Die Zukunft der Eurozone: Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten 9783839436363

Europe is stumbling from crisis to crisis. The financial and debt crises are endangering the European currency union; re

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Die Zukunft der Eurozone: Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten
 9783839436363

Table of contents :
Inhalt
1. Auftakt: Die Zukunft der Eurozone
Teil I: Herausforderungen
2. Hat der Euro die Demokratie gestohlen?
3. Die Konstruktionsfehler der Währungsunion
4. Die soziale Dimension der Eurozone Michael Dauderstädt
Teil II : Politik, Macht , Ideen
5. Deutscher Sonderweg? Ökonomische Grundannahmen der Politik in Deutschland
6. Wer fordert was? Ein Mapping politischer Akteure und ihr Einfluss auf die Währungsunion
7. Der rechtliche Rahmen für Reformvorhaben und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts
Teil III : Reformvorschläge
8. Wirtschaftspolitik neu denken – ein besserer Fiskalrahmen für die Eurozone
9. Ein institutioneller Rahmen für die reformierte Eurozone
10. Die soziale Dimension fortentwickeln
11. Plan B – Rückbau der Integration? Möglichkeiten, Risiken und Kosten
12. Zukunftsszenarien für die Eurozone und Fazit
Autorinnen und Autoren

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Alexander Schellinger, Philipp Steinberg (Hg.) Die Zukunft der Eurozone

X T E X T E

2016-07-28 14-05-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436099032386|(S.

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4) TIT3636.p 436099032394

2016-07-28 14-05-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436099032386|(S.

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Alexander Schellinger, Philipp Steinberg (Hg.)

Die Zukunft der Eurozone Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten

2016-07-28 14-05-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436099032386|(S.

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4) TIT3636.p 436099032394

Diese Publikation basiert auf einem Studienprojekt der Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Corina Alt, Sabine Dörfler, Freia Schleyerbach Inhaltliche und organisatorische Mitarbeit: Paula Boks Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3636-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3636-3 EPUB-ISBN 978-3-7328-3636-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2016-07-28 14-05-48 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0296436099032386|(S.

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4) TIT3636.p 436099032394

Inhalt



1. Auftakt: Die Zukunft der Eurozone Alexander Schellinger, Philipp Steinberg | 7

T eil I: H erausforderungen

2. Hat der Euro die Demokratie gestohlen? Christian Beck | 21



3. Die Konstruktionsfehler der Währungsunion Henrik Enderlein | 41



4. Die soziale Dimension der Eurozone Michael Dauderstädt | 55

T eil II: P olitik , M acht , I deen



5. Deutscher Sonderweg? Ökonomische Grundannahmen der Politik in Deutschland Mark Schieritz | 75



6. Wer fordert was? Ein Mapping politischer Akteure und ihr Einfluss auf die Währungsunion Björn Hacker, Cédric M. Koch | 89



7. Der rechtliche Rahmen für Reformvorhaben und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts Franz C. Mayer | 109

T eil III: R eformvorschl äge



8. Wirtschaftspolitik neu denken – ein besserer Fiskalrahmen für die Eurozone Jeromin Zettelmeyer | 131



9. Ein institutioneller Rahmen für die reformierte Eurozone Daniela Schwarzer | 155



10. Die soziale Dimension fortentwickeln Peter Becker | 173



11. Plan B – Rückbau der Integration? Möglichkeiten, Risiken und Kosten Armin Steinbach | 189



12. Zukunftsszenarien für die Eurozone und Fazit Alexander Schellinger, Philipp Steinberg | 207

Autorinnen und Autoren | 217

1. Auftakt: Die Zukunft der Eurozone Alexander Schellinger, Philipp Steinberg

Das Votum der Briten gegen die EU-Mitgliedschaft (»Brexit«) stürzt die Gemeinschaft in die tiefste Krise seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte könnte ein Mitgliedstaat die EU verlassen. Nach der Eurokrise, dem Krieg in der Ukraine und der Flüchtlingskrise ist dies der vierte Schock innerhalb weniger Jahre, der das europäische Haus in seinen Grundfesten erschüttert. Überall in Europa haben antieuropäische Kräfte großen Zulauf. Die Zweifel an der EU nehmen zu und zugleich wächst der Glaube, dass im Rahmen des Nationalstaats diese grundlegenden Probleme besser gelöst werden können. Krisen waren für die EU jedoch immer auch eine Chance, um eingefahrene Denkmuster und politische Gräben zu überwinden. Die Chancen, dass es zu einer größeren Reform kommt, stehen nicht schlecht – trotz des Zustands der EU und der Eurozone, der von vielen als schwierig angesehen wird. Denn es stehen Reformen an, die zu einem europäischen Reformpaket einschließlich der Eurozone zusammengeschnürt werden können: Die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens wirken dabei wie ein Katalysator. Hinzu kommen die vertraglich vorgesehene Bewertung des Fiskalvertrags bis 2017 und die Debatte über eine Anpassung und Neustrukturierung des EU-Finanzrahmens. In diesem Buch machen wir Vorschläge für die Reform der Eurozone und darüber hinaus auch für die Reform der EU. Dabei gehen wir auch auf die europäische Debatte ein. Dieser Aufgabe nähern wir uns in drei Schritten: 1. Die Probleme der Eurozone werden in ihrer politischen, ökonomischen und sozialen Dimension analysiert. 2. Jene Faktoren, die europapolitische Entscheidungen und damit Reformvorhaben maßgeblich beeinflussen, werden untersucht. 3. Reformvorschläge, die eine wirkungsvolle Lösung der Eurokrise in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht bieten, werden vorgestellt.

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Die Zukunf t der Eurozone

Wir werden bei allen Vorschlägen die rechtlichen Rahmenbedingungen und Anforderungen darlegen und – in Anbetracht der bekannten Schwierigkeiten, zu einstimmigen Vertragsänderungen zu kommen –, wo immer möglich, Maßnahmen unterhalb einer Vertragsänderung darstellen. Denn die Frage, wie die EU und die Eurozone demokratischer und effizienter werden können, gewinnt durch das Brexit-Votum eine ganz neue Brisanz. Die Herausforderungen der EU mit insgesamt 28 bzw. 27 Mitgliedstaaten sind so komplex, dass der Fokus auf die kleinere Eurozone – also jene 19 Mitgliedstaaten, die den Euro als Währung führen, – sinnvoll erscheint. Viele der vorgestellten Befunde und Lösungen lassen sich aber auch auf die EU übertragen. Die Institutionen der Eurozone und der EU überlappen sich in wesentlichen Aspekten und sind teilweise sogar identisch, die Eurozone hat jedoch eine eigene politische Dynamik und Integrationstiefe entwickelt, die eine gesonderte Analyse erfordert. Ökonomisch sind Reformen dringend erforderlich. Wir stellen europäische Lösungen vor – wobei wir dieses Buch als eine Perspektive aus Deutschland konzipiert haben, als Beitrag zur europäischen Debatte. Wir konzentrieren uns auf Deutschland, nicht nur weil wir hier die Entwicklungen in den letzten Jahren intensiv beobachten konnten und das Land eine wichtige Rolle in der Eurozone und EU eingenommen hat, sondern auch, weil wir glauben, dass das Verständnis der speziellen Debattenlage in diesem Land für weitere Reformen von großer Bedeutung ist.

A nsat z und I nhalt des B uchs Wir sind uns des politischen Umfelds und der Schwerfälligkeit, zu Veränderungen innerhalb der Eurozone – und mehr noch der EU – zu kommen, sehr bewusst. Deswegen haben wir uns gefragt: Wie kommen politische Reformen überhaupt zustande? Dafür müssen drei Ströme oder Prozesse zusammenkommen: Probleme, Politik und Policies.1 Mit Problemen meinen wir einen anhaltend hohen Problemdruck in einem Bereich (zum Beispiel die Verhandlungen mit Großbritannien über den EU-Austritt, hohe Arbeitslosigkeit oder eine Finanzkrise). Politik bezieht sich auf die Positionen und Interessen politischer Akteure, die öffentliche Debatte oder Wahlen spielen hier zum Beispiel eine wichtige Rolle. Erfolgreiche Policies sind Reformvorschläge, die einerseits Antworten auf die Probleme finden und andererseits von Politikern aufgegriffen werden. Daraus haben wir die Gliederung des Buchs abgeleitet: Im ersten Teil untersuchen wir die Probleme der Eurozone. Im zweiten Teil analysieren unsere Autoren die politisch relevanten Akteure in Deutschland. Und im dritten Teil entwickeln wir schließlich Reformvorschläge mit Blick auf die Probleme der Eurozone und die politische Interessenlage.

1. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Auf takt: Die Zukunf t der Eurozone

Zunächst wollen wir im ersten Teil die Probleme aus politischer, wirtschaftlicher und sozialer Perspektive analysieren. Christian Beck untersucht in Kapitel 2 die institutionellen Probleme der Eurozone, auch im Kontext des Brexit-Votums. In Kapitel 3 befasst sich Henrik Enderlein mit den ökonomischen Herausforderungen der Eurozone als Währungsunion, dazu zählen insbesondere die anhaltende Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten, die einheitliche Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und die Schwierigkeiten fiskalpolitischer Koordinierung. Michael Dauderstädt nimmt sich in Kapitel 4 die sozialen Herausforderungen der Eurozone vor, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Einkommensverteilung und Armut, und untersucht die Auswirkungen der Währungsunion darauf. Dann analysieren wir im zweiten Teil des Buchs wichtige Akteure für die politische Meinungs- und Positionsbildung in Deutschland. Mark Schieritz zeichnet in Kapitel 5 die wirtschaftspolitische Debatte nach und legt dar, warum die Diskussion in Deutschland anders verläuft als in den meisten anderen Ländern. Björn Hacker und Cédric M. Koch identifizieren in Kapitel 6 die maßgeblichen politischen Akteure und ihre europapolitischen Positionen – und Widersprüchlichkeiten – in Regierung, Parteien und Verbänden. Sie formulieren anhand dieser Positionen eine Reihe von Bedingungen für erfolgreiche Reformvorhaben. In Kapitel 7 zeichnet Franz C. Mayer die europarechtliche Entwicklung der letzten Jahre nach, analysiert die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe und legt dar, wie zentrale Vorschläge aus diesem Band rechtlich umzusetzen sind. Im dritten und letzten Teil stellen wir konkrete Reformvorschläge vor. Jeromin Zettelmeyer schlägt in Kapitel 8 vor, ein Eurozonenbudget einzuführen und mehr Flexibilität für die Mitgliedstaaten in haushaltspolitischen Fragen zur Erhöhung von Wachstum und Beschäftigung sowie einen Schuldenrestrukturierungsmechanismus zu schaffen. Daniela Schwarzer gibt im Kontext des Brexit-Votums Anregungen für institutionelle Reformen der Eurozone (Kapitel 9). Den sozialen Herausforderungen setzt Peter Becker in Kapitel 10 soziale Mindeststandards und ein europäisches Kurzarbeitergeld entgegen. In Kapitel 11 untersucht Armin Steinbach die Kosten und Risiken eines Rückbaus der Integration (insbesondere des wahrscheinlichen Brexits) und zeigt, dass damit die Probleme nicht gelöst werden. Im letzten Kapitel wollen wir unsere Ergebnisse zusammenfassen und einen Ausblick auf mögliche weitere Entwicklungen der Eurozone geben.

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Die Zukunf t der Eurozone

D ie D ebatte bisher Seit dem Ausbruch der Eurokrise weisen viele Analysen auf die strukturellen Probleme und »Konstruktionsfehler« der Währungsunion hin. Ein zentrales Argument dabei ist, dass die wirtschaftspolitische Flexibilität der Mitgliedstaaten verloren ging, ohne dass neue Ausgleichsmechanismen auf Ebene der Gemeinschaft geschaffen wurden.2 So haben die Mitglieder der Eurozone wirtschaftspolitische Steuerungsinstrumente (zum Beispiel über Anpassungen nationaler Wechselkurse) aus der Hand gegeben und an fiskalpolitischem Handlungsspielraum aufgrund strikter Haushaltsregeln eingebüßt. Darüber hinaus kritisieren zahlreiche Ökonomen die antizyklische Orientierung der Geld- und Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft. Die Kritik galt insbesondere der Europäischen Zentralbank und ihrem Fokus auf Preisstabilität und strikten Haushaltsregeln und natürlich vor allem den Rettungsprogrammen für die südeuropäischen Krisenländer und Irland. Diese Analysen haben die Zusammenhänge zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft weiter aufgedeckt.3 Ihre schlimmsten Befürchtungen – das Auseinanderbrechen oder die Auflösung der Eurozone – haben sich bisher jedoch nicht bestätigt. Das mag auch daran liegen, dass die Statuten der Europäischen Zentralbank und das neue haushaltspolitische Regelwerk seit dem Ausbruch der Krise viel weniger restriktiv ausgelegt wurden als befürchtet – ganz im Gegenteil, es wurden Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die vorhandenen Spielräume nutzen lassen. Damit kommen wir zu den politischen Fragen der Eurozone. Während wirtschaftswissenschaftliche Beiträge sich überwiegend mit der Funktionsweise der Währungsunion befassen, legen vor allem Politik- und Rechtswissenschaftler den Fokus auf politische und soziale Institutionen der Eurozone. Untersucht werden die politischen Grundlagen der Währungsunion und des Binnenmarkts. Dazu gehören zum Beispiel auch politökonomische Ansätze, die das Zusammenwirken nationaler Wirtschaftsmodelle – insbesondere Unterschieden in den Lohnfindungssystemen – in der Eurozone untersuchen.4 Das Machtverhältnis zwischen Mitgliedstaaten – insbesondere die neue Rolle Deutschlands – und europäischen Institutionen steht ebenso im Fokus wie die Rolle von intergouvernementalen Verträgen und informellen Abstimmungsprozessen im Rechtssystem der EU. Ein weiterer Literaturstrang analysiert die zentralen Akteure und Institutionen für die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene. Dabei werden die von den Mitgliedstaaten dominierten (intergouvernementalen) Abstimmungen und die Rolle nationaler Regierungen gegenüber Parlamenten häufig aus demokratischer Sicht kritisiert. Insgesamt rücken diese Beiträge die politischen, sozialen und rechtlichen Grundlagen für das Fortbestehen der Eurozone in den Mittelpunkt.5

1. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Auf takt: Die Zukunf t der Eurozone

Unsere Hoffnung ist es, mit diesem Buch die Vorteile beider Debatten und Perspektiven zusammenzuführen. Aus den Beiträgen zur Funktion der Währungsunion sind anspruchsvolle und innovative Reformvorschläge hervorgegangen, die auch seitens politischer Entscheidungsträger immer wieder Beachtung finden. Diese Analysen sind meistens jedoch auf fachliche Fragen konzentriert (und technisch sehr kompliziert), während wichtige politisch-institutionelle Aspekte in den Hintergrund treten. Bei den politik- und rechtswissenschaftlichen Untersuchungen hingegen verhält es sich umgekehrt: Hier werden zentrale politische Fragen aufgeworfen, auf die jedoch – von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – nur selten konkrete Reformvorschläge folgen.6 Wir wollen in diesem Band Reformvorschläge entwickeln, die sowohl auf fachliche als auch auf politische Herausforderungen der Eurozone eine Antwort finden. Nur wenn beide Perspektiven zusammengeführt werden können und wenn wir darüber eine breite und informierte öffentliche Debatte führen, hat die Eurozone (und die EU) eine Zukunft.

