefreiung zu einer expliziten Mission gegenüber der bäuerlichen Bevölkerung stilisiert, zu einem kulturellen Integrationsprogramm.⁴² „So viel wie möglich“, forderte Volkonskij, solle der Landadel die sittliche und intellektuelle Entwicklung der Bauern vorantreiben, er solle sie „lehren, sowohl ihr Recht als auch das Recht anderer zu respektieren, das bei ihrer neuen Ordnung so wichtig ist.“⁴³ Auf diese Weise verlagerte sich das Interesse der Gutsherren in Bezug auf die Leibeigenen. Wo es bislang darauf beschränkt war, die sozialen Arrangements in den Gemeinden so weit zu beeinflussen, dass ihre eigenen Interessen damit gefördert wurden, die moralische Sphäre aber den Gemeinden selbst oder Kirche überlassen blieb, geriet nun auch diese in das Blickfeld.⁴⁴ Die neue Perspektive ließ auch die Rückständigkeit der Bauern als legitimierendes Moment für die eigene Machtstellung erscheinen: „Unsere Bauern sind in moralischer Hinsicht so unterentwickelt“, argumentierte etwa ein Gutsherr aus Rjazan’, „dass für sie die derzeitig existierende Ordnung die beste ist, da sie wie Kinder einen Vormund brauchen […]“.⁴⁵ Ein ähnlicher Wandel ist auch im Umgang der Staatsverwaltung mit den ⁴⁰ ⁴¹

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Nadežda G. Koroleva: Zemskoe samoupravlenie v Rossii –. Bde. –, Moskau , Bd. , S. . Sergej Vasil’evič Volkonskij: Nekotorye zamečanija otnositel’no ulučšenija byta pomeščič’ich krest’jan [wahrscheinlich ], in: Trudy Rjazanskoj učenoj archivnoj komissii  (), H. , /, S. –; –, hier S. . In den Selbstauskünften von Rjazaner Gutsherren aus dem Jahr  ist dieser Aspekt fast durchweg festzustellen, vgl. Povališin, Pomeščiki, S. –. Volkonskij, Zamečanija, S. . Zur sozialen Kontrolle vor  vgl. die Fallstudie von Steven L. Hoch: Serfdom and Social Control in Russia Petrovskoe, a Village in Tambov, Chicago . Über das geringe Interesse an „moralischer Kontrolle“ in dieser Zeit siehe: Stephen Frank: Crime, Cultural Conflict, and Justice in Rural Russia, –, Berkeley/Los Angeles  (= Studies on the History of Society and Culture), S. –; David Moon: The Russian Peasantry, –, London, New York , S. –; Christine D. Worobec: Peasant Russia. Family and Community in the Post-Emancipation Period, Princeton, IL , S. –. Zit. nach Povališin, Pomeščiki, S. .

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Staatsbauern festzustellen. Denn auch Kiselev ging es um nichts weniger als die Bedingungen und den Status der Bauern im Allgemeinen.⁴⁶ Die im Zuge der Reformen neu geschaffenen Domänenhöfe verfügten über so umfassende Zuständigkeiten, dass ihnen, wie der Staatsrechtler Aleksandr Dmitrievič Gradovskij festgestellt hat, „nicht nur das öffentliche, sondern ebenso auch das private Leben der Bauern überantwortet“ wurde: „Die Vormundschaft betraf sowohl die materiellen Interessen der Dorfgemeinden und Bauern als auch ihre Moral, ihre Bildung, teilweise ihr Familienleben, ihre Beziehungen untereinander usw.“⁴⁷ Die Einheitsvorstellungen, mit denen sowohl die bürokratischen als auch die gutsadeligen Eliten ihre jeweilige Vormachtstellung zu begründen suchten, waren mit einer intermediären Herrschaft nicht mehr kompatibel. Gutsherrschaftliche und staatliche Vorstellungen über die Lokalverwaltung schlossen sich nicht aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit, sondern wegen ihrer Gemeinsamkeiten aus, die ein unmittelbares Konkurrenzverhältnis begründeten. Aus den hier aufeinandertreffenden Ansprüchen erwuchs aber auch eine Frontstellung, die in einer kategorialen Trennung des politischen Raums in eine staatliche und eine gesellschaftliche Sphäre resultierte. Sie prägte die Auseinandersetzung der nächsten Jahrzehnte. Diese Trennung war keinesfalls eine russische Besonderheit.⁴⁸ Gemeinsam mit der Kritik an der Bürokratie war sie ein allgemeines europäisches Phänomen.⁴⁹ Welche russischen Spezifika sie aber enthielt, wird besonders deutlich an der Diskussion, die zwischen  und  um die Bauerngemeinde geführt wurde. Sie bildeten das Fundament des Rückständigkeitsdiskurses, der die Debatte um die „Bauernfrage“ gegen Ende des Jahrhunderts prägen sollte.

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Vgl. Olga Crisp: The State Peasants under Nicholas I., in: The Slavonic and East European Review  (), S. –, hier S.  f., . Aleksandr Dmitrievič Gradovskij: Načala russkogo gosudarstvennogo prava, Bd. , Teil . Organy mestnogo upravlenija, Moskau , S. . Zur deutschen Debatte siehe Thomas Ellwein: Der Staat als Zufall und Notwendigkeit, Opladen , S. . Zu Westeuropa und insbesondere dem deutschsprachigen Raum siehe Bernd Wunder: Bürokratie. Die Geschichte eines politischen Schlagwortes, in: Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein, Opladen , S. –; Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im . Jahrhundert, Frankfurt am Main  (= Europäische Geschichte), S. –.

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Die Debatte um die Bauerngemeinde Die Meinungen der Redaktionskommission über die Bauerngemeinde sind nicht mit jenen Positionen gleichzusetzten, mit denen das Ministerium für Staatsdomänen über zwanzig Jahre vorher versucht hatte, die Bürokratisierung der staatsbäuerlichen Gemeinden zu betreiben. Allein schon die Besetzung der Administrationsabteilung, die innerhalb der Kommission für die Verwaltungsfragen zuständig war, zeigt, welche Unterschiede sich auch innerhalb der reformorientierten bürokratischen Elite finden lassen: Auf der einen Seite gab es hier überzeugte Etatisten wie Aleksandr Karlovič Girs und Jakov Aleksandrovič Solov’ev, die bereits in den vierziger Jahren im Ministerium für Staatsdomänen in unterschiedlichen Gouvernements Russlands beschäftigt gewesen waren.⁵⁰ Dort führten sie Katasterarbeiten durch – jene Tätigkeit, die für James C. Scott das „krönende Artefakt“ der vereinfachenden Tätigkeiten hervorbrachte: die Katasterkarte.⁵¹ Durch sie wurde das Land neu kartiert und nach einheitlichen wissenschaftlichen Standards erfasst. Die Karrieren von Girs und Solov’ev wiesen einige Überschneidungen mit jener des engsten Mitarbeiters von Innenminister Nikolaj Alekseevič Lanskoj, Nikolaj Alekseevič Miljutin, auf, der zwar nicht der Administrationsabteilung angehörte, aber an einigen ihrer Sitzungen teilnahm und ihre Entscheidungen maßgeblich beeinflusste.⁵² Zusammen bildeten sie den Kern der „aufgeklärten Bürokraten“ in der Abteilung. Doch waren ihre Maßstäbe keinesfalls unumstritten, wenn auch die Trennlinien zwischen unterschiedlichen Meinungen weniger klar gezeichnet waren, als Bruce Lincolns Aufteilung in „aufgeklärte Bürokraten“ und deren „Gegenspieler“ es glauben machen will.⁵³ Gerade die Frage der Bauerngemeinde ließ neue Gruppierungen entstehen. Die Meinung, der Staat solle sich nach Möglichkeit aus den Interna der Bauerngemeinden heraushalten, wurde sowohl von einem Aleksej Dmitrievič Želtuchin vertreten, der gutsherrschaftlichen Interessen zuneigte, als auch von einem Mitglied mit rein bürokratischer Biographie ⁵⁰

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Petr Petrovič Semenov-Tjan-Šanskij: Ėpocha osvoboždenija krest’jan v Rossii v vospominanijach byvšego člena-ėksperta i zavedovavšego delami Redakcionnych komissij. Bde. –, Memuary P. P. Semenova-Tjan-Šanskogo, III–V, Petrograd ⁷–, Bd. , S. , ; N. Aleksandrovi: Girs, Aleksandr Karlovič, in: A. A. Polovcov (Hg.): Russkij biografičeskij slovar’. Bd.: Gerberskij–Gogenloė, St. Petersburg  [], S. – . James C. Scott: Seing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven, CT/London , S. . W. Bruce Lincoln: Nikolai Miliutin. An Enlightened Russian Bureaucrat of the th Century, Newtonville, MA , S. , ; Semenov, Osvoboždenie, Bd. , S. . Lincoln, Vanguard, S. , .

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Bauerngemeinden und Bürokratie

wie Nikolaj Petrovič Semenov (er hatte im Justizministerium gearbeitet). Die slavophilen Abteilungsmitglieder Jurij Fedorovič Samarin und Čerkasskij entzweiten sich ausgerechnet im Streit um die Zukunft der Umteilungsgemeinde – also der Praxis vieler zentralrussischer Bauern, ihre Bodenabschnitte regelmäßig nach Bedarf umzuverteilen –, die den Slavophilen lange Zeit als Ausweis eines russischen Egalitarismus und als Essenz der russischen Bauerngemeinde gegolten hatte.⁵⁴ Čerkasskij war nun mit den Etatisten einer Meinung, dass sie über kurz oder lang einer moderneren Organisationsform weichen würde.⁵⁵ Ein wichtiger Ausgangspunkt bei der Planung der bäuerlichen Selbstverwaltungen war die überwiegend negative Einschätzung der überbürokratisierten staatsbäuerlichen Verwaltung. Bezeichnenderweise gerieten in dieser Debatte auch die Quellen bürokratischen Wissens unter Beschuss, als Semenov Solov’ev vorhielt, dieser habe das Land lediglich „von St. Petersburg aus als Sonderbeauftragter“ bereist und sei offenbar „Potemkinschen Dörfern“ aufgesessen.⁵⁶ Semenov machte an anderer Stelle klar, wen er für die eigentlichen Experten hielt: die Bauern selbst, die „besser als wir“ wüssten, „was bei ihnen eine Bauerngemeinde [mir] sei, wer auf der Gemeindeversammlung sein soll und wann ihre Entscheidungen gültig sind“.⁵⁷ Die Bürokratie hatte sich aus ihren Angelegenheiten möglichst herauszuhalten. Ein solcher Anti-Interventionismus bildete den Ausgangspunkt der Gemeindepolitik der Redaktionskommission, den deren Vorsitzender Jakov Ivanovič Rostovcev im Übrigen wiederholt einforderte.⁵⁸ Freilich wurde diese Politik aus sehr unterschiedlicher Perspektive gesehen. Für die Etatisten war die Abschirmung der Bauerngemeinde wenig mehr als eine pragmatische Notwendigkeit. Sie ermöglichte den bäuerlichen Selbstverwaltungen, jenseits der Machtansprüche der Gutsherren auf der einen, des korrumpierenden Einflusses der lokalen Bürokratie auf der anderen Seite einen Weg zu modernen Praktiken zu finden. Für Samarin dagegen verkörperte die Bauerngemeinde einen Wert an sich, eine örtliche Alternative zu eben diesen Praktiken. Aus diesem Grund lehnte er sogar ab, ihr überhaupt exekutive Befugnisse zu übertragen, damit die Bauern nicht zu Bürokraten (činovniki) würden.⁵⁹ ⁵⁴ ⁵⁵ ⁵⁶ ⁵⁷ ⁵⁸ ⁵⁹

Grand, Obshchina; Carsten Goehrke: Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des „Mir“, Wiesbaden . Semenov, Osvoboždenie, Bd. , S. . Ebda., Bd. , S. . Ebda., S. . Ebda., S. , . Ebda., Bd. , S. .

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Gegen einen Anti-Interventionismus im Sinne Semenovs oder Samarins waren indessen von Anfang an eine Reihe von Faktoren wirksam: So musste die Redaktionskommission ein Interesse daran haben, sofort funktionsfähige Einheiten für jene Aufgaben zu schaffen, die unmittelbaren staatlichen Charakter trugen – insbesondere für die Eintreibung von Steuern. Hier eine Einmischung in die bäuerlichen Lebenswelten zu verhindern, gleichzeitig aber modernen bürokratischen Ansprüchen zu genügen, erwies sich als schwierig. Die Redaktionskommission versuchte, das Dilemma durch eine organisatorische Zweiteilung zu lösen: Die alte Umteilungsgemeinde sollte als örtliche Wirtschaftsverwaltung erhalten bleiben, in der die lebensweltlichen Organisationsprinzipien ihre Geltung behielten. Ihr war aber ein Verwaltungsbezirk zur Seite zu stellen, der gegebenenfalls auch mehrere Umteilungsgemeinden umfassen konnte und in dem die universalen Rationalitätskriterien der Staatsverwaltung herrschen sollten.⁶⁰ Die beiden Institutionen sollten keinen Instanzenzug bilden, sondern strikt voneinander getrennt agieren. Diese Trennung ließ sich aber nicht durchhalten. Schon die im Laufe der Debatte veränderten Bezeichnungen für die beiden Einheiten machen deutlich, dass auch die Bodengemeinden immer mehr zu regulären Verwaltungseinheiten wurden: Nach mehreren Umbenennungen, die unter vielen Beteiligten für Verwirrung sorgten, hieß die Bodengemeinde so, wie ursprünglich der Verwaltungsbezirk heißen sollte: Landgemeinde (sel’ skoe obščestvo), der Verwaltungsbezirk aber erhielt den Namen volost’. Eben dies waren aber die im strengen Instanzenzug der Staatsbauern geltenden Bezeichnungen.⁶¹ Den semantischen Wandel begleitete eine geradezu schleichende Auflösung jener Grenzen, welche ursprünglich die staatliche von der dörflichen Sphäre trennen sollte. Was ursprünglich als Wirtschaftsgemeinde geplant gewesen war, belegte die Redaktionskommission mit Aufgaben wie „Wohlfahrt, Wohltätigkeit und die Verbreitung von Lesefähigkeit“, womit die Bauerngemeinde immer stärker einer kleineren Ausgabe der Bezirksverwaltung glich.⁶² ⁶⁰ ⁶¹

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Diese Zweiteilung sollte auch dort durchgeführt werden, wo es überhaupt keine Umverteilungsgemeinden gegeben hatte. Die terminologischen Veränderungen als Ursache für den Bedeutungswandel betont Ivan Michajlovič Strachovskij: Krest’janskie prava i učreždenija, St. Petersburg , S. . Kornilov sieht dagegen darin eine logische Konsequenz der Politik der Redaktionskommission, Aleksandr Aleksandrovič Kornilov: Krest’janskoe samoupravlenie po položeniju  fevralja, in: Velikaja reforma. Russkoe obščestvo i krest’janskij vopros v prošlom i nastojaščem. Pod redakciej A. K. Dživelegova, S. P. Mel’gunova, V. I. Pičeta, Bd. , Moskau , S. –. Eine genaue Aufzählung ihrer gesamten Zuständigkeiten findet sich in Pervoe izdanie materialov Redakcionnych Komissij dlja sostavlenija položenij o krest’janach, vychodjaščich

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Es waren insbesondere die neuen Einheitsstandards, welche die der Bodengemeinde ursprünglich zugedachte Autonomie zu einer wackeligen Angelegenheit werden ließ. Dies zeigt sich besonders bei der Frage der Zusammensetzung und des Wahlmodus der Bauerngemeinden sowie der Formalisierung ihrer Beschlüsse. Semenovs Meinung, den Bauern solle bei der Ausgestaltung ihrer Selbstverwaltungseinrichtungen möglichst freie Hand gelassen werden, konnte sich auch in diesem Punkt in der Redaktionskommission nicht durchsetzen. Sie entsprach einfach nicht der Logik einer prozeduralen Kontrolle, die im Kern der staatlichen Einheitsvorstellungen stand. Wenn schon die unmittelbaren Eingriffe der Bürokratie in die bäuerliche Verwaltung verringert werden sollten, dann musste auf der anderen Seite eine Steuerung durch die geeigneten Verfahren ihrer Wahl und ihrer Entscheidungsbefugnis gewährleistet sein. In diesem Sinne forderte gerade Miljutin, dass die Arbeit der Dorfversammlungen festzulegen sei. „Das alles muss eine richtige Form besitzen“, begründete er seine Vorschläge, die Anzahl der Teilnehmer zu beschränken und die Wahlprozeduren stärker zu reglementieren.⁶³ Offenbar sollte verhindert werden, dass das personale über das prozedurale Prinzip Oberhand gewann. Solov’ev etwa warnte davor, die Dorfältesten automatisch zu Mitgliedern der Bezirksverwaltungen zu machen. Auf diese Weise entstünde eine neue Machtelite, welche die eben aus der Gewalt der Gutsherren entlassenen Bauern wieder ihrer Freiheit berauben werde.⁶⁴ Das Motiv der Schutzbedürftigkeit der gemeinen Bauern gegenüber den Dorfeliten wurde später ein wesentliches Element des Rückständigkeitsdiskurses. Es verband sich nahtlos mit dem sozialökonomischen Argument, die Bauerngemeinden müssten als Garant gegen soziale Differenzierung und der damit einhergehenden Verelendung und Proletarisierung der breiten Bauernschaft bestehen bleiben – das Motiv eines „Privilegs der Rückständigkeit“ schien hier bereits auf.⁶⁵ Um diesem Ideal zu entsprechen, sollten die Selbstverwaltungen zwar mit größtmöglicher Autonomie agieren, gleichzeitig aber durch festgelegte Prozeduren gewährleistet sein, dass der Partizipationsmodus der Dorf- sowie der Verwaltungsgemeinden den Ordnungsvorstellun-

⁶³ ⁶⁴ ⁶⁵

iz krepostnoj zavisimosti, Teil –, Sankt Petersburg –, Bd. , S. ; Vtoroe izdanie materialov Redakcionnych Komissij dlja sostavlenija položenij o krest’janach, vychodjaščich iz krepostnoj zavisimosti, Bd. –, Sankt Petersburg –, Bd. , Buch , S. . Semenov, Osvoboždenie, Bd. , S. . Ebda., S. . Besonders prominent vertrat diese Meinung Alexander Herzen. Aleksandr Ivanovič Gercen: Dviženie obščestvennoj mysli v Rossii: Per. s fr.: S pril. portr. A. I. Gercena i st. „O sel’skoj obščine v Rossii“, Moskau ; vgl. auch Hildermeier, Privileg, S. –.

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gen der St. Petersburger Bürokraten entsprach. Nur wenige der Letzteren sahen einen Widerspruch darin. Die Gutsadeligen dagegen, die aus dem Entscheidungsprozess über die Bauerngemeinden zunehmende ausgeschlossen wurden, sahen in der Politik der Redaktionskommission in erster Linie eine Steigerung des bürokratischen Einflusses. Auch wenn es durchaus Überschneidungen mit den eigenen Ordnungsvorstellungen gab, so würde doch die Macht auf diese Weise in die falschen Hände geraten. In ihren Augen drohte die bäuerliche Selbstverwaltung, zu einer staatlichen Veranstaltung zu werden. Derartig in die Enge getrieben entdeckten die Gutsadeligen unterschiedliche theoretische Begründungen, die sie gegen diesen Einfluss ins Feld führen konnten. Auf der einen Seite hielten westeuropäische Theorien der Selbstverwaltung Einzug in die russische Debatte – der Begriff „self-gouvernement“ tauchte im russischen Sprachgebrauch erstmals im Jahr  auf und breitete sich in den sechziger Jahren immer weiter aus.⁶⁶ Auf der anderen Seite wurden Behauptungen laut, die Ausweitung der staatlichen Bürokratie sei nicht mit den spezifisch russischen Traditionen kompatibel. Nicht nur Košelev – auf seinen Gutshöfen als Rationalisierer berüchtigt – verteufelte die Bürokratie als „germanischen Import“.⁶⁷ Auch breitere Schichten des konservativen Adels begannen, wie es der Publizist und Historiker Aleksandr Aleksandrovič Kornilov ausgedrückt hat, ihre Interessen fortan mit Argumenten „aus dem slavophilen Arsenal“ zu verteidigen.⁶⁸ Umgekehrt erschien der konservative Gutsadel nun auch dem slavophilen Košelev nicht mehr so abstoßend. Košelevs Hoffnung auf den Staat Vollstrecker progressiver Ideen hatte einen empfindlichen Rückschlag erlitten, als ihm die Mitarbeit in der Redaktionskommission versagt geblieben war. Die Resultate ihrer Arbeit bestärkten ihn in seiner ablehnenden Haltung. Als Delegierter des „ersten Aufgebots“ von Adelsvertretern, das im Jahr  nach St. Petersburg eingeladen, dort aber weitgehend ignoriert wurde, entdeckte er seine Übereinstimmungen mit jenen Gutsbesitzern, die zum Kern einer neuen aristokratischen Opposition werden sollten.⁶⁹ Ihr eigentliches Betätigungsfeld erhielten reformbereite Gutsadelige aber erst ⁶⁶ ⁶⁷

⁶⁸ ⁶⁹

Starr, Decentralization, S. –, insb. S. ; Koroleva, Samoupravlenie, S. . Košelev, Ischod, S. ; Marc Raeff: Russia after the Emancipation. Views of a Gentleman-Farmer, in: The Slavonic and East European Review  (), S. –, hier S. . Aleksandr Aleksandrovič Kornilov: Obščestvennoe dviženie pri Aleksandr II. (– ). Istoričeskie očerki, Moskau , S. . Aleksandr Ivanovič Košelev: Zapiski Aleksandra Ivanoviča Košeleva (– gody). S sem’ju priloženijami, Berlin , S. ; [ders.:] Deputaty i redakcionnye kommissii po krest’janskomu delu, Leipzig , S. –.

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einige Jahre später und in einer ganz anderen Institution: in den örtlichen Selbstverwaltungen (sing.: zemstvo), die ihre Tätigkeit im Jahr  aufnahmen. Sie operierten oberhalb der bäuerlichen Selbstverwaltung auf Kreis- und Gouvernementsebene und waren allständisch organisiert. Die dominierende Rolle spielte in ihnen in den ersten Jahrzehnten der gutsbesitzende Adel.

Das zemstvo und die Bürokratie Die Anfangsphase der zemstva zeigt, wie ähnlich die Ordnungsvorstellungen der reformbereiten Gutsadeligen auf einer elementaren Ebene jener der staatlichen Rationalisierer waren. Der unmittelbare Einfluss auf die Dorfgemeinden blieb den zemstvo-Aktivisten zwar ebenso versagt, wie die Gründung von Vertretungen oberhalb der Gouvernementsebene. Umso mehr aber war es in ihrem Interesse sein, die aus unterschiedlichen Einrichtungen an sie übertragenen örtlichen Funktionen zu einem stimmigen Ganzen zu integrieren.⁷⁰ „Enthusiastische Reformer sahen das zemstvo von  als den neuen Bund, der sie mit der ganzen russischen Gesellschaften in Form einer lokalen Selbstverwaltung vereinen, die adeliges Unternehmertum mit einem gemeinsamen Anliegen verbinden würde“, hat Dorothy Atkinson diese Haltung zusammengefasst.⁷¹ Es ist kein Zufall, dass es eben die Rationalisierer der Vorreformzeit waren, die hier zunächst ein neues Betätigungsfeld fanden. In Rjazan’ etwa widmete sich Košelev intensiv der Arbeit im Kreiszemstvo von Sapožok und im Gouvernementszemstvo. Volkonskij aber übernahm den Vorsitz des Letzteren. Bezeichnenderweise war für ihn das zemstvo nicht nur ein Verwirklichungsraum politischer Ideen, sondern ebenso sehr ein Versuchsfeld administrativer Verfahren. „Wenn Recht und Ordnung die Seele einer menschenreichen Versammlung sind,“ legte er  in seiner Eröffnungsrede der zweiten Sitzungsperiode dar, „dann sind, nicht weniger als das Recht, die Buchhaltung und das Rechnungswesen die Seele jeder Wirtschaft, wobei die zemstvo-Wirtschaft keine Aus⁷⁰

⁷¹

Von der „Hauptverwaltung für Verkehrswege und Öffentliche Gebäude“ und der „Gouvernementskommission für Bau und Wege“ übernahmen die zemstva die Verantwortung für die Infrastruktur, vom „Amt für öffentliche Fürsorge“ das Gesundheitswesen und von der „Sondereinrichtung für Landschaftliche Obliegenschaften“ sowie der „Landkreiskommission“ die Verantwortung über den Einzug und die Verteilung der landschaftlichen Steuern. Die Aufgaben einer Reihe weiterer Einrichtungen kam noch hinzu. Dorothy Atkinson: The Zemstvo and the Peasantry, in: Terence Emmons, Wayne S. Vucinich (Hg.): The Zemstvo in Russia: An Experiment in Local Self-Government, Cambridge , S. –, hier S. .

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nahme darstellt.“⁷² Die anfängliche Arbeit der zemstva bestand in hohem Maße eben darin, die dafür notwendigen Wissensbestände zu ermitteln, die den Maßstäben von „Objektivität“ und „Rationalität“ entsprachen. Auch die zemstva setzten dabei auf prozedurale Lösungen: Als Grundlage einer gerechteren Verteilung von Geld- und Naturalabgaben wurden Bodenbesitz, Einkünfte oder Arbeitsaufwand genommen. Diese sollten in einer Weise ermittelt werden, die nicht mehr im Ermessen einzelner Beamter und Gutsherren lage. Schon bevor die zemstvo-Statistik als eigenes Betätigungsfeld eigene Wege ging und sich einen Namen machte, bemühten sich die Selbstverwaltungen darum, neue Objektivitätsstandards durchzusetzten.⁷³ Zunächst konnte es dabei um nicht viel mehr gehen, als einen Anspruch zu formulieren. Auf die bereits seit den dreißiger Jahren vorgesehene Möglichkeit, lokal einen gewissen Ausgleich bei der Verteilung der Lasten vorzunehmen, blickten die Abgeordneten als „palliative Maßnahmen“ herab. Ihre Ansprüche an Rationalität und Gerechtigkeit waren universell, selbst wenn es an der empirischen Grundlage noch fehlte. Ein Delegierter des Gouvernementszemstvo von Rjazan’ erklärte  grundsätzlich, es sei „besser, sofort etwas Gerechtes zu machen, als, während man auf die Vollständigkeit [der Informationen] wartet, etwas Ungerechtes zu machen […]“.⁷⁴ Auf diese Weise wurden teilweise Verfahren eingesetzt, die kaum mehr waren als Symbole für Rationalitätsansprüche, für deren Einlösung es an zuverlässigen Informationen fehlte. Ein Grund für diesen Missstand waren die mangelhaften Informationen, welche die lokalen Selbstverwaltungsorgane aus den bäuerlichen Selbstverwaltungen bezogen.

Bauerngemeinden und Rationalität Es war eine notwendige Folge des steigenden bürokratischen Ehrgeizes der zemstva, dass sich ihre Mitglieder zu fragen begannen, nach welchen Spielre⁷² ⁷³

⁷⁴

Obzor zemskoj dejatel’nosti Rjazanskoj gubernij za devjatiletie s  po  god, Rjazan’ , S.  f. Obzor i rezul’taty rabot Rjazanskogo gubernskogo zemstva po ocenke predmetov zemskogo obloženija, Moskau , S. . Zur zemstvo-Statistik: David Darrow: The Politics of Numbers: Zemstvo Land Assessment and the Conceptualization of Russia’s Rural Economy, in: Russian Review  (), S. –; Esther Kingston-Mann: Statistics, Social Science, and Social Justice. The Zemstvo Statisticians of Pre-Revolutionary Russia, in: Susan P. McCaffray, Michael Melancon (Hg.), Russia in the European Context –. A Member of the Family, New York, NY , S. –; Vitalij Fionovič Abramov: Zemskjaja statistika. Organizacija i praktika (k -letiju osnovanija), in: Voprosy statistiki  (), S. –. Obzor zemskoj dejatel’nosti, S. .

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geln die Dorf- und Verwaltungsgemeinden eigentlich ihre Aufgaben erfüllten. In der . Sitzungsperiode im Jahr  musste sich die zemstvo-Versammlung des Gouvernements Rjazan’ eingestehen, dass sie dies selbst nicht wusste. Volkonskij bemerkte, dass man zwar in einem „rein bürokratischen Verhältnis“ mit diesen Stellen stünde, aber keinerlei Kenntnis darüber besitze, „wie dort tatsächlich die unterschiedlichen Zweige der zemstvo-Wirtschaft betrieben werden“.⁷⁵ Abhilfe versprach ein Vorgehen, das der Kreis Char’kov im gleichnamigen Gouvernement bereits seit Ende der er Jahre praktizierte. Dort hatte das zemstvo einige Abgeordnete in die Gemeinden geschickt, um sich über die dortigen Arbeitsweisen zu informieren. Das Innenministerium hatte dies mit dem Vorbehalt genehmigt, dass die Selbstverwaltungen keinerlei Verweise aussprechen dürften und sich jeglicher Einschüchterung zu enthalten hätten. So wurde es auch in Rjazan’ gehandhabt, wo das Gouvernementszemstvo im Jahr  dem Vorbild Char’kovs folgte.⁷⁶ Dennoch blieben die zemstvo-Revisionen der bäuerlichen Selbstverwaltungen in ihrer Zielsetzung durchaus widersprüchlich. Auf der einen Seite galt grundsätzlich das Prinzip der Nicht-Intervention, und die Revisoren sollten kleineren Abweichungen von der gesetzlichen Norm mit Nachsicht begegnen.⁷⁷ Auf der anderen Seite zeichnete sich hier ab, dass das strikte Einmischungsverbot bereits aufgelöst wurde – wenn schon nicht in Taten, dann doch in der Beurteilung der bäuerlichen Selbstverwaltungen: Die internen Tätigkeiten der bäuerlichen Selbstverwaltungen wurden mit den Maßstäben moderner Bürokratien gemessen. Entsprechend negativ mussten die Urteile ausfallen. Die Revisoren stellten in erster Linie fest, dass gerade in den Dorfgemeinden die Verwaltung nicht in jenen Prozeduren funktionierte, die sie als Teil eines größeren Systems rationalisierbar gemacht hätte. Tabellenvordrucke wurden unvollständig ausgefüllt oder blieben gänzlich ungenutzt. Und Steuerbücher wurden aufgrund der Illiterarität der Amtsleute häufig überhaupt nicht oder doch so mangelhaft geführt, dass ein Revisor zu dem Schluss kam, „dass es besser wäre, es würden überhaupt keine geführt […]“.⁷⁸ Viele Dorfälteste, die für die Steuereinholung zuständig waren, hielten keine der vorgegebenen Termine ein, andere wirtschafteten in die eigenen Taschen.⁷⁹ Gleichzeitig geben die Revisionsberichte auch Auskunft darüber, nach welchen Rationalitätsstandards ⁷⁵ ⁷⁶ ⁷⁷ ⁷⁸ ⁷⁹

Obzor i rezul’taty rabot, S. . Ebda. Doklady členov Rjazanskoj gubernskoj zemskoj upravy o revizii volostej uezdov: Zarajskogo, Dankovskogo, Pronskogo, Egor’evskogo i Skopinskogo, Rjazan’ , S. . Ebda., S. . Ebda., S. , , , , .

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die örtlichen Amtsleute administrative Angelegenheiten tatsächlich regelten. Dabei fallen die riesigen Unterschiede ins Auge, die allein schon die äußeren Umstände mit sich brachten und es kaum erlauben, die Bauern als eine so homogene Gruppe zu behandeln, wie sie es rechtlich waren. Bauern des Gouvernements Rjazan’ lebten in den industriellen Gebieten nördlich der Oka oder in dem agrarischen Schwarzerdegebiet südlich von ihr; sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit so unterschiedlichen Tätigkeiten wie Ackerbau, Kleinindustrie, Bergbau und Handel. Einige Gemeinden brachten es mit Lebensmittel-, Holz oder Teerhandel zu einigem Wohlstand oder gelangten mit Schreiner- sowie Transportarbeiten bis nach Saratov, Tiflis oder Astrachan’. Andere fristeten mit Ackerbau oder Kleinindustrie ein eher kümmerliches Dasein.⁸⁰ Unterschiedlich waren auch ihre Erfahrungen mit Formen bürokratischer Herrschaft: Ehemaligen Staatsbauern oder Gutsbauern von Großgutshöfen konnte sie vertraut, ehemaligen Leibeigenen kleinerer Höfe aber auch völlig fremd sein. Und die Eisenbahn, die das Gouvernement Rjazan’ seit den siebziger Jahren durchschnitt, rückte Moskau für einige Gemeinden in erreichbare Nähe, während es für andere eine ferne Welt blieb. Allein schon diese äußerlichen Unterschiede ließen bestimmte Handlungsmaximen mehr oder weniger rational erscheinen, und so ist nicht verwunderlich, dass auch die Verwaltungsprozeduren stark variierten. Manchen Bauernältesten reichte es aufgrund der geringen Größe ihres Einflussbereiches, bei Aufgaben wie der Steuerverwaltung aus, die Zahlungseingänge allein in ihrem Gedächtnis festzuhalten. Andere benutzten eigene Schriftsysteme, deren Gültigkeit kaum bis zur nächsten Gemeinde reichte, oder sie verwendeten andere Methoden, geforderte und geleistete Zahlungen festzuhalten: Diese reichten von einfachen Kerbhölzern bis hin zu komplexen nichtschriftlichen Verfahren, mit denen die Dorfältesten Zahlungen festhalten und die Bauernwirtschaften ihre Leistungen belegen konnten.⁸¹ Darin Belege für eine vollständige Abwesenheit oder zumindest Andersartigkeit der bäuerlichen Rationalität zu sehen, wie dies in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts fast ein Allgemeinposten war, erscheint allerdings nicht gerechtfertigt. In kleinen, überschaubaren Kontexten zeigten die Praktiken wenig Abstraktion, sondern basierten auf einem persönlichen Vertrauensverhältnis – sie waren, wie ein Revisor es ausdrückte, eine Sache „der Ehrlichkeit und des Gedächtnisses“ des Dorfältesten.⁸² Wo nötig, wurden aber durchaus Praktiken ⁸⁰ ⁸¹ ⁸²

Doklady členov Rjazanskoj gubernskoj upravy o revizii uezdov: Spasskogo, Sapožkovskogo, Skopinskogo i Rjažskogo, Moskau , S. –; Doklady , S. . Doklady , S. , . Ebda., S. .

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verwendet, die überpersönlich und abstrakt waren, nur dekontextualisierten und organisierten sie die Daten auf eine andere Weise als die Tabellen und Kassa-Kontobücher des Finanzministeriums. Die Grenzen zwischen ihnen lagen, um mit dem Ethnologen Jack Goody zu sprechen, nicht in Unterschieden der in ihnen wirksamen Rationalität, sondern in den Medien, die komplexere Rechenoperationen nicht ermöglichten und für nicht Eingeweihte nur schwer auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen waren.⁸³ Eine solche Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Verwaltungsformen war keinesfalls ein russisches Spezifikum. Patrick Wagner hat dargestellt, wie auch ostschlesische Dorfschulzen Steuern mit eigenen Zeichensystemen notierten.⁸⁴ Und in England wurden selbst die Archive des Finanzministeriums noch zu Beginn . Jahrhunderts mit Kerbhölzern geführt.⁸⁵ Zudem mussten diese Praktiken für die Bauerngemeinde kein Nachteil sein und konnten ihr auf diese Weise rational erscheinen. Intransparenz und Steuerrückstände konnten Hinweise darauf sein, dass die Gemeinden lernten, sich besser gegen die staatlichen Forderungen zur Wehr zu setzten.⁸⁶ Es passt in dieses Bild, dass das Eintreiben der zemstvo-Steuer, die dem unmittelbaren lokalen Bedarf der Bauern diente, weniger Schwierigkeiten bereitete.⁸⁷ Und auch andere Befunde sprechen dafür, dass die Bauerngemeinden durchaus zu Änderungen bereit waren, wo dies ihren eigenen Vorteilen diente: Im Gouvernement Rjazan’ etwa war die innergemeindliche Verteilung der Naturalpflicht des Wegebaus schon lange auf Grundlage von Arbeitsaufwand und Streckenabschnitten monetarisiert und die Arbeit in die Hände bezahlter Pächter gegeben ⁸³

⁸⁴ ⁸⁵ ⁸⁶

⁸⁷

Zu Technologien der Verschriftlichung siehe: Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind, Cambridge , S. –. Zu Tabellen insbesondere Philipp von Hilgers, Sandrina Khaled: Formation in Zeilen und Spalten. Die Tabelle, in: Pablo Schneider, Moritz Wedell (Hg.): Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift, Zahl. Weimar , S. –; Benjamin Steiner: Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimer/Wien , S. –. Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des . Jahrhunderts, Göttingen  (= Moderne Zeit, IX), S. . Karl Menninger: Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte der Zahl, Bd. –, Göttingen ², , Bd. , S. –. Frederick S. Starr: Local Initiative in Russia Before the Zemstvo, in: Terence Emmons, Wayne S. Vucinich (Hg.): The Zemstvo in Russia: An Experiment in Local SelfGovernment, Cambridge , S. –, hier S. . Zur Diskussion der Interpretation von Zahlungsrückständen vgl. Moon, Peasantry, S.  f.; Tracy Dennison: The Institutional Framework of Russian Serfdom, Cambridge , S. . Franziska Schedewie: Selbstverwaltung und sozialer Wandel in der russischen Provinz. Bauern und Zemstvo in Voronež, –, Heidelberg  (= Heidelberger Abhandlungen der mittleren und neueren Geschichte, [N.F.] ), S. .

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worden.⁸⁸ Zur gleichen Zeit gab es aber auch im Gouvernement Rjazan’ noch Bauernälteste, die bezüglich der Steuerzahlungen jeglichen Umgang mit Geld zu scheuen schienen.⁸⁹ Die Veränderungen von Praktiken war ein gradueller und territorial ungleichzeitiger Prozess. Die Ideologie der Schutzbedürftigkeit der Bauern, die sowohl staatliche als auch zemstvo-Modernisierer vertraten, richtete sich allerdings auch gegen jene, die sich in den Gemeinden am besten mit den universellen, vereinheitlichenden Formen auskannten. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Schreiber, die in den Gemeinde- und manchmal auch in den Dorfverwaltungen tätig waren. Misstrauen bei den Beobachtern aus zemstvo- und Staatsverwaltung riefen diese Schreiber besonders dadurch hervor, dass sie die geforderten bürokratischen Formen stets mit den unterschiedlichen Varianten informeller Beziehungen in den Gemeinden zu verbinden wussten. Nur zu gerne übersahen die Kritiker, dass die Schreiber dazu auch gezwungen waren. Ihre formale Stellung war zu unbedeutend und ihr rechtlicher Status zu gering, um darauf eine Existenz aufzubauen, ja sie waren nicht einmal Amtsleute im offiziellen Sinne.⁹⁰ Noch zu Beginn des . Jahrhunderts stellten Zeitgenossen fest, dass allein schon der niedrige Lohn die Schreiber dazu zwang, „jene Ordnung der Dinge zu akzeptieren, die in juristischen Begriffen Bestechung heißt“.⁹¹ Der professionelle Umgang mit quantitativen Medien – darunter auch Geld – machte die Schreiber unter diesen Umständen besonders verdächtig. Auswärtige Beobachter sahen in ihnen keine lokalen Gewährsleute neuer Verwaltungspraktiken, sondern erklärten sie ungeachtet ihrer dörflichen Herkunft zu einem schädlichen Fremdkörper. Die Schreiber, nicht die illiteraten Dorfältesten und Gemeindevorsteher, seien die faktischen Machthaber in den bäuerlichen Selbstverwaltungen und missbrauchten diese Macht zulasten der Bauerngemeinden.⁹² So sehr sich die Eliten der Staats- und Selbstverwaltungen also geregelte Abläufe wünschten, so wenig waren sie bereit, dafür die Position der qualifiziertesten Gemeindemitglieder zu stärken und Hilfestellungen für die Verbesserung ihrer Arbeit zu geben. Noch im Jahr  wurde es Gemeindeschreibern des Gou⁸⁸ ⁸⁹ ⁹⁰ ⁹¹ ⁹²

Aleksandr Dmitrievič Povališin: Rjazanskoe zemstvo v ego prošlom i nastojaščem. Obozrenie dvacati pjati-letnej dejatel’nosti Zemstva Rjazanskoj gubenii, Rjazan’ , S. . Doklady , S. . Dokumenty krest’janskoj reformy, Moskau  (= Rossijskoe zakonodatel’stvo X–XX vekov, ), S. . Ivan Kupinov: Iz dnevnika volostnogo pisarja, Moskau , S. . Vjačeslav Vjačeslavovič Tenišev: Administrativnoe položenie russkogo krest’janina, St. Petersburg , S.  f.; Ol’ga Nikolaevna Bogatyreva: Institut zemskich načal’nikov i krest’janskoe samoupravlenie v severo-vostočnych gubernijach, in: Nestor (), H. , S. –, hier S.  f.

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vernements Ufa untersagt, zur besseren Koordination ihrer Tätigkeit auf regelmäßigen Kreisversammlungen zusammenzukommen.⁹³ Zu groß war offenbar die Angst vor einer örtlichen Elitenbildung, zu stark das Bild des Schreibers als Störfaktor in der selbstgenügsamen, aber rückständigen Welt der Gemeinden. Bezeichnenderweise war den Bauern selbst eine solche Aussonderung der Schreiber offenbar fremd, vielmehr begriffen sie sie als Teil ihrer eigenen Lebenswelten. Selbst korrupte Schreiber blieben ethnographischen Berichten zufolge meist ungestraft, da die Bauern es ablehnten, sie bei der Obrigkeit anzuzeigen.⁹⁴

Schlüsse Neue Formen, abstraktes und einheitlich abprüfbares Wissen zu generieren, schufen auch neue Standards, die Bauerngemeinde und ihre Tätigkeit zu beurteilen. Diese Standards waren es, so die These, die eine Einstufung der Bauern als „rückständig“ überhaupt erst ermöglichten. War Rückständigkeit vorher eine allgemeine Positionsbeschreibung für Russland im europäischen Kontext gewesen, rückten nun die ehemaligen Leibeigenen mit ihren diversen Methoden der Organisation ihres öffentlichen Lebens in den Vergleichskontext europäisierter Verwaltungsstile. Dabei wird auch deutlich, dass die neuen Wissensansprüche über bestimmte soziale Gruppen und ideologische Ausrichtungen hinausgingen. „Aufgeklärte Bürokraten“, gutsherrschaftliche Modernisierer, Slavophile und zemstvo-Aktivisten machten sie sich gleichermaßen zu eigen. Selbst Gegner der westeuropäischen universellen Standards waren bemüht, ihre Ansprüche, um es mit einer Formulierung Eisenstadts auszudrücken, „in irgendwelche semi-universalistischen Termini zu übertragen“.⁹⁵ Die dadurch verschärfte Konkurrenz zwischen staatlichen und gutsherrschaftlichen Akteuren und die allgemeine Erkenntnis, dass die örtliche Bürokratie den neuen Ansprüchen nicht genüge, brachten Spezifika hervor, die als typisch russisch gelten können. In keinem anderen Staat wurde die Forderung, die Bauernschaft solle zunächst möglichst abgetrennt von der staatlichen Steuerung, aber auch der zemstvo-Verwaltung ihre eigene Entwicklung nehmen, so konsequent verfolgt und rechtlich abgesichert.⁹⁶ Diese Isolierung stand in doppelter Hinsicht quer zu den nach der Bau⁹³ ⁹⁴ ⁹⁵ ⁹⁶

Grigorij Andreevič Pogorelov: Čto takoe volostnoj pisar’? K s”ezdu volostnych pisarej, Moskau , S.  f. Tenišev, Položenie, S. . Eisenstadt, Modernities, S. . Auch Forderungen nach einer „freien Gemeindeverfassung“, mit der im preußischen

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ernbefreiung geschaffenen Tatsachen. Zum einen war kaum jemand bereit, die Bauerngemeinden tatsächlich als „black box“ zu behandeln, aus der Steuern zu extrahieren waren, deren Innenleben aber nicht interessierte.⁹⁷ Ideologien der unberührten Bauerngemeinde dienten mehr der Abwehr von Konkurrenz um die Macht als einer wirklichen Ideologie der Nicht-Intervention. Tatsächlich maß man die Bauerngemeinde aber bereits an den Maßstäben und Kontrollansprüchen einer modernen Bürokratie und beanspruchte bürokratisches Wissen, das die Vorgänge in den Gemeinden begreifbar machen sollte. Zum anderen war die konzeptionelle Erfassung der Bauernschaft blind gegenüber dem Wandel, der sich in ihr trotz alledem vollzog. In der Praxis war die vorgegebene Isolation ohnehin nicht zu halten, und die Bauern kamen immer wieder in Berührung mit neuen Formen der Verwaltung. Und nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der Bauerngemeinden war unter dem Strich positiver als Zeitgenossen behaupteten.⁹⁸ Auch administrativ setzten sich einige Neuerungen durch. Ende der er Jahre berichtete das Gouvernementszemstvo von Rjazan’, in der Verteilung der Steuerlast durch die Verwaltungsbezirke und Bauerngemeinden sei in den letzten Jahren schon eine „unvergleichlich größere Ordnung“ festzustellen.⁹⁹ Auch der Grad der Verschriftlichung hatte zu diesem Zeitpunkt wesentlich zugenommen.¹⁰⁰ Doch solche Veränderungen geschahen in der täglichen Arbeit der Staats- und Selbstverwaltungen jenseits der ideologischen Großbaustellen, waren regional unterschiedlich und nicht mit universellen Konzepten zu erfassen, welche die gesamte Bauernschaft als einheitliche und zudem schutzbedürftige Gruppe begriffen. Rückständigkeit war in jeder Hinsicht ein Produkt dieses Verständnisses. Die so angelegten Maßstäbe ließen die Bauern rückständig erscheinen und rechtfertigten die Politik der Isolation. In einer Art Rückkopplungseffekt sorgten sie

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⁹⁹ ¹⁰⁰

Rheinland die Abschaffung der Bürokratie und vereinfachte Verwaltung angestrebt wurde, führten nie zu einer derartigen Isolation, vgl. Raphael, Recht, S. . Dies behauptet für die unmittelbare Reformzeit David A. J. Macey: Governement and Peasant in Russia, –. The Prehistory of the Stolypin Reforms, DeKalb, IL , S.  f. Carol Leonard: Agrarian Reform in Russia: The Road from Serfdom. New York, NY , S. –, –; Paul R. Gregory: Before Command: An Economic History of Russia from Emancipation the First Five-Year Plan, Princeton, NJ . Aleksej Vasil’evič Selivanov: Svod dannych ob ėkonomičeskom položenii krest’jan Rjazanskoj gubernii, Rjazan’ , S. . Evgenij Vladimirovič Beljaev: Učreždenie i dejatel’nost’ krest’janskogo samoupravlenija v – gg. Po materialam Rjazanskoj i Tambovskoj gubernij. Kand. Diss. Lipeckij gosudarstvennyj pedagogičeskij universitet , S. .

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damit aber auch dafür, dass viele Bauern nach diesen Maßstäben auch bis zum Ende des . Jahrhunderts rückständig blieben.

Überwindung von Rückständigkeit? Transuralische Migration und landwirtschaftliche Entwicklung im späten Zarenreich in der Rezeption A. A. Kaufmans Lutz Häfner

„Die sich bis in das . Jahrhundert fortsetzende dörfliche Verarmung war in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die bäuerliche Bevölkerung bis heute schneller wuchs als die aus der Landwirtschaft gezogenen Existenzmittel. Die Intensivierung des Landbaus blieb hinter dem Bevölkerungswachstum zurück [otstavala; Kursiv im Original, LH]: Die Ernteerträge stiegen nur überaus geringfügig an […]. Die Landarmut führte zur Pauperisierung und bremste den landwirtschaftlichen Fortschritt.“¹ Diese Analyse stammte vom neopopulistischen Statistiker und Publizisten Nikolaj Petrovič Oganovskij, der vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Artikel – besonders in Periodika, die der Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) nahestanden –, und außerdem noch eine gewichtige Monographie zur Agrarfrage publizierte. An seinen Ausführungen, die ungeachtet des weltanschaulichen Standpunkts des Verfassers allein aufgrund ihrer Materialfülle und ihres nachgerade enzyklopädischen Zugriffs als ein pars pro toto für den zeitgenössischen Diskurs zur Agrarfrage gelten können, fällt nicht nur die das allgemeine Krisensyndrom der Landwirtschaft unter besonderer Betonung der Aspekte des beschleunigten Bevölkerungswachstums und der infolgedessen potenzierenden Verarmung der ländlichen Bevölkerung² auf – für den Adel war die Verarmung bereits ¹ ²

Nikolaj Petrovič Oganovskij: Novyj vol’t v pereselenčeskoj politike, in: Zavety (), H. , S. –, hier S.  f. Den verbreiteten Hunger und die Armut der ländlichen Bevölkerung beispielsweise im Gouvernement Tula beklagte der spätere konstitutionelle Demokrat Dmitrij Dmitrievič

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Überwindung von Rückständigkeit?

Schlüssel- und Schlagwort im Kontext der Bauernbefreiung gut fünf Jahrzehnte zuvor. Bemerkenswert ist ferner, dass Oganovskij mit der Rückständigkeit der bäuerlichen Landwirtschaft seiner Argumentation eine Kategorie hinzufügte, die in Ausführungen von Wirtschaftstheoretikern des narodničestvo und des neonarodničestvo eine wichtige Rolle spielten,³ aber zunehmend auch Eingang in die Überlegungen liberaler und konservativer Ökonomen, Agrarspezialisten und Politiker fand. Das Besondere an Oganovskijs Ausführungen gerade für einen neonarodnik war, dass er keineswegs hauptsächlich oder gar ausschließlich auf die Befriedigung des bäuerlichen Landhungers abhob, wie es bei den sozialrevolutionären Agrartheoretikern gang und gäbe war, die beispielsweise einer Enteignung des Gutsbesitzes das Wort redeten. Vielmehr maß er einem qualitativen Element, der Intensivierung der Landwirtschaft, einen wesentlichen Stellenwert bei. Für die Krise der Landwirtschaft im Zarenreich wurden je nach weltanschaulicher Überzeugung verschiedene Ursachen angeführt: Sie umfassten neben dem schnellen Bevölkerungswachstum die klimatischen und sozioökonomischen Verhältnisse, den Kapitalmangel, die unzureichende Landausstattung, die Gemengelage mit zu vielen, zu schmalen und zu weit vom Hof entfernt gelegenen Landstreifen,⁴ hohe Pachtpreise, den geringen Viehbestand und einer daher unzureichenden Düngung,⁵ die fehlende Saatgutspezialisierung, die unzureichende Investitions- und Risikobereitschaft, das kaum existierende landwirtschaftliche Kreditwesen, den geringen Grad der Technisierung der

³





Šachovskoj in einem Brief aus dem Jahr  an Kaufman, GARF, f. , op. , d. , l. . V. V. [Vasilij Pavlovič Voroncov]: Sud’by kapitalizma v Rossii, S.-Pb , bes. S. ; ders.: Sud’ba kapitalističeskoj Rossii. Ėkonomičeskie očerki Rossii, St. Petersburg , bes. S.  f.,  f. GARF, f. , op. , d. , l. ; Aleksandr Apollonovič Manuilov: Pozemel’nyj vopros v Rossii, in: Agrarnyj vopros. Sbornik statej. Otv. red. Pavel Dmirievič Dolgorukov i Ivan Il’ič Petrunkevi, Moskau , S. –, hier S. . Die im Vergleich zu Westeuropa kürzere Vegetationsperiode machte in weiten Teilen Russlands Viehhaltung deutlich aufwendiger und kostspieliger; denn das Vieh musste ca. zwei Monate länger im Stall stehen und dementsprechend mit Futter versorgt werden, weil es auf den Weiden noch nicht grasen konnte. Außerdem neigten die Bauern dazu, ihre Weideflächen zugunsten einer Erweiterung der Aussaatflächen zu verkleinern. Damit gingen in der Regel eine Verringerung des Viehbestands und eine geringere Düngung einher. Eine solche Flächenerweiterung trug langfristig also nicht zu höheren Ernteerträgen bei, RGIA, f. , op. , d. , l. ; Manuilov, S. –., , ; Richard Pipes: Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München , S. ; David Saunders: The Static Society. Patterns of Work in the Later Russian Empire, in: Reinterpreting Russia, hrsg. von Geoffrey Hosking und Robert Service, London/Sydney/Auckland , S. –, hier S. .

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Landwirtschaft⁶ sowie ein zu rasantes bzw. zu langsames Vordringen des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Auch kulturelle Defizite wären zu nennen, wie ein sehr niedriges Bildungsniveau im Allgemeinen und geringe landwirtschaftliche Methoden- und Anbaukenntnisse im Besonderen. Hinzu traten ein nur in Ansätzen entwickelter Individualismus sowie eine bedingte Freizügigkeit der ländlichen Bevölkerung als Folge eines ubiquitären Paternalismus des Ancien régime aber auch der Traditionen und Mobilitätsbeschränkungen seitens der bäuerlichen Umteilungsgemeinde [obščina].⁷ Zu grundsätzlichen Reformen, die die Agrarfrage hätten lösen können, zeigte sich im ausgehenden . Jahrhundert das Ancien Régime außerstande. Es war jedoch bereit, den Bevölkerungsdruck zu verringern, und vollzog daher in den er Jahren eine Volte in der bäuerlichen Übersiedlung [pereselenie].⁸ Hatte insbesondere das Innenministerium ihr nach der Bauernbefreiung  über drei Jahrzehnte Einhalt geboten,⁹ um dem Gutsbesitz die notwendige bäuerliche Arbeitskraft zu erhalten, befürwortete der Ministerrat seit der großen Hungersnot im Wolgagebiet  und dem Baubeginn der Transsibirischen Eisenbahn die Übersiedlung bzw. Kolonisation bis dahin weitgehend unerschlossener respektive peripherer Regionen des Reiches, auch um vermittels dieses „Sicherheitsventils“ den sozialen und politischen Druck der hohen bäuerlichen Bevölkerungskonzentration in Verbindung mit dem bäuerlichen Landhunger in zahlreichen Gouvernements des europäischen Russland zu minimieren. Die Auseinandersetzung um die Migration wurde so zu einem wichtigen Bestandteil der Debatten um Agrarkrise und Rückständigkeit. Bereits an der Wende zum . Jahrhundert hatte sich der liberale Petersburger Jurist, Statistiker und Agrartheoretiker Aleksandr Arkad’evič Kaufman mit dieser Problematik kritisch auseinandergesetzt: „Viele sind geneigt, in der bäuerlichen Migration [v pereselenijach krest’jan] eine der charakteristischsten, die Lebensweise des russischen Volkes auszeichnenden Besonderheiten zu sehen. Die einen, die Optimisten, sehen in der Auswanderung die Offenbarung der dem russi⁶ ⁷ ⁸



Manuilov, S. . Ebda, S. . Voroncov, Sud’by, S.  hielt beispielsweise den Kapitalismus für einen sehr gefährlichen Gegner des Wohlstands der bäuerlichen Bevölkerung. GARF, f. , op. , d. , ll. , – ob. Zur Bedeutung der russländischen Migration in globalem Kontext vgl. Lutz Häfner: Russland und die Welt. Das Zarenreich in der Migrationsgeschichte des langen . Jahrhunderts, in: Martin Aust (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte – , Frankfurt am Main , S. –. GARF, f. , op. , d. , l. ; ebda., d. , ll. – ob,  ob.

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schen Volk besonders charakteristischen kolonisatorischen Fähigkeiten, die halfen, den grauen Bauernrock an die Kultur der verschiedenartigsten Gegenden heranzuführen wie dem Norden von Archangel’sk, der Kuban’-Steppe, der Tajga des Amurgebiets oder dem Gebirgsvorland des Tjan’-Šan’. Die anderen, die Pessimisten, halten die Übersiedlung für eine negative Erscheinung, für ein Produkt der Unkultur und Trägheit unserer bäuerlichen Massen, ja sogar des für den russischen Bauern irgendwie besonderen, charakteristischen LandstreicherInstinkts.“ Während der bedeutende zeitgenössische Ökonom Julij Ėduardovič Janson diese extensive Wirtschaftsweise als Folge von Kenntnis- und Kapitalmangel charakterisierte, machte der St. Petersburger Historiker Boris Nikolaevič Mironov noch über hundert Jahre später aus der Not gleichsam eine Tugend. Er vertritt die These, dass Russland aus Kapitalmangel den Weg der Intensivierung gar nicht hätte beschreiten können, und betrachtet folglich die extensive Landbestellung und die Erschließung jungfräulicher Landflächen im Zarenreich durch Migration bis in das . Jahrhundert als optimalen Entwicklungsweg des Ancien Régime.¹⁰ Ungeachtet des Stellenwerts, den das pereselenie im öffentlichen Diskurs bereits in den frühen ero Jahren besaß,¹¹ kritisierte Kaufman seit der Jahrhundertwende beide hier dargestellten Lager und plädierte für einen dritten Weg, dessen Charakteristika im Folgenden dargelegt werden sollen. Dabei vertrat er die These, dass das Übersiedeln keine ökonomische Notwendigkeit sei und gerade die Existenz eines Sicherheitsventils, nämlich in der Form freien, weitgehend unbesiedelten Landes, den arbeitsaufwendigeren Übergang zu einer intensiven Landnutzung und landwirtschaftlichem Fortschritts verhindert habe. Insofern sei das pereselenie nichts anderes als ein Palliativ gewesen, das

¹⁰

¹¹

Julij Ėduardovič Janson: Opyt statističeskogo izsledovanija o krest’janskich nadelach i platežach. S priloženiem „Očerka pravitel’stvennych mer po pereseleniju krest’jan posle Položenija  fevralja  goda“, St. Petersburg ², pril. S. ; Boris Nikolaevič Mironov: Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII–načalo XX v.). Genezis ličnosti, demokratičeskoj sem’i, graždanskogo obščestva i pravovogo gosudarstva. V -ch tt., St. Petersburg , hier t. , S. –. Vnutrennee obozrenie [darin die Beiträge: Novejšija dannyja o sostojanii pereselenčeskago dela; Plan rabot po vodvoreniju pereselencev; Zaimki i obščinnoe zemlevladenie; O razmera zemel’nago nadela dlja pereselencev], in: Russkaja Mysl’  (), H. , . Pag., S. –, hier S. . Hubert Auhagen: Zur Besiedelung Sibiriens. Bericht des Landwirtschaftlichen Sachverständigen für das östliche Rußland beim Kaiserlichen Generalkonsulat in St. Petersburg, Berlin , S.  bezeichnete Kaufman als einen „der besten Kenner der Übersiedlungsfrage und amtlich an hervorragender Stelle an den sibirischen Kolonisationsarbeiten beteiligt“.

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zwar die Symptome gelindert habe, ohne aber die Ursachen des Übels zu beseitigen.¹² Mit Kaufmans Tod im Jahre  geriet sein in die Zukunft weisendes Werk in Vergessenheit. In der erst unlängst publizierten Monographie Il’ja Gerasimov, die dezidiert der landwirtschaftlichen Modernisierung gewidmet ist, findet Kaufman lediglich kursorisch Erwähnung,¹³ sein reiches Schaffen hingegen nicht. Dieser Beitrag setzt sich in drei Abschnitten das Ziel, den Nexus von pereselenie und Agrarfrage zu untersuchen. Zum besseren Verständnis dieses ebenso produktiven wie vielseitigen Akteurs sollen zuerst kurz seine Karriereetappen behandelt werden. Es folgt im Hauptteil eine Analyse seines wissenschaftlichen Schaffens zu den drei eng miteinander verbundenen Aspekten des pereselenie, der bäuerlichen obščina und der Agrarfrage. Der dritte Teil thematisiert Interessen und Weltbilder. Er zeigt Kaufmans aus (land)wirtschaftlicher Perspektive negative Sicht auf die Übersiedlung bzw. die imperiale Kolonisation.

Kaufmans vita: Karriereetappen und Mobilitätsmuster Kaufman war ein „Grenzgänger“ par excellence. Dabei erwies er sich als Repräsentant einer neuen Bildungs- bzw. Leistungselite. Kaufman absolvierte nicht nur ein Studium der Jurisprudenz und schrieb seine Abschlussarbeit über ein staats- bzw. verwaltungsrechtliches Thema, nämlich den Gang der gesetzgeberischen Arbeiten zur Stadtordnung von , sondern hörte auch Statistikvorlesungen bei Professor Julij Ėduardovič Janson und nahm sogar ein na¹²

¹³

Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Pereselenie. Mečty i dejstvitel’nost’, in: Žurnal dlja vsech  (), H. , S. –, hier S. ; ders., Pereselenija i pereselenčeskij vopros v Rossii, in: Ėnciklopedičeskij slovar’ russkogo bibliografičeskogo instituta Granat v -ti tt, t. : Pavinskij–Persija, Moskau ¹¹–, Sp. –, hier Sp. ; ders.: Pereselenija v Rossii, in: Bol’šaja Ėnciklopedija. Slovar’ obščedostupnych svedenij po vsem otrasljam znanija. Pod redakciej S. N. Kužakova, t. : Pen’ka-Pul’, St. Petersburg o. J., S. –, hier S. , ; ders.: Die innere Kolonisation und die Kolonisationspolitik Rußlands nach der Bauernbefreiung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, . Folge  (), , S. –, hier S. ; Kolonisationsgesetz, S. , ; ders., K voprosu, S. ; ders.: Pereselenie i ego rol’ v agrarnoj programme, in: Agrarnyj vopros. Sbornik statej. Otv. red. Pavel D. Dolgorukov i Ivan I. Petrunkevi, Moskau , S. –, hier S.  f.; ders.: Pereselenie. Mečty i dejstvitel’nost’, Moskau , S. , ; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. , ,  u. priloženie: Pereselenčeskij vopros v literature i obščestvennom mnenii, S. ; ders., Reč’ na dispute, S. . Ilya V. Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, –, Houndmills, Basingstoke , S. , , .

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turwissenschaftliches Zweitstudium auf. Kaufman verfügte somit über bemerkenswert umfangreiche akademische Bildung. Anders als sein strenggläubiger Vater war Aleksandr Arkad’evič ein säkularisierter Jude, der gleichwohl aber nicht konvertierte. Als Jude blieb ihm nominell der Staatsdienst verschlossen. Neben dem in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzenden Element der Kontingenz half Kaufman bei seiner Karriere ein zweites Charakteristikum des Ancien Régime: die Diskrepanz zwischen Gesetzestext und Rechtswirklichkeit. Diese fehlende Kongruenz – positiv gewendet: Willkür – eröffnete Kaufman die Beamtenlaufbahn. Über ein Jahrzehnt wirkte er als vielseitiger Grenzgänger und multipler Mittler zwischen Zentrum und Peripherie, Staat und Gesellschaft, intelligencija und narod, Russen und inorodcy, Christen und Muslimen – um nur einige Begriffspaare einer keineswegs nur binär strukturierten Ordnung zu benennen. Von  bis  war er im Auftrag des Reichsdomänenministeriums auf Dienstreisen in asiatischen Landesteilen.¹⁴ Seine seit  zunächst in den sibirischen Gouvernements Tobol’sk und Tomsk, später auch in Zentralasien durchgeführten Feldforschungen und Studien der Übersiedler und Bauerngemeinden waren einer bemerkenswerten Interdisziplinarität verpflichtet, in denen er Soziologie, Agronomie, Statistik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zunehmend mit einem linksliberalen Credo verknüpfte. Kaufman war ein gut vernetzter obščestvennyj dejatel’. Er war nicht nur Mitglied in Expertenkomitees beispielsweise des Landwirtschaftsministeriums, der Moskauer Juristischen Gesellschaft oder der Partei der Volksfreiheit, sondern auch in einer ländlichen Spar- und Darlehensgenossenschaft.¹⁵ Er war ein vielgefragter Vortragsredner,¹⁶ ein sehr produktiver Schriftsteller. Kaufman verfasste Artikel für renommierte wissenschaftliche Zeitschriften wie Sel’ skoe chozjajstvo i lesovodstvo, Sbornik pravovedenija i obščestvennych znanij, Juridičeskij Vestnik, Pravo, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik oder die Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, publizierte in den bedeutenden zeitgenössischen dicken Journalen Poljarnaja Zvezda, Russkaja Mysl‘, Russkoe Bogatstvo, Vestnik Evropy, aber auch in populärwissenschaftlichen Organen wie dem Žurnal dlja vsech. Er war Mitherausgeber und Anteilseigner des Severnyj Vestnik, verfasste Beiträge für die Ėkonomičeskaja Gazeta, den liberalen Ežegodnik Reč’, die liberalen Tageszeitungen Russkija Vedomosti und Reč’, den kurzlebigen neopopulistischen Syn Otečestva oder beispiels¹⁴ ¹⁵ ¹⁶

GARF, f. , op. , d. , l. ; http://www.demoscope.ru/weekly///nauka. php, [zuletzt aufgerufen am ..]. GARF, f. , op. , d. , l. ; d. , l. . GARF, f. , op. , d. , ll. , .

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weise das renommierte „Enzyklopädische Wörterbuch“.¹⁷ Darüber hinaus war er Verfasser von mehr als zwei Dutzend Monographien sowie einem feuilletonistischen Reisebericht. Differenzerfahrungen wie seine Zugehörigkeit zu der in unsicheren rechtlichen Verhältnissen lebenden jüdischen Gemeinschaft, seine liberale Weltanschauung und seine durch das Studium der Jurisprudenz geschärften Vorstellungen von formeller Gleichheit, Bürgerrechten und Rechtsstaatlichkeit hatten Kaufman sensibilisiert. Seine Unvoreingenommenheit offenbarte er in verschiedensten Begegnungsräumen und Lebenswelten: Für bäuerliche izby Sibiriens wie für kirgizische kibitki, für Gouverneurspaläste wie St. Petersburger Ministerien, für Vortragssäle aller Art bis hin zu den Parteitagen der Konstitutionellen Demokraten. Im Übrigen erzielte Kaufman eine beträchtliche Breitenwirksamkeit. Die Presse berichtete über seine Vorträge, seine Beiträge fanden ein breites Publikum. Seine Monographien Zemlja i kul’tura und Pereselenie erschienen  mit in einer Auflage von . bzw. . Exemplaren im Verlag der Partei der Konstitutionellen Demokraten Narodnoe Pravo, von denen jeweils binnen weniger Monate etwa die Hälfte verkauft waren.¹⁸ Mit anderen Worten: Kaufman hatte (s)ein interessiertes und zahlreiches Publikum, galt als profilierter Experte und fand mit seinen Themen pereselenie, obščina und Agrarfrage in unterschiedlichen Sphären von Staat, Gesellschaft und Bevölkerung Gehör.

Expertise als Faktor zur Überwindung von Rückständigkeit? Pereselenie und Agrarfrage Ungeachtet seiner Dienststellung als Beamter und seiner ökonomischen Abhängigkeit vom Staat scheute sich Kaufman nicht, die Inkonsistenz der Politik des Zarenstaats in der Migrationsfrage im Verlaufe mehrerer Jahrzehnte zu thematisieren. Bereits zu Beginn des . Jahrhunderts attestierte er ihr, dass sie Prinzipienlosigkeit zur Maxime des Regierungshandelns gemacht habe.¹⁹ ¹⁷

¹⁸ ¹⁹

Er verfasste  Artikel für das Ėnciklopedičeskij slovar’, in denen er unter den Stichwörtern Akmolinsk und den gleichnamigen Gau, das Amurgebiet, Sibirien, die Tajga, Tobol’sk, Turgaj und das Ussuri-Gebiet nicht nur seine Expertise für die asiatischen Landesteile unterstrich, sondern zugleich seinen Ruf als vorzüglicher Spezialist für die bäuerliche Übersiedlung, die Dorfgemeinde und auch die zemstvo-Statistik verfestigte. S“ezdy i konferencii konstitucionno-demokratičeskoj partii, t. : – gg. Otv. red. Valentin Valentinovič Šelochaev, Moskau , S. , . Vgl. Ivan Ivanovič Popov: Pereselenie krest’jan i zemleustrojstvo Sibiri, in: Velikaja reforma. Jubilejnoe izdanie, t. : Russkoe obščestvo i krest’janskij vopros v prošlom i nastojaščem, Moskau , S. –, hier S. ; vgl. Alexander Kaufmann [Aleksandr

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Kaufman emanzipierte sich von Dienstrecht und Beamteneid, übte Kraft seiner Expertise Kritik. Seine an den Prinzipien der Aufklärung orientierte Selbständigkeit des Urteilens und Handelns lässt sich am Beispiel der Umsiedlungspolitik des Ancien Régime illustrieren. Sie unterlag im Laufe mehrerer Jahrzehnte einem beträchtlichen Wandel. Hatte unter der Ägide von Nikolaj I. der Reichsdomänenminister Graf Pavel Dmitrievič Kiselev eine Übersiedlungs- und Kolonisationspolitik der Kronbauern tatkräftig gefördert,²⁰ verfolgte die Regierung Aleksandrs II. nach der sog. „Bauernbefreiung“ der gutsherrlichen Bauern  eine „,misstrauisch-zurückhaltende‘ Übersiedlungspolitik“.²¹ Sowohl die provisorische Verordnung vom Juli  als auch das Fundamentalgesetz vom Juli  trugen dieser kritischen Einstellung zur Übersiedlung Rechnung. Insbesondere das Innenministerium kam den Interessen des Grundbesitzes nach billiger Arbeitskraft und hohen Preisen für die bäuerliche Landpacht entgegen. Jedenfalls intervenierte die Regierung nicht gegen steigende Pachtpreise, welche die bäuerlichen Wirtschaften erheblich belasteten.²² Daher versuchte das Innenministerium bäuerliche Freizügigkeit sowohl im Rahmen der Arbeitsmigration als auch der Übersiedlung wenn schon nicht in toto zu unterbinden, so doch zumindest in engen Grenzen zu halten und damit zugleich auch dem negativ konnotierten Phänomen der Landstreicherei entgegenzuwirken.²³ Insofern spricht manches dafür, dass die Regierungspolitik gutsadligen Interessen den Vorrang gegenüber einem Wohlergehen der Bauern insbesondere als Folge einer Produktivitätssteigerung ihrer Landwirtschaft einräumte. Zu einer neuerlichen Peripetie der Regierungspolitik kam es /. Mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn ging der Versuch einher, nicht nur der wirtschaftlichen Erschließung willen, sondern auch aus Gründen der imperialen Herrschaftssicherung in Auseinandersetzung mit den asiatischen Nachbarn eine beschleunigte Besiedlung Sibiriens zu bewirken und damit zugleich den Bevölkerungsdruck in weiten ländlichen Gebieten des europäischen Russland zu minimieren.²⁴ Diesen Zielen trug das Übersiedlungsgesetz aus dem

²⁰ ²¹ ²² ²³ ²⁴

Arkad’evič Kaufman]: Das russische Übersiedlungs- und Kolonisationsgesetz vom ./. Juni  und die Aussichten der inneren Kolonisation in Rußland, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik  (), S. –, hier S. . GARF, f. , op. , d. , l.  ob. Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. ; ders., Pereselenija v Rossii, S.  f.; ders.: Sibirskoe pereselenie na ischode XIX v.: Istoriko-statističeskij očerk, St. Petersburg 2 , S. . Vgl. Kaufman, K voprosu, S.  f.. ; ders., Sibirskoe pereselenie na ischode, S. . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. ; ders., Pereselenija v Rossii, S. . GARF, f. , op. , d. , l. ; Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Agrarnyj vopros v Rossii. Lekcii, čitannyja v Moskovskom narodnom universitete v  g., t. : Zemel’nyja otnošenija i zemel’naja politika, Moskau , S.  f; ders., innere Kolonisation, S. ,

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Juni  Rechnung. Zwar stand der Russisch-Japanische Krieg aufgrund der Auslastung der Transsib mit Militär- und Nachschubtransporten einer massenhaften bäuerlichen Übersiedlung entgegen, der Fluchtpunkt der Gesetzgebung war allerdings unverkennbar. Er bedeutete nichts weniger als eine Totalrevision der gesamten Übersiedlungsgesetzgebung seit , weil der Staat sich nun ausdrücklich zur Förderung des pereselenie bekannte. Allerdings behielt sich der Gesetzgeber ein caveat vor: Er gab die Übersiedlung nicht völlig frei, sondern versuchte, sie auf bestimmte landhungrige Bauerngruppen zu beschränken, die nur dann in den Genuss staatlicher Beihilfen gelangten, wenn sie vorher im Landratskollegium [uezdnyj s“ezd ] eine Erlaubnis erhalten hatten. Bauern konnten zwar auch ohne diese Erlaubnis migrieren, erhielten dann aber keine staatlichen Beihilfen, keinen vergünstigten Transporttarif, keine Steuerexemptionen und sonstige Vergünstigungen und wurden auch bei der Vergabe von Staatsland nicht bevorzugt behandelt. Genau diesen Hybridcharakter kritisierte Kaufman. Eine völlige Freizügigkeit der Übersiedlung wurde nicht verwirklicht. Hätte das Gesetz eine Lösung der Agrarfrage angestrebt, dann, so Kaufman, hätte man sich davon lossagen müssen, „das Prinzip der freien Übersiedlung, das ja in Russland mit dem amerikanischen free soil zusammenfällt, konsequent durchzuführen.“²⁵ Hinter diesem Urteil stand eine grundsätzlich kritische Meinung zur Umsiedlung. Sie war gegen eine „optimistische“ Beurteilung des pereselenie gerichtet, wie sie Ivan Vvedenskij oder der Rechtshistoriker Ivan L’vovič Jamzin vertraten, die meinten, das Problem des malozemel’e wäre inexistent, wären seit  mehr Bauern übergesiedelt.²⁶ Im Gegensatz dazu argumentierten der liberale Kaufman, aber auch andere ältere und in Kreisen der intelligencija gut bekannte Theoretiker wie der neopopulistische Statistiker und Publizist Nikolaj Petrovič Oganovskij, dass die „optimistische“ Interpretation auf offiziellen Statistiken beruhe, denen kein Glauben geschenkt werden dürfe.²⁷ Kaufman ging über eine reine Quellen- und Methodenkritik sogar noch hinaus. Vielmehr bestritt er einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem pereselenie und der Agrarfra-

²⁵ ²⁶ ²⁷

; ders., Kolonisationsgesetz, S. ; ders., Mečty, S. , ; Sibirskoe pereselenie na ischode, S. . PSZ, sobr. -e, t. , otd. , No. , .., St. Petersburg , S. –; Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. –,  f. [Zitat]; ders., Pereselenie i ego rol’, S. . I. Vvedenskij: Pereselenie i agrarnyj vopros, in: Voprosy Kolonizacii (), H. , S. –, hier S. . Ivan L’vovič Jamzin: Pereselenčeskaja statistika i chozjajstvennoe položenie pereselencev po izsledovaniju Pereselenčeskago Upravlenija, in: Voprosy Kolonizacii  (), S. – , bes. S. .

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ge. Auch die Binnenmigration, postulierte er, könne die Agrarfrage nicht lösen, sondern sei vielmehr mit erheblichen Risiken verbunden.²⁸ Zur Begründung seiner Position konnte Kaufman seine umfangreichen Feldforschungen ins Feld führen, die er während seiner mehr als zehnjährigen Aufenthalte an den Umsiedlungsorten durchgeführt hatte. Seine statistischen Erhebungen unter den pereselency im Gouvernement Tomsk förderten zu Tage,²⁹ dass von der Übersiedlung, die mit beträchtlichen Unwägbarkeiten und „einem ungeheuren Risiko“ verbunden war, vor allem (untere) mittelbäuerliche Schichten profitierten, während die land- und kapitalkräftigeren Bauern eher Gefahr liefen, wirtschaftliche Einbußen zu erleiden.³⁰ Es ist bezeichnend, dass gerade die gemessen an den früheren gutsherrlichen Bauern mit mehr Land ausgestatteten Staatsbauern unter den pereselency dominierten. Kaufman zog daraus den Schluss, dass pure wirtschaftliche Not kaum die Triebfeder ihres Handelns gewesen sein konnte.³¹ In der Tat hatte bis zum Ende der er Jahre der bäuerliche Aphorismus Gültigkeit, nach der die Not einen verjage, aber zugleich auch am Gehen hindere. Den armen Bauern fehlten für die Migration die Mittel, dem reichen die Gründe.³² Realiter migrierten zunächst überwiegend Mittelbauern, doch wuchs zum Ende der er Jahre die Bereitschaft ärmerer Bauern, sich auf das Abenteuer pereselenie zu begeben.³³ Dieser Trend intensivierte sich nach der Russischen Revolution von .³⁴ ²⁸ ²⁹

³⁰ ³¹

³²

³³ ³⁴

Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Pereselenie i kolonizacija, St. Petersburg , S IV. Über die Hälfte der Übersiedler besaß nach der Übersiedlung nicht mehr Land als vorher, vgl. Kaufman, K voprosu, S. ; ders., Kolonisationsgesetz, S. ; ders.: Chozjajstvennoe položenie pereselencev vodvorennych na kazennych zemljach Tomskoj gubernii po dannym proizvedennago v  g., po poručeniju g. Tomskago gubernatora, podvornago izsledovanija, t. : Opisanija otdel’nych poselkov i poslennyja tablicy, čast’ : Chozjajstvennoe položenie pereselencev v poselkach i priselenijach Mariinskago okruga, : opisanija poselkov i priselenij, : poselennyja tablicy, St. Petersburg . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S.  f.; ders., K voprosu, S.  f. Kaufman, K voprosu, S.  f.; ders.: Pereselenie i kolonizacija (Reč’ na dispute), in: Russkaja Mysl’  () , S. –, hier S. . Steuerliche Anreize und finanzielle Vergünstigungen, die der Staat seit den er Jahren zunehmend gewährte, förderten das pereselenie, ebda., S. . Eine gegenteilige Auffassung vertrat z. B. Anton Palme: Die Vorbedingungen der Kolonisation Sibiriens, in: Koloniale Rundschau (), H. , S. –, hier S. . „Bednym bylo ne na čto idti, bogatym ne začem“, GARF, f. , op. , d. , l. ; Nikolaj Petrovič Oganovskij, Zakonomernost’ agrarnoj ėvoljucii, t. : Obnovlenie zemledel’českoj Rossii i agrarnaja politika, vyp. : Naselenie, pereselenčeskij vopros, Saratov , S. . GARF, f. , op. , d. , l.  ob; Kaufman, Pereselenie i kolonizacija, S. –; ders., Pereselenija v Rossii, S. . Oganovskij, vol’t, S. .

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Obwohl das Komitee der Transsibirischen Eisenbahn Kaufman bereits in den er Jahren bei seinen Dienstreisen angewiesen hatte zu sondieren, inwieweit an Übersiedler weniger als  desjatinen Land je „Seele“ vergeben werden könnten, blieb die Landzuteilung unverändert.³⁵ Allerdings waren die ausgewiesenen Landstücke nun zum Teil bewaldet, mussten erst gerodet werden, bevor sie unter den Pflug genommen werden konnten, lagen abseits der Verkehrswege und nächsten Siedlungen, so dass nicht nur Verdienstmöglichkeiten und Nachbarschaftshilfe fehlten, sondern auch insgesamt die Startbedingungen der Neusiedler viel schwieriger waren als beispielsweise in den er Jahren. Angesichts dieser Rahmenbedingungen, die rentables Wirtschaften beträchtlich erschwerten, ist es keineswegs überraschend, dass Kaufman ein sukzessives Absinken des Eigentumsniveaus der pereselency konstatierte.³⁶ Kaufman beabsichtigte, Bauern mit dem Verweis auf die Landausstattung von der Übersiedlung abzuhalten. In der Tat waren es oft in der Bauernschaft kursierende Gerüchte, die Sibirien zu einer Art Schlaraffenland stilisierten und die Familien zum pereselenie verleiteten.³⁷ Kaufman versuchte, diesen irrigen Verheißungen entgegenzuwirken. Zugleich argumentierte er aber, dass der Bodenbesitz ein schwaches Indiz der ökonomischen Prosperität einer Bauernwirtschaft sei. In diesem Kontext verwies er auf die Betriebsgrößen badischer, belgischer, dänischer und französischer Bauernwirtschaften. Ungeachtet ihrer Landausstattung, die nicht selten deutlich unter der der Bauern des europäischen Russland lag, erzielten diese Betriebe aufgrund einer intensiveren Kultur höhere Erträge.³⁸ Dieses Beispiel verdeutlicht die transnationale Rezeption von Wissensbeständen und ihren Transfer für den Kontext der Agrarpolitik sowohl des europäischen als auch des asiatischen Landesteils des Russländischen Imperiums. Kaufman beabsichtigte, von „Europa zu lernen“, das Bildungsniveau, die landwirtschaftlichen Kenntnisse der Bauern und die Erträge ihrer Wirtschaften zu vergrößern, um die Rückständigkeit der Landwirtschaft im Zarenreich zu verringern.³⁹ ³⁵

³⁶ ³⁷ ³⁸ ³⁹

GARF, f. , op. , d. , l.  ob. Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Otčet staršago proizvoditelja rabot Kaufmana po komandirovke letom  goda v Tavdinskij kraj i Turgajskuju oblast’ dlja izučenija rabot po otvodu zemel’ dlja pereselencev, St. Petersburg , S. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Pereselenčeskie vidy i perspektivy, in: Russkaja Mysl’  (), H. , S. –, hier S. ; ders., Reč’ na dispute, S. . Kaufman, K voprosu, S. ; ders., innere Kolonisation, S. ; ders., Mečty, S. ; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. –; ders., Sibirskoe pereselenie na ischode, S. . Kaufmann, innere Kolonisation, S. ; ders., K voprosu, S. ; ders., Zemlja, S.  f. Ähnlich argumentierte auch der konstitutionelldemokratische Ökonom Manuilov, S. .

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Überwindung von Rückständigkeit?

Nach der Revolution von  schwoll der Übersiedlerstrom auf bis zu , Mio. Menschen p. a. an. Einmal mehr waren Regierung und Übersiedlungsverwaltung überfordert und untersagten den Lokatoren [chodoki] Anfang Mai  zunächst „vorübergehend“, dann bis zum Widerruf eine Reise in die transuralischen Gebiete. Nicht nur die Zahl der bereitgestellten Landstücke war völlig unzureichend für den Siedlerstrom, auch ihre Qualität ließ zu wünschen übrig, weil die Gebiete lediglich oberflächlich rekognisziert wurden, zuverlässige Bodenanalysen aber unterblieben.⁴⁰ Zu allem Überfluss wurden auf Druck des Finanzministeriums die Mittel des Pereselenčeskoe Upravlenie für Bodenanalyse, Hydrotechnik, Agronomie und Wegebau für  gekürzt. Die Folge war u. a., dass jeder Geodät durchschnittlich etwa doppelt so viele Bodenlose zu vermessen hatte wie ein Jahrzehnt zuvor.⁴¹ Ein Indiz für das beträchtliche soziale Konfliktpotential, welches das pereselenie in sich barg, waren die steigenden Remigrantenzahlen, die seit den späten er Jahren von ,  über ,  in den Jahren  bis  auf ,  für den Fünfjahreszeitraum  bis  kontinuierlich anstiegen.⁴² Die Wünsche und Hoffnungen der pereselency hatten sich nicht erfüllt. Sie traten nun ihrer Hoffnungen auf eine bessere Zukunft beraubt und verarmt den Weg zurück ins europäische Russland an.⁴³ Die „Übersiedlung […] ist […] aber unfähig, die Krise [der Landwirtschaft, LH] auch nur zu lindern oder aufzuschieben; sie bleibt ein krankhaftes Symptom und ist unfähig, ein aktives Element im Entwicklungsgang der russischen Agrarzustände zu werden“.⁴⁴ Ungeachtet dieses harschen Verdikts war Kaufman keineswegs ab ovo ein Kritiker des pereselenie: In einem Vortrag vor der Moskauer Juristischen Gesellschaft von Mitte Januar  maß er der Übersiedlung nach Sibirien, unter der Voraussetzung umfangreicher Meliorations⁴⁰ ⁴¹ ⁴²

⁴³ ⁴⁴

Kaufman, Pereselenčeskie vidy, S.  f., . Ebda., S.  f. GARF, f. , op. , d. , l. ; Kaufmann, innere Kolonisation, S.  f.; ders., Kolonisationsgesetz, S.  f.; ders.: Agrarnyj vopros v Rossii. Kurs narodnago unversiteta. Moskau , S. ; ders.: Agrarnyj vopros v Rossii. Lekcii, čitannyja v Moskovskom narodnom universitete v  g., t. : V čem vopros i gde ego rešenie, Moskau , S. ; ders., Mečty, S. , ; ders., Mečty [Žurnal], S. ; ders., Pereselenčeskie vidy, S. ; ders., Pereselenija v Rossii, S. ; Materialy vysočajše učreždennoj  nojabrja  Komissii, S. . Allerdings ist der letzte im Übersiedlungszentrum Čeljabinsk ermittelte Wert mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da in ihm auch zurückreisende Lokatoren enthalten sind, so dass die Quote remigrierender pereselency realiter geringer gewesen sein dürfte. Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S.  f.; ders., K voprosu, S. . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. .

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arbeiten, der Trockenlegung von Sümpfen, der Irrigation der Steppengebiete etc. ein Entwicklungspotential in großem Maßstab bei.⁴⁵ Auch der populistische Agrartheoretiker Aleksej Vasil’evič Pešechonov, der die Übersiedlung als „unzweckmäßig bis zur Unsinnigkeit“ charakterisierte, hätte er ihr für den Fall eines Bevölkerungstransfers in der Größenordnung des jährlichen Bevölkerungswachstums etwas Positives abgewinnen können.⁴⁶ Dieses belief sich im europäischen Russland auf , bis  Mio. Menschen, davon allein im europäischen Schwarzerdegebiet auf etwa .. Realiter war jedoch die Zahl der Übersiedler wesentlich geringer: Von  bis  siedelten nach Sibirien etwas mehr als eine Mio. Menschen über, darunter allein in den Jahren  und  . respektive . Menschen.⁴⁷ Doch selbst auf einen Bevölkerungstransfer in dieser Größenordnung waren Land und Leute weder im europäischen noch im asiatischen Landesteil eingestellt. Ein solch ambitioniertes Unterfangen überschritt know how, Human- und Kapitalressourcen des Ancien Régime. Auch war der Migrationsprozess keine Einbahnstraße. Kaufman wies ⁴⁵ ⁴⁶ ⁴⁷

Kaufman, Organizacija, S. . Vgl. Kaufman, Pereselenie i ego rol’, S. ; ders., Pereselenie i kolonizacija, pril., S. ; Syn Otečestva, No. , .., S. . GARF, f. , op. , d. , ll. – ob; Kaufman, Agrarnyj vopros, t. , S. ; ders.: Gde vzjat’ zemli?, in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. ; ders., Innere Kolonisation, S. ; ders.: K pereselenčeskomu voprosu, in: Ėkonomičeskaja Gazeta, No. , .., S. –, hier S.  f.; ders.: K voprosu o pričinach i verojatnoj buduščnosti russkich pereselenij, Moskau , S.  f.; ders., Mečty, S. , ; ders., Pereselenie i ego rol’, S. ; ders., Reč’ na dispute, S. ; ders., Sibirskoe pereselenie na ischode, S. . Für den Zeitraum von  bis  bezifferte die offizielle Statistik die Zahl der Übersiedler auf , Mio. Menschen, Materialy vysočajše učreždennoj  nojabrja  Komissii po issledovaniju voprosa o dviženii s  po  g. blagosostojanija sel’skogo naselenija srednezemledel’českich gubernij sravnitel’no s drugimi mestnostjami Evropejskoj Rossii v -ch č., č. , St. Petersburg , S. . Quantitativ blieb damit das pereselenie geringer als beispielsweise die Auswanderung aus dem Deutschen Reich oder aus Großbritannien in die USA in diesem Zeitraum. Hauptauswanderungsgebiete in den Jahren  bis  waren die Gouvernements Kursk, Tambov, Voronež, Vjatka, Samara, Perm’, Poltava und Rjazan’. Gerade in Gebieten, in denen die obščina weniger verbreitet war, forderten wohlhabende Einhöfer ihre ärmeren Nachbarn wiederholt zum pereselenie auf, um das Land der Übersiedler erwerben zu können. Das pereselenie trug in diesen Gebieten zur Besitzdifferenzierung der Bauernschaft bei, GARF, f. , op. , d. , ll. – ob; Kaufman, innere Kolonisation, S. , ; ders., K voprosu, S. ; ders., Sibirskoe pereselenie na ischode, S. –; ders., Zemlja, S. . Bis  verschoben sich die Verhältnisse geringfügig: Die größte Zahl der pereselency stammte aus Poltava mit ., gefolgt von Kursk mit ., Černigov mit . und Tambov mit .. Aus Jaroslavl’ hingegen wanderten nach den amtlichen Statistiken nur  Menschen nach Sibirien aus, S. P. Nikonov, Krest’janskija pereselenija i zakon  ijunja  g., in: Žurnal Ministerstva Justicii (), H. , S. –, hier S. .

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Überwindung von Rückständigkeit?

zu Recht auf die bereits seit Mitte der er Jahren steigenden Zahlen der Remigranten hin.⁴⁸ Während der neopopulistische Agrarspezialist Oganovskij die Auffassung vertrat, dass anstelle einer homöopathischen Verdünnung der Übersiedlung, eine quantitative Rosskur notwendig sei, um den Bevölkerungsdruck im europäischen Russland zu minimieren, fällte der sozialistische Publizist Orest Avenirovič Škapskij das vernichtende Verdikt, dass das pereselenie in keinem Falle Einfluss auf die Agrarfrage nehmen könne.⁴⁹ Im Gegensatz zu den genannten Experten beschied sich Kaufman nicht allein damit, ein arithmetisches Problem zu lösen, sondern den Komplex mit allen seinen Facetten zu erörtern. Er konstatierte ein Junktim von Agrarfrage, also bäuerlicher Landwirtschaft und bäuerlichem Wohlstand, sowie dem pereselenie.⁵⁰ Es galt mithin, Klima, Bodenqualität, die rechtzeitige Vermessung der Landstücke, die Bereitstellung von Staatsland aber auch von Agronomen, die Verkehrsinfrastruktur, die sozioökonomischen und kulturellen Interessen sowohl der indigenen Bevölkerung als auch der Übersiedler gebührend zu berücksichtigen und nicht zuletzt auch, das allgemeine Kultur- und Bildungsniveau der ländlichen Bevölkerung sowie die Produktivität landwirtschaftlicher Produktion zu heben.⁵¹ Die Hebung des Bildungsniveaus im Allgemeinen und der landwirtschaftlichen Kenntnisse im Besonderen standen im Zentrum von Kaufmans Denken, um die Rückständigkeit des Ancien Régime im Agrarsektor überwinden zu können. Das pereselenie als isolierte Maßnahme war hierfür gänzlich ungeeignet. Die deutliche Mehrheit der intelligencija, aber auch der bäuerlichen Abgeordneten der I. und II. Staatsduma, vertraten die Auffassung, dass der Landmangel für die Not der Bauern verantwortlich sei.⁵² Daher war es wenig überraschend, dass die politischen Parteien von den Konstitutionellen Demokraten, über die unterschiedlichen Fraktionen des neonarodničestvo bis hin zur Russischen Sozialdemokratie die Forderung nach mehr Land für die Bauern erhoben.⁵³ Kaufman hingegen propagierte eine andere Lösung. Er wies auf die sinkende Rendite je Flächeneinheit als Folge zwischen ⁴⁸ ⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹

⁵² ⁵³

Syn Otečestva, No. , .., S. ; vgl. Materialy vysočajše učreždennoj  nojabrja  Komissii, S. . Orest Avenirovič Škapskij: K rubeže pereselenčeskago dela (s kartoju), in: Voprosy Kolonizacii (), H. , S. –, hier S. ; Oganovskij: Zakonomernost’, S. , . Kaufman, Pereselenie i ego rol’, S. ; ders., K pereselenčeskomu voprosu, in: Ėkonomičeskaja Gazeta, No. , .., S. –, hier S. . Vgl. Kaufman, Agrarnyj vopros, t. , S.  f.; ders., Pereselenie i ego rol’, S.  f.; ders., Reč’ na dispute, S. ; ders.: Zemlja ili kul’tura?, in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. . Kaufman, Agrarnyj vopros (), S.  f. Kaufman, Agrarnyj vopros, t. , S. .

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 und  weitgehend gleich gebliebener Anbaumethoden hin.⁵⁴ Er konzedierte zwar, dass die Durchschnittsernteerträge im europäischen Russland von  bis  von  auf  Pud je desjatina angestiegen seien, gleichwohl aber immer noch deutlich unter denen der beiden nordamerikanischen bzw. der europäischen Staaten lagen.⁵⁵ Nur eine weitere Intensivierung der Landwirtschaft verspreche also Abhilfe.⁵⁶ Mit Rekurs auf Max Webers berühmtes Diktum erwies sich im Zarenreich gerade auch die Agrarpolitik als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“.⁵⁷ Aber das Beharrungsvermögen Kaufmans und anderer obščestvennye dejateli wirkte auf die Regierung des Ancien Régime wie der stete Tropfen, der den Stein aushöhlt. Diese konnte sich ihren Argumenten nicht verschließen, wie eine Denkschrift der „Hauptverwaltung für Landeinrichtung und Landwirtschaft“ [Glavnoe Upravlenie Zemleustrojstva i Zemledelija, GUZiZ ] vom . Juli  illustriert, in der die Maßnahmen des Landwirtschaftsministeriums seit der Bauernbefreiung einschließlich der Tätigkeiten der Bauernlandbank und Übersiedlungsverwaltung [Pereselenčeskoe Upravlenie] wie folgt charakterisiert wurden: „Jedoch hat die Erfahrung all dieser Maßnahmen bewiesen, dass eine Vergrößerung des bäuerlichen Landbesitzes allein den Wohlstand der Bevölkerung nicht sichern kann und dass es daher vor allem notwendig ist, die Bedingungen der Landnutzung selbst zu verbessern, d. h. die Bauern vom System der obščina und ihre Ländereien von den Folgen der Gemengelage und der allgemeinen Zwangsfruchtfolge zu befreien.“⁵⁸ Das Memorandum des GUZiZ erteilte der im Kontext des pereselenie nachhaltig beschrittenen Extensivierung der Landwirtschaft zugunsten einer Intensivierung des Landbaus eine Absage. Mit den Folgen der Bauernbefreiung auf die sozioökonomische Lage der Bauern befasste sich in den Jahren / eine unter dem Vorsitz des Innenministers Petr Aleksandrovič Valuev tagende hochkarätig besetzte Expertenkommission, die auch in großem Maße auf die Urteile lokaler Vertreter aus  Gouvernements des europäischen Russland zurückgriff. Wenngleich die Antworten eine erhebliche Bandbreite erkennen lassen, so war doch offensichtlich, dass un⁵⁴ ⁵⁵

⁵⁶ ⁵⁷ ⁵⁸

Ebda., S. . Hinzu kamen als weiterer Faktor der sinkende Getreideweltmarktpreis, Kaufman, Agrarnyj vopros (), S. . Demnach betrug die Durchschnittsgetreideertrag in Norwegen  pud je desjatina, in den USA, Kanada und Ungarn , in Frankreich und dem Deutschen Reich , Kaufman, Zemlja, S. . Kaufman, Zemlja ili kul’tura, S.  f., . Vgl. Max Weber: Politik als Beruf, München/Leipzig , S. . RGIA, f. , op. , d. , l. .

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ter denen, die eine Verschlechterung der Lage der Bauernwirtschaft konstatierten, ,  auf Familienteilungen, ,  auf die obščina, je ,  auf die kollektive Steuerhaftung [krugovaja poruka] der Dorfgemeinde bzw. Trunksucht und lediglich ,  auf das geringe Niveau der Agrotechnik als Gründe verwiesen.⁵⁹ Als eine Expertenkommission, die sogenannte „Besondere Beratung“ [Osoboe soveščanie], sich in den Jahren  bis  mit derselben Problematik auseinandersetzte, unterschieden sich die Antworten zur Lösung der Probleme der Agrarfrage der über . beteiligten Respondenten, die in mehr als  Komitees in Gouvernements und Kreisen organisiert waren, deutlich: Die Verbesserung der bäuerlichen Bildung nannten ,  der Komitees als zentralen Hebel zur Überwindung der Krise der russischen Bauernwirtschaft, für ein pereselenie optierten immerhin , .⁶⁰ Seit den er Jahren plädierten Landwirtschaftsexperten und Wissenschaftler, darunter der Chemiker Dmitrij Ivanovič Mendeleev, der Ökonom Julij Ėduardovič Janson oder der Agronom an der Petrovskaja Landwirtschaftlichen Akademie, Ivan Aleksandrovič Stebut, für eine Förderung der Übersiedlung.⁶¹ Ähnlich wie auch Kaufman erkannten zahlreiche weitere Experten das geringe bäuerliche Bildungsniveau als Kernproblem. Als im Frühjahr  der allgemeine zemstvo-Kongress tagte, spielte das malozemel’e – ungeachtet der Positionen des bedeutenden liberalen Ökonomen Aleksandr Apollonovič Manuilov – als Grund der bäuerlichen Verarmung eine sehr untergeordnete Rolle, während die deutliche Mehrheit eine Produktivitätssteigerung der anachronistischen bäuerlichen Wirtschaftsweisen als notwendig erachtete.⁶² Die slavophile Deutung der obščina als ein Spezifikum des russischen Volkscharakters verwarf Kaufman mit Hinweis auf ähnliche Vergemeinschaftungsformen beispielsweise unter den Kirgizen.⁶³ Auch der sozialrevolutionären Interpretation der obščina als sozialistischer Keimzelle erteilte er eine Absage. Eine Reihe hoher Beamter⁶⁴ betrachteten die obščina als Ursache allen Übels oder optierten wie zwei Drittel der Komitees der Osoboe soveščanie für ihre Auflösung, ⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹ ⁶² ⁶³ ⁶⁴

Boris Nikolaevič Mironov: Blagosostojanie naselenija i revoljucii v imperskoj Rossii: XVIII–načalo XX veka, Moskau , S. . Ebda., S.  f.,  f. Ebda., S.  f. Ebda., S.  f.; Manuilov, S. , –. Aleksandr Arkad’evič Kaufman: K voprosu o proischoždenii zemel’noj russkoj obščina, in: Sbornik statej: obščina, pereselenie, statistika, Moskau , S. –, hier S. . Dazu zählten u. a. der Direktor des Departements für Landbau Aleksandr Alekseevič Rittich, der Hauptdirigent für Landeinrichtung und Landwirtschaft Aleksandr Petrovič Nikol’skij, der stellvertretende Ministerpräsident Vladimir Osipovič Gurko oder Ministerpräsident Ivan Logginovič Goremykin.

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weil sie landwirtschaftliche Modernisierung behindere und diejenigen negativ sanktionierte, die Gewinn maximierend wirtschaften wollten. Kaufman teilte diese negative Sicht der obščina nicht, sondern verwies auf Gemengelage und Kollektivhaftung [krugovaja poruka] als Produktivitätshemmnisse.⁶⁵ Vielmehr hielt er mit Rekurs auf den bedeutenden Ökonomen Aleksandr Ivanovič Čuprov die obščina durchaus für fähig, landwirtschaftliche Modernisierung umzusetzen, wie viele von ihnen seit etwa der Jahrhundertwende mit dem Übergang zur Vielfelderwirtschaft mit Grasbrache unter Beweis gestellt hätten.⁶⁶ Auf dem II. Parteitag der Konstitutionellen Demokraten im Januar  vertrat er den Standpunkt, die Frage ihrer Zukunft durch die Bauern selbst entscheiden zu lassen. Dies war pragmatisch, denn in den Schwarzerdegouvernements wie Tambov, Samara oder Saratov waren zwischen  und ,  aller Bauern in obščiny organisiert. In den  Gouvernements des europäischen Russland waren es am Vorabend der Agrarreform Stolypins mehr als drei Viertel.⁶⁷ Es wäre, so argumentierte Kaufman, jedenfalls ein gravierender Fehler, sich über deren Wünsche hinwegzusetzen. Aus diesem Grunde lehnte er auch die entsprechenden Bestimmungen der Agrarreformen Stolypins aus dem Spätsommer und Herbst  ab.⁶⁸ Über die Agrarreform Stolypins aus dem Spätsommer bzw. Herbst  wusste Kaufman wenig Gutes zu sagen. Er sah in den Agrarreformen vor allem den Versuch des Ministerpräsidenten, die bäuerliche Agrarbewegung zu befrieden. Kaufman kritisierte nicht nur die Art und Weise ihrer Einführung mit Hilfe des §  der Staatsgrundgesetze, sondern auch viele ihrer Details. Dazu gehörten der hohe Grad der Zentralisierung, die Zusammensetzung der Kommissionen für Landeinrichtungen mit ihrem übergroßen Anteil an Adligen und Beamten, die u. a. auch die Eignung der bäuerlichen Antragsteller für eine Übersiedlung zu entscheiden hatten, die unklaren Kriterien, nach denen die Landvergabe an die Bauern geschah, sowie die Förderung des starken auf

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Kaufman, Agrarnyj vopros (), S.  f.; ders.: Zemlja i kul’tura. K voprosu o zemel’noj reforme, Moskau , S.  f.; vgl. Mironov, Blagosostojanie, S. , . Mironov, Blagosostojanie, S.  vertritt die Auffassung, dass gerade Liberale aus politischen Erwägungen für die Beibehaltung der obščina optiert hätten. http://www.demoscope.ru/weekly///nauka.php, [zuletzt aufgerufen am ..]; Kaufman, Agrarnyj vopros (), S. ; ders., Zemlja, S.  f.; ders., Zemlja ili kul’tura, S. . Hannu Immonen: The Agrarian Program of the Russian Socialist Revolutionary Party, –, Helsinki , S. ; Andrej M. Anfimov: Krest’janskoe chozjajstvo evropejskoj Rossii, Moskau , S. , Tab. . S“ezdy i konferencii KD, S. , .

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Kosten der armen Bauern.⁶⁹ Auch die weiteren Schritte der Agrarreform Stolypins mit den Gesetzen vom . Juni  und . Mai , die einerseits gegen die obščina gerichtet waren und andererseits auf die Entwicklung prosperierender Bauernwirtschaften [stavka na sil’nych] zielten,⁷⁰ lehnte Kaufman kategorisch ab, weil er eine Proletarisierung breiter bäuerlicher Schichten befürchtete und damit eine Verschärfung der sozialen Spannungen bis hin zu einer Revitalisierung der revolutionären Bewegung.⁷¹ Kaufmans ausdrückliches Lob fanden jedoch die Bemühungen des Stolypin’schen Reformwerks, die bäuerlichen Anbaumethoden zu verbessern.⁷²  formulierte Kaufman seine These, dass im Zarenreich relativer [otnositel’noe malozemel’e], nicht aber absoluter Landhunger [absolutnoe bezzemel’e] herrsche.⁷³ Er kritisierte die russische Regierung – insbesondere Stolypin – dafür, dass sie durch Übersiedlung soziale Probleme zu lösen versuche, die letztlich durch atavistische Formen der Landbestellung hervorgerufen waren. Mit anderen Worten: Die Übersiedlung sei eine Folge der Krise der extensiven agrarischen Wirtschaftsweise und damit des kulturellen Konservatismus der russischen Bauernschaft, die der Tradition den Vorzug vor agrotechnischer Modernisierung gab.⁷⁴ Die millionenfache Übersiedlung von Bauern deutete Kaufman als eine „Flucht vor dem Kulturfortschritt“.⁷⁵ Die russische Regierung und mit ihr die konservativen Kräfte des Landes beschritten den Weg geringeren Widerstands. Kaufmans Parteifreund, der Wirtschaftsjurist V. A. Vinogradov, stellte in der Staatsduma die rhetorische Frage, warum Stolypin, wenn er durch einer Verkleinerung der bäuerlichen Landstücke einen Übergang zu intensiveren Methoden der Landbestellung anstrebe, dies nicht auch auf den ⁶⁹ ⁷⁰

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Ebda., S. , ,  f., , –,  f., , . Vgl. beispielsweise die Kritik an den Agrarreformen Stolypins des der PSR nahestehenden Publizisten Karl Romanovič Kaorovskij: Byt’ ili ne byt’ obščine v Rossii? (Očerki), in: Zavety (), H. , . Pag. S. –, bes. S. –. http://www.demoscope.ru/weekly///nauka.php [zuletzt aufgerufen am ..]. S“ezdy i konferencii KD, S. . Vgl. Aleksandr Arkad’evič Kaufman: K voprosu o pričinach i verojatnoj buduščnosti russkich pereselenij, Moskau , S. , , ; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. ; ders., Pereselenija v Rossii, S. ; ders.: Beiträge zur Kenntnis der Feldgemeinschaft in Sibirien, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung  (), S. –, hier S. ; ders., Reč’ na dispute, S.  f.; ders., Pereselenie i ego rol’, S. ; vgl. Manuilov, S. . Kaufman, K voprosu, S.  f.,  f.,  f.; vgl. ders., Agrarnyj vopros (), S. ; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. ; ders., Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S.  f.; I. A. Gurvi: Pereselenija krest’jan v Sibir’. Izsledovanie, Moskau , S. . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. ; vgl. ders., Pereselenie i kolonizacija, S. ; Palme, Vorbedingungen, S. .

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adligen Gutsbesitz ausdehne.⁷⁶ Nicht zu Unrecht beklagte Kaufman, dass die Regierung mit zweierlei Maß messe, indem sie den Übersiedler hofiere, den saisonalen Arbeitsmigranten aber schmählich im Stich lasse.⁷⁷ Das otchodničestvo, die Arbeitsmigration, betrachtete Kaufman als eine wichtige bäuerliche Erwerbsquelle, die das pereselenie verzichtbar machen könnte.⁷⁸

Interessen und Weltbilder In die Zeit der Russischen Revolutionen fiel eine wichtige Zäsur, mit der eine richtungweisende Weichenstellung verbunden war: Anfang  schied Kaufman aus dem Staatsdienst aus. Der Liberalismus in der Gestalt der Partei der Konstitutionellen Demokraten stand nun im Zentrum seines Wirkens. Kaufman war Mitglied des hauptstädtischen Parteikomitees und der Agrarkommission und präsentierte als einer der Hauptreferenten deren Positionen auf dem II. und III. Parteitag im Januar und April .⁷⁹ Ideologische Scheuklappen, Gewalt und politischer Extremismus waren Kaufman fremd.⁸⁰ Gleichwohl war er nicht bereit, politische Prinzipien des Liberalismus aus taktischen Erwägungen zu verraten. Aus Gründen der politischen Gradlinigkeit und Berechenbarkeit verwahrte er sich gegen politische Versprechungen, wie sie die sozialistischen Parteien beispielsweise an die Bauern machten, die aber die Konstitutionellen Demokraten nicht einlösen könnten.⁸¹ Er zeichnete sich durch Pragmatismus aus, verwahrte sich gegen Maximalforderungen, verlangte von seiner Partei, nicht auf einer Konstituierenden Versammlung als conditio sine qua non zu beharren, sondern konstruktiv in der Staatsduma mitzuarbeiten, um dort die Initiative zur Lösung der Agrarfra⁷⁶ ⁷⁷

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⁸⁰ ⁸¹

Gosudarstvennaja Duma, -ij sozyv, Stenografičeskie otčety  g., sessija -ja, č. -ja: Zasedanija – (s  marta po  maja  g.), St. Petersburg , Sp. . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. , , , ; ders., Pereselenija, in: Ėnciklopedičeskij slovar’. Izdateli F. A. Brokgauz, I. A. Efron, t. : Patenty na izobretenijaPetropavlovskij, St. Petersburg , S. –, hier S. ; ders., Pereselenija i, Sp.  f. Kaufman, Pereselenie i kolonizacija, S. . S“ezdy i konferencii KD, S. ; Protokoly Central’nogo Komiteta konstitucionnojdemokratičeskoj partii, t. : – gg. Sostavitel’ Dmitrij Borisovič Pavlov, Moskau , S. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Ešče o samopoznanii, in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. . Kaufman, Poznaj, S. , , ; ders., Ešče o samopoznanii, S. –.; vgl. die Kritik von Semen Ljudvigovič Frank: Odnostoronnee samopoznanie. (Po povodu stat’i A. A. Kaufmana), in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. , .

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ge ergreifen zu können.⁸² Kaufmans Vorstellungen waren in der Partei nicht immer mehrheitsfähig.⁸³ Während beispielsweise der Agrarspezialist Čuprov eine Vergrößerung des bäuerlichen Landanteils befürwortete, wies Kaufman mit dem nüchternen Blick auf die verfügbare Bodenreserve darauf hin, dass nicht einmal die bäuerlichen Besitzverhältnisse des Jahres  wiederhergestellt werden könnten. Zwar war Kaufman aus taktischen Erwägungen bereit, den Bauern einen Teil des im Staatsbesitz befindlichen Bodens als Palliativ zu übergeben.⁸⁴ Erhielten die Bauern jedoch den gesamten Boden, zöge dies eine „Barbarisierung der Kultur“⁸⁵ nach sich. Dieses Verdikt war keineswegs dem paternalistischen Vorurteil des intelligent gegenüber der Bauernschaft im Allgemeinen geschuldet. Vielmehr sprach Kaufman hier als Agrartheoretiker, -empiriker und soziologischer Feldforscher, der es als notwendig erachtete, die landwirtschaftliche Produktion zu intensivieren. Wenn beispielsweise Russland das landwirtschaftliche Produktionsniveau Frankreichs erreichte, stelle sich die Agrarfrage nicht mehr. Damit sei eine Erörterung der Usancen des pereselenie hinfällig, das ohnehin keine Lösung verspreche, weil die im asiatischen Landesteils des Imperiums vorhandenen landwirtschaftlich brauchbaren Böden nicht ausreichten, um genügend Bauern aus den dichter besiedelten europäischen Schwarzerdegouvernements aufzunehmen. Im Übrigen koste deren Übersiedlung Unsummen, die besser in bäuerliche Wirtschaften investiert werden könnten. In das konstitutionell-demokratische Parteiprogramm fand zwar Kaufmans Forderung nach einer Verbesserung der bäuerlichen Wirtschaftsweise Aufnahme; er konnte sich aber in zwei anderen Punkten nicht durchsetzen: Das Programm optierte zum einen für eine „intensive Organisation der staatlichen Hilfe für die Übersiedlung“ zum Zwecke der wirtschaftlichen Existenzsicherung der Bauern,⁸⁶ zum anderen – aus taktischen Erwägungen, um die bäuerlichen Stimmen nicht zu verlieren – für die Enteignung des Gutsbesitzes.⁸⁷ Kaufman hingegen betrachtete die Güter wegen ihrer höheren Produktivität ⁸² ⁸³

⁸⁴

⁸⁵ ⁸⁶ ⁸⁷

S“ezdy i konferencii KD, S. . Vgl. den Eklat auf dem II. Parteitag der KD, als die Mitglieder der Agrarkommission Kaufmans Referat kritisierten und die Auffassung vertraten, er habe nicht die Positionen der Kommission zum Ausdruck gebracht, ebda., S. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: K voprosu o dopolnitel’nom nadelenii, in: Pravo No. , .., Sp. –, hier Sp. ; ders., Gde vzjat’ zemli, S. ; S“ezdy i konferencii KD, S. , . S“ezdy i konferencii KD, S. . Die russischen politischen Parteien, S. . Aleksandr Aleksandrovič Čuprov: Zemel’naja reforma i krest’jane-arendatory, in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. .

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als „treibende Kraft des landwirtschaftlichen Fortschritts“,⁸⁸ die es wegen ihrer Vorbildfunktion aus kulturellen und ökonomischen Gründen zu erhalten gelte. Kaufman beschwor auch in der Russischen Revolution das Eigentumsrecht. Enteignungen waren für ihn eine ultima ratio, die aus sozialen Erwägungen zu rechtfertigen, als Zwangsinstrument aber indiskutabel seien. Er plädierte vielmehr dafür, die Frage des Privateigentums an Grund und Boden detailliert zu erörtern und nicht für ein voreiliges Fait accompli zu sorgen.⁸⁹ Damit nahm er einen ähnlichen Standpunkt wie der dem rechten Parteiflügel zuneigende Fedor Izmajlovič Rodičev ein.⁹⁰ Aufgrund innerparteilicher Differenzen zog sich Kaufman, der auch den Kurs seiner Partei „Keine Feinde auf der Linken“ ablehnte, Anfang  bis zur Revolution von  von der Parteiarbeit zurück, ohne jedoch der Partei den Rücken zuzuwenden. Er widmete sich nun intensiver seiner Tätigkeit als Hochschullehrer und Publizist.⁹¹ Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen aus den Reihen der intelligencija, aber auch der Ministerialbürokratie⁹² neigte Kaufman nicht dazu, der Hybris zu verfallen und das kolonisatorische Potential des russischen Bauern zu beschwören,⁹³ respektive ihn als „,denkbar besten Kolonisator‘“ oder als „Kulturträger“ zu stilisieren.⁹⁴ Kaufman konstatierte ferner einen Typuswechsel unter den pereselency: Überwogen zunächst die squatter, respektive Pioniere, die als samovol’nye auf eigenes Risiko und eigene Verantwortung sich den Strapazen und Unsicherheiten der Übersiedlung aussetzten, ⁸⁸

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⁹² ⁹³

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Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Poznaj samogo sebja. (O konstitucionnodemokratičeskoj partii), in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. ; ders., Gde vzjat’ zemli, S. , , ; vgl. P. P., K agrarnomu voprosu, in: Ėkonomičeskaja Gazeta, No. , .., S. –, hier S. . S“ezdy i konferencii KD, S.  f., , , , , ; Kaufman, Mečty [Žurnal], S. ; ders., Gde vzjat’ zemli, S. –. Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Pravo i prinuditel’noe otčuždenie, in: Poljarnaja Zvezda, No. , .., S. –, hier S. ; ders., Ešče o samopoznanii, S. –; vgl. N. Kaniševa, Igor’ V. Narskij: Rodičev, in: Političeskie partii Rossii. Konec XIX–pervaja tret’ XX veka. Ėnciklopedija. Otv. red. Valentin Valentinovič Šelochaev, Moskau , S. –. Er schrieb beispielsweise für die Russkija Vedomosti, stellte allerdings seine Mitarbeit aufgrund radikalerer Tendenzen der Redaktion nach der Ermordung ihres Chefredakteurs Grigorij Borisovič Iollos wieder ein. Seit Sommer  schrieb er auch für die Reč’, http: //www.demoscope.ru/weekly///nauka.php [zuletzt aufgerufen am ..]. GARF, f. , op. , d. , l. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Očerk krest’janskago chozjajstva v Sibiri, Tomsk , S.  beklagte bereits in diesem Frühwerk mit dem Blick auf die er und er Jahre, dass die russischen Bauern sich nicht als „Pioniere des Fortschritts landwirtschaftlicher Kultur“ erwiesen hätten. Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S.  f. [Zitat, S. ].

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dominierten seit den er Jahren jene Elemente, deren Eigeninitiative [samodejatel’nost’ ] weniger ausgeprägt war und die auf staatliche Beihilfen zählten.⁹⁵ Ihnen attestierte er „Indolenz und Kulturohnmacht“ und das Streben, wie bisher zu wirtschaften, womit die mangelnde Bereitschaft bzw. die Unfähigkeit verbunden war, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Mehr noch, Kaufman zieh sie sogar eines „regressiven Bruchs“.⁹⁶ Die Wirtschaftsweise russischer Bauern, mehrere Jahre hintereinander ohne Brache oder Fruchtwechsel und ausreichende Düngung ein und dasselbe Getreide anzupflanzen, führte in Steppengebieten zur Auslaugung der Böden, zu Bodenerosion, zu neuerlichen Klagen über Landmangel und in letzter Konsequenz zur Aufgabe durch neuerliche Migration in eine weitere neue Heimat.⁹⁷ In seinen Studien führte er den Nachweis, dass die Zahl der pereselency, die bereits nach weniger Jahren erneut migrierten, seit den früheren er Jahren im Steigen begriffen sei.⁹⁸ Eine – wie es Kaufman nannte – „Raubwirtschaft“ anderer Art praktizierten die russischen Übersiedler im Amur- bzw. Ussurigebiet.⁹⁹ Ohne sich an den Wirtschaftsweisen der indigenen Bevölkerung zu orientieren, bauten sie bevorzugt europäische Getreidesorten an, die für die dortigen klimatischen Bedingungen ungeeignet seien. Vielmehr gingen die Übersiedler oft nach wenigen Jahren dazu über, ihre Länder an Chinesen oder Koreaner zu verpachten, deren Erträge die der pereselency teils um das Fünffache übertrafen. Kaufman attestierte ⁹⁵ ⁹⁶

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Ebda., S.  f.; ders., Reč’ na dispute, S. ; ders.: Po novym mestam. (Očerki i putevyja zametki). –, St. Petersburg , S. . Kaufman, K voprosu, S. ; ders., Kolonisationsgesetz, S.  f.; ders., Mečty, S. ,  f.; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. ; ders.: Organizacija i glavnejšie vyvody chozjajstvenno-statističeskago izsledovanija Irkutskoj i Enisejskoj gubernij. (Doklad, čitannyj v Statističeskom Otdelenija Moskovskago Juridičeskago Obščestva v zasedanii  janvarja  goda), in: Sbornik pravovedenija i obščestvennych znanij  (), S. – , hier S.  f.; ders., Reč’ na dispute, S. ; ähnlich argumentierte A. A. Bulgakov: Sovremennyja peredviženija krest’janstva: Napravlenija, razmery i uslovija krest’janskich dviženij Moskovskoj gubernii po novym cifrovym dannym za desjatiletie –, in: Russkoe Ėkonomičeskoe Obozrenie  (), H , S. –, hier S. . Jakov Jakovlevič Polferov, Sredi inorodcev, St. Petersburg , S.  f.; Kaufman, Agrarnyj vopros, t. , S. ; ders., Agrarnyj vopros (), S. ; ders., Mečty, S. –; ders., Zemlja ili kul’tura, S. ; ders.: Soobraženija po voprosu o dopustimosti nadelenija pereselencev v nekotorych mestnostjach Turgajskoj oblasti v umen’šennom protiv  desjatin na dušu razmere. Priloženie k otčetu Staršago proizvoditelja rabot Kaufmana po komandirovke  goda, St. Petersburg , hier S. , . Kaufman, K voprosu, S. ; ders., Pereselenie i kolonizacija, S. ; ders., Kak partija Narodnoj Svobody predpolagaet razrešat’ zemel’nyj vopros v Sibiri, S. ; ders., K pereselenčeskomu voprosu, in: Ėkonomičeskaja Gazeta, No. , .., S. –, hier S. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Naš Dal’nij Vostok i ego kolonizacija, in: Russkaja Mysl’  () , S. –, hier S. ; ders., Očerk krest’janskago chozjajstva, S. .

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ihnen in landwirtschaftlicher Hinsicht Vorbildcharakter.¹⁰⁰ Die Russen, so lautete Kaufmans vernichtendes Verdikt, führten kein produktives, sondern ein parasitäres Dasein.¹⁰¹ Sie seien das traurige Beispiel „kultureller Kraftlosigkeit“, der Regression und der „Rückständigkeit“ [otstalost’ ].¹⁰² Angesichts eines solchen kulturellen Verdikts redete Kaufman keinem russischen Überlegenheitsdünkel das Wort. Er berauschte sich im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nicht am zarischen Kolonialismus und seiner implizit gedachten Zivilisierungsmission der inorodcy. Kaufman nahm die inorodcy als andersartig, aber nicht als archaisch wahr. Im Gegenteil: Über Chinesen und Koreaner äußerte er sich eindeutig positiv und beschwor kein Bedrohungsszenario durch eine „gelbe Gefahr“.¹⁰³ Mehr noch: Kaufman kritisierte den zarischen Staat für seine schleichende Landnahme auf Kosten der Indigenen, deren Weidegebiete zugunsten russischer Siedler immer weiter beschnitten wurden, ohne dass sich der Staat an Gesetze bzw. vertragliche Regelungen hielt. Zur Veranschaulichung der Situation der Indigenen als Konsequenz der Regierungspolitik des Ancien Régime, die aber auch auf die sibirischen starožily zutraf,¹⁰⁴ operierte Kaufman mit dem Glatzen-Syllogismus: Wenn einem Menschen ein, ein zweites und ein drittes Haar ausgerissen werde, sei er gleichwohl nicht glatzköpfig, empfinde aber bei jedem ausgerissenen Haar den Schmerz und werde sich gegen jede weitere Einbuße wehren. Kaufman prophezeite somit nachhaltigen Widerstand der indigenen Bevölkerung. Im Sinne der Konstitutionellen Demokraten argumentierte Kaufman rechtsstaatlich und forderte gleiche staatsbürgerliche Rechte für alle Staatsangehörigen.¹⁰⁵

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Kaufman, Zemlja ili kul’tura, S. . Kaufman., Agrarnyj vopros, t. , S. –; ders., Agrarnyj vopros (), S. –.; ders., Kolonisationsgesetz, S. ; ders., Vostok, S. ; ders., Mečty, S.  f.; Pereselenie i ego rol’, S. ; ders., Očerk krest’janskago chozjajstva, S. . Kaufman, Mečty, S. –. Kaufman, Pereselenie i ego rol’, S. . Kaufman, Pereselenčeskie vidy, S. ,  f.; ders.: Kak partija Narodnoj Svobody predpolagaet razrešat’ zemel’nyj vopros v Sibiri, Petrograd , S.  f.; ders., Organizacija, S. ; Oganovskij, vol’t, S. . Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Kak partija Narodnoj Svobody predpolagaet razrešat’ zemel’nyj vopros v Stepnom Krae i Turkestane, Petrograd , S. –, ; ders., Kak partija Narodnoj Svobody predpolagaet razrešat’ zemel’nyj vopros v Sibiri, S. ; ders., Mečty, S. ; ders., Pereselečeskie vidy, S.  f.; ders., Pereselenie i ego rol’, S.  f. Mitte der er Jahre vertrat Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Otčet staršago proizvoditelja rabot Kaufmana po komandirovke v Turgajskuju oblast’ dlja vyjasnenija voprosa o vozmožnosti eja kolonizacii, č. , St. Petersburg , S.  allerdings noch die Auffassung, dass die Kirgizen insgesamt weniger Land als früher benötigten, weil ein Teil ihrer Bevölkerung

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Schluss Kaufman selbst räumte die Evolution seiner Anschauungen ein. In jungen Jahren sei er davon ausgegangen, dass es zur Lösung der Agrarfrage in Russland genüge, den Bauern mehr Land zu geben. Das pereselenie sei ihm daher als ein praktikabler Lösungsansatz erschienen.¹⁰⁶ Später postulierte er gerade auch angesichts der Beharrungskräfte in der russischen Gesellschaft, von denen er selbst radikale intelligenty à la Tugan-Baranovskij, der eine Erhöhung der Produktivkräfte als einen langwierigen und schwierigen Prozess charakterisierte, nicht ausnahm, eine sofortige Intensivierung als einzige Möglichkeit, die Agrarkrise zu lösen.¹⁰⁷ „Wenn der russische Bauer hungert und Elend leidet, so liegt der wahre Grund dafür nicht in dessen absolut zu kleinen Maße seines Grundbesitzes, sondern in dessen zu geringer Produktivität, welche wiederum darauf zurückzuführen ist, dass die hergebrachten Bodenkulturmethoden, in Mittelrußland die Dreifelderwirtschaft, in Süd- und Ostrußland die wilde Feldgras- oder Brachwirtschaft, der jetzigen Bevölkerungsdichtigkeit nicht mehr entsprechen: im Gebiet der Feldgraswirtschaft wird dem Acker gar keine oder zu kurze Brache zuteil, im Gebiet der Dreifelderwirtschaft ist die Ackerfläche zu sehr auf Kosten der Futterfläche angewachsen, wodurch die Möglichkeit einer genügenden Düngung des Ackers ausgeschlossen ist.“¹⁰⁸ Nach Berechnungen von Agronomen des GUZiZ stiegen die landwirtschaftlichen Erträge beispielsweise im Gouvernement Saratov allein durch den Übergang von der Drei- zur Vierfelderwirtschaft um mehr als  .¹⁰⁹ In Kaufmans Augen versprach allein eine Hebung der Produktivität infolge verbesserter Anbaumethoden eine Bewältigung der Agrarkrise und damit eine Überwindung der – gemessen an den Hektarerträgen im europäischen Vergleich – Rückständigkeit des Ancien Régime.¹¹⁰

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von der Vieh- zur Landwirtschaft übergegangen sei und sie ferner viel Land an russische Siedler verpachteten. Kaufman, Agrarnyj vopros (), S. . Ebda., S. –; ders., Pereselenie i kolonizacija, S.  f.; ders.: Gde vzjat’ zemli, S. ; Soveščanie po agrarnomu voprosu – aprelja, in: Agrarnyj vopros. Sbornik statej. Otv. red. Pavel D. Dolgorukov i Ivan I. Petrunkevi, Moskau , S. –, hier S. . Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. . RGIA, f. , op. , d. , ll. – ob; Ustrojstvo pokazatel’nych krest’janskich chozjajstv na chutorach i otrubach v Saratovskoj gubernii. Doklad Agronomičeskomu Soveščaniju pri Saratovskoj Gubernskoj Zemleustroitel’noj Kommissii Inspektora Sel’skago Chozjajstva v Saratovskoj gub. P. Vuttke, Saratov , S. –. Kaufmann, Kolonisationsgesetz, S. ; ders., Mečty, S. .

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Mit diesem Programm der Aufklärung erinnerte Kaufman an die Physiokraten des ausgehenden . Jahrhunderts. Insgesamt zeichnete er ein differenziertes Bild von individuellem Erfolg und Misserfolg des pereselenie,¹¹¹ das wenig mit der weitgehend von Optimismus, kulturellem und sozioökonomischem Fortschritt gekennzeichneten Repräsentation in der öffentlichen Meinung harmonierte. Kaufman formulierte seine Bedenken, seine Warnung offen. Sie hatten drei Adressaten: Erstens galten sie dem Staat, der sich schon aus Gründen seiner Sorgfaltspflicht für seine Untertanen stärker engagieren musste, wollte er auf das pereselenie zur Lösung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme nicht verzichten, geschweige denn Gefahr laufen, die inneren Probleme durch eine wachsende Zahl von Remigranten noch zu potenzieren. Zweitens waren sie an die Übersiedler adressiert, die sich auf beträchtliche Schwierigkeiten einstellen sollten, nicht den Verheißungen und Gerüchten Glauben schenken sollten, sondern ein gerüttelt Maß an Pioniergeist und Eigeninitiative benötigten, um in der neuen Welt zu reüssieren. Und drittens galten sie der Öffentlichkeit, die keine überzogenen Erwartungen an das Potential der asiatischen Landesteile und die Fähigkeiten der Übersiedler richten, sondern für eine Intensivierung der landwirtschaftlichen Anbaumethoden im europäischen Russland sorgen sollte. Statt Kapital auf Flächenerweiterung beispielsweise durch Bodenpacht zu verwenden, sollten die Bauern vielmehr ihre Techniken des Landbaus verbessern. Hierzu müsse der Anstoß von außen kommen. Darum sei es Aufgabe der zemstva, insbesondere aber des Staates, landesweit die Agronomie zu stärken.¹¹²

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Aleksandr Arkad’evič Kaufman: Pereselency-arendatory Turgajskoj oblasti (-ja čast’ otčeta staršago proizvoditelja rabot Kaufmana po komandirovke v Turgajskuju oblast’), St. Petersburg , S. . Kaufman, Zemlja ili kul’tura, S. –.

Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg? Biomedizin, intelligencija und ideologisierte Wissenschaft im späten Zarenreich – Björn M. Felder

„Weder Prostituierte, Soldaten oder unverheiratete junge Männer aus den städtischen Fabriken und den Manufakturzentren übertragen die Krankheit, es sind vielmehr die unschuldigen Kinder und Frauen der verarmten Flecken und Dörfer. Die Krankheit verbreitete sich nicht durch sexuelle Verbindungen, sondern durch alltägliche häusliche Kontakte […]. Die Infektion wird eher durch den gemeinsamen Gebrauch von Schüsseln und Löffeln oder durch den unschuldigen Kuss eines Kindes verbreitet als durch lasterhaftes Verhalten oder unkontrollierte Prostituierte, wie es in den großen Städten der Fall ist.“¹ In Russland wie in anderen Teilen Europas hatte sich Syphilis im . Jahrhundert zur Volksseuche entwickelt. Im Gegensatz aber zu den Medizinern im Westen war der hier berichtende russische Arzt Grigorij Gercenštejn wie die meisten seiner russischen Kollegen davon überzeugt, dass die Krankheit zumindest in Russland und den russischen Dörfern vor allem infektiös und nicht sexuell übertragen werde. Dies war nicht das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung, sondern eine Behauptung a priori: Der einfache russische Bauer war „unschuldig“ und ein Opfer äußerer Umstände. Gercenštejns Sozialanamnese der Syphilis war typisch für seine Zeit und folgte sowohl der Glorifizierung der einfachen Bevölkerung in der Tradition der narodniki (Volkstümler) als auch, als Teil der slawophilen Agenda, dem Paradigma der Sozialmedizin, das unter russischen Medizinern, besonders den zemstvo-Ärzten, weit verbrei¹

Grigorij Gercenštejn: Sifilis v Novgorodskoj gubernii i voprosy o bor’be s nim na VII i IX s”ezdach zemskich vračej – gg., in: Vestnik obščestvennoj gigieny, sudebnoj i praktičeskoj mediciny (), H. , S. , zit. nach: Laura Engelstein: The Keys to Happiness. Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Siècle Russia. Ithaca, NY/London , S. .