U nser A rgument Unser Argument, wie es sich aus den in diesem Band versammelten Beiträgen ergibt, setzt sich aus drei Aspekten zusammen: 1. Wir argumentieren, dass die Krise der Eurozone nicht primär – oder gar ausschließlich – eine ökonomische Krise, sondern auch eine politische und soziale Krise ist. Für uns ist klar, dass die EU und die Eurozone vor allem eine fundamentale politische Krise durchleiden. Damit ist sowohl die mangelnde Effizienz von europäischen Entscheidungen gemeint als auch die Dominanz der Exekutiven bei gleichzeitig zunehmendem Populismus in den meisten Mitgliedstaaten. Hinzu kommt, dass die EU ihr Wohlstandsversprechen scheinbar oder tatsächlich nicht mehr einlösen kann. Die wirtschaftliche und soziale Divergenz in den Mitgliedstaaten, vor allem zwischen den Staaten, nimmt stetig zu. Wir glauben nicht, dass die Lösung der Krise – verstanden als Euro- oder Währungskrise – ausreicht, um die Eurozone und die EU nachhaltig zu festigen. 2. Die Ergebnisse des Reformprozesses hängen von Interessen (zum Beispiel nationaler Regierungen) ebenso wie von Ideen und Institutionen ab. Damit sind zum Beispiel wirtschaftspolitische Überzeugungen oder die Möglichkeiten und Grenzen europäischer Verträge gemeint. Dies gilt es bei der Analyse von politischen Entscheidungen in der Vergangenheit zu beachten, aber auch bei der Entwicklung von neuen Reformvorschlägen. Anders als ein Teil der politischen Kommentatoren glauben wir nicht, dass die Ergebnisse der Krisenpolitik der vergangenen Jahre ausschließlich auf

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Die Zukunf t der Eurozone

nationale Interessen oder ideelle Faktoren (wie zum Beispiel den deutschen »Ordoliberalismus«) zurückzuführen sind. Das politische System der Eurozone zeichnet sich durch eine Vielzahl von Akteuren mit Vetorechten aus, weshalb einerseits der Status quo besonders schwer zu ändern ist und andererseits die Notwendigkeit für Kompromisse außergewöhnlich hoch ist. Wir wollen deshalb Ideen entwickeln, die politische Koalitionen über Interessengegensätze hinweg fördern und die nicht nur bestehende Institutionen berücksichtigen, sondern auch zu deren Weiterentwicklung beitragen. 3. Wir argumentieren außerdem, dass die Eurozone als politische, wirtschaftliche und soziale Union gestärkt werden muss. Die Eurozone als politische Union kann langfristig nur mit einem effektiven und demokratischen Entscheidungsprozess überleben. Die Eurozone als wirtschaftliche Union benötigt für Stabilität und Wachstum eine wesentlich bessere Koordinierung nationaler Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitiken. Daneben müssen eigene Instrumente auf der Ebene der Eurozone entwickelt werden, um Politiken für die Eurozone als Ganzes durchführen zu können. Die Eurozone als soziale Union muss mehr soziale Gerechtigkeit in den Mitgliedstaaten und zwischen ihnen herstellen. Die europäische Integration ist zu weit fortgeschritten, um die soziale Frage allein im nationalen Kontext lösen zu können. Wir sind überzeugt, dass dies auch für die EU insgesamt zielführend ist. Uns ist bewusst, dass wir mit unseren Vorschlägen auch auf Skepsis stoßen werden. Wir sind aber fest davon überzeugt, dass eine wirtschaftlich erfolgreiche, demokratische und sozial gerechte Eurozone die beste – und vielleicht auch einzige – Antwort auf die zunehmenden Gefahren von Populismus und Euroskeptizismus ist, die sich im Brexit-Votum manifestierten. Nach unserer Auffassung hat die Eurozone dabei gerade nicht die Wahl zwischen einem europäischen Bundesstaat auf der einen Seite und einem Klub von Nationalstaaten auf der anderen Seite. Europa wird, wie bisher auch, einen dritten Weg gehen.

D ie H er ausforderungen Die Probleme, welche im Zuge von Finanz- und Eurokrise sichtbar wurden, haben gezeigt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion dringend reformbedürftig ist. Auch die oben genannten Maßnahmen sowie die Schaffung von Krisenreaktionsinstrumenten wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus ändern daran nichts. Das Grundproblem ist eine zu große wirtschaftliche und soziale Divergenz bei Fehlen von Instrumenten, diese zu verringern. Der

1. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Auf takt: Die Zukunf t der Eurozone

Hauptmechanismus, mit welchem Mitgliedstaaten der EU zumindest zeitweise Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum stimulieren konnten, nämlich durch die Abwertung der eigenen Währung, steht nicht mehr zur Verfügung. Stattdessen müssen sie real abwerten, insbesondere indem sie die Lohnstückkosten senken. Sinnvolle Mechanismen wie der makroökonomische Ungleichgewichtsmechanismus, welche die gesamte Eurozone (und die EU) in den Blick nehmen, bleiben zahnlos, weil Instrumente fehlen, um symmetrische und asymmetrische Schocks auszugleichen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist darauf ausgerichtet, exzessive nationale Defizite zu verhindern, deshalb können die daraus folgenden Politiken entweder zu locker (in einem Aufschwung) oder zu strikt (in einem Abschwung) sein. Gleichzeitig existieren keine länderübergreifenden Ausgleichsmechanismen, zum Beispiel in Form von »automatischen Stabilisatoren«, welche die Möglichkeit geben, eurozonenweite Wachstums- und Konvergenzprogramme zu fahren. Die Anforderungen an die nationalen Haushaltspolitiken sowie deren Überwachung wurden verschärft, aber es wurden keine Instrumente geschaffen, die Wachstum und Beschäftigung erhöhen sollen. Diesen Konstruktionsfehler versucht einzig die Europäische Zentralbank mittels ihrer Geldpolitik aufzufangen – als einziger handlungsfähiger Akteur. Sie kann diese Mängel jedoch nicht alleine kompensieren, selbst wenn man bereit ist, die Nebenwirkungen für Sparer und Versicherungen zu akzeptieren. In der Eurokrise wurde der Intergouvernementalismus – also die Abstimmung zwischen nationalen Regierungen – gestärkt, was zu einem noch komplexeren System geführt hat, welches eine effektive und demokratische Entscheidungsfindung erschwert. Während der Eurokrise waren zwischenstaatliche Lösungen oft der einzige Ausweg. Zu schwach waren die bestehenden Instrumente und zu groß war die Uneinigkeit zwischen nationalen Regierungen. Das große Versäumnis der Europapolitik der letzten fünf Jahre ist es jedoch, keine Ansätze für einen effektiven und demokratischen Entscheidungsprozess geschaffen zu haben. Stattdessen wurde die zwischenstaatliche Abstimmung nicht nur als Mittel zum Zweck eingesetzt, sondern selbst zur Handelsmaxime der Europapolitik gemacht. Die vorhandenen Koordinierungsinstrumente erschöpfen sich im Wesentlichen in ritualisierten Empfehlungen und Berichten, lediglich bei der Überwachung nationaler Haushalte gibt es stärkere Durchgriffsrechte (und dennoch lässt auch die haushaltspolitische Koordinierung zwischen den Eurozonenstaaten zu wünschen übrig). Die Grenzen der Verrechtlichung und Verregelung sind grundsätzlich politischer Art. Auch mit den gestärkten Instrumenten der haushaltspolitischen Koordinierung wie Fiskalpakt, Six-Pack und Two-Pack ist klar:7 Im Kontext nationaler Wahlen und nationaler Verantwortlichkeiten sind Rechtsbeugung und -bruch von europäischen Regeln vorge-

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zeichnet. Problematischer noch als die mangelhafte Einhaltung und Durchführung des Regelwerks ist jedoch, welche Annahme der insbesondere in der Haushaltspolitik regeldominierten Währungsunion zugrunde liegt. Regeln sind eine Form der Institutionalisierung, die die Beständigkeit und Nachhaltigkeit politischen Handelns erhöhen können. Sie können (und dürfen) aber politischen Entscheidungsraum nur zu einem bestimmten Grad ersetzen. Die wirtschaftspolitischen Probleme der Eurozone entstehen auch daraus, dass auf eine rein regeldominierte Wirtschaftspolitik gesetzt wird. Der Glaube, dass immer striktere haushaltspolitische Regeln, wenn sie nur eingehalten werden, ein ausreichendes wirtschaftspolitisches Instrument für die Eurozone sind, wird den multidimensionalen Herausforderungen einer wachstums- und beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik nicht gerecht. Die Dynamik der europäischen Integration ist im Wesentlichen wirtschaftspolitischer Natur. Der Binnenmarkt und die Währungsunion können aber auch sozialpolitische Errungenschaften auf nationaler Ebene einschränken und bedrohen. Dass es der Eurozone an Politikinstrumenten fehlt, beeinflusst die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – was für die Menschen besonders spürbar ist – und ist für die Eurozone als Kern der EU existenzgefährdend. Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik steht in der Eurozone nur an zweiter Stelle.8 Diese strukturelle Nachordnung hat die wirtschaftspolitische Integration im Zuge der Eurokrise nochmals verschärft. Ohne makroökonomische Instrumente, die für mehr Anpassungsflexibilität sorgen, wird die interne Abwertung über Löhne (und Preise) vorrangig bleiben. Dies kann zu sinkenden Lohnniveaus und einer übertriebenen Sparpolitik (Austerität) führen, wie die schmerzhaften Anpassungsprogramme in den Krisenstaaten gezeigt haben. Aber auch in zahlreichen anderen Mitgliedstaaten nehmen Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut zu oder verharren auf hohem Niveau. Gleichzeitig steckt die soziale Dimension der EU nach wie vor in den Kinderschuhen. In praktisch allen Feldern – von der Beschäftigungspolitik, über das Arbeitsrecht, bis zu den Arbeitsbeziehungen – hat die Entwicklung in den letzten Jahren bestenfalls stagniert. Wir sind überzeugt, dass es notwendig ist, einige der grundlegenden Prinzipien des Maastrichtregimes infrage zu stellen. Um die Eurozone zu stärken, kann es nicht nur um kleinteilige Reformen des bestehenden, stark auf die Haushaltspolitik beschränkten Regelwerks gehen. Die Einhaltung von selbst gegebenen Regeln ist wichtig und notwendig. Aber damit werden die grundlegenden Konstruktionsfehler nicht behoben. Ziel muss sein, wirtschaftspolitische Steuerungsinstrumente für die Eurozone zu schaffen, um die Wirtschafts- und Währungsunion handlungsfähiger zu machen und die wirtschaftliche und soziale Divergenz zu stoppen und umzukehren. In einem gemeinsamen Währungsraum – selbst wenn er kein optimaler Währungsraum ist und auch nicht schnell werden kann – müssen fiskalpolitische Steuerungs-

1. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Auf takt: Die Zukunf t der Eurozone

instrumente auf der Ebene der Eurozone die vorhandenen nationalstaatlichen Instrumente zumindest ergänzen. So mutig müssen und wollen wir sein. Für uns stehen damit Fragen der Governance und der wirtschafts- und sozialpolitischen Steuerung im Mittelpunkt.