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tet war.² Die Kategorisierung der „russischen“ Syphilis als reine Infektions- und nicht als Geschlechtskrankheit war dieser Doktrin geschuldet. Sie war Produkt einer Ideologisierung der Wissenschaft, in deren Folge politische Vorstellungen die wissenschaftlichen Debatten dominierten und durch eine Form der political correctness eine empirische Wissenschaft und die Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden aus Westeuropa behinderte. Dieser Beitrag folgt der These, dass die eben geschilderte ideologisierte Naturwissenschaft im späten Zarenreich durch die politische Doktrin der intelligencija bedingt war. Ärzte, die dieser Doktrin folgten, opferten wissenschaftliche Objektivität ihrer politischen Überzeugung, indem sie Thesen, Methoden und Erkenntnisse postulierten, die sich in erster Linie mit ihren politischen Vorstellungen deckten. Der Bezug auf die Rückständigkeit war hierfür maßgeblich und ermöglichte die Konstruktion eines wissenschaftlichen Sonderweges.³ Als zweite These wird daher vertreten, dass dieses Denkmuster um die Jahrhundertwende mit einer neuen Generation von Wissenschaftlern seine Monopolstellung verlor und sich ein neuer Denkstil ausbreitete, der Wissenschaftlichkeit den Vorrang vor politischer Reform einräumte und mit einem Professionalisierungs- und Modernisierungsschub in der russischen Naturwissenschaft zusammenhing. Russische Biomediziner reagierten direkt auf die medizinische, biologische und genetische Revolution in der Naturwissenschaft jener Jahre. Bisher wurde vor allem die Reformorientiertheit der russischen Ärzte, speziell der Psychiater, und deren Primat der Sozialmedizin betont.⁴ Laura Engelstein zeigte die Subjektivität und Politisierung der russischen Wissenschaftler ²

³



John F. Hutchinson: Politics and Public Health in Revolutionary Russia, –, Baltimore ; Susan Gross Solomon: Social Hygiene and Soviet Public Health, – , in: dies., John F. Hutchinson (Hg.): Health and Society in Revolutionary Russia, Bloomington, Indianapolis , S. –; dies.: The Expert and the State in Russian Public Health. Continuities and Change Across the Revolutionary Divide, in: Dorothy Porter (Hg.): The History of Public Health and the Modern State, Amsterdam , S. –. Die Literatur zur russischen Sonderwegsdebatte ist umfangreich und kann hier nicht wiedergegeben werden. Tatsächlich ist die Vorstellung einer von Westeuropa abweichenden Entwicklung speziell im Bereich der Biomedizin und der Gesundheitspolitik noch immer sehr stark verbreitet. Letztlich vertreten auch Laura Engelstein und selbst Marina Mogil’ner diese These, letztere in Bezug auf die Ausformung der „liberalen“ Anthropologie: Marina Mogilner [Mogil’ner]: Russian Physical Anthropology in Search for ‘Imperial Race’. Liberalism and Modern Scientific Imagination in the Imperial Situation, in: Ab Imperio  (), H. , S. –, hier S. . Eine Gegenposition vertritt Daniel Beer: Renovating Russia. The Human Sciences and the Fate of liberal Modernity –, Ithaca, NY/London . Gross, Social Hygiene; Hutchinson, Public Health; Irina Sirotkina: Diagnosing

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Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

im Kontext von Sexualhygiene und sexuell übertragenen Krankheiten.⁵ Marina Mogil’ner wies am Beispiel von russischer Rassen- und Kriminalbiologie die Politisierung der Wissenschaftspraxis nach.⁶ Der Zusammenhang von Forschungsdesign und Doktrin der intelligencija wurde aber bisher nicht gesehen. Historiker wie Daniel Beer, Nikolaj Kremencov oder Mark Adams, die sich mit der Modernisierung der Biomedizin am Vorabend des Weltkrieges befassten, haben nicht den damit verbundenen Paradigmenwechsel wahrgenommen.⁷ Erstaunlicherweise wurde die biomedizinische Moderne in Russland auch bisher kaum auf ihren biopolitischen Gehalt hin untersucht. Laut Michel Foucault ist die Biopolitik, die Ausdehnung der Macht des Staates auf die Körper der Bevölkerung, ein paradigmatisches Phänomen der Moderne.⁸ Der Disput zwischen den genannten gegensätzlichen Positionen durchzieht die russische und sowjetische Geschichte des gesamten . Jahrhunderts. Hier sollen an einigen biomedizinischen Beispielen wie dem Darwinismus, der Rassenbiologie und der Sexualhygiene sowohl die Doktrin der intelligencija als auch die paradigmatische Wende im Rahmen der Modernisierung beschrieben werden. Das Beispiel der Genetik und der Eugenik als janusköpfiges Geschwisterpaar verdeutlicht freilich, das auch durchrationalisierte Wissenschaftlichkeit, ganz besonders im Zeitalter des Positivismus, zu Politisierung und Inhumanität führen konnte.

Die Doktrin der intelligencija: Sexualhygiene, Rasse und Darwinismus als wissenschaftlicher Sonderweg Im Zuge der Modernisierungsbestrebungen im Russland des . Jahrhunderts war eine akademisch gebildete Schicht entstanden, die zwar vom Staat ausgebildet und privilegiert worden war, diesen aber dezidiert ablehnte: die intelligencija. Die russischen intelligenty definierten sich vor allem durch ihr politisches Bewusstsein, das sich auch im Umgang mit und der Rezeption von Wissenschaft sowie der Produktion epistemologischer und wissenschaftlicher

⁵ ⁶ ⁷



Literary Genius. A Cultural History of Psychiatry in Russia –, Baltimore, MD/London . Engelstein, Keys of Happiness, S.  f. Marina Mogil’ner: Homo imperii. Istorija fizičeskoj antropologii v Rossii, Moskau . Beer, Renovating; Nikolai Krementsov: From “Beastly Philosophy” to Medical Genetics: Eugenics in Russia and the Soviet Union, in: Annals of Science  (), H. , S. –; Mark B. Adams: Eugenics in Russia, in: ders. (Hg.): The Wellborn Science, New York, NY/Oxford , S. –. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. : Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main .

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Erkenntnis zeigte.⁹ Nach Alain Besançon war das Gruppenbewusstsein der intelligencija nicht nur stark doktrinär, sondern grundsätzlich konstituierend für deren Identität: Ubi doctrina, ibi patria.¹⁰ Generell wurden der intelligencija Staatsfeindlichkeit, revolutionäre Vorstellungen, Militanz und missionarischer Eifer zugeschrieben. In ihrem elitären Habitus stand sie dem Lenin’schen Avantgardismus Pate, im Namen der ungebildeten und angeblich handlungsunfähigen Volksmasse zu agieren.¹¹ Verschiedene Autoren stimmen darin überein, dass die Modernisierung des Landes und damit auch die „Verwestlichung“ Russlands im Interesse der intelligencija standen. Die intelligencija soll hier allerdings nicht als Gruppe untersucht, sondern deren strukturelle und politische Einflüsse auf die aufstrebende Naturwissenschaft im späten Zarenreich diskutiert werden. Die Rückständigkeit des Russischen Imperiums war in der Wahrnehmung der meisten russischen Mediziner und Wissenschaftler zur Jahrhundertwende generell kein „Privileg“, sondern ein Übel, das für Elend und Krankheit der Bevölkerung verantwortlich war und rasch bekämpft werden sollte.¹² Die russischen Mediziner, die zumeist der intelligencija angehörten, betrachteten die hygienischen Verhältnisse und die gesundheitlichen Umstände als skandalös und weit hinter dem (west)europäischen Standard befindlich. Die Politisierung der Naturwissenschaft stand direkt im Zusammenhang mit der Rückständigkeit, da sich die Wissenschaften noch in der Phase der Entfaltung befanden und die Professionalisierung wie Standardisierung (die eine „Verwestlichung“ bedeutete) noch nicht abgeschlossen war. „Rückständigkeit“ im Bereich Wissenschaft war ein Phänomen der Selbstwahrnehmung und sollte behoben werden.¹³ Im Streben nach wissenschaftlichem, medizinischem und hygienischem Fortschritt gab es im ideengeschichtlich-historischen Kontext auch Bemühungen,



¹⁰ ¹¹ ¹²

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Zum Begriff und zur Definition der russischen intelligencija vgl. Dietrich Beyrau: Russische Intelligenzija und Revolution, in: Historische Zeitschrift  (), S. –; Lutz Häfner: Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Kazan’ und Saratov (–), Köln/Weimar/Wien , S. –; Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, Göttingen . Alain Besançon: The Intelllectual Origins of Leninism, Oxford , S. . Vgl. ebda., S. –; Beyrau, Russische Intelligenzija, S. –; Sdvižkov, Zeitalter, S.  f. Vgl. Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der neueren russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –. Vgl. Hutchinson, Public Health; Beer, Renovating.

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Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

einen „anderen“ Weg zu gehen als im Westen.¹⁴ Es war ein allgemeiner Konsens, dass die Naturwissenschaft nicht nur einen akademischen Selbstzweck verfolgte, sondern auch die Aufgabe hatte, die Modernisierung des Landes voranzutreiben und die politischen Reformen zu unterstützen.¹⁵ Dieser politische Auftrag der Wissenschaft, der die soziale und kulturelle Prägung der russischen intelligenty und Akademiker widerspiegelte, beeinflusste deren naturwissenschaftliche Debatten, den Transfer und die Rezeption von Theorien und Praktiken aus Westeuropa erheblich, die als Vorbild für die eigene Entwicklung und Professionalisierung angesehen wurden. Die politischen Dogmen bewogen Wissenschaftler dazu, ihre Thesen und Ergebnisse an den entsprechenden Paradigmen auszurichten. Dieses normierte Denken führte zu einer speziellen Gestaltung wissenschaftlicher Grundvorstellungen, Methoden und epistemologischer Erkenntnisprozesse. Es handelte sich in diesem Fall nicht um die Gängelung der Wissenschaft durch den Staat, sondern um das normative Denken einer gesellschaftlichen Gruppe, eine Form der political correctness, die bestimmte Themen oder Denkweisen tabuisierte bzw. vorgab. Dies lässt sich am Beispiel der Rezeption des Darwinismus in Russland zeigen, der sehr lange diskutiert wurde und im Grunde erst am Vorabend des Ersten Weltkrieges allgemein akzeptiert war.¹⁶ An der staatsnahen St. Petersburger Universität wurde die Theorie lange kritisiert, in Moskau dagegen früher positiv rezipiert. Konservative fürchteten die politische Sprengkraft der Thesen. Der Embryologe Carl Ernst von Baer war Wortführer der konservativen Darwinkritiker. Er lehnte die Lehre wie viele Deutschbalten lange Zeit ab – aus politischem Konservatismus, aber auch aus wissenschaftlichen Gründen, obwohl er durch seine Studien Darwin bei seiner Theoriebildung maßgeblich beeinflusst hatte.¹⁷ Bei den russischen Anhängern Darwins stießen ebenfalls nicht alle Aspekte der Evolutionstheorie auf Unterstützung. So wurde der Selektionsaspekt, ¹⁴ ¹⁵ ¹⁶

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Hildermeier, Rückständigkeit, S.  f. Alexander S. Vucinich: Science in Russian Culture –, Stanford, CA . Ders.: Darwin in Russia, Berkeley, CA ; Daniel P. Todes: Darwin without Malthus. The Struggle for Existence in Russian Evolutionary Thought, Oxford ; Eduard I. Kolinskij: A German trace in the Russian Evolutionism of the th Century, in: Ortrun Riha, Marta Fischer (Hg.): Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen Deutschland und Russland im . Jahrhundert. Internationale Tagung, Leipzig, ..– .., Aachen , S. –; Walter Rossmanith: Darwinismus, Kommunismus, Lysenkoismus, in: B.-M. Baumunk, J. Rieß (Hg.): Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte, Berlin , S. –. Vucinich, Darwin in Russia,  f.; Ken Kalling, Erki Tammiksaar: Decent versus Extinction. The Reception of Darwinism in Estonia, in: E.-M. Engels, T. F. Glick (Hg.): The Reception of Charles Darwin in Europe, Bd. , London , S. –.

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die grundlegende These der Darwin’schen Theorie, als „britischer Sportsgeist“ abgelehnt. Schon in den er Jahren wurde dem ein „russisches“ Konzept, das „Solidaritätsprinzip“, entgegengestellt,¹⁸ demzufolge die Evolution nicht aufgrund von Konkurrenzkampf, sondern im Rahmen von Kooperation erfolgte. Bekanntestes Werk aus dieser Denkschule ist die Arbeit des Anarchisten Petr Kropotkin, der aus diesem Modell seine Utopie der Dorfgemeinschaft als Urzelle des (anarchistischen) Gemeinwesens entwickelte.¹⁹ Das Beispiel zeigt die Projektion spezifischer politischer Vorstellungen vermischt mit anti-westlichen Ressentiments. Die romantisierende slawophile Vorstellung der Dorfgemeinschaft, die als Idealbild einer zukünftigen Staatsgemeinschaft angesehen wurde, beeinflusste die Rezeption einer naturwissenschaftlichen Theorie. Deutlich wurde der Einfluss der intelligencija-Ideologie bei dem eingangs genannten Beispiel der Syphilis. Grigorij Gercenštejn folgte der Doktrin der Sozialmedizin, die einerseits die „Unschuld“ der einfachen Bevölkerung und deren Opferrolle postulierte, andererseits als gesundheitspolitisches und revolutionäres Programm zu verstehen war.²⁰ Die Kategorisierung der Syphilis als nicht sexuell übertragene Infektionskrankheit implizierte eine spezielle Bekämpfung der Krankheit: Sie wurde, wie im Beispiel beschrieben, zu einem Problem der alltäglichen hygienischen Verhältnisse und der allgegenwärtigen Armut. Als prophylaktische Disziplin sah die Sozialmedizin die Vorbeugung und Eindämmung der Syphilis und anderer Krankheiten durch Verbesserung der Hygiene, der medizinischen Versorgung und letztlich der materiellen Verhältnisse der Bevölkerung: Dies alles war nur durch einen fundamentalen Wechsel der Sozialpolitik möglich. Die Sozialmedizin war das Lieblingskind der russischen Ärzte im späten . Jahrhundert und folgte den Paradigmen der intelligencija. Die Einordnung der Syphilis als sexuell übertragenes Leiden hätte andere Maßnahmen impliziert. Zunächst hätte dies das Opferbild der einfachen Bevölkerung zerstört: „Unsittliches“ Verhalten und hohe sexuelle Promiskuität wären mit der Vorstellung des guten und einfachen Bauern unvereinbar gewesen. Zudem hätte es moralische Appelle und Sexualaufklärung bedeutet und möglicherweise die an Repression grenzende Kontrolle der Prostituierten durch staatliche Stellen sanktioniert, eine Praxis, die damals von den liberalen Ärzten stark kritisiert wurde. Denn Prostituierte galten ihnen ebenso als Opfer der sozialen und materiellen Umstände.²¹ ¹⁸ ¹⁹ ²⁰ ²¹

Todes, Darwin without Malthus, S.  f. Ebda., –. Vgl. Hutchinson, Public Health. Vgl. Engelstein, Keys to Happiness S.  f.; Laurie Bernstein: Sonia’s Daughters. Prostitutes and their Regulation in Imperial Russia, Berkeley, CA , S.  f.; Björn Fel-

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Ein weiteres Beispiel ist die Rassenbiologie. Sie war im . Jahrhundert Teil der Biologisierung und Verwissenschaftlichung des Menschen. Individuen wurden körperlich vermessen, kategorisiert und letztlich auch hierarchisiert, wie es die physische Anthropologie mit ihrer Anthropometrie und der Rassensystematik vorexerzierte und sich hierbei stark an kolonialen und eurozentristischen Paradigmen orientierte: Der weiße, „nordische“ Europäer galt als Spitze der Schöpfung.²² Es wurde nicht nur ein System für Menschenrassen etabliert, sondern auch versucht, verschiedene soziale Phänomene und Gruppen zu biologisieren und medikalisieren. Dies erfolgte etwa in der Kriminalbiologie: Der italienische Psychiater Cesare Lombroso entwickelte in Bezug auf die allgemein verbreitete Degenerationstheorie die Vorstellung der Kriminalität als „Degeneration“ bzw. anthropologischer „Atavismus“. Kriminalität war nach ihr biologisch begründet, physiognomisch bzw. rassenanthropologisch nachweisbar und damit auch erblich.²³ In Russland verlief die Rezeption Lombrosos aufgrund des sozialmedizinischen Paradigmas zunächst schleppend. Es waren das Ärzteehepaar Praskov’ja und Veniamin Tarnovskij, das versuchte, Lambroso in die russische Wissenschaftslandschaft einzuführen.²⁴ Während Tarnovskij Prostitution und Kriminalität als pathologische Folge genetischer Defekte betrachtete, vertrat seine Frau eine weniger radikale Position. Tarnovskaja war weniger von einer genetischen Disposition der Prostituierten überzeugt, sondern favorisierte vielmehr eine konsekutive Degenerationsthese: Nach ihr verursachten Zivili-

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der: Syphilis als „Degeneration“. Die Biologisierung des russischen Gesundheitsdiskurses zwischen Sozialhygiene und Eugenik –, in: Ortrun Riha und Marta Fischer (Hg.): Hygiene als Leitwissenschaft. Die Neuausrichtung eines Faches im Austausch zwischen Deutschland und Russland im . Jahrhundert. Internationale Tagung, Leipzig, .–... Aachen , S. –. Vgl. Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, Bonn ; ders.: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten . Jahrhundert, Hamburg ; George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt am Main . Zu Lombroso vgl. David Horn: The Criminal Body. Lombroso and the Anatomy of Deviance, New York, NY/London ; Mary Gibson: Born to Crime. Cesare Lombrosos and the Origins of Biological Criminology, Westport, CN ; Mariacarla GadebuschBondio: Die Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien von Cesare Lombroso in Deutschland von –, Husum . Engelstein, Key to Happiness, –; Beer, Renovating, S. ; Marina Mogilner [Mogil’ner]: Russian Physical Anthropology of the Nineteenth-Early Twentieth Centuries. Imperial Race, Colonial Order, Degenerate Types and the Russian Racial Body, in: I. Gerasimov, J. Kusber, A. Semyonov (Hg.): Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire, Leiden/Boston, MA , S. – , hier S. –. Zum Einfluss von Lombroso in Russland siehe auch Sirotkina, Diagnosing Literary Genius.

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sationskrankheiten wie Alkoholismus und Syphilis biologische Degeneration. Letztere war Folge hygienischer und sozialer Umstände und daher nicht genetisch determiniert.²⁵ Tatsächlich aber war das Forschungsdesign Tarnovskajas – so das Urteil von Marina Mogil’ner – stark durch den normativen Diskurs der intelligencija beeinflusst. Tarnovskaja griff bei ihren Untersuchungen und Messungen vor allem auf Vertreter der „slawischen Rasse“ zurück und vermied es peinlichst, nicht-russische Probanden in ihr Forschungsprojekt einzubeziehen.²⁶ Indem sie keine Urteile über nicht-russische Prostituierte fällte, wollte sie den Eindruck vermeiden, eine mögliche xenophobe oder rassistische Agenda zu betreiben. So formte Tarnovskaja ihr Forschungsdesign derart, dass es den Anforderungen der political correctness der intelligencija genüge tat und schließlich auch ein entsprechendes Ergebnis lieferte: Prostitution sei keinesfalls erblich, sondern eine Folge der schlechten sozialen und politischen Verhältnisse, und es gebe auch keinen Zusammenhang zwischen Minderheiten, Prostitution und Kriminalität. Gleichwohl setzte sie sich damit auch der Kritik der „liberalen“ Anthropologen aus, die grundsätzlich nur „Mischtypen“ bei ihren Untersuchungen auszumachen glaubten und die Untersuchungen von Tarnovskaja an einer vermeintlich homogenen „russischen“ Gruppe als „Konstruktion“ ablehnten.²⁷ Die Rassenbiologie, auch physische Anthropologie oder Rassenanthropologie, entwickelte sich in Russland zunächst anders als im Westen, was ebenfalls auf einen ideologischen Einfluss zurückzuführen ist.²⁸ Als Gründungsvater gilt der deutschbaltische Anthropologe und Naturforscher Carl Ernst von Baer, ²⁵

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Engelstein, Key to Happiness, S. ; Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth – Early Twentieth Centuries,  f. Zu Tarnovskij vgl. Venjamin Tarnovskij: Prostitucija i abolicionizm, St. Petersburg ; ders.: Prostitution und Abolitionismus: Briefe. Hamburg/Leipzig ; Praskov’ja N. Tarnovskaja: Ženščiny-ubijcy. Antropologičeskoe issledovanie, St. Petersburg . Beer, Renovating, S. ; Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth – Early Twentieth Centuries, S. . So lautet die Analyse von Mogil’ner, die als Expertin für die russische Rassenanthropologie des . Jahrhunderts gilt: ebda. Zur Rassenanthropologie in Russland siehe: Mogilner, Russian Physical Anthropology in Search for ‘Imperial Race’; dies., Homo imperii; dies.: Doing Anthropology in Russian Military Uniform, in: R. Johler, C. Marchetti, M. Scheer (Hg.): Doing Anthropology in Wartime and War Zones. World War I and the Cultural Sciences in Europe, Bielefeld , S. –; siehe auch Susi Frank: Anthropologie als Instrument imperialer Identitätsstiftung. Russisch-sibirische Rassetheorien zwischen  und , in: B. Pietrow-Ennker (Hg.): Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen , S. –; Karl Choll [Hall]: „Rasovye priznaki korenjatsja glubže v prirode čelovečeskogo organizma“. Neulovimie ponjatie rasy v Ros-

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Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

der als führender Kraniologie die neue Wissenschaft förderte.²⁹ Die Anthropologie traf wie im Westen auf großes Interesse und  wurde in Moskau der erste Lehrstuhl eingerichtet, sieben Jahre bevor Johannes Ranke auf den ersten deutschen Lehrstuhl in München berufen wurde.  entstand eine Anthropologische Gesellschaft in St. Petersburg und seit  erschien in Moskau eine erste Zeitschrift, der Dnevnik Antropologičeskogo otdela, der ab  als Russkij antropologičeskij žurnal firmierte.³⁰ Charakteristisch für die russische Anthropologie des . Jahrhunderts waren die Uneindeutigkeit und die fehlende allgemeine Definition vom dem, was „Rasse“ sein sollte.³¹ Die russischen Wissenschaftler zögerten, der Anthropologie im Westen zu folgen, die das europäische Sendungsbewusstsein, den Kolonialismus und die „weiße“ Vormachstellung biologisch zu untermauern suchte. Marina Mogil’ner zufolge entwickelten sich drei disziplinäre Richtungen: Die Petersburger Schule folgte dem westlichen Beispiel und hätte ähnliche staatstragende und koloniale Ansätze. In Kiev entwickelte Professor Ivan Alekseevič Sikovskij eine Schule des rassischen Nationalismus.³² Die einflussreichste Richtung allerdings war nach Mogil’ner die Moskauer Fraktion um den Professor Dimitrij Nikolaevič Anučin, die eine „liberale“ Rassenanthropologie vertrat.³³ Anučin gab die anthropologische Zeitschrift heraus und war gleichzeitig Redakteur der liberalen Tageszeitung Russkie Vedomosti. Sein am Berliner Anthropologen Rudolf von Virchow orientiertes Modell entsprach dem Dogma der intelligencija:³⁴ Es vermied den Terminus „russische Rasse“, sprach vielmehr von „physischen Typen“ und trennte strikt zwischen Rasse und Nation. Ein besonderes Anliegen war es, die indigenen, nicht-russischen Völker der Peripherie nicht als „minderwertig“ zu beschreiben, wie es im Westen mit indigenen Völkern üblich war. Grundsätzlich sprach die Anučin-Schule von „gemischten Typen“, um jegliche Glorifizierung einer „rei-

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sijskoj imperii, in: A. Miller, D. Sdvižkov, I. Schierle (Hg.): Ponjatija o Rossii. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda, Bd. , Moskau , S. –. Erki Tammiksaar: Karl Ernst von Baer as an Anthropologist, in: Papers on Anthropology  (), S. –; Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth – Early Twentieth Centuries, S. . Ebda., S. . Choll, Rasovye priznaki. Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth – Early Twentieth Centuries, S. . Seine Arbeiten wurde jüngst von zeitgenössischen Anhängern des rassischen Nationalismus in Russland wieder aufgelegt: V. B. Avdeev (Hg.): Russkaja rasovaja teorija do  goda. Sbornik original’nych rabot russkich klassikov, Moskau . Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth-Early Twentieth Centuries, S.  f. Ebda.

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nen Rasse“ zu vermeiden – so lautet das Fazit von Mogil’ner. Im Kern ging es darum, eine imperiale und nationale Wissenschaft zu begründen, die alle Völkerschaften integrieren, aber keine Hierarchien entwickeln sollte.³⁵ Dies war kein russischer Sonderfall. Auch im multiethnischen Habsburgerreich entwickelten Anthropologen ähnliche, integrative Konzepte.³⁶ Die russische Anthropologie nutzte im Übrigen dieselben anthropometrischen Techniken und Methoden wie der Westen, etwa die Vermessung von Schädeln und Körpern an Lebenden und Toten. Anučin führte selbst Massenvermessungen russischer Rekruten durch.³⁷ Auch wurden manche Ethnien und Minderheiten als biologisch „anders“ bzw. „unterentwickelt“ betrachtet und es erfolgten die ersten rassenanthropologischen Vermessungen von Juden.³⁸ Anučin und seine Schule versuchten die Quadratur des Kreises: die Propagierung einer nichtrassistischen Wissenschaftsdisziplin, die aber von der Genese, den Grundaxiomen und der Struktur her rassistisch war: Menschen, Menschengruppen und ganze Ethnien wurden biologisiert und auf dieser Grundlage kategorisiert, Mechanismen, die nach Michel Foucault die Grundvoraussetzungen rassistischen Denkens darstellen.³⁹ Dieses Paradoxon der angeblich nichtrassistischen Rassenbiologie, wie Anučin es vertrat, wurde nach  Teil der Propaganda bzw. des offiziellen wissenschaftlichen Selbstbildes der sowjetischen Rassenanthropologie und bestand letztlich bis in die er Jahre, auch wenn die sowjetischen Rassenanthropologen das Anučin’sche Konzept der liberalen Anthropologie nicht weiterführten.

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Vgl. Mogilner, Russian Physical Anthropology of the Nineteenth-Early Twentieth Centuries. Zur „liberalen“ Anthropologie in Russland vgl. auch Frank, Anthropologie. Paul J. Weindling: Race, Eugenics and National Identity in the Eastern Baltic: from Racial Surveys to Racial States, in: Björn Felder, Paul J. Weindling (Hg.): Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in interwar Estonia, Latvia and Lithuania –, Amsterdam/New York, NY , S. –. D. Anuin: O geografičeskom rasperedelenii rosta mužskogo naselenija Rossii (po dannym o vseobščej voinskoj povinnosti v Imperii za / gg.) sravitel’no s rasperedeleniem rosta v drugich stranach, in: Zapiski Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva po otdeleniju statistiki  (), H. , S. –; vgl. Boris Nikolaevič Mironov: Blagosostojanie naselenija i revoljucii v imperskoj Rossii. XVIII - načalo XX veka, Moskau . Vgl. Mogilner, Homo imperii. Foucault, Sexualität und Wahrheit; zu Foucaults Rassismustheorie vgl. Philipp Sarasin: Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Problem bei Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus, in: M. Stingelin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt am Main , S. –.

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Die positivistische Wende Die „liberale“ Rassenbiologie scheiterte nicht erst  mit dem Oktoberumsturz und der Zurückdrängung der intelligencija aus der Wissenschaftslandschaft. Bereits nach der Revolution von  kam es zur ersten grundlegenden (Selbst-)Kritik an der intelligencija, wie sie die Vechi-Gruppe  formulierte.⁴⁰ Im akademischen Bereich erfolgte eine zunehmende „Deideologisierung“ von Wissenschaft zugunsten des Positivismus.⁴¹ Diese Periode bedeutete auch eine Zäsur für die Biomedizin: Sie stellte nun die „Unschuld“ des einfachen Volkes in Frage und nahm es vielmehr als gewalttätig wahr.⁴² Gleichzeitig erfolgte seit  in der Rassenanthropologie eine Standardisierung der Rassensystematik, wie sie Madison Grant und William Ripley entworfen hatten. Diese Systematiken verzeichneten auch die Bevölkerung und die ethnischen Minderheiten Russlands, kategorisierten sie und ordneten sie den europäischen Hauptrassen zu.⁴³ In diesem Konzept war wenig Platz für die „gemischten Typen“ Anučins, viel wichtiger wurde die Frage nach den Ursprüngen und der Zugehörigkeit, also der Rassenidentität und damit der Biologisierung der Nation.⁴⁴ Am Vorabend des Weltkrieges änderte sich in Russland insgesamt nicht nur der Rassen-Diskurs, der in seiner wissenschaftlichen und populären Form viele „westliche“ Elemente wie etwa eugenische Vorstellungen aufnahm.⁴⁵ Auch zu den sexuell übertragenen Krankheiten wie der Syphilis gab es um die Jahrhundertwende im Russländischen Imperium andere Standpunkte als den genannten von Gercenštejn. So folgten die Ärzte in den russischen Ostseepro⁴⁰

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Vgl. Beyrau, Russische Intelligenzija, S. – und Galina Berkenkopf: Russische Elite als Wegbereiter und Opfer des Oktober, in: Ost-Probleme  (), H. /, S. – . Sdvižkov, Zeitalter, S. ; J. Ch. McClelland: Autocrats and Academics. Education, Culture and Society in Tsarist Russia, Chicago , S. , . Vgl. Beer, Renovating. Joseph Deniker: The Races of Men. An Outline of Anthropology and Ethnography, London ; Madison Grant: The Passing of the Great Race or the Racial Basis of European History, New York, NY ; William Zebina Ripley: The Races of Europe, London . Zu Rassenidentitäten und biologisierter Nation vgl. Weindling, Race, Eugenics and National Identity; Björn Felder: “God forgives – but nature never will” – Racial Identity and Eugenics in Latvia –, in: ders., P. Weindling (Hg.): Baltic Eugenics. Bio-Politics, Race and Nation in Interwar Estonia, Latvia and Lithuania –, Amsterdam/New York, NY , S. –. Vgl. Hall, Rasovye priznaki und Mogilner, Doing Anthropology in Russian Military Uniform.

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vinzen eher der „westlichen“ Sichtweise und sahen die Krankheit vor allem als Geschlechtskrankheit. Auf den Livländischen Ärztetagen von  und  argumentierten die Mediziner in den Paradigmen des proto-eugenischen Diskurses und schlugen für ihr Programm, das sie auf dem St. Petersburger Syphilis-Kongress von  vortragen wollten, Zwangsmaßnahmen vor, wie Untersuchungen von Prostituierten, Schülern und Studenten, Eheverbote für Erkrankte sowie die Isolierung von Prostituierten.⁴⁶ Das waren die Konzepte deutschbaltischer Ärzte, die dem westlichen Wissenschaftsdiskurs viel näher standen und kaum der russischen intelligencija zuzuordnen sind. Aber auch die russischen Ärzte und Venerologen rückten am Vorabend des Weltkriegs von ihrer Position ab und räumten die Bedeutung der sexuellen Übertragung für die Syphilis in Russland ein.⁴⁷ Besondere Bedeutung für den Wandel in der Naturwissenschaft kam den neuesten Erkenntnissen zur Vererbungslehre in ihrer neodarwinistischen, „klassischen“ Form zu. Mit der Genetik entstand um  eine neue Disziplin, die bereits damals begann, ihre paradigmatische Wirkungsmacht zu entfalten, die sie bis heute behalten hat.⁴⁸ Bisher hatten sich die russischen Akademiker, zumindest mehrheitlich die Ärzte, in der großen Debatte „Natur vs. Umwelt“ stark an Lamarck orientiert, der die Vererbung erworbener Eigenschaften postuliert hatte, was sich auch in der Betonung der Sozialmedizin niedergeschlagen hatte.⁴⁹ Letztlich war es vor allem eine neue Wissenschaftlergeneration, die im Westen ausgebildet worden war, die seit der Jahrhundertwende in die Forschungslandschaft eintrat. Damals erreichte die medizinische Revolution mit ihren bahnbrechenden Erkenntnissen das Zarenreich und führte den Ärzten die wis⁴⁶

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Protokolle des dritten Livländischen Ärztetages in Walk vom . bis . September , St. Petersburg ; Protokolle des vierten Livländischen Ärztetages in Wenden vom . bis . September , St. Petersburg . Engelstein, Keys to Happiness, S. . Der Großteil der Arbeiten von Ernst und August Weismann wurden erst ab  ins Russische übersetzt: Kolinskij, A German Trace, S. . Gegen Ende des Jahrzehnts begann eine breite Diskussion um die Vererbungslehre nach August Weismann und Gregor Mendel, die die bis dahin in Russland dominierenden neo-lamarckistischen Vorstellungen von der Vererbung erworbener Eigenschaften zurückdrängen sollte: Vgl. etwa Björn Felder: Rassenhygiene in Russland. Der Hygieniker und Bakteriologe Evgenij A. Šepilevskij (–) und die Anfänge der Eugenik im Russischen Zarenreich. The Hygienist and Bacteriologist Evgenii A. Shepilevsky and the Beginning of Eugenics in Russia, in: Ortrun Riha, Marta Fischer (Hg.): Naturwissenschaft als Kommunikationsraum zwischen Deutschlandund Russland im . Jahrhundert. Internationale Tagung, Leipzig, ..– .., Aachen , S. –. Vgl. Vucinich, Darwin in Russia, S. –.

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Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

senschaftliche und zivilisatorische Diskrepanz zum westlichen Europa schmerzhaft vor Augen. Obwohl sich die russische Verwaltung um die Etablierung einer professionellen medizinischen Ausbildung in Russland bemühte und EliteAusbildungsstätten wie die Militär-Medizinische Akademie in St. Petersburg gegründet hatte, war es für Medizinstudenten selbstverständlich, einige Jahre im Ausland, besonders in Deutschland und Frankreich, zu verbringen.⁵⁰ Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gelten in der Geschichte Russlands bis heute als die Phase, in der der wissenschaftliche Austausch mit Westeuropa am intensivsten betrieben und die höchste Frequenz von Auslandsaufenthalten russischer Studenten im Westen erreicht wurde.⁵¹ Diese Generation war weniger an einer politischen Doktrin als vielmehr an einer Verwestlichung und Standardisierung ihrer Disziplinen interessiert: Die Rückständigkeit sollte überwunden und der selbst gewählte wissenschaftliche Sonderweg verlassen werden.

Wissenschaftlicher Aufbruch und „Verwestlichung“: Genetik und Eugenik Der Hygieniker und Bakteriologe Nikolaj Gamaleja war ein solcher Vertreter der neuen Generation russischer Nachwuchsmediziner. Er hatte an der Neurussischen Universität in Odessa sowie an der Militär-Medizinischen Akademie in St. Petersburg studiert und arbeitete mit den späteren Nobelpreisträgern Louis Pasteur in Paris und Il’ja Mečnikov in Odessa zusammen. Seine Ausbildung in Westeuropa bei den führenden Spezialisten seiner Zeit zahlte sich aus. In den er Jahren wurde er Leiter des mikrobiologischen Instituts in Moskau,  Professor an der . Moskauer Medizinischen Universität und  Mitglied der Wissenschaftlichen Akademie der UdSSR.  erhielt er den Stalinpreis.⁵² Sämtliche sowjetischen Biographen Gamalejas lassen freilich unerwähnt, dass er vor dem Weltkrieg als Privatdozent in St. Petersburg ein begeisterter Anhänger der Eugenik und Teil eines eugenisch orientierten Kreises junger Mediziner aus Moskau und St. Petersburg war. Gamaleja, der damals in St. Petersburg sein eigenes Hygiene-Institut betrieb, hatte zudem von  bis  in Dorpat (Jur’ev/Tartu) einen Lehrauftrag am Institut für Hygiene unter Professor Evgenij Šepilevskij inne, der sich ebenso enthusiastisch über die ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²

Kolinskij, A German Trace, S. . Sdvižkov, Zeitalter, S. . Zu Gamalejas Biographie siehe: I. S. Grjaznova, H. M. Nesterovoj (Hg.): Nikolaj Fedorovič Gamaleja. Moskau, Leningrad ; P. Ivanenko: Akademik N. F. Gamaleja. Odessa ; Ju. I. Milenuškin: Nikolaj Federovič Gamaleja, Moskau ; ders.: N. F. Gamaleja, Moskau .

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Eugenik äußerte. Im Umkreis der St. Peterburger Zeitschrift Gigiena i sanitarija, die Gamaleja von – herausgab und die Eugenik explizit als eines ihrer Hauptthemen betrachtete, sowie des Moskauer Journals Priroda fanden russische Eugeniker zusammen.⁵³ Herausgeber der Priroda war der Moskauer Genetiker Nikolaj Kol’cov; zahlreiche Beiträge verfasste Jurij Filipčenko, Biologe und Genetiker aus St. Petersburg.⁵⁴ Beide avancierten nach  zu den führenden Eugenikern Sowjetrusslands.⁵⁵ Im Jahre  schrieb Gamaleja in Gigiena i sanitarija über die neueste Errungenschaft der genetischen Formung von Menschen: die Eugenik.⁵⁶ Gamaleja berichtete ausführlich über die eugenischen Vorstellungen von „Rassenhygiene“ als eine Möglichkeit, die „Degeneration“ der russischen Nation aufzuhalten. Er beschwor den biologischen Niedergang unter den Wohlhabenden und den Städtern und sprach von der „Armee der Schwachsinnigen“, die zusammen mit den Verbrechern und Geisteskranken durch ihre Nachkommen den Staat Millionen kosten würden.⁵⁷ Diese nationale Gefahr müsse man bannen und die genannten Gruppen von der Gesellschaft „isolieren“ oder einfach sterilisieren, wie es in den USA und der Schweiz bereits praktiziert würde. Gamaleja argumentierte ganz im klassischen Narrativ der Eugenik, wie es wenige Jahre zuvor Wilhelm Schallmayer, Karl Pearson und Alfred Ploetz formuliert hatten.⁵⁸ Als Grundlage der Eugenik nannte er die jüngsten Erkenntnisse ⁵³

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Vgl. Felder, Sexualhygiene sowie Krementsov, From “Beastly Philosophy”; die Beiträge waren etwa: Nikolaj Gamaleja: Vyroždenie Rossii, in: Gigiena i sanitarija () –, S. –; ders.: Ob uslovijach, blagoprijatstvujuščich ulučšenij u prirodnych svojstv ljudej, in: Gigiena i sanitarija () –, S. –; K. A. Karaffa-Korbut: Očerki po evgenike. Opredelenie, cel’, soderžanie i metody evgeniki, in: ebda. (), H. , S. –; ders.: Očerki po evgenike, in: ebda. (), H. , S. –; N. N. Lebedev: Generativnaja Gigiena, in: ebda.  (), H. , S. –; L. P. Kravec: Evgenetika, in: Priroda (), H. , S. –; ders.: Nasledstvennost’ u čeloveka, in: Priroda (), H. , S. –. Vgl. etwa Jurij Filipcenko: Statističeskij metod v biologii, in: Priroda (), H. , S. –. Siehe Adams, Eugenics in Russia; Loren R. Graham: Science and Values. The Eugenics Movement in Germany and Russia in the s, in: The American Historical Review  (), H. , S. –. Gamaleja, Ob uslovijach. Ebda., –. Karl Pearson: National Life from the Standpoint of Science, Cambridge ; Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Grundlinien einer Rassen-Hygiene, . Theil, Berlin ; Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese. Grundriss der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst, Jena 3 .

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Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

der Vererbungslehre und bezog sich dabei auf Charles Darwin, Gregor Mendel sowie August Weismann. Gamalejas Artikel endete mit der Feststellung, dass für Russland der Weg zu einer „eugenischen Bewegung“, wie sie bereits in den USA, England oder Deutschland existiere, noch weit, aber als Teil des wissenschaftlichen Fortschritts unumgänglich sei. Die selbstwahrgenommene Rückständigkeit war für junge Wissenschaftler wie Gamaleja ein Hemmschuh und Übel, das es zu beseitigen galt, um in Russland die neusten wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Errungenschaften – als solche wurde auch die Eugenik wahrgenommen – einzuführen und landesweit umzusetzen.⁵⁹

Resümee Eine Änderung der bisherigen Denkstile und das Aufbrechen der starren Denkmuster und Doktrinen der intelligencija kennzeichnete die Phase von der Jahrhundertwende bis zum Weltkrieg. Insgesamt bedeutet diese Periode bis zur Revolution und letztlich bis zum Ende der er Jahre ein Aufblühen der russischen Naturwissenschaften und auch ein „Aufholen“ gegenüber den westlichen Kollegen. Russische Genetiker wie Kol’cov und Filipčenko gehörten nach der Revolution zur Weltelite und waren international anerkannt. Dies wurde allerdings erst möglich durch eine neue Generation von Forschern, die sich von der ideologisierten Wissenschaft lösten und den internationalen Anschluss suchten. Gamaleja stellte sich mit seinem Loblied auf die Eugenik dezidiert gegen die tradierten Paradigmen der Sozialmedizin und des Lamarckismus. Es galt nun nicht mehr Gesundheit und Hygiene der Nation durch politische Reform zu verbessern, sondern durch genetische „Säuberungen“.⁶⁰ Dies bedeutete sowohl einen Bruch mit den populistischen und slawophilen Traditionen, mit den Bemühungen um den russischen „Sonderweg“ und mit der Glorifizierung der „einfachen Bevölkerung“, als auch eine stärkere Hinwendung zum Staat und eine Teilnahme an der europäischen Modernisierung, mit der die Eugenik, die Bio-Politik und das social engineering untrennbar verbunden waren.⁶¹ Wissenschaftliche Standardisierung und Professionalisierung waren nun das Hauptanliegen der neuen Generation. Wissenschaftliche Debatten und Professionalität konstituierten sich supra-national bzw. transnational und standen außerhalb einer subjektiv geführten Identitätsfindung im Rahmen des Diskurses ⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹

Gamaleja, Ob uslovijach, S. . Diese Formulierung wählt E. A. Šepilevskij: Osnovy i sredstva rasovoj gigieny (gigiena razmnoženija), Jur’ev , S. ,  f. Vgl. Marius Turda: Modernism and Eugenics, Houndmills, Basingstoke .

Björn M. Felder



um Rückständigkeit. Gleichwohl implizierte auch die eugenische Diskussion einen politischen Gehalt: Die Bekämpfung der biologischen „Minderwertigkeit“ war nicht selten ein Kampf gegen die Unterschichten.⁶² Diese Vorstellung der genetischen Formung von Menschen erfuhr in allen politischen Lagern eine positive Rezeption, ohne je deren höchst fragwürdige ethische Dimension zu reflektieren. Die Eugenik war Teil der neu entstandenen Vererbungswissenschaft und bedeutete „Normalität“ im Kontext von Modernisierung. Im Positivismus gab es keinen Platz zur ethischen Überprüfung von Wissenschaft. Bezüglich des Rückständigkeitsdiskurses waren diese russischen Wissenschaftler quasi „Westler“, da sie den im Westen formulierten wissenschaftlichen Paradigmen und deren epistemologischen Erkenntnisprozessen folgten. Die Periode der freien wissenschaftlichen Entfaltung, die bis in die Anfänge der „Kulturrevolution“ unter Stalin reichte, war auch eine Phase der wissenschaftlichen Diversität, in der unterschiedliche Positionen nebeneinander bestehen konnten. Zwar verlor das „liberale“ rassenanthropologische Modell von Anučin rasch an Rückhalt, doch gab es in der Biologie stets Anhänger von Lamarck und im Grunde zog sich die Debatte zwischen Neo-Darwinisten und Neo-Lamarckisten über mehrere Jahrzehnte bis in die Post-Stalin-Ära hin. Es war sicher auch kein Zufall, dass sich gerade Autodidakten mit geringer akademischer Bildung wie Ivan Mičurin und Trofim Lysenko auf die Seite der Neo-Lamarckisten stellten.⁶³ Den bol’ševiki und speziell Stalin passte das russische „Erziehungsmodell“ Mičurins viel besser in das ideologische Konzept als die international agierende, determinierende Genetik. So waren die bol’ševiki in vielerlei Hinsicht Erben der revolutionären intelligencija des . Jahrhunderts. Unter ihnen kam es dann zur erneuten Ideologisierung der Naturwissenschaften und in der stalinistischen Phase des Lysenkoismus auch zur totalitären und ideologischen Kontrolle der Biologie durch die Staatsführung. Wie zur Zeit der intelligencija sollte auch die sowjetische Politisierung einen Sonderweg konstituieren, der diesmal die „Rückständigkeit“ allerdings aufzuholen und den Westen sogar zu „überholen“ versprach. Tatsächlich reichen die Nachwehen bis in die Gegenwart: So gibt es heute in Russland Bemühungen, Lysenko und sogar seine Thesen zu rehabilitieren, wie zuletzt Eduard Kolčinskij vor Augen führte.⁶⁴ Dieser Sonderweg war aber immer eine ⁶² ⁶³

⁶⁴

Paul Weindling: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, –, Cambridge . Zu Lysenko vgl. Shores A. Medwedjew: Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapituliert, Hamburg ; David Joravsky: The Lysenko Affair, Cambridge ; Dominique Lecourt: Proletarian Science? The Case of Lysenko, London/Atlantic Highlands, NJ . Vgl. den Beitrag von Kolinskij: „Current Attempts to Exonerate Lysenkoism and Their



Rückständigkeit als selbst gewählter Sonderweg?

Konstruktion und ideologische Fassade. Dies gilt auch für den stalinistischen Anti-Rassismus, Anti-Biologismus und die Verdammung der Eugenik als „faschistische“ Wissenschaft in den er Jahren, die man in erster Linie als ideologische Kampagnen zu betrachten hat: Eugenische Abtreibungen wurde seit  kontinuierlich von sowjetischen Medizinern betrieben. Tatsächlich verabschiedete das Politbüro  ein Verbot der Abtreibung, das Ausnahmen in  Fällen vorsah. Alle Indikationen betrafen Leiden, die damals als erblich bzw. genetisch eingestuft wurden.⁶⁵ So reichte der Katalog von „Schwachsinn“ bis Schizophrenie, den üblichen Indikationen eugenischer Abtreibung im übrigen Europa.  wurde der Katalog auf  Punkte erweitert. Zu diesem Zeitpunkt belief sich die Zahl legaler Abtreibungen aus „medizinischen“ Indikationen in der Sowjetunion jährlich auf etwa .. Die eugenische Abtreibung war auch in der Sowjetunion alltäglich, vor und nach der Machtergreifung Stalins.⁶⁶ Die Eugenik war offensichtlich Teil der „Hochmoderne“ und des Denkstils der zeitgenössischen Mediziner. Die Bemühungen um die Konstituierung eines russischen Sonderwegdiskurses der Wissenschaft, der sich direkt aus der Rückständigkeit als Selbstwahrnehmung und Negatividentität speiste, hatte spätestens mit der ideologisierten Wissenschaft der intelligencija begonnen.

⁶⁵ ⁶⁶

Causes“ auf dem Second international workshop on Lyssenko an der Universität Wien, ./. Juni . Vgl. Beschluss des Politbüros vom . Juni : RGASPI, f. , op. , d. , ll. – . Interne Auskunft des Minzdrav zu den medizinischen Abtreibungen –: GARF f. , op. , d , l. . Zur Abtreibungspraxis in den er Jahren vergleiche: P. M. Vroblevskij: K voprosu o plodoizgnanii v sudebno-medicinskom otnošenii, in: Archiv Kriminologii i sudebnoj Mediciny  (), H. –, S. –.

Moskau im Fokus der Rückständigkeit, – Alexander M. Martin

Zu den zentralen Mythen der russischen Kultur gehört die Spannung zwischen dem „europäischen“ St. Petersburg und dem „russischen“ Moskau. In der Literatur des . Jahrhunderts erscheint St. Petersburg oft als harte, disziplinierte, gefühlsarme Stadt, Moskau dagegen als sanft und mütterlich.¹ Noch im . Jahrhundert hingegen betrachteten Regierung, Adelselite und viele Literaten St. Petersburg als Zentrum der Aufklärung und des Fortschritts, Moskau aber als Hochburg von Unvernunft und Rückständigkeit. Weil Moskau das Landesinnere beherrschte, bildete die Aufklärungsfeindlichkeit der Stadt ein Hindernis, das beseitigt werden musste, wenn die Regierung ihre Politik in der Provinz durchsetzen und breiteren Rückhalt im Volk gewinnen wollte. Aus diesem Grund wurde über viele Jahrzehnte versucht, Moskau und seine vermeintlich unaufgeklärten Bewohner nach westlichem Vorbild umzuformen. Dieser Versuch setzte unter Katharina II. ein und währte unter Paul I. und Alexander I. fort. Unter Nikolaj I. erlahmten die Reformen jedoch. Paradoxerweise bildete sich gerade in dieser Zeit in Moskau endlich die erwünschte europäisierte Öffentlichkeit aus, und diese gab der Monarchie die Schuld für das Ausbleiben weiterer Reformen. Die relativ erfolgreiche Europäisierung Moskaus führte also letztlich zu einer Schwächung der innenpolitischen Glaubwürdigkeit der Monarchie. In diesem Beitrag wird versucht, einen Überblick über diese Entwicklung zu geben. Zunächst wird kurz erörtert, warum die Zustände in Moskau im . Jahrhundert der Regierung als bedrohlich erschienen, und welche Folgen man sich von der Europäisierung der Stadt erhoffte. Dann wird der infrastrukturelle Wandel der Stadt dargestellt, um abschließend zu zeigen, wie die Öffentlichkeit ihn wahrnahm. ¹

Ian K. Lilly (Hg.): Moscow and Petersburg: The City in Russian Culture. Nottingham ; ders.: Conviviality in the Prerevolutionary „Moscow Text“ of Russian Culture, in: Russian Review  (), H. , S. –.

Alexander M. Martin

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Für Katharina II. verkörperte Moskau alles, was der Aufklärung in Russland im Wege stand. An Moskau gefiel ihr nichts. Der dortige Adel bestand ihrer Meinung nach aus verweichlichten Müßiggängern, die sich mit Scharen nutzloser Dienstboten umgaben und keine Vorstellung von Sauberkeit, Ordnung, und guter Hauswirtschaft hatten. Das einfache Volk war für sie ein Gesindel von Dieben und Bettlern.² Was sie von der Infrastruktur der Stadt hielt, kann man der Instruktion der Moskauer Wähler für die gesetzgebende Kommission von  entnehmen. Diese Instruktion orientierte sich an solchen, die den Abgeordneten staatlicher Institutionen mitgegeben wurden, und drückte somit die Vorstellungen der Kaiserin aus.³ Aus der Instruktion geht hervor, dass man Moskau als eine primitive, auf keine Weise dem europäischen Idealbild entsprechende Stadt betrachtete. Wegen der vielen Holzhäuser komme es immer wieder zu verheerenden Bränden. In der Innenstadt fehle es an monumentalen Gebäuden. Die Stadt sei so weitläufig und die Baudichte so gering, dass Moskau über weite Strecken wie ein Dorf wirke. Es fehlten Schulen, Krankenhäuser, Apotheken, ein Zuchthaus, und andere notwendige Einrichtungen, und auf der Straße hause zügellos ein betrunkener Pöbel. Mit den Metropolen aufgeklärter Staaten könne Moskau keinem Vergleich standhalten.⁴ Diese Zustände stellten die Regierung vor innen- und außenpolitische Probleme. Wenn die Regierung ihre an Europa orientierte Kultur an den Rest der russischen Gesellschaft vermitteln wollte, führte kein Weg an Moskau vorbei. Keine andere Stadt im Landesinneren Russlands hatte auch nur ein Zehntel der Bevölkerung Moskaus.⁵ Moskau war die historische Hauptstadt des Landes, und die Zaren wurden nach wie vor im Moskauer Kreml gekrönt. Moskau war die Drehscheibe des russischen Binnenhandels und (gemeinsam mit St. Petersburg) das Zentrum des Adels, der Kirche, des Bildungswesens, des Buchdrucks, und der staatlichen Verwaltung. Für Russlands Ansehen im Ausland – immer ein wichtiger Punkt – hatte Moskau ebenfalls Bedeutung. In Europa wurden Russen noch lange nach Pe² ³

⁴ ⁵

John T. Alexander: Petersburg and Moscow in Early Urban Policy, in: Journal of Urban History  (), H. , S. –. Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft –, Stuttgart , S. –; Isabel de Madariaga: Russia in the Age of Catherine the Great, New Haven, CT , S. –; François-Xavier Coquin: La Grande Commission législative (–). Les cahiers de doléances urbains, Paris , S. , , . Nakaz ot žitelej goroda Moskvy, in: Sbornik Imperatorskago Russkago Istoričeskago Obščestva  (), S. –. Heinrich Storch: Statistische Übersicht der Statthalterschaften des Russischen Reichs nach ihren merkwürdigsten Kulturverhältnissen, Riga , S. , .

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Moskau im Fokus der Rückständigkeit, –

ter dem Großen abschätzig als „Moskowiter“ bezeichnet. So hieß es  unter dem Schlagwort „Russie ou Moscovie“ in einer geographischen Enzyklopädie: „Die Moskowiter waren früher grob, sittenlos, unwissend, in Verträgen untreu, und sehr abergläubisch. Seit Zar Peter dem Großen fangen sie an, sich ein wenig zu zivilisieren und mit fremden Völkern Handel zu treiben.“⁶ Vielen Europäern erschien Moskau, nicht das erst kürzlich gegründete St. Petersburg, als das wahre Zentrum, an dem man den Grad der Zivilisation der „Moskowiter“ erkennen konnte. Casanova, der Russland / bereiste, schrieb: „Man hat Russland nicht gesehen, solange man nicht Moskau gesehen hat, und wer nur die Russen von St. Petersburg kennen gelernt hat, kennt nicht die Russen des wahren Russlands.“⁷ Mit ähnlichen Argumenten versuchte Diderot bei seinem Aufenthalt in St. Petersburg /, Katharina II. zu bewegen, ihre Hauptstadt zurück nach Moskau zu verlegen. St. Petersburg sei geographisch zu abgelegen und kulturell nicht „russisch“ genug, schrieb er, um dem Land aufklärerische Impulse zu geben: „Ist Petersburg durch seine Lage, und weil es allen Völkern Asyl bietet, nicht dazu bestimmt, ewig nur Harlekin-Sitten zu haben? […] Ist es gleichgültig, dass Eure Majestät, die von Ihren Untertanen gehört werden möchte, dort predigt, wo diese nicht sind, und am Ort, wo sie sind, nur mit einem Sprachrohr gehört werden kann?“⁸ Der Mangel an Aufklärung in Moskau gefährdete außerdem die innere Sicherheit. Als  in Moskau die Pest ausbrach, verhängte die Polizei eine Quarantäne. Unter anderem wurde versucht, öffentliche Andachten zu unterbinden, um die Gefahr der Ansteckung einzudämmen. Diese Maßnahme, die den Behörden völlig vernünftig erschien, löste im Volk einen blutigen Aufstand aus.⁹ Wütend schrieb Katharina II. an Voltaire, der Aufstand sei ein Beispiel für „Fanatismus“ (ein Begriff, den Voltaire als „religiösen Wahn, finster und grausam“ definierte).¹⁰ Als drei Jahre später das Heer des Rebellen Emel’jan Pugačev auf Moskau marschierte, rechnete Andrej Bolotov mit einer Wiederholung des Aufstands von , denn „die Dummheit und extreme Unvernunft unseres



⁷ ⁸ ⁹ ¹⁰

Dictionnaire géographique portatif, traduit de l’anglois sur la treizième Edition de Laurent Echard, avec des additions & des corrections considérables, par Monsieur Vosgien, Paris , S. . Jacques Casanova de Seingalt: Mémoires, Bd. , Paris , S. –. Maurice Tourneux: Diderot et Catherine II, Paris , S. –. Zur Geschichte des Pestaufstands, siehe John T. Alexander: Bubonic Plague in Early Modern Russia. Public Health and Urban Disaster, Baltimore , S. –, . Œuvres complètes de Voltaire. Correspondance. Bd. , Paris , S. ; Questions sur l’Encyclopédie par des amateurs, Bd. , o.O. , S. .

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gemeinen Volks war uns [Adeligen] nur zu bekannt.“¹¹ Als Pugačev gefasst und verurteilt worden war, wählte Katharina folgerecht als Ort für seine öffentliche Hinrichtung Moskau, um dort, in der Hauptstadt der russischen Unaufgeklärtheit, ein Exempel zu statuieren. Bei der Neugestaltung Moskaus ging es darum, diese Probleme zu lösen. Moskau sollte eine Metropole werden, die die von St. Petersburg ausgehenden Impulse in die Provinz weiterleiten konnte. Außerdem sollte die Stadt auf Ausländer einen guten Eindruck machen und keine Bedrohung mehr für die staatliche Sicherheit darstellen. Um diese Absichten zu verwirklichen, mussten erstens der Raum und die Infrastruktur Moskaus verändert werden, und zweitens sich die Vorstellungen ändern, die man sich im In- und Ausland von Moskau machte. Die räumliche Umgestaltung des Moskauer Weichbildes begann in den er Jahren. Die städtebauliche Planung galt wie in anderen Städten Europas weniger funktionalen Aspekten als vorrangig der Ästhetik, insbesondere der Innenstädte, versuchte aber gleichwohl, die Brandsicherheit oder die Luftqualität zu verbessern. Zur Zeit der Pest von  ergingen Anordnungen, alle Friedhöfe und Schlachthöfe aus dem Stadtkern zu entfernen, da sie infolge ihres Geruchs als Krankheitsherde galten.¹² Aus ähnlichen Erwägungen wurde gefordert, dass Straßen und Plätze möglichst trocken, sauber, und dem Sonnenlicht und der frischen Luft zugänglich zu sein hatten. Der  verabschiedete Generalplan Moskaus sah vor, die innere Stadtmauer abzureißen und an ihrer Stelle eine breite Promenade (den Boulevardring) anzulegen. In den innerhalb des Boulevardrings gelegenen Bezirken sollte eine klassizistische Innenstadt entstehen, mit begradigten, breiten, gepflasterten Straßen, steinernen Häusern, und großen Plätzen und Repräsentativbauten.¹³ Diese Prioritäten, von denen sich im . Jahrhundert auch in anderen Städten Europas die Städteplaner leiten ließen, behielten auch beim Wiederaufbau Moskaus nach dem Brand von  ihre Gültigkeit. Mitte des . Jahrhunderts war eine schöne klassizistische Innenstadt entstanden, doch auf die neuen Probleme des . Jahrhunderts war man nicht vorbereitet. In vielen Städten Europas entstanden durch Bevölkerungswachstum und Wohnungsnot Elendsviertel, und die zunehmende Einwohnerdichte führte zu einer katastrophalen Verschlechterung der gesundheitlichen Bedin¹¹ ¹² ¹³

A. T. Bolotov: Žizn’ i priključenija Andreja Bolotova, opisannye samim im dlja svoich potomkov, Bd. , Moskau , S. . Alexander, Bubonic Plague in Early Modern Russia, S. . Albert J. Schmidt: The Architecture and Planning of Classical Moscow. A Cultural History, Philadelphia , S. –.

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gungen. Diese Probleme traten zuerst nachdrücklich in den er bis er Jahren in Großbritannien und Frankreich auf, während Russland dank seines langsameren Wachstums verschont blieb. Während westliche Metropolen mit der Errichtung der Kanalisation und anderen Reformen in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts die städtischen Lebensbedingungen verbesserten, unterblieben solche Maßnahmen in Moskau, dessen Bevölkerungswachstum sich seit der Bauernbefreiung von  exponentiell beschleunigte. Die Anzeichen einer zunehmenden Ungleichzeitigkeit verdichteten sich. Beispielhaft für die Entwicklung der städtischen Infrastruktur ist die Geschichte der Wasserversorgung. Die Bevölkerung Moskaus bezog im . Jahrhundert fragwürdiges Wasser aus Flüssen und Teichen, hartes Brunnenwasser, oder teures Quellwasser aus dem nahe Moskau gelegenen Mytišči.¹⁴ Katharina ordnete  den Bau eines Aquädukts an, der  eröffnet wurde und täglich . vedro Quellwasser (ein vedro = , l) –  Liter für jeden der amtlich registrierten . Einwohner – von Mytišči nach Moskau leiten sollte. Der Aquädukt war  Kilometer lang, und das Wasser musste trotz hügeligen Geländes natürlich stets bergab fließen. Der kritische Abschnitt war in Sokol’niki im Nordosten Moskaus, wo der Aquädukt unterirdisch verlief. Dort entstanden im Wasserrohr Risse, durch welche das Quellwasser auslief und minderwertiges Grundwasser eindrang. Dieser Sachverhalt wurde klar, als sich  in Sokol’niki ein Rohrbruch ereignete und trotzdem . vedro pro Tag in die Stadt flossen. Als der Aquädukt  vollständig wiederhergestellt war, flossen täglich . vedro – nicht einmal zwei Drittel der von Katharina vorgesehenen Menge, und das für eine Bevölkerung, die sich seit ihrer Zeit verdoppelt hatte. Die am Anfang des . Jahrhunderts in Moskau zur Verfügung stehende Wassermenge war durchaus bemerkenswert, in Paris betrug sie pro Kopf und Tag lediglich acht Liter. In den folgenden Jahrzehnten fiel Moskau indes zurück. In Paris stieg die tägliche Wasserzufuhr in den er Jahren auf  Liter pro Einwohner, und nach der Eröffnung des Croton-Aquädukts im Jahr  erhielt New York über  Liter pro Einwohner. Am Moskauer Aquädukt ent-

¹⁴

Nakaz ot žitelej goroda Moskvy, S. ; V. Androssov: Statističeskaja zapiska o Moskve, Moskau , S. –; Robert Lyall: The Character of the Russians and a Detailed History of Moscow. London/Edinburgh , S. ; Friedrich Raupach: Reise von St. Petersburg nach dem Gesundbrunnen zu Lipezk am Don. Nebst einem Beitrage zur Charakteristik der Russen, Breslau , S. ; Engelbert Wichelhausen: Züge zu einem Gemählde von Moskwa, Berlin , S. –; Mytiščinskoj vodovod (Prislannaja stat’ja), in: Vestnik Evropy () , S. –, hier besonders S. –.

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standen dagegen neue Schäden, sodass im Winter / die tägliche Menge auf . vedro – weniger als  Liter pro Einwohner – sank.¹⁵ Ein wichtiges Ziel der räumlichen Neugestaltung Moskaus war es, den Bürgern eine „aufgeklärte“ – mit Norbert Elias könnte man sagen „zivilisierte“ – Gesinnung anzuerziehen und auf diese Weise dem Regime zu einer breiteren sozialen Basis zu verhelfen.¹⁶ Diesem Zweck diente zum Beispiel der Versuch, es den Bürgern leichter zu machen, sich nachts durch die Stadt zu bewegen. Die berufstätigen Mittelschichten, etwa Kaufleute oder Beamte, hatten erst nach Feierabend Zeit, im Theater oder auf einem Ball europäische Formen öffentlicher Geselligkeit zu erleben. Nach Einbruch der Dunkelheit ausgehen zu können, war auch für die Autonomisierung des Individuums wichtig, denn es bedeutete, abends spät mit Freunden plaudern oder beim nächtlichen Spazierengehen den eigenen Gedanken nachhängen zu können. Die Möglichkeit, nachts auf die Straße zu gehen, förderte die Überwindung des „nächtlichen ancien régime“ und somit die psychologische Modernisierung des Einzelnen und die kulturelle Europäisierung der Gesellschaft.¹⁷ Abends gesittet auszugehen, war Mitte des . Jahrhunderts schwierig, es sei denn, man konnte sich eine Kutsche leisten. Auf der Straße war es dunkel, und um die öffentliche Sicherheit zu wahren, versuchte der Staat, den nächtlichen Verkehr möglichst zu unterbinden. Katharina II. wollte diese Zustände nach europäischem Muster verändern.  gab es in ganz Moskau nur  Straßenlaternen. Unter Katharina stieg die Zahl bis  auf ., und unter Paul I. verdoppelte sie sich auf ..¹⁸ Gleichzeitig wurde die nächtliche Wache umgestaltet. Vorher waren die Straßen nachts gesperrt worden. An den Schranken hielten zwangsverpflichtete Einwohner Wache, und Passanten mussten beweisen, dass sie keine Störer der öffentlichen Ordnung waren. Die Bürger fühlten ¹⁵

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Ann F. La Berge: Mission and Method. The Early Nineteenth-Century French Public Health Movement, Cambridge , S. –; George J. Lankevich: New York. A Short History, New York , S. ; I. F. Rerberg: Moskovskij vodoprovod. Istoričeskij očerk ustrojstva i razvitija vodosnabženija g. Moskvy. Opisanie novago vodoprovoda, Moskau , S. –; Žurnaly zasedanij kommissii po vodosnabženiju goroda Moskvy, St. Petersburg , S. –. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bern/München . Joachim Schlör: Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London –, München, . Zum Begriff des „nächtlichen ancien régime“, siehe Simone Delattre: Les douze heures noires. La nuit à Paris au XIXe siècle, Paris , S. . Ivan Zabelin: Opyty izučenija russkich drevnostej i istorii. Izsledovanija, opisanija i kritičeskija stat’i, Moskau –, Bd. , S. ; N. M. Bykov: Istoričeskij očerk osveščenija goroda Moskvy, in: Izvestija Moskovskoj Gorodskoj Dumy, vypusk  (), Oktober, vyp. , otdel , S. –.