A nsät ze für eine nachhaltige wirtschaf tspolitische S teuerung Je konvergenter die Volkswirtschaften in der EU sind, desto geringer die Kosten, um Ungleichgewichte auszugleichen. Dabei sollten die vorhandenen angebotsseitigen Mechanismen (zum Beispiel Regeln für nationale Haushalte) um Instrumente auf der Nachfrageseite ergänzt werden, um bestehende Asymmetrien zu reduzieren. Im Rahmen einer Fiskalkapazität (also eigener Mittel für die Gemeinschaft, zum Beispiel in Form eines Eurozonenbudgets) sollte ein Konvergenzinstrument eingerichtet werden, um in der Eurozone strukturelle Unterschiede zu reduzieren. Ähnlich wie die Strukturfonds könnte es ein spezielles Instrument sein, um Wachstum und Konvergenz in der Eurozone zu erhöhen. Finanziert würde solch ein Mechanismus entweder durch neue Eigenmittel der Eurozone (etwa einem Teil der Einnahmen aus einer Finanztransaktionssteuer oder eines kleinen Teils der nationalen Körperschaftsteuern), eine neu zu schaffende Eurozonensteuer oder Beiträge der Eurozonenstaaten. Ergänzt werden könnte solch ein Konvergenzinstrument, welches politisch aktiviert würde, durch einen Mechanismus automatischer Stabilisierung, also ein makroökonomisches Instrument, das im Fall eines wirtschaftlichen Abschwungs gegensteuert (in den Mitgliedstaaten hat zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung eine vergleichbare Wirkung). Eine europäische Arbeitslosenversicherung (selbst als Ergänzung nationaler Sozialversicherungssysteme) ließe sich wohl nur schwer etablieren, daher könnte über die Einführung begrenzter und weniger großvolumiger Mechanismen – wie etwa eines europäischen Kurzarbeitergeldes – nachgedacht werden. Zusätzlich sollten diese Instrumente der Eurozone durch gezielte fiskalische Flexibilität für die Mitgliedstaaten für eine wachstums- und beschäftigungsfördernde Politik sorgen. Diese Mechanismen müssen gewährleisten, dass die vergrößerten Spielräume nicht dazu dienen, den Konsum zu erhöhen, ohne nachhaltige Investitionen zu fördern. Dazu bedarf es zum einen einer effektiven Governance innerhalb der Eurozone. Die Kommission müsste dann in die Lage versetzt werden, nicht nur ein Regelwerk anzuwenden, sondern auch komplexe wirtschaftspolitische Abwägungsentscheidungen zu treffen. Zum anderen könnte ein institutionalisierter Mechanismus zur Schuldenrestrukturierung in der Eurozone eingeführt werden. Dieser Mechanismus

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Die Zukunf t der Eurozone

würde dann aktiviert, wenn zuvor definierte Parameter erfüllt werden. Ein solcher Mechanismus könnte eine doppelte Funktion erfüllen: • Er würde gewährleisten, dass die Nichtbeistandsklausel (also der Haftungsausschluss der Gemeinschaft für Schulden einzelner Mitgliedstaaten) eingehalten würde und nicht Mittel zur Rettung insolventer Mitgliedstaaten ausgegeben würden. Auf einer vorgelagerten Stufe würde ein solcher Mechanismus – je nach Ausgestaltung – auch Marktsignale im Rahmen der Refinanzierungskosten aussenden, welche die Politik unterstützen. • Er würde Mitgliedstaaten im Fall der Fälle davor bewahren, über exzessive interne Abwertung (insbesondere Senkung von Sozialausgaben und Löhnen und Gehältern) Anpassungsprozesse vorzunehmen, welche in einem demokratischen Gemeinwesen nur schwer durchzuführen sind. Begleitet werden müsste solch ein ambitioniertes wirtschaftspolitisches Regelwerk durch neue und verbesserte institutionelle Strukturen, welche die Effizienz der Entscheidungsprozesse und die demokratische Rückbindung stärken. Die gemeinschaftliche (zentrale) Koordinierung müsste verstärkt werden, zum Beispiel durch einen Euro-Finanzminister, der über eine Eurokammer im EU-Parlament demokratisch rückgebunden ist. Ziel ist es dabei, die politische Steuerungskapazität und politische Verantwortlichkeit zu erhöhen. Denn es bedarf demokratischer Institutionen, um die verstärkten Kompetenzen auf Ebene der Eurozone zu nutzen.

D ie soziale D imension Unter den gegebenen Bedingungen kann und muss auch die soziale Dimension der Eurozone weiterentwickelt werden. Die Währungsunion benötigt neben der wirtschaftlichen auch eine soziale und beschäftigungspolitische Konvergenz, zum Beispiel durch die Koordinierung von nationalen Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Als automatischer Stabilisator kann beispielsweise auch ein europäisches Kurzarbeitergeld eingeführt werden. Dieses würde ähnlich wie eine europäische Arbeitslosenversicherung direkt bei den Beschäftigten ansetzen und könnte somit besonders wirkungsvoll sein. Zusätzlich können rechtlich verbindliche europäische Rahmen- und Mindestbestimmungen festgelegt werden, zum Beispiel Mindeststandards für nationale Systeme der Mindestsicherung, die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen oder nationale Mindestlöhne. Die Abstimmung der Sozialpartner auf Eurozonenebene sollte verbessert werden, und zwar durch eine stärkere Einbindung in das Europäische Semester, eine Ausweitung der europäischen Mitbestimmung und den Auf bau europäischer Koordinierungsinstrumente zwischen

1. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Auf takt: Die Zukunf t der Eurozone

den Sozialpartnern. Für uns ist klar: Nur wenn sozialpolitische Akteure beteiligt werden, wenn den harten wirtschaftspolitischen Vorgaben verbindliche sozialpolitische Maßnahmen entgegengesetzt werden und wenn die Interessenvertretung von Arbeitnehmern auf EU-Ebene weiter vorangetrieben wird, kann die Eurozone langfristig überleben.

A nmerkungen 1  |  Wir beziehen uns damit auf die Erkenntnisse der klassischen Policy-Forschung nach John W. Kingdon, die wir frei interpretieren: Kingdon, John W. (2003 [1984]): Agendas, Alternatives and Public Policies. New York: Longman. 2 |  Ein wichtiger Ausgangspunkt bildet die »Theorie optimaler Währungsräume«. Danach können in einer Währungsunion Schocks nicht mehr durch Wechselkursanpassungen nationaler Währungen ausgeglichen werden. Da die interne Flexibilität der EU durch Arbeitsmarktmobilität vergleichsweise gering ist, die Europäische Zentralbank ihre Zinspolitik auf den Währungsraum als Ganzes ausrichtet und fiskalische Ausgleichsmechanismen fehlen, können Schockwellen nicht ausreichend über den gesamten Wirtschaftsraum ausgeglichen werden. Siehe Scharpf, Fritz W. (2011): Monetary Union, Fiscal Crisis and the Preemption of Democracy, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Discussion Paper 11/11. 3 | Siehe zum Beispiel Enderlein, Henrik/Bofinger, Peter et al. (2012): Den Euro vollenden: Der Weg zu einer Fiskalunion in Europa. Bericht der »Tommaso PadoaSchioppa Gruppe«; www.institutdelors.eu/media/eurovollenden-berichtpadoaschi oppagruppe-ne-jdi-nov12.pdf?pdf=ok (aufgerufen am 12.5.2016). 4 | Iversen, Torben/Soskice, David et al. (2016): The Eurozone and Political Economic Institutions, in: Annual Review of Political Science, 19. 5  |  Siehe den bemerkenswerten Sammelband Matthijs, Matthias/Blyth, Mark (Hg.) (2015): The Future of the Euro. New York: Oxford University Press. 6 | Siehe zum Beispiel Bogdandy, Armin von/Calliess, Christian et al. (2013): Aufbruch in die Euro-Union; http://glienickergruppe.eu/de/auf bruch-in-die-eurounion/ (aufgerufen am 12.5.2016). 7 | Der sogenannte Six-Pack und Two-Pack sind Teil des EU-Sekundärrechts mit dem Ziel, die fiskalpolitische Koordinierung durch ein gestärktes Defizitverfahren und abgestimmte nationale Haushaltsplanungen zu verbessern. Der Fiskalpakt schreibt die Verankerung von Haushaltsregeln (»Schuldenbremsen«) in den nationalen Verfassungen vor. 8 | Zur Entstehung der sozialen Dimension der EU siehe Schellinger, Alexander (2016): EU Labor Market Policy: Ideas, Thought Communities and Policy Change. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

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Teil I: Herausforderungen

2. Hat der Euro die Demokratie gestohlen? Christian Beck

D ie R egeln der E urozone und warum sie nicht funk tionieren Aktuell gibt das Projekt Europa Grund zur Sorge. Die europäischen Regierungen sind nicht bereit, eine gemeinsame Politik zu gestalten, um die soziale Spaltung in Europa zu überwinden, die Instabilität des Euro zu beheben, den drohenden Klimakollaps abzuwenden, die Flüchtlingskrise zu lösen und den Terrorismus zu bekämpfen. Der Eindruck, dass die europäischen Institutionen systematisch überfordert sind, ermöglicht es Populisten, das europäische Gemeinschaftswerk schlechterzureden, als es ist. Sie reden der Scheinlösung nationaler Souveränität das Wort. Rechtspopulisten, aber auch »linke« Parteien mit national-souveränistischen Argumentationsmustern sagen, die EU und insbesondere der Euro gefährde die Demokratie. Und tatsächlich: Die Milliardenkredite gegen Sparauflagen für Griechenland wurden von der Bevölkerung in Griechenland und in Umfragen in Deutschland mehrheitlich abgelehnt – und sie kamen doch. Allerdings erlaubten die Wählerinnen und Wähler den regierungsführenden Parteien sowohl in Athen als auch in Berlin, nach diesen Entscheidungen weiter zu regieren. Die Bürger beider Länder wollen den Euro behalten. Die Anti-EU-Rhetorik springt aber auf die Volksparteien über. Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy spricht davon, »50 Prozent der EU-Kompetenzen zurückverlagern« zu wollen, ohne anzugeben welche. Italiens konservative Opposition argumentiert ähnlich. Die gespaltenen Konservativen haben Großbritannien in ein Referendum über die EU geführt. Um die politisch-institutionellen Probleme wirklich zu verstehen, ist ein genauerer Blick nötig.

Europäische Regeln, nationale Entscheidungen — wie die Währungsunion gedacht ist Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), da sind sich Politiker vieler Parteien und Länder einig, hat der Demokratie in den Mitgliedstaaten unangemessen viel Entscheidungsspielraum genommen. Der Druck, den europäische

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Teil I: Herausforderungen

Institutionen auf die nationale Politik ausüben, widerspricht dem Eindruck, den Politiker erweckt haben, als der Euro eingeführt wurde. Es wurde zwar ein Stabilitäts- und Wachstumspakt vereinbart, aber keine politische Union. Die politischen Entscheidungen über staatliches Geldausgeben und Steuereinnehmen sollte bei den Mitgliedstaaten und ihren Parlamenten bleiben und nur zwischen den Regierungen (intergouvernemental) abgestimmt werden. Die Sozialpolitik sollte durch Zielverabredungen und ein bisschen »Gruppendruck« ähnlicher werden, ohne jede Verbindlichkeit (auch »offene Methode der Koordinierung« genannt). Eine Währungsunion senkt die Kosten, die den Handel mit dem Ausland bremsen, und kann so Handel und Wirtschaft voranbringen. Allerdings geben die einzelnen Staaten mit der Kontrolle über die Zinssätze auch ein wichtiges Instrument zur Konjunkturstabilisierung aus der Hand und sind damit auf gemeinsames Handeln im Falle von Krisen angewiesen. Die WWU ähnelt einem Ruderachter, der schneller sein kann als ein Einer, aber eben nur, wenn alle im Takt rudern. Für solidarische Verabredungen, sich finanziell im Krisenfall beizustehen, fehlte aber auch schon beim Abschluss des Vertrags von Maastricht 1992 gegenseitiges Vertrauen und öffentliche Unterstützung. Deshalb sollten Regeln gegen Verschuldung und Inflation verhindern, dass so etwas überhaupt erst nötig würde. Diese Maastricht-Kriterien konzentrierten sich ebenso wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt aber auf staatliche Verschuldung und Inflation. Gefahren der Finanzmärkte blieben außen vor. Auf dem Weg zur Entscheidung, welche Länder es über die Hürde der Maastricht-Kriterien schaffen, gab es tatsächlich eine Annäherung (Konvergenz). Nach der Euroeinführung gab es in Südeuropa einen Boom, der Hoffnung auf eine weitere Annäherung machte. Immobilienblasen und Fehlinvestitionen in Südeuropa einerseits und eine Stagnation der realen, das heißt inflationsbereinigten Löhne in Deutschland andererseits führten aber zu Ungleichgewichten in der Produktivität. Diese Ungleichgewichte wurden von den euphorischen Anlegern zunächst ignoriert. Als die Bankenkrise ausbrach, reagierten viele Anleger dann aber panisch, versuchten Kapital in deutschen Bundesanleihen in Sicherheit zu bringen, und verschärften die Krise so weiter. Seitdem profitieren in Deutschland Staat und Unternehmen von sehr niedrigen Kreditzinsen. Die massive Senkung der realen Löhne in Südeuropa hat dagegen noch wenig an der skandalös hohen Arbeitslosigkeit geändert.

Stabilitätspakt: Wie die Regeln sich dem Druck der Wirklichkeit beugen Ein Reformansatz seit der Krise war es, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu verstärken. Kernregeln des Paktes sind die Grenze von drei Prozent für ein jährliches Haushaltsdefizit und die Grenze von 60 Prozent für die Gesamtver-

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schuldung eines Landes im Verhältnis zu seinem jährlichen BIP. Die Zahlen werden von der Europäischen Kommission geprüft, sie kann auch Sanktionen vorschlagen, verhängt werden müssen sie allerdings durch den Rat der Finanzminister, also von Kollege zu Kollege. Das fand niemals statt, obwohl sowohl Griechenland als auch Deutschland und Frankreich den Pakt gebrochen haben. Deutschland und Frankreich konnten 2002 und 2003 durch politischen Druck verhindern, dass der Pakt angewendet wurde. Mittlerweile wurden mit dem Six-Pack und Two-Pack Reformen der Regeln beschlossen, die sie mittels quasi-automatischer Sanktionen wieder härter machen sollen. Auch die Abstimmungsregeln für Sanktionen wurden verändert. Dadurch soll der politische Einfluss möglichst gering gehalten werden. Schlägt die Kommission Sanktionen vor, so müssen sie nicht mehr aktiv beschlossen werden, sondern greifen »automatisch«, wenn der Rat der Finanzminister nicht ausdrücklich das Gegenteil beschließt. Ein echter Test steht bisher aus. Die neue Härte der Regeln führte allerdings auch dazu, dass sich die politische Einflussnahme verschob. Früher wurden vor allem die Sanktionen verhindert, jetzt ist schon die Prognose der Wirtschaftsdaten ein Kampffeld. Die Europäische Kommission steckt bei der Prognose der Wirtschaftsentwicklung für die Mitgliedsländer in einer Zwickmühle: Es hat problematische Folgen, falls sie die Regeln durchsetzt, und sie schwächt die Regeln, wenn sie es nicht tut. Denn würde die Kommission alle erfolgreich zum Sparen zwingen, könnte es zur Deflation kommen. Dann fallen die Preise und die normalen wirtschaftlichen Erwartungshaltungen werden zerstört, was zu einer langen Rezession führen kann. Ein Beispiel dafür ist Japan, das seit über einem Jahrzehnt in einer Rezession steckt. Lässt die Kommission es allerdings durchgehen, dass Mitgliedstaaten die neuen Regeln nur halbherzig anwenden, sind die reformierten Vorgaben gleich wieder unglaubwürdig.1 Wenn es um die Konjunktur eines Landes ohnehin gerade schlecht bestellt ist, kann die Reduktion staatlicher Ausgaben den Nachfragemangel noch verschlimmern. Als die Bundesregierung in der Krise Anfang der 2000er-Jahre Ausgaben kürzte, konnte die Nachfrage in den Boomländern Südeuropas das ausgleichen helfen. Der aktuellen Bundesregierung ist aber ein ausgeglichener Bundeshaushalt (»schwarze Null«) wichtiger als massive Investitionen in Infrastruktur, Bildung und anderes. Dafür hat sie in Deutschland angesichts der mit Schulden assoziierten Probleme anderer Euroländer auch viel öffentliche Unterstützung. In der WWU gibt es keine harten Regeln, die die Bundesregierung zu einer anderen Politik zwingen würden. Und die EU hat bisher keine eigenen Finanzmittel, um selbst in relevantem Maßstab investieren zu können. Solange der Kommission die wirtschaftspolitischen Instrumente gegen die Nebenwirkungen der Regeldurchsetzung fehlen, wird sie vor der Anwendung der Regeln wahrscheinlich zurückschrecken.

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Europäische Empfehlungen für souveräne Parlamente – wie Europa sich nur unbeliebt machen kann Als Ersatz für die fehlenden gemeinsamen EU-Instrumente in der Wirtschaftspolitik sollen sich die Euroländer unter Führung der Europäischen Kommission zumindest besser organisieren. Weil das vor der Krise kaum funktionierte, wurde ab 2011 für eine bessere Abstimmung der Wirtschaftspolitik das sogenannte europäische Semester eingeführt. Haushaltsprobleme sollen nicht im Nachhinein sanktioniert, sondern vorab verhindert werden. Im Frühjahr analysiert dafür die Kommission die wirtschaftliche Lage der Union. Die Regierungen der Mitgliedstaaten entwerfen ihren Haushaltsplan und senden ihn dann an die Kommission. Sie analysiert ihn und gibt den einzelnen Ländern sogenannte länderspezifische Empfehlungen, die die Mitgliedstaaten dann bei ihren Haushaltsbeschlüssen berücksichtigen sollen. Die Empfehlungen sind natürlich von der konservativ-liberalen Mehrheit in der Europäischen Kommission, im Rat der Finanzminister und im Europaparlament geprägt. Deshalb sollen viele Länder Staatsausgaben reduzieren und Schutzregeln für Beschäftigte sollen abgebaut werden. Von mehr Steuern für Vermögende ist dagegen kaum die Rede. Für Deutschland empfiehlt die Kommission regelmäßig, das Ehegattensplitting abzuschaffen, die Minijobs in unbefristete Stellen umzuwandeln, die Löhne entlang der Produktivität zu erhöhen, die Steuern für Geringverdiener zu senken und die Bildungsausgaben zu steigern, also eher höhere Ausgaben für soziale Sicherheit und Bildung zu tätigen. Dies folgt nicht nur nationalen Zielen, sondern auch der zuvor geschilderten gesamteuropäischen Logik einer antizyklischen Fiskalpolitik. Im Süden des Kontinents sparen, im Norden mehr ausgeben, die große makroökonomische Perspektive mag logisch sein, sie ist im Detail aber hochpolitisch. Steuerpolitik und staatliche Ausgaben verteilen Geld um. Eine solche Politik braucht aus guten Gründen ein demokratisches Mandat. Seit dem Beginn des Parlamentarismus waren Entscheidungen über den Haushalt ein zentrales Parlamentsrecht und daher besonders abgesichert. In Deutschland hat dies auch das Verfassungsgericht im letzten Urteil zum aktuellen Lissabon-Vertrag der EU betont: »Die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben« sowie über »wesentliche Ausgaben des Staates« müssten beim Deutschen Bundestag liegen, solange die Repräsentation im Europaparlament durch die Überrepräsentation kleiner Länder und damit ein unterschiedliches Stimmgewicht nicht den Standards des Grundgesetzes entspreche. Die Durchsetzung einer gesamteuropäischen Strategie bleibt so auf die nationalen Parlamente angewiesen. Die länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission können die Parlamente nicht binden. Das öffentliche Verfahren sollte die Öffentlichkeiten der Länder überzeugen und so Druck auf die Parlamente machen. Das funktioniert allerdings von Jahr zu

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Jahr schlechter. Von den 140 Reformempfehlungen der Kommission im Jahr 2012 hatten die Mitgliedstaaten 2013 nur 17 voll umgesetzt oder erhebliche Fortschritte gemacht.2 Von den 528 Empfehlungen aus dem Jahr 2014 waren 2015 sogar nur sieben vollständig umgesetzt, in Deutschland keine einzige.3 Die Europäische Kommission übergibt die Empfehlungen dem Rat der EU und sie werden dort beschlossen. Damit macht sich aber keiner der beteiligten Politiker die Empfehlungen wirklich zu eigen. Sie werden oft als ein Zeugnis für ihre nationale Politik interpretiert. In der nationalen Arena überwiegen freundliches Desinteresse oder ausdrückliche Zurückweisung, wie zum Beispiel gegenüber der Forderung nach Deregulierung der Arbeitsmärkte in Frankreich, die Präsident FranÇois Hollande als Einmischung in die nationale Souveränität zurückgewiesen hat. Die Politiker haben keinen Anreiz, das europäische Gesamtinteresse vor der eigenen nationalen Öffentlichkeit zu vertreten. Denn sie sind mit einem nationalen Mandat gewählt, das bei Hollande beispielsweise gerade keine Deregulierung der Arbeitsmärkte vorsieht. Die Kommission selbst hat es meist schwer, in nationalen Öffentlichkeiten mit ihren Argumenten gehört zu werden. Teils greift die Opposition die Kritik an der Regierung auf, aber eher noch kritisieren Regierungen ihre Nachbarn. Im betroffenen Land führt dies jedoch eher zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit der Regierung – gegen eine Einmischung von außen –, als zu einem Umdenken. Politiker können unliebsame Forderungen nutzen, um sich als Verteidiger der nationalen Souveränität aufzuspielen. So werden europäische Empfehlungen zum Buhmann-Spiel, bei dem Brüssel für alles Schlechte verantwortlich ist. Die nationalen Regierungen wollen nur für Wohltaten und Erfolge zuständig sein. Weil es so beliebt wird, sich gegen Brüssel zu profilieren, werden die länderspezifischen Empfehlungen letztlich zu einer Delegitimierungsmaschine für europäische Politik.4

Vertragspartnerschaften: Selbstverpflichtungen als Lösung? Angesichts der Erfolglosigkeit der freiwilligen Empfehlungen ging die Reformdebatte der EU weiter. Neuere Vorschläge wollen eine noch stärkere Verbindlichkeit erreichen. Zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission sollen demzufolge »Vertragspartnerschaften« geschlossen werden, in denen sich das Land zu bestimmten Reformen verpflichtet, zum Beispiel bei Renten und am Arbeitsmarkt. Im Gegenzug würde ein neuer Haushaltstopf eingerichtet, aus dem diese Länder finanzielle Unterstützung für diese Reformen erhalten. Denn auch laut wirtschaftsliberalen Theorien lohnt sich der Abbau von Schutzregeln für Angestellte nicht sofort, sondern erst nach einigen Jahren. Die Zahlungen könnten diese Kosten ersetzen helfen und eben ein Anreiz sein. Es wird überlegt, dass die Verpflichtung auch vor dem Europäischen Ge-

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richtshof einklagbar sein soll. Als »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit« stand die Idee im Bundestagswahlprogramm von CDU/CSU. Als »vertragliche Reformvereinbarungen« steht sie inzwischen auch im Koalitionsvertrag mit der SPD. Der Europäische Rat unterstützt die Idee im Prinzip. Konkret wurde sie aber noch nicht beschlossen. Auch woher das Geld für die Unterstützungszahlungen kommen soll ist offen. Ein Vorteil der Vertragspartnerschaften wäre, dass Abmachungen unter den Regierungen der Mitgliedstaaten auch dann noch gelten würden, wenn zwischenzeitlich ein Regierungswechsel stattfindet. Im Sommer 2012 wollte die neu gewählte Syriza-Regierung beispielsweise nicht mehr die Zusagen umsetzen, die eine Technokratenregierung zuvor noch mit dem Europäischen Rat vereinbart hatte. Dieser Vorteil ist aber zugleich auch der zentrale Nachteil: Die Verantwortlichen für Wirtschaftspolitik sind so gar nicht mehr abwählbar. Zwar müssten die Verträge natürlich weiterhin von nationalen Parlamenten oder sogar per Referendum ratifiziert werden. Aber für echte demokratische Kontrolle müssen auch Kurskorrekturen möglich bleiben. Andernfalls könnte eine einmal bestehende Mehrheit in einem Land die Wirtschaftspolitik auf Jahre hinaus festlegen, ohne dass die Bevölkerung anschließend daran noch etwas ändern könnte.5

Krisenkonstrukte Troika und Eurogruppe: Wo die wirkliche Macht ist, fehlen Transparenz und demokratische Kontrolle Während die Regeln und Institutionen der Eurozone im Normalfall ein Durchsetzungsproblem haben, haben die kurzfristigen Krisenlösungen zu viel echte, aber unkontrollierte Macht. Diese Krisenregeln gelten aber nur für diejenigen Länder, die Milliardenkredite erhalten haben und im Gegenzug Programmen zustimmen mussten, die schmerzhafte Reformen enthalten. Die nicht mehr mögliche »externe Abwertung« wird durch eine »interne Abwertung« ersetzt, also durch Kürzungen von Löhnen und Renten, Privatisierungen und Ähnliches. Die Zahlungsfähigkeit dieser Länder hängt unmittelbar an diesen Krediten. In diesem Fall haben europäische Institutionen sehr wohl einen starken Einfluss. Allerdings wurden diese Kredite nicht im Rahmen der üblichen EU-Institutionen gewährt. Es handelte sich um rechtliche Notkonstruktionen. Zur Überwachung der Programme wurde die sogenannte Troika aus Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds geschaffen. Die Entscheidung, ob die Programmauflagen erfüllt und die Kredite in Tranchen ausgezahlt werden, trifft die Eurogruppe, die Versammlung der Finanzminister der Euroländer. Die Programme betrafen plötzlich Bereiche der Wirtschafts- und auch Sozialpolitik wie Löhne und Renten, in denen es den EU-Institutionen verboten ist, EU-Gesetze zu erlassen. Ökonomisch werden diese Reformen noch eingehend analysiert (siehe Kapitel 3), aber auch poli-

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tisch führte das schnelle Handeln zu langfristig inakzeptablen informellen Institutionen. Bis heute ist die Eurogruppe ein informelles Treffen, das meist vor dem offiziellen Treffen der EU-Finanzminister stattfindet. Ihre Rechtsgrundlage, das Protokoll 14 im Anhang der EU-Verträge, regelt ausschließlich, dass es die Gruppe gibt und sie einen Vorsitzenden wählt.6 Trotz der weitreichenden Entscheidungen hat die Eurogruppe keine Geschäftsordnung, erstellt keine vollständigen Protokolle und ist keiner anderen EU-Institution Rechenschaft schuldig, obwohl sie in ihren Abschlusserklärungen regelmäßig der Europäischen Kommission Arbeitsaufträge erteilt. Insbesondere bleibt für die Bürger nicht nachvollziehbar, welche Politiker mit welchen Argumenten in ihre Löhne, in ihre Renten und in ihren Staatsbesitz eingreifen. Es gibt dabei nicht nur den Konflikt zwischen den Ländern, die mehr oder die weniger sparen wollen. Die Wählerinnen und Wähler brauchen auch Klarheit, wer auf welche Verteilung der Lasten innerhalb der Gesellschaften gedrungen hat. Wenn Regierungen von Krisenländern Vermögende vor proportionalen Lasten zum Nachteil ökonomisch Schwächerer schützen, sollten sie sich dabei nicht hinter den Regierungen anderer Länder verstecken können. All diese Notstandsregelungen sind nicht als neuer Standard akzeptabel.