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Moskau im Fokus der Rückständigkeit, –

sich hierdurch beengt, und zugleich war die öffentliche Sicherheit nur unzureichend gewährleistet. In der Instruktion der Moskauer Wähler wurde daher gebeten: „Um allen Einwohnern der hiesigen Stadt die gewünschte Sicherheit und Ruhe zu gewähren, möge befohlen werden, anstelle der jetzigen Schranken eine verlässliche Wache einzurichten [und] die Bürger von allen Polizeidiensten und -verpflichtungen zu befreien.“¹⁹ Das frühere System wurde durch die Polizeireform von  abgeschafft. An seiner Stelle entstand ein Korps von Wachtmännern (budočniki), die den Auftrag hatten, den Bürgern rund um die Uhr das gefahrlose Ausgehen zu ermöglichen. Bis Ende des Jahrhunderts blieb umstritten, wer zu diesem Wachdienst herangezogen werden sollte; dann wurde es üblich, zum Kriegsdienst untauglich gewordene Soldaten einzusetzen. Die einzige berufliche „Qualifikation“ dieser Ordnungshüter war, dass die Armee sie für zu alt, schwach, krank, oder unzuverlässig hielt. Dieses System war jedoch für eine europäische Stadt um  nicht ungewöhnlich, und zeitgenössische Berichte belegen, dass die Sicherheit in Moskau im Ganzen zufriedenstellend war. Anfang des . Jahrhunderts entsprachen die Wache und Straßenbeleuchtung in Moskau etwa dem westeuropäischen Standard. In den folgenden Jahrzehnten jedoch stockte die technische und institutionelle Modernisierung. Im Zeitraum – stieg die Zahl der Straßenlaternen lediglich von . auf ., und diese wurden weiterhin mit Hanföl betrieben. In London dagegen, wo es in den er Jahren nur . Öllaternen gegeben hatte, brannten schon  fast . Gaslaternen, und auch Paris und andere Großstädte wurden zunehmend mit Gas beleuchtet.²⁰ Ähnlich verhielt es sich mit der Wache. Die großen Städte im Nordwesten Europas befanden sich nach  in einem Zustand anhaltender gesellschaftlicher Krise, und es wuchs die Sorge vor sozialer Unruhe und Kriminalität. Um dieser Gefahr zu begegnen, entstand  in London,  in Berlin, und  in Paris eine moderne Polizei. Moskau dagegen erlebte in diesen Jahren keine vergleichbaren Erschütterungen. Daher konnte die katharinäische Wache fast unverändert beibehalten werden.²¹ Folglich war die Moskauer Polizei auf die neuen Anforderungen,

¹⁹ ²⁰

²¹

Nakaz ot žitelej goroda Moskvy, S. . Emily Cockayne: Hubbub. Filth, Noise & Stench in England, –, New Haven, CT , S. ; A. Roger Ekirch: At Day’s Close. Night in Times Past, New York , S. . M. P. Šepkin: Istoričeskaja zapiska o raschodach goroda Moskvy po soderžaniju policejskich učreždenij v – gg., in: Izvestija Moskovskoj Gorodskoj Dumy  (), H. , S. –, besonders S. –; A. V. Borisov: Policija i milicija Rossii. Stranicy istorii,

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die entstanden, als unter Alexander II. ein ähnliches Bevölkerungswachstum einsetzte wie in Westeuropa, nicht vorbereitet. In anderen Sektoren des städtischen Lebens war eine ähnliche Entwicklung zu konstatieren. Vor Katharina II. gab es in Moskau kaum Schulen. Unter Katharina und Alexander I. entstanden, nach europäischem Vorbild, öffentliche Schulen, Privatschulen, und Schulen für Angehörige einzelner Stände. Weil die Weiterentwicklung der öffentlichen Primarschulen jedoch unter Nikolaj I. keine Priorität genoss, fehlte Mitte des . Jahrhunderts die institutionelle Voraussetzung für eine Alphabetisierung der breiten Masse der städtischen Bevölkerung wie in Großbritannien, Frankreich und den deutschen Staaten. Ähnlich verhielt es sich mit der städtischen Selbstverwaltung. In Russland führte Katharina II. durch die Reformen von  und  ein an Westeuropa orientiertes ständisches Modell der Selbstverwaltung ein. Unter Nikolaj I. erlebte Moskau jedoch nicht den Übergang zu dem im Westen zunehmend vorherrschenden Zensuswahlrecht, das den Besitz – nicht, wie vorher, die Standeszugehörigkeit – zur Grundlage der bürgerlichen Rechte machte. Solange das ständische Modell beibehalten wurde, war es schwierig, die Mittelschichten, die in der städtischen Gesellschaft infolge der Modernisierung eine immer größere Rolle spielten, in das politische System einzubinden.²² In unterschiedlichen Bereichen des städtischen Lebens ist also eine einheitliche Tendenz zu beobachten. Unter Katharina II. wurden Reformen eingeleitet, um Moskaus vermeintliche Rückständigkeit gegenüber dem „aufgeklärten“ Europa (vor allem Frankreich und den deutschen Staaten) zu überwinden. Diese Reformen brachten Erfolge und hoben Moskau auf ein mit anderen europäischen Städten vergleichbares Niveau. In der ersten Hälfte des . Jahrhunderts veränderten jedoch neue gesellschaftliche Herausforderungen und verbesserte technische Möglichkeiten die städtischen Strukturen Westeuropas. Zu diesen Veränderungen gehörten beispielsweise der allgemeine Übergang zur Gasbeleuchtung, die Reform der Polizei in London, Paris und Berlin, der Ausbau der Kanalisation in London und Paris, die Reform der städtischen Selbstverwaltung in England und Wales durch den Municipal Corporations Act von  oder die Einführung des Dreiklassenwahlrechts in der preußischen Rheinprovinz. In Russland waren die Verhältnisse viel stabiler. Daher stand die Regierung Nikolajs I. unter keinem vergleichbaren Reformdruck und konnte das katharinäische System weitgehend beibehalten. Dieser Verzicht auf weitreichen-

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Moskau , S. –; Vysočajšija povelenija po delam obščago upravlenjia, in: Žurnal Ministerstva Vnutrennich Del , čast’ , otdel , S. –. Manfred Hildermeier: Bürgertum und Stadt in Russland –. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln/Wien , S. –, –, .

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de Reformen rächte sich nach Mitte des . Jahrhunderts, als Moskau in seiner sozialen Entwicklung immer mehr Ähnlichkeit mit westeuropäischen Städten aufwies und sich die überkommenen Strukturen als unzulänglich erwiesen. Die Entwicklung Moskaus bildet ein wichtiges Thema in den Schriften zeitgenössischer Statistiker und Literaten. Da Moskau häufig als Messlatte für das ganze Russische Reich diente, war dieser Diskurs auch für die Regierung von Bedeutung. Bis in die Herrschaftszeit Alexanders I. entwickelte er sich in eine für die Regierung befriedigende Richtung; danach traten negative Aspekte in den Vordergrund. Das systematische Beschreiben der Stadt anhand von statistischen Daten begann in der Herrschaftszeit Katharinas II., vor allem durch Vasilij Ruban und durch Gerhard Friedrich Müller und dessen Schüler (z. B. Lev Maksimovič, Faddej Ochtenskij).²³ Das von diesen Autoren herausgegebene Material basierte auf der kameralistischen Statistik der russischen Behörden. Diese hatte nicht den Zweck, die bestehenden Zustände zu beschreiben, sondern deren zukünftige Entwicklung im Interesse des Fiskus zu steuern. Wenn die Daten aber ohne weitere Erläuterung veröffentlicht wurden, konnte man sie leicht für eine Beschreibung der real existierenden Gesellschaft halten. Zum Beispiel wollte die Regierung die Moskauer Handwerker zünftisch organisieren. Also wurden nur diejenigen als Handwerker registriert, die zu einer Zunft gehörten. Alle anderen – die große Mehrheit der Handwerker – wurden statistisch nicht erfasst. Wer die amtliche Statistik las, konnte den irreführenden Eindruck bekommen, dass die Wirklichkeit bereits den Zukunftsvorstellungen der Regierung entsprach. Ähnlich verhielt es sich mit der Statistik des städtischen Raums. Diese registrierte, wie viele „Straßen“ und „Gassen“ (ulica, pereulok) es gab, doch diese Begriffe bezeichneten weniger die gegenwärtige Beschaffenheit eines Verkehrswegs als vielmehr die Bauvorschrift, an der sich dessen zukünftige Gestaltung zu orientieren hatte. Diese Art der statischen Untersuchung wurde in der Ära Nikolajs I. viel seltener. Im Vergleich zur früheren Zeit war das Beamtentum zahlreicher geworden und hatte einen höheren Bildungsstand erreicht, was eine feinmaschigere Erfassung der Bevölkerung ermöglichte. Gleichzeitig erweckte die Wirtschaftslehre Adam Smiths ein Interesse für Fragen, die wir heute als soziologisch bezeichnen würden und die in der kameralistischen Statistik des . Jahrhunderts wenig ²³

S. S. Ilizarov (Hg.): Moskva v opisanijach XVIII veka, Moskau ; ders. (Hg.): Akademik G. F. Miller—pervyj issledovatel’ Moskvy i Moskovskoj provincii, Moskau ; V. G. Ruban: Opisanie imperatorskago stoličnago goroda Moskvy, St. Petersburg ; Ju. N. Aleksandrov: Priloženie k faksimil’nomu izdaniju Opisanie Moskvy, Moskau , S. –.

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Beachtung gefunden hatten. Das Interesse für solche Fragen nahm in Russland auch deshalb zu, weil man die Polemik in der britischen und französischen Publizistik über die sozialen Probleme der frühindustriellen Stadt – Pauperismus, Kriminalität, Prostitution, Selbstmorde, psychiatrische Krankheiten – aufmerksam verfolgte.²⁴ Russische Autoren der er und er Jahre nutzten die Statistik zu diesen Themen propagandistisch aus, um Russlands Überlegenheit gegenüber dem vermeintlich dekadenten Westen zu beweisen. Einer solchen Argumentation begegnet man in vielen der Beiträge, die im „Journal des Ministeriums der Inneren Angelegenheiten“ erschienen. In Moskau und St. Petersburg, hieß es dort, hätten die Pathologien der Moderne längst kein Ausmaß wie in London oder Paris erreicht. Es wurde gezeigt, dass die Patienten der Irrenanstalt einen geringeren Bevölkerungsanteil in St. Petersburg als in Paris darstellten, und dass der Geldwert der polizeilich registrierten Diebstähle in Moskau im Verhältnis niedriger sei als in London; hieraus wurde – methodologisch eher unkritisch – gefolgert, das russische Volk sei psychisch gesünder und weniger kriminell veranlagt.²⁵ Der Oberpolizeimeister Moskaus meldete , die Einwohner seiner Stadt seien im Vorjahr durchschnittlich mindestens zehnmal in die banja gegangen. Dies beweise, so der Oberpolizeimeister, dass „von allen europäischen Völkern nur das russische sich durch körperliche Reinlichkeit auszeichnet“.²⁶ Trotz solcher propagandistischen Bemühungen trübten die neuen statistischen Methoden das optimistische Bild, das man sich vorher von Moskau gemacht hatte. Der Beamte Vasilij Androssov schrieb  in seinem Buch „Statistische Notiz über Moskau“, die nach Ständen aufgebaute amtliche Statistik habe für die Sozialforschung wenig Wert, weil ihre Kategorien zu wenig mit den sozioökonomischen Realitäten zu tun hätten.²⁷ Zu einem ähnlichen Schluss gelangte eine Untersuchung über das Moskauer meščanstvo (Kleinbürgertum), die  im „Journal des Ministeriums der Inneren Angelegenheiten“ erschien. Ehedem hätte man einfach berichtet, wie viele Personen zu diesem Stand zählten, und so implizit den Leser denken lassen, dass die fiskalische ²⁴ ²⁵

²⁶ ²⁷

Zur Entwicklung der Statistik in Großbritannien und Frankreich, siehe Ian Hacking: The Taming of Chance, Cambridge . Zamečanija o čisle umališennych, pol’zovannych v bol’nice Vsech Skorbjaščich v S. Peterburge  goda, in: Žurnal Ministerstva Vnutrennich Del (), čast’ , Nr. , S. – ; Zamečanija o čisle kraž, sdelannych v Moskve, S.P.burge i Londone, in: Žurnal Ministerstva Vnutrennich Del (), čast’ , Nr. , S. –. Moskva v  godu. Izvlečenie iz otčeta g. Moskovskago ober-policejmejstera. In: Žurnal Ministerstva Vnutrennich Del (), November, S. –, hier . Androssov, Statističeskaja zapiska o Moskve, S. –.

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Moskau im Fokus der Rückständigkeit, –

Kategorie meščanin einen Einblick in die soziale Realität gewährte. Nun aber wurde explizit gefragt, was das meščanstvo denn eigentlich für ein soziales Gebilde sei. Bei näherem Hinsehen zeigte es sich, dass über den Lebensunterhalt von   der meščane keinerlei Angaben vorlagen; es war also unklar, ob diese überhaupt eine eigenständige Schicht der Gesellschaft bildeten.²⁸ Weil die behördliche Statistik kritischer als zuvor hinterfragt wurde, erschien die Stadt zunehmend intransparent. Die Geschichte der Darstellung Moskaus in der Prosaliteratur weist eine ähnliche Entwicklungskurve auf. In westlichen Sprachen, vor allem Deutsch, gab es zwar bereits Ende des . Jahrhunderts eine reiche Literatur, die St. Petersburg und Moskau unter sozioökonomischen, kulturellen, medizinischen, demographischen, und anderen Aspekten behandelte,²⁹ und die viele Themen vorwegnahm, mit denen sich die Statistiker der er und er Jahre beschäftigten. Zeitgenössische russische Autoren leisteten hierzu jedoch keinen bedeutenden Beitrag, denn die literarischen Formen, die sich zu diesem Zweck eigneten, waren in Russland um die Jahrhundertwende noch wenig entwickelt. Mehrere Faktoren trugen hierzu bei. In der russischen Literatur war weiterhin der Klassizismus vorherrschend, und dieser privilegierte die Poesie und das Drama, nicht den Roman, die Reiseliteratur, und andere Prosagattungen. Das russische Nationalbewusstsein war noch wenig entwickelt, und daher gab es nicht viele Leser, die sich für realistische Beschreibungen der Städte und Provinzen ihres Vaterlandes interessierten. Bei medizinischen und statistischen Topographien gab es das zusätzliche Problem, dass es an russischsprachigen Autoren fehlte, die die erforderliche akademische Bildung hatten. Letztlich spielte die staatliche Zensur eine Rolle, indem sie es schwer machte, kritische Äußerungen über die Zustände in der russischen Gesellschaft zu veröffentlichen. Die russische Prosaliteratur über Moskau nahm mit der sentimentalen Erzäh²⁸

²⁹

Meščanskoe soslovie v Moskve (za  god), in: Žurnal Ministerstva Vnutrennich Del (), Januar, S. –. Siehe auch Manfred Hildermeier: Was war das Meščanstvo? Zur rechtlichen und sozialen Verfassung des unteren städtischen Standes in Rußland, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte  (), S. –. Siehe zum Beispiel: Johann Gottlieb Georgi: Versuch einer Beschreibung der Rußisch Kayserlichen Residenzstadt St. Petersburg und der Merkwürdigkeiten der Gegend, St. Petersburg ; Heinrich Storch: Gemaehlde von St. Petersburg, Riga []; Wichelhausen, Züge zu einem Gemählde von Moskwa; Georg Reinbeck: Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise von St. Petersburg über Moskwa, Grodno, Warschau, Breslau nach Deutschland im Jahre , Leipzig ; Raupach, Reise von St. Petersburg nach dem Gesundbrunnen zu Lipezk am Don; Heinrich Ludwig von Attenhofer: Medizinische Topographie der Haupt- und Residenzstadt St. Petersburg, Zürich ; Lyall, The Character of the Russians.

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lung Nikolaj Karamzins „Die arme Lisa“ () ihren Anfang, doch weder Karamzin noch seine (wenig zahlreichen) Nachahmer zeigten ein soziologisches oder ethnographisches Interesse für den Alltag der Stadt oder versuchten, deren große Entwicklungstendenzen nachzuzeichnen.³⁰ In ihren Texten ging es um etwas ganz anderes, nämlich den Gemütszustand des adligen Erzählers und seinen moralischen, ästhetischen oder historischen Blick auf die Stadt. Man schilderte die Stadt so, wie man sie subjektiv wahrnahm oder wie man sie zu sehen wünschte. Auf diese Weise erreichte die Prosa der Epoche Karamzins eine ähnliche Wirkung wie die kameralistische Statistik des . Jahrhunderts: Sie zeigte die Stadt ausschließlich aus der Sicht von Staat und Adel und verwischte die Trennlinie zwischen Wunschdenken und Realität, während Aspekte, die sich dieser Perspektive entzogen oder nicht den offiziellen Kategorien entsprachen, aus dem Blickfeld gerieten. Dieser Zustand änderte sich in den er und er Jahren, zeitgleich mit dem Aufkommen der neuen Statistik. Der steigende Bildungsstandard der Gesellschaft schuf die Rahmenbedingungen für eine Entfaltung der Publizistik und der Sozialwissenschaften, und die neuere westliche Belletristik – z. B. die Werke von Balzac, Victor Hugo, Eugène Sue oder Charles Dickens – erweckte das Interesse an den geheimnisvollen Kräften, die im Verborgenen die Stadt bewegten. Das Unheimliche der großstädtischen Nacht wurde, etwa bei Puškin und Gogol’, ein beliebtes Thema. Russische Autoren schrieben nach britischem und französischem Vorbild Feuilletons, genannt „physiologische Skizzen“; diese handelten von Blumenmädchen, Trödelhändlern, Kurtisanen und etlichen anderen „Typen“, die vorgeblich der literarischen Beschreibung bedurften, weil ihre Lebenswelt für Staat und Öffentlichkeit unsichtbar war.³¹ Ähnlich wie die neue Statistik war diese Literatur in ihrer Intention nicht regierungsfeindlich, doch indem sie die Stadt immer undurchsichtiger erscheinen ließ, widersprach sie dem Anspruch der Regierung, aus Moskau eine transparente, aufgeklärte Stadt gemacht zu haben. ³⁰

³¹

Siehe zum Beispiel: Zapiski starago Moskovskago žitelja, in: N. M. Karamzin: Sočinenija. Moskau –, Bd. ; [P. I. Šalikov]: Smes’, in: Moskovskij Zritel’ (), dekabr’, čast’ , S. –; [S. N. Glinka]: Vzor na Moskvu, in: Ruskoj [sic] Vestnik (), čast’ , Januar, S. –; [S. N. Glinka]: Zamečanie o Moskve, in: Ruskoj Vestnik (), čast’ , Februar, S. –; [S. N. Glinka]: Kuzneckoj Most, ili vladyčestvo mody i roskoši, in: Ruskoj Vestnik (), čast’ , September, S. –. A. G. Cejtlin: Stanovlenie realizma v russkoj literature (Russkij fiziologičeskij očerk), Moskau ; Aleksandr Bašuckij: Panorama Sanktpeterburga, St. Petersburg ; A. Bašuckij (Hg.): Naši, spisannye s natury russkimi, Moskau ; P. Vistengof: Očerki Moskovskoi žizni, Moskau ; I. T. Kokorev: Očerki Moskvy sorokovych godov. Otv. red. N. S. Ašukin, Moskau .

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Moskau im Fokus der Rückständigkeit, –

Der Glaube, die Autokratie habe Russland erfolgreich in die moderne europäische Völkergemeinschaft eingeführt, wurde durch die Niederlage im Krimkrieg erschüttert. In den folgenden Jahren unterzog die Öffentlichkeit die gesamte städtische Gesellschaftsordnung einer schonungslosen Kritik.  schrieb ein Beamter der Moskauer Behörden über die Straßenbeleuchtung: „In früheren Zeiten, als Moskau mit altertümlichen Lampen beleuchtet und Hanföl als Brennstoff verwendet wurde, stand die Ärmlichkeit des Lichts in vollem Einklang mit der dürftigen Dauer der Zeit, die man diese bescheidenen Nachtlichter brennen ließ.“³² Der Kaufmann Ivan Slonov bemerkte spöttisch, die Wachtmänner, die, mit Tschako und Hellebarde ausgerüstet, an ihrem Schilderhaus angelehnt ihr Mittagsschläfchen machten, seien früher „eine typische Moskauer Sehenswürdigkeit“ gewesen.³³ Für den Moskauer Kaufmann Nikolaj Višnjakov erschien rückblickend die Bildungsfeindlichkeit der Behörden als typisches Merkmal der Zeit Nikolajs I.: Damals „bevorzugten die Machthaber durchweg Leute, die gehorsam und dienstbereit, unwissend und stumpf waren, aber sie wollten bloß nicht solche um sich haben, die gebildeter waren als sie selbst – Leute, die fähig waren zu „räsonnieren“, sich für „klüger als die Älteren“ hielten und wagten, „Befehle zu kritisieren“.“³⁴ Der Moskauer Priester Filip Ismajlov meinte gar, die Zustände in seinem ehemaligen Priesterseminar zu entschuldigen, indem er erklärte: „Vieles war primitiv; aber Russland war damals primitiv [černa]. In allem herrschte Grobheit, Dummheit und Geschmacklosigkeit.“³⁵ Solche Zitate könnte man beliebig vermehren. Paradoxerweise beweist gerade diese Kritik, dass eine der Hoffnungen Katharinas II. in Erfüllung gegangen war: Es war tatsächlich eine breite, kritisch denkende Öffentlichkeit entstanden, die sich westeuropäische Wertvorstellungen zu eigen gemacht hatte und Moskau gewissermaßen mit europäischen Augen betrachtete. Allerdings wurde diese Öffentlichkeit nicht, wie von Katharina erhofft, zu einer verlässlichen Stütze des Systems. Mitte des . Jahrhunderts lag Katharinas Herrschaftszeit schon so weit zurück, dass sich kaum noch jemand an den Modernisierungsimpuls erinnerte, der von ihren Reformen ausgegangen war. Dagegen war es ein Gemeinplatz, dass unter Nikolaj I. die Modernisierung Moskaus ins Stocken geraten sei und sich das Entwicklungsgefälle zwischen den großen Metropolen des Westens und Moskau vergrößert habe. ³² ³³ ³⁴ ³⁵

A. Petunnikov: Po povodu osvetitel’nago kalendarja na  god, in: Izvestija Moskovskoj Gorodskoj Dumy  (), H.  [ janvar’], S. –, hier S.  Ivan Andreevič Slonov: Iz žizni torgovoj Moskvy. (Polveka nazad), Moskau , S. . Nikolaj Višnjakov: Svedenija o kupečeskom rode Višnjakovych, Bd. , Moskau , S. . F. F. Ismajlov: Vzgljad na sobstvennuju prošedšuju žizn’ Ismajlova, Moskau , S. .

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Am Ende der Herrschaftszeit Nikolajs, erinnerte sich ein Zeitgenosse, sei Moskau provinziell und vormodern gewesen – „ein regloser Krähwinkel, die Hauptstadt des Reichs des Schlummers“.³⁶ Moskau war wieder geworden, was es zu Anfang der Herrschaftszeit Katharinas war: ein Symbol der Rückständigkeit.³⁷

³⁶

³⁷

N. V. Davydov: Moskva. Pjatidesjatye i šestidesjatye gody XIX stoletija, in: Ju. N. Aleksandrov (Hg.): Moskovskaja starina. Vospominanija moskvičej prošlogo stoletija, Moskau , S. . Siehe auch zu diesem Thema: Alexander M. Martin: Enlightened Metropolis. Constructing Imperial Moscow, –, Oxford .

Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit und für den Fortschritt in den Propagandaplakaten der Revolutions- und Bürgerkriegszeit Ernst Wawra

René Fülöp-Miller, der Russland nach der Oktoberrevolution zweimal bereiste, äußerte sich hinsichtlich des Ausmaßes, welches die Plakate und Anschläge im öffentlichen Leben der Revolutions- und Bürgerkriegszeit einnahmen, folgendermaßen: „Zu dieser Zeit soll eine Stadt Russlands buchstäblich von Anfang bis zu Ende und von oben bis unten mit Bildern und Aufschriften dermaßen bedeckt gewesen sein, daß nicht ein Fleckchen einer ‚unbehandelten‘ Mauerfläche übrig gewesen sei. Sogar die Wände und Spiegel der großen Hotels und Restaurants trugen in diesem ersten Jahr des Umsturzes satirische Zeichnungen, Sprüche und Zitate.“¹ Spätestens mit den Arbeiten von Victoria Bonnell, Frank Kämpfer und Stephen White² hat das russländische und sowjetische Plakat die Schwelle von der reinen Illustrierung wissenschaftlicher Arbeiten zur eigenständigen Quelle überschritten. Unterstützend wirkte dabei sicherlich die Verfügbarkeit von verschiedenen Plakatsammlungen, die seit Mitte der er und frühen er Jahren vermehrt veröffentlicht wurden,³ sowie die Ausstellung von Klaus Wa¹ ²

³

René Fülöp-Miller: Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des kulturellen Lebens in Sowjet-Russland, Leipzig/Wien/Zürich , S. . Victoria E. Bonnell: Iconography of Power. Soviet Political Posters under Lenin and Stalin, Berkeley/London/Los Angeles ; Frank Kämpfer: ‚Der Rote Keil‘. Das politische Plakat. Theorie und Geschichte, Berlin ; Stephen White: The Bolshevik Poster, London/New Haven, CT . Vgl. hierzu u. a. Nina I. Baburina: Russkij Plakat vtoraja polovina XIX – načalo XX veka, Leningrad ; dies.: Sovetskij političeskij plakat. Čast’ pervaja-tret’ja, Moskau ; dies.: The Soviet Political Poster –. From the Lenin Library collection, Harmondsworth/New York/Moskau ; Nina I. Baburina: Sovetskij zreliščnyj plakat, tea-

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schik und Nina Baburina „Russische Plakatkunst des . Jahrhunderts“⁴. Trotz der damit verbundenen Forschung zu verschiedenen Motiven und Rollen im Plakat, beispielsweise zur Darstellung der Frau, des Arbeiters oder der Führerfigur („vožd’“),⁵ fehlt bislang eine Untersuchung darüber, wie die Rückständigkeit, die es laut den bol’ševiki zu überwinden galt, bzw. wie der Fortschritt, den sie versprachen, in den Agitations- und Propagandaplakaten dargestellt wurden. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, anhand von ausgewählten Plakaten zu beschreiben, welche Motive und Bilder verwendet wurden, um den „Fortschritt“ in Abgrenzung zum „rückständigen“ Alten zu visualisieren, sowie gleichzeitig die bestehenden Bildtraditionen der Motive aufzuzeigen.⁶ Dieser Frage soll nach einleitenden Bemerkungen zur Bedeutung des Plakates in Revolutions- und Bürgerkriegszeit exemplarisch anhand von vier Themenfeldern nachgegangen werden: Erstens das politische System der Gegner der bol’ševiki, also das des gestürzten Zaren und der konterrevolutionären in- und ausländischen Kräfte, zweitens die Rolle der Alphabetisierung und Bildung, drittens die neue Rolle der Frau sowie viertens die Bedeutung der Religion. Dabei werden die unterschiedlichen Visualisierungen der Rückständigkeit des überwundenen alten Regimes mit dem Versprechen des Fortschritts auf dem Weg zum Kommunismus kontrastiert.⁷

Das politische Plakat der Revolutions- und Bürgerkriegszeit Die Russische Oktoberrevolution  stellte nicht nur einen politischen und sozialen Umbruch dar, vielmehr sollte auf sie eine kulturelle Revolution folgen, die sich gegen die Rückständigkeit, also die tradierten Lebensformen, sozialen Normen oder überholten Kunstauffassungen richtete.⁸ Die neuen Machthaber

⁴ ⁵ ⁶

⁷ ⁸

tr, cirk, balet, kino. –, Moskau ; dies., E. D. Puchalina: Rossija -j vek. Istorija strany v plakate, Moskau . Nina I. Baburina, Klaus Waschik: Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des . Jahrhunderts, Bietigheim-Bissingen . Vgl. hierzu exemplarisch Kämpfer, ‚Der Rote Keil‘, S. –; Bonnell, Iconography of Power, S. –. Stefan Plaggenborg hat vollkommen zu Recht für die Analyse einzelner Plakate plädiert. Siehe hierzu auch das Kapitel „Stehende Bilder“ in: Stefan Plaggenborg: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien , S. –. Vgl. hierzu auch Ernst Wawra: Das Politische Plakat in Revolution und Bürgerkrieg. Das Selbstbild des Neuen Staates, Erlangen  [unveröffentlichte Magisterarbeit], S. –. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion –. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München , S. –; Plaggenborg, Revolutionskultur, S. –; Graeme Gill: Symbols and Legitimacy in Soviet Politics, Cam-

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

wollten die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs erlangen und populäre Einstellungen und Ansichten verändern, um eine „Umerziehung“ der Bevölkerung zu erreichen – eine Voraussetzung für eine neue, bessere, fortschrittliche Zukunft. Daher musste der physischen eine visuelle Entmachtung der alten Eliten folgen, und zwar durch die Eliminierung der Zeichen des vorrevolutionären Systems des „Februarregimes“ ebenso wie der Überbleibsel der zarischen Herrschaft der Romanovs, welche mit dem forcierten Aufbau eines Selbstbildes durch die Schaffung neuer Symbole, Embleme und Rituale einherging.⁹ Eine weitere Vorgehensweise war die „Ergänzung“ von Denkmälern durch die neuen Machthaber. So wurde beispielsweise in Petrograd in den Sockel des von Pavel Trubeckoj entworfenen Reiterdenkmals von Zar Aleksandr III., welches ursprünglich vor dem Moskauer Bahnhof in St. Petersburg stand, das Gedicht von Dem’jan Bednyj (–) eingemeißelt, in welchem der bei einem Anschlag  tödlich verwundete Aleksandr II. ebenso wie sein Enkel Nikolaj II., der zusammen mit seiner Familie  erschossen worden war, verhöhnt wurden:

„Mein Vater fand, so wie mein Sohn, Den reich verdienten Henkerslohn, Doch ich, ich muss hier weiter reiten Ruhmlos durch alle Ewigkeiten. Dick hockend auf dem dicken Hengst, Ein lächerliches Schreckgespenst Den Menschen, den von uns befreiten.



bridge , S. –; Richard Stites: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York/Oxford ; Stephen White: Political Culture and Soviet Politics, Basingstoke/London , S. –. Siehe hierzu Matthew Cullerne Bown: Kunst unter Stalin. –, München , S. –; Frederick C. Corney: Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca, NY ; Hans-Jürgen Drengenberg: Die sowjetische Politik auf dem Gebiet der bildenden Kunst von  bis , Berlin , S. –; Orlando Figes, Boris Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of , New Haven, CT ; Manfred Hildermeier: Die Symbolik der russischen Revolution und des frühen Sowjetstaates, in: Michail A. Bojcov, Otto Gerhard Oexle (Hg): Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz – Okzident – Rußland, Göttingen , S. –, S. –. Des Weiteren sei auf das „Dekret o pamjatnikach respubliki“ vom . April  verwiesen, in: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS/Institut istorii Akademii Nauk SSSR (Hg.): Dekrety sovetskoj vlasti. Tom II:  marta –  ijulja  g., Moskau , S.  f.

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Alexander III. vorletzter russischer Selbstherrscher.“¹⁰

„Die hohe Zeit der Experimente in Kunst, Kultur und Leben war der Bürgerkrieg“¹¹ und das Neue, der Fortschritt, sowie das Alte, das Rückständige, das es eben darin zu bekämpfen galt, wurden nur zu gerne in Plakaten¹² präsentiert. Albert Rhys Williams, der in den Jahren  und  fünfzehn Monate in Russland verbracht hatte, ließ seine Reisebescheibung „Through the Russian Revolution“ wohl nicht grundlos wie folgt beginnen: „The visitor to Soviet Russia is struck by the multitudes of posters – in factories and barracks, on walls and railway-cars, on telephone-poles – everywhere. Whatever the Soviet does, it strives to make the people understand the reason for it. If there is a new call to arms, if rations must be cut down, if new schools or courses of instruction are opened, a poster promptly appears telling why, and how the people can cooperate. Some of these posters are crude and hurried, others are works of art.“¹³ Diese hohe Bedeutung, die die visuelle Propaganda in den Anfangsjahren des im Entstehen begriffenen Staates einnahm, resultierte vor allem aus dem verbreiteten Analphabetismus der russländischen Bevölkerung. Zwar ist ein Absinken der Analphabetenrate von ,  im Jahr  über ,  im Jahr  bis zu ,  im Jahr  zu konstatieren, allerdings war ein gravierender Unterschied zwischen der Stadt- und Landbevölkerung sowie zwischen den ¹⁰

¹¹ ¹²

¹³

Die Nachdichtung hier zitiert nach: Wladimir Astrow, Alexander Slepkow, James Thomas (Hg.): Illustrierte Geschichte der russischen Revolution, Berlin , S. . In den er Jahren wurde das Denkmal schließlich abgebaut und sollte erst wieder Anfang der er im Innenhof des „Mrarmornyj dvorec“ (Marmorpalast) seinen neuen Platz finden. Im Filmplakat zu dem Film von Vsevolod I. Pudovkin „Das Ende von St. Petersburg“ wurde das Denkmal Aleksandrs III. durch Izrail’ D. Bograd (–ca. ) ebenfalls verewigt; Izrail’ D. Bograd: Konec Sankt-Peterburga, o. O. . Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. . Einen Einblick die Vielfalt der russländischen Revolutions- und Bürgerkriegsplakate bieten: Baburina/Waschik, Werben für die Utopie; Elena V. Barchatova: Russkij izdatel’skij plakat –, St. Petersburg ; Cécile Coutin, Laure Lemonnier, Laurent Gervereau (Hg.): Affiches et imageries russes –, Paris ; David King: Russische revolutionäre Plakate, Essen ; Vladimir Ochoinskij: Plakat: razvitie i primenenie, Leningrad , S. –; Georg Piltz: Rußland wird rot. Satirische Plakate –, Berlin ; Vjačeslav P. Polonskij: Russkij revoljucionnyj plakat, Moskau ; Aleksandr Snopkov, Pavel Snopkov, Aleksandr Škljaruk: Šest’sot plakatov, Moskau ; Klaus Waschik (Hg.): Seht her, Genossen! Plakate aus der Sowjetunion, Dortmund ; White, The Bolshevik Poster. Albert Rhys Williams: Through the Russian Revolution, London/New York , S. .

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

Geschlechtern festzustellen.¹⁴ Daher wurde beispielsweise, wenn auch für dieses Medium wenig überraschend, in der Zeitschrift „Iskusstvo“  gefordert: „Das Plakat muß zur neuen mächtigen Waffe der sozialistischen Propaganda werden mit dem Ziel, auf die breitesten Massen einzuwirken. Das Plakat führt, indem es die Aufmerksamkeit dieser Massen auf sich zieht, zur ersten Beeinflussung ihres Bewußtseins, ein Prozeß, der durch Bücher und Lesungen verstärkt wird.“¹⁵ Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass dieses Medium kostengünstig in großer Auflage produziert und schnell verbreitet werden konnte. Im Übrigen griffen die Plakatkünstler, um komplexe Inhalte transportieren zu können, auf das kulturelle Gedächtnis der Bevölkerung zurück, welches vor allem von der religiösen Kunst, also den Ikonen der orthodoxen Kirche geprägt war.¹⁶ So wurde z. B. das Motiv des hl. Georgs nicht im religiösen Sinne eingesetzt, sondern umgedeutet: Ein Vertreter der bol’ševiki, zum Beispiel Lev Trockij oder ein roter Ritter, besiegt ganz im Stile des Vorbildes den bösen Drachen, der die inneren oder äußeren Feinde symbolisiert.¹⁷ Weit verbreitet war neben der religiösen Kunst der lubok (Volksbilderbogen), der seit der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts ganz unterschiedliche Themen – z. B. aus Märchen, Religion und Geschichte – visualisierte.¹⁸ Oder man rekurrierte auf bekannte Bilder der „Peredvižniki“ (Wanderer)¹⁹ – wie beispielsweise auf das im Staatlichen Russischen Museum in Sankt Petersburg ausgestellten Gemälde „Burlaki na Volge“ (Die Wolgatreidler) aus dem Jahr  von Ilja Re¹⁴

¹⁵

¹⁶ ¹⁷

¹⁸

¹⁹

Hier nach Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. . Vgl. hierzu auch Bonnell, Iconography of Power, S. , sowie die aufgeschlüsselten Zahlen nach Alter und Geschlecht aus dem Jahr  am konkreten Beispiel bei Helmut Altrichter: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München , S. . Chudožestvennye plakaty, in: Iskusstvo , Nr. , abgedruckt in: Richard Lorenz (Hg.): Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland –, München , S. . Zu den Ursprüngen des Plakates in Russland siehe das entsprechende Kapitel bei White, The Bolshevik Poster, S. –. So stößt auf einem Kalenderblatt Trockij als Ritter mit einem Stern als Heiligenschein und einem Schild mit Stern, Hammer und Sichel, dem Drachen der Konterrevolution, auf dessen Kopf ein schwarzer Zylinder sitzt, eine Lanze entgegen. Vgl. zur Geschichte der lubki: Winfried Dierske, Glaubrecht Friedrich, Werner Schmidt (Hg.):  Jahre Russische Graphik –. Katalog einer Berliner Privatsammlung, Dresden ; Stephen N. Norris: A War of Images. Russian Popular Prints, Wartime Culture, and National Identity, –, DeKalb. IL , S. –; Wolfgang Till (Hg.): Lubok. Der russische Volksbilderbogen, München . Vgl. hierzu aktuell Ingrid Mössinger, Beate Ritter (Hg.): Die Peredwischniki. Maler des russischen Realismus, Chemnitz .

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pin (–).²⁰ Dieser stellt darin der überholten und nicht mehr zeitgemäßen Art des Warentransportes die zukunftsweisende Technik des Dampfschiffes gegenüber und kritisiert die harten Arbeitsbedingungen der Treidler – ein Motiv, welches sich auch im Bild „Kočegar“ (Der Heizer)²¹ von Nikolaj Jarošenko (–) aus dem Jahr  wiederfindet. Die Repin’sche Darstellung der Wolgatreidler fand nach einem Zwischenspiel in der Werbung des ausgehenden Zarenreiches,²² welches sich dadurch noch stärker in das russländische Bildgedächtnis einschrieb, fast  Jahre später Eingang in die Bildpropaganda der bol’ševiki:²³ So ziehen auf dem einen Plakat ein Rotarmist, ein Matrose, ein Arbeiter und ein Bauer als Vertreter der „RKP“ das Schiff „SSSR“²⁴ und auf einem weiteren wird gezeigt, wie durch vermeintliche Konterrevolutionäre die Feinde des neuen Staates herangezogen werden.²⁵ Anatolij V. Lunačarskij sah die Rolle der Kunst wie folgt: „Wenn die Revolution der Kunst die Seele geben könne, so könne die Kunst zum Mund der Revolution werden.“²⁶ Avantgardekünstler, die sich wie Vladimir V. Majakovskij in den Dienst der neuen Machthaber stellten, wurden von führenden Vertretern der Partei als Vermittler der bol’ševistischen Ideologie angese²⁰ ²¹ ²²

²³

²⁴ ²⁵ ²⁶

Vgl. hierzu: Guido Hausmann: Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom . bis ins frühe . Jahrhundert. Frankfurt am Main , S. –. Vgl. hierzu auch Christoph Schmidt: Vom Messias zum Prolet. Arbeiter in der Kunst, Stuttgart , besonders S. –. So zum Beispiel für Zigarettenhülsen: Unbekannter Künstler: „Gil’zy ‚Burlaki‘“, St. Petersburg . Vgl. hierzu auch Pavel A. Snopkov, Aleksandr E. Snopkov und Aleksandr F. Šklarjuk: Sovetskij reklamnyj plakat, –, Moskau . Adaptionen bekannter Sujets sind in einigen Fällen in den Propagandaplakaten der bol’ševiki vorgenommen worden. So wurde beispielsweise das Motiv „Das Ende von Pompeji“ nicht nur von einem Vertreter der Wanderer, Karl P. Brjullov, in dem Werk „Poslednij den’ Pompei“ (Der letzte Tag von Pompeji) (–), sondern auch im Plakat „ Gibel’ buržuaznoj Pompei“ (Der Untergang des bourgeoisen Pompeji) adaptiert; Unbekannter Künstler: „ Gibel’ buržuaznoj Pompei“, Ekaterinburg . Als weiteres Beispiel soll das Reckenmotiv von Viktor M. Vasnecov – „Vitjaz’ na rasput’e“ (Ein Ritter am Scheideweg) () und „Bogatyri“ (Die drei Recken) () – dienen. So griff man den mittelalterlichen Helden im Rahmen des Russisch-Japanischen Krieges – „Russkij Bogatyr’ na vostoke“ – oder ebenso während des Ersten Weltkrieges auf, als diese Figur im Bild „Velikaja evropejskaja vojna“ gegen den gegnerischen dreiköpfigen Drachen auf – mit den Köpfen von Wilhelm II., Franz Josef und Mohammed V. – kämpfen muss. Vgl. hierzu allgemein Helena Goscilo: Viktor Vasnetzov’s Bogatyrs. Mythic Heroes and Sacrosanct Borders Go to Market, in: Valerie A. Kievelson, Joan Neuberger (Hg.): Picturing Russia. Explorations in Visual Culture. New Haven, CT/London , S. –. Viktor N. Deni: „RKP“, o. O. o. J. Mikola Lips’kij: „Pani-burlaki …“, Kiev . Anatoli Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst (/), in: ders.: Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen, Dresden , S. –, S. .

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

hen. In der Folge kam es zur Gründung von Organisationen, innerhalb derer über revolutionäre Kunst im Allgemeinen sowie über den Aufbau und Inhalt von Agitationsplakaten im Besonderen diskutiert wurde.²⁷ Bis zum Druck des ersten Propagandaplakates sollte es zwar fast ein halbes Jahr dauern, daraufhin begann jedoch ihr flächendeckender Einsatz für Agitation und Propaganda.²⁸ Insgesamt wurden von über  Institutionen Plakate veröffentlicht, die prozentuale Verteilung der Themen in den Jahren  bis  zeigt, dass Kriegs, , Wirtschafts- , , Politik- ,  sowie Bildungs-/Kultur-Plakate   ausmachten.²⁹

²⁷

²⁸

²⁹

Camilla Gray: Die russische Avantgarde der modernen Kunst –, Köln , S. –; Elisabeth Heresch: Rot in Rußland, in: Ingried Brugger, Joseph Klibitsky, Jewgenia Petrowa, Klaus Schröder (Hg.): Rot in der Russischen Kunst, Wien , S. –, S. . Vgl. hierzu die Organisationen „Mir iskusstva“ (Welt der Kunst), „LEF – Levyj front iskusstv“ (Linke Kunstfront), „Svomas – Svobodnye chudožestvennye masterskie“ (Freie künstlerische Werkstätte), „Unovis – Utversiteli novogo iskusstva“ (Festiger der neuen Kunst) und „Vchutemas – Vysšie chudožestvenno-techničeskie masterskie“ (Höhere künstlerisch-technische Werkstätten). Zu diesen siehe u. a. Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von  bis , Köln ; Kai-Uwe Hemken: El Lissitzky. Revolution und Avantgarde, Köln ; Sergej Tretjakov: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts, Reinbek bei Hamburg . Vgl. hierzu Plaggenborg, Revolutionskultur, S. ; Baburina/Waschik, Werben für die Utopie, S. . Bei Butnik-Siverskij finden sich zwei Plakate, die zwischen Juni und Juli  veröffentlicht wurden; vgl. Boris S. Butnik-Siverskij: Sovetskij plakat ėpochi graždanskoj vojny –, Moskau , S.  f. Neben ganzseitigen gab es auch Plakate mit zwei oder mehreren Bildern in Anlehnung an die historischen „lubki“. Eine Sonderform dieser Bildfolgen bildeten die „Okna Satiri ROSTA“ (Satirischen Fenster der Russischen Telegrafenagentur), welche die Passanten aus Schaufenstern heraus informieren sollten. Für diesen Beitrag werden ROSTA-Fenster bewusst ausgeklammert, da sie hinsichtlich ihres Aufbaus und der Gestaltungsmittel eine eigene Gattung einnehmen, was die Vergleichbarkeit zwar nicht ausschließt, aber dennoch eine eigenständige Untersuchung rechtfertigen würde. Zur Geschichte und Entwicklung der ROSTA-Fenster siehe ButnikSiverskij, Sovetskij plakat, S. –; Aleksandra V. Čistjakova: Okna ROSTA. Sovetskij političeskij plakat, Leningrad ; Galina L. Demosfenova: Plakat v gody inostrannoj voennoj intervencii i graždanskoj vojny. –, in: dies., Ariadna Ju. Nurok, Nina I. Šantyko: Sovetskij političeskij plakat, Moskau , S. –, hier S. –; Polonskij, Russkij revoljucionnyj plakat, S. –; Alex Ward (Ed.): Power to the People. Early Soviet Propaganda Posters in The Israel Museum, Jerusalem, London ; Bodo Zelinsky: Von der Revolution der Kunst zur Kunst der Revolution, in: ders. (Hg.): Russische Avantgarde –. Kunst und Literatur nach der Revolution, Bonn , S. –. Vgl. hierzu die entsprechende tabellarische Auswertung von  Plakaten bei ButnikSiverskij: Sovetskij plakat, S. .

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Die Rückständigkeit des politischen Systems Auf einem der ersten vom Verlag des Allrussischen Komitees veröffentlichten Plakate wird das Rückständige, das es zu überwinden galt, als „Car’, pop i kulak“ (Zar, Pope und Kulak)³⁰ dargestellt (siehe Abb.  auf der nächsten Seite). Eine Besonderheit hinsichtlich der Sprachvarianten ist, dass dieses Plakat, welches zwischen Juni und Juli  veröffentlicht worden ist, in mehr als zehn Sprachen – beispielsweise ins Čuvašische, Jiddische oder Tatarische – des (einstigen) Imperiums übersetzt wurde. Die Abbildung des Zaren ist immer die gleiche, aber die des Kulaken und des Vertreters der Religion wechselt je nach Land bzw. Sprache. So findet sich die Figur des Popen, des katholischen Pfarrers, des Rabbis oder des Mullahs. Die Auflagenstärke ist nicht bekannt, wobei es sicherlich zu den am stärksten verbreiteten Plakaten zu zählen ist, was allein schon die vielfache Übersetzung nahelegt. Über den ursprünglichen Künstler ist in den einschlägigen Werken wenig Substantielles herauszufinden.³¹ Abgebildet ist Zar Nikolaj II., der von einem Popen und einem kulak³² flankiert wird. Mit dieser reduzierten Darstellungsweise werden die zu den inneren Feinden erklärten Personen stellvertretend für die ihnen zugerechnete Gruppe nüchtern identifiziert: Nikolaj II. und die noch vermuteten vorrevolutionären und damit konterrevolutionär wirkenden Kräfte, die orthodoxe Kirche, die die Arbeiter und Bauern durch (Aber-) Glauben unterjocht, sowie die Figur des Kulaken als Teil der Reichen und Kapitalisten. Auf späteren Plakaten wurde dieses Trio noch durch Vertreter der ausländischen Interventionstruppen ergänzt und auch andere (nichtrussische) Feindbilder traten hinzu.³³ ³⁰

³¹

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³³

Vgl. hierzu die Anmerkungen und Daten zu den jeweiligen Plakaten – Nr.  bis  – bei Butnik-Siverskij, Sovetskij plakat, S.  f. sowie die Varianten: unbekannter Künstler: „Car, klesna i dorobkiewicz“, o. O. ; unbekannter Künstler: „Car’, pop i kulak“, o. O. ; unbekannter Künstler: „Car’, pop“, o. O. ; sowie die tatarische Variante: Unbekannter Künstler: „Car’, pop i kulak“, o. O. ; Unbekannter Künstler: „Injazoro, pop da kulak (Car’, pop i kulak)“, o. O. . Vgl. hierzu auch Dmitrij S. Moor, R. Kaufmann: Sovetskij političeskij plakat, –, in: Iskusstvo  (), S. –. Baburina und Waschik vertreten in der digitalen Studienedition die Annahme, dass das Plakat dem Künstlerpseudonym „Pet“ zuzuordnen sei. Vgl. hierzu exemplarisch ButnikSiverskij, Sovetskij plakat, S.  und im Vergleich Nina I. Baburina, Klaus Waschik: Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des . Jahrhunderts. Digitale Studienedition, Bietigheim-Bissingen . Vgl. hierzu auch Alexander Heinert: Das Feindbild ‚Kulak‘. Die politischgesellschaftliche Crux  bis , in: Rainer Gries, Silke Satjukow (Hg.): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig , S. –. Beispielsweise der Kapitalist im schwarzen Anzug mit Zylinder, die mannigfache ausgestaltete Figur eines „weißen“ Generals und seit dem Ausbruch des Krieges mit Polen die Figur des polnischen Eindringlings („pol’skij pan“). Vgl. hierzu etwa: Plaggenborg, Revolu-

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

Abbildung : Unbekannter Künstler: Car’, pop i kulak (Zar, Pope und Kulak), o. O.  Quelle: Boris S. Butnik-Siverskij: Sovetskij plakat ėpochi graždanskoj vojny –, Moskau , S. .

Sehr deutlich wird die Rückständigkeit des „alten“ Regimes in der Gegenüberstellung des Plakates „Carskie polki i krasnaja armija“ (Zarische Regimenter und Rote Armee)³⁴ von Dimitrij Moor visualisiert (siehe Abb.  auf der nächsten Seite). Moor (–), der einige der berühmtesten Plakate wie „Pomogi“ (Hilf ) () oder „Ty zapisalsja dobrovol’cem?“ (Hast Du dich schon als Freiwilliger eingetragen?) () entworfen hat, zeichnete hier ein für diese Zeit typisches Bild vom Zaren. Das Werk besteht aus zwei Einzelbildern und ist gemäß dem ebenfalls sehr häufig genutzten Vorher-nachher-Prinzip aufgebaut. Die linke Bildhälfte soll die Verhältnisse in Russland vor der Februarrevolution darstellen und ist auf Zar Nikolaj II. zentriert, der auf einem überdimensionierten Thron sitzt und scheinbar wachend die Szenerie betrachtet. Er ist in Purpur und Hermelin gekleidet und hält veränderte Herrschaftsinsignien

³⁴

tionskultur, S.  sowie Marina Nikolaeva: „Der Kapitalist“ und „der Intellektuelle“. Die Dynamik der Kulturstereotype und ihre Sichtbarmachung in den Sowjetplakaten der Zwischenkriegszeit, in: Stefan Dyroff, Silke Flegel, Juliette Wedl (Hg.): Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder, Berlin , S. –, hier S. –. Dmitrij S. Moor: „Carskie polki i Krasnaja Armija“, Moskau . Das im September  veröffentlichte Plakat erreichte eine Auflage von . Stück. Vgl. hierzu ButnikSiverskij, Sovetskij plakat, S. .

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Abbildung : Ausschnitt aus: Dmitrij S. Moor: Carskie polki i krasnaja armija (Zarische Regimenter und Rote Armee), Moskau  Quelle: Georg Piltz: Rußland wird rot. Satirische Plakate –, Berlin , Abb. .

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

in den Händen: in der linken einen Knochen als Zepter und einen Totenkopf als Reichsapfel in der rechten. Sein Wappen trägt nicht den Doppeladler mit dem Hl. Georgsschild in der Mitte, sondern die Aufschrift „rabstvo“ (Sklaverei). Die Krone wiederum ist mit der Aufschrift „krovavyj“ (blutig) versehen. Das Hermelin verbindet Nikolaj II. mit seiner Frau, die sich von rechts über den Thron zu ihm beugt, eine Darstellung, um an deren vermeintlich schädlichen Einfluss zu erinnern. Analog dazu fehlt auch nicht die Figur Rasputins, der eine große Flasche in der Hand hält. Vor diesem stehend und die Hände in die Höhe streckend – die rechte ist zum Schwur gekreuzt und die linke hält ein Kreuz – erkennt der Betrachter die Figur eines Vertreters der orthodoxen Kirche. Zu den Füßen des Selbstherrschers hat es sich ein dicklicher, schwarz gekleideter Mann auf mehreren prall gefüllten Geldsäcken bequem gemacht. Flankiert wird das Ensemble um den Thron durch zwei Personengruppen: Auf der Linken stehen die Garderegimenter, mit Schlingen und Dolchen bewaffnet und mit „imperializm“ (Imperialismus), „pogromy“ (Pogrome) und „ėkspluatacija“ (Ausbeutung) betitelt, auf der Rechten eine Gruppe, die die Hände demonstrativ unschuldig vor ihre Körper gekreuzt hält, welche mit „tunejadstvo“ (Schmarotzerei) und „chanžestvo“ (Frömmelei) diffamiert wird. Auf den seitlichen Bildrändern ist jeweils ein Galgen, an dem zwei Männer aufgehängt sind, abgebildet. Am unteren befinden sich Soldaten, die teils barfüßig, lediglich mit Mantel und Uniform ausgerüstet, in geduckter Haltung die Befehle von einem dazwischen stehenden hochdekorierten Offizier erwarten, der sie mit einer Peitsche vorantreibt.³⁵ In der rechten Plakathälfte zeichnet Moor das propagierte Bild vom neuen Staat der bol’ševiki antithetisch zu dem Bildteil des Zaren. Hier stehen eben nicht mehr der Selbstherrscher auf seinem Thron, dessen Berater oder die orthodoxe Kirche im Zentrum, sondern eine florierende Industrielandschaft und ein ansehnliches Dorf. Erscheint Russland unter Nikolaj II. als brachliegendes Land, auf dem nur verfallene und heruntergekommene Hütten stehen, so besteht nun der diametrale Gegensatz unter der Herrschaft der bol’ševiki. Ein Bauer steht vor fruchtbaren Äckern und neben ihm der Arbeiter vor den revo³⁵

Die Metapher von der durch Leichen aufrecht erhaltenen bzw. über Leichen gehenden Herrschaft ist eine häufig anzutreffende Darstellung. Vgl. hierzu beispielsweise die beiden mit unterschiedlichen Titeln, aber mit identischem Bild veröffentlichten Plakate von Apsit: Aleksandr P. Apsit: „Car’, pop i bogač na plečach u trudovogo naroda“, Moskau ; ders.: „Mščen’e carjam“, Moskau ; siehe hierzu auch Butnik-Siverskij, Sovetskij plakat, S.  u. S. . Im bereits erwähnten Plakat „Car’, pop i kulak“ wird Nikolaj II. mit einer Totenkopfauszeichnung auf der Uniform dargestellt und auch auf der Krone befindet sich auf der Vorderseite ein Totenkopf.

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lutionären Errungenschaften, die sie gemeinsam mit Rotarmisten verteidigen. Sie haben Anteil an der „iskusstvo“ (Kunst), der „svoboda“ (Freiheit) – dargestellt durch das rote Haus des Sowjet, auf dessen Dach die rote Fahne weht –, am „chleb“ (Brot) – symbolisiert durch eine Mühle – und ebenso an der „nauka“ (Wissenschaft). Die Hauptdarsteller des Plakates, die Soldaten, kämpfen nun für die „svobodnyj trud “ (freie Arbeit). Diese Darstellungsweise ist typisch für Moor und für viele weitere Propagandaplakate, die durch die deutliche Abgrenzung vom Alten und Rückständigen, das Neue und gleichzeitig Fortschrittliche definieren. Ist das System des Ancien Régime mit Knechtschaft und Ausbeutung verbunden, so zeichnet sich in der Abgrenzung dazu Fortschritt im neuen Sowjetrussland erstens durch Freiheit aus und zweitens steht die „svobodnyj trud “ und nicht mehr der Zarenthron im Zentrum. Kunst und Wissenschaft ist nicht mehr einer kleinen Gruppe der Bevölkerung vorbehalten, sondern alle Menschen haben ihren Anteil daran. Aber auch elementare Dinge, wie die Versorgung mit ausreichend Lebensmitteln, soll sichergestellt werden, und es findet – so das Versprechen – eine Legitimation der Herrschaft durch die Vertretung der Bevölkerung durch und in den Sowjets statt, die nicht mehr durch die Selbstherrschaft unterjocht ist.

Die Rückständigkeit in Bildung und Erziehung Die Alphabetisierung, die eine vorrangige Rolle in der Kulturpolitik der RSFSR spielte³⁶, sollte ermöglichen, dass die Bevölkerung im Ganzen und nicht nur ein kleiner elitärer Kreis an den Neuerungen partizipieren konnte. Das „Dekret des SNK über die Liquidierung des Analphabetentums unter der Bevölkerung der RSFSR“ vom . Dezember  bildete dafür die rechtliche Grundlage und sah beispielsweise die Pflicht für alle Acht- bis Fünfzigjährigen vor, an Alphabetisierungskursen teilzunehmen. Ein halbes Jahr später, am . Juni , ³⁶

Bereits in der Zeit vor der Revolution  wurden im Zarenreich unter Aleksandr III. Maßnahmen ergriffen, um gegen das Analphabetentum vorzugehen. Vgl. zu den Maßnahmen innerhalb der „zemstva“ Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. ; Bonnell, Iconography of Power, S. . Zu der Entwicklung in Zahlen siehe eine tabellarische Übersicht bei Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S. . Für die weitere Entwicklung auf dem Land und einen Vergleich der unterschiedlichen Altersgruppen siehe die tabellarische Übersicht bei Altrichter, Die Bauern von Tver, S. . Aus dieser geht hervor, dass im Tverer Gouvernement die Zahl der Analphabeten bis  auf etwas über   gesunken war. Auffallend bleibt jedoch der Befund, dass bei einzelnen Altersgruppen der Unterschied zwischen Männern und Frauen sich um das bis zu Fünffache unterschied.

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

wurde die „VČK/likbez“ (Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung des Analphabetismus) unter dem Vorsitz von Michail N. Pokrovskij eingerichtet.³⁷ Dieser Kampf gegen den Analphabetismus spiegelt sich auch im Plakat „Bezgramotnye – Gramotnye“ (Die Leseunkundigen – die Lesekundigen)³⁸ von Aleksej A. Radakov (–) wider (siehe Abb.  auf der nächsten Seite), der bereits vor der Revolution Karikaturen für die Zeitschrift „Novyj Satirikon“ und in den er Jahren u. a. für die Zeitschrift „Krokodil“ zeichnete. Dieses Plakat richtete sich an die bäuerliche Bevölkerung, die den neuen Machthabern als besonders rückständig erschien.³⁹ Es ist ebenfalls in zwei Bilder aufgeteilt, auf beiden ist je ein bäuerlich gekleidetes Ehepaar dargestellt, im oberen handelt es sich um „bezgramotnye“, im unteren sind sie „gramotnye“. Das leseunkundige Paar steht in Tracht und dennoch ärmlich gekleidet in der Mitte des oberen Bildes. Fragend blickt es auf ihr verendetes Pferd und seine zwar noch lebenden, aber kränklichen Tiere, die aus zwei abgemagerten Schafen und einem zerrupften Hahn bestehen. Auf der rechten Seite befindet sich eine flache kleine mit Stroh gedeckte Scheune, vor der in einem Gemüsegarten nur einige wenige Kohlköpfchen liegen. Auf der linken Seite schlägt gerade der Blitz in sein kleines Haus ein, welches in Flammen aufgeht. Die Felder versprechen keine ertragreiche Ernte, da sie nur spärlich mit Getreide bedeckt sind, und der Apfelbaum, auf dem einer der drei vorkommenden sprichwörtlichen Unglücks-Raben sitzt, trägt lediglich eine winzige Frucht. In der unteren Szenerie findet sich ein gegensätzliches Bild, obwohl die Anordnung analog aufgebaut ist. Das Ehepaar ist gut genährt und in reicher Tracht gekleidet. Der Bauer hält als Zeichen seiner Lesekompetenz ein Buch ³⁷

³⁸

³⁹

Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS/Institut istorii Akademii Nauk SSSR (Hg.): Dekrety sovetskoj vlasti. Bd. :  dekabrja  g. –  marta  g. Moskau , S.  f. Zur Geschichte des VČK/likbez siehe Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S.  sowie zum Kampf gegen den Analphabetismus u. a. Peter Kenez: The Birth of Propaganda State. Soviet Methods of Mass Mobilization, –, Cambridge/London/New York u. a. , S. –. Vgl. hierzu Ernst Wawra: Einführung zu Plakat: „Die Analphabeten und die Lesekundigen“, von Aleksej A. Radakov, Petrograd , in: „() Schlüsseldokumente zur russisch-sowjetischen Geschichte im Internet“, abrufbar unter: http://www. dokumente.de/?c=dokument_ru&dokument=_ana&object=context&l=de [zuletzt aufgerufen am ..]. Weitere Beispiele wären: O. Grun: „Kniga učit pravil’no vesti chozjajstvo!“, o. O. ; Aleksandr Zelinskij: „Čtoby bol’še imet’ – nado bol’še proizvodit’. Čtoby bol’še proizvodit’ – nado bol’še znat’“, o. O. . Stephan Merl: Bauernproteste in Sowjetrussland zwischen  und , in: . Zeitschrift für Sozialgeschichte des . und . Jahrhunderts  (), H. , S. –; Markus Wehner: Bauernpolitik im proletarischen Staat. Köln/Weimar/Wien , S. –.

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Abbildung : Aleksej A. Radakov: Bezgramotnye – Gramotnye (Die Leseunkundigen – die Lesekundigen), Petrograd  Quelle: Georg Piltz: Rußland wird rot. Satirische Plakate –, Berlin , Abb. .

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in der Hand, in dem er gerade liest. Ihr aus Stein gebautes Haus wird zwar auch vom Blitz getroffen, allerdings verhindert der Blitzableiter seine Entzündung. Die Scheune ist ein hohes Gebäude und steht in keinem Vergleich zu den ärmlichen Gebäuden im obigen Bild. Die Felder stehen in vollem Korn, der Gemüsegarten ist voller Kohlköpfe und der Apfelbaum trägt Früchte. Der Hahn, der Bock und das Pferd sind wohlgenährt und kräftig. Die bol’ševiki waren auf die bäuerliche Bevölkerung angewiesen, aber ihr hauptsächliches Interesse lag auf den alphabetisierten und damit erfolgreichen Bauern. So illustriert der obere Teil des Plakates förmlich Markus Wehners zutreffende Einschätzung: „Der russische Bauer hatte [für die neuen Machthaber; E. W.] mit dem Ideal eines aufgeklärten, atheistischen, rationell arbeitenden und lebenden Menschen nichts gemein. Mit seiner Selbstgenügsamkeit, seiner Religion und seinem Aberglauben, seinem tatsächlichen und seinem ‚politischen Analphabetismus‘ und mit seinem Verständnis von Zeit, die sich nach Jahreszeiten, Fruchtfolgen und Naturerscheinungen anstatt nach Stunde, Minute und Sekunde richtete, war er die spiegelbildliche Umkehrung kommunistischer Utopien.“⁴⁰ Die beiden Bauernfamilien symbolisieren somit zum einen das rückständige, alte Russland und zum anderen die Zukunft des neuen Staates, dem die fortschrittlichen Bauern zusammen mit den Arbeitern eine Stütze sind.⁴¹ Mit Hilfe des lesekundigen Bauern soll der Weg in die Zukunft möglich werden, so die Botschaft, und somit gibt das Plakat ein konkretes Versprechen für die Zukunft: „A gramotnomu legko žit’!“ (Und dem Lesekundigen fällt das Leben leicht!).⁴² In einem weiteren Plakat von Radakov, welches als vergleichende Bildergeschichte aufgebaut ist, ist dem lesekundigen Bauern nicht nur ein leichteres, sondern auch ein längeres Leben versprochen.⁴³

Rückständigkeit in der Geschlechterfrage Das frühe sowjetische Plakat kennt bereits ein differenziertes Frauenbild, welches sich klar von der Darstellungsweise der vorrevolutionären Plakatkunst ab⁴⁰ ⁴¹

⁴²

⁴³

Wehner, Bauernpolitik im proletarischen Staat, S. . Vgl. hierzu: Unbekannter Künstler: „Tol’ko tesnyj nerazryvnyj sojuz rabočich i krest’jan spaset Rossiju ot razruchi i goloda“, Moskau ; Zelinskij, „Čtoby bol’še imet’“; A. Zubov: „Krest’janin! Poka ty deržiš’ v rukach krasnuju vintovku, …“, Barnaul . Aleksej A. Radakov: „Bezgramotnye – Gramotnye“, Petrograd . Appelle an die bäuerliche Bevölkerung, die dazu aufrufen, Lesen zu lernen, gibt es eine Vielzahl. Hier sei exemplarisch genannt: ders.: „Deti!“, Petrograd ; ders.: „Negramotnyj tot že slepoj“, Petrograd ; ders.: „Znanie razorvet cepi rabstva“, o. O. . Aleksej A. Radakov: „Žizn’ bezgramotnogo – Žizn’ gramotnogo“, Petrograd .