Roderiks Trilemma: Demokratie, Nationalstaat und Globalisierung lassen sich nie zugleich realisieren Die in den Kreditbedingungen festgelegte Politik gegenüber den Krisenländern zeigt, was die Vertragspartnerschaften für alle EU-Mitgliedsländer bringen würden. Die Vertragspartnerschaften wären die Extremform der bisherigen intergouvernementalen Politikkoordination. Sie verdeutlichen geradezu idealtypisch einen Grundkonflikt zwischen Demokratie, Nationalstaaten und Globalisierung. Der Entwicklungsökonom Dani Rodrik hat das griffig als ein Trilemma beschrieben: »Ich nenne dies das fundamentale politische Trilemma der Weltwirtschaft: Wir können nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betreiben. Wenn wir die Globalisierung weiterführen wollen, müssen wir entweder den Nationalstaat oder demokratische Politik aufgeben. Wenn wir die Demokratie behalten und vertiefen wollen, müssen wir zwischen dem Nationalstaat und internationaler wirtschaftlicher Integration wählen. Und wenn wir den Nationalstaat und Selbstbestimmung bewahren wollen, müssen wir zwischen einer Vertiefung der Demokratie und einer Vertiefung der Globalisierung wählen.« 7

Als Demokraten erwarten wir, dass der Staat allen die gleichen Partizipationsrechte einräumt und deshalb legitim gesellschaftliche Fragen entscheiden

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kann. Aber wie sehr haben wir damit die Welt, in der wir leben, wirklich unter demokratische Kontrolle gebracht? Unser Leben hört ja nicht an der Grenze auf. Wir kaufen Autos, Äpfel und Aktien aus anderen Ländern, konkurrieren mit Produkten von anderswo, wir verschmutzen Flüsse, die woanders hinfließen, Luft, die woanders hinweht, gehen im Ausland studieren, vielleicht verlieben wir uns dort sogar, heiraten, ziehen um. Die meisten anspruchsvollen Produkte stammen inzwischen überwiegend von in der ganzen EU verstreuten Zulieferern, sind Ergebnis einer intensiven europäischen Arbeitsteilung. »Made in Europe« ist inzwischen meist zutreffender als »made in Germany, France, Italy«. Die europäische Umweltpolitik begann, als der saure Regen – der durch die Emissionen schwedischer Fabriken entstand – plötzlich den deutschen und französischen Wald vergiftete. Europäische Umweltvorschriften haben Emissionen reduziert, Filter und Waldschutzgebiete vorgeschrieben. Die EU hat das Waldsterben stark verlangsamt und den erholsamen Waldspaziergang einstweilen gerettet. Die Erfolge politischer Kooperation sind also für unsere Lebensqualität entscheidend. Solange Gesellschaften weitgehend abgeschottet waren, genügte es, Demokratie im Inneren der Staaten zu haben. Grenzüberschreitende Fragen waren begrenzt, man konnte sie Außenministerien und Technokraten überlassen. Doch je zahlreicher und anspruchsvoller die Probleme werden, desto ineffizienter ist es, sie von Regierungsvertretern verhandeln zu lassen, die jeweils nur ihrer eigenen Bevölkerung verantwortlich sind. Denn diese Vertreter denken nicht ans Gesamtinteresse, sondern nur an die Interessen ihres eigenen Landes. Luxemburgs Steuerpolitik schafft dort ein paar gut bezahlte Jobs. Aber insgesamt schafft der Steuerwettbewerb riesige Ungerechtigkeiten mit Nachteilen für fast alle Bürger, mit Ausnahme ein paar sehr Reicher. In einem solchen System können Trittbrettfahrer ihren Eigennutz auf Kosten fast aller anderer steigern. Ein zweites Problem ist, dass die Demokratie eingeschränkt wird, wenn Lösungen zwischen Regierungsvertretern ausgehandelt werden. Denn die meisten am Tisch kann ich als Bürger ja gar nicht beeinflussen, nicht kontrollieren, geschweige denn abwählen. In einem dominanten Staat fällt das weniger auf, je kleiner das Land, desto mehr. Die Bürger können ihren Vertretern sehr eng gefasste Mandate mit in die Verhandlungen geben, sich sogar ein Referendum über das Ergebnis vorbehalten. Aber je mehr die Vertreter an die demokratischen Mandate zu Hause gebunden werden sollen, desto schwieriger wird es, überhaupt noch eine Lösung am Verhandlungstisch zu finden. Und so sind die beiden Nachteile der Lösung zwischenstaatlicher Probleme durch Verhandlungen von Regierungsvertretern komplementär: Je mehr die Verhandlungen demokratisch angebunden werden, desto uneffektiver werden sie. Je mehr den Technokraten freie Hand gegeben wird, desto weiter entfernen sich ihre Entscheidungen von den Bürgern.8

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Populisten kommen zu dem Schluss, dass wir auf Globalisierung beziehungsweise europäische Integration verzichten sollten, um die Demokratie zu schützen. Zumindest alles Negative (oder negativ Wahrgenommene) soll wieder an der Grenze aufgehalten werden: Schutz suchende Menschen, internationale Kriminalität, Essen und Spielzeug mit Giften. Aber wie realistisch ist das? Verzichten wir auf Facebook, Google und iPhones, wenn diese Konzerne sich nicht an unsere Steuergesetze halten? Genügt es im Kampf gegen den Klimawandel, wenn wir in Deutschland ein paar neue Bäume pflanzen, während andere schnelles Geld machen wollen, indem sie weniger Rücksicht auf die Umwelt nehmen? Wenn wir uns aber eingestehen, dass wir die Globalisierung nicht zurückdrehen können? Dass wir zu sehr ihre Vorteile weiterhin genießen wollen oder als einzelnes Land ohnehin nichts mehr gegen eng miteinander verflochtene Banken und Finanzmärkte ausrichten können? Dann müssen wir versuchen, so gut es geht die Demokratie auf Augenhöhe mit den Problemen zu bringen. Dann ist es besser, wenn wir zusammen mit anderen Europäern ein gemeinsames Parlament wählen, dessen Regeln die Banken nicht einfach umgehen können. Dann ist es besser, im Europäischen Parlament Datenschutzstandards zu entscheiden, an die sich Facebook auch in Irland halten muss, als dass wir in Deutschland nur zwischen »friss oder stirb« wählen können. Würden die meisten Deutschen das anders sehen, gäbe es StudiVZ9 wahrscheinlich immer noch. Auf Augenhöhe mit multinationalen Konzernen zu verhandeln, das geht nicht für 80 Millionen Deutsche, aber schon eher für einen kontinentalen Markt mit 500 Millionen Einwohnern, die zu den reichsten der Erde gehören. Diese Form der Gleichwürdigkeit lässt sich allerdings nur gemeinsam erreichen. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die über die europäischen Datenschutzstandards verhandelt haben, waren mehrheitlich nicht deutsch, genauso wie es auch in rein zwischenstaatlichen Verhandlungen der Fall wäre. Aber sie repräsentieren jeweils europäische Parteien, die überall in Europa antreten und gewählt werden wollen. Die Abgeordneten schließen sich quer durch alle Länder zusammen und sind davon abhängig, dass es möglichst viele von ihrer Partei auch in anderen Ländern ins Europäische Parlament schaffen, wenn sie inhaltlich langfristig ihre Meinung durchsetzen wollen. Im Gegensatz zu zwischenstaatlichen Verhandlungen muss jeder an der Verhandlung Beteiligte vor allem auch völlig transparent machen, wofür er im Detail steht, und vor den Augen der Öffentlichkeit abstimmen. Wären die Verhandlungen zwischen den beteiligten Finanzministern im Rat der EU so transparent wie die Arbeit des Europäischen Parlaments, gäbe es vermutlich längst die Finanztransaktionssteuer. Stattdessen nutzen die Finanzminister die NichtÖffentlichkeit ihrer Verhandlungen, um sich hinter einander zu verstecken. Jeder hätte die Einigung gerne erzielt, aber die anderen ließen es leider nicht

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zu. Natürlich müssen sich die Finanzminister ihren Parlamenten verantworten. Aber die jeweils angeblich schuldigen anderen Finanzminister sind dann ja leider gerade in einem anderen Parlament. Abgestimmt wird öffentlich, wenn der Kompromiss und die Einstimmigkeit stehen. Die Verhandlungen um milliardenschwere Ausnahmeregeln, die gegenseitigen Blockaden, all das passiert hinter verschlossenen Türen. Wenn zum Schaden der Finanzstabilität und der Bürger keine Finanztransaktionssteuer kommt, will niemand dafür verantwortlich sein. Ob sich die Bundesregierung so dafür einsetzt, wie der Bundestag es beschlossen hat, kann der Bundestag gar nicht überprüfen.

E xkurs Steuerpolitik: Wo das Trilemma besonders teuer wird An der Steuerpolitik lässt sich besonders gut zeigen, welche Wirkungen die unterschiedlichen Methoden haben, Europa zu regieren. Der Steuerwettbewerb mit einer schwachen Koordination nationaler Politik im jeweils angeblich »nationalen« Interesse hat die Steuereinnahmen in Europa in 20 Jahren um ein Drittel reduziert. Diese Steuersenkungen gingen aber nicht in die Tasche sehr vieler EU-Bürger, sondern in die Taschen sehr weniger Reicher. Und auch multinationale Konzerne konnten in riesigen Fachabteilungen abenteuerliche rechtliche Konstruktionen erfinden, um Steuern zu sparen. Aber während Starbucks fast keine Steuern mehr abführt, zahlt das traditionelle Café daneben umso mehr. Die Regierungen vieler Staaten waren dabei nicht Opfer, sondern Täter. Luxemburg-Leaks, Panama-Leaks: Mutige Whistleblower wie Antoine Deltour und »John Doe« haben die Komplizenschaft von Staaten und Firmen aufgedeckt. Staaten bauen absichtlich Steuerschlupflöcher, um sich gegenseitig Kapital abzujagen und Finanzindustrien zu päppeln. Luxemburg profitierte mit vielen sehr gut bezahlten Jobs. Auch in den Niederlanden dürften einige Banker und Rechtsanwälte vom noch bunteren Treiben der Steuerdumping-Zulieferindustrie profitieren. Aber insgesamt haben die EU-Länder viel mehr Milliarden an Steuern verloren und dabei zugleich ohnehin marktbeherrschenden Unternehmen ungerechte Vorteile gegenüber kleinen und mittelständischen Firmen gewährt, was Märkte zerstört – und das Rechtsgefühl vieler Bürger gleich mit. Während der Rat der EU vor allem bremst, hat das Europäische Parlament die Skandale zum Anlass genommen und einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Die Europäische Kommission hat von ersten Unternehmen ungerechte finanzielle Vorteile zurückgefordert. Schritt für Schritt drängt das Parlament die Mitgliedstaaten zu besseren gemeinsamen Regeln. Mehr Transparenz über den Besitz an Firmen soll den Betrug mittels Offshorefirmen künftig verhindern. Ein Informationsaustausch zwischen Staaten und Finanzämtern soll die Vorteile komplizierter Konstruktionen gegenüber Otto Normal-

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verbraucher beseitigen. Der Kampf droht sich dabei regelmäßig in Details zu verlieren. Aber der Druck der Öffentlichkeit eines Parlaments und seiner Ausschüsse, die ja alle live im Internet zu verfolgen sind, macht es für Lobbyisten der Spezialinteressen viel schwieriger, die Entscheidungen in ihre Richtung zu drängen.

W arum kommt die E urozone nicht weiter ? Die Mitgliedstaaten sind die Herren der Verträge – und wollen es auch bleiben Dani Rodericks Trilemma ist klar: Wenn wir europäische Integration und Globalisierung nicht aufgeben und dennoch die Demokratie behalten wollen, müsste die Demokratie europäisch werden. Doch so wie die EU aufgebaut ist, hört sich das einfacher an, als es ist. Denn die EU wurde von den Mitgliedstaaten gebaut, nicht von den Bürgern. Sie beruht auf dem Prinzip: Die EU ist nur für das zuständig, was ihr ausdrücklich in den Verträgen erlaubt wird. Alles andere ist ihr verboten. Ergeben sich für die europäische Politik neue Probleme, kann also nicht einfach das Europäische Parlament zusammen mit dem Rat der EU eine Lösung beschließen. Dies geht nur, wenn die Verträge dafür schon eine EU-Zuständigkeit sehen. Sonst bleibt die lose Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten der einzige Weg. Vertragsänderungen wären eine Alternative, sind aber ein äußerst aufwändiges Verfahren. Denn anders als bei der Änderung nationaler Verfassungen genügt nicht einmal eine Zweidrittelmehrheit. Die EU-Verträge müssen bisher einstimmig von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Wenn eine Sache geändert wird, haben alle eigene Wunschlisten, was bei der Gelegenheit auch noch geändert werden soll, und können die anderen ein Stück weit erpressen. Für entscheidende Fragen der Eurozone hat die EU durchaus mehr Kompetenzen, als sie aktuell nutzt. Das Problem ist allerdings: Über die Steuerpolitik beispielsweise entscheiden die Mitgliedstaaten im Rat nicht im üblichen Mehrheitsverfahren, sondern nur einstimmig. So kann ein Fortschritt erst erzielt werden, wenn auch der Letzte zugestimmt hat. In einem Parlament lassen sich leicht Entscheidungen treffen, weil man einfach abstimmt, bis eine Lösung die nötige Mehrheit hat. Zwischen Staaten ist es aber meist nicht akzeptabel, wenn Länder einfach komplett überstimmt werden und dann trotzdem die Lösung akzeptieren müssen. In der intergouvernementalen Zusammenarbeit wird deshalb meistens so lange nach einer Lösung gesucht, bis sie einstimmig oder fast einstimmig beschlossen werden kann. Das dauert länger, denn fast jeder kann »Nein« sagen und mit solch

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einem Veto eine Lösung verhindern. Jede Erweiterung brachte mehr Länder und damit mehr Vetospieler in den Rat der EU. Ein besonders schwieriges, aber auch wichtiges Beispiel ist die Aufstellung des Haushalts in der EU. Damit sich alle Vertreter im Parlament und im Rat der EU auf einen Kompromiss entlang europäischer Gesamtinteressen einigen können, soll der EU-Haushalt eigentlich von Parlament und Rat mit Mehrheit und nach einer öffentlichen Debatte beschlossen werden. Die Staats- und Regierungschefs dürfen in die EU-Gesetzgebung nicht eingreifen. Tatsächlich legen sie aber hinter verschlossenen Türen im Europäischen Rat auf fast 50 Seiten detailliert fest, wie die EU-Haushalte der nächsten Jahre aussehen sollen.10 So werden die Bürger um ihr Recht auf einen transparenten Prozess betrogen.11 Dies befördert ein nationales Schubladendenken. Der EUHaushalt speist sich vor allem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten. Auch deshalb versuchen die Regierungen jeweils mindestens so viel an EU-Ausgaben ins eigene Land zu lenken, wie sie an die EU-Kasse überweisen. Geldverschwendung wird hingenommen, solange sie nationaler Symbolik dient. Das eigentlich vorgeschriebene öffentliche Verfahren könnte durch die Kontrolle von Medien und Zivilgesellschaft eine solche Verschwendung verhindern. Auch eigene EU-Einnahmen würden Verschwendung reduzieren, da die nationalen Regierungen dann nicht mehr so viel für sich herausholen müssten. In den USA geht ein fester Satz der Unternehmenssteuern an den Bundeshaushalt, der größere Rest an die Bundesstaaten.

Länder mit und ohne Euro: Ein Grund, das Europäische Parlament zu spalten? Der Euro ist die Währung der EU, so sagen es die Verträge. 338 von 508 Millionen Europäern zahlen bereits damit, also zwei Drittel. Bis auf Großbritannien und Dänemark haben alle Regierungen sich verpflichtet, ihn einzuführen. Nur 14 Prozent der EU-Bürger leben also in Ländern ohne eine Perspektive, den Euro einzuführen. Neben den 19 Euroländern gibt es vor allem osteuropäische Länder, die noch nicht alle Maastricht-Kriterien für die Einführung erfüllen, dem aber näher kommen. In Polen und Schweden gilt eine Euroeinführung als politisch verbranntes Thema. Die baltischen Staaten haben den Euro aber trotz der politischen Krise eingeführt, Litauen als letztes der drei im Jahr 2015. Die Frage für die europäische Demokratie ist, welches Parlament die Interessen der Bürger in Sachen WWU vertreten soll, wenn gar nicht alle Bürger gleichermaßen davon betroffen sind. Die Idee, den europäischen Institutionen mehr Rechte einzuräumen, in Fragen der Währungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik auch zu entscheiden und nicht nur Ratschläge zu geben, mündet ja direkt in diese Frage. Denn praktisch alle sind sich einig: Wenn die europäische Ebene mehr Entscheidungsgewalt bekommen soll, muss diese auch

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demokratisch legitimiert und kontrolliert sein. Die Meinungen gehen dann allerdings auseinander, in welcher Form das am besten passiert. Joschka Fischer und andere fordern eine Eurokammer, ein eigenes Parlament, das nur Fragen der WWU behandeln würde. Es soll sich aus Abgeordneten zusammensetzen, die von den nationalen Parlamenten entsandt werden.12 So funktionierte das Europäische Parlament, als es noch »Beratende Versammlung« hieß, bevor es 1979 zum ersten Mal direkt gewählt wurde. Ein besonders in Frankreich populärer Vorschlag lautet: Ein eigenes Währungsparlament soll sich aus entsandten nationalen und europäischen Abgeordneten zusammensetzen, wahrscheinlich zu gleichen Teilen. Ein dritter Vorschlag will zwar kein neues Parlament gründen, aber das Europäische Parlament in Abgeordnete aus Euroländern und solche aus Nicht-Euroländern sortieren. Das könnte dann in Form eines riesigen Ausschusses innerhalb des Parlaments passieren. Die ersten beiden Vorschläge setzen auf den unbestritten höheren Bekanntheitsgrad nationaler Politiker. Joschka Fischer will vor allem die aus Funk und Fernsehen bekannten Gesichter der Parlamente für seine Eurokammer verpflichten, die Spitzen der Fraktionen in nationalen Parlamenten und die haushaltspolitischen Sprecher. Wenn die Europapolitiker es eben nicht in die Fernsehtalkshows schaffen, dann will er die nationalen Politiker der Fernsehtalkshows in ein neues europäisches Nebenparlament holen. Eine nationale Lösung für ein europäisches Problem zu wählen, würde aber zur gleichen Schwierigkeit wie bei den Regierungen führen: Auch nationale Abgeordnete sind nur ihren eigenen nationalen Öffentlichkeiten verpflichtet. Wie zu kleine Deckel passen sie nie auf den europäischen Topf. Solange ihre Wiederwahl und ihre Einflussmöglichkeiten im Wesentlichen an nationalen Fragen hängen, werden sich ihre Anreize kaum verändern. Es gäbe dann zwar Politiker, die europäische Fragen entscheiden würden und zugleich häufiger im Fernsehen Rede und Antwort stehen würden. Aber es wäre wohl wie schon jetzt bei Europawahlen: Es würde überwiegend weiter aus nationalen Perspektiven über nationale Probleme gesprochen, selbst wenn sie eigentlich höchst europäisch verknüpft sind und nur europäisch gelöst werden können. Wie aber soll dann die Frage gelöst werden, dass die Wähler des Europäischen Parlaments und die Betroffenen der WWU nicht übereinstimmen? Die EU-Institutionen bieten darauf im Grunde schon in ihrer jetzigen Form eine Antwort: Das Parlament steht für die gesamteuropäischen Interessen, der Rat der EU vertritt die Einzelinteressen je nach Betroffenheitsgrad. Im Parlament vertreten die Abgeordneten die Interessen aller EU-Bürger. Auch die 14 Prozent Briten und Dänen profitieren ja von einer stabilen Eurozone als Haupthandelspartner. Die Polen und viele andere Noch-Nicht-Euroländer wollen einen funktionierenden Euro als Perspektive. Im Rat stimmen dann nur diejenigen Vertreter ab, die aus den betroffenen Ländern kommen.

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Ein gewichtiges Argument bei der Frage, ob die EU-Institutionen geändert werden sollten, ist: Wie kann sich die EU am besten weiterentwickeln? Eine Spaltung der europäischen Demokratie in Euro- und Nicht-Euroländer würde dabei viele Entwicklungsmöglichkeiten zerstören. Dass Europaabgeordnete alle EU-Bürger vertreten, ist eine wichtige Grundlage für Fortschritt. Ein Nebenparlament würde eine Klarheit beseitigen: Welche Mehrheit im Europäischen Parlament die Kommission unterstützt und welche Minderheit die Opposition bildet. Solch ein Prinzip ist aber wichtig, um durch Europawahlen die europäische Politik stärker bestimmen zu können.

Spitzenkandidaten und transnationale Wahllisten: Wann will ein Kanzler Kommissionspräsident werden? Was kann das europäische Institutionensystem aus Kommission, Parlament und Ministerrat vom Föderalismus in Deutschland lernen? Schließlich gibt es die Währungsunion von Kiel bis München schon länger als zwischen Lissabon und Helsinki. Warum hat Bayern mit dem Austritt nie ernst gemacht, trotz teurer Überweisungen im Länderfinanzausgleich und noch viel größerer Geldflüsse in die Sozialversicherungen? Neben ökonomischen und kulturellen Gründen hat das auch mit dem integrierten politischen System zu tun. Kommunalpolitiker wollen Landespolitiker werden und Ministerpräsidenten wollen Kanzler werden. Warum will die Kanzlerin aber anscheinend nicht Kommissionspräsidentin werden? Warum wollen nationale Politiker nicht ins Europäische Parlament, um mit Konzepten für eine funktionierende Eurozone die Wahl um die Macht auf dem Kontinent zu gewinnen? Die europäischen Parteien sind nur Zusammenschlüsse der nationalen Parteien. Ihr Einfluss auf die europäische Politik bleibt begrenzt. Für die weitere Entwicklung der Eurozone entstanden dort keine eigenen Initiativen, es gab keine Mehrheitsbildung quer zu den Mitgliedsparteien. Die Europäische Volkspartei (EVP), die Europäischen Sozialdemokraten (SPE) und die Liberalen (ALDE) treffen sich vor Zusammenkünften des Europäischen Rats. Aber die Finanz- oder Sozialpolitiker aus den unterschiedlichen Parteien kommen praktisch nie europaweit zusammen. Denn die vielleicht wichtigste Funktion von Parteien, Ämter zu besetzen, erfüllen bisher nur die nationalen Mitgliedsparteien, auch bei Europawahlen. Dass bei der letzten Europawahl gemeinsame Spitzenkandidaten aufgestellt wurden, hat das erstmals leicht verändert. Das Wichtigste daran ist: Ein Spitzenkandidat muss in Griechenland und Deutschland gleichermaßen mit seinem Konzept überzeugen und kann die Wählerinnen und Wähler nicht ungestraft gegeneinander ausspielen. Sollte sich das Verfahren durchsetzen, würden Kandidaten für das Spitzenamt wohl auch dafür eintreten, dass kohärentere Programme erarbeitet werden und ein Parteiapparat für den Wahl-

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kampf bereitsteht. Erst dann würden auch nationale Finanzpolitiker einen Anreiz haben, auf europäischer Ebene mit guten Konzepten zu wetteifern, auch darum, wer der jeweilige Schatten-Finanzminister des europäischen Spitzenkandidaten wird. Transnationale Listen für die Wahlen zum Europäischen Parlament würden das noch stärker ändern können. Denn wenn die EU-Bürger unmittelbar in der Wahl zwischen Spitzenkandidaten entscheiden, dann würde das Gewicht der Partei- und Regierungschefs in Hinterzimmerverhandlungen sinken.13 Einige Abgeordnete würden dann in einem Wahlkreis, der aus der ganzen EU besteht, gegeneinander kandidieren. Deutsche Wähler würden genauso viel zählen wie maltesische. Somit würden auch die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts gegenüber ungleicher Repräsentation innerhalb des Europäischen Parlaments reduziert oder sich sogar ganz erledigen. So ein Prinzip setzt aber voraus, dass – wie auch im Bundestag – alle Abgeordneten allen Wählern verpflichtet sind, nicht nur einem Teil davon. Deshalb wird ein solcher Fortschritt nur kommen, wenn die Einheit des Europäischen Parlaments bewahrt und ein Nebenparlament vermieden wird. Die Geschichte der USA bezeugt, dass aus sehr unterschiedlichen Parteiensystemen auf Staatenebene schnell ein föderales, gesamtkontinentales Parteiensystem erwachsen kann, wenn eine neue Entscheidungsgewalt auf höherer Ebene das sinnvoll werden lässt. Der New Deal der 1930er-Jahre unter Präsident Franklin Delano Roosevelt änderte die Finanzbeziehungen zwischen Bundesstaaten und Washington fundamental. Roosevelts Bundesprogramme sorgten dafür, dass plötzlich die Bundesregierung mehr Geld umverteilte als die Bundesstaaten. Und tatsächlich veränderte sich in der Folge auch das amerikanische Parteiensystem: Während vorher viele Bundesstaaten eigene Parteien hatten, die sonst nirgends antraten, verschob sich das Zentrum der Diskussion dann auf die Bundesebene und Republikaner und Demokraten koordinierten sich bundesweit.14

Steuern und Arbeitsmärkte statt Umwelt- und Produktstandards: je mehr Kernthemen, desto mehr Streit Lange Zeit bedeutete europäische Integration vor allem die Öffnung zuvor national geschlossener Märkte. Unternehmen mussten immer mehr europäische Produkt-, Umwelt- und Arbeitsstandards beachten, profitierten aber auch oft davon, dass es nur noch eine EU-Regel statt vieler Regelungen der Mitgliedstaaten gab. Spätestens seit der Finanzkrise – mit dem Auf bau der Bankenunion, der Einführung von EU-Finanzaufsehern und einer beginnenden Steuerpolitik über den bisherigen Bereich von Zöllen und Mehrwertsteuer hinaus – regeln EU-Gesetze und -Aufseher auch Kernthemen von Staatlichkeit und greifen stark in Verteilungsfragen ein. Ressourcenstarke Interessen gera-

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ten so leichter in Konflikt mit dem Ziel einer stärkeren europäischen Integration, die nicht mehr Marktfreiheit, sondern mehr europäische Kontrolle über Märkte bringt. Die europäische Integration tendiert damit zum US-amerikanischen Gegensatz zwischen demokratischen und republikanischen Vorstellungen. Linke Demokraten wollen mehr föderale Regeln für sozialen Ausgleich, rechte Republikaner wollen weniger Regeln auf föderaler Ebene und mehr Entscheidungsfreiheit für Bundesstaaten und Individuen.