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setzt.⁴⁴ An der Visualisierung der Frau ist neu, dass sie nun als eigenständige(re) Person⁴⁵ auftritt: Die Helferin des Schmiedes bzw. des Arbeiters, die Bäuerin, die zusammen mit ihrem Mann die Arbeit verrichtet, oder die Bäuerin, die aktiv alleine handelt. Ergänzt werden diese Stereotype durch das Bild der gebildeten Frau, die das Wissen verbreitet bzw. auf die Bildungsmöglichkeiten verweist.⁴⁶ Letzteres spielte eine äußerst gewichtige Rolle beim propagierten Bild der Frau, die an den Errungenschaften des neuen Staates Teil hat und aus den alten Rollen als Mutter, Ehefrau und Helferin ausbricht. Als Beispiel soll das Plakat „Čto dala Oktjabr’ skaja Revoljucija rabotnice i krest’janke“ (Was gab die Oktoberrevolution der Arbeiterin und der Bäuerin) dienen.⁴⁷ Die Frage des Titels wird durch das Bild beantwortet. Dort sieht man im Vordergrund eine Frau mit rotem Kleid und einer Schürze bekleidet stehen, die in der linken Hand einen Hammer hält und mit ihrer rechten Hand auf die Szene hinter sich weist. Zu ihren Füßen findet sich eine Sichel. Dabei steht sie auf einem größeren Granitfelsen mit der Aufschrift „Zemlja krest’janinu fabriki rabočemu“ (Das Land dem Bauern, die Fabriken dem Arbeiter). Über ihr in der rechten Ecke strahlt die Sonne. Im Hintergrund sieht man eine Stadtsilhouette, innerhalb derer mehrere Gebäude etikettiert sind: „klub rabotnic“ (Klub der Arbeiterinnen), „biblioteka“ (Bibliothek), „škola dlja vzroslych“ (Schule für Erwachsene), „detskij sad “ (Kindergarten), „dom materi i rebenka“ (Haus der Mutter und des Kindes), „obščestvennaja stolovaja“ (öffentliche Kantine) und im Zentrum der neuen Einrichtungen und Gebäude der „sovet rabočich i krest’janskich deputatov“ (Sowjet der Arbeiter- und Bauerndeputierten). Des ⁴⁴

⁴⁵ ⁴⁶

⁴⁷

In diesen wird die Frau meist in ihrer Funktion als Krankenschwester oder als Allegorie für Russland im Ersten Weltkrieg dargestellt. Vgl. hierzu Abram E. Archipov: „Na peredovych pozicijach rabotaet tol’ko Krasnyj Krest“, Moskau ; Unbekannter Künstler: „Rossija za pravdu“, o. O. . Die Darstellung als schützenswertes, wehrloses Opfer bestand jedoch auch weiterhin. Vgl. hierzu u. a. folgende Plakate Nikolaj N. Kogout: „Oružiem my lovili vraga“, Moskau ; Dmitrij S. Moor: „Kazak, ty bil carej i bojar, sbros’ bojarina Vrangelja v Černoe more“, Moskau ; ders.: „oe Maja – vserossijskij subbotnik“, Moskau ; I. Osinin [Pseudonym von Aleksandr P. Apsit]: „Otstupaja pered Krasnoj Armiej belogvardejcy žgut chleb“, Kiev, Moskau, Petrograd ; Grav Plotnik: „Rabotnica svobodnoj Rossii!“, Tver’ ; unbekannter Künstler: „Front i tyl odna sem’ja“, Moskau ; unbekannter Künstler: „Kto ne rabotaet,…“. Moskau ; unbekannter Künstler: „Ženščiny, gonite dezertirov!“, Odessa ; Unbekannter Künstler: „Ženščina-tatarka!“, Kazan’ . Des Weiteren wird das Bild der Frau für eine Allegorie eines Festtages bzw. für Freiheit verwendet: Sergej I. Ivanov: „-e Maja“, Petrograd . Unbekannter Künstler: „Čto dala Oktjabr’skaja Revoljucija rabotnice i krest’janke“, Moskau . http://russianposter.ru/index.php?rid= [zuletzt aufgerufen am ..]. Vgl. hierzu auch Bonnell, Iconography of Power, S. –.

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

Weiteren geht eine kleine Gruppe von Frauen und Kindern in die Kantine zum Essen. Das Plakat visualisiert die Rolle bzw. die Aufgaben, die der neue Staat für die Frau vorsah, und zeigt den Fortschritt, der sich durch die Oktoberrevolution für sie aufgetan hat: Zunächst bilden hier die Revolution und ein Teil der Aprilthesen – die Forderung nach Land für die Bauern und Fabriken für die Arbeiter – den Felsen, auf dem die Frau steht – in Anlehnung an das biblische Motiv des Petrusfelsen. Darauf kann nun aufgebaut werden. Gegeben hat die Revolution bereits das „zemlja“ (Land) sowie die „fabriki“ (Fabriken) und für die Zukunft wird versprochen, was in diesem Bild um den „sovet“ (Sowjet) platziert ist. So beispielsweise die Versorgung der Kinder, welche nun nicht mehr die Frau gewährleisten muss, sondern vom neuen Staat übernommen wird.⁴⁸ Die Frau entfernt sich damit von ihrer vermeintlich alten, rückständigen Rolle und die Botschaft dieses Plakates lautet somit: Der neue Staat ermöglicht es der Frau, an den Neuerungen und dem Fortschritt teilzuhaben, und andererseits wird von ihr die aktive Mitarbeit am Staat und in der Gesellschaft gefordert. Die „neue“ Frau überwindet in der visuellen Propaganda die alte passive Rolle der (Ehe-)Frau und wird nun selbst im neuen Staat aktiv: Sie wird in der Plakatpropaganda ebenfalls wie der Rotarmist oder auch der Bauer für die Überwindung der Rückständigkeit als eine gleichberechtigte und damit wichtige Stütze des neuen Staates inszeniert.⁴⁹

Rückständigkeit der Religion Ebenso stark wurde in der bolschewistischen Plakatkunst die Rückständigkeit der Religion thematisiert, was am Plakat „Roždestvo“ (Weihnachten)⁵⁰ von Moor besonders deutlich wird (siehe Abb.  auf Seite ). Dieses ist im Querformat angelegt und horizontal in zwei Bildabschnitte geteilt. Das unter den übereinander liegenden Bildabschnitten stehende Gedicht „Prazdnik bogačej – naš prazdnik“ (Feiertag der Reichen – Unser Feiertag) stammt ursprünglich von ⁴⁸ ⁴⁹

⁵⁰

Vgl. hierzu etwa Aleksandr E. Snopkov: Materinstvo i detstvo v russkom plakate, Moskau . So marschiert in einem Plakat an zentraler Stelle eine Frau, die ein rotes Tuch schwenkt, neben Bauern, Arbeitern und Soldaten und weiteren Frauen von dem rückständigen alten Russland, hier dargestellt durch die Vertreter der alten Ordnung, die vor einem Stadtschloss stehen – im Hintergrund ist ein ärmliches Dorf angedeutet –, hin zur fortschrittlichen kommunistischen „Parteizentrale“ in einem einfachen Gebäude – hinter diesem zeichnet sich eine Industrielandschaft ab. Vgl. etwa Unbekannter Künstler: „Idite v Kommunističeskuju partiju!“, Moskau . Dmitrij S. Moor, „Roždestvo“, Moskau .

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Nikolaj Gorlov.⁵¹ Der Betrachter sieht zwei Gruppen von Menschen, die sich jeweils in unterschiedliche Richtungen bewegen. In der oberen Bildhälfte hält die Gruppe auf einen in der linken oberen Ecke befindlichen gelben Stern zu. Die deutliche Anspielung auf den Morgenstern wird dabei, ganz unabhängig vom Titel des Plakates, selbst einem flüchtigen Betrachter spätestens dann offenbar, wenn er die dem Stern am nächsten platzierten Personen betrachtet. Unschwer sind diese als die drei Weisen aus dem Morgenland zu identifizieren, die, auf ihren Kamelen sitzend, Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke mit sich führen. Ihnen folgt eine illustre Schar: Ritter und Soldaten, Kirchenobere und Patriarchen und als Krönung in der Mitte des Zuges Nikolaj II., dem wiederum Adelige, ein Offizier, ein Grüppchen von Vertretern des Kapitals im schwarzen Anzug mit Zylinder, zwei Kulaken, erkennbar an Weste und äußerer Erscheinung, folgen. Im Kontrast zu den biblischen Geschenken der drei Weisen, tragen die ihnen Nachfolgenden Waffen, goldene Kreuze, Schwerter, Säbel, Lanzen, Gold auf einem Tablett, prall gefüllte Geldsäcke und schlussendlich hat einer der aufgedunsenen Kapitalisten eine Kette um das Handgelenk geschlungen. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich die Prozession nicht auf einem natürlichen Boden vorwärts bewegt, sondern auf einem künstlichen Steg, der von unzähligen Menschen, die sich unter ihm krümmen, gestützt wird. Dieses Plakat bildet zusammen mit dem darunter stehenden ersten Teil des Gedichtes „Prazdnik bogačej“ (Feiertag der Reichen) eine Kritik an der Religion und genauer an der Bereicherung der Kirche auf Kosten der Armen. Im unteren Bild schreitet eine Menschenmenge nicht auf dem Rücken der Armen bzw. auf den geschundenen Körpern, sondern direkt auf rotem Grund und Boden. Sie bewegt sich von links nach rechts, wo sich oben ein hell strahlender roter fünfzackiger Stern befindet. Die Menschenmenge setzt sich aus Rotarmisten, Arbeitern in roten Hemden, Bauern und Bäuerinnen – diese sind durch einen längeren Vollbart bzw. am roten Kopftuch zu identifizieren – zusammen. Die Arbeiter führen des Weiteren ein rotes Transparent mit der Aufschrift „Proletarii vsech stran, soedinjajtes’ “ (Proletarier aller Länder, vereinigt Euch) mit sich und haben auf ihrem Weg in Richtung des roten Sternes Goldmünzen, eine schwarze Uniform, eine Krone und einen purpurnen Umhang mit Hermelin niedergetreten – der Fortschritt geht über das Rückständige hinweg. Ihnen folgt eine zweite Gruppe, die ähnlich zusammengesetzt ist, nur ⁵¹

Da das Gedicht auf den meisten Abbildungen nur schwerlich bzw. nicht vollständig zu entziffern ist, sei auf den Abdruck des russischen Originaltextes sowie eine Übersetzung und Nachdichtung ins Deutsche von Heinz Czechowski bei: Fritz Mierau (Hg.): Links! Links! Links! Eine Chronik in Vers und Plakat –, Berlin , S. –, verwiesen.

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

Abbildung : Ausschnitt aus: Dmitrij S. Moor: Roždestvo (Weihnachten), Moskau  Quelle: Georg Piltz: Rußland wird rot. Satirische Plakate –, Berlin , Abb. .

führt diese drei weitere rote Transparente bzw. Fahnen mit sich, wobei auf der ersten „Da zdravstvuet mirovaja armija trudjaščichsja!“ (Lang lebe die Weltarmee der Werktätigen!) geschrieben steht. Auch dieses Plakat wendet sich gegen das alte System und dessen Profiteure: Pope und kulak. Diese beiden Gruppen profitierten in dieser Darstellung von der Heilsversprechung der Weihnachtsbotschaft nicht wie die Armen unter dem Steg erst im Jenseits, sondern bereits im Diesseits. So bildet der untere Abschnitt des Plakates eine Alternative zum althergebrachten Glauben: nicht mehr der Glaube an etwas Abstraktes, sondern an die Realität – die Orientierung weg vom Jenseits hin zum Diesseits. Weiterhin finden sich darin Elemente des Selbstbildes der bol’ševiki und damit des neuen Staates. Es wird verdeutlicht, dass mit der Revolution die alte Religion der Orthodoxie und die davon profitierenden Gesellschaftsschichten beseitigt wurden, denn man habe der Reihe nach den Zaren – symbolisiert durch Krone und Mantel –, die ausländischen Interventionsmächte, die Weißen nebst dem polnischen Pan –

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symbolisiert durch die schwarze Uniform mit goldenen Knöpfen – und schließlich das kapitalistische System – es sei an die am Boden liegenden Goldmünzen erinnert – niedergerungen. Die Menge bewegt sich dynamisch nach vorne in Richtung der neuen roten Heilsversprechung, den roten Stern. In dieser Darstellung subsumieren sich sämtliche Bedeutungsmöglichkeiten: Der rote Stern steht für die Revolution, die bol’ševiki, den neuen Staat und gleichzeitig für die zukünftige Vision: das Leben im Kommunismus. Die Revolution markiert hier den Beginn dieser historischen Entwicklung, denn wie der Morgenstern den drei Weisen den Weg zum Messias wies, bildet auch die Revolution eine solche Zäsur: Mit der Beendigung der Herrschaft von Zar, Kirche und Kapital könne nun die Bevölkerung aus ihrer Unterdrückung aufstehen und in eine neue Zukunft gehen. Betrachtet man die Strahlen des Sternes etwas genauer, fällt auf, dass im Gegensatz zum Morgenstern, bei dem die Strahlen letztlich nur die drei Weisen erreichen, der rote Stern allen scheint, die sich in der unteren Bildhälfte im Zug der Arbeiter und Bauern bewegen. Obwohl es Tag ist leuchtet er so hell, dass er das ganze Bild mit seinen Strahlen erleuchtet – sie reichen von der rechten oberen Ecke bis zu den letzten Menschen im Zug. Jeder soll an dem Heilsversprechen teilhaben und nicht, wie oben, nur der privilegierte Teil der Bevölkerung. Weiterhin zeigt sich in dieser Darstellung die besondere Bedeutung der Farbe Rot.⁵² Auf fast allen Plakaten dieser Zeit finden sich rote Elemente, ob bei dem roten Stern auf dem Tuchhelm des Rotarmisten, der in der Menge positionierten roten Fahne oder aber in ganz in Rot gehaltenen Plakaten.⁵³ In der russlän⁵²

⁵³

Durch die Zuschreibung von bestimmten Farben sollte eine definierte Gruppe auf den ersten Blick identifizierbar gemacht werden. So entstand in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution ein „Farbenkanon“: Neben Rot bildete Weiß, vor allem in der Zeit des Bürgerkrieges, eine der Hauptfarben, nämlich als Attribut des alten zaristischen Systems und dessen „Überlebenden“. Grün, als Komplementärfarbe zu Rot, war dem ideologischen Gegner „Imperialismus“ vorbehalten oder stand auch ganz allgemein für den Ruin, die Farbe Schwarz stand für den Kapitalismus. Vgl. hierzu exemplarisch Renate Kummer: Nicht mit Gewehren, sondern mit Plakaten wurde der Feind geschlagen! Eine semiotisch-linguistische Analyse der Agitationsplakate der russischen Telegrafenagentur ROSTA. Bern, Berlin, Bruxelles u. a. , S. –. Vgl. hierzu exemplarisch zwei Plakate: Das erste wurde von Moor gezeichnet und behandelt den Krieg mit Polen. Darauf sieht der Betrachter im Zentrum des Plakates eine große zylindrische in rot gehaltene Form, die an eine Patrone erinnert. Gehalten wird diese dabei von einem Arbeiter und einem Rotarmisten, die sich damit in Richtung der kleinen in weiß gezeichneten Figur im rechten Bildhintergrund drehen. Diese steht, wie aus dem Text auf dem Plakat hervorgeht, für den polnischen Pan, und hebt mit einem erschrockenen Blick abwehrend die Hände nach vorn. Siehe hierzu Dmitrij S. Moor: „Krasnyj podarok belomu panu“. Moskau . Vgl. hierzu auch Jörg Ganzenmüller: ‚Polni-

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

dischen Geschichte nahm die rote Farbe in der Kirchen- und Ikonenkunst,⁵⁴ für die bäuerliche Bevölkerung⁵⁵ sowie für den russländischen Herrscher – in Anlehnung an das römische und griechisch-byzantinische Kaiserreich – eine wichtige Stellung ein⁵⁶ und seit  befand sich in der Mitte des Staatswappens das Motiv des hl. Georgs vor einem roten Hintergrund.⁵⁷ Manfred Hildermeier fasste die Bedeutung der Farbe Rot wie folgt zusammen: „Rot hieß im Russischen aber auch ‚schön‘ und besaß einen sakralen Beiklang. In jedem traditionsbewußten Haus, vor allem in jeder Bauernkate fand sich die vielzitierte ‚rote Ecke‘, die eigentlich eine schöne und heilige für die Iko-

⁵⁴

⁵⁵

⁵⁶

⁵⁷

scher Pan‘ und ‚deutscher Faschist‘. Die nationale Komponente sowjetischer Feindbilder im Krieg, in: Gries/Satjukov, Unsere Feinde, S. –. Das zweite ist von Kočergin und behandelt die Auseinandersetzung mit den „weißen“ Generälen. Auf diesem Plakat sieht man unter dem rot gedruckten Titel „Očered’ za Vrangelem!“ (Vrangel’ ist an der Reihe!) einen roten Rotarmisten auf einem roten Pferd mit einer roten Lanze, auf der bereits der Reihe nach die weißen Figuren – angefangen bei dem Zaren, über Kerenskij, Kornilov, u. a. und Kolčak – aufgespießt sind. Der ebenso weiße General Vrangel’ läuft dabei dem galoppierenden roten Reiter direkt in die Lanze. Diese Szene spielt sich auf dem roten Boden ab, vor einem „neutralen“ schwarzen Hintergrund, der jedoch den Kontrast von dem – größenmäßig – übermächtigen Rot zum „kleinen“ Weiß verstärkt. Nikolaj M. Koergin: „Očered’ za Vrangelem!“, Moskau . So stand Rot beispielsweise für den Heiligen Georg, der mit einem roten Umhang dargestellt wurde, das himmlische Feuer, die Darstellung Christi oder auch den Erzengel Gabriel mit rotem Gewand sowie für das feuerrote Pferd des apokalyptischen Reiters. Siehe hierzu exemplarisch Heresch, Rot in Rußland, S. –. So war zum einen die Hochzeitstracht der Braut traditionell rot, aber auch in der Festtagstracht der einfachen Bevölkerung war verstärkt die Farbe Rot anzutreffen. Im Laufe des . Jahrhunderts wurde die rote Hochzeitstracht allmählich von den westlichen Einflüssen, wie z. B. das weiße Hochzeitskleid verdrängt. Dies setzte sich anfänglich beim russischen Adel und schließlich in der bäuerlichen Bevölkerung durch. Vgl. hierzu Joseph Klibitsky: Die Farbe Rot im russischen visuellen Bewusstsein, in: ders./Petrowa/Schröder, Rot in der Russischen Kunst, S. –; M[argarita] N. Šmeleva, L. V. Tazichina: Ukrašenija russkoj krest’janskoj odeždy, in: Pavel Kušner (Red.): Russkie istoriko-ėtnografičeskij atlas. Iz istorii russkogo narodnogo žilišča i kostjuma (ukrašenie krest’janskich domov i odeždy). Seredina XIX – načalo XX v., Moskau , S. –. So war der Thron des Zaren, ob in Moskau oder auch ab / in St. Petersburg in roten Samt gekleidet, ebenso die Zarenloge in den Theatern. Erinnert sei an den Doppelthron von Pëtr I. und Ivan V. oder den Thron von Pavel I. Rot findet sich weiterhin in zarischen Orden wieder und sollte dabei an das vergossene Blut erinnern, wie beispielsweise bei dem von Pëtr I. gestifteten „Orden der Heiligen Märtyrerin Katharina“. Auch von den bol’ševiki wurden Orden, die die Farbe Rot beinhalteten, verliehen. Mit dem „Dekret o znakach otličija“ vom . September  wurde das „znak ordena ‚Krasnoe Znamja’“ eingeführt. Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS/Institut istorii Akademii Nauk SSSR (Hrsg.): Dekrety sovetskoj vlasti. Bd. :  ijulja –  nojabrja  g., Moskau , S.  f.

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nen war. So verschmolz im bald ubiquitären Rot des neuen Regimes die Tradition (auch des bäuerlichen) sozialen Protests mit uralter religiös-volkstümlicher Überlieferung.“⁵⁸

Etappen in der Überwindung der Rückständigkeit In einem Plakat zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution mit dem Titel „God proletarskoj diktatury“ (Ein Jahr proletarische Diktatur)⁵⁹ von Aleksandr P. Apsit (–), der vor allem für seine allegorischen Plakate und die Aufrufe zur Verteidigung Petrograds berühmt geworden ist,⁶⁰ wurde ein dreiteiliger Aufbau gewählt: Im Vordergrund stehen zwei Männer vor einem Mauerausschnitt, wobei der linke durch das Attribut des Hammers als Arbeiter und der rechte mit Hilfe der Sense als Bauer zu identifizieren ist (siehe Abb.  auf der nächsten Seite). Letzterem ist zusätzlich noch eine rote Fahne beigegeben. Vor ihnen liegen neben einem zerstörten Schild ein Mantel mit dem Wappen der Familie Holstein- Gottorp-Romanov, die Krone sowie eine auseinandergerissene Kette. In der Bildmitte ziehen Menschen mit roten Fahnen vorbei. Gleichzeitig ist eine junge Familie zu erkennen, wobei die Mutter ihr Kind der Fahne entgegenstreckt.⁶¹ Im Hintergrund spielt sich die dritte Szene ab: Hinter einer Industrielandschaft geht die Sonne auf, während sich im Vordergrund eine zweite Menschenmenge bewegt. Auf dem Sockel, auf dem die beiden Hauptfiguren stehen, ist eine Platte mit den Jahreszahlen  und  angebracht. All diese aufgezählten Elemente zeigen, wie sich der neue Staat bzw. die bol’ševiki im Oktober  sahen: Analog zum dreigeteilten Bild stellt sich der Verlauf der propagierten Geschichte dar. Im ersten Schritt, der Oktoberrevolution, hatte man sich des Zarismus und des Adels – also der Ketten des „Alten“ ⁵⁸

⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹

Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. . Vgl. hierzu auch Mark Petrow: Einige Besonderheiten in der Semantik des Begriffs „krasnyj“ in der russischen verbalen Tradition, in: Brugger/Klibitsky/Petrowa/Schröder, Rot in der Russischen Kunst, S. –. Alfons Goldschmidt, der  durch Russland reiste, widmete Plakaten in seinen Erinnerungen sogar ein mehrseitiges Kapitel und beschrieb die Situation mit den Worten: „Viele Propagandaplakate, am Bahnhof und an Häusern. Rote Fahnen. […] Vorbereitungen auf den . Mai. In Petrograd doppelt eifrig betrieben. Rot, rot, rot.“ Alfons Goldschmidt: Moskau . Tagebuchblätter, Berlin , S. –. Aleksandr P. Apsit: „God proletarskoj diktatury”, Moskau . Ders.: „Internacional“, o. O. /; ders.: „Grud’ju na zaščitu Petrograda!“, Moskau . Dieses Symbol verwendete Apsit beispielsweise auch in dem Plakat „Proletarii vsech stran, soedinjajtes’!!!“, in dem eine Frau ihr Kind der roten Fahne entgegenstreckt. Vgl. hierzu Aleksandr P. Apsit: „Proletarii vsech stran, soedinjajtes’!!!“, Moskau .

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Abbildung : Aleksandr P. Apsit: God proletarskoj diktatury (Ein Jahr proletarische Diktatur), Moskau  Quelle: Stephen White: The Bolshevik Poster, London, New Haven , S. .

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– entledigt. Der mittlere Bildabschnitt repräsentiert die Gegenwart. Menschen, die frei, glücklich, zufrieden und den beiden Männern – Bauer und Arbeiter – dankbar für die Leistungen des letzten Jahres sind. Der Arbeiter- und Bauernstaat wurzelt in diesen beiden Gruppen. Das Plakat stellt auch die bessere Zukunft dar: Ein Menschenstrom bewegt sich entlang reiche Ernte verheißender Getreidefelder in Richtung der rauchenden Schornsteine – das propagierte Versprechen, dass der Weg in die bessere Zukunft nicht entbehrungsreich sein wird. Bei der Betrachtung der weiteren Jahrestagplakate fällt auf, dass  ein übergroßer Arbeiter – mit einer noch größeren roten Fahne in der Hand – schwarz gekleideten Herren, wohl Kapitalisten und Kulaken, ihre Drohinstrumente (die Kette und die Peitsche) aus den Händen schlägt. Die Stationen des jungen Staates werden im Jahr  in einem vierteiligen Plakat aus Sicht eines Arbeiters gezeigt. Im ersten Jahr verjagt er die Schlange des Kapitalismus mit der roten Fahne der Revolution, im zweiten die Hydra der Interventionsmächte, im dritten die „Hunde“ der Entente und im Jahr  wird der Wiederaufbau vor rauchenden Schloten dargestellt. Zum fünfjährigen Jahrestag der Oktoberrevolution steht wiederum ein Arbeiter vor einer unüberschaubaren Menschenmenge, hält dabei mit der linken Hand eine überdimensionierte rote Fahne und reckt die rechte Hand, Hammer und Sichel gekreuzt tragend, nach oben. Die römische Zahl V sowie ein roter Stern vor einer strahlenden Sonne schweben über der ganzen Szenerie.⁶² Ähnlich wie bei der Farbe Rot wurden auch anders konnotierte Symbole, die beispielsweise bereits von gegnerischen Parteien, Vereinigungen oder Bewegungen verwendet worden waren, wie die aufgehende Sonne, die zersprengten Ketten oder der Globus, der befreit werden sollte, von den bol’ševiki vereinnahmt.⁶³ Selbst die rote Fahne war keine ureigene bolschewistische Neuerfindung,⁶⁴ sondern wurde bereits früher, etwa auf Plakaten nach der Februarrevo⁶²

⁶³

⁶⁴

Vgl. hierzu chronologisch u. a.: Unbekannter Künstler: „Vtoraja godovščina velikoj oktjabr’skoj revoljucii“, Petrograd ; Dmitrij S. Moor: „Tovarišči“, Moskau ; unbekannter Künstler: „Četyre goda“, o. O. ; Ivan V. Simakov: „Da zdravstvuet pjataja godovščina Velikoj proletarskoj revoljucii!“, o. O. . Vgl. hierzu etwa Hildermeier: Die Symbolik der russischen Revolution, S. –. Es sei exemplarisch auf zwei Plakate der Sozialrevolutionäre verwiesen, die in sich diese Symbole vereinigen: Unbekannter Künstler: „Partija Soc.-Rev.“, Petrograd ; unbekannter Künstler: „Vybiraj Socialistov-Revoljucionerov“, Petrograd . Die Verwendung der roten Fahne durch aufständische Bauern hat Martin Krispin an einem Beispiel aus der Region um Tambov herausgearbeitet. Vgl. hierzu Martin Krispin: „Für ein freies Rußland…“. Die Bauernaufstände in den Gouvernements Tambov und Tjumen –, Heidelberg , S. –.

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lution, verwendet. Erst unter den bol’ševiki wurde sie als Symbol der Befreiung in ihrem Sinne umgedeutet.⁶⁵ An den Jahrestagplakaten lässt sich ablesen, wie weit sich die neuen Machthaber auf dem Weg zur Umsetzung der Utopie wähnten und wie erfolgreich man sich im Kampf gegen Rückständigkeit darstellen wollte. Sehr häufig trifft man in diesem Zusammenhang auf die Metapher der Kette, die zuerst einmal für die Fesseln des alten Systems – z. B. Knechtschaft und Abhängigkeit der Bauern, Analphabetismus, die Abhängigkeit der Frau oder die Not der Arbeiter – steht.

Gegen die Rückständigkeit: „Nieder mit dem Analphabetismus und der Unwissenheit!“ „Doloj negramotnost’ i temnotu!“ (Nieder mit dem Analphabetismus und der Unwissenheit!) lautet der Titel eines Plakates, welches  in einer Auflage von  Exemplaren vervielfältigt worden war und dessen Künstler unbekannt geblieben ist.⁶⁶ Meines Wissens findet sich dieses in keiner der bekannten Sammlungen, weshalb es im Folgenden ausführlicher beschrieben werden soll. Die Bedeutung des Plakates liegt darin, dass sich in diesem Werk beinahe alle Themen finden lassen, mit Hilfe derer der Kampf der bol’ševiki gegen die Rückständigkeit für eine bessere und fortschrittlichere Welt inszeniert werden sollte. Es richtete sich an einen sehr konkreten Kreis – die Mitglieder der Roten Armee, die man zu einem korrekten und vorbildhaften Verhalten anzuhalten versuchte.⁶⁷ Der Titel prangt in großen Lettern über dem antithetisch angelegten Plakat, auf dessen linker Seite man einen geschwächten und kränklich wirkenden ⁶⁵

⁶⁶

⁶⁷

Vgl. hierzu eine Ansichtskarte aus dem Februar , die Russland nach der Februarrevolution darstellt. Sie enthält einen Doppeladler, den Hl. Georg, einen Bauern und einen Arbeiter mit roter Fahne, vgl. hierzu Vladimir A. Artamonov, Nadežda A. Soboleva: Simvoly Rossii. Očerki istorii gosudarstvennoj simboliki Rossii. Moskau , S. . Des Weiteren sei auf folgendes Plakat verwiesen: Unbekannter Künstler: „Pamjatka narodnoj pobedy. Nikolaj Romanov otdaet koronu svoim pobediteljam“, Petrograd . Dieses Plakat wurde in zwei Varianten gedruckt, in ukrainischer und in russischer Sprache. Vgl. hierzu Butnik-Siverskij, Sovetskij plakat, S. , ; unbekannter Künstler: „Doloj negramotnost’ i temnotu!“, Kiev ; unbekannter Künstler: „ Get‘ negramotnist’ i temrjavu!“, Kiev . Erinnert sei auch an die bereits erwähnten Kampagnen gegen den weit verbreiteten Analphabetismus oder zur Mobilisierung der Bauern. Vgl. hierzu weiterhin die Kampagnen gegen Deserteure im Plakat: Dmitrij S. Moor: „Belogvardejcy i dezertir”, Moskau ; Vassilij V. Spasskij: „Na kogo rabotajut dezertiry“, Moskau ; unbekannter Künstler: „Ženščiny, gonite dezertirov!“, Odessa .

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Mann sieht, der als trauriges Beispiel inszeniert einen wenig vorbildhaften Rotarmisten darstellen soll. Er hat aufgedunsene Lippen, trägt eine geflickte grüne Hose und seine restliche Kleidung wirkt aufgrund seines schlechten körperlichen Zustandes viel zu groß und hängt unförmig an ihm herunter. Wie ein Schwarm Fliegen umschwirren ihn fünf Gestalten, die ihn auf verschiedene Weise abzulenken versuchen: Ihm die Augen verbindend, beschwichtigt ihn ein hexengleich wirkender Pope mit einem goldenen Kreuz, der gleichsam seine Erblindung durch die Religion symbolisiert. Gegenüber verführt ihn eine Gestalt mit einer Flasche Alkohol, die sie dem Soldaten an die Lippen hält, nur um mit einem Knüppel in der anderen Hand zum Schlag auszuholen. Und während die rechte Hand des Rotarmisten auf den gut gefüllten Geldsack eines schwarz gekleideten Mannes mit Zylinder zeigt, streckt sich seine linke Hand gierig nach den Münzen aus, die ihm von dem Mann in selbige gezählt werden, wobei es den Anschein hat, dass es dem Vertreter des Kapitals bereits gelungen ist, ihm eine Kette um einen Arm zu legen. Eine ähnliche Szenerie spielt sich zu seinen Füßen ab. Ein älterer Mann, wohl ein weißgardistischer Offizier, nähert sich dem Soldaten geduckt und damit besonders heimtückisch von hinten, um ihn mit Fußfesseln endgültig bewegungsunfähig zu machen. Flankiert wird dieser durch einen weiteren Soldaten mit Turban, der dem abgelenkten Rotarmisten sein Schwert regelrecht aus der Tasche entwendet. Unterlegt ist das an Eindeutigkeit kaum zu überbietende Bild durch folgenden Text: „Rotarmist! Ungebildet und nicht klassenbewusst bemerkst Du es selbst nicht, wenn Dich Popen, Reiche und andere dunkle Mächte umgarnen!“ Die rechts von diesem Negativbild befindliche Darstellung zeigt das Gegenteil: Dort ist ein idealtypischer Rotarmist mit stramm sitzender Uniform, einer Mütze mit rotem Stern, einem stolzen Gesichtsausdruck und triumphierendem Siegerlächeln zu sehen. Mit seinem kräftig gebauten und athletisch gespannten Körper teilt er diese Bildhälfte diagonal und verdrängt die in der linken Seite agierenden Gestalten mit drohender Faust und einem kräftigen Tritt auf den Boden aus dem Bild. Fehlt auf dem antithetisch angelegten Plakat auf der linken Seite die klare Zuschreibung des Soldaten zur Roten Armee durch das Fehlen des roten Sternes, ist der Soldat auf der rechten Seite eindeutig als Rotarmist zu erkennen. Neben der roten Fahne nahm besagter roter Stern eine gewichtige Rolle innerhalb der Visualisierung des neuen Staates ein. Er schreibt auf der Kleidung eines Soldaten seinen Träger sofort der Roten Armee zu und stellt nach Manfred Hildermeier ein Symbol für die Erleuchtung

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

und den Wahrheitsanspruch, in dessen Auftrag die Soldaten der Roten Armee kämpften, dar.⁶⁸ Das neben dem stolzen Rotarmisten aufgeschlagene Buch „Azbuka kommunizma“ (Das ABC des Kommunismus)⁶⁹ symbolisiert, zusätzlich zu zwei nicht näher zu identifizierenden Büchern, die unter seine Armbeuge geklemmt sind, die Überwindung des Analphabetismus. Dahinter leuchtet das Symbol für die bessere Zukunft, die aufgehende Sonne. Vom Licht der Erleuchtung und dem sicheren Auftreten des Repräsentanten der Roten Armee werden die Symbole der Rückständigkeit, die im ersten Bildteil noch auf Wolken schwebend den Bildhintergrund verdunkelten, verdrängt. Gänzlich keine Rolle mehr spielt nach der Alphabetisierung des Rotarmisten der Soldat mit dem Turban. Ähnlich ergeht es dem Popen, von dem nur noch die schwarzen Stiefel und ein Teil seines Rocks zu sehen sind. Der zarische bzw. weiße Offizier wird als ein in vollem Lauf vor dem übermächtig gewordenen Rotarmisten flüchtender und damit kleiner werdender Gegner dargestellt.⁷⁰ Dagegen verhält es sich mit dem Problem des Alkoholismus anders. Der Verführer mit der Flasche verbleibt zur Hälfte im Bildausschnitt und auch der Vertreter des Kapitals mit seinem prall gefüllten Sack voller Goldmünzen ist noch fast vollständig zu sehen. Hieran ist deutlich zu erkennen, wo der bzw. die Plakatkünstler die größten Gefahren bei der Überwindung der Rückständigkeit sahen und vermuteten. Die Bildhälfte ist ebenfalls mit einer kurzen Parole unterlegt – „Aber gebildet und klassenbewusst kann Dich keine Macht überwinden!“ –, die einen Teil der Inszenierung der bol’ševistischen Programmatik zusammenfasst: Genannt seien exemplarisch die Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung oder das Zurückdrän-

⁶⁸

⁶⁹ ⁷⁰

Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. ; ders., Die Symbolik der russischen Revolution, S. . Der rote Stern war bereits von Anfang an fünfzackig, doch war er nicht immer mit der Spitze nach oben ausgerichtet bzw. geradlinig gezeichnet. Vgl. hierzu folgende Plakate: Vladimir Fidman: „Da zdravstvuet Krasnaja Armija!“, Moskau ; Dmitrij S. Moor: „Narodam Kavkaza“, Moskau ; ders.: „Sovetskaja Rossija“, Moskau ; unbekannter Künstler: „K ‚nedele fronta‘. Vse dlja fronta, vse dlja pobedy!“, Kazan’ ; unbekannter Künstler: „Narody vsego mira privetstvujut krasnuju armiju truda“, Moskau . Nikolaj I. Bucharin, Evgenij A. Preobraženskij: Azbuka kommunizma. Populjarnoe ob“jasnenie programmy Rossijskoj Kommunističeskoj Partii (Bol’ševikov), Moskau . Bei der bewusst gewählten Darstellung des Weißgardisten ist aufschlussreich, dass dieser als Feigling dargestellt wird, da er weder auf dem linken noch auf dem rechten Bild seine Waffe gezogen hat und sich somit nur hinterrücks dem Betrunkenen zu nähern wagt. Auf den gebildeten Rotarmisten reagiert er, den Säbel immer noch in der Scheide, mit Flucht.

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gen der „alten und dunklen Mächte“, hier repräsentiert durch den Vertreter des Kapitals, der Kirche und der konterrevolutionären Kräfte.⁷¹

Schluss Betrachtet man die wenigen bekannten Plakate der „Weißen“⁷², ist augenfällig, dass für diese anscheinend die Eigeninszenierung und die Selbstdarstellung eine viel größere Rolle einnahmen, als eine Abgrenzung gegen etwas, was man als rückständig ansah, oder ein konkretes Versprechen für Fortschritt bzw. eine bessere Zukunft. Vielmehr hat man es mit offensichtlich selbstherrlichen Abbildungen der „weißen“ Generäle, wie Anton I. Denikin oder von Pëtr N. Vrangel’, zu tun, welche sehr stark an die Herrscherporträts aus der Zarenzeit erinnern.⁷³ An diesem Vergleich zeigt sich somit nochmals, welchen hohen Stellenwert die Abgrenzung vom Alten und die Propagierung des Neuen in der Plakatpropaganda der bol’ševiki einnahmen. ⁷¹ ⁷²

⁷³

Hierbei handelte es sich selbstredend um keine exklusive Erfindungen der bol’ševiki, allerdings wurde dies auf den Plakaten so inszeniert. Es sind sehr selten Plakate der politischen Gegner der bol’ševiki in den einschlägigen Sammlungen zu finden. „Although the Bolsheviks understood the signifance of propaganda far better than their enemies, the poster was such an obvious instrument for propaganda in Civil War conditions that the Whites also turned to it. The White regimes, especially the most stable one among them in the South, attracted a number of talented artists who produced good work. In comparison, however, the Reds outproduced their opponents both in quantity and quality.” Kenez, The Birth of Propaganda State, S. . Zur Geschichte der visuellen Propaganda der Weißen siehe beispielsweise: Kämpfer, ‚Der Rote Keil‘, S. –; oder auch zu deren Feindbild siehe Oleg Budnitskii: Russian Jews Between the Reds and the Whites, –, Philadelphia , S. –; Bonnell, Iconography of Power, S. –. Ein bekanntes Beispiel wäre etwa die Darstellung eines bis über die Knöchel in Blut schreitenden Matrosen, der eine Waffe in der Hand hält, mit dem Titel „Die Schönheit und der Stolz der russischen Revolution“; B. Sadovaja: „Krasa i gordost’ russkoj revoljucii“, Rostov-na-Donu o. J. Unabhängig von der Frage nach Rückständigkeit und Fortschritt ist an der bildlichen Propaganda der „Weißen“ die Aufnahme antisemitischer Motive augenfällig, welche bei den Plakaten der bol’ševiki in der Zeit bis nach dem Bürgerkrieg fehlt: So wurden darin die „Roten“ als „neue“ Christusmörder dargestellt. Diese antisemitische Bildsprache hatte neben dem „roten Priester Lenin“ auch den „roten Trockij“ im Visier, der zum einen die „Jungfrau Russland“ am Altar des Karl Marx opferte und der zum anderen, der die Mauer des Kremls überstiegen hatte. Vgl. hierzu: Ute Caumanns: Der Teufel in Rot. Trockij und die Ikonographie des „jüdischen Bolschewismus“ im polnisch-sowjetischen Krieg, /, in: zeitenblicke  (), Nr. , abrufbar unter: http://www.zeitenblicke.de/ //Caumanns [zuletzt aufgerufen am ..]; Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom jüdischen Bolschewiken. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin , S. –; unbekannter Künstler: „Mir’ i svoboda v Sovdepii“, Char’kov .

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Die Inszenierung des bolschewistischen Kampfes gegen die Rückständigkeit

Weiterhin konnte gezeigt werden, dass, um zu der vorwiegend illiteraten Bevölkerung durchzudringen und komplexe Inhalte einfach darstellen zu können, zweigleisig verfahren worden ist. Einerseits griffen die Plakatkünstler in bewusster Kontinuität der Bildsprache auf bekannte Motive zurück, die im neuen Sinne umgedeutet wurden, erinnert sei an das Motiv des heiligen Georgs. Daher erklärt es sich, dass bisweilen die Bildpropaganda der „Weißen“ und „Roten“ im Bürgerkrieg sehr große Ähnlichkeiten aufwies – kämpfte der rote Ritter gegen den weißen Drachen, so auf der anderen Seite der weiße Ritter gegen den roten Drachen.⁷⁴ Gleichzeitig wurden aber auch neue Motive, Neuund Umdeutungen eingeführt, die prägend für die rote Bildpropaganda waren – erinnert sei exemplarisch an den roten Stern. Manfred Hildermeier stellte in diesem Zusammenhang fest: „Jede Herrschaft legt sich Insignien, Symbole und Embleme zu, die nicht nur den Zweck der Hoheitsrepräsentation und Gehorsamserzwingung haben, sondern auch affektive Bindungen, Legitimität und Gefolgschaft erzeugen sollten. Desto eher mußte einem jungen und ungefestigten, revolutionären Staat daran gelegen sein, solche Zeichen zu kreieren.“⁷⁵ ⁷⁴

⁷⁵

Analog zu der Bildpropaganda der bol’ševiki bediente sich die weiße Propaganda unter dem Dach der „Osvedomitel’noe Agenstvo“ („Informationsagentur“), kurz OSVA G, ebenfalls bekannter Bildmotive. Vgl. hierzu etwa Nikolaus Katzer: Die weiße Bewegung in Russland. Herrschaftsbildung, praktische Politik und politische Programmatik im Bürgerkrieg, Köln, Weimar, Wien , S. –. So sind in der Bürgerkriegszeit dieselben Sujets sowohl von Seiten der „Roten“ als auch der „Weißen“ anzutreffen. Um gleichzeitig das wohl bekannteste Plakat der Weißen heranzuziehen, soll das Motiv des Heiligen Georgs im Kampf gegen den Drachen in zwei unterschiedlichen Versionen skizziert werden. Auf dem Plakat „Za edinuju Rossiju“ („Für das einige Russland“) kämpft ein weißer Ritter auf einem Schimmel mit seinem Schwert gegen den roten Drachen, der Moskau mit seinem gewaltigen Körper vollständig umrundet hat; unbekannter Künstler: „Za edinuju Rossiju“, o. O. . Das in den Plakaten der bol’ševiki beinahe schon allgegenwärtige Motiv der aufgehenden Sonne wird hier nicht nur in der Visualisierung aufgegriffen, sondern auch in dem darunter stehenden Text, in dem angekündigt wird, dass „in den Strahlen der aufgehenden Sonne“ der weiße Ritter zur Rettung Russlands erscheinen werde. Auf einem Plakat zum Jahrestag der Oktoberrevolution  findet sich der gleiche Kampf, nur unter anderen Vorzeichen: Auf diesem stößt der Rotarmist die Lanze in den Körper eines fünfköpfigen Drachens, dem bereits vier Köpfe (stellvertretend für Kolčak, Judenič, Denikin und Petljura) abgetrennt wurden – der letzte verbliebene ist mit Vrangel’ beschrieben; Boris V. Silkin: „Tri roki socijalnoi revoljucii (Tri goda social’noj revoljucii), Kiev . Ein weiteres Beispiel wäre das bereits angesprochene Motiv der Opferung einer Jungfrau – in einem Fall in der Personifikation Russlands, welche von Lenin am Altar von Karl Marx geopfert wird, bzw. im anderen Fall das Sinnbild für die Ukraine, welche vom polnischen Pan ans Kreuz geschlagen wird. Vgl. hierzu Unbekannter Künstler: „V’’ žertvu internacionalu“, o.O. u. J.; Viktor N. Deni: „Palači terzajut Ukrainu. Smert’ palačam!“, Moskau . Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. . Hier wird auch die Parallele zur fran-

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Die Darstellung der (Überwindung) der Rückständigkeit ist drittens in zahlreichen Plakaten der Revolutions- und Bürgerkriegszeit zu finden und bildet somit eines der zentralen Motive. Dabei wird die vorrangig illiterate Gesellschaft des ehemaligen Zarenreiches mit vielerlei Symbolen der alten Ordnung, der Macht und Wirkung der Religion, dem Einfluss des Alkohols und der schädlichen Wirkung des Kapitals sowie durch die Bedrohung durch in- und ausländische Truppen konfrontiert.⁷⁶ Implizit wird dadurch natürlich auch die eigene Fortschrittlichkeit hervorgehoben, erinnert sei an das visualisierte neue Frauenbild oder die Verbesserung hinsichtlich der Wohn- und Lebensbedingungen – z. B. durch die Elektrifizierung des Landes, die auf exemplarische Weise den technischen Aspekt in der Überwindung der Rückständigkeit verbunden mit dem versprochenen Fortschritt durch den Sieg der bol’ševiki in Revolution und Bürgerkrieg symbolisieren sollte.⁷⁷ Durch den Sieg der Rotarmisten im Bürgerkrieg und die flächendeckende Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile sollte – so versprach man – die Überwindung der Rückständigkeit umgesetzt werden und die Zukunft, symbolisiert durch die aufgehende Sonne, könne – so die Selbstinszenierung – beginnen.

⁷⁶

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zösischen Revolution sehr deutlich. Die Gemeinsamkeiten von französischer und russischer Revolution wird beispielsweise von Aleksej L. Naronickij (Hg.): Velikaja francuzskaja revoljucija i Rossija, Moskau ; Adolf Max Vogt, Russische und Französische Revolutions-Architektur, , . Zur Einführung des Marxismus und des Newtonismus auf die Bauweise, Köln  hervorgehoben. Der Rückgriff auf das französische Vorbild wurde auch in verschiedenen Plakaten visualisiert: Vgl. hierzu L. Radin: „Smelo, tovarišči, v nogu!“, o. O. ; Adolf I. Strachov: „Parižskaja kommuna slavnyj predvestnik Oktjabrja“, o. O. o. J. Dass die in den Propagandaplakaten inszenierte Überwindung der Rückständigkeit sich sehr deutlich von der Realität unterschied, ist wenig überraschend, aber im Fall des in der Entstehung begriffenen neuen Staates umso deutlicher. Selbiges gilt natürlich auch für den Umgang mit den dargestellten Gegnern während der Revolution bis hin zu den er Jahren, die zuerst visuell, dann physisch liquidiert wurden. Vgl. hierzu etwa Unbekannter Künstler: „Ėlektrifikacija i kontrrevoljucija“. Petrograd . Darin versuchen die Vertreter der alten Ordnung eine hell strahlende strombetriebene Lampe, die von einer überdimensionalen Hand gehalten wird, auszupusten, mit einem Blasebalg auszublasen, mit herangetragenem Wasser in Löscheimern oder auch einem Feuerwehrschlauch vergeblich zu „löschen“.

„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“ Das ländliche Amerika als Gradmesser russischer Rückständigkeit Katja Bruisch

Das Denken in Kategorien der Entwicklung und des Fortschritts zählt zu den wichtigsten Kennzeichen der Moderne. Mit dem wahrgenommenen Auseinanderfallen von Erfahrung und Erwartung seit der späten Aufklärung etablierte sich in der Geschichtsphilosophie die Idee von der Prozesshaftigkeit der Geschichte. Eng gekoppelt an diese neue Zeitwahrnehmung war die Vorstellung von der Höherwertigkeit der fortan als offen verstandenen Zukunft.¹ Zu Beginn des . Jahrhunderts mündeten emphatisches Zukunftsverständnis und Fortschrittsglaube in das Programm „Moderne“, einem Imperativ zur Neuordnung der Welt durch bewusstes gestalterisches Handeln in der Gegenwart. Die Dringlichkeit dieses Anliegens ergab sich aus der Wahrnehmung, man stehe unmittelbar am Beginn der neuen Zeit.² Die Konjunktur dieser Programmatik fiel zusammen mit dem Aufstieg der USA zur globalen politischen und ökonomischen Macht. Nach der Jahrhundertwende und verstärkt im Anschluss an den Ersten Weltkrieg wurden die Vereinigten Staaten in vielen Teilen der Welt zu einem mentalen Bezugssystem. Nicht mehr der Blick nach England, wie das in der Frühphase der Industrialisierung der Fall gewesen war, sondern der Blick auf die USA, so schien es, erlaubte nun den mentalen Vorgriff auf eine kommende Zeit. Die Vereinigten Staaten waren jedoch nicht Fluchtpunkt eines teleologischen Entwicklungspfads. Vielmehr verkörperten sie eine Zukunft, der durch entsprechendes Handeln in der Gegenwart näherzukommen war. Die ¹

²

Reinhart Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ders. (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main , S. –. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. , Stuttgart , S. –.

Katja Bruisch

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USA avancierten somit zum Modell für die Umsetzung des Projekts Moderne in seinen verschiedenen Dimensionen: im Städtebau, in der Infrastruktur, bei der Rationalisierung von Arbeitsabläufen oder der Etablierung einer Massenkonsumkultur.³ Auch im Russland des frühen . Jahrhunderts gingen modernes Fortschrittsdenken und Amerikanismus eine enge Verbindung ein. Ursprünglich vermittelt durch die Schriften der Aufklärer hatte der optimistische Zukunftsglaube der Moderne an der Wende zum . Jahrhundert bereits eine lange Tradition. Unter den Angehörigen der Eliten des Zarenreichs war die Vorstellung von der Machbarkeit der kommenden Zeit weit verbreitet. Wissen und Vernunft wurden als Vehikel zur Errichtung einer „besseren Zukunft“ verehrt.⁴ Obwohl sich die Zukunftsprojektionen russischer Eliten traditionell auf das westeuropäische Ausland bezogen,⁵ wurden die Vereinigten Staaten von Amerika in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts auch im Zarenreich zu einem immer wichtigeren Referenzpunkt. Zwar spielten antikapitalistische Stereotype eine entscheidende Rolle für das Selbstverständnis der gebildeten Eliten. Technikeuphorie und der Wunsch nach einer effizienten Organisation von Wirtschaft und Verwaltung machten die USA jedoch zum ideologieübergreifenden Fixpunkt zeitgenössischer Modernisierungsprogrammatik. Nach der Revolution evozierten selbst führende bol’ševiki den Mythos von der amerikanischen Effizienz, wenn sie die strahlende Zukunft des sowjetischen Russlands beschrieben. Zahlreiche Sowjetbürger erträumten sich in den er Jahren einen american way of life mit seiner Verheißung von Wohlstand und Konsum.⁶ ³







Die Anfänge des Amerikanismus und die Wende zur Amerikanisierung nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert Anselm Doering-Manteuffel: Amerikanisierung und Westernisierung, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, .., https:// docupedia.de/zg/Amerikanisierung_und_Westernisierung?oldid= [zuletzt aufgerufen am ..]. David L. Hoffmann: Cultivating the Masses. Modern State Practices and Soviet Socialism, –. Ithaca, NY/London ; Daniel Beer: Renovating Russia. The Human Sciences and the Fate of Liberal Modernity, –, Ithaca, NY . Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der Neueren Russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift  (), S. –. Die Etablierung eines pragmatischen Amerikabildes im Kontext von Wittes Industrialisierungspolitik beschreibt Hans Rogger: America in the Russian Mind – or Russian Discoveries of America, in: Pacific Historical Review  (), S. –, hier S. –; ders.: Amerikanizm and the Economic Development of Russia, in: Comparative Studies in Society and History  (), S. –. Zum sowjetischen Amerikanismus der er Jahre siehe Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau , München , S. – .

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„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“

Die Auseinandersetzung mit Amerika beschränkte sich in Russland nicht auf die stereotype Assoziierung des Landes mit Fabriken, Automobilen, Wolkenkratzern, Konsum oder Kino. Auch im zeitgenössischen russischen Agrardiskurs hinterließ das wachsende Interesse an den Vereinigten Staaten deutliche Spuren. Lange, bevor das Schriftstellerduo Il’f und Petrov in den er Jahren seine berühmte Dokumentation über das „Eingeschossige Amerika“ veröffentlichte,⁷ war die Neue Welt jenseits ihrer Metropolen in Russland auf Interesse gestoßen. Die Konjunktur der Agrarfrage in Russland und die ökonomische Bedeutung der USA auf dem Weltagrarmarkt rückten das Land in das Gesichtsfeld von Agrarexperten aus dem späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion. Neben den Ländern Westeuropas, die im Agrardiskurs als eine wichtige Vergleichsfolie dienten, zählte daher auch das ländliche Amerika zu den Regionen, an denen russische Experten die Entwicklung ihres Landes maßen. Zu Beginn des . Jahrhunderts unternahmen Angestellte des zarischen Landwirtschaftsministeriums Reisen nach Nordamerika, um Entwicklungen auf den Gebieten der Agrarwissenschaft und Agrartechnologie zu studieren oder an wissenschaftlichen Konferenzen teilzunehmen. Seit  besaß das Petersburger Agrarministerium sogar eine Außenstelle in den Vereinigten Staaten, deren Mitarbeiter die russische Zentralbehörde über die Landwirtschaft in den Trockengebieten der USA oder amerikanische Erfahrungen im Anbau von Futterpflanzen unterrichteten. Sie verfolgten die Tätigkeit der höchsten agrarpolitischen Instanz der USA, des Department of Agriculture, und organisierten die Einfuhr von Saatgut nach Russland.⁸ Zeitgleich richteten die ländlichen Selbstverwaltungsorgane (Sing.: zemstvo) einiger Gouvernements Vertretungen in den USA ein.⁹ Der Sturz der zarischen Regierung und die Machtübernahme der bol’ševiki im Jahr  taten diesen Traditionen keinen Abbruch. Obwohl die bol’ševiki ein Gegenprogramm zum Kapitalismus entwarfen und die Errichtung einer städtischen Moderne auf die Tagesordnung stellten, befand sich die amerikanische Landwirtschaft weiterhin im Wahrnehmungshorizont russischer Agrarexperten. In den er Jahren waren Wissenschaftler und Vertreter des bolschewistischen Apparats regelmäßig in den USA zu Gast. Im Auftrag oder mit expliziter Genehmigung des Volkskommissariats für Landwirtschaft ⁷

⁸ ⁹

Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos von Ilja Ilf in Schwarz-Weiß und Briefen aus Amerika. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger, Frankfurt am Main . Ol’ga Elina: Ot carskich sadov do sovetskich polej. Istorija sel’skochozjajstvennych opytnych učreždenij XVIII – -e gody XX veka, Bd. , Moskau , S. –. Ilya Gerasimov: Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization –, London , S. –.

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(Narkomzem) nahmen sie an Konferenzen teil, beschafften wissenschaftliche Literatur, verfolgten die Entwicklung der Agrartechnologie und suchten die agrarpolitischen Organe der US-amerikanischen Regierung auf. Unter den russischen Reisenden, die in den er Jahren die Vereinigten Staaten besuchten, befanden sich auch die Ökonomen Aleksandr V. Čajanov, Nikolaj D. Kondrat’ev und Nikolaj P. Makarov. Sie alle hatten sich bereits vor  intensiv mit Fragen der russischen Agrarentwicklung beschäftigt. Als leitende Mitglieder von Genossenschaftsverbänden und des Zusammenschlusses der lokalen Selbstverwaltungsorgane waren sie während des Ersten Weltkriegs in die staatliche Versorgungspolitik eingebunden worden. In den Monaten nach der Februarrevolution  zählten sie dann zu den wichtigsten Beratern und Mitarbeitern der agrar- und wirtschaftspolitischen Kommissionen der Provisorischen Regierung.¹⁰ Nach Amerika reisten die drei Ökonomen unabhängig voneinander. Makarov verließ Russland  in den Wirren des Bürgerkriegs, um sich, so lautete zumindest der offizielle Grund seiner Ausreise, ein Bild von der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten zu verschaffen.  schloss er sich vorrübergehend den russischen Emigrantengemeinden in Berlin und Prag an, bevor er  wieder nach Moskau zurückkehrte und eine Arbeit im Volkskommissariat für Landwirtschaft aufnahm.¹¹ Seine engen Bekannten, der Agrarökonom Čajanov und der für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie berühmt gewordene Ökonom Kondrat’ev, besuchten die USA in der ersten Hälfte der er Jahre im Rahmen von Dienstreisen, die sie als Mitarbeiter des Narkomzem unternahmen.¹² Alle drei Ökonomen haben ihre Eindrücke aus den USA verschriftlicht. Unter dem Titel Wie die amerikanischen Farmer ihre Wirtschaften organisierten veröffentlichte Makarov  in New York einen Abriss über die Organisationsprinzipien der ameri-

¹⁰

¹¹

¹²

Die kollektive Biographie dieser Expertenelite ist Gegenstand in Katja Bruisch: Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Köln/Weimar/Wien . Zu Makarovs Aufenthalt in den USA und Westeuropa siehe Marina Leonidovna Galas: Sud’ba i tvorčestvo russkich ėkonomistov-agrarnikov i obščestvenno-političeskich dejatelej A. N. Čelinceva i N. P. Makarova, Moskau , S.  f. Zur Rolle Čajanovs und Makarovs im Narkomzem in den Anfangsjahren der NĖP siehe Markus Wehner: Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik –. Köln/Weimar/Wien , S. –. Čajanovs Auslandsaufenthalt dauerte vom Februar  bis zum Herbst . Kondrat’ev war von Juli  bis Januar  unterwegs.

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„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“

kanischen Landwirtschaft.¹³ Čajanov und Kondrat’ev legten dem Narkomzem nach ihrer Rückkehr ausführliche Berichte über Dmitrievič ihre Reisen vor.¹⁴ Welche Maßstäbe bestimmten das Bild, das sich die Besucher aus dem revolutionären und sowjetischen Russland von den USA machten? Welche Fragen stellten sie an das Land, und welche Antworten fanden sie? Anhand der Reiseberichte der drei Ökonomen wird im Folgenden untersucht, welche Rolle dem modernen Entwicklungsdenken als einem von Zeitgenossen beanspruchten Deutungsrahmen zukam. Es ist inzwischen ein Gemeinplatz, dass die Beschäftigung mit dem Fremden immer auch eine Form der Selbstthematisierung ist. Reiseberichte zeugen nicht nur von den Bildern, die Besucher von einer fremden Kultur oder einem fremden Land entwerfen. Sie lassen auch Rückschlüsse auf das mentale Gepäck zu, das die Reisenden mit sich führen.¹⁵ Die Berichte Makarovs, Čajanovs und Kondrat’evs bildeten hier keine Ausnahme. Implizit war der Vergleich des ländlichen Amerikas mit dem ländlichen Russland ein Bestandteil aller ihrer Schilderungen. Bisweilen setzten die Ökonomen ihre Beobachtungen sogar explizit zu Entwicklungen in ihrem Herkunftsland in Bezug. Ihre Darstellungen lassen sich folglich nicht nur als ein Spiegel des zeitgenössischen Agrardiskurses in Russland ansehen. Sie können auch, und hierin besteht das Anliegen dieses Beitrags, dahingehend befragt werden, ob und mit welchem Anspruch Zeitgenossen auf die Kategorien der Fortschrittlichkeit und der Rückständigkeit zurückgriffen, wenn sie Differenzerfahrungen deuteten.

Russische Bauern und amerikanische Farmer: Die Semantik der Differenz Die Skizzen der drei Ökonomen bewegten sich innerhalb der Argumentationsund Interpretationsmuster des Diskurses über die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft, der sich im ausgehenden . Jahrhundert im Zarenreich entwickelt hatte und auch nach der Revolution von  prominent blieb. ¹³ ¹⁴

¹⁵

Nikolaj Pavlovič Makarov : Kak amerikanskie farmery organizovali svoe chozjajstvo, New York, NY . Vortrag Kondrat’evs über seine Auslandsreise [. Februar ], RGAĖ f. , op. , d. , ll. –; Bericht Kondrat’evs über seine Auslandsreise, RGAĖ f. , op. , d. , ll. –; Bericht Čajanovs über seine Auslandsreise [. Februar ], RGAĖ f. , op. , d. , ll. – ob. Gabriele Scheidegger: Das Eigene im Bild vom Anderen. Quellenkritische Überlegungen zur russisch-abendländischen Begegnung im . und . Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  (), S. –.

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Nach der Entdeckung der Bauern im Kontext der Reformen Alexanders II.¹⁶ hatte die Hungersnot der Jahre /, die mehrere Hunderttausend Menschenleben gefordert hatte, die Aufmerksamkeit gesellschaftlicher und politischer Elite auf die ländlichen Regionen des Russischen Reichs gelenkt. Die „Agrarfrage“, so der zeitgenössische Ausdruck für die vermeintlich chronische Krise der Landwirtschaft, zählte seither zu den in Öffentlichkeit und Politik des Landes am intensivsten diskutierten Themen. Es bestand Konsens darüber, dass die Modernisierung des ländlichen Russlands eines der dringendsten Probleme der Zeit darstellte. Fortan sollte die Entwicklung der Landwirtschaft nicht länger den Launen der Natur oder dem zweifelhaften Geschick der ländlichen Bevölkerung überlassen bleiben, sondern durch agrartechnische Innovationen, wissenschaftliche Kenntnisse und den Ausbau der Infrastruktur gesteuert werden. Auf diese Weise, so die optimistische Erwartung vieler Zeitgenossen, werde Russland den Anschluss an die Moderne finden.¹⁷ Nach der Machtübernahme durch die bol’ševiki blieb die Modernisierung des Dorfes ein zentraler Bestandteil der politischen Agenda: Die neuen Machthaber wollten die Landbevölkerung zivilisieren und die ländlichen Regionen in einen zentral gesteuerten sowjetischen Wirtschafts- und Herrschaftsraum integrieren.¹⁸ Bereits auf der Ebene der Semantik zeigte sich, dass die Traditionen des zeitgenössischen Agrardiskurses erheblichen Einfluss darauf hatten, wie die russischen Besucher das ländliche Amerika wahrnahmen. Makarov, Kondrat’ev und Čajanov hatten wenig übrig für die Arroganz und die Verachtung, mit der sich viele Vertreter der spätzarischen Bildungs- und Verwaltungseliten und führende Ideologen der bol’ševiki über die Bauern äußerten.¹⁹ Geprägt durch die Ideologie des narodničestvo standen die drei Ökonomen der ländlichen Bevölkerung Russlands mit erklärter Sympathie gegenüber. Sie glaubten, dass den Bauern eine Schlüsselrolle bei der Modernisierung der russischen Landwirtschaft zukam.²⁰ Dessen ungeachtet reproduzierten sie in ihren Reiseberichten ¹⁶

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Zur Repräsentation der Bauern im Diskurs russischer Eliten des späten . Jahrhunderts siehe Cathy A. Frierson: Peasant Icons. Representations of Rural People in Late Nineteenth-Century Russia, New York, NY u. a. . George Yaney: The Urge to Mobilize. Agrarian Reform in Russia, –, Urbana, IL u. a. ; Gerasimov, Modernism. James W. Heinzen: Inventing a Soviet Countryside. State Power and the Transformation of Rural Russia, –, Pittsburgh, PA . Vgl. etwa den berühmten Text des Schriftstellers Maksim Gor’kij, den dieser kurz nach der Revolution verfasste. Maxim Gorki: Vom russischen Bauern, in: Alexander Tschajanow: Reise ins Land der bäuerlichen Utopie. Herausgegeben von Krisztina Mänicke- Gyöngyösi, Frankfurt am Main , S. –. So leitete Makarov seine im Jahr  veröffentlichte Monographie über die bäuerliche

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„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“

den Topos von der Rückständigkeit russischer Bauern.²¹ Wenn sie sich in ihren Aufzeichnungen zu den landwirtschaftlichen Einzelproduzenten in den USA äußerten, nutzten die Wissenschaftler den englischen Begriff „Farmer“, den sie als fermer bzw. farmer in das Russische übernahmen. Hierbei folgten sie wohl weniger dem Wunsch, ihren russischen Lesern die sprachlichen Konventionen des amerikanischen Agrardiskurses nahezubringen. Der Rückgriff auf das englische Wort „Farmer“ war vielmehr eine explizite Entscheidung gegen den russischen Begriff des „Bauern“ (krest’janin), wie er sich im russischen Agrardiskurs des beginnenden . Jahrhunderts etabliert hatte²²: Der Begriff des Bauern bezog sich hier auf die in Familienwirtschaften lebende und wirtschaftende Landbevölkerung, die in vielen Regionen des Russischen Reichs einen wesentlichen Teil ihrer Produktion für den Eigenbedarf nutzte. Zeitgenössische Agrarwissenschaftler und Ökonomen, die sich selbst als Kritiker des Kapitalismus verstanden und in der bäuerlichen Landwirtschaft die Zukunft Russlands sahen, unterschieden die Bauernwirtschaften daher analytisch von profitorientierten Agrarunternehmen.²³ Hinter der sprachlichen stand eine typologische Differenzierung; für die Reisenden aus dem sowjetischen Russland waren Bauern und Farmer grundverschieden. Kondrat’ev sah im amerikanischen Farmer einen „Unternehmer im wahren Sinne des Wortes, kein[en] Großunternehmer, aber ein[en] Unternehmer, der wie jeder andere die Vor- und Nachteile der einen oder der anderen Arbeit abwägt.“²⁴ Während Kondrat’ev die Gegenüberstellung von russischen Bauern und amerikanischen Farmern implizit vollzog, brachte Makarov offen zur Sprache, dass der russische Erfahrungshorizont seine Wahrnehmung der Landwirtschaft in den USA bestimmte. Nach Auffassung des Ökonomen zeichneten sich russischen Bauern dadurch aus, dass sie alle ihre wirtschaftlichen Entscheidungen auf die Bedürfnisse der Bauernfamilie abstimmten: „Jeden Früh-

²¹

²²

²³ ²⁴

Landwirtschaft in Russland mit den Worten ein, er habe sich mit seinen Forschungen „[…] jenen Stimmen anschließen [wollen], die sagten, dass die Bauernwirtschaft nicht nur fortschrittsfähig ist, sondern tatsächlich Fortschritte macht.“ N. P. Makarov: Krest’janskoe chozjajstvo i ego ėvoljucija, Moskau , S. V. Zur Geschichte und Prominenz dieses Topos im späten Zarenreich siehe Yanni Kotsonis: Making Peasants Backward. Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, –, Houndmills, Basingstoke u. a. . Makarov machte dies ganz explizit: „ … wir werden die Bezeichnung Farmwirtschaft beibehalten, um sie leichter von unserer Bauernwirtschaft zu unterscheiden.“ Makarov, Farmery, S. . Für eine der frühesten ökonomischen Definitionen der Bauern siehe V. A. Kosinskij: K agrarnomu voprosu, Bd. : Krest’janskoe i pomeščič’e chozjajstvo, Odessa . RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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ling und jeden Herbst zählt der Wirt, wie viele ‚hungrige Mäuler‘ und wie viele arbeitende Hände er in seiner Familie hat …“²⁵ In Amerika verhalte sich dies jedoch ganz anders. Zu Gast bei einem amerikanischen Farmer bemerkte Makarov, dass Familie und Wirtschaft, in der russischen Landwirtschaft seiner Meinung nach zwei untrennbar miteinander verbundene Größen, nicht automatisch kongruent waren: Als der Farmer in größter Eile die Äpfel für den Markt sortierte, seien Frau und Tochter mit aller Selbstverständlichkeit in das Automobil gestiegen und zum Baden gefahren.²⁶ Hinter den Unterschieden zwischen russischen Bauern und amerikanischen Farmern stand nach Auffassung der russischen Besucher die unterschiedliche Bedeutung des Marktes für das ökonomische Kalkül der Landwirte. Čajanov erkannte in der amerikanischen Farm einen Wirtschaftstypus, der sich wesentlich von der „werktätigen Bauernwirtschaft“ (trudovoe krest’janskoe chozjajstvo) unterschied, mit der er sich bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt hatte. Während der Markt in seinem Modell der Bauernfamilie kaum eine Rolle spielte, sondern vielmehr das Verhältnis von „Arbeitern“ und „Essern“ als entscheidungsrelevanter Faktor galt,²⁷ machte Čajanov in der Spezialisierung und der Marktorientierung (rynočnost’ ) der Produktion die wichtigsten Kennzeichen einer Farm aus.²⁸ Aus Makarovs Sicht führte die Rolle des Marktes in der amerikanischen Landwirtschaft dazu, dass diese ein Gewerbe wie jedes andere war: „Die Farm (farmerskoe chozjajstvo) ist in erster Linie ein Unternehmen: ein Unternehmen, in dem Kapital eingesetzt wird, ein Unternehmen, das einen Gewinn erwirtschaften soll. Wenn sie dies nicht tut, wird sie aufgegeben, so wie Fabriken oder Handelsunternehmen geschlossen werden, wenn sie keinen entsprechenden Ertrag erbracht haben.“²⁹ Für den amerikanischen Farmer, brachte Kondrat’ev diesen Gedanken auf den Punkt, „ist entscheidend, wie viel er bekommt, und nicht, wie viel er produziert.“³⁰ Die Gegenüberstellung von Bauern- und Farmwirtschaften erschöpfte sich nicht in der Konstatierung von Differenz. Vielmehr war dem Vergleich die Zuordnung beider Wirtschaftsformen zu verschiedenen Niveaus von Fortschrittlichkeit inhärent. In den Darstellungen der russischen Ökonomen verkörperte die Farm eine ökonomische Kultur, die entwicklungsfördernd wirkte. ²⁵ ²⁶ ²⁷ ²⁸ ²⁹ ³⁰

Makarov, Farmery, S. . Ebda., S. . Vgl. Alexander Tschajanow: Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau, Berlin . RGAĖ f.  op. , d. , l.  ob. Makarov, Farmery, S. . RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“

Amerikanische Landwirte verhielten sich nach Auffassung Kondrat’evs „viel weniger konservativ als jeder Bauer Europas.“³¹ Als Indikator dafür wertete er die technische und organisatorische Flexibilität vieler Farmer: „Die Amerikaner klammern sich nicht an Traditionen. Wenn eine Wirtschaft nicht einträglich ist, geben sie sie auf oder verändern sie.“³² Makarov sah in der wirtschaftlichen Flexibilität amerikanischer Landwirte einen grundlegenden Gegensatz zu den im Vergleich deutlich veränderungsresistenteren Organisationsformen der russischen Landwirtschaft: „ […] sie [die Amerikaner – KB] schauen auf die Farm wie Kaufleute [kommerčeski] […] und hierin besteht der große Unterschied zur russischen Bauernwirtschaft. Die Bauern halten bis zum Äußersten am Boden fest, selbst wenn es manchmal nicht vorteilhaft ist, die Wirtschaft weiter zu führen.“³³ Die betriebswirtschaftliche Ratio, die die Farmer aus der Sicht der russischen Reisenden so augenscheinlich von den Bauern unterschied, löste allerdings nicht nur positive Reaktionen aus. Čajanov wies darauf hin, dass die Kommerzialisierung der amerikanischen Landwirtschaft durchaus problematische Folgen haben konnte. Sein Bericht knüpfte an die antikapitalistischen Stereotype der vorrevolutionären intelligencija an, die den russischen Agrardiskurs in Weltkrieg und Revolution dominiert hatten und die die bol’ševiki anschließend in die eigene Rhetorik integriert hatten.³⁴ Nach Einschätzung Čajanovs hatten steigende Lebensmittelpreise und die wachsende Nachfrage nach Agrarprodukten während des Ersten Weltkriegs in den USA eine Welle der Bodenspekulation ausgelöst: Große Banken hätten den Boden aufgekauft. Beim Erwerb von Land werde ein Farmer daher zu einem „Knecht kapitalistischer Organisationen“ (batrak kapitalističeskich organizacij). In seiner Auseinandersetzung mit dem ländlichen Amerika entwickelte der Ökonom die kapitalismuskritischen Klischees des russischen Agrardiskurses zu einer frühen Form der Wachstumskritik weiter. Die unternehmerische Mentalität der Farmer deutete Čajanov als Folge einer ökonomischen Zwangslage, die auch gesamtwirtschaftlich ihren Preis hatte: In Amerika gebe es keinen normalen Fruchtwechsel, da hier ohne ³¹ ³² ³³ ³⁴

Ebda., l. . Ebda., l. . Makarov, Farmery, S. . Zum antikommerziellen Diskurs während des Ersten Weltkriegs siehe Peter Holquist: Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, –, Cambridge u. a. , S. –. Die Inanspruchnahme antikapitalistischer Klischees als parteiübergreifende politische Legitimationsstrategie während der Revolution untersucht Boris Kolonitskii: Antibourgeois Propaganda and Anti-“Burzhui” Consciousness in , in: Russian Review  (), S. –.