F a zit : G ebt den B ürgern die W ahl , welches E uropa sie wollen , statt S cheinalternativen der A ntieuropäer Millionen Menschen mit geringem Einkommen, inzwischen auch der Mittelklasse, sind global durch die Globalisierung unter Druck. Europa ist daran im Kern nicht schuld, nutzt aber seine Möglichkeiten nicht, umzusteuern und ist deshalb dafür verhetzbar. Die politischen Institutionen der Eurozone funktionieren nicht, weil die Demokratie nicht mit der Ökonomie Schritt gehalten hat. Die Geldpolitik ist vergemeinschaftet, die Haushaltspolitik engen europäischen Regeln unterworfen, ein sozialer Ausgleich und demokratische Regeln für die eng verwobene Wirtschaft nur gemeinsam möglich. Die Demokratie hingegen soll weiter vor allem national funktionieren und sich nur europäisch koordinieren. So stehen die wirklichen Alternativen, die europäisches Handeln bieten würde, den Bürgern nicht zur Abstimmung, die sich entsprechend enttäuscht von der EU abwenden. Damit es weniger europapolitische Trittbrettfahrer und kein Versteckspiel mehr bei der Verantwortung gibt, braucht es eine größere Transparenz und klare Verantwortlichkeiten. Auch in der Eurogruppe und im Rat der EU müssen die Wähler erfahren, wer gemeinsames Handeln befördert und wer blockiert. Für klarere Verantwortlichkeiten würde es helfen, ein Zentrum der politischen Verantwortung zu bauen: Je mehr die Mitgliedstaaten zulassen, dass die Europäische Kommission zu einer europäischen Regierung wird, desto eindeutiger wäre die Gewaltenteilung. Wenige Personen, die wirklich etwas entscheiden können, müssen sich dafür dann gegenüber den Parlamentariern und schließlich den Wählern verantworten. Eine wirkliche Wahl zwischen Personen muss aber auch eine Auswahl zwischen Programmen sein; das würde Populismus unattraktiv machen. Wo die Auswahl zwischen deutlich unterscheidbaren Politikangeboten besteht, gehen mehr Menschen zur Wahl und haben weniger Interesse an Populisten. Wenn auch bei Europawahlen endlich abgestimmt werden kann, ob die Wähler Europa so oder so haben wollen, wird kaum noch jemand über ein »Ja« oder »Nein« zu Europa abstimmen wollen. Wenn die Mitgliedstaaten dies zulassen würden, ließe sich in Europa sehr gut darüber abstimmen, ob multinationale Konzerne

2. Christian Beck — Hat der Euro die Demokratie gestohlen?

transparent sein und Steuern zahlen müssen oder ob weiter ein Steuerwettbewerb herrschen soll. Es ließe sich darüber abstimmen, ob mit etwas höheren Steuern für Unternehmen und Vermögende mehr in strukturschwache Regionen investiert werden soll. Das Beispiel der USA in den 1920er- und 1930erJahren macht deutlich: Wenn die Entscheidung über große Geldsummen auf die föderale kontinentweite Ebene verschoben wird, ziehen auch die Parteien nach. Spitzenkandidaten mit europaweiten Programmen würden dann die Wahl echter Politikoptionen bieten. Damit wäre den politischen Wunderheilern und populistischen Scharlatanen die Geschäftsgrundlage entzogen. Denn im Streit um echte Politikalternativen würde leichter klar werden, dass in der Globalisierung die nationale Souveränität weder Jobs schafft noch für Gerechtigkeit sorgen kann. Eine europäische Demokratie, zwar mit Fehlern, aber auf Augenhöhe mit transnationalen Konzernen und Banken, ist besser als eine scheinbar schönere nationale Demokratie ohne Einfluss. Doch die Abstimmung über die Zukunft Europas findet innerhalb der geltenden Institutionen statt. Deshalb entscheiden die Bürger der EU weniger 2019 bei der Europawahl, sondern mehr verteilt: 2017 erst in Frankreich, dann in Deutschland und schließlich Anfang 2018 in Italien sowie in den vielen anderen Wahlen für nationale Regierungen.15 Diese werden dann auch im Europäischen Rat, im Ministerrat und in der Eurogruppe sitzen. Entscheidend wird sein, ob die großen proeuropäischen Parteien ein positives Angebot für ein demokratisches und soziales Europa machen oder versuchen, den Populisten nachzulaufen. Das Erschrecken über den Sieg der populistischen LeaveKampagne im britischen Referendum könnte den politischen Moment für einen Reform-Auf bruch bedeuten. Reine Win-win-Lösungen gibt es in Europa kaum. Die Regierungen müssen kurzfristige Kosten akzeptieren, um durch gemeinsames Handeln selbst und für die ganze EU wieder Stärke ausstrahlen zu können. Einen Interessensausgleich zwischen Euroländern empfiehlt sogar der Internationale Währungsfonds dringend: Milliarden für europäische Investitionen in abgehängten Regionen im Gegenzug für mehr gemeinsame Wirtschaftspolitik. Anleihen der Bundesregierung sind aktuell zum Nullzins zu haben, Milliarden an Steuerbeiträgen von Großkonzernen würden bei entschlossenem Kampf gegen Steuerdumping fließen: Die Zeit für Investitionen ist ideal. Die Ausgangslage in den anstehenden Wahlen ist dagegen düster: In Frankreich liegt der Front National befeuert durch den Brexit in Umfragen vorne, in Italien wird die Fünf-Sterne-Bewegung immer stärker. Beide wollen ihre Länder aus dem Euro führen. Damit könnte der Euro tatsächlich scheitern. Die Parteien in Deutschland müssen deshalb Aufwand und Kosten von mehr Investitionen, Transparenz und Demokratie einerseits und die potenziellen Kosten populistischer anti-europäischer Regierungen in Frankreich oder Italien andererseits klug abwägen. Gerade nach dem Brexit-Votum spricht sich zumindest die deutsche Bevölkerung mehrheitlich für einen engeren Zusam-

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menschluss (49 Prozent) statt für mehr Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten (37 Prozent) aus.16

A nmerkungen 1 |  Giegold, Sven (2015): Herbstprognose der Kommission: In den Regelbruch getrieben (5.11.2015); www.sven-giegold.de/2015/herbstprognose-der-kommission-inden-regelbruch-getrieben/ (aufgerufen am 21.6.2016). 2  |  Giegold, Sven (2013): Europäisches Semester: Europaparlament schafft Transparenz durch Tabellen (31.5.2013); www.sven-giegold.de/2013/europaisches-semestereuropaparlament-schafft-transparenz-durch-tabellen/ (aufgerufen am 21.6.2016). 3  |  Giegold, Sven (2015): Europäisches Semester: EU-Mitgliedsländer blamieren sich bei Koordinierung der Wirtschaftspolitik (27.5.2015); www.sven-giegold.de/2015/ europaeisches-semester-eu-mitgliedslaender-blamieren-sich-bei-koordinierungder-wirtschaftspolitik/ (aufgerufen am 21.6.2016). 4 | Müller, Manuel (2013): Länderspezifische Empfehlungen, oder: Wie mache ich mich unbeliebt? (5.6.2013); www.foederalist.eu/2013/06/landerspezifische-empfeh lungen-oder-wie.html (aufgerufen am 21.6.2016). 5 | Müller, Manuel (2013): Vertragspartnerschaften als »goldene Zwangsjacke«: Wie in der Eurozone die Demokratie erodiert und welche Alternative es gäbe (27.11.2013); www.foederalist.eu/2013/11/vertragspartnerschaften-als-goldene.html (aufgerufen am 21.6.2016). 6 | Protokoll (Nr. 14), betreffend die Euro-Gruppe; www.europarl.europa.eu/brus sels/website/media/Basis/InternePolitikfelder/WWU/Pdf/Protokoll_14_Eurogrup pe.pdf (aufgerufen am 21.6.2016). 7 | Braunberger, Gerald (2011): Rodriks unmögliches Dreieck: Nationalstaat, Demokratie und Globalisierung sind zu viel (28.3.2011); Artikel zu Rodrik, Dani (2011): Das Globalisierungs-Paradox. München: Beck; www.faz.net/aktuell/feuille ton/wirtschaft/rodriks-unmoegliches-dreieck-1612995.html (aufgerufen am 21.6. 2016). 8 | Müller, Manuel: Warum Föderalismus? (ohne Datum); www.foederalist.eu/p/ warum-foderalismus.html (aufgerufen am 21.6.2016). 9 | Sicherheit im VZ: Datenschutz (ohne Datum); www.studivz.net/l/security/24 (aufgerufen am 21.6.2016). 10  | Europäischer Rat (2013): Tagung vom 7./8. Februar 2013, Schlussfolgerungen (mehrjähriger Finanzrahmen) (EUCO 37/13); https://www.consilium.europa.eu/ uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/135379.pdf (aufgerufen am 21.6.2016). 11 | Crowe, Richard (2016): The European Council and the Multiannual Financial Framework, in: Cambridge Yearbook of European Legal Studies, Vol. 17, S. 1.

2. Christian Beck — Hat der Euro die Demokratie gestohlen? 12 | Hildebrandt, Tina/Wefing, Heinrich (2011): Joschka Fischer: »Vergesst diese EU«, in: DIE ZEIT Nr. 46/2011; www.zeit.de/2011/46/Interview-Fischer/komplettansicht (aufgerufen am 21.6.2016). 13 | Dies gibt der Rechtsdienst des Rates sogar in internen Papieren ganz offen zu. Als Leak finden sie sich auf www.sven-giegold.de/2016/baerendienst-fuer-dieeuropaeische-demokratie-bundesregierung-will-eu-spitzenkandidaten-verhindern/ (aufgerufen am 21.6.2016). Wie selbstverständlich einige Partei- und Regierungschefs ihre Rechte sogar gegen geltende EU-Verträge durchsetzen wollen, machten zuletzt Klagen von Polen, Ungarn und der Slowakei gegen die Ko-Gesetzgeber Europäisches Parlament und Rat der EU deutlich. Die nationalen Regierungen klagten darauf, dass die vom Europäischen Rat gesetzten Grenzen für EU-Gesetze nicht eingehalten worden seien. Das ist tragikomisch, denn der Europäische Rat darf laut Verträgen gar nicht direkt in die EU-Gesetzgebung eingreifen. 14 | Chhibber, Pradeep/Kollman, Ken (1998): Party Aggregation and the Number of Parties in India and the United States, in: American Political Science Review, Vol. 92, No. 2. 15 | Deutscher Bundestag: Wahltermine der Mitgliedsländer der Europäischen Union; https://www.bundestag.de/bundestag/wahlen/wahltermine-eu (aufgerufen am 21.6.2016). 16  | Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer Juli 2016 (Mainz, 8.7.2016); www. forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2016/Juli_I_2016/ (aufgerufen am 21.6.2016).

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3. Die Konstruktionsfehler der Währungsunion Henrik Enderlein

Der gemeinsame Währungsraum weist auch zwei Jahrzehnte nach seiner Konzeption und rund eine Dekade nach seiner tatsächlichen Umsetzung immer noch erhebliche Konstruktionsfehler auf. Das hat die Krise im Euroraum seit dem Frühjahr 2010 deutlich gezeigt. Wie diese Konstruktionsfehler konkret aussehen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Denn die Funktionsdefizite haben sowohl mit ökonomischen als auch mit politischen Faktoren zu tun. Idealtypisch lassen sich drei Interpretationen der Krise unterscheiden: 1. Diese Interpretation der Krise hebt hervor, dass die Grundkonzeption des Maastricht-Vertrags, eine »Regelgemeinschaft«, durchaus hätte funktionieren können. Die praktische Umsetzung, insbesondere was die Stabilitätskriterien betrifft, sei aber zu stark vom ursprünglichen Rahmen abgewichen, was dann in eine Krise mündete. Als wichtigsten Konstruktionsfehler identifiziert diese Interpretationslogik die mangelnde Sanktionierung von Regelverstößen, vor allem beim Schuldenstand. Dadurch wurde der gesamte Regelrahmen nach und nach aufgeweicht. 2. Diese zweite Interpretation argumentiert, dass eine gemeinsame Währung in einem geografischen Raum, der weder einen hohen politischen Integrationsgrad aufweist noch die Kriterien eines optimalen Währungsraums erfüllt, scheitern muss. Es gibt zwei Subkategorien dieser Interpretation: • Einerseits wird der Fokus auf die mangelnde Legitimationsgrundlage einer gemeinsamen Währung gerichtet, die es grundsätzlich unmöglich mache, die Funktionsfehler einer Währungsunion, die kein optimaler Währungsraum ist, auszugleichen. Da eine Währungsunion ohne eine politische Union langfristig nicht existieren könne, eine politische Union im heutigen Kontext aber nicht realistisch erscheine, sei das Währungsunionsprojekt zum Scheitern verurteilt. • Andererseits wird auch auf die grundsätzlichen ökonomischen Schwierigkeiten hingewiesen, einen Wirtschaftsraum von so hoher struktureller Heterogenität, wie sie im Euroraum anzutreffen ist, mit einer ge-

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Teil I: Herausforderungen

meinsamen Währung in Einklang zu bringen – ganz unabhängig von den politischen Strukturen. Es sei ökonomisch unmöglich, eine Währungsunion so unterschiedlicher Länder langfristig stabil zu halten, sodass zum Beispiel eine Aufspaltung in einen Nord-Euro und einen SüdEuro oder eine Rückkehr zu nationalen Währungen angemessen wäre. 3. Diese Interpretation weist ebenfalls auf die strukturellen Divergenzen und den mangelnden Grad an politischer Integration hin. Darüber hinaus führt sie jedoch an, dass durch zusätzliche politische, institutionelle, rechtliche oder auch ökonomische Maßnahmen die gemeinsame Währung beibehalten werden könne. Die Herausforderungen seien nicht so fundamentaler Natur, dass sie die Funktionsweise der gemeinsamen Währung gefährdeten. Dieses Kapitel geht vor allem auf die ökonomischen Herausforderungen ein und beschreibt, warum der Euro als unvollständige Währungsunion immer mit Divergenzen und Instabilität zu kämpfen hatte. Dadurch wird die Grundlage für mögliche Lösungsansätze gelegt, die dann im dritten Teil dieses Sammelbandes detailliert betrachtet werden (siehe insbesondere die Kapitel von Daniela Schwarzer, Jeromin Zettelmeyer und Peter Becker).