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jede Rücksicht auf die Bodenfruchtbarkeit Raubbau am Land (chiščničeskaja utilizacija vsej zemli) betrieben werde.³⁵

Wissen, Technologie und Ökonomie: Bedingungen von Entwicklung und Fortschritt Makarov, Čajanov und Kondrat’ev schrieben unter dem Eindruck des radikalen Produktionsrückgangs in den Jahren von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg, von denen sich die russische Landwirtschaft in den er Jahren nur zögerlich erholte. Aus ihrer Perspektive waren die nordamerikanischen Landwirte nicht nur auffallend produktiv, sondern auch überaus erfolgreich bei der Vermarktung ihrer Erzeugnisse: „Die amerikanischen Farmer“, rechnete Kondrat’ev seinen Kollegen im Narkomzem vor, „machen nur   der gesamten landwirtschaftlichen Bevölkerung auf der Welt aus. Und diese   produzieren   des weltweit erzeugten Mais, ca.   der Baumwolle,   des Tabaks,   des gesamten Getreides, ungefähr   des Weizens […], d. h. einen deutlich höheren Anteil, als sie selber ausmachen.“³⁶ Čajanov erklärte im Anschluss an seine Reise, er wäre am liebsten vor Scham in den Boden versunken, als er bei seiner Rückkehr aus den USA bemerkte, dass man im Danziger Hafen fünf Tage wartete, weil dort eine Lieferung von  Tausend Pud Weizen aus New York ausgeladen wurde.³⁷ Der Agrarökonom, der sich nur schwer damit abfinden wollte, dass das Getreide aus dem entfernten Amerika und nicht aus dem benachbarten Russland stammte, schlug daher vor, den Außenhandel Sowjetrusslands neu zu organisieren. Ging dieser Erfolg der amerikanischen Landwirtschaft auf den Farmer zurück, dem die Besucher aus dem sowjetischen Russland in ihren Berichten so viel Aufmerksamkeit schenkten? Kondrat’ev war der Überzeugung, dass die Mentalität amerikanischer Agrarproduzenten – ihr betriebswirtschaftliches Kalkül und ihre Neigung zu technischen Innovationen – zwar ein Kennzeichen der amerikanischen Landwirtschaft war, sie die hohen landwirtschaftlichen Produktivitätsraten in den USA jedoch nicht erklärte. Der Farmer sei „nicht von Natur aus“ (ne ot prirody) weniger konservativ als Landwirte in anderen Ländern; bereits in der zweiten Generation verhielten sich Einwanderer in den USA nicht anders als die Amerikaner. Der Typus des Farmers habe sich vielmehr „unter dem Einfluss objektiver Bedingungen“ herausgebildet.³⁸ Makarov leitete seine Darstellung mit dem Hinweis ³⁵ ³⁶ ³⁷ ³⁸

RGAĖ f. , op. , d. , l.  ob. RGAĖ f. , op. , d. , l. . RGAĖ f. , op. , d. , l. . RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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ein, „man [dürfe] nicht vergessen, dass die amerikanischen Farmer bestimmte Voraussetzungen hatten und das russische Dorf ganz andere.“³⁹ Kulturelle Unterschiede waren aus Sicht des Ökonomen folglich nicht ursächlich für die relative Rückständigkeit der russischen bzw. die relative Fortschrittlichkeit der amerikanischen Landwirtschaft. An erster Stelle der „objektiven Bedingungen“ amerikanischer Agrarentwicklung stand nach Auffassung der russischen Agrarexperten die makroökonomische Lage der USA. Makarov erkannte in der dynamischen Entwicklung der Infrastruktur, des Binnenhandels und der städtischen Absatzmärkte Faktoren, die sich zum einen günstig auf die wirtschaftliche Situation der Farmwirtschaften auswirkten und zum anderen die Abwanderung eines Teils der ländlichen Bevölkerung in die Städte erlaubten.⁴⁰ Auch Kondrat’ev und Čajanov schenkten dem sektoralen Wandel in den USA große Beachtung. Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft in den USA war rückläufig. Zugleich veränderte sich ihre Ausrichtung: Angesichts landesweit ansteigender Löhne gingen Agrarproduzenten vermehrt zur Herstellung von Produkten höherer Verarbeitungsstufen für den Binnenmarkt über und zogen sich aus der Herstellung von landwirtschaftlichen Exportgütern zurück. Aus der Sicht der beiden russischen Ökonomen betrafen diese Entwicklungen nicht nur die Vereinigten Staaten. Sie waren vielmehr zuversichtlich, dass sich die abnehmende Bedeutung der USA auf dem Weltagrarmarkt als Stimulus für die landwirtschaftliche Entwicklung in ihrem eigenen Land erweisen könnte: Sowjetrussland eröffne sich nun die Perspektive, die freiwerdenden Märkte zu besetzen und, so der implizite Gedanke, durch eine Ausweitung der landwirtschaftlichen Ausfuhr die vergleichsweise schwach entwickelte Binnennachfrage nach Agrargütern zu kompensieren.⁴¹ Eine indirekte Folge der wirtschaftlichen Dynamik in den USA erkannten die Reisenden in der weiten Verbreitung von innovativen Gerätschaften, Hilfsmitteln und Verfahren zur Vermittlung von agrarwissenschaftlichem Wissen. Makarov bemerkte mit Erstaunen, dass in Nordamerika eine ganze Industrie existierte, die die Nachfrage der ländlichen Bevölkerung bediente: Pflüge, Eggen, Tore, mit denen die Höfe abgeschlossen, oder Zäune, mit denen Felder markiert wurden, ja selbst die Kleidungsstücke der Farmer stammten häufig aus der Fabrikfertigung. Bemerkenswert fand er die leichte Beschaffbarkeit dieser

³⁹ ⁴⁰ ⁴¹

Makarov, Farmery, S. . Ebda., S. –. RGAĖ f. , op. , d. , ll. –.; RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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Güter; viele von ihnen könne man mit einer einfachen Postkarte bestellen.⁴² Bewundernd nahmen die Besucher aus Russland zur Kenntnis, dass die Entwicklung der Industrie die Maschinisierung einfacher landwirtschaftlicher Arbeitsgänge nach sich zog. Lebhaft schilderte Kondrat’ev seinen Moskauer Kollegen das Funktionieren einer mechanischen Kuhtränke: „Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken (kak avtomatičeski p’jut korovy): Ein hervorragender Stand, eine Tülle. Die Kuh stößt mit der Schnauze an die Tülle, und das Wasser fließt. Sobald die Kuh die Schnauze anhebt, wird der Wasserfluss unterbrochen.“⁴³ Čajanov registrierte während seines Besuchs auf einer Experimentierfarm, dass selbst die Filmtechnologie zur Modernisierung der Landwirtschaft beitrug. Die Vorführung eines für Landwirte konzipierten Lehrfilms gehörte zu einer der eindrücklichsten Reiseerfahrungen des Ökonomen: „Ich habe gesehen, wie eine Wurzel wächst.“⁴⁴ Dass das günstige gesamtwirtschaftliche Umfeld tatsächlich Wirkung zeigte, führten die Besucher auf die amerikanische Agrarpolitik zurück. Besonderen Eindruck hinterließ der hohe Stellenwert, der der Agrarwissenschaft und ihren sozial- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen im Landwirtschaftsministerium beigemessen wurde. Mit unverdecktem Neid bemerkte Kondrat’ev, in der Mitte der er Jahre einer der angesehensten Experten des Narkomzem, dass das Department of Agriculture kaum mit administrativen Aufgaben betraut war, so dass sich dessen Mitarbeiter vorrangig der wissenschaftlichen Politikberatung widmen konnten: „Das ist ein mächtiger wissenschaftlich-praktischer Stab, von dem alle führenden Ideen im Bereich der Agrarentwicklung ausgehen.“⁴⁵ Lobend äußerte sich der Ökonom auch darüber, dass das US-Agrarministerium die alleinige Verantwortung für die Erstellung der Agrarstatistik trug. Diese sei daher in einem Ausmaß kohärent und zuverlässig, wie er das sonst in keinem anderen Land gesehen habe.⁴⁶ Čajanov war beeindruckt davon, wie informiert seine amerikanischen Kollegen waren: Die Russlandabteilung des Außenhandelsministeriums besitze eine umfangreiche Sammlung statistischer, geographischer und ökonomischer Materialien über das sowjetische Russland. Im Agrarministerium kenne man selbst die jüngsten Publikationen der Zentralen Statistikbehörde der RSFSR.⁴⁷ ⁴² ⁴³ ⁴⁴ ⁴⁵ ⁴⁶ ⁴⁷

Makarov, Farmery, S. . Die gleiche Beobachtung machten in den er Jahren die Schriftsteller Il’f und Petrov. Vgl. Ilf/Petrow: Eingeschossiges Amerika, Bd. , S.  f. RGAĖ f. , op. , d. , l. . RGAĖ f. , op. , d. , l. . RGAĖ f. , op. , d. , l. . Ebda., l. . RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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Mit besonderer Anerkennung registrierten die aus Russland stammenden Agrarexperten, dass die Maßnahmen zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und zur Implementierung moderner Technologien nicht allein von den landwirtschaftlichen Zentralorganen der Regierung ausgingen. Die amerikanische Agrarpolitik überzeugte durch den geringen Grad ihrer Hierarchisierung: „Hier gibt es keine zentrale Tätigkeit im großen Maßstab, sondern nur das volle Vertrauen in die Regionen [polnoe doverie k mestam] und die Gewinnung der lokalen Farmer für die eigene Tätigkeit.“⁴⁸ Die Mobilisierung der Farmer für die Modernisierung der Landwirtschaft ging nach Auffassung der russischen Besucher auf die Kooperation von staatlichen Behörden, Wissenschaftlern und den Interessenverbänden der Farmer zurück.⁴⁹ Wie Čajanov lobend feststellte, verfügten die Landwirte über ein großes Maß an Eigenständigkeit; die Agronomen traten ihnen gegenüber nicht wie Missionare, sondern wie Ratgeber auf: „Wenn man sich an eine konkrete agronomische Organisation der unteren Ebene wendet, sieht man, dass der Agronom nichts organisiert, sondern nur hilft.“⁵⁰ Hinter dieser Einschätzung stand das Ideal der „Sozialagronomie“, eines von Agrarexperten im späten Zarenreich entwickelten Programms zur Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse im Rahmen einer engen Kooperation von Bauern und Agronomen,⁵¹ dessen Umsetzung vor allem von den ländlichen Selbstverwaltungsorganen, Vereinen und der Genossenschaftsbewegung vorangetrieben worden war.⁵² Aus der Sicht der russischen Ökonomen war das Zusammenwirken öffentlicher und privater Initiativen ein erfolgreiches Instrument zur Annäherung von Wissenschaft und landwirtschaftlicher Praxis. Kondrat’ev berief sich in seinem Bericht auf die Studie eines amerikanischen Agrarexperten, der zufolge es gelinge, im Durchschnitt –  der Landwirte eines Gebiets von den Vorschlägen der Agronomen zu überzeugen.⁵³ Makarov unterstrich das hohe Ansehen wissenschaftlicher Agrarexpertise unter den Farmern. Auch in diesem Zusammenhang zog er einen direkten Vergleich zur Situation in seinem Heimatland: Der russische Bauer verstehe zwar einiges von der Natur, er beobachte viel ⁴⁸ ⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²

⁵³

Ebda., l. . RGAĖ f. , op. , d. , l.  f. RGAĖ f. , op. , d. , l. . Vgl. A. V. Čajanov: Osnovnye idei i metody raboty Obščestvennoj Agronomii, Moskau . Die umfassendste Darstellung des Versuchs einer landwirtschaftlichen Modernisierung im Rahmen nichtstaatlicher Organisationen, die die Bauern als Akteure ernstnahm, stammt von Gerasimov, Modernism. RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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und nutze den reichen Erfahrungsschatz seiner Vorfahren. Die moderne Landwirtschaft erfordere jedoch Kenntnisse der Chemie und der Bodenkunde. Und dies sei in Amerika bereits allgemein bekannt: Die Farmer könnten lesen und schreiben. In ihren Häusern stoße man allenthalben auf landwirtschaftliche Bücher und Zeitschriften. Und wenn ein amerikanischer Landwirt nicht selbst mit den nötigen Kenntnissen aufwarten könnte, wandte er sich ratsuchend an einen Spezialisten.⁵⁴ Zu einer vergleichbaren Einschätzung kam Čajanov: „Von einem Farmer wird man nie zu hören bekommen, dass er die Versuchsstation nicht braucht. Jeder Farmer sagt hier, dass die Versuchsstation wichtig ist: ‚Sie [die Versuchsstation – KB] ist unser, und wir können immer einfordern, dass man dort die Fragen klärt, die uns das Leben aufgibt.‘“⁵⁵

Das ländliche Amerika: Russlands verlorene Zukunft Die Berichte Makarovs, Čajanovs und Kondrat’evs über die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten sind symptomatisch für die Bedeutung des modernen Entwicklungs- und Fortschrittsdenkens wie auch des Glaubens an der Gestaltbarkeit der Welt im Russland des frühen . Jahrhunderts. Als typische Vertreter der intellektuellen Eliten ihres Landes waren Kondrat’ev, Makarov und Čajanov Teil eines Diskurses über die Moderne, der um das Verhältnis Russlands zu den als höher entwickelt geltenden Staaten Westeuropas und Amerikas kreiste.⁵⁶ Ihre Aufzeichnungen sind ein Zeugnis dessen, dass sich der Glaube an die Machbarkeit der Zukunft auch im späten Zarenreich und der frühen Sowjetunion mit einer ausgeprägten Bewunderung für die Vereinigten Staaten verband. Zugleich zeigen sie, dass sich die Beschäftigung mit den USA in Russland nicht auf die augenscheinlichsten Manifestationen der Moderne – die Automobilindustrie, die massenhafte Produktion standardisierter Konsumartikel, die Medien- und Filmindustrie oder die Skylines amerikanischer Großstädte – beschränkte: Die Konjunktur der „Agrarfrage“ in der öffentlichen Wahrnehmung führte dazu, dass sich Zeitgenossen aus Russland gerade das ländliche Amerika als Referenzsystem aneigneten. Ihre Auseinandersetzung mit den USA verlief jedoch entlang der thematischen Linien des klassischen Amerikanismus: Auch in den Darstellungen der Agrarexperten zählten Rationalität, Effizienz, ⁵⁴ ⁵⁵ ⁵⁶

Makarov, Farmery, S. –. RGAĖ f. , op. , d. , l.  f. Yanni Kotsonis: Introduction. A Modern Paradox – Subject and Citizen in Nineteenthand Twentieth Century Russia, in: David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills, Basingstoke/hLondon , S. .

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Technisierung, Spezialisierung und der hohe Stellenwert der Wissenschaften zu den wichtigsten Merkmalen der USA. Unverkennbar beinhaltete die Beschäftigung der drei Ökonomen mit Agrarentwicklung und Agrarpolitik in den USA eine Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Land. Durch den implizit oder explizit vollzogenen Vergleich machten sie das ländliche Amerika zu einem Maßstab, mit dessen Hilfe sie Russland auf einer übergeordneten Skala historischer Entwicklung einordneten: Indem sie die Fortschrittlichkeit der amerikanischen Landwirtschaft betonten, konstatierten sie die relative Rückständigkeit der russischen. Das ländliche Amerika fungierte als Gradmesser russischer Rückständigkeit. Der Topos der Rückständigkeit diente den Ökonomen jedoch nicht zur kulturellen Selbstverständigung oder zur eigenen Distinktion von der ländlichen Bevölkerung ihres Herkunftslandes.⁵⁷ Dass sie in der Mentalität der Landwirte keinen ausschlaggebenden Faktor von Entwicklung und Fortschritt ausmachten, zeigte nicht nur Kondrat’evs Hinweis darauf, dass die Farmer „nicht von Natur“ aus fortschrittsorientiert seien, sondern auch die differenzierte Auseinandersetzung der Ökonomen mit den technologischen, wirtschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der US-amerikanischen Entwicklung. Rückständigkeit war in ihren Texten folglich eine unhinterfragte Kategorie zur Thematisierung von Unterschieden. Ihre selbstverständliche Inanspruchnahme ging auf die feste Verankerung des neuzeitlichen Fortschrittsdenkens im Elitendiskurs des Zarenreichs und den weit verbreiteten Glauben an die entwicklungsfördernde Wirkung von Wissenschaft, Märkten und Technologie zurück. Die Ökonomen aus dem sowjetischen Russland glaubten an die Möglichkeit zur Gestaltung der Welt durch menschliches Handeln. Ihre Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten war daher nicht nur analytischer, sondern auch programmatischer Natur. Die Berichte Kondrat’evs, Makarovs und Čajanovs zeichneten die Farmwirtschaft als die große Schwester der Bauernwirtschaft: Diese repräsentierte die Vision einer Verbindung aus ökonomischer Rationalität, landwirtschaftlichem Fortschritt und unternehmerischer Eigenständigkeit, für welche die Ökonomen gemeinsam mit Agrarwissenschaftlern, Hochschullehrern, Genossenschaftsaktivisten und zemstvo-Aktivisten in der späten Zarenzeit geworben hatten. In ihrer Darstellung wurde der Verweis auf die Fortschrittlichkeit der Farm gleichsam zu einer retrospektiven Rechtfertigung des vorrevolutionären Programms zur Modernisierung der bäuerli⁵⁷

Nach Auffassung Kotsonis’ diente der Diskurs über die Rückständigkeit der Bauern den russischen Intellektuellen im frühen . Jahrhundert vornehmlich der kulturellen Selbstverständigung. Kotsonis, Peasants.

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chen Landwirtschaft in Russland. Zugleich stand die Farm sinnbildlich für die Vorbildrolle des ländlichen Amerikas. Zwar könne man, so Makarov in der Einleitung seiner Darstellung, die Farmwirtschaft nicht einfach auf Russland übertragen; „aber entlehnen (vzaimstvovat’ ) und etwas über die Organisation der Wirtschaft in einem anderen Land lernen, dass [könne] man nicht nur, das [müsse] man auch.“⁵⁸ Dass die russischen Besucher im ländlichen Amerika ein Modell für das ländliche Russland ausmachten, klang auch aus ihren begeisterten Äußerungen über die Agrarpolitik und die hohe Wertschätzung wissenschaftlicher Expertise in den USA. Makarov, Čajanov und Kondrat’ev träumten von einer Verwissenschaftlichung von Agrarpolitik und landwirtschaftlicher Praxis. Ihrer Ansicht nach würde die Modernisierung der russischen Landwirtschaft nur dann erfolgreich sein, wenn Wirtschafts- und Agrarspezialisten als Experten agierten und die agrarpolitische Entscheidungsfindung beeinflussten. Zugleich sollten Agronomen in einen Dialog mit den Agrarproduzenten treten, um mit diesen gemeinsam an der Implementierung innovativer Technologien und Anbauverfahren zu arbeiten. Wenn Čajanov anmerkte, in den USA sei „anders als bei uns“, d. h. im sowjetischen Russland, nichts von der „Schlamperei“ (razgil’djajstvo) und der „Undiszipliniertheit“ (raschljabannost’ )⁵⁹ in Wissenschaft und Bürokratie zu spüren, so zeigte er damit an, dass man hinter dem Anspruch einer effektiven Organisation der Agrarpolitik in Russland aus seiner Sicht weit zurückstand. In den USA fanden die drei Ökonomen technologische, organisatorische und institutionelle Arrangements, die sich ihrer Auffassung nach für die Modernisierung der russischen Landwirtschaft fruchtbar machen ließen. Das ländliche Amerika verkörperte scheinbar die ideale Verbindung aus wissenschaftlicher Agrarpolitik, technologischem Fortschritt und regionaler und unternehmerischer Eigenständigkeit, deren Verwirklichung seit dem Beginn des Jahrhunderts ein zentrales Anliegen ihrer professionellen Agenda gewesen war. Für Kondrat’ev waren die Parallelen zwischen dem amerikanischen System und den Traditionen der Sozialagronomie im vorrevolutionären Russland so evident, dass er die Überlegung anstellte, die russische zemstvo-Agronomie könne bei der Etablierung agronomischer Strukturen in Amerika Pate gestanden haben: Nach dem Besuch eines amerikanischen Agrarexperten im Zarenreich zu Beginn des Jahrhunderts sei die Idee, lokalen Selbstverwaltungen die Fürsorge für die Agronomie anzutragen, in Amerika übernommen und weiterentwi⁵⁸ ⁵⁹

Makarov: Farmery, S. . RGAĖ f. , op. , d. , l. .

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„Ich habe gesehen, wie Kühe automatisch trinken“

ckelt worden.⁶⁰ Ihren Aufenthalt in den USA erlebten Čajanov, Makarov und Kondrat’ev darum möglicherweise wie eine Begegnung mit der Zukunft – einer Zukunft, an deren Schwelle sie sich gewähnt hatten, die aber angesichts der Abschaffung der ländlichen Selbstverwaltung sowie der Verstaatlichung des Genossenschaftswesens durch die bol’ševiki zumindest in Gestalt einer Kooperation von Staat und Gesellschaft an die Vergangenheit verloren war.

⁶⁰

RGAĖ f. , op. , d. , l. .

Nachholende Modernisierung oder eigener Weg? Das Automobil in Russland und in der Sowjetunion Dietmar Neutatz

Rückständigkeit? Die Geschichte des Automobils war lange Zeit eine Domäne technikbegeisterter Hobbyhistoriker. Sie konzentrierte sich auf eine Chronologie der Produktion und die akribische technische Beschreibung von Oldtimern. Die akademische Geschichtsforschung begann sich erst in den er Jahren für das Automobil zu interessieren. Nun gerieten Aspekte in den Blick, die weit über das rein Technische hinaus von Bedeutung sind: Es konnte für einige Länder West- und Mitteleuropas sowie für die USA gezeigt werden, unter welchen Umständen sich das neue Verkehrsmittel durchsetzte, wie es wahrgenommen wurde, welchen Symbolwert es bald verkörperte, wie es sich auf den Alltag und das Verhalten der Menschen auswirkte und welchen Stellenwert es bei der Entfaltung der industriellen Massenkultur einnahm.¹ Für Russland und die Sowjetunion hat sich die diesbezügliche Forschung erst seit wenigen Jahren zu entfalten begonnen, obwohl gerade hier eine enge Wechselbeziehung zwischen den jeweiligen Entwicklungskonzepten der Gesellschaft bestand, die stark von den großen politischen Zäsuren beeinflusst war. Die Geschichte der Motorisierung Russlands und der Sowjetunion soll im Folgenden unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Russland und dem „Westen“ betrachtet werden. Die verkehrstechnische Durchdringung der ¹

Vgl. Christoph Maria Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils –. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien/Köln/Weimar , S. –; Barbara Haubner: Nervenkitzel und Freizeitvergnügen. Automobilismus in Deutschland –, Göttingen , S. ; Barbara Schmucki: Automobilisierung. Neuere Forschungen zur Motorisierung, in: Archiv für Sozialgeschichte  (), S. –, hier S. ; Thomas Kühne: Massenmotorisierung und Verkehrspolitik im . Jahrhundert. Technikgeschichte als politische Sozial- und Kulturgeschichte, in: Neue Politische Literatur  (), S. –, hier S. –.

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

Weiten des russländischen Raumes ist bis heute ein Problem. Die „Wegelosigkeit“ während der Zeit der Schneeschmelze im Frühjahr und der Regenfälle im Herbst kennzeichnete bis weit ins . Jahrhundert hinein große Teile des Landes und ist bis heute nicht überall überwunden.² Sie wird häufig als Teil des Defizitsyndroms betrachtet, das die „Rückständigkeit“ Russlands beschreibt und für Einheimische wie Reisende aus dem Ausland buchstäblich „erfahrbar“ machte. Die Geschichte des Automobils ist in diesem Kontext von besonderem Interesse, wird das Automobil doch als eine der Leitinnovationen der modernen Industriegesellschaft und als das Signum des . Jahrhunderts betrachtet. Es gilt also die Frage zu klären, wie sich die Geschichte des Automobils in Russland und in der Sowjetunion im internationalen Kontext darstellt: Ist sie eine Geschichte von „Rückständigkeit“ und nachholender Modernisierung oder steht sie vielmehr im Sinne der „multiple modernities“ für einen alternativen Weg in die Moderne?

Die Anfänge der Motorisierung im Zarenreich In West- und Mitteleuropa war das Automobil an der Wende vom . zum . Jahrhundert vorwiegend ein Luxus- und Sportobjekt, das Autofahren ein Freizeitvergnügen für Begüterte und damit auch ein soziales Distinktionsmittel. Das Automobil verlieh seinem Besitzer das Privileg der individuellen, selbstbestimmten und beschleunigten Mobilität sowie das Gefühl der Herrschaft über den öffentlichen Raum Straße. Schon um die Jahrhundertwende erreichte das Automobil Geschwindigkeiten, die alle bisherigen Verkehrsmittel in den Schatten stellten. Bis zum Ersten Weltkrieg trat dann zunehmend die Funktion des Automobils als beruflich oder gewerblich genutztes Fortbewegungs- und Transportmittel im innerstädtischen Bereich hinzu.³ In den USA wurde das Automobil zu dieser Zeit bereits zum Gebrauchsgut breiterer ländlicher Schichten. Hunderttausende Farmer kauften ihren Ford nicht als Sportgerät, sondern als Transportmittel, das ihnen half, die Isolation der Provinz zu überwinden. Kaufen konnten sie den Wagen, weil er – verglichen mit den europäischen Modellen – billig war. Billig war er, weil Ford in großer Serie industriell produzierte (seit  in Fließbandarbeit) – im Gegensatz zu den europäischen Herstel-

² ³

Vgl. Alain Dupouy: L’automobile en Russie jusqu’en , Grenoble , S. . Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. ; Schmucki, Automobilisierung, S.  und –, ; Merki, Der holprige Siegeszug, S. .

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lern, die ihre Autos auf Handwerkerart als teure Einzelstücke oder bestenfalls in kleinen Serien bauten.⁴ Wie sah es in Russland aus? Die verkehrstechnischen Verhältnisse Russlands ähnelten mehr den amerikanischen als den mitteleuropäischen. Ähnlich wie die USA charakterisierten das Zarenreich weite, dünn besiedelte Landstriche mit großen Entfernungen zwischen den Eisenbahnlinien. Dennoch folgte die Motorisierung Russlands dem europäischen Verlaufsmuster. Die Massenmotorisierung erlebte ihren Durchbruch sogar noch deutlich später als in West- und Mitteleuropa, nämlich erst in den er und er Jahren. Das erste in Russland nachweisbare Automobil tauchte  in Odessa auf.⁵ Das war bemerkenswert früh: Fünf Jahre nach seiner Patentierung durch Daimler und Benz war das Automobil auch im Deutschen Reich nur vereinzelt anzutreffen.⁶  fuhr das erste Automobil in St. Petersburg,  in Moskau,  in verschiedenen Provinzstädten.⁷ Eine Umfrage aus dem Jahre  ergab, dass sich das Automobil praktisch über das gesamte Russländische Reich verbreitet hatte.⁸ Die Gesamtzahl blieb allerdings gering, wie Tabelle  auf der nächsten Seite illustriert.⁹ Unter den ins Zarenreich importierten Automobilen dominierten bis  französische Modelle, danach deutsche. Weit abgeschlagen rangierten die amerikanischen Autos. Amerikanische Autos galten in der Wertschätzung der russischen und anderen europäischen Kunden als minderwertig.¹⁰ Die einheimische russische Produktion fiel gegenüber den Importen nicht ins Gewicht. Bis  versuchten sich etwa zwanzig russische Firmen mit der Automobilherstellung. Die meisten gaben bald wieder auf. Es mangelte an Ausrüstungen und Zulieferfirmen. Die Einfuhr von Maschinen und Anlagen war mit einem vielfach höheren Zoll belastet als die Einfuhr von Automobilen. Unter diesen Bedin⁴ ⁵ ⁶ ⁷ ⁸ ⁹

¹⁰

Schmucki. Automobilisierung, S. –; Kühne, Massenmotorisierung und Verkehrspolitik, S. ; Merki, Der holprige Siegeszug, S. –. K. V. Šljachtinskij: Avtomobil’ v Rossii. Istorija avtomobilja, Moskau , S. . Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. . Ja. I. Ponomarev: Tvorenie satany, in: Avtomobil’nyj transport (), H. , S. ; K.V. Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –. Ebda., S. –. Statistische Angaben in der amerikanischen Zeitschrift „Motor“, aus einer Erhebung der amerikanischen Konsulate in der ganzen Welt. Zahlen zum ... Vodnye puti i šossejnye dorogi Nr. , , entnommen aus Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. . Erheblich höhere Zahlen zum Deutschen Reich nennt die Zeitschrift „Die Neue Zeit“: für .. werden ., darunter . Pkw genannt. Notizen, in: Die Neue Zeit ,  (/), H. , S. . Ebda., S. –.

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

USA England Frankreich Deutsches Reich Kanada Australien Österreich-Ungarn Italien Argentinien

                  

Russländisches Reich Belgien Dänemark Schweden Schweiz Mexiko China

             

Tabelle : Bestand an Automobilen zum . .  (Erhebung der amerikanischen Konsulate)

gungen war es leichter, die Nachfrage durch Importe zu befriedigen. Die größte russische Automobilfabrik, „Russo-Balt“ in Riga, nahm die Produktion im Jahre  auf und erreichte  mit einem Jahresausstoß von  Wagen den Höhepunkt. Die anderen russischen Hersteller produzierten noch viel weniger.¹¹ Wie in anderen Ländern auch stießen die Automobilisten in der Bevölkerung anfangs auf Unverständnis, Kritik und Anfeindungen. Die Gründe waren dieselben wie anderswo: Staub, Lärm, Unfälle und die Beeinträchtigung des öffentlichen Raumes durch die neue Technik. Das Automobil veränderte den Lebensraum „Straße“ in einer noch nie da gewesenen Weise. Das neue Verkehrsmittel war aufgrund seiner Geschwindigkeit allen anderen Verkehrsteilnehmern überlegen und nahm folgerichtig die dominierende Stellung in der Hierarchie der Straßenbenutzer ein. Das Automobil beherrschte nun die Straße und alle anderen – Fußgänger, Radfahrer, spielende Kinder, Haustiere, Fuhrwerke und Kutschen – hatten sich im eigenen Interesse nach neuen Regeln zu richten. Wer das nicht tat, der geriet im wahren Sinne des Wortes unter die Räder.¹² Diese Veränderungen lösten Ängste und Abwehrreaktionen aus. Ressentiments und Proteste gegen das Automobil waren am Beginn des . Jahrhunderts etwas Alltägliches. Die Gegner des neuen Verkehrsmittels verwiesen auf ¹¹ ¹²

Ebda., S. . E. A. Čudakov: Razvitie avtomobil’noj promyšlennosti v SSSR, in: Vestnik Akademii Nauk SSSR (), H. –, S. –, hier S. . Merki, Der holprige Siegeszug, S. ; Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. –.

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Beeinträchtigungen der Lebensqualität und ökonomische Schäden, die das Automobil verursache: Das Automobil sei für Menschen und Tiere gefährlich, es ruiniere die Straßen und es erzeuge Lärm, Gestank und Staub. Die Leidtragenden reagierten nicht selten mit handgreiflichem Protest. Bei der Durchfahrt durch Dörfer wurden Automobilisten mit Steinen beworfen, man streute ihnen Nägel vor die Reifen und verprügelte sie, wenn sie ein Huhn überfahren hatten.¹³ In der russischen Zeitschrift Avtomobilist war  zu lesen, die Autofahrer würden Opfer von rowdyhaften Angriffen und fänden zu wenig Schutz durch die Polizei und die örtliche Verwaltung. Auch die Zeitungen stünden auf der Gegenseite, manche hätten sogar eine Rubrik „Opfer der automobilen Undiszipliniertheit“ eingeführt. Der Automobilismus werde als gesellschaftliches Übel betrachtet, das „Publikum“ lese mit Vergnügen die Ausfälle gegen die verhassten Automobile. Käme es zu einer Volksabstimmung, dann würden die Automobile verboten. Niemand außer den Automobilisten würde sich für die Kehrseite der Medaille interessieren – die wilden Ausfälle seitens einer undisziplinierten Gesellschaft gegen vorbeifahrende Autos. Keine Zeitung führe eine Rubrik „Automobilisten – Opfer der Unkultiviertheit des Publikums“, beklagte sich das Sprachrohr der Moskauer Autofahrer.¹⁴ Wenn Automobile von der Dorfjugend mit Steinen beworfen oder ihnen überraschend Balken in den Weg geworfen würden, interessiere sich die Polizei in den meisten Fällen nicht für die Schuldigen zerschlagener Scheiben, gebrochener Federn oder eingeschlagener Köpfe. In den seltenen Fällen, in denen die Schuldigen eruiert würden, drückten die Behörden ein Auge zu und verhängten geringfügige Strafen auf. Wenn aber irgendein Hahn überfahren werde, dann sei es fast immer ein wertvoller Zuchtvogel im Wert von – Rubel. Aus Angst, von Steinen getroffen zu werden, beschleunigten die Autofahrer, wenn sie durch ein Dorf führen und riskierten lieber eine Strafe.¹⁵ Niemand außer ihnen selbst und ihren Klubs vertrete die Interessen der Autofahrer. Man müsse Statistiken über solche Vorfälle veröffentlichen, damit das lesende Publikum sehe, welchen Unannehmlichkeiten und Gefahren die Automobilisten seitens der Bevölkerung ausgesetzt seien. Sie würden sich dann überzeugen, wie unkultiviert leider die Menschen seien, denen man auf den russischen Straßen begegne. Dann würde man aufhören, die Automobilisten zu beschuldigen. An den meisten Unfällen seien nämlich nicht der böse Wille oder die Unvorsichtigkeit der Fahrer, son¹³ ¹⁴ ¹⁵

Merki, Der holprige Siegeszug, S. – und –; Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. – und –. Zitiert nach Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. . Ebda., S. –.

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Jahr

LKW und Busse

PKW

insgesamt

        

                 

                

                 

Tabelle : Automobilproduktion der Sowjetunion – Quelle: Šugurov, Razvitie avtomobilestroenija SSSR v period pervych pjatiletok, S. .

dern die Unkultiviertheit des Volkes schuld, das zutiefst davon überzeugt sei, dass die Landstraßen nur den Pferdefuhrwerken und die städtischen Straßen – wie im Dorf – nur den Fußgängern gehörten. Alle, die nicht damit einverstanden seien, bewerfe das Volk mit Steinen. „Ein für das . Jahrhundert trauriges und beschämendes Bild“, resümierte die Zeitschrift Avtomobilist.¹⁶ Für sich allein betrachtet könnte dieser Befund den Eindruck von Rückständigkeit erwecken, zumal die russischen Automobilzeitschriften genau das suggerierten. Im internationalen Vergleich erwiesen sich die beschriebenen Zustände jedoch als Normalität. Anfeindungen, vor allem seitens der ländlichen Bevölkerung, gehörten auch in Deutschland oder Frankreich zum Alltag der Automobilisten.¹⁷ Die Verhältnisse in Russland ordneten sich also nahtlos in die allgemeine Entwicklung ein. Das Gleiche galt für das Selbstverständnis und die Kultur der Automobilisten, die wie anderswo auch mit missionarischem Eifer die Verbreitung des Objektes ihrer Leidenschaft propagierten.¹⁸ Der frühe Automobilist war Angehöriger einer internationalen Gemeinde. Er organisierte sich in Klubs, entwickelte einen speziellen Habitus und lebte im Bewusstsein, den Fortschritt und eine neue Lebensweise zu verkörpern. Individualismus, Freiheit, Beschleunigung, aber auch Kampf, Heldenmut und Sportsgeist gehörten zum Selbstverständnis dieser Lebensweise.¹⁹ Die russischen Automobilisten erwiesen sich als integraler Bestandteil der ¹⁶ ¹⁷ ¹⁸ ¹⁹

Ebda., S. . Merki, Der holprige Siegeszug, S. –. Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. . Merki, Der holprige Siegeszug, S. –.

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gesamteuropäischen Entwicklung. Nur wenige Jahre, nachdem in Frankreich und Deutschland²⁰ Automobilklubs gegründet worden waren, wurden sie im Zarenreich aus der Taufe gehoben: im März  der Moskauer „Klub der Automobilisten“,  in Petersburg die „Russische Automobilgesellschaft“, die sich ab  „Kaiserliche Russische Automobilgesellschaft“ nennen durfte. In zahlreichen russischen Städten entstanden Automobilklubs.²¹ Die Klubs standen in regem Austausch untereinander, auch über die Grenzen hinweg, sie organisierten Rennen, Tourenfahrten, technische Erprobungen, Ausstellungen und gaben Zeitschriften heraus. Alle diese Aktivitäten dienten dem Ziel, das Automobil zu popularisieren und seine Verbreitung zu fördern.²² Die Rennen und Tourenfahrten, besonders aber diejenigen, die über weite Strecken führten, waren gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges, mit öffentlich zelebrierten Ritualen: Im Mittelpunkt stand nicht der Sport, sondern das Automobil als Ikone des Fortschritts. Diese Veranstaltungen blieben eben nicht das Privatvergnügen der oft nur wenigen Teilnehmer, sondern setzten die Bevölkerung und vor allem die Eliten und Honoratioren ganzer Gouvernements und Städte in Bewegung.²³ Die großen Tourenfahrten hatten explizit den Zweck, die technische Zuverlässigkeit des Automobils und seine Eignung für die russischen Straßenverhältnisse zu beweisen und gleichzeitig die für den Zustand der Straßen entlang der Route verantwortlichen Körperschaften unter Druck zu setzen, sich mehr um das Straßenwesen zu kümmern.²⁴ Das gesellschaftliche Mobilisierungspotential dieser Tourenfahrten war gerade in den Provinzstädten hoch, wie das folgende Beispiel illustriert: Nach dem Vorbild der Prinz-Heinrich-Fahrten in Deutschland veranstaltete die Kaiserliche Russische Automobilgesellschaft im Jahre  eine Internationale Automobilprüfung auf der mehr als . Kilometer langen Rundstrecke Petersburg – Kiev – Moskau – Petersburg. Die Fahrt sollte nach dem Willen der Veranstalter sowohl die heimischen als auch ausländische Industrielle überzeugen, dass ihr Misstrauen gegenüber den russischen Straßenverhältnissen unbegründet sei. Russland brauche nämlich für den Personen- und Güterverkehr sowie für die Armee dringend mehr Automobile und daher endlich auch ei-

²⁰ ²¹ ²² ²³

²⁴

Ebda., S. –; Haubner, Nervenkitzel und Freizeitvergnügen, S. –. Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –. Merki, Der holprige Siegeszug, S. –; Avtomobil’ (), H. , S. –. Avtomobilist (), H. , S. –; Avtomobilist (), H. , S. –; Avtomobilist (), H. , S. –; Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –; Merki, Der holprige Siegeszug, S. –. Avtomobilist (), H. , S. .

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ne starke eigene Automobilindustrie.²⁵ Die Erprobungsfahrt stieß in den maßgeblichen Teilen der Gesellschaft sowie bei der Obrigkeit auf ein großes Echo.  Autos nahmen teil. Sie versammelten sich in der Innenstadt von St. Petersburg und fuhren im Konvoi nach Carskoe Selo, der Sommerresidenz des Zaren. Dort war für den Start ein mit Flaggen und Wappen geschmückter Bogen errichtet worden. Dem Start wohnten mehrere Mitglieder der Zarenfamilie bei. Nach jeder Tagesetappe wiederholte sich Abend für Abend ein Ritual mit folgenden Elementen: feierlicher Empfang am Stadteingang mit einem Begrüßungsbogen, der häufig mit elektrischen Glühlampen bestückt war, Militärmusik, Ansprachen des Stadtoberhauptes oder des Gouverneurs, Einzug in die Stadt durch ein Spalier der zusammengelaufenen Bevölkerung, Theaterbesuch, luxuriöses Bankett mit den örtlichen Honoratioren, Trinksprüche auf die Automobilisierung Russlands, Absenden von Grußtelegrammen nach St. Petersburg, gemeinsame Übernachtung im Hotel oder in einer Kaserne. Nicht nur gesellschaftlich, auch technisch war die Fahrt ein voller Erfolg, denn alle  Autos bewältigten die Strecke.²⁶ Einen noch glänzenderen gesellschaftlichen Rahmen erhielten die internationalen Automobilausstellungen, die ,  und  in Petersburg und  in Moskau ausgerichtet wurden. Zum Ritual gehörten ein Eröffnungsgottesdienst, Ansprachen des Kaisers und von Ministern, das Abspielen der Hymne, ein mehrstündiger Rundgang des Kaisers mit anschließender allerhöchster Würdigung des Automobilwesens, Bankette mit Trinksprüchen und Grußtelegrammen und natürlich Autorennen und Langstrecken-Erprobungsfahrten.²⁷ Die Ausstellungen selbst orientierten sich an den berühmten Pariser Automobilsalons und waren ästhetische Inszenierungen von Technik, Fortschritt, Kommunikation, Energie, Perfektion und verfeinertem, westlichem Lebensstil. Zur Ausstattung des Pavillons gehörten ein Postamt, Telefon, Telegraf, Musikkapellen, ein Restaurant und eine sogenannte „amerikanische Bar“.²⁸ Aus den beschriebenen Veranstaltungen wird deutlich, dass die Automobilisten schon früh die Sympathie und Unterstützung des Staates und seiner Eliten gewonnen hatten und Letztere, von den Honoratioren der Provinzstädte bis zum Kaiser, aktiv an der Inszenierung des Automobils als Symbol des Fortschritts und der Modernisierung des Zarenreichs mitwirkten. Die Schirmherrschaft des Zaren über die Russische Automobilgesellschaft weist auf deren ²⁵ ²⁶ ²⁷ ²⁸

Avtomobil’ (), H. , S. ; Avtomobilist (), H. , S. –. Avtomobilist (), H. , S. –; Avtomobilist , H. , S. –. Avtomobilist (), H. , S. ; Avtomobilist (), H. –, S. ; Avtomobilist (), H. , S. ; Avtomobil’ (), H. . Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –.

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Wertschätzung in den höchsten Kreisen hin. In der Leitung der Kaiserlichen Automobilgesellschaft saßen höchste zivile und militärische Würdenträger des Reiches. Das hatte zum einen mit der Funktion des Automobils als Prestigeobjekt zu tun. Es korrespondierte aber andererseits mit Bemühungen, das Automobil dem Gemeinwesen nutzbar zu machen.²⁹ Die ersten Schritte in diese Richtung unternahm das Militär. Der Armeeführung war es nicht verborgen geblieben, dass in Frankreich und Deutschland seit  militärische Erprobungen des Automobils stattfanden. Schon ein Jahr später ließ das russische Kriegsministerium Informationen über die Verwendung von Automobilen in ausländischen Armeen sammeln, und an den Kursker Manövern des Jahres  nahmen bereits zehn Automobile teil. Die Motorisierung der Armee wurde als Notwendigkeit anerkannt. Obgleich es an Geld mangelte, verfügte die russische Armee bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs über  Autos.³⁰ Staatliche Stellen und Stadtverwaltungen zählten zu den Ersten, die Lastkraftwagen anschafften. Damit signalisierten sie ihren Willen, die neue Technik zu fördern. Buslinien wurden mit offiziellen Feiern in Betrieb genommen, an denen regelmäßig der jeweilige Gouverneur, der Adelsmarschall, Vertreter der Selbstverwaltungen und die Geistlichkeit teilnahmen. Seit  belieferte die Petersburger Fabrik „Freze“ Postämter, seit  auch Feuerwehren mit Autos.  orderte die Moskauer Stadtverwaltung ihren ersten „Büssing“Lastkraftwagen. Die Petersburger Fabrik „Lessner“ baute – unter anderem Postautos, Feuerwehrfahrzeuge, Autobusse und Gefangenenwagen.³¹ Ab etwa  verstärkten sich auch in anderen Bereichen die Tendenzen, das Automobil als Geschäfts- und Nutzfahrzeug zu verwenden. Zeitlich durchaus parallel zu anderen Ländern, wenn auch in geringerem Umfang, nahmen Autobus- und Taxiunternehmen in und zwischen russischen Städten den Passagierverkehr auf. Bemerkenswert ist die regionale Streuung: Von Archangel’sk bis Baku, von Taškent bis Vladivostok – über das ganze Land verbreiteten sich Buslinien und Taxis. Selbst abgelegene Orte erhielten einen Autobusanschluss, typischerweise bis zur nächstgelegenen Eisenbahnstation.³² Die von Jahr zu Jahr zunehmende Aktivität privater Unternehmer korrespondierte mit einem allgemeinen Trend, das Automobil anders als bisher zu nutzen. Automobilzeitschriften und Klubs bemühten sich, dem Automobil das Image ²⁹ ³⁰ ³¹ ³²

Avtomobil’ (), H. , S. –; Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –. Ebda., S. –; Dupouy, Alain, L’automobile en Russie, S. . Avtomobilist (), H. –, S. ; Avtomobilist , H. , S. ; K.V. Šljachtinskij: Nemnogo o taksi i taksometre, in: Avtomobil’nyj transport (), H. , S. –. Avtomobilist (), H. , S. ; Avtomobilist (), H. ; Avtomobilist (), H. , S. .

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des Luxusgegenstandes zu nehmen und es als Geschäfts- und Nutzfahrzeug, als ökonomisch sinnvolles Transportmittel zu propagieren. Regelmäßig wiesen die Automobilzeitschriften auf Firmen hin, die einen Lastkraftwagen angeschafft hatten, um zu zeigen, was das Automobil alles transportieren könne. Sie veröffentlichten Kalenderübersichten über die Transportleistung konkreter Lastkraftwagen und stellten exemplarische Rentabilitätsberechnungen an, die die Überlegenheit gegenüber dem Pferdefuhrwerk bewiesen.³³ Eine Statistik für die Stadt Moskau aus dem Jahre  zeigt, dass das Automobil kein reines Vergnügungsobjekt mehr war: Unter den  in der Stadt registrierten Automobilen waren  Taxis,  Last- und Lieferwagen,  Postautos, sieben Omnibusse, ein Krankenwagen und ein Tanklastwagen. Wenigstens  Prozent können also als reine Nutzfahrzeuge betrachtet werden, zuzüglich einer unbekannten Zahl von Personenkraftwagen, die im Dienste von Unternehmen und Institutionen standen oder von ihren Besitzern beruflich genutzt wurden. Damit entsprach das Zarenreich annähernd dem für Frankreich und Deutschland eruierten ausgeglichenen Verhältnis zwischen Berufs- und Freizeitnutzung der Kraftfahrzeuge.³⁴ Diese Veränderung ist auch deutlich an der Werbung ablesbar. Eine systematische Analyse der Inserate von Autoherstellern in russischen Zeitschriften unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zeigt, dass die meisten nicht an den Sportsgeist oder das Bedürfnis nach Luxus appellierten, sondern mit dem Nutzwert, der Sparsamkeit, ökonomischen Rentabilität, technischen Zuverlässigkeit und der Eignung für die russischen Landstraßen warben. Für die Kaufentscheidung der Mehrheit war offenbar wichtig, dass der Wagen nicht zu viel kostete, sparsam im Benzin- und Ölverbrauch und für Überlandfahrten geeignet war. Werbeslogans wie: „Es ist billiger, einen zu besitzen, als keinen zu haben“³⁵ empfahlen das Produkt nicht gerade als repräsentatives Luxusobjekt.³⁶ Der Erste Weltkrieg brachte Russland so wie den anderen teilnehmenden Ländern einen massiven Motorisierungsschub bei einer völligen Veränderung des Fahrzeugbestandes. Die Armee brauchte Lastwagen und diese erlebten in Russland einen ähnlichen Aufschwung wie in Frankreich, Deutschland und England, lediglich auf niedrigerem Niveau. Ihren Bedarf an Fahrzeugen konnte die russische Armee bei Weitem nicht decken. Das Zarenreich importierte schätzungsweise . Lastwagen und unternahm angesichts der immensen ³³ ³⁴ ³⁵ ³⁶

Avtomobilist (), H. , S. . Avtomobilist (), H. , S. . Aus einer Werbung für den britischen „Humberette“, Dupouy, L’automobile en Russie, S. . Ebda., S. –.

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Kosten und der Abhängigkeit vom Ausland Anstrengungen, im eigenen Land die Produktion auf eine neue Grundlage zu stellen.³⁷ Dem Kriegsministerium gelang es, prominente russische Großindustrielle für Investitionen zu gewinnen, und die Regierung beschloss, mit staatlicher Förderung sechs Automobilfabriken zu errichten. Die Errichtung der Werke wurde  auch tatsächlich mit Hochdruck begonnen, blieb aber nach vielversprechenden Anfangserfolgen  im Revolutionschaos stecken.³⁸

Ein neuer Weg? Als die bol’ševiki die Macht übernahmen, war zwar der Grundstein für eine russische Automobilindustrie gelegt, aber die Fabriken konnten nicht in Betrieb genommen werden, denn ihre Besitzer waren ins Ausland geflüchtet, infolge des zusammengebrochenen Transportwesens traf kein Material mehr ein und der Sowjetstaat hatte kein Geld für Investitionen. Man verlegte sich daher zunächst zwangsläufig auf die Reparatur von Autos.³⁹ Es dauerte bis zum November , bis das erste Automobil sowjetischer Produktion die Moskauer Automobilfabrik AMO verließ. Es war ein Lastwagen, der AMO-F-, ein nachgebautes Fiat-Modell von , das auf den Bausätzen und Plänen beruhte, die noch während des Krieges aus Italien geliefert worden waren. Die ersten zehn Exemplare wurden sofort mit großem Pomp anlässlich des Jahrestags der Oktoberrevolution präsentiert und anschließend auf eine Erprobungsfahrt geschickt. Dass sie die . Kilometer von Moskau über Leningrad nach Smolensk und zurück ohne Panne schafften, war ein propagandistischer Erfolg, änderte aber nichts daran, dass das Modell zum Zeitpunkt seiner Herstellung technisch überholt war und die Produktionszahlen in den Folgejahren minimal blieben.⁴⁰ Dabei maßen die bol’ševiki der Motorisierung von Anfang an große Bedeutung bei. Der Staat wurde nun zur bestimmenden Triebkraft der Motorisierung, konnte aber zunächst die privaten Unternehmer nicht wirksam substituieren, weil sowohl Kapital als auch Know-how fehlten. Die Verstaatlichung ³⁷ ³⁸ ³⁹ ⁴⁰

Istorija Moskovskogo avtozavoda imeni I. A. Lichačeva, Moskau , S. –. Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. . Ebda., S. . Istorija Moskovskogo avtozavoda, S. –; Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. . Zur Geschichte der Moskauer Automobilfabrik siehe Lewis H. Siegelbaum: Cars for Comrades. The Life of the Soviet Automobile, Ithaca, NY , S. –.

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der Schwerindustrie und des Verkehrswesens entzog der unternehmerischen Initiative auf dem Gebiet des Automobilwesens den Boden.⁴¹ Die privaten Automobilisten tauchten überraschenderweise in den zwanziger Jahren wieder mit Aktivitäten auf. Die gesellschaftliche Crème der Automobilklubs war natürlich von der Bildfläche verschwunden: Adelige, ehemalige Würdenträger, hohe Offiziere und Vertreter des Bürgertums waren emigriert, umgebracht worden oder abgetaucht. Dennoch bildete sich in den zwanziger Jahren eine seltsame privat-automobilistische Nische. Ab  entstanden in Petrograd, Moskau, Char’kov, Moskau, Kiev, Odessa, Simferopol’, Tiflis, Rostov und möglicherweise auch andernorts Autoklubs, deren Status und Verhältnis zum Regime noch nicht geklärt ist. Es eröffnet sich der Blick auf eine Lebenswelt, die nicht in das herkömmliche Bild der revolutionären Sowjetunion passt: Männer, teilweise Automobilaktivisten der Vorkriegszeit, die sich in Klubs organisierten, schrottreife Autos reparierten und sich am Wochenende vor der Stadt trafen, um Autorennen zu veranstalten.⁴² Allein der Moskauer Autoklub nahm  mit  Mitgliedern an  Rennen teil. Zum Teil handelte es sich um offizielle Sportveranstaltungen, zu denen die Klubs Teilnehmer entsandten.  organisierte der Moskauer Autoklub die erste sowjetische Automobilausstellung auf dem Gelände der Landwirtschaftsausstellung, einem der wichtigsten Räume der Selbstdarstellung des Sowjetstaates. Der Klub kooperierte also mit staatlichen Stellen.⁴³ Dennoch waren autonome Automobilklubs auf Dauer mit dem gesellschaftlichen Organisationsmonopol der bol’ševiki nicht vereinbar. Das Regime forcierte gegen Ende der zwanziger Jahre seine Anstrengungen, alle Lebensbereiche der Gesellschaft zu durchdringen. Im Oktober  dehnte es den Monopolanspruch auch auf das Automobilwesen aus und gründete eine Massenorganisation, die „Gesellschaft zur Förderung der Entwicklung des Automobilwesens und der Verbesserung der Straßen“, abgekürzt Avtodor.⁴⁴ Diese Or⁴¹

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M. Sorokin: Ob avtomobilizacii Sojuza, in: Ėkonomičeskoe obozrenie (), H. , S. –, hier S. –; E. A. Čudakov: Avtostroenie: Itogi – gg., in: Vestnik inženera (), H. , S. –, hier S. ; Nadežda Michajlovna Zacharova: Razvitie sovetskogo avtostroenija v – gg. (Ist.-ėkon. issledovanie.) Avtoreferat diss. kand. ėk. nauk (MGU), Moskau , S. –. Dvadcat’ let sovetskogo avtomobilizma, in: Motor (), H. , S. –. Za rulem (), H. , S. –; Lewis Siegelbaum,: Soviet Car Rallies of the s and s and the Road to Socialism, in: Slavic Review  (), S. –. B. Šprink: K otkrytiju pervoj sovetskoj vystavki avtomobilej, in: Motor (), H. , S. –. Dvadcat’ let sovetskogo avtomobilizma, in: Motor (), H. , S. –; Za rulem (), H. , S. –.

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ganisation stand in einer Reihe mit ähnlichen Kreationen, die den Zweck hatten, bestimmte – meist kriegswichtige – Sparten der Volkswirtschaft zu popularisieren und die Bevölkerung für Ausbildungen und Arbeitsleistungen zu mobilisieren. Nachdem Avtodor die örtlichen Klubs in seine Organisation eingegliedert hatte, befand sich die Propagierung des Automobilwesens unter der Kontrolle des Regimes. An die Stelle der Rennen traten sozialistische Wettbewerbe im Benzinsparen und im Kennen der Verkehrsregeln oder samstägliches Ausrücken zum Reparieren von Straßen.⁴⁵ Die offizielle Förderung des Automobilwesens hatte bereits  mit der Gründung des „Wissenschaftlichen Automobil- und Motorinstituts“ begonnen. Ab  erschien die Fachzeitschrift Motor, ab  die auf ein breiteres Publikum zielende Zeitschrift Za rulem („Hinter dem Steuer“). Seit  fanden zahlreiche Erprobungsfahrten statt.  reiste eine Kommission ins Ausland, um die neuesten Informationen über das Automobilwesen zu sammeln. / wurden weitere Forschungsinstitute gegründet.⁴⁶ Nachdem die Automobilproduktion in den zwanziger Jahren kaum eine Weiterentwicklung erfahren hatte, wurde sie im Zuge des ersten Fünfjahresplans – stark ausgeweitet. Die Kapazität der Moskauer Automobilfabrik wurde vervielfacht und in Nižnij Novgorod (Gor’kij) in Kooperation mit dem amerikanischen Hersteller Ford eine gigantische neue Fabrik errichtet.⁴⁷ Diesen Entscheidungen war eine kontroverse Diskussion vorausgegangen, in der sich die Verfechter einer forcierten Industrialisierung durchgesetzt hatten. Das sowjetische Automobilwesen sei „katastrophal rückständig“ und die Rote Armee würde in einem künftigen Krieg mit ihren „russischen Bauernwagen“ gegen die mit Automobilen und Panzern ausgerüsteten kapitalistischen Staaten hoffnungslos unterliegen, schrieb der Ökonom und Wirtschaftsfunktionär Valerijan Obolenskij (Pseudonym „N. Osinskij“)  in einem Artikel. Als Anhänger der „linken“ Konzeption einer schnellen Industrialisierung forderte er die Errichtung einer Fabrik, die . Autos pro Jahr produzieren könne.⁴⁸ ⁴⁵ ⁴⁶ ⁴⁷

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Ebda., S. –. Dvadcat’ let sovetskogo avtomobilizma, in: Motor (), H. , S. –; Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. . L. M Šugurov: Razvitie avtomobilestroenija SSSR v – gg., Moskau , S. – ; ders.: Razvitie avtomobilestroenija SSSR v period pervych pjatiletok (– gg.), Moskau , S. –; Kurt S. Schultz: Building the “Soviet Detroit”: The Construction of the Nizhnii-Novgorod Automobile Factory, –, in: Slavic Review  (), S. –, hier S. –; N. N. Nikolaev: Dostiženija SSSR v avtotraktorostroenii, Moskau, Leningrad , S.  und S. . Schultz, Building the “Soviet Detroit”, S. ; I. Osipov: Bližajšie puti razvitija avtomobilja v SSSR, in: Doroga i avtomobil’ (), H. , S.  f., hier S. .

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„Jedem Arbeiter und Bauern ein Auto in nicht weniger als  Jahren“, lautete seine Forderung.⁴⁹ Der Hinweis auf Rückständigkeit im Vergleich mit den USA und anderen in der Motorisierung fortgeschrittenen Ländern war in der Diskussion über die Automobilindustrie allgegenwärtig. Die Autoren sahen die geringe Motorisierung und die unbedeutende eigene Automobilproduktion als Teil der gesamtvolkswirtschaftlichen Rückständigkeit, die es zu überwinden galt. Sie argumentierten nüchtern ökonomisch, ja geradezu kapitalistisch, indem sie die Leistungsfähigkeit des Gütertransports mit Lastwagen und den Treibstoffverbrauch pro Tonnenkilometer mit dem der Eisenbahn verglichen. Das amerikanische Beispiel zeige, so ein Diskussionsbeitrag, dass es ökonomischer sei, auf kurzen und mittleren Strecken Güter und Personen mit Lastkraftwagen bzw. Autobussen zu transportieren, statt in den Ausbau des Eisenbahnnetzes zu investieren.⁵⁰ Die Ausweitung der Automobilproduktion war mit dem für den ersten Fünfjahresplan typischen Zahlenrausch verbunden. Allein die Fabrik in Nižnij Novgorod sollte . Autos im Jahr ausstoßen und zusätzlich das Stalingrader Traktorenwerk beliefern. (Die Ausweitung der Automobilproduktion wurde häufig in einem Atemzug mit dem Aufbau einer einheimischen Traktorenproduktion genannt.) Ebenso zeittypisch war die Diskrepanz mit dem tatsächlich Erreichten.⁵¹ Dennoch wurde die Automobilproduktion der Sowjetunion in diesen Jahren auf eine neue Grundlage gestellt. Sie kam allerdings an die Produktion in den westlichen Industrieländern nicht heran und wies zudem eine Besonderheit auf: Während alle anderen Länder in Friedenszeiten stets deutlich mehr Personen- als Lastkraftwagen erzeugten, war das in der Sowjetunion umgekehrt. Die bol’ševiki machten die Produktionsumstellung, die der Erste Weltkrieg bedingt hatte, nach seinem Ende nicht wieder rückgängig, sondern setzten sie bis etwa  fort. Motorisierung bedeutete unter sowjetischen Vorzeichen Gütertransport mit Lastkraftwagen und Personentransport mit Bussen.⁵² In den zwanziger Jahren stellte die UdSSR so gut wie keine Personenkraftwagen her, in den dreißiger Jahren nur wenige, wie Tabelle  auf Seite  zeigt. ⁴⁹

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Zitiert nach Lewis H. Siegelbaum: Roadlessness and the „Path to Communism“. Building Roads and Highways in Stalinist Russia, in: Journal of Transport History  (), S. –, hier S. . Sorokin, Ob avtomobilizacii Sojuza, S. –. Schultz, Building the “Soviet Detroit”, S. –; Nikolaev, Dostiženija, S. , . E. A. Čudakov: Perspektivy avtostroitel’stva v SSSR, in: Doroga i avtomobil’ (), H. –, S. –, hier S. .

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Hinzu kommt, dass die damals gebauten Modelle nicht für ein breites Publikum gedacht waren. Es handelte sich um große Autos, die typischerweise für den Fuhrpark von Behörden und Betrieben oder – wie im Falle der luxuriösen ZIS-Limousinen – als repräsentatives Fahrzeug für hohe Funktionäre geordert wurden. Die wenigsten Autos waren im Besitz von Privatpersonen.⁵³ Typisch für die sowjetische Automobilproduktion war das Kopieren oder zumindest Nachahmen westlicher Modelle. Dies geschah zum Teil offiziell über Lizenzabkommen, zum Teil orientierten sich die sowjetischen Konstrukteure und Designer an ausländischen Vorbildern, die sie mehr oder weniger detailgetreu nachbildeten oder sich an ihnen orientierten. Im Ergebnis hinkten die sowjetischen Modelle meistens den westlichen einige Jahre hinterher und wurden noch in Serie weitergebaut, als ihre amerikanischen, deutschen oder italienischen Vorbilder längst von Neu- oder Weiterentwicklungen abgelöst worden waren. Das hinderte die Sowjets nicht, den Aufbau der eigenen Automobilproduktion als Teil der Aufholjagd gegenüber dem Westen zu inszenieren. Die Inbetriebnahme des von Ford gelieferten Fließbandes in Gor’kij symbolisierte zusammen mit den die Fabrik verlassenden Autos den Triumph Russlands über seine Rückständigkeit.⁵⁴ Die Sowjetunion scherte mit ihrem Motorisierungskonzept aus der internationalen Entwicklung aus, indem sie das Schwergewicht auf die Produktion von Lastkraftwagen legte. Das hatte vorwiegend ökonomische Gründe, weil im Kontext der Produktionsengpässe Prioritäten gesetzt werden mussten und im Hinblick auf die Erfordernisse der Volkswirtschaft dem Gütertransport der absolute Vorrang eingeräumt wurde. Die Kleinwagenproduktion für den Individualverkehr blieb bis Ende der sechziger Jahre äußerst bescheiden.⁵⁵ Die ideologische Position der bol’ševiki zur Individualmotorisierung ist weniger eindeutig, als man vermuten könnte. Das naheliegende Argument, dass das private Auto als Symbol der Individualisierung und der sozialen Distinktion nicht in die sozialistische Gesellschaftsordnung passe und man deshalb dem Personentransport mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Vorzug gebe, taucht ⁵³

⁵⁴

⁵⁵

B. V. Vaksov: O tret’ej pjatiletke avtomobil’noj i traktornoj promyšlennosti, in: Avtotraktornoe delo (), H. , S. ; Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. ; Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. , Moskau ³, Artikel „Avtomobil’naja promyšlennost’“, S. –, hier S. . Lewis H. Siegelbaum: The Impact of Motorization on Soviet Society after , in: Manfred Grieger (Hg.): Towards Mobility. Varieties of Automobilism in East and West, Wolfsburg , S. –, hier S. . Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. , – , .

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

in den Diskussionen der zwanziger und dreißiger Jahre nicht auf. Die Priorität für die Produktion von Lastkraftwagen wurde nicht ideologisch, sondern ökonomisch begründet. Seit Mitte der zwanziger Jahre gab es sogar mehrmals Anstöße zur Herstellung eines für breitere Käuferschichten erschwinglichen Kleinwagens, dessen Fehlen beklagt wurde.⁵⁶ Die von Obolenskij  artikulierte Vision einer Volksmotorisierung fand während des ersten Fünfjahrplanes keine Resonanz in der Partei. Mitte der dreißiger Jahre jedoch propagierte das stalinistische Regime ein gewandeltes Verständnis von Sozialismus, zu dem kultiviertes Leben und ein gewisser materieller Wohlstand gehörten. Für die Masse der Bevölkerung lag die Realisierung dieser Vision noch in weiter Ferne, aber an kleinen Gruppen von privilegierten Funktionären und hervorgehobenen „Stoßarbeitern“ wurde exemplarisch demonstriert, wie der „neue Mensch“ künftig leben werde. Er sollte nicht nur gewaschen, rasiert und ordentlich gekleidet sein, sondern in durch Leistung verdientem Wohlstand leben, ein Bewusstsein für Schönheit und Stil haben und Auto fahren können. Jurij Pimenovs berühmtes Bild „Das neue Moskau“, eine Ikone des „sozialistischen Realismus“ aus dem Jahre , illustriert dieses Suggestion, indem es eine junge Frau am Steuer eines offenen Wagens auf einer belebten Straße im Zentrum der Hauptstadt zeigt. Unmut gegen das Automobil als soziales Distinktionsmittel für Privilegierte, als das es in der stalinistischen Gesellschaft in durchaus ähnlicher Weise fungierte wie in kapitalistischen Ländern, regte sich nicht in der Parteispitze, sondern „von unten“. Ein eigener Personenkraftwagen stellte das ultimative Statussymbol dar und erzeugte bis in die sechziger Jahre bei vielen gewöhnlichen Sowjetbürgern Neid und Aversionen gegenüber seinem Besitzer.⁵⁷ Ebenfalls  wurden aufs Neue Klagen laut über den Rückstand gegenüber den USA, der sich noch weiter vergrößern werde, wenn es nicht gelänge, den Ausstoß an Personenkraftwagen zu erhöhen. Die Forderung nach einer Fabrik, die mindestens . Personenkraftwagen pro Jahr herstellen könne, zielte zwar in erster Linie auf die Bedürfnisse von Unternehmen und Behör-

⁵⁶ ⁵⁷

Z. B. E. A. Čudakov: Perspektivy avtostroitel’stva v SSSR, in: Doroga i avtomobil’ (), H. –, S. –, hier S. ; I. Osipov: Bližajšie puti, S. . Vgl. Luminata Gatejel: The Wheels of Desire. Automobility Discourses in the Soviet Union, in: Grieger, (Hg.), Towards Mobility, S. –, hier S. . Zum Konzept des „Luxus“ im Stalinismus siehe auch Jukka Gronow, Sergei Zhuravlev: Soviet Luxuries from Champagne to Private Cars, in: David Crowley, Susan E. Reid (Hg.): Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc, Evanston, IL , S. –, hier S. –.

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den, hatte aber auch private Käufer im Blick.⁵⁸ Die Konstrukteure des „Wissenschaftlichen Automobil- und Motorinstituts“ entwickelten Prototoypen für einen billigen Kleinwagen, die aber nicht oder nur in wenigen Exemplaren gebaut wurden.⁵⁹ Erst  erhielt das Moskauer Werk „KIM“ den Auftrag, sich auf die Produktion von Kleinwagen umzustellen. Bis Juni  liefen  Stück eines vom Opel Kadett inspirierten Modells vom Band, dann stellte man kriegsbedingt die Produktion ein. Die richtige Kleinwagenproduktion begann dann erst  mit dem „Moskvič-“.⁶⁰ Dieser war eine nur geringfügig modifizierte Kopie des Opel Kadett von . Besser gesagt: Er war ein Opel Kadett unter neuem Namen, denn die Sowjets hatten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie noch aus den westlichen Besatzungszonen Reparationsleistungen erhielten, die komplette Produktionsanlage des Opel Kadett in Rüsselsheim demontiert und als Reparationsleistung nach Moskau verfrachtet. Dort nahm man kleinere Änderungen vor, um das Fahrzeug den russischen Bedingungen anzupassen. Der Moskvič wich nur in wenigen Details vom Opel Kadett ab: Spurweite und Räder waren etwas größer dimensioniert, auch war das Auto mit einem Handschuhfachdeckel und einem Ölfilter ausgestattet. Die Höchstgeschwindigkeit war mit  Stundenkilometern geringer als beim Opel und der Benzinverbrauch höher.⁶¹ Die Kleinwagenproduktion erlebte in den fünfziger und sechziger Jahren einen bescheidenen Aufschwung, analog zu den Bemühungen Chruščevs und Brežnevs, den Bedürfnissen der Bevölkerung mit einer Ausweitung der Konsumgüterproduktion entgegenzukommen.  trat dem Moskvič der Kleinwagen Zaporožec an die Seite, der im Mähdrescherwerk von Zaporož’e bei Dnepropetrovsk nach dem Vorbild des Fiat- produziert wurde.⁶² Der Ausstoß an Personenkraftwagen blieb aber, verglichen mit anderen Industrieländern, sehr gering:  wurden in der Sowjetunion . Personenkraftwagen produziert,  .. In den USA waren es (nach sowjetischen Angaben)  , Millionen, in der Bundesrepublik Deutschland , Millionen, in Frankreich , Millionen, in England , Millionen. Dafür lag der Ausstoß von Lastkraftwagen in der Sowjetunion  bei . (USA , ⁵⁸ ⁵⁹ ⁶⁰ ⁶¹ ⁶²

Vaksov, O tret’ej pjatiletke, S. –. Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. . Ebda., S. . L. M.: Šugurov: Avtomobili Rossii i SSSR, Bd. , Moskau , S. . Bericht der amerikanischen Botschaft in Stockholm, ... Mikrofilm in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Šugurov, Avtomobili Rossii i SSSR, Bd. , S. –; Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S. –. Zum Zaporožec arbeitet zur Zeit Kateryna Lyakh in Düsseldorf an einer Dissertation.

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

Millionen, Bundesrepublik Deutschland ., Frankreich ., England .).⁶³ Während sich Chruščevs Konsumversprechen im Allgemeinen am Wohlstandsniveau der USA orientierte und er ankündigte, die USA in zehn Jahren zu überholen, galt das nicht für die private Motorisierung. Chruščev erklärte vielmehr, dass es nicht das Ziel der Sowjetunion sei, mit den USA in der Produktion von Privatautos zu konkurrieren, denn im Sozialismus werde die Mobilität der breiten Massen anders gewährleistet.⁶⁴ Nach der Rückkehr von seiner Amerikareise propagierte er  eine „sozialistische Automobilisierung“ in Form von Taxis und staatlichen Pools von Personenkraftwagen, die der privaten Nutzung offenstehen sollten. Das korrespondierte mit seinem Bemühen, den Individualismus zu überwinden und einen neuen Anlauf zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft zu unternehmen. Das sozialistische CarSharing traf aber wegen seiner umständlichen Handhabung nur auf wenig Resonanz. Brežnev – selbst ein begeisterter Autofahrer – verfolgte nach seinem Machtantritt  diesen Ansatz nicht weiter. Er stellte vielmehr in konsequenter Fortführung der auf die Befriedigung der Konsumansprüche der Bevölkerung zielenden Maßnahmen die Weichen auf eine Massenproduktion von Personenkraftwagen. Im August  wurde ein Vertrag mit dem italienischen Automobilhersteller Fiat über die Errichtung einer Autofabrik in der Sowjetunion unterzeichnet, die jährlich . Einheiten liefern sollte. Im Ergebnis entstand bei Samara an der Volga eine nach dem italienischen Kommunistenführer Togliatti benannte Autostadt, in der ab  ein modifiziertes Modell des Fiat-, der Žiguli, gebaut wurde, das sich später unter dem Markennamen Lada sogar in westlichen Ländern verkaufen ließ. Eine Diskussion in der Literaturnaja Gazeta (Literaturzeitung) zeigte /, dass der Privatbesitz an Autos inzwischen auch gesellschaftlich weithin akzeptiert war.⁶⁵ Die Produktion von Personenkraftwagen erlebte seit  einen Aufschwung ⁶³ ⁶⁴ ⁶⁵

Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. , Moskau ³, Artikel „Avtomobil’naja promyšlennost’“, S. –. Gronow/Zhuravlev, Soviet Luxuries, S. . Vgl. Johannes Grützmacher: Verkehr, in: Stefan Plaggenborg (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. /: –. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart , S. –; Šugurov, Avtomobili Rossii i SSSR, Bd. , S. –. Vgl. Gatejel, The Wheels of Desire, S. –. Für den Wandel in der gesellschaftlichen Beurteilung der Besitzer privater Autos, der in den sechziger Jahren erfolgte, siehe auch Lewis H. Siegelbaum: Cars, Cars, and More Cars: The Faustian Bargain of the Brezhnev Era, in: Siegelbaum, Lewis H. (Hg.): Borders of Socialism. Private Spheres of Soviet Russia, Houndmills, Basingstoke , S. –. Für eine vergleichende Perspektive auf den Umgang mit dem Automobil in den sozialistischen

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und überholte die Lastkraftwagenproduktion.  wurden in der Sowjetunion , Millionen Personenkraftwagen und . Lastkraftwagen gebaut.⁶⁶ Bedingt durch den späten Beginn der Massenfertigung und die geringe Priorität, die der privaten Motorisierung eingeräumt wurde, war die Sowjetunion bei der Versorgungsdichte mit Autos im internationalen Vergleich jedoch weit abgeschlagen.  kam statistisch ein Auto auf  Personen,  eines auf  Personen. In den USA und in Westdeutschland kamen in den siebziger Jahren auf einen Wagen nur zwei Personen und auch im Vergleich mit den sozialistischen Ländern Osteuropas lag die Sowjetunion an vorletzter Stelle vor Rumänien. Um ein Auto zu erwerben, mussten zwei Familienmitglieder  Monatslöhne sparen und mehrere Jahre auf die Zuteilung warten. Ohne „Beziehungen“ („blat“ ) standen die Aussichten, ein Auto zu ergattern, schlecht. Bis zum Ende der Sowjetunion gab es mehr private Motorräder und Mopeds als Autos, während in Westeuropa die Zweiräder schon in den fünfziger Jahren vom Auto abgelöst worden waren.⁶⁷

Das Motiv der „Wegelosigkeit“ Die gesamte Motorisierung Russlands durchzieht das Leitmotiv von den besonderen Klima- und Straßenbedingungen Russlands. Es ist ein ganzes Bündel von Faktoren, die diese besonderen Bedingungen Russlands ausmachen: – die Weite des Raumes oder nüchterner formuliert: die riesigen Entfernungen in Kombination mit einer dünnen Besiedlung; – ein im Vergleich mit Westeuropa weitmaschiges Eisenbahnnetz, das viele ländliche Regionen nur unzulänglich anbindet und durch seine Ausrichtung auf die beiden Hauptstädte den Verkehr zwischen den Regionen erschwert; – lange Frostperioden mit extremen Temperaturen; – schlechte Straßen, die bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend unbefestigt waren, d. h. aus festgefahrener Erde bestanden; daraus resultierte im Frühjahr und im Herbst, bedingt durch Schneeschmelze

⁶⁶ ⁶⁷

Ländern siehe Lewis H. Siegelbaum (Hg.): The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc, Ithaca, NY . Gronow/Zhuravlev, Soviet Luxuries, S. . Stefan Plaggenborg: Lebensverhältnisse und Alltagsprobleme, in: ders. (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. /, Stuttgart , S. –. Siegelbaum, The Impact of Motorization, S. . Zu den Problemen des Autokaufs siehe Luminita Gatejel: A Good Buy – If You Can Get One. Purchasing Cars Under Socialist Conditions. San Domenico di Fiesole  (Max Weber Paper /).

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

und Regen, die Zeit der „Wegelosigkeit“, ein wochen- bis monatelanger Zustand, wenn sich die Straßen in unpassierbaren Morast verwandelten. In der russischen Sprache gibt es dafür einen eigenen Ausdruck (rasputica) und auch in Sprichwörtern wurde die Wegelosigkeit mehr als einmal thematisiert – Hinweise darauf, dass der Diskurs von den schlechten Verkehrsverhältnissen in Russland eine länger zurückreichende Tradition hat.⁶⁸ Große Entfernungen und die unzureichende Erschließung durch die Eisenbahn sind grundsätzlich kein Hemmnis, sondern wie das Beispiel der USA zeigt, eher ein Argument für den Automobilverkehr. Die strengen und langen Winter erforderten technische Anpassungen. Das Problem der schlechten Straßen war zweifellos das gravierendste, weil es in manchen Gebieten regelmäßig den Verkehr lahmlegte. Allerdings lassen sich Straßen verbessern, und die Geschichte der Motorisierung zeigt, dass der Autoverkehr in allen Ländern den Aus- und Neubau von Straßen erforderlich machte. Wie ging man nun in Russland mit diesen besonderen Bedingungen um? Als Erstes fällt auf, dass die Motive der Wegelosigkeit und der „russischen Straßen“ im Reden und Schreiben über das Automobil allgegenwärtig waren. Das Automobil brachte die schon länger bestehenden Probleme verstärkt ins Bewusstsein. Seine Protagonisten forderten nicht nur beständig bessere Straßen, sondern verwiesen auch darauf, dass der Mangel an guten Straßen kein Grund sei, auf die Motorisierung zu verzichten: Vielmehr seien Automobile den Verhältnissen gemäß auszuwählen bzw. zu konstruieren.⁶⁹ Eines der Hauptanliegen der Automobilklubs war folgerichtig die Erprobung verschiedener Modelle im Hinblick auf ihre Tauglichkeit für die russischen Straßen. Das Überraschende dabei: Fast alle auf dem Markt befindlichen Modelle erwiesen sich als brauchbar. Es gab vor  kaum eine Firma, die nicht mit dem originellen Satz warb, dass ihre Autos für die russischen Straßen besonders geeignet seien. Selbst die französischen Autos, aus dem Land mit den damals besten Straßen, waren hier keine Ausnahme: „Peugeot – die besten Automobile für die russischen Straßen“⁷⁰ war in der Werbung zu lesen. Nach  setzten sich der Diskurs und die Beschäftigung mit den „besonderen Bedingungen“ nahtlos fort. Obolenskij kritisierte  nach einer Erprobungsfahrt mit einem Ford „A“, die ihn über mehrere Tausend Kilometer ⁶⁸ ⁶⁹ ⁷⁰

Vgl. Siegelbaum, Roadlessness, S. . Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. . Dupouy, L’automobile en Russie, S. ; vgl. auch Šljachtinskij, Avtomobil’ v Rossii, S. –.

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durch die russische Provinz geführt hatte, den Zustand der Straßen als völlig inakzeptables Zeichen von Rückständigkeit: „Unsere Einstellung zu den Straßen ist eine der klarsten Manifestationen des Fortlebens der Barbarei“.⁷¹ In der Tat bestand in der Sowjetunion großer Nachholbedarf. Der ökonomische Mechanismus, der in den USA und in geringerem Maße in Westeuropa über die durch die Motorisierung erzeugte Nachfrage den Straßenbau stimuliert und über die Mineralölsteuer die dafür erforderlichen Mittel geliefert hatte, konnte in der Sowjetunion systembedingt nicht funktionieren. Ende der zwanziger Jahre kam eine sowjetische Studie zu dem Ergebnis, dass in der Sowjetunion auf . Einwohner , Kilometer Straßen mit festem Belag kämen, verglichen mit , Kilometern in Deutschland,  Kilometern in Frankreich und  Kilometern in den USA. Die Sowjetunion verfügte nur über halb so viele Straßen mit festem Belag wie Schweden.⁷² Seit  forcierte die Sowjetmacht den Straßenbau, delegierte ihn aber zu großen Teilen an die lokalen Instanzen. In Ermangelung regulärer Mittel wurde die Bevölkerung zu Straßenarbeiten herangezogen.  begann man damit, einzelne geschotterte Fernstraßen mit Bitumen zu binden und besonders frequentierte Abschnitte zu asphaltieren. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren konnte das Fernstraßennetz systematisch für den Autoverkehr ausgebaut werden. Am Ende der Sowjetzeit war erst die Hälfte des öffentlichen Straßennetzes asphaltiert. Nach westlichen Schätzungen hatten  Prozent der ländlichen Siedlungen keinen Anschluss an eine befestigte Straße. Die Motorisierung ist auch in dieser Hinsicht bis heute nicht vollendet.⁷³ Den Mangel an guten Straßen und die zu geringe Zahl von Automobilen kompensierten die bol’ševiki in den zwanziger und dreißiger Jahren durch das Erproben und Vergleichen von Fahrzeugen eigener und ausländischer Produktion hinsichtlich ihrer Eignung für die schlechten Straßen. Hatte man nach langem Vorlauf endlich ein Auto gebaut, dann wurde es sogleich auf eine große Erprobungsfahrt geschickt, um sich, der Bevölkerung und der Welt zu beweisen, wie gut es mit den russischen Straßen zurechtkam.⁷⁴ Die Erprobungsfahrt des AMO-F- im Herbst  wurde schon erwähnt. Legendär wurde die sogenannte Karakum-Fahrt , bei der die frisch vom Band gerollte Produk⁷¹ ⁷² ⁷³

⁷⁴

N. Osinskij: Dve tysjači kilometrov na avtomobile, in: Za rulem  (), S. , zitiert nach Siegelbaum, Roadlessness, S. . Ebda., Roadlessness, S. . Transport SSSR. Itogi za pjat’desjat let i perspektivy razvitija, Moskau , S.  und ; Avtomobil’nye dorogi, in: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. , Moskau ³, S. –, hier S. ; Grützmacher, Verkehr, S. . Dvadcat’ let sovetskogo avtomobilizma, in: Motor (), H. , S. –.

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

tion der neuen Autofabriken getestet wurde.⁷⁵ Die Strecke führte über . Kilometer, von Moskau nach Zentralasien, durch die Wüste Karakum, über den Kaukasus und wieder zurück nach Moskau. Nur auf  Kilometern hatte die Straße einen festen Belag, ansonsten wurde den Autos so ziemlich alles zugemutet, was die Sowjetunion an Straßenverhältnissen zu bieten hatte. Getestet werden sollten nicht nur die Autos, sondern auch die Straßen auf ihre Befahrbarkeit.⁷⁶ Die Karakumfahrt war ein den großen Tourenfahrten der Zarenzeit vergleichbares gesellschaftlich-propagandistisches Ereignis, mit analogen Ritualen, lediglich unter anderen Vorzeichen.⁷⁷ Zeitungs- und Radiokorrespondenten begleiteten die Tour im Stil einer Kriegsberichterstattung. Am Ende stand folgerichtig der „Sieg des Automobils über die Wüste“. Die Schlussfolgerungen der technischen Kommission überraschen nicht: . Die sowjetischen Autos taugen für alle in der Sowjetunion herrschenden Bedingungen. . Die sowjetischen Autos sind den ausländischen überlegen. . Die Sowjetunion hat sich die komplizierte Technik des Automobilbaus angeeignet.⁷⁸ Die Karakumfahrt war eine Demonstration des Fortschritts und der Kultur: „Die Automobile haben neue Wege gebahnt, […] mit dem Lärm der Motoren Dörfer, Kolchosen, Republiken, nationale Rayone, Gebiete über die fortschrittliche Industriekultur informiert, die im Kampf um die Beherrschung der Technik erobert wurde. […] Junge Lebenssäfte strömen durch unser Land. Eines nach dem anderen löst es die großen Probleme,“ triumphierte die Pravda.⁷⁹ Die Karakumfahrt hatte den Nebeneffekt, dass in ihrem Vorfeld die regionalen Partei- und Sowjetorgane fieberhaft Straßen befestigten und Brücken reparierten. Kein Gebietsparteisekretär wollte an den Pranger gestellt werden, weil die Kolonne in seinem Zuständigkeitsbereich stecken blieb.⁸⁰ Eine nachhaltige Verbesserung des Straßenwesens wurde mit diesem für den Stalinismus typischen Aktionismus allerdings nicht erreicht.

⁷⁵

⁷⁶ ⁷⁷ ⁷⁸ ⁷⁹ ⁸⁰

N. Ja. Lirman: Vsesojuznyj avtomobil’nyj ispytatel’nyj probeg  g., in: Avtomobil’naja promyšlennost’ (), H. , S. –; Bericht in der Zeitschrift Za rulem (), H. ; Preodolenie pustyni. K -letiju Karakumskogo probega, in: Za rulem (), H. , S. – ; G. Gordeev: Karakumskomu avtoprobegu –  let, in: Avtomobil’nyj transport (), H. , S. –, hier S. –. Lirman, Vsesojuznyj avtomobil’nyj ispytatel’nyj probeg, S. –; Preodolenie pustyni, S. . Gordeev, Karakumskomu avtoprobegu, S. –. Za rulem (), H. , H. ; Preodolenie pustyni, S. –. Lirman, Vsesojuznyj avtomobil’nyj ispytatel’nyj probeg, S. . Ebda., S. –; Preodolenie pustyni, S. .

Dietmar Neutatz

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Schlussfolgerungen Bis  bewegte sich die Motorisierung Russlands im Rahmen internationaler Trends, lediglich mit geringerer Intensität. Grundsätzlich waren aber die wesentlichen Elemente der Automobilisierung angelegt. In der Automobilproduktion war Russland vom Ausland abhängig, aber  wurden Weichen für die Überwindung dieses Zustandes gestellt. In kulturgeschichtlicher Hinsicht ist die russische Entwicklung ein integraler Bestandteil der gesamteuropäischen. Die Motorisierung erfolgte in einer engen Wechselwirkung zwischen den Automobilisten und ihren Klubs, dem Staat und Unternehmern. Auch wenn die Versorgungsdichte mit Kraftfahrzeugen und vor allem deren inländische Produktion hinter den Werten der großen westlichen Industrieländer zurückblieben, ist „Rückständigkeit“ keine adäquate Kategorie zur Charakterisierung der russischen Verhältnisse, auch wenn sie von den Zeitgenossen wiederholt benutzt wurde. Zwischen  und  koppelte sich der Sowjetstaat von der internationalen Verkehrsentwicklung ab. Sein Ziel war die Modernisierung von Wirtschaft und Lebensweise, aber er schlug eine andere Richtung ein als die westlichen Industriestaaten. Der Staat übernahm die Gesamtverantwortung für Produktion und Planung und lenkte die Ressourcen mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der forcierten Industrialisierung ganz überwiegend in die Produktion von Lastkraftwagen, während gleichzeitig in internationaler Perspektive nach dem Ersten Weltkrieg die Produktion von Personenkraftwagen in den Vordergrund rückte und allmählich in die Massenmotorisierung überging. Die Motive der Rückständigkeit und der aus ihr resultierenden Notwendigkeit einer beschleunigten nachholenden Modernisierung waren in der frühen Sowjetunion auf Schritt und Tritt präsent. In den Diskussionen über den einzuschlagenden Weg beim Aufbau einer einheimischen Automobilproduktion fungierten die USA und die westeuropäischen Länder stets als Maßstab. Die Errichtung der großen Automobilfabriken im Zuge des ersten Fünfjahrplans wurde als Meilenstein auf dem Weg des beschleunigen „Einholens und Überholens“ (so lautete bezeichnenderweise – auch der Titel der Betriebszeitung der Moskauer Automobilfabrik) gefeiert. Der technisch-ökonomische Aufholprozess war verbunden mit einer Strategie des Transfers von Know-how, der zum Teil über Kooperationen mit westlichen Firmen, zum Teil aber auch durch das unlizenzierte Nachahmen westlicher Modelle erfolgte. Die Vernachlässigung der Produktion von Personenkraftwagen war zunächst keine ideologisch begründete Entscheidung im Sinne eines bewusst eingeschla-

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Nachholende Modernisierung oder eigener Weg?

genen alternativen Weges in die Moderne, sondern dem Mangel an Ressourcen und der ökonomischen Schwerpunktbildung geschuldet. Sie wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren durchaus als Defizit begriffen. Ein ideologisch motiviertes Gegenmodell zur privaten Motorisierung entwarf erst Chruščev Ende der fünfziger Jahre im Kontext der Systemkonkurrenz mit den USA und der Anstrengungen, den Übergang zur sozialistischen Lebensweise zu forcieren. Chruščevs Äußerungen zur Motorisierung waren vom Bewusstsein der strukturellen Überlegenheit des sowjetischen Systems getragen und können als Versuch begriffen werden, aus dem Rückständigkeitsdiskurs auszubrechen. Unter Brežnev ging die Sowjetunion aber bereits Mitte der sechziger Jahre wieder von diesem Konzept ab und schwenkte nach einem halben Jahrhundert der Abkoppelung auf den internationalen Trend der Massenmotorisierung ein. Diese Wende korrespondierte mit Brežnevs Bemühungen, die Loyalität der Sowjetbürger durch Verbesserungen des Lebensstandards und des Konsumniveaus sicherzustellen. Die Versorgung der Sowjetbürger mit privaten Autos schritt tatsächlich in den siebziger Jahren voran, blieb aber hinter der Nachfrage zurück. Außerdem setzte sich das Regime mit dem Konsumversprechen dem direkten Vergleich mit den westlichen Industriestaaten aus, ohne deren Versorgungsniveau erreichen zu können. So verbreitete sich trotz der Produktionssteigerung abermals in der Innen- und Außenperspektive eine Wahrnehmung von Rückständigkeit, die sich hinsichtlich der Motorisierung nicht nur auf die Quantität, sondern auch auf das technische und ästhetische Niveau der Produkte und auf den weiterhin schlechten Zustand des Straßennetzes bezog. Der öffentliche Verkehr und die Benutzung von Taxis waren zwar in der Sowjetunion billig, unterschieden sich aber nicht so gravierend von den westlichen Ländern, als dass sie als ein attraktives Gegenkonzept hätten gelten und den Mangel an Autos kompensieren können. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich die russische Motorisierung nach dem Ende der Sowjetunion wieder gänzlich in die internationalen Trends integrierte und einen ungeahnten Aufschwung des Individualverkehrs erlebte, der als Teil der in den er Jahren vonstattengehenden Verwestlichung verstanden werden kann.

Der sowjetische Fernsehzuschauer als „neuer Mensch“ Die sozialwissenschaftliche Freizeitforschung und das Problem der Rückständigkeit Kirsten Bönker

Der Kommunismus setzte als idealtypische soziale Ordnung den Wandel von Verhaltensweisen und Werten voraus. Er implizierte ein Fortschrittsnarrativ, das in der bolschewistischen Variante darauf zielte, die soziale, ökonomische und kulturelle Rückständigkeit der sowjetischen Gesellschaft im Vergleich zum kapitalistischen Westen zu überwinden. Die bol’ševiki erhoben die Überwindung der Rückständigkeit zur Staatsräson und rückten die revolutionäre Wandlung des Menschen ins Zentrum ihres Handelns.¹ Die Sowjetbürger zu „neuen Menschen“ zu erziehen, galt der Parteiführung als Königsweg, die gesellschaftliche Rückständigkeit in einen Vorsprung umzuwandeln.² Ein ausländischer Beobachter wie der deutsche Korrespondent Klaus Mehnert, der sich für eben diesen gesellschaftlichen Wandel in der Sowjetunion interessierte, meinte aber, auf seinen Reisen auf keine Heldenfiguren getroffen zu sein. Im Gegenteil konstatierte er Ende der er Jahre, dass die Sowjetbürger nach wie vor eher unpolitische Menschen mit „bürgerlichen“ Besitzinstinkten seien. Sie zeigten ¹

²

Siehe für die er und er Jahre Stefan Plaggenborg: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien . Diese Idee des fordernden Zugriffs auf den Menschen war wohl auch der bolschewistischen Wahrnehmung geschuldet, dass die russische Gesellschaft nicht den idealtypischen Bedingungen entsprach, die Marx für eine Revolution formuliert hatte. Denn Marx ging davon aus, dass sich der Mensch automatisch der neuen Gesellschaft anpassen würde. Alexander M. Etkind: Psychological Culture, in: Dmitri N. Shalin (Hg.): Russian Culture at the Crossroads. Paradoxes of Postcommunist Consciousness, Boulder, CO/Oxford , S. –, hier S. .

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Der sowjetische Fernsehzuschauer als „neuer Mensch“

laut Mehnert „mehr Interesse für ihr Einkommen und die Annehmlichkeiten des Lebens als für den Marsch zum Kommunismus“.³ Der „neue Mensch“ beschäftigte als sozio-kultureller und politischer Typus nach Stalins Tod nicht nur ausländische Beobachter, sondern auch bis zum Zerfall der Sowjetunion die Mitte der er Jahre wiederbegründete empirische Sozialwissenschaft.  publizierte der sowjetische Soziologe Jurij Levada sein beeindruckendes Soziogramm des „einfachen Sowjetmenschen“.⁴ Levada definierte in der politischen Umbruchsphase den „Sowjetmenschen“ als einen „Sozialtypus“, der sich unter den sowjetischen Bedingungen tatsächlich herausgebildet habe. Mit dem Zerfall der Sowjetunion sei er allerdings „von der historischen Bühne“ abgetreten.⁵ Damit meinte er aber offenbar nur die politische Repräsentation. Denn in seiner Studie über die Sowjetmenschen in der perestrojka stellte er gleichzeitig fest, dass der Wandel des politischen Systems nicht unmittelbar den „sozial-anthropologischen Typus“ ändere.⁶ Ähnlich wie Levada richtete auch Manfred Hildermeier sein Augenmerk aus der Sicht des Historikers  unter dem noch frischen Eindruck der zerfallenen Sowjetunion auf den „homo collectivus“, wie er den „neuen Menschen“ nannte. Als Ziel der Kulturrevolution verstand auch Hildermeier ihn als soziokulturellen Typus, ein säkularisierter und „im Idealfall auch für das Kollektiv engagierte(r) Mensch, den Partei und Staat von der Wiege bis zur Bahre begleiteten“.⁷ Hatte Levada die Auswirkungen der Vergangenheit auf das Verhalten der post-sowjetischen Menschen in Gegenwart und Zukunft im Blick, forderte Hildermeier zunächst einmal, das Scheitern der sozialistischen Gesellschaft auch in seiner „anthropologische(n) Dimension“ zu verstehen. Dies knüpfte seiner Meinung nach an die Frage an, warum der neue Mensch „letztlich nicht als dominante Gestalt das Licht der Welt erblickte“ und somit das revolutionäre Menschenbild eines kollektiven, stets sozial handelnden Menschen sich nicht verwirklicht habe.⁸ Hildermeier legte der zukünftigen Forschung damit einen Blick auf das Konzept des „neuen Menschen“ mit analytisch-historischer Tiefenschärfe nahe, der die revolutionären Ansprüche und Prägungen, auf die ³ ⁴

⁵ ⁶ ⁷ ⁸

Klaus Mehnert: Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach dreizehn Reisen in die Sowjetunion –, Stuttgart/Zürich/Salzburg , S. . Der Originaltitel lautete „Sovetskij prostoj čelovek“. Eine deutsche Ausgabe erschien zuerst , hier Juri Lewada: Die Sowjetmenschen -. Soziogramm eines Zerfalls, München . Ebda., S. . Ebda., S.  f. Manfred Hildermeier: Revolution und Kultur. Der „neue Mensch“ in der frühen Sowjetunion, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs  (), S. –, hier S. . Ebda., S.  f. Hervorhebungen im Original.

Kirsten Bönker

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auch Levada Bezug nahm, in ihrer kulturhistorischen Bedeutung offenlegte. Dieser Aufruf hat nichts von seiner Relevanz eingebüßt: Die Bewertung des sowjetischen Gesellschaftsprojekts und der Idee, Rückständigkeit durch einen neuen Menschentypus zu überwinden, hat als Politikum die Systemkonfrontation überdauert. Die Bezeichnung „neuer Mensch“ bzw. „Sowjetmensch“ ist nie ganz aus der öffentlichen Diskussion verschwunden.⁹ Die Frage, wie die sowjetische Gesellschaft selbst mit dem gewandelten Menschenbild umging, wird im Folgenden in den Arbeiten einiger Sozialwissenschaftler zum Zeitbudget und Fernsehkonsum der Sowjetbürger verfolgt. Welche Rolle spielten der „neue Mensch“ und die Deutung der Rückständigkeit in der spätsozialistischen Gesellschaft? Die Argumentationsmuster und Begriffe, die die wissenschaftlichen Deutungen prägten, werden mit einem sozial- und kulturgeschichtlichen Blick darauf untersucht, wie die gesellschaftlich relevanten Alltagspraktiken derjenigen, die die „neuen Menschen“ sein sollten, an das Konzept rückgebunden wurden. Wie beschrieben die zeitgenössischen Erhebungen den Wandel des Freizeitverhaltens für die er und er Jahre? Wie verknüpften die Sozialwissenschaftler den „neuen Menschen“ und die Überwindung der Rückständigkeit mit dem rasch ansteigenden Fernsehkonsum? Welche Kategorisierungskriterien und Erkenntnisstrategien steckten dahinter? Inwiefern wurde Fernsehkonsum als eine angemessene Freizeittätigkeit in den sowjetischen Kulturkanon integriert, der der Vervollkommnung des „neuen Menschen“ dienen sollte? Es oblag den Sozialwissenschaftlern, die fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen in dem Sinne zu deuten, dass sich die „neuen Menschen“ auf dem besten Wege befanden, die ursprüngliche Rückständigkeit zu überwinden oder schon überwunden zu haben. Daher standen die Forscher im besonderen Maße vor dem heuristischen Problem, wie die Überwindung der Rückständigkeit im Alltag der Menschen überhaupt wissenschaftlich dokumentiert werden könne. Einen naheliegenden ideologischen Erklärungsansatz bot die sowjeti⁹

Nicht erst im Zuge der Ukraine-Krise ist der „Sowjetmensch“ in die deutsche außenpolitische Berichterstattung und Feuilletons zurückgekehrt. Vgl. Josef Joffe: Das Njet-Prinzip, in: Die ZEIT, Nr. , .., http://www.zeit.de///P-Zeitgeist [zuletzt aufgerufen am ..]; Jochen Bittner: Nach der Revolte, vor dem Kampf, in: Die ZEIT, Nr. , .., http://www.zeit.de///ukraine-aufstand-gewinner-verlierer [zuletzt aufgerufen am ..]; Jerzy Mackow, Sowjetmenschen im Sozialstaat, in: Die ZEIT, Nr. , .., http://www.zeit.de///Sowjetmenschen_im_Sozialstaat [zuletzt aufgerufen am ..]. Im Zusammenhang mit der Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Swetlana Alexijewitsch siehe das Interview von Elisabeth von Thadden mit der Autorin in: Die ZEIT, Nr. , ..: Reden in der Küche, S.  f.

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sche Propaganda mit Rekurs auf Karl Marx an, indem sie der Freizeit einen hohen Stellenwert in der kommunistischen Gesellschaft zuschrieb: Der neue sowjetische Lebensstil sollte sich nicht zuletzt durch kulturell anspruchsvolle Freizeitpraktiken auszeichnen. Boris Grušin, der Pionier der sowjetischen Zeitbudget- und Meinungsforschung, hielt Ende der er Jahre fest, dass der Kommunismus erreicht sei, sobald „die Freizeit und nicht mehr die Arbeitszeit das Kriterium des Reichtums sein“ werde.¹⁰ Gleichzeitig ließen sich viele der neuen post-stalinistischen auf den ersten Blick kategorisch schwerlich von westlichen Freizeitpraktiken unterscheiden. Besonders auffällig war dabei, dass der Fernsehkonsum der Sowjetbürger nicht nur ganz ähnlich wie westlich des Eisernen Vorhangs seit Ende der er Jahre stark anstieg. Vielmehr wurde das Fernsehen auch in der Sowjetunion bereits in den späten er Jahren zur durchschnittlich beliebtesten Freizeitbeschäftigung. Das Fernsehgerät avancierte zum zentralen Symbol des neuen sowjetischen Lebensstils.¹¹ Als Vergnügen für Millionen Menschen repräsentierte es aus sowjetischer Sicht wie kein anderer Gegenstand des alltäglichen, privaten Gebrauchs zugleich die technische und die kulturelle Ebenbürtigkeit der Sowjetunion im Kalten Krieg. Im ersten Schritt skizziere ich einige Bezüge zwischen dem Konzept des „neuen Menschen“ und Rückständigkeit als Deutungskategorie in der poststalinistischen Sowjetunion. Im zweiten Abschnitt stehen die sozialwissenschaftlichen Deutungen der Freizeitpraktiken mit Blick auf den Fernsehkonsum im Mittelpunkt. Das Fazit schließt mit kursorischen Überlegungen zur politischen Konjunktur und Relevanz des „neuen Menschen“ in den Selbstund Fremdbeobachtungen der post-sowjetischen Gesellschaft.

¹⁰ ¹¹

Boris Grušin u. a.: Die freie Zeit als Problem. Soziologische Untersuchungen in Bulgarien, Polen, Ungarn und der Sowjetunion, Moskau , S. . Kirsten Bönker: «Muscovites are frankly wild about TV». Freizeit und Fernsehkonsum in der späten Sowjetunion, in: Nada Boškovska, Angelika Strobel, Daniel Ursprung (Hg.): Arbeit und Konsum im entwickelten Sozialismus, Berlin , S. -; Susan R. Reid: Communist Comfort. Socialist Modernism and the Making of Cosy Homes in the Khrushchev Era, in: Gender & History  (), H. , S. –, hier S. ; Kristin Roth-Ey: Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire That Lost the Cultural Cold War. Ithaca, NY/London ; zur ČSSR Paulina Bren: The Greengrocer and His TV. The Culture of Communism after the  Prague Spring, Ithaca, NY/London .

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 Der post-stalinistische „neue Mensch“ als Überwinder der Rückständigkeit Die Parole des wirtschaftlichen Aufbaus, „dognat’ i peregnat’ “ (einholen und überholen) ging auf Lenin zurück. Sie bezog sich zunächst allgemein auf die kapitalistischen Länder des Westens. Doch schon Ende der er Jahre konzentrierte sich der Vergleich auf Amerika als Inbegriff des westlichen Kapitalismus. Die Rückständigkeit Russlands und der jungen Sowjetunion gegenüber dem westlichen Europa und den USA bildete fortan zusammen mit dem Maßstab der Modernität den Ideen- und Handlungsrahmen aller Modernisierungs- und Reformbemühungen der bol’ševiki. Im bolschewistischen Diskurs amalgamierten sich kulturrevolutionäre und sozialutopische Vorstellungen mit Ideen über die biopolitische Reorganisation des Menschen. Das bolschewistische Gesellschaftskonzept sollte zumindest theoretisch alle Lebensbereiche – Arbeit, Wohnen, Haushalt, Familie, Kindererziehung, Geschlechterverhältnisse, Konsum und Freizeit – erfassen. Es sollte den Alltag, die Kultur und den Wertehimmel der Menschen so tiefgreifend verändern, dass am Ende die neue Lebensweise (novyj byt) die zukünftige kommunistische Gesellschaft grundsätzlich von der kapitalistischen unterscheiden sollte.¹² Die Rückständigkeit, deren Überwindung die bol’ševiki zum Kern ihres Gesellschaftskonzepts erhoben, war ein wandelbarer relationaler Begriff, blieb aber bis zum Ende der Sowjetunion ein entscheidendes Movens der Politik.¹³ Nach Lenin haben auch Stalin und Nikita S. Chruščev die Überwindung der sowjetischen Rückständigkeit gegenüber den kapitalistischen Ländern zum Maßstab in der Systemkonkurrenz ausgerufen. Noch Michail Gorbačev und sein Umfeld belegten ihr Reformprogramm mit dem Schlagwort „Beschleunigung“ (us¹²

¹³

Für die er und er Jahre vgl. Plaggenborg, Revolutionskultur und den Forschungsbericht von Birte Kohtz, Alexander Kraus: Kopfgeburten. Neue Literatur zur Schaffung des neuen Menschen in der Sowjetunion, in: Archiv für Sozialgeschichte  (), S. –. Die bol’ševiki knüpften sie an äußere und innere Merkmale, so dass sich mit „Rückständigkeit“ verschiedene Beziehungen vermessen ließen: Der Begriff bezog sich auf die Wirtschaftsleistung, den technischen Fortschritt, die Agrarproduktion oder die verkehrs- und kommunikationstechnische Erschließung des Landes. David L. Hoffmann: European Modernity and Soviet Socialism, in: ders., Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills, Basingstoke/London , S. –, hier S. –; Andrew B. Stone: «Overcoming Peasant Backwardness». The Khrushchev Antireligious Campaign and the Rural Soviet Union, in: Russian Review  (), H. , S. –; Gerhard Simon: Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der Sowjetunion. Von der totalitären Diktatur zur nachstalinschen Gesellschaft, Baden-Baden , S. .

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korenie), da sie von einer rückständigen gesellschaftlichen Entwicklung ausgingen.¹⁴ Der spezifische Lebensstil des „neuen Menschen“ sollte die Fortschrittlichkeit der Gesellschaft und die Überwindung der Rückständigkeit beweisen. Auf dem Weg in die kommunistische Gesellschaft bewegten sich Diskurse und Praktiken auf zwei Ebenen, auf denen der Lebensstandard und das Kulturniveau maßgeblich gesteigert werden sollten: Zum einen galt es, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die sozio-ökonomische Rückständigkeit im Vergleich zu den kapitalistischen Ländern zu überwinden. Zum anderen sollte der „neue Mensch“ seine Persönlichkeit stetig und vielfältig fortentwickeln. Ab Mitte der er Jahre rückte das Konzept der kul’turnost’ stärker die Selbstregulierung und Vervollkommnung des Individuums und dessen Privatleben in den Mittelpunkt.¹⁵ Die Menschen sollten eine spezifisch sowjetische kul’turnost’ ausprägen, deren literarischer, musischer und populärkultureller Kanon sich gezielt von der amerikanischen „Massenkultur“ abgrenzen sollte. In der Theorie sollten die Sowjetbürger durch diese allseitige Persönlichkeitsentwicklung (razvitie ličnosti) mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auch das „kleinbürgerliche Bewusstsein“ überwinden, das sich im Feindbild der „alten Lebensweise“ (staryj byt) zeigte. Dagegen zeichnete sich der „novyj byt“ nicht nur durch einen spezifischen Kulturkonsum aus, sondern auch durch einen rationalisierten Warenkonsum.¹⁶ Profitierten unter Stalin vor allem die politischen und professionellen Eliten vom Konsumversprechen, bestimmten neue Konsumpraktiken unter Chruščev in dem Maße den sowjetischen Lebensstil, umso stärker das Regime seine Legitimität daran knüpfte. Zugleich verlangte das Regime von der Bevölkerung, dass sie ihr Privatleben auf dem Weg in die kommunistische Gesellschaft an entsprechenden Moralvorstellungen ausrichtete. Dies bedeutete vor allem, dass das persönliche mit dem gesellschaftlichen Leben im Einklang sein sollte. Es war Anspruch des Regimes, die Menschen zu erziehen. Zum Teil neu geschaffene Institutionen wie die Kameradschaftsgerichte, aber auch Partei- und Haus¹⁴

¹⁵

¹⁶

Stephen Kotkin: Armageddon Averted. The Soviet Collapse –,. Oxford 2 , S. ; Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im . Jahrhundert, München , S. . Vadim Volkov: The Concept of kul’turnost’. Notes on the Stalinist Civilizing Process, in: Sheila Fitzpatrick (Hg.): Stalinism. New Directions, London, New York , S. – . Siehe zu Design-, Geschmacks- und Ethikfragen der „neuen Lebensweise” Victor Buchli: Krushchev, Modernism, and the Fight against Petit-bourgois Consciousness in the Soviet Home, in: Journal of Design History  (), H. , S. –.

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komitees oder der Komsomol übten verstärkt soziale Kontrolle über das Privatleben der Menschen aus. Diese konnten außerdem aus einer Publikationsflut von Broschüren, Benimmbüchern und Haushaltsratgebern wählen. Sie vermittelten ihnen Anleitungen für Liebe, Ehe, Kindererziehung, Sexualität, Hygiene bis hin zur Haushaltsführung, Wohnungseinrichtung und den Umgang mit Radio und Fernsehen.¹⁷ Unter Chruščev gingen die Ideen der Erziehung der Sowjetbürger und des technischen Fortschritts Hand in Hand. Sie verschmolzen im Konzept des rationalen Konsums, der richtigen Einstellung zur neu gewonnen räumlichen Privatsphäre, der Rationalisierung und Mechanisierung der Hausarbeit. Die Reorganisation des Haushalts richtete sich vor allem an die Frauen, deren Mehrfachbelastung als Ursache für ihre sozio-politische Rückständigkeit galt.¹⁸ Obwohl die propagandistische Aussicht auf ein Leben in Überfluss im scharfen Kontrast zu den alltäglichen Beschwerlichkeiten stand, verstärkte das Konsumversprechen noch den Anspruch, die Rückständigkeit umfassend zu überwinden und den Westen schließlich zu überholen. Doch anstatt die Idee, Amerika den Platz in der Welt als stärkste Wirtschaftsnation streitig zu machen, im Ungefähren zu lassen, gab Chruščev  die Parole aus, die USA bis  in der Produktion und hinsichtlich des Lebensstandards zu überholen.¹⁹ Wohl nicht zuletzt durch ihre Überprüfbarkeit verlor die Losung rasch an Dynamik. Der Volksmund zog daher diese Art einer letztlich utopischen Systemlegitimierung schon in den frühen er Jahren ins Lächerliche. Vor allem Chruščev selbst avancierte mit abnehmender Popularität immer häufiger zur Zielscheibe beißenden Spotts, wie etwa in einem weit verbreiteten Witz: Ein Mann, der Chruščev als Dummkopf bezeichnet hatte, wurde zu  Jahren Haft verurteilt: Sechs Monate erhielt er wegen öffentlicher Unruhestiftung und , Jahre wegen Verrats eines Staatsgeheimnisses. Auch in der kommunistischen Ahnen¹⁷

¹⁸ ¹⁹

Susan E. Reid: Khrushchev Modern. Agency and modernization in the Soviet home, in: Cahiers du monde russe  (), H. , S. –; dies.: Cold War in the Kitchen. Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev, in: Slavic Review  (), H. , S. –; dies.: Destalinization and Taste, –, in: Journal of Design History  (), H. , S. –; Deborah A. Field: Private Life and Communist Morality in Khrushchev’s Russia, New York u. a. , S. , , –. Susan E. Reid: The Khrushchev Kitchen. Domesticating the Scientific-Technological Revolution, in: Journal of Contemporary History  (), S. –, hier S.  f.,  f. Stephan Merl: Entstalinisierung, Reformen und Wettlauf der Systeme –, in: Stefan Plaggenborg (Hg.): Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. : –. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart , S. –, hier S. –.

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galerie stand Chruščev nicht hoch im Kurs. Galt Marx als Theoretiker (teoretik), Lenin als Schöpfer (tvorec), Stalin als Tyrann (tiran), wurde Chruščev als Schwätzer (trepač) des Kommunismus bezeichnet.²⁰ Gleichzeitig deuten Witze, wie der folgende, an, dass die Parole „einholen und überholen“ nicht nur die offizielle kämpferische Sprache der Medien, der Partei- und Staatsinstitutionen bis zum Ende der Chruščev-Ära prägte, sondern auch in der Alltagssprache verankert war. Gelacht wurde über folgende imaginierte Begebenheit: – „Chruščev tritt im Kirov-Werk auf: ‚Wir, Genossen, werden bald Amerika nicht nur eingeholt, sondern überholt haben!‘ – Eine Stimme aus der Menge ruft: ‚Amerika einzuholen, Nikita Sergeevič, da sind wir einverstanden. Nur überholen ist nicht nötig.‘ – ‚Aber wieso?‘ – ‚Weil man dann unser nacktes Hinterteil sieht!‘“²¹ Diese Veränderung der Sprache ist nicht verwunderlich, da Presse, Film und Fernsehen die Ankündigung, bis  den Kommunismus zu erreichen und künftig im Überfluss zu leben, bis zu Beginn der Brežnev-Ära inszenierten.²² Realiter holte die Sowjetunion seit  jedoch nicht mehr gegenüber den westlichen Industrienationen auf.²³ Von der Kernidee des „neuen Menschen“ wurde gleichwohl nicht abgelassen, obwohl die Parole mit dem Sturz Chruščevs ihren extrem auf die Zukunft gerichteten Optimismus und den Glauben an die Steuerbarkeit gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Prozesse verlor. Allerdings schien das Konzept schon Ende der er Jahre in der Bezeichnung der Bürger als „Sowjetmenschen“ veralltäglicht, die fortan zum verkrusteten Standardvokabular der Partei gehörte. Brežnev sprach wiederholt in seinen Reden in stereotyper Weise davon, Wohlstand und Kultur des „Sowjetmenschen“ weiter zu heben, damit aus ihm eine „allseitig entwickelte Persönlichkeit“ werde.²⁴ Der Parteichef zielte dabei nicht zuletzt auch auf die prägende Kraft des Medienkonsums und ²⁰ ²¹ ²² ²³

²⁴

Richard Stites: Russian Popular Culture: Entertainment and Society since , Cambridge , S. . Anekdote , in: Aleksandr A. Panenko: Russkij političeskij fol’klor. Issledovanija i publikacii, Moskau , unpag. Merl, Entstalinisierung, S. . Stephan Merl: The Soviet Economy in the s – Reflections on the Relation between Socialist Modernity, Crisis and the Administrative Command Economy, in: Marie-Janine Calic, Dietmar Neutatz, Julia Obertreis (Hg.): The Crisis of Socialist Modernity. The Soviet Union and Yugoslavia in the s, Göttingen , S. –, hier S. . Rechenschaftsbericht an den . Parteitag, .., in: Leonid I. Brezhnew: Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze, Bd. : Oktober –April , Berlin , S. –

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die Frage, wie der Sowjetmensch seine Freizeit gestalten sollte. Für das Regime wurde es jedoch zunehmend schwieriger, auf die Freizeitgestaltung einzuwirken, da die arbeitsfreie Zeit zunahm und sich nach Stalins Tod immer stärker in nicht-öffentliche, in der Regel familiäre Räume verlagerte. Damit gerieten die Entwicklung des „Sowjetmenschen“ in seiner Freizeit und die Überwindung der Rückständigkeit stärker aus dem unmittelbaren Blick des Regimes. Da aber das Regime die Rückständigkeit als sozial begründet und damit veränderbar betrachtete, rückte mit dem Aufleben der Soziologie seit Mitte der er Jahre die Freizeitgestaltung zu einem zentralen Forschungsfeld auf, um die sich wandelnde Lebensweise des neuen Menschen zu analysieren. Somit brachte die Vorstellung, dass der „Sowjetmensch“ die gesellschaftliche Rückständigkeit überwinden solle, in der poststalinistischen Sowjetunion neue Beobachtungspraktiken hervor. Dies galt für die zeitgenössischen Beobachter aus dem Ausland, besonders aber für die sowjetische sozialwissenschaftliche Vermessung und Beschreibung. Sie wirkten wiederum auf die politischen Deutungen des Sozialen zurück, die im folgenden Abschnitt im Mittelpunkt stehen.

 Der Fernsehzuschauer als „neuer Mensch“: Die Verwissenschaftlichung der überwundenen Rückständigkeit Der Erste Sekretär des Komsomol versuchte bereits , die Wirklichkeit ideologisch zu überhöhen, und versicherte, dass die „überwältigende Mehrheit“ der sowjetischen Jugend zu diesem Zeitpunkt schon „alle Charakterelemente von Menschen der kommunistischen Gesellschaft“ besäße.²⁵ Abgesehen von Lysenkos fragwürdiger Milieutheorie gab es keine empirischen Belege für solch eine Aussage, da die als bourgeoise Wissenschaftsdisziplin diffamierte Soziologie zwischen  und  in der Sowjetunion nicht existierte. Die wissenschaftliche Beobachtung des „neuen Menschen“ setzte daher erst mit der Wiederzulassung der Soziologie als empirischer Wissenschaft nach Stalins Tod ein.²⁶ Die ersten universitären Institute und Abteilungen wurden, wie das Soziologieseminar in Leningrad, in den späten er Jahren gegründet. Auch viele staatliche Einrichtungen – der Komsomol oder das Staatskomitee für Fernsehen und Radio – gründeten eigene Forschungsabteilungen, so dass ein recht

²⁵ ²⁶

, hier S. ;  Jahre Sowjetgeorgien, in: Ebda., Bd. : Mai –März , S. – , hier S. . Zitiert nach Amir Weiner: Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton, NJ 2 , S. . Elizabeth A. Weinberg: Sociology in the Soviet Union and beyond. Social Enquiry and Social Change, Aldershot, Burlington , S. .

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weit verzweigtes Netz entstand.²⁷ Rasch wurde die Sozialwissenschaft Teil eines politischen Machtspiels, in dem sie fortan mit den bis dato tonangebenden Disziplinen der Philosophie und Ökonomie um Deutungen des Sozialen rang.²⁸ Die junge sowjetische Soziologie verstand sich selbst nicht nur innerhalb dieser Wissenschaftshierarchie als fortschrittlich, sondern auch im internationalen Vergleich mit der westlichen Disziplin, der gegenüber sie sich als methodisch überlegen darstellte. Rückständigkeit und ihre Überwindung waren somit auch in der gegenseitigen Beobachtung der wissenschaftlichen Diskurse wichtige Interpretationskategorien der sowjetischen Seite. Die sowjetische Soziologie hielt sich heuristisch und epistemologisch der westlichen für überlegen, da sie die marxistische Einheit von Theorie und Praxis propagierte, während die westliche zwischen theoretischer und angewandter unterscheide. Dies führte aus sowjetischer Sicht jedoch dazu, dass die „bourgeoise positivistische Soziologie“ ausgenutzt werde, um „effektive Mittel der ‚sozialen Kontrolle‘ im Interesse der herrschenden Eliten“ zu finden.²⁹ Der amerikanische Soziologe George Fisher, der die Entwicklungen der sowjetischen Disziplin analysierte, stellte Mitte der er Jahre fest, dass diese ideologische Überzeugung die sowjetischen Soziologen die westliche Disziplin als „retarded and even crippled“ wahrnehmen ließ.³⁰ Durch die gegenseitige Beobachtung politisierten beide Seiten die öffentlich zugänglichen Analysen der gesellschaftlichen Entwicklungen im Kontext des Kalten Kriegs. Zudem stellten sie sich wechselseitig als wissenschaftlich fragwürdig dar und delegitimierten die andere Seite als Instrument der Politik und der herrschenden Eliten. Dennoch war die sowjetische Führung unmittelbar daran interessiert, dass ihre Ergebnisse auch westlich des Eisernen Vorhangs zugänglich waren. Sie sollten gezielt die Errungenschaften der sowjetischen Gesellschaftsentwicklung propagieren und insofern die Gegenseite im Systemwettkampf davon überzeugen, dass die Sowjetunion nicht nur im technischen und wirtschaftlichen Wettlauf, sondern auch bei den sozialen und kulturellen Parametern auf- und überholte.³¹ Die Ergebnisse der sowjetischen Soziologie repräsentierten unmittelbar die Vermischung der theoretischen An²⁷ ²⁸ ²⁹ ³⁰ ³¹

Eine Übersicht findet sich bei Elizabeth A. Weinberg: The Development of Sociology in the Soviet Union, London/Boston, MA , S. –. Edward Beliaev, Pavel Butorin: The Institutionalization of Soviet Sociology. Its Social and Political Context, in: Social Forces  (), H. , S. –, S.  f. Zitiert nach George Fisher: Science and Politics. The New Sociology in the Soviet Union, Ithaca, NY , S. . Ebda., S. . Zadači razvitija obščestvennych nauk v uslovijach razvernutogo stroitel’stva kommunizma. Postanovlenie obščego sobranija Akademii Nauk SSSR, in: Vestnik Akademii Nauk SSSR  (), H. , S.  f.

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sätze zur Erforschung der Gesellschaft mit der politischen Doktrin über die Zukunft. Die westlichen Forscher nutzten das Datenmaterial für eigene Studien und interpretierten die sowjetischen Bewertungen.³² Das Sowjetregime unterstützte dies zusätzlich, indem es sowjetische Arbeiten ins Englische oder Deutsche übersetzen ließ.³³ Diese Beobachtungs- und Vergleichspraktiken lassen sich in eine allgemeine gesellschaftsgeschichtliche Entwicklung einordnen, in der die „Erfindung der Sozialwissenschaften“ die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ beförderte, wie Lutz Raphael diesen Prozess prägnant genannt hat. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gerieten die Bürger selbst als Objekte des social engineering in den Fokus der sozio-politischen Eliten.³⁴ Beschränkten sich deren Reformvorstellungen im Zarenreich fast ausschließlich auf die bäuerliche Bevölkerung, erweiterten die bol’ševiki die physische und psychische Veränderung der Menschen auf die gesamte Gesellschaft.³⁵ Begründet wurde die Vorstellung dadurch, dass die Arbeitskraft des Einzelnen dem Gemeininteresse der ganzen Gesellschaft diene. Solche, den Einzelnen vereinnahmende Kategorisierungen sollten der Kontrolle des Individuums dienen, den gesellschaftlichen Fortschritt beschleunigen und einen „neuen Menschen“ schaffen. Zwar galt der Appell dem gesellschaftlichen Kollektiv, aber es musste sich zunächst der Einzelne ändern, seine alte (staryj) durch die neue Lebensweise (novyj byt) abgelöst werden, um die ökonomische Rückständigkeit zu überwinden. Die Vorstellung, dass die Wandlung des Einzelnen und die Umgestaltung der Gesellschaft zu einer utopischen Solidargemeinschaft der „neuen Menschen“ wissenschaftlich gesteuert werden könnte, wurde konstitutiver Teil der propagierten wissenschaftlich-technischen Revolution.³⁶ ³² ³³ ³⁴

³⁵

³⁶

Weinberg, Sociology; Fisher, Science, S. –. Grušin u. a.: Zeit; Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, . Halbjahr , Berlin ; Olga S. Bogdanowa: Freizeitgestaltung, Berlin (Ost) . Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des . Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft  (), –; ders.: Ordnungsmuster und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im . Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im . Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien , S. –, hier S. . Zum Zarenreich siehe z. B. Yanni Kotsonis: Making Peasants Backward: Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, –, Houndmills, Basingstoke ; Abby M. Schrader: Branding the Exile as ‘Other’. Corporal Punishment and the Construction of Boundaries in Mid-Nineteenth-Century Russia, in: David L. Hoffmann, Yanni Kotsonis (Hg.): Russian Modernity. Politics, Knowledge, Practices, Houndmills, Basingstoke, London , S. –. Michael Hagemeister: «Unser Körper muss unser Werk sein.» Beherrschung der Natur

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Die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ basierte in der Sowjetunion auf einem verbindlichen Kategoriensystem. Aus wissenschaftlicher Sicht bestand das größte Problem der sowjetischen Soziologie darin, dass sie potentielle soziale Ungleichheiten, Wünsche und Indikatoren des Lebensstandards zunächst einmal aus der Ideologie deduzierte. Dabei waren in der sowjetischen Sozialwissenschaft Zukunftsbezug und Praxisanspruch im europäischen Vergleich besonders eng verwoben.³⁷ Trotz der ideologischen Floskel, eine klassenlose Gesellschaft erreichen zu wollen, interessierten sich Sozialwissenschaftler wie Boris Firsov, einer der Gründungsväter der sowjetischen Fernsehforschung, in den er Jahren explizit für das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft. Firsov bezog sich auf Karl Marx, indem er gegen einen „kasernierenden“ und „nivellierenden“ Kommunismus argumentierte. Er bekannte, es sei ein „tiefer Irrtum“ anzunehmen, dass „der Mensch sich in der Masse der ihn umgebenden Leute auflösen soll“. Schließlich gewönne die Gesellschaft durch individuelle Vielfalt.³⁸ Dieser rhetorische Umschwung im ideologischen Ansatz verdrängtein den späten er Jahren das Konzept des „neuen Menschen“. Die homogenisierende Idee, die ihm zugrunde lag, war zumindest in der Forschung dadurch obsolet geworden, dass die Forscher die faktische sozio-kulturelle Ungleichheit einordnen mussten. Dazu teilten sie die sowjetische Bevölkerung in unterschiedliche soziale Gruppen und Klassen ein. Sie sprachen vom/von Menschen (čelovek/ljudi) und der „harmonischen und allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit“ – ein Konzept, dem allerdings der Erziehungs- und Fortschrittsanspruch noch eindeutig zu eigen war.³⁹ Angesichts der Ungleichheiten schlussfolgerte Firsov gewunden, dass die von ihm erhobenen Daten bestätigt hätten, dass die „,Rolle der Arbeit‘ im allgemeinen Komplex der Gründe das Verhältnis des Menschen zum Fernsehen bestimmt”⁴⁰ habe. In seiner  in Leningrad durchgeführten Studie arbeitete er daher mit sechs relativ groben

³⁷ ³⁸ ³⁹ ⁴⁰

und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen . Jahrhunderts, in: Boris Groys, Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des . Jahrhunderts, Frankfurt am Main , S. -; mit Blick auf die Kybernetik: Slava Gerovitch: From Newspeak to Cyberspeak. A History of Soviet Cybernetics, Cambridge, MA/London , S. –; Susan E. Reid: The Khrushchev Kitchen. Domesticating the Scientific-Technological Revolution, in: Journal of Contemporary History  (), S. –; dies.: Khrushchev Modern. Agency and modernization in the Soviet home, in: Cahiers du Monde russe  (), H. , S. – . Raphael, Ordnungsmuster, S. . Boris Maksimovič Firsov: Televidenie glazami sociologa, Moskau , S.  f. Ebda., S. . Ebda., S. .

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Kategorien, die die Arbeitnehmer (rabotniki) zunächst in zwei Gruppen von Arbeitern (rabočie) und drei Gruppen von Angestellten (služaščie) unterteilte. Die erste Gruppe umfasste unqualifizierte und wenig qualifizierte Arbeit, die zweite Facharbeiter. Die dritte Kategorie galt den Angestellten ohne spezielle Ausbildung, die vierte Angestellten mit einer mittleren Fachbildung, die fünfte schließlich den akademisch Gebildeten. Der sechsten Gruppe waren die Leiter der Arbeitskollektive zugeordnet. Alle Kategorien schlossen jeweils auch Rentner und Hausfrauen ein, da deren Einstellung zum Fernsehen weitgehend oder sogar völlig deckungsgleich mit denen ihrer früheren „sozial-beruflichen Gruppen“ sei. Die Untersuchung beanspruchte Repräsentativität für alle großen Kultur- und Industriezentren des Landes.⁴¹ Seine eigentlichen Ergebnisse, die weiter unten angesprochen werden, scheinen dieser dem Basis-ÜberbauModell entlehnten These nur bedingt zu entsprechen. Medienkonsum war eine Art Lackmustest für die neue Lebensweise, da hier der hohe erzieherische Anspruch des Regimes zum einen darauf zielte, Freizeitpraktiken kulturell und materiell zu formen. Zum anderen zielte das Regime auf eine spezifisch sowjetische Unterhaltungskultur, die der westlichen überlegen sein und die wahrgenommene Rückständigkeit in ihr Gegenteil verkehren sollte. Der „neue Mensch“ sollte noch ein leidenschaftlicher Leser sein. Den Kanon der klassischen Literatur zu kennen, gehörte von Beginn der Sowjetzeit an zum „kultivierten“ Zeitvertreib.⁴² Mit dem technischen Fortschritt gehörten Radio, Kino und allmählich auch das Fernsehen zu den alltäglich konsumierten Medien. Während das Konzept des „neuen Menschen“ in den Hintergrund trat, wurden sie Bestandteil des „guten sozialistischen Lebens“: Neben dem Radio, das seit den er Jahren einen festen Platz in den Propagandastrategien der Partei und im Alltag der Bürger hatte, galt das nach dem Krieg zunächst für das aufblühende Kino.⁴³ Seit den späten er Jahren begann dann allmählich das Fernsehen eine Schlüsselfunktion auszuüben: Es prägte maßgeblich die sowjetische Populärkultur, die als ein dezidierter Gegenentwurf zum Feindbild der amerikanischen Massenkultur gedacht war. Die spezifisch sowjetische Kultur sollte den Begriff der Hochkultur revolutionieren, überkommene Grenzen verändern und allen sowjetischen Bürgern unabhängig von ihrer Bildung zugänglich sein. Das Fernsehen forderte etablierte Grenzen zwischen den Künsten heraus und erhöhte durch seine technischen Möglichkeiten die media⁴¹ ⁴²

⁴³

Ebda., S.  f. David L. Hoffmann: Stalinist Values: The Cultural Norms of Soviet Modernity, – , Ithaca, NY , S. –; Stephen Hutchings: Russian Literary Culture in the Camera Age. The Word As Image, London/New York , S. –. Vgl. Roth-Ey, Moscow, S. –.

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le Reichweite. Anders als die westliche Massenkultur, die als unterdrückendes Herrschaftsinstrument galt, implizierte die „massovost‘ “ des sowjetischen Fernsehens im positiven Sinne Breitenwirkung und Verständlichkeit.⁴⁴ Der Fernseher stand spätestens seit der berühmten „Küchendebatte“ auf der amerikanischen Ausstellung im Moskauer Sokol‘niki Ausstellungszentrum  im Mittelpunkt des Systemwettbewerbs um die besseren Konsumgüter. Richard Nixon griff das Versprechen Chruščevs auf, die USA in den kommenden sieben Jahren einzuholen, und präsentierte ihm ein amerikanisches Farbfernsehgerät als Symbol des Fortschritts: „This, Mr. Khrushchev, is one of the most advanced developments in communications that we have, at least in our country. It is color television, of course. It is, as you will see, […] it is one of the best means of communication that has been developed. And I can only say that if this competition which you have described so effectively, in which you plan to outstrip us, and particularly in the production of consumer goods, if this competition is to do the best for both of our peoples and for people everywhere, there must be a free exchange of ideas. There are some instances where you may be ahead of us, for example in the development of the thrust of your rockets for the investigation of outer space. There may be some instances, for example, color television, where we’re ahead of you.“ Chruščev fiel Nixon selbstbewusst ins Wort, dass die Sowjetunion die USA schon „bei den Raketen und auch bei dieser Technik [er meinte das Farbfernsehen] überholt“⁴⁵ habe. Damit erhob er vor der Weltöffentlichkeit das Fernsehen zum Symbol und Maßstab der friedlichen Koexistenz. In den folgenden Jahren investierte das Regime beträchtliche Summen, um die mediale Infrastruktur zu verbessern, so dass das sowjetische Fernsehen in den ern zum größten Sender der Welt aufstieg.⁴⁶ Im Ostblock erlangte das sowjetische Fernsehen dadurch eine spezifische popkulturelle Prägekraft, da kein anderer staatssozialistischer Sender so viele Fernsehfilme, Serien und Shows produzierte wie das Zentrale Moskauer Fernsehen. Alle anderen osteuropäischen kauften – wie auch einige westliche Sender – daher sowjetische Produktionen ein, um ihr eigenes Programm zu ergänzen.⁴⁷ Sowjetische Wis⁴⁴

⁴⁵ ⁴⁶ ⁴⁷

Zu den zeitgenössischen Diskussionen über den kulturellen Wandel, den das Fernsehen anstieß, siehe Kirsten Bönker: Das sowjetische Fernsehen und die Neujustierung kultureller Grenzen in den er und er Jahren, in: Igor Narskij (Hg.): Kunst für das Volk?, München  (im Druck). https://www.youtube.com/watch?v=zRLCwOZFw [zuletzt aufgerufen am ..]. Zum Ausbau der Infrastruktur: Roth-Ey, Moscow, S.  f. RGANI (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii), f. , op. , d.  (), ll. , ; Thomas Beutelschmidt, Richard Oehmig: Connected Enemies? Programming

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senschaftler entwickelten in den er Jahren in Kooperation mit dem französischen Fernsehen die SECAM-Farbfernsehtechnik, die mit dem deutschen PAL-System konkurrierte.⁴⁸ Durch diese Erfolge trug das Fernsehen dazu bei, das Narrativ von der Rückständigkeit in das Versprechen einer goldenen Zukunft zu verwandeln. Auch dadurch wurde es neben Kühlschränken und Radios zum wichtigsten Symbol des modernen sowjetischen Lebens und des technischen Fortschritts.⁴⁹ Gleichwohl diskutierten die verschiedenen Teilöffentlichkeiten das neue Medium kontrovers. Auf der einen Seite bewunderten zahlreiche Zeitgenossen, wie Naturwissenschaftler, Technikinteressierte und Medienkonsumenten, das Fernsehen dank seiner technischen Qualitäten als „Fenster zur Welt“, während die Presse, wie die Pravda in ihren Leitartikeln, es wegen seines Potentials zur Mobilisierung für den Siebenjahr- bzw. Fünfjahrplan und die kulturellen Erziehung des „neuen Menschen“ feierte.⁵⁰ Auf der anderen Seite formulierte vor allem das künstlerische Establishment kulturkritische Haltungen zum neuen Medium, die darauf zielten, die dominierende Position der traditionellen Künste Theater, Oper, Ballett und Kino zu verteidigen.⁵¹ Das Fernsehen forderte den ideologischen Anspruch eines „kultivierten“ Freizeitvertreibs aber nicht nur aus einer kulturell-ästhetischen Perspektive heraus. Ebenso problematisch war, dass es gerade eine aktive Freizeitgestaltung zu verhindern schien, die den neuen Lebensstil des Sowjetmenschen charakterisieren sollte.⁵² Diese Auseinandersetzungen und Widersprüche stellten die sozialwissenschaftliche Analyse mit ihrem ideologisch-deduktiven Zugriff unmittelbar vor Interpretationsprobleme, inwiefern der steigende Fernsehkonsum als Zeichen dafür gelten konnte, dass die technologische Innovation und der damit verbundene neue Lebensstil die lange apodiktisch vertretene Rückständigkeit der sowjetischen Gesellschaft im Vergleich zum Westen abbaute. Auch die Frage, inwiefern das Fernsehen dazu beitrug, innergesellschaftliche Rückständigkeiten abzuschwächen, wie sie für die ländliche im Vergleich zur städtischen

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⁴⁹ ⁵⁰ ⁵¹ ⁵²

Transfer between East and West During the Cold War and the Example of East German Television, in: VIEW. Journal of European Television History & Culture  (), H. , S. –. Andreas Fickers: «Politique de la grandeur» versus «Made in Germany». Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse, München , vor allem S. –. Reid, Cold War in the Kitchen, S. . Sovetskoe televidenie, in: Pravda, Nr. , .., S. ; Millionam slušatelej i zritelej, in: Pravda, Nr. , .., S . Siehe Bönker, Das sowjetische Fernsehen. Grušin u. a., Zeit, S.  f.

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Bevölkerung oder für Frauen im Vergleich zu Männern angenommen worden sind, galt es zu beantworten. Diese Schwierigkeiten äußerten sich darin, dass die Sozialwissenschaftler keineswegs widerspruchsfrei urteilten. Einig waren sich alle, dass die für die er Jahre diagnostizierte „Expansion des Fernsehens“⁵³, wie Boris Firsov prägnant formulierte, die Freizeitgestaltung grundlegend beeinflusste. Dies bedeutete zunächst, dass immer mehr Menschen ein Gerät erwarben. Firsov zeigte auf, dass der Kauf jedoch unabhängig vom Wirtschaftszweig sei, in dem die Käufer arbeiteten, und der Analysegruppe, der sie durch die Art ihrer Arbeit zugeordnet waren. Die  Befragten verteilten sich auf die acht Wirtschaftszweige Industrie, Transport, Handel und öffentliche Versorgung, Wissenschaft, kommunale Wohnungswirtschaft und Dienstleistung, Bildung, Bau und Gesundheit. Dabei differierte der Besitz eines TV-Gerätes nur zwischen  Prozent bei in der Industrie tätigen Arbeitnehmern und , Prozent bei solchen der Gesundheitsfürsorge. Auch Bildung, Alter und das Haushalts-pro-Kopf-Einkommen haben demzufolge keine bestimmende Rolle für die soziale Verteilung der Geräte gespielt. Die Faktoren, die mit „der sozialen Lage des Menschen verbunden“ waren, schieden laut Firsov also entgegen seiner oben genannten These als Gründe für den Kauf eines Fernsehgerätes aus. Entscheidend sei vielmehr die Anzahl der Familienmitglieder und besonders der Kinder: Umso größer die Familie – Erwachsene wie Kinder –, umso höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein TV-Gerät angeschafft wurde.⁵⁴ Allerdings belegen die präsentierten Zahlen diese These weit weniger eindeutig als behauptet. Von den Besitzern eines Fernsehgerätes hatten immerhin , Prozent kein Kind im Vorschuloder Schulalter. , Prozent hatten eins, aber nur , Prozent zwei. Blickt man nur auf die Kopfzahl der Kernfamilie, zeigte sich, dass , Prozent der dreiköpfigen Familien ein TV-Gerät besaßen, aber auch , Prozent keines. Von den vierköpfigen Familien besaßen , Prozent einen Fernseher.⁵⁵ Der Autor diskutierte nicht weiter, inwiefern auch die Familien- bzw. Haushaltsgröße mit der sozialen Lage zusammenhängen könnte. Vielmehr interessierte er sich stärker für die kulturelle Dimension des Fernsehkonsums, nämlich wer warum und wie häufig das Gerät einschaltete. Aus den beantworteten Fragebögen ging hervor, dass das Fernsehen aus Sicht der Konsumenten verschiedene Bedürfnisse befriedigen sollte. Zum Ersten sollte es der Erholung und Unter-

⁵³ ⁵⁴ ⁵⁵

Firsov, Televidenie, S. . Ebda., S. –. Ebda., S.  f.

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haltung dienen, zum Zweiten der familiären Soziabilität und Freizeitgestaltung sowie zum Dritten als Informations- und Wissensressource.⁵⁶ Weiter unterteilte Firsov das Fernsehpublikum je nach Häufigkeit ihres Programmkonsums in vier Nutzergruppen. Die erste Gruppe zeigte einen „sehr mäßigen“ Konsum von bis zu drei Stunden in der Woche und umfasste , Prozent der Befragten. Die zweite umfasste die „gemäßigten“ Nutzer, die , Prozent ausmachten und drei bis zehn Stunden die Woche fernsahen. Die dritte war die der „Begeisterten“, die das TV-Gerät zehn bis  Stunden einschalteten und , Prozent stellten. Die vierte Kategorie galt den „höchst begeisterten Zuschauern“, die  bis  Wochenstunden fernsahen, und immerhin , Prozent aller Befragten zählten. Eindeutig war, dass die akademisch gebildeten Zuschauer vor allem in den beiden „gemäßigten“ Gruppen zu finden waren, während diejenigen mit einer nicht abgeschlossenen mittleren Bildung die intensivsten Fernsehnutzer waren. Von den Kategorien, die Firsov anhand der beruflichen Tätigkeit erstellt hat, war die zweite, also die Gruppe der Facharbeiter, diejenige, die mit Abstand am meisten Fernsehen schaute: Die Facharbeiter stellten in der Gruppe der gemäßigten Zuschauer zwar nur , Prozent, dafür aber in den anderen drei jeweils über  Prozent.⁵⁷ Zudem waren die intensivsten Fernsehnutzer im Schnitt zwischen  und  Jahre alt und eher männlich. In der häuslichen Freizeitgestaltung machte sich Ende der er Jahre noch sehr deutlich die patriarchalische Familienstruktur bemerkbar, in der vor allem die Frauen den Haushalt und die Kindererziehungen stemmen mussten.⁵⁸ Nicht nur Firsov, sondern auch die Sozialwissenschaftler betonten ideologisch konform die hohe Bedeutung der Massenmedien im Allgemeinen und besonders des Fernsehens für die Persönlichkeitsentwicklung der Menschen: Wie die Presse, die Lenin zum „kollektiven Organisatoren“ erhoben hatte, galten seit den er Jahren auch die audio-visuellen Medien, wie die Pravda nicht müde wurde zu betonen, als Mittel der Aufklärung, der Kulturrevolution und Demokratisierung.⁵⁹ Diese Funktion des Fernsehens musste jedoch nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch nachgewiesen werden, um der kulturkritischen These seiner demobilisierenden und entpolitisierenden Wirkung entgegenzutreten. Dieser methodische Vorgriff prägte den methodischen Zugang der sowjetischen Fernsehund Publikumsforschung. Sie war der sowjetischen Modernisierungstheorie verpflichtet und wies deutliche Kongruenzen zu den zeitgenössischen westli⁵⁶ ⁵⁷ ⁵⁸ ⁵⁹

Ebda., S. –. Ebda., S. –. Ebda., S. . Millionam slušatelej i zritelej, in: Pravda, Nr. , .., S .

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chen Ansätzen auf. Die meisten westlichen und sowjetischen Soziologen betrachteten das Fernsehen als Indikator und Faktor des sozialen Fortschritts. Sie nahmen an, dass das Fernsehen Wissen und Bildung bei den Zuschauern fördere.⁶⁰ Auf sowjetischer Seite überwog zudem der Optimismus, dass das sowjetische Fernsehen – im Gegensatz zum kapitalistischen – ein ‚demokratisches‘ Mittel der Verbreitung von Wissen, der Entwicklung der kommunistischen Persönlichkeit und der Meinungsvielfalt darstellte.⁶¹ Dieses Fortschrittsparadigma und die Vorstellung, dass das Fernsehen das Publikum recht unmittelbar beeinflusste, führten jedoch auch zu mancher argumentativen Schleife innerhalb ein- und derselben Studie. Besonders die Frage des Einflusses implizierte oft pessimistische Prognosen über die Fernsehnutzung durch die Zuschauer. Die Vorstellung, dass das Fernsehen das Publikum zuhause im Wohnzimmer berieselte, beförderte unmittelbar das Konzept eines passiven Zuschauers.⁶² Daraus resultierten sehr ambivalente Urteile. So betrachtete Boris Grušin das Fernsehen grundsätzlich als Bestandteil des „gesellschaftlichen Lebens“. Er beklagte allerdings Ende der er Jahre, dass „auch in der heutigen Zeit (…) fast ein Viertel der Stadtbevölkerung überhaupt nicht am gesellschaftlichen Leben“ teilnehme. Grušin stützte sein Urteil insbesondere auf den Fernsehkonsum: Mehr als die Hälfte der Befragten in der repräsentativen Studie sehe keine Fernsehsendungen, ein Zehntel lese keine Zeitungen, ein Viertel keine Zeitschriften, ein Fünftel keine Bücher, ein Sechstel höre kein Radio und besuche kein Kino.⁶³ Dabei war Fernsehkonsum nicht gleich Fernsehkonsum. Grušin diagnostizierte nämlich für die zweite Hälfte der er Jahre mit Blick auf das Fernsehen zugleich eine „in vielen Familien grassierende ‚Visophilie‘“. Sie verkehre das Fernsehen von einer wichtigen Bildungs-, Unterhaltungs- und Informationsquelle in ihr Gegenteil und führe zur „geistigen und körperlichen Verkümmerung des Menschen“. Da der Fernsehkonsum, wie seine Forschungen zu sowjetischen Städten ergaben, immer mehr Zeit auf Kosten anderer Freizeittätigkeiten in Anspruch nehme, werde sogar ein neuer „Menschentyp geformt, der die Kultur ausschließlich passiv zu ⁶⁰

⁶¹ ⁶²

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Michael Meyen, William Hillman: Communication Needs and Media Change. The Introduction of Television in East and West Germany, in: European Journal of Communication  (), S. –, hier S. . Firsov, Televidenie, S. –. Diese Schlussfolgerung betont Christiane von Hodenberg für die westliche Fernsehforschung: Expeditionen in den Methodendschungel. Herausforderungen der Zeitgeschichtsforschung im Fernsehzeitalter, in: Journal for Modern European History  (), H. , S. –, hier S. . Grušin u. a., Zeit, S. .

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‚konsumieren‘“ vermochte. Mit Blick auf den neuen Menschen war besonders problematisch, dass das „Spezifikum des ‚Filzlatschenkinos‘“ darin bestünde, „keine Anstrengungen“ zu erfordern und deswegen letztlich „die Fähigkeiten und Anlagen der Persönlichkeit verkümmern“ zu lassen.⁶⁴ Gerade Personen mit niedrigem Bildungsniveau haben Grušins Studie zufolge ihre Freizeit nicht sinnvoll genutzt und strebten vor allem nach Kino, Konzerten im Freien und Fernsehen. Laut Grušin galten diese Beschäftigungen jedoch als „Ersatz“ und zählten nicht zu den „Schätze(n) der Kultur“, wie die Lektüre von Zeitungen und Büchern oder der Besuch von Theater, Konzert und Museum. Damit stand besonders das Bildungsniveau einer „allseitigen“ bzw. „harmonischen Persönlichkeitsentwicklung“ entgegen.⁶⁵ Tatsächlich stieg Fernsehen rasch zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung der Sowjetbürger auf. Boris Grušin zeigte in einer Studie, die für die Städte der ganzen Sowjetunion Repräsentativität beanspruchte, dass Fernsehkonsum neben Freunde zu treffen bereits Mitte der er Jahre im Durchschnitt die wichtigste Freizeittätigkeit war.⁶⁶ Beide Geschlechter verbrachten Ende der er Jahre mehr als die Hälfte ihrer arbeitsfreien Zeit vor dem Bildschirm.⁶⁷ Die Langzeitstudie zu Pskov belegte den weiter ansteigenden Fernsehkonsum.  schauten städtische arbeitende Männer bereits , Stunden und Frauen , Stunden pro Woche.⁶⁸ Neben der geschlechtsspezifischen Freizeitnutzung war Fernsehkonsum jedoch auch stark bildungsabhängig. Die Menschen saßen tendenziell umso länger vor dem Bildschirm, desto geringer der Bildungsgrad war. Zumindest dokumentierten geringer gebildete Personen in den Befragungen häufiger ihren Fernsehkonsum. Besonders weniger gebildete Männer favorisierten seit Mitte der er Jahre Fernsehschauen deutlich gegenüber dem Lesen ⁶⁴ ⁶⁵ ⁶⁶ ⁶⁷

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Ebda., S.  f. Ebda., S. , . Ebda., S.  f. Laut einer häufig zitierten Studie über das nordwestrussische Pskov sahen arbeitende Männer  ,, arbeitende Frauen , Stunden pro Woche fern. Eine andere Studie über Arbeiter in großen Städten der europäischen Sowjetunion erhoben für Fernseh- und Radiokonsum zwischen , und , Stunden je nach Bildungsstand. Diese Daten sind nicht umstandslos auf die gesamte Sowjetunion zu übertragen, denn die meisten Studien konzentrierten sich lediglich auf Städte in der RSFSR. Vgl. Boris T. Kolpakov, Vasilii D. Patrušev: Bjudžety vremeni gorodskogo naselenija, Moskau , S. , ; Leonid A. Gordon, Ėduard V. Klopov, Leon A. Onikov: Čerty socialističeskogo obraza žizni. Byt gorodskich rabočich včera, segodnja, zavtra, Moskau , S. –, –. Vasilij D. Patrušev: Osnovnye izmenenija v sfere svobodnogo vremeni gorodskogo naselenija v poslednjuju tret’ XX veka, in: Tat’jana M. Karachanova (Hg.): Bjudžet vremeni i peremeny v žiznedejatel’nosti gorodskich žitelej v – godach, Moskau , S. –, hier S. .

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der Tagespresse, Journale oder Bücher.⁶⁹ Allerdings gaben auch Ärztinnen in Novosibirsk, deren Freizeitverhalten  und  untersucht worden ist, Fernsehen als ihre häufigste und zunehmende Freizeitbeschäftigung an. Während sie  , und  bereits , Stunden pro Woche das TV oder Radio – beides wurde häufig in einer Kategorie erfasst – einschalteten, griffen auch die Ärztinnen seltener zur Tageszeitung: , im Vergleich zu , Stunden pro Woche. Dieser Rückgang sticht besonders heraus, da die Freizeit generell durch die Einführung der -Tage-Woche zunahm und damit außer Müßiggang auch alle sonstigen Freizeitbeschäftigungen wie die Lektüre von Büchern und beruflichen Publikationen, Zeit mit Kindern und Freunden zu verbringen oder Sport zu treiben und ins Kino zu gehen.⁷⁰ Alle Soziologen rückten den zunehmenden Anteil der Selbstbildung und der politisch-gesellschaftlichen Arbeit in den Blick. Diese kategorisierte Boris Grušin als „progressive Tätigkeiten“, die zur „Entwicklung der Persönlichkeit“ beitrugen. In diesem Bereich sei zu erkennen, „welch großen Weg das Land in dieser Zeit (gemeint ist seit , K. B.) zurückgelegt hat“.⁷¹ Dennoch kritisierte Grušin die Gestaltung der Freizeit deutlicher als andere Soziologen. So habe die Arbeitszeitverkürzung nicht automatisch zu einer sinnvolleren Nutzung der arbeitsfreien Zeit geführt, die zur Persönlichkeitsentwicklung beitrage. Positive Entwicklungen im Vergleich zu den frühen er Jahren seien, dass Ende der er Jahren mittlerweile , Prozent der städtischen Bevölkerung einer gesellschaftlichen Tätigkeit nachgingen, , Prozent an politischen Schulungen teilnahmen, , Prozent ein Abend- bzw. Fernstudium und , Prozent regelmäßig ein Selbststudium absolvierten. Grušins Ergebnissen für städtische Bevölkerung zufolge, hörten , Prozent der Befragten täglich Radio, , Prozent lasen Zeitung, , Prozent ein Buch und , Prozent erholten sich passiv. Wenn jedoch nur nach der Regelmäßigkeit der Freizeitbeschäftigung gefragt wurde, lag Fernsehen mit großen Unterschieden zwischen Moskau, den großen Republikstädten und den übrigen kleineren Städten knapp vor dem Besuch von Konzerten im Freien und dem von Sportveranstaltungen. Beim Fernsehen wirkte sich jedoch auch der ⁶⁹

⁷⁰

⁷¹

Lev N. Kogan: Buch und audio-visuelle Medien, in: Hansjürgen Koschwitz (Hg.): Massenkommunikation in der UdSSR. Sowjetische Beiträge zur empirischen Soziologie der Journalistik, Freiburg/München , S. –, –; Rosemarie Rogers: Normative Aspects of Leisure Time Behavior in the Soviet Union, in: Sociology and Social Research  (), S. –; Gordon/Klopov/Onikov, Čerty, S. ; Vasilij D. Patrušev: Vremja kak ėkonomičeskaja kategorija, Moskau , S. . A. G. Kononov: Bjudžet vremeni vračej Novosibirska pri -dnevnoj rabočej nedeli, in: Vasilij D. Patrušev (Hg.): Problemy sovokupnogo balansa vremeni i itogi issledovanija, Novosibirsk , S. –, hier S. . Grušin u. a., Zeit, S. .

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Bildungsgrad stark aus, während die verschiedenen Altersgruppen ebenso wie Frauen und Männer relativ gleich häufig vor dem Bildschirm saßen.⁷² Diese recht eindeutigen empirischen Befunde wurden durch eine starke Abwehrhaltung und Skepsis traditioneller Bildungseliten gegenüber dem Fernsehen gespiegelt.⁷³ Angesichts dessen bestand die Herausforderung für die Soziologen darin, die Funktion des Fernsehkonsums in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Wie im Westen war auch ein Teil der sowjetischen empirischen Sozialforschung durch einen kulturkritischen Blick auf das Fernsehen geprägt und pathologisierte den Fernsehkonsumenten.⁷⁴ Während sich in westlichen Staaten die Sichtweise verbreitete, dass das Fernsehen zu einem Verfall der traditionellen politischen Kultur beitrage, war es in der Sowjetunion ideologisch jedoch nicht erwünscht, etwaige negative Auswirkungen auf politische Praktiken zu konstatieren.⁷⁵ Die „Visophilie“ durfte keinesfalls mit einem entpolitisierten Privatleben als empirischer Diagnose gleichgesetzt werden. Um dieser argumentativen Sackgasse zu entkommen, griffen die sowjetischen Soziologen auf den ideologisch-modernisierungstheoretischen Bildungsanspruch zurück. Sie gingen davon aus, dass das steigende Bildungsniveau der Bevölkerung einem übermäßigen und schädigenden Fernsehkonsum vorbeuge. In dieser Lesart begründete die höhere Bildung die ‚richtigen‘ Fernsehkonsumpraktiken und machten das Fernsehen zu einem erneuernden Medium, das die traditionelle Spaltung in Hoch- und Massenkultur überbrücken konnte. Bildung verhindere nämlich, so argumentierten die Soziologen Leonid A. Gordon, Ėduard V. Klopov und Leon A. Onikov, dass die Sowjetbürger ihre Freizeit nur vor dem Fernsehgerät verbrächten. Damit erschien ihnen vor allem die Gefahr einer „televisuellen Allesfresserei (televizionnaja ‚vsejadnost‘)“ gebannt. Zudem trage die „stürmische Entwicklung des Fernsehens“ keineswegs zu einer Verarmung des alltäglichen Kulturlebens bei, sondern fördere dessen Vielfalt.⁷⁶ ⁷² ⁷³ ⁷⁴

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Ebda., S. –. Bönker, Das sowjetische Fernsehen. Einige westliche Soziologen attestierten dem Fernsehen, dass es die Sinne trübe, soziale Beziehungen schwäche, aus den Menschen „couch potatoes“ mache oder gar wie eine Droge wirke. Diese drastischen Aussagen sind allerdings vor allem ein Phänomen der er Jahre. Siehe die vielzitierte Studie von Marie Winn: Die Droge im Wohnzimmer, Reinbek bei Hamburg . Der amerikanische Soziologe Robert D. Putnam beklagte, dass hoher Fernsehkonsum die politische Aktivität, das bürgerliche Engagement und die sozialen Beziehungen des Publikums negativ beeinflusse: „The culprit is television.“ Siehe Robert D. Putnam: Tuning In, Tuning Out. The Strange Disappearance of Social Capital in America, in: PS: Political Science and Politics  (), H. , S. –, S.  f. Gordon/Klopov/ Onikov, Čerty, S. .

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Der sowjetische Fernsehzuschauer als „neuer Mensch“

Mit dem Argument, dass das Fernsehen zu anderen Freizeitbeschäftigungen, wie Kino, Literatur oder Museumsbesuchen, anrege, bestärkten sie die Selbstdarstellung der Fernsehmitarbeiter. In den er Jahren unterstrichen gerade die Fernsehmitarbeiter die Bedeutung des Mediums, indem sie es nicht in die Konkurrenz zu Kino, Literatur und Theater stellten, sondern es als propagierendes Medium für andere Genres darstellten.⁷⁷ Bis zur perestrojka reproduzierten die Soziologen die Rhetorik eines gesetzmäßigen Fortschritts, des wachsenden Bildungsniveaus und des zunehmend rationalen Konsum von Waren und kulturellen Produkten. Bereits in den späten er, besonders aber in den er Jahren, als die sowjetische Soziologie als Disziplin an Bedeutung und Untersuchungsmöglichkeiten eingebüßt hatte, war es möglich, die nach wie vor bestehenden sozio-kulturellen Unterschiede in der Lebensweise der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen explizit zu benennen.⁷⁸ Die Hypothesen über den hohen Wirkungsgrad des Mediums, seinen Bildungsauftrag und die häusliche Demobilisierung des Zuschauers machten das Fernsehen für das Regime attraktiv. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch die Parteispitze seit Ende der er Jahre ein steigendes Interesse am Fernsehen entwickelte. Umso detaillierter die Sozialforschung die zunehmende Bedeutung des Fernsehens für die Freizeitgestaltung nachzeichnete, umso mehr galt als es nunmehr als sozialisierendes und sinnstiftendes Medium, das nachhaltig gesellschaftliche und öffentliche Botschaften ins Private transportieren konnte. Was aber das Konzept des „neuen Menschen“ betrifft, so war es weitgehend aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Ende der er Jahre leiteten neutralere soziologische Kategorien wie Alter, Geschlecht, Bildung und Beschäftigungsart die Untersuchungen an.⁷⁹ Der „neue Mensch“ war durch die Begriffe der Lebensführung bzw. Lebensweise ersetzt worden, die es zu erfor-

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⁷⁸

⁷⁹

GARF, f. , op. , d. , : Itogovaja spravka o rezul’tatach anketnogo oprosa radio-slušatelej i telezritelej “O roli radioveščanija i televidenija v kult’turnom i ėstetičeskom vospitanii naselenija” i dokumenty nej, ll. –. Anatolij P. Butenko: Socialističeskij obraz žizni. Problemy i suždenija, Moskau , S. –; ders.: Allgemeines und Besonderes in der sozialistischen Lebensweise, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge . Halbjahr (), S. –, hier . Siehe z. B. Grušin u. a., Zeit, S. –.

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schen galt.⁸⁰ Nur im Konzept der „Persönlichkeit“ und der „Persönlichkeitsentwicklung“ klang der „neue Mensch“ noch an.⁸¹

 Fazit und Ausblick: Was ist vom „neuen Menschen“ geblieben? In der Selbstbeobachtung der spätsowjetischen Gesellschaft war der „neue Mensch“ im Vergleich zu seinem kulturrevolutionären Ursprung unter veränderten Vorzeichen noch präsent. Hatten sowjetische Medien in den er Jahren zunächst Flieger als heldenhafte und idealtypische „neue Menschen“ konstruiert, standen in den er Jahren Kosmonauten im Vordergrund. Sie sollten erstrebenswerte Vorbilder für die Bevölkerung sein.⁸² Wegen der propagandistischen Präsenz diente der Begriff westlichen Korrespondenten, wie Klaus Mehnert, als Zerrbild, um den Alltag, die geringere Individualität der sowjetischen Gesellschaft und die Andersartigkeit im Vergleich zu Bürgern freiheitlich-demokratischer Systeme zu suggerieren. Dennoch: Die Helden waren nur noch das Symbol der vergangenen kulturrevolutionären Ansprüche. Der utopische Gehalt des „neuen Menschen“ erstarrte in den verschiedenen Beobachtungsregimen im mittlerweile äquivalent gebrauchten Begriff des Sowjetmenschen. Die Beobachtung von außen verdient eine gesonderte Untersuchung, denn die Korrespondenten erzeugten eine zentrale kollektive Repräsentation, die im Kalten Krieg die westlichen Wahrnehmungen der Sowjetunion strukturierte. Am Wortgebrauch der zeitgenössischen westlichen Medien ist abzulesen, dass der „Sowjetmensch“ ein Politikum und eine gängige Fremdbeschreibung des Kalten Krieges war. Der SPIEGEL bezeichnete den „normalen“ sowjetischen Bürger regelmäßig als „Sowjet-Menschen“ und verstand ihn als eine real existierende Größe.⁸³ Die westlichen Journalisten nahmen damit den omnipräsenten Gebrauch der sowjetischen offiziellen Sprache in den Medien, auf Parteitagen ⁸⁰

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Siehe z. oB. Leonid Gordon, Ėduard Klopow: Der Mensch in seiner Freizeit. Soziale Probleme der Freizeitgestaltung, Moskau , S. –; Gordon/Klopov/Onikov, Čerty, S. –; Aleksandr S. Paškov (Hg.): Obraz žizni naselenija krupnogo goroda. Opyt kompleksnogo social’nogo issledovanija, Leningrad , S. –. Gordon/Klopow, Mensch, S. ; Paškov (Hg.), Obraz, S. –. Dietrich Beyrau: Rückblick auf die Zukunft. Das sowjetische Modell, in: Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im . Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien , S. –; Slava Gerovitch: “New Soviet Man” Inside Machine: Human Engineering, Spacecraft Design, and the Construction of Communism, in: Osiris  (), S. –, hier S. . Der SPIEGEL, Nr. , ..: Das süße Leben von Moskau. Der Alltag der sowjetischen Prominenz, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-.html [zuletzt aufge-

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oder in Reden während Auslandsreisen auf. Sprach ein Partei- oder Staatsrepräsentant die Bürger der Sowjetunion als „Sowjetmensch“ an, schwang oft mit, dass die ehemalige sozio-politische Utopie realisiert sei.⁸⁴ Als fester Bestandteil der offiziellen Sprache veralltäglichte der Ordnungsbegriff des „neuen Menschen“ fern der Helden zum „Sowjetmenschen“ und suggerierte nur noch individuelles Entwicklungspotential zur Förderung des Kollektivs. Möglicherweise war dies die Lehre, die die ideologischen Strategen aus der sozialwissenschaftlichen Untersuchung der Gesellschaft in den er Jahren gezogen haben. Die Wissenschaftler, die den Fernsehkonsum als wichtige Freizeitpraktik des „neuen Menschen“ analysiert haben, entzauberten die Propagandaformel der kulturrevolutionären Ansprüche: Der „neue Menschen“ verschwand in den er Jahren im Spannungsfeld zwischen Theorie und empirisch beobachteter Wirklichkeit. Als gesellschaftspolitisches Konzept schien er nicht zuletzt deswegen nicht mehr relevant für die wissenschaftliche Analyse der sozialen Ordnung zu sein, weil sein Anspruch auf sozio-kulturelle Kollektivität und Homogenität den empirischen Ergebnissen widersprach: Sie zeigten im Bereich der Freizeitpraktiken eher Individualität und sozio-kulturelle Differenzierungen auf. Wenn die Selbst- und Fremdrepräsentationen des „neuen Menschen“ auch Konjunkturen unterlagen, verschwanden sie nicht mit dem Untergang der Sowjetunion und wirken bis heute nach. Die deutschen Medien verwenden ihn nach wie vor essentialistisch konnotiert, um eine bestimmte Spezifik aufzurufen, die den sowjetisch geprägten Menschen angeblich von anderen Europäern unterscheidet. Verwendet der in Deutschland lebende, jüdisch-russische Schriftsteller Wladimir Kaminer den Begriff mit einem Augenzwinkern,⁸⁵ besitzt er für die weißrussische Publizistin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch eine handlungsleitende Essenz. Für sie ist er bis heute ein spürbares, hoch politisches Ergebnis der sowjetischen Gesellschaftspolitik: „Denn wir sind Sowjetmenschen. […] Ich habe zeigen wollen, dass der Sowjetmensch, der rote Mensch, arm dran ist und

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⁸⁵

rufen am ..]; Der SPIEGEL, Nr. , ..: Piwo muß her, http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-.html [zuletzt aufgerufen am ..]. Vgl. z. B. die Reden, die Brežnev auf seiner Frankreich-Reise im Oktober  hielt: Leonid I. Brezhnew: Auf dem Wege Lenins, Bd. : Mai  – März , Berlin , S. –. Zu Kaminer: Larissa Polubojarinova: Wladimir Kaminer, ein Nomade –„Kleine Literatur“ als ein großes Problem der Interkulturalitätsforschung, in: Germanica (En ligne)  (), –, hier S. , http://germanica.revues.org/ [zuletzt aufgerufen am ..].

Kirsten Bönker



gleichzeitig fürchterlich. Dieser Sowjetmensch kehrt jetzt wieder zurück. Die Sehnsucht nach der alten Zeit, der alten Autorität ist wieder da.“⁸⁶ Der sowjetische Soziologe Jurij Levada hatte bereits  vorausgesagt, dass der von seiner Forschungsgruppe untersuchte „Menschentyp (…) auch ohne die offiziellen sowjetischen Etiketten noch lange Zeit sowjetisch bleiben“ werde. Er meinte, dass das sowjetische „Lebens- und Denksystem“ die Menschen in die „entsprechende soziokulturelle ‚Nische‘“ stellen würde.⁸⁷ Zum Ende der Sowjetunion hielt also auch die sowjetische Soziologie, die sich mit der perestrojka erneut im Aufbruch befand, den „Sowjetmenschen“ als empirisch messbare Größe fest. Damit verwundert es kaum, dass er als Deutungskategorie die politische Wende überlebt hat und nach wie vor dazu dient, gesellschaftliche Entwicklungen zu bewerten. Die diskursive Persistenz des „Sowjetmenschen“ bezeichnet auch heute noch eine relative sozio-kulturelle und politische Rückständigkeit der post-sowjetischen Gesellschaften. Mit dieser westlichen Beurteilung deckt sich post-sowjetische Selbstwahrnehmung allerdings kaum. Letztlich betrachten viele Menschen die Prägungen der sowjetischen „neuen Lebensweise“ als Ausweis eines eigenen Weges in die Moderne, der nicht zuletzt die Konkurrenzfähigkeit der Sowjetunion und die zeitgenössische Überwindung der Rückständigkeit in der Gegenwart nostalgisch rückblickend dokumentiert. Die sozialwissenschaftlichen Freizeitforscher, die seit den späten er Jahren zum ersten Mal damit konfrontiert waren, der Kulturrevolution im Alltag der Menschen nachzuspüren, konservierten einerseits eine intellektuelle, kulturkritische Haltung gegenüber dem neuen Medium Fernsehen. Andererseits lösten sie sich von der überkommenen, auf das Kollektiv zielenden Kategorie des „neuen Menschen“ und fragten nach individuellen Praktiken, die zur Persönlichkeitsentwicklung beitrugen. Auf diese Weise ließ sich der Fernsehkonsum nicht nur als eine zentrale Freizeitpraktik des neuen sowjetischen Lebensstils verorten, sondern sogar anhand ideologisch weniger belasteter Kategorien wie Alter, Geschlecht oder Bildung aufschlüsseln. Damit war zu belegen, dass die sowjetischen Fernsehzuschauer sich in ihren Praktiken und Interessen nicht grundlegend von westlichen ‚bourgeoisen‘ Zuschauern unterschieden.

⁸⁶ ⁸⁷

Der SPIEGEL, Nr. , .., Susanne Beyer: Sie nennen mich Verräterin, http: //www.spiegel.de/spiegel/print/d-.html [zuletzt aufgerufen am ..]. Lewada, Sowjetmenschen, S.  f.

Personenverzeichnis

Achiezer, Aleksandr Samojlovič,  Aksakov, Sergej Timofeevič,  Aleksandr I., , , ,  II., , ,  III., ,  Aleksej I., , ,  Aleksievič, Svetlana Aleksandrovna,  Altrichter, Helmut,  Anderson, Perry, ,  Anučin, Dimitrij Nikolaevič, –,  Apsit, Aleksandr Petrovič, ,  Aristoteles,  Atkinson, Dorothy,  Augustinus, – Baburina, Nina,  Baer, Carl Ernst von, ,  Balzac, Honoré de, ,  Beda Venerabilis,  Bednyj, Dem’jan,  Benjamin, Walter,  Beyme, Carl Friedrich von,  Blount, Henry,  Bönker, Kirsten, , – Bonnell, Victoria,  Brežnev, Leonid Il’ič, , , , , ,  Bruisch, Katja, , – Bubnov, Nikolaj Jur’evič,  Buckle, Henry Thomas,  Burckhardt, Jacob, ,  Čaadaev, Petr Jakovlevič, , ,  Čajanov, Aleksandr Vasilevič, , – , –



Carr, Edward Hallett,  Celan, Paul,  Censorinus,  Čerkasskij, Vladimir Aleksandrovič, ,  Černyševskij, Nikolaj Gavrilovič,  Chomjakov, Aleksej Stepanovič,  Chruščev, Nikita Sergeevič, , , , , –,  Cicero,  Comte, Auguste,  Condorcet, Antoine, ,  Crisp, Olga, , ,  Croce, Benedetto,  Crummey, Robert O., , , ,  Čubar’jan, Aleksandr Oganovič,  Čuprov, Aleksandr Ivanovič, , ,  Darwin, Charles, , , , , ,  Daston, Lorraine,  Deniker, Joseph,  Denisov, Andrej,  Dickens, Charles,  Diderot, ,  Dohrn, Verena, , – Dostoevskij, Fedor Michajlovič,  Droysen, Johann Gustav, , ,  Eisenstadt, Shmuel N., , , ,  Elisabeth I.,  Engelstein, Laura,  Espagne, Michel,  Esping-Andersen, Gøsta,  Fedor

Index

I.,  III., ,  Feest, David, –, – Felder, Björn, , – Filipčenko, Jurij Aleksandrovič, ,  Filipov, Ivan,  Finley, Moses,  Firsov, Boris Maksimovič, , – Foucault, Michel, , ,  Frevert, Ute,  Freyer, Hans,  Freytag, Gustav,  Friedrich II., , ,  Fülöp-Miller, René,  Galison, Peter,  Gamaleja, Nikolaj Fedorovič, – Gerasimov, Il’ja Vladimirovič,  Gercenštejn, Grigorij Markovič, , ,  Gerschenkron, Alexander, , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , ,  Girs, Aleksandr Karlovič,  Godunov, Boris,  Gogol’, Nikolaj Vasil’evič,  Goody, Jack,  Gorbačev, Michail Sergeevič,  Gordon, Leonid Abramovič,  Patrick,  Gradovskij, Aleksandr Dmitrievič,  Grant, Madison,  Griesse, Malte, , – Grušin, Boris Andreevič, , – Häfner, Lutz, –, –, – Hartog, François,  Haupt, Heinz-Gerhardt,  Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, , , ,  Herberstein, Sigmund von,  Herder, Johann Gottfried, ,  Herzen, Alexander, , , ,  Higgins, Marguerite,  Hildebrand, Klaus, 



Hildermeier, Manfred, –, , , , , –, , –, , , , , , , , – , , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Hintze, Otto,  Hirschhausen, Ulrike von, , , –  Hüchtker, Dietlind,  Hugo, Victor,  Il’f, Il’ja Arnol’dovič,  Janson, Julij Ėduardovič, ,  Juchimenko, Elena Michajlovna,  Kaelble, Hartmut, , , , – Kämpfer, Frank,  Kaminer, Wladimir,  Kant, Immanuel, , ,  Karamzin, Nikolaj Michajlovič, ,  Katharina II., , , , , , – , , , ,  Kaufman, Aleksandr Arkad’evič, , , , , – Kautsky, Karl, ,  Kerženec, Aleksandr von,  Kiselev, Pavel Dmitrievič, , ,  Klee, Paul,  Klopov, Ėduard Viktorovič,  Kocka, Jürgen, , – Kol’cov, Nikolaj Konstantinovič, ,  Kondrat’ev, Nikolaj Dmitrievič, , –  Korb, Johann Georg, – Kornilov, Aleksandr Aleksandrovič,  Košelev, Aleksandr Ivanovič, –, ,  Koselleck, Reinhart, , ,  Kotsonis, Yanni, , , ,  Kropotkin, Petr Aleksandrovič,  Kula, Witold,  Lamarck, Jean-Baptiste de, , , 



Lanskoj, Nikolaj Alekseevič,  Lavrov, Petr Lavrovič, ,  Le Goff, Jacques,  Leibniz, Gottfried Wilhelm, , , , , , –,  Lenin, Vladimir Il’ič, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Lessing, Gotthold Ephraim,  Levada, Jurij Aleksandrovič, , ,  Lincoln, Bruce,  Linde, Bogumił S.,  Ljubopytnyj, Pavel Onufriev,  Löwith, Karl,  Ludwig XIV., ,  Luhmann, Niklas, ,  Luther, Martin,  Lysenko, Trofim Denisovič, ,  Makarov, Nikolaj Pavlovič, , –, – Maksimovič, Lev Maksimovič,  Małowist, Marian,  Mamontov, Savva Ivanovič,  Martin, Alexander, , – Marx, Karl, , , , , , , , , , , ,  Mečnikov, Il’ja Il’ič,  Mehnert, Klaus, , ,  Melton, Edgar,  Mendel, Gregor,  Michail I., ,  Michajlovskij, Nikolaj Konstantinovič, ,  Michels, Georg B. ,  Mičurin, Ivan Vladimirovič,  Miljutin, Nikolaj Alekseevič, , ,  Mironov, Boris Nikolaevič, ,  Mitterauer, Michael,  Möller, Horst, , – Mogil’ner, Marina Borisovna, , –  Moor, Dimitrij, , , ,  Müller, Gerhard Friedrich, 

Index

Müller, Johann Bernhard,  Neutatz, Dietmar, , – Nichols, Robert L.,  Nicolai, Friedrich,  Niehbur, Barthold Georg,  Nikolaj I., , , , , , , ,  II., , , , ,  Nixon, Richard,  Nolte, Hans-Heinrich,  Obolenskij, Valerijan Valerianovič, , ,  Ochtenskij, Faddej,  Oganovskij, Nikolaj Petrovič, , , , , , ,  Onikov, Leon Aršakovič,  Orzeszkowa, Eliza,  Paert, Irina,  Parsons, Talcott,  Pasteur, Louis,  Pazuhina, Nadežda,  Pearson, Karl,  Peras, Pia,  Perrie, Maureen, , – Petr I., , , , , , , , , , , –, , , , , –, , , – , , , ,  Petraca,  Petrov, Evgenij Petrovič,  Plechanov, Georgij Valentinovič,  Plessner, Helmuth,  Ploetz, Alfred,  Podmazov Arnol’d A.,  Pokrovskij, Michail Nikolaevič,  Nikolaj Nikolaevič,  Pomian, Krzysztof,  Potašenko, Grigorij,  Pozdeeva, Irina Vasil’evna,  Pugačev, Emel’jan, ,  Puškin, Aleksandr Sergeevič,  Radakov, Aleksej Aleksandrovič, –

Index

Raffael,  Ranke, Leopold von, , ,  Rasputin, Grigorij Efimovič,  Razin, Stepan Timofeevič, , , , ,  Repin, Il’ja Efimovič,  Reutenfels, Jakob,  Rhode, Maria, , –,  Richardson, William,  Ripley, William,  Ritter, Gerhard,  Rjabušinskij, Vladimir Pavlovič,  Roscher, Wilhelm, ,  Rosenhane, Schering,  Rostovcev, Jakov Ivanovič,  Rostow, Walt W., ,  Rousseau, Jean-Jacques,  Ruban, Vasilij Grigor’evič,  Saavedra Fajardo, Diego de,  Samarin, Jurij Fedorovič, , , ,  Sandys, George,  Schallmayer, Wilhelm,  Schenk, Benjamin F., , ,  Schulze Wessel, Martin,  Scott, James C.,  Szczepanowski, Stanisław,  Semenov, Michail Nikolaevič,  Semenov, Nikolaj Petrovič, – Sikovskij, Ivan Alekseevič,  Skarbek, Fryderyk Florian, ,  Slanskaja, Ekaterina Vissarionovna,  Sofija Alekseevna, , ,  Solov’ev, Jakov Aleksandrovič, , ,  Spencer, Herbert,  Stadelmann, Rudolf,  Stalin, Iosif Vissarionovič, , , , , , , , –, , , , , , – ,  Stolypin, Petr Arkad’evič, , , ,  Struck, Bernhard, 



Struve, Petr Berngardovič, ,  Sue, Eugène,  Suess, Edmund,  Świętochowski, Aleksander,  Šepilevskij, Evgenij Alekseevič,  Szűcs, Jenő,  Tarnovskaja, Praskov’ja Nikolaevna, ,  Tarnovskij, Veniamin Michajlovič,  Thadden, Rudolf von, , – Thukydides,  Tocqueville, Alexis de,  Tours, Gregor von,  Trockij, Lev Davidovič, , , , , , , , ,  Tugan-Baranovskij, Michail Ivanovič,  Turgenev, Ivan Sergeevič,  Ulam, Adam Bruno,  Uspenskij, Boris Andreevič,  Vitte, Sergej Jul’evič,  Vockerodt, Johann Gotthilf,  Volkonskij, Sergej Vasil’evič, , , , ,  Voltaire, , , , , , –, , ,  Voroncov, Vasilij Pavlovič, –, ,  Waschik, Klaus,  Wawra, Ernst, , – Weber, Friedrich Christian, – Weber, Max, , , , ,  Wehler, Hans-Ulrich, , , ,  Welskopp, Thomas,  White, Stephen,  Wittgenstein, Karl, ,  Ludwig,  Wittram, Reinhard,  Wolff, Larry,  Władysław, Prinz,  Zavoloko, Ivan Nikiforovič, , , ,  Zedler, Johann Heinrich, 

Ortsverzeichnis

Afrika, , 

, , , , , , , , , – , , , , – , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , 

Berlin, , , , , , , ,  Böhmen, , –,  Brasilien, ,  Bretagne, ,  Bukowina, , ,  Bulgarien, , , , ,  China, , , , , , ,  Daugavpils, ,  Deutschland, , , , –, , , , , , , –, , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Dorpat,  England, siehe Großbritannien Europa nördliches, , , , ,  östliches, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , ,  südliches, , , –, –  westliches, , , , , , , –, –, –, , , , , –, , , , , , , , , , , , , –, , , –, –,



Frankreich, , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Galizien, , , , , , , , , , –,  Griechenland, , , , ,  Großbritannien, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Habsburger Monarchie, , , , , , –, –, , ,  Indien, , ,  Italien, , , , –, –, , , ,  Japan, , , ,  Kärnten, 

Index

Kiev, , , , , , , , ,  Königsberg,  Lettland, , –, , , ,  London, , , , ,  Mähren, – Masuren,  Moskau, , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , – , , , –, , , , , , , ,  Narva,  Niederlande, , , ,  Niederösterreich, , ,  Odessa, , , , , , ,  Österreich, , , , , , – , –, ,  Osmanisches Reich, , , , , , –, , , ,  Ostpreußen, ,  Paris, , , , , , , , ,  Polen, , , , , , , –, – , , , , , , , , , , , ,  Polen-Litauen, ,  Pommern, , , , – Portugal, , , , , – Prag, , , , , , , ,  Preußen, , , , , , , , , , , , , ,  Rheinland, , , ,  Riga, –, –, , –, , ,  Rumänien, , , , 



Russland, , –, , , , , , , , , , –, –, –, , , –, –, –, , , , , , –, , –, –, , , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , – , , , –, , , –, –, – , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , –, –, –, , , –, , , ,  Rēzekne, , ,  Schlesien, ,  Schweden, , , , , ,  Sibirien, , , , , , , , –,  Smolensk, , ,  Spanien, , , , , , ,  St. Petersburg, , , , , , , , , , , , , –, , , , , – Steiermark, ,  Türkei, –, , ,  Ukraine, , , , , , , , ,  Ungarn, , , , , –, –, , ,  USA, siehe Vereinigte Staaten von Amerika Vereinigte Staaten von Amerika, , , , , , , , , , , , , , , , –, , –, , , , ,  Warschau, , , , , –, , , 



Wien, , , , , , , , , , , , , , –, – , , –, , ,

Index

, , , , , , ,  Wolhynien, 

Sachindex

Absolutismus, , , , , , , , –, , , , , , , , , , , , –, , , , , –, , ,  Adel, , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , , ,  Agrarbewegung,  Agrarpolitik, , , , , , , –, –, , , , – Agronome, , , , , , , –, , , , , , , , ,  Altgläubige, , , –, –, – Analphabetismus, , , , , , , , ,  Analysekategorie, , , , , , , , , – Ancien Régime, siehe Absolutismus Anthropologie, , – Aufklärung, , –, , , , , , , , –, , , , , , , , , , – , , , , , , –, , , , , , –, , ,  Automobil, , , , , –

, , , , , ,  -gemeinden, , , , , , , , , –, , –,  allgemein, , , , , , , , , , , , , , –, –, , , , , , , –, –, , –, –, – , –, , , , , , , , , –, , , , , –, , , ,  Beziehungsgeschichte, ,  Bildung, , , , , , , , , , –, , –, , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , – , , ,  bol’ševiki, , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , ,  Bürokratie, , , , , , , , , –, , –, –, , 

Banken, , , ,  Bauern -befreiung, , , , , ,

Despotie, , , , , , , , , , , , , ,  Disparität, –, –, , 





Einkommen, , , –, , , , , ,  Eisenbahn, , , , , , , , , , , , , , , ,  Eliten, , , , , , , , , , , –, , , , , , –, –, , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Empire, siehe Imperium Entfeudalisierung, , ,  Eugenik, , , – Europäisierung, , , , , , , ,  Fernsehen, , , , , –, –, ,  Fortschritt, –, , , –, –, –, –, , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , –, , , , , –, –, , , –, –, ,  Frauen, , , , , , , , , , , , , , , , ,  Fremdzuschreibung/-wahrnehmung (vgl. auch Selbstzuschreibung/-wahrnehmung), , , , , , , , ,  „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, , ,  Gutsadel, , –, , , ,  Hygiene, , , , –,  Rassen-, , 

Index

Sexual-, ,  Imperium, , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Industrialisierung, , , , , –, , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Infrastruktur, , , , , , , , , , ,  intelligencija, , , , , –, – , , , , , , , –, , , , , –,  Kapitalismus, , , , , , , , , , , ,  Katholizismus, , , , , , , , , ,  Kirche, , , –, , , , , –, –, , , –, , –, , , , , , , , ,  Klöster, , , – Klubs, , –, , , ,  Konsum, , , , , , , , , , , –, –, , , ,  Konvergenztheorie, ,  Kriminalität, , , , ,  Krimkrieg, ,  Kulaken (relativ wohlhabende Bauern), , , , ,  Leibeigenschaft, , , , , , –, , , ,  Liberalismus, , , , , , , , , , , –, , , , , , , , ,  Märkte, , , , , , , – , , , , , , 

Index

Marxismus, , , , , , , , , , , ,  Medizin, , , , –, , , –, , ,  Menschenrechte, , ,  Migration, , , , , , , , , , , , ,  Militär, , , , , –, – , –, , , , , , , , , , , , –, , , ,  Mobilität, , , , , , , ,  Moderne/Modernität, , , , –, , , –, , , , , , , , , , , , , , –, , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , ,  Modernen, multiple, , , , ,  Modernisierung, , , , –, , , , , –, , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , , –, , , – , , , , , , , , , , , , ,  Modernisierungstheorie, , , , – , , , , , , , , ,  Monarchie, , ,  Moskauer Reich, –, –, , , , –,  Motorisierung, , –, –, , , –, ,  narodničestvo (Bewegung der Volkstümler), , , –, , , , , 



Nation, , , , , , , –, , , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , – , , , , , , , , , , , , –, –, , ,  Nationalismus, , , , , , ,  Nationalsozialismus, , –, , , ,  Nationalstaat, , , , , , –, , , , , , ,  Nikon’sche Reformen, ,  Nord-Süd-Gefälle, , , ,  obščina (ländliche Haftungs- und Umteilungsgemeinde), , , , , , , , – OECD, –, ,  Orthodoxie, , , –, , , , –, –, , , , , , ,  otstalost’, siehe Rückständigkeit pereselenie/pereselency, siehe Umsiedlung/Umsiedler Peripherie, , , , , , , , , , , , , , , , , ,  Produktivität, , , , , , , , , , , ,  Propaganda, , , , , – , , , , , – , , , ,  Protestantismus, , , –, , –,  Quellenbegriff, , , ,  raskol (Kirchenspaltung), , , – , , , , , ,  Rasse, , , , , –, , 



Rechtsstaatlichkeit, , , , , ,  Religion, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, ,  Rückständigkeit allgemein, –, , –, –, –, , –, – , , , –, , , , , , , –, , , –, –, , –, , , , –, , , , , , , , , , , –, , , –, , , , , , , , , , , –, , , , , , , , –, , –, –, – , , ,  Privileg der, , , , , , , , , –, , , , , ,  Schisma, siehe raskol (Kirchenspaltung) Selbstverwaltung, , , , , , , , , , , – , , , , , , , , , ,  Selbstzuschreibung/-wahrnehmung (vgl. auch Fremdzuschreibung/-wahrnehmung), , , , , , , , , , ,  Slavophilie, , , , , , , , , , , , , , ,  Sonderweg, , , , , –, –, , , , , , , , –, , – „Sowjetmensch“, , , , , , – Sozialdemokratie, , , , , , , , , , , ,  Sozialrevolutionäre, , , , , 

Index

Soziologie/Sozialwissenschaften, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, – , –, –, ,  Städte, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , –, , , – Stände, , , , , , , , , –, ,  Statistik, , , , , , , , , , , –, , , , –, , , ,  Strelitzen (stehendes Heer im Moskauer Staat), , , , , – Substitutionstheorem, , , , , , , , ,  Syphilis, , , , , ,  Technologie, , , , , , , , , , , , , ,  Tradition, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, – , , , , , , , , , , , , , , , ,  Transfer, , , , , , , , , , ,  Umsiedlung/Umsiedler, , , , , –, –, – Unternehmer, , , , , , , , , , , , , , ,  Verflechtung, , , , , , , ,

Index

, , , , , – , , , ,  Vergleich, , , –, –, , , , , , , , –, , , , , , , , – , , , –, , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , ,  Weltausstellung , London,  , Paris,  Wirtschaft, –, –, –, , , , , , –, , , , , , , , , , , , , , –, –, , –, , –, , , , , –, , , , , , –, , , , , , , –, , , , , , , , , –, , –, –, – , , , , –,



–, , , , ,  Wissenschaft, , , , , , , , , , –, , , , , –, , –, –, , , , , , , , , , , , ,  Wohlfahrtsstaat, , –, , ,  Zeit der Wirren, , , , , ,  zemstvo (lokale Selbstverwaltungseinheit), , –, –, , , , , , ,  Zivilgesellschaft, , , , , ,  Zivilisierungsmission, , , , , , , –, , , , , , ,  Zukunft, , , , –, , , , , , , , , , , – , , , , , , , , , , , , , , , , , , –, , , , , , , , , , 

HOLM SUNDHAUSSEN, KONRAD CLEWING (HG.)

LEXIKON ZUR GESCHICHTE SÜDOSTEUROPAS

Von den Karpaten bis zum Mittelmeer, von der Slowakei bis Zypern: Dieses Lexikon zur Geschichte Südosteuropas gibt Auskunft über Raumbegriffe, Völker, Religionen, Staaten, Gesellschaften, Recht, Wirtschaft, Kultur und über zentrale Ereignisse in der Region vom Ende der Antike bis zur Gegenwart. Die 2. Auflage wurde um viele neue Begriffe erweitert und die Texte unter Berücksichtigung des jüngsten Forschungsstands aktualisiert. Die Querverweise und ein Sachregister erleichtern die Benützung. Die mitwirkenden Autorinnen und Autoren sind renommierte Fachleute, die ein breites Spektrum geografischer, methodischer und thematischer Schwerpunkte garantieren. 2016. 2., ERWEITERTE UND AKTUALISIERE AUFL. 1102 S. 10 KT. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78667-2

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WOLFGANG GEIERHOS

DER GROSSE UMBAU RUSSLANDS SCHWIERIGER WEG ZUR DEMOKRATIE IN DER ÄRA GORBATSCHOW (DRESDNER HISTORISCHE STUDIEN, BAND 12)

Die russische Revolution der Jahre 1985 bis 1991 ist vom Politbüro ausgegangen. Ihr Ziel war die Abschaffung der KPdSU und der Auf bau demokratischer Strukturen. Vorausgegangen war ein langer Kampf gegen den Stalinismus und die Erkenntnis, dass die Herrschaft der Kommunistischen Partei das Land in die ökologische Katastrophe, in die Überrüstung und die internationale Isolation geführt hatte. Da das System sich als reformunfähig erwiesen hatte, konnte nur ein kompletter Umbau des Staates Russland retten. Wolfgang Geierhos beschreibt diesen Weg. Die Entwicklungen in den anderen sozialistischen Staaten blieben dabei nicht ohne Einfluss auf die Sowjetunion selbst. Am Ende aber war nicht nur Russland von der bolschewistischen Herrschaft, sondern auch Europa vom »Eisernen Vorhang« befreit und Deutschland vereint. 2016. 425 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50385-7

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JÖRG GANZENMÜLLER, TATJANA TÖNSMEYER (HG.)

VOM VORRÜCKEN DES STAATES IN DIE FLÄCHE EIN EUROPÄISCHES PHÄNOMEN DES LANGEN 19. JAHRHUNDERTS

Die Entstehung des modernen Staates ist eng mit der Ausweitung der zentralen Staatsgewalt auf die lokale Ebene des Staatsgebietes verknüpft. Das Vorrücken des Staates in die Fläche war allerdings kein unauf haltsamer Vormarsch der staatlichen Bürokratie, sondern ein diskontinuierlicher Prozess, der permanent neu ausgehandelt wurde. Vor diesem Hintergrund fragt der vorliegende Band nach den Akteuren des Staatsausbaus in der Provinz, er nimmt die unterschiedlichen Felder, auf denen das Vorrücken des Staates ausgehandelt wurde, in den Blick und steckt auch die Grenzen einer „Durchstaatlichung“ der Provinz ab. Der Staatsausbau wird dabei als ein gesamteuropäisches Phänomen verstanden. Deshalb nimmt der Band eine vergleichende Perspektive ein, die alle Regionen Europas berücksichtigt. 2016. 315 S. 8 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50369-7

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KATJA STURM-SCHNABL, BOJAN-ILIJA SCHNABL (HG.)

ENZYKLOPÄDIE DER SLOWENISCHEN KULTURGESCHICHTE IN KÄRNTEN/ KOROŠKA VON DEN ANFÄNGEN BIS 1942, BAND 1: A-I; BAND 2: J-PL; BAND 3: PO-Z

Die »Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška, von den Anfängen bis 1942« ist ein umfassendes interdisziplinäres und interkulturell angelegtes dreibändiges Nachschlagewerk mit ca. 1.000 Schlagwörtern und insgesamt über 2.100 konzeptuellen Einträgen von über 160 Autoren unterschiedlicher Horizonte. Es ermöglicht ein vernetztes Verständnis der Kulturprozesse im Land. Vielfach werden erstmals eigens für die Enzyklopädie erforschte Teilbereiche einem breiteren Publikum erschlossen. Ein modernes Referenzwerk, das methodisch innovativ und zukunftsweisend ist und das sich als Beitrag zum europäischen wissenschaftlichen Integrationsdiskurs versteht. QR-Codes ermöglichen ein neues Leseerlebnis und erschließen u. a. zahlreiche zusätzliche Quellen, Bilder, Filme und Tonaufnahmen. 2016. 1603 S. 948 S/W- U. FARB. ABB. GB. 3 BÄNDE IM SCHUBER. 240 X 280 MM. | ISBN 978-3-205-79673-2

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EUROPÄISCHE GRUNDBEGRIFFE IM WANDEL: VERLANGEN NACH VOLLKOMMENHEIT HERAUSGEGEBEN VON GERT MELVILLE, GREGOR VOGT-SPIRA UND MIRKO BREITENSTEIN

In der europäischen Kultur ist die Vorstellung tief verankert, dass es optimale Formen des individuellen und sozialen Lebens gebe. Dadurch wird ein dynamisierendes Potential freigesetzt: ein stetes Streben nach etwas noch Vollkommeneren. In diesem Sinne werden hier die europäischen Grundwerte betrachtet: als Leitbegriffe, die immer wieder neu ausgehandelt, angepasst und korrigiert werden. Die Bände der Reihe befassen sich mit sechs Grundbegriffen, die in der europäischen Geschichte intensiv diskutiert worden sind: Gerechtigkeit, Sorge, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und Glückseligkeit. In jedem Band werden von der Antike bis in die Gegenwart solche Epochen oder Zäsuren vergleichend behandelt, die für Prägungen und Ausgestaltungen der Begriffe besonders entscheidend waren. Dabei werden immer sowohl die Seite des Konzepts wie die konkrete historische Verwirklichung in den Blick genommen. BD. 1 | GERECHTIGKEIT

EINZELBAND € 29,90 [D] | € 30,80 [A]

2014. 270 S. 6 S/W-ABB. FRANZ. BR.

FORTSETZUNGSPREIS € 19,90 [D] |

ISBN 978-3-412-22182-9

€ 20,50 [A]

BD. 2 | SORGE 2015. 256 S. FRANZ. BR ISBN 978-3-412-22427-8

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