E ine unvollständige W ährungsunion Offene Volkswirtschaften, die über Handelsbeziehungen eng miteinander verbunden sind, werden immer entscheiden müssen, was ihnen wichtiger ist: feste Wechselkurse mit den Handelspartnern oder eine auf den nationalen Konjunkturzyklus ausgerichtete Geldpolitik. Nur wenn die Konjunkturzyklen der Handel treibenden Länder sehr ähnlich sind oder starke Anpassungsmechanismen (wie ein gemeinsamer Haushalt oder auch Arbeitskräftemobilität) bestehen, verschwindet dieses Dilemma. Dann kann die gemeinsame Geldpolitik auf alle beteiligten Länder stabilisierend wirken – trotz der festen Wechselkurse. In der ökonomischen Literatur werden diese Grundanforderungen an eine Währungsunion als die »Kriterien des optimalen Währungsraums« beschrieben. Unter Ökonomen bestand weitgehend Einigkeit, dass der Euroraum diese Kriterien nie erfüllt hat. Deshalb waren die Ökonomen skeptisch, ob die Währungsunion gelingen kann. Viele hielten allerdings die politischen Argumente, die für die Währungsunion und den Euro als ein politisches Projekt im Rahmen der europäischen Integrationslogik sprachen, für richtig. Die Währungsunion nimmt also eine bestimmte Stellung in der langen und funktional klar definierten Kette von Integrationsschritten ein. Am Anfang des europäischen Integrationsprojekts sollten vor allem militärische Konflikte durch einen engeren Austausch zwischen den europäischen Nationen erschwert werden. Dieser Austausch verlangte im ökonomischen Bereich nach

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

den vier Freiheiten – also dem freien Verkehr von Menschen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital –, die im Binnenmarkt umgesetzt wurden. Kein Land sollte durch implizite Handelsbarrieren, durch Diskriminierung oder durch Subventionen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Ländern erhalten. Dass ein solcher Binnenmarkt nicht mit Wechselkursschwankungen kompatibel ist, weil immer wieder durch Abwertungen kurzfristige Wettbewerbsvorteile erreicht werden können, liegt auf der Hand. Deshalb war das Projekt einer gemeinsamen Währung die funktional schlüssige Antwort auf den Binnenmarkt. Die Gemeinschaftswährung ist also kein Selbstzweck, sondern die konsequente Fortsetzung einer in sich stimmigen Integrationslogik. Offen war aber lange die Frage, in welcher Form die gemeinsame Währung umgesetzt werden könnte. Denn allen Beteiligten war schon in den frühen 1990er-Jahren bewusst, dass die europäischen Staaten keinen optimalen Währungsraum bildeten – und auf absehbare Zeit wohl auch nicht bilden würden. So standen sich in der Diskussion zum Maastricht-Vertrag in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren zwei gleichermaßen stimmige Ansätze gegenüber: • Der französische Ansatz forderte, am Anfang müsse eine gemeinsame Währung stehen, die durch eine schlagkräftige Wirtschaftsregierung ergänzt werden müsse, damit der gemeinsame, homogene und im ökonomischen Sinne »optimale Währungsraum« mittelfristig entstehen könne. • Demgegenüber stand eine deutsche Position, die forderte, erst müsse der homogene und integrierte Wirtschaftsraum entstehen, ehe am Ende die gemeinsame Währung als Schlussstein eingesetzt werden könne. Was Europa aus dieser Debatte gemacht hat, ist bekannt: einen Kompromiss. Die gemeinsame Währung wurde eingeführt. Es wurde aber kein Institutionenrahmen geschaffen, der die Entstehung eines homogenen Wirtschaftsraums fördern konnte. Ein solcher Institutionenrahmen hätte ermöglicht, dass die europäische Ebene bei einer unangemessenen nationalen Wirtschaftspolitik korrigierend hätte eingreifen können. Die Konsequenz dieses Gründungskompromisses wurde im ersten Jahrzehnt des Euro deutlich sichtbar. Es gibt zwei grundlegende Problembereiche, die sich dann in detailliertere Funktionsdefizite aufgliedern lassen: • Problemfeld 1: Der Euro blieb im ersten Jahrzehnt bis zum Beginn der großen Rezession 2008 ein heterogener Währungsraum. Die Hoffnung vieler Makroökonomen, durch die Währungsunion würden sich die Länder stärker angleichen (Konvergenz), bestätigte sich nicht. Dies betraf sowohl die reale Konvergenz (also die Konvergenz von Lebensstandards) als auch die zyklische Konvergenz (also die Konvergenz von konjunkturellen Schwankungen).

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Teil I: Herausforderungen

• Problemfeld 2: Der Euroraum verfügt bis heute über keine effektiven alternativen Anpassungsmechanismen, die den realen oder zyklischen Divergenzen entgegenwirken könnten. In anderen heterogenen Währungsunionen, wie zum Beispiel den USA, gibt es einen gemeinsamen Haushalt, gemeinsame auf Bundesebene zusammenfließende Steuern, eine gemeinsame Arbeitslosen- und Sozialversicherung, Arbeitskräftemobilität oder auch tief integrierte Finanzmärkte, die für konjunkturelle Anpassungen durch Kapitalflüsse sorgen könnten. Diese Elemente können, wenn sie richtig eingesetzt werden, eine von strukturellen Divergenzen geprägte Währungsunion stabil halten. Die folgenden Abschnitte beschreiben die mit diesen Problemfeldern verbundenen Funktionsdefizite und zeigen, was notwendig wäre, um sie zu beheben.

M angel an z yklischer K onvergenz Der Euro hat nicht zu einer größeren Angleichung (Konvergenz) im Euroraum geführt, sondern die Unterschiede (Divergenzen) sogar verstärkt. Dies zeigt sich sowohl bei der realen als auch bei der zyklischen Konvergenz. Diese beiden Formen der Konvergenz sind für die Währungsunion zentral. Die zyklische Konvergenz bezieht sich auf die Konvergenz der Konjunkturzyklen. Konjunkturzyklen sind Fluktuationen in der gesamtwirtschaftlichen Aktivität. Üblicherweise haben sie einen starken Einfluss auf die Inflationsrate. Während eines Aufschwungs steigt die Inflation, in der Rezession fällt sie. Wenn Länder gleichzeitig durch Aufschwünge und Abschwünge gehen, synchronisieren sich die Konjunkturzyklen. Zyklische Konvergenz ist für das Funktionieren der Gemeinschaftswährung wichtig, weil die Europäische Zentralbank (EZB) einen einheitlichen Zinssatz festlegt, der auf dem gewichteten Durchschnitt der Inflationsraten im Eurogebiet basiert. Sie hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Inflation bei knapp unter zwei Prozent bleibt. Während eines Aufschwungs hebt sie den Zinssatz an, um eine Konjunkturüberhitzung zu vermeiden. Während eines Abschwungs senkt die EZB den Zinssatz, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Wirtschaftsaktivität zu steigern. In den frühen Jahren der Währungsunion wuchs der Kern langsamer als die Peripherie. Mitte der 2000er-Jahre verbesserte sich die Synchronisierung etwas und 2009 fielen alle Länder schließlich in eine tiefe Krise. In der Folge erholten sich die Kernländer schneller, während die Peripherieländer in einer Rezession verharrten. Seitdem haben die beiden Ländergruppen ähnlich niedrige Wachstumsraten verzeichnet. Die empirische Literatur zur Konvergenz von Konjunkturzyklen zeigt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nicht signifikant zu einer höhe-

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

ren Konvergenz beigetragen hat (vgl. auch Kapitel 4): Die Länder, die bis zu den 1970er-Jahren bereits ähnliche Pro-Kopf-Einkommen verzeichneten, weisen über die Jahrzehnte hinweg ähnliche Konjunkturzyklen auf. Diese Kerngruppe relativ ähnlicher Länder besteht aus Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Die andere Gruppe ist unterschiedlicher und lässt keinen gemeinsamen Trend erkennen. Manche Länder haben aufgeholt, andere dagegen nicht. Auch nach der Krise änderte sich das Bild nicht. Es gibt eine starke wechselseitige Abhängigkeit zwischen manchen Ländern des Euroraums, welche von gemeinsamen Faktoren aufgenommen wird, die bis zur Hälfte der Abweichungen im nationalen BIP erklären: Die deutschen und französischen Konjunkturzyklen ähnelten sich, während Spanien auch nach der Krise auf einem anderen Pfad blieb. Diese fehlende Konvergenz der Konjunkturzyklen hat zwei wichtige Auswirkungen: 1. Es zeigt sich, dass die Steuerung der WWU, einschließlich der MaastrichtKriterien und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, nicht in der Lage war, Konvergenz herbeizuführen. 2. Es ist wahrscheinlich, dass die Geldpolitik der EZB noch mehr Divergenz verursacht, indem sie Aufschwünge und Rezessionen verstärkt. In Bezug auf die Konjunkturverläufe hat sich die WWU den Anforderungen eines optimalen Währungsraums also nicht angenähert.

D as » one size fits none «-P roblem der EZB Mit perfekt abgestimmten Konjunkturzyklen kann die EZB eine Geldpolitik betreiben, die für alle Wirtschaften des Euroraums gleichermaßen geeignet ist und stabilisierend wirkt. Fehlt jedoch eine zyklische Konvergenz, wird der Zinssatz zu niedrig für Länder in einem Aufschwung und zu hoch für Länder in einem Abschwung sein. Dadurch werden Aufschwünge und Depressionen verstärkt. Die einfache Feststellung, dass die strukturellen und zyklischen Divergenzen innerhalb der Eurozonenländer sehr groß sind, hat folgende Konsequenzen: Wenn die Wachstums- und Inflationsraten in den Eurozonenstaaten unterschiedlich ausfallen, dann wird der von der EZB festgesetzte einheitliche Zinssatz dazu beitragen, dass sich diese Divergenzen verstärken. Seit Beginn der WWU gab es diese substanziellen Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Wachstums- und Inflationsraten der Mitgliedstaaten. Diese Divergenzen sind zweifellos vor allem eine Folge der unterschied-

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lichen nationalen Wirtschaftspolitiken und Institutionen. Die gemeinsame Währungspolitik hat diese Tendenz jedoch noch verstärkt. Da sich die EZB bei ihren Entscheidungen über Zinssätze nicht an den wirtschaftlichen Entwicklungen einzelner Mitgliedstaaten orientiert, sondern vielmehr an der Eurozone als Ganzes, ist ihre Geldpolitik immer gleichzeitig zu restriktiv für die einen und zu locker für die anderen Länder. In Mitgliedstaaten mit einer Inflationsrate über dem Durchschnitt der Eurozone führte der gemeinsame Nominalzinssatz zu niedrigen Realzinsen und regte dadurch höhere Investitionsraten und den Konsum an. Dies beschleunigte das Wachstum über das Produktionspotenzial hinaus und hatte dadurch inflationäre Auswirkungen, vor allem auf die Preise von Anlagevermögen, wie etwa den Immobilienmarkt. Beispiele für eine solche Entwicklung sind Irland und Spanien in den Vorkrisenjahren. In Ländern mit einer Inflationsrate unter dem Eurozonendurchschnitt war das Gegenteil der Fall: Die Realzinsen waren zu hoch, während die Investitions- und Konsumraten zu niedrig waren. Das beste Beispiel war bis etwa 2008 Deutschland. Die gemeinsame Geldpolitik der EZB förderte diese Divergenzen mehr als sie sie verhinderte. Statt zu einer für alle passenden Lösung (one size fits all) führte die Geldpolitik der EZB zu einer Lösung, die auf kein Land passte (one size fits none). Die Geldpolitik der EZB löste nachteilige und sogar selbst verstärkende prozyklische Effekte in den Mitgliedstaaten aus. Dies geschah, obwohl die EZB genau das tat, was von ihr verlangt wurde: Sie richtete ihre Geldpolitik am Eurozonen-Durchschnitt aus. Die Konsequenz war: Sie machte die richtige Geldpolitik für ein Land, das es nicht gibt.

W ie wird mehr z yklische K onvergenz erreicht ? Dieses Problem der EZB ergibt sich aus einem sich selbst verstärkenden Realzinskanal. Je höher die Realzinsen, desto niedriger die Wachstumsdynamik und Inflation, desto höher die Realzinsen, desto niedriger die Wachstumsdynamik und Inflation. Oder umgekehrt: Je niedriger die Realzinsen (die sogar ins Negative gleiten können, wie in Irland in den frühen 2000er-Jahren), desto höher sind Wachstum und Inflation. Natürlich ist die WWU nicht der einzige heterogene Währungsraum, in dem solche Divergenzen anzutreffen sind. Doch dem Euroraum fehlen Anpassungsmechanismen, um mit den Divergenzen umzugehen. Es gibt mehrere unterschiedliche Mechanismen, die diesen Part übernehmen könnten: der reale Wechselkurs, nationale Anpassungen und finanzielle Ausgleichsmechanismen.

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

Der reale Wechselkurs Normalerweise entsteht in einem Land, das ein deutlich höheres Wachstum als der Rest des Währungsraums verzeichnet, auch eine höhere Inflation. Wenn der reale Wechselkurskanal funktioniert, dann werden Länder mit einer hohen Inflation letztendlich an Wettbewerbsfähigkeit verlieren: In einem vollständig integrierten Wirtschaftsraum werden höhere Kosten dazu führen, dass Güter und Dienstleistungen weniger konkurrenzfähig sind. Ein Rückgang der Nachfrage wird dann Wachstum und Inflation zurück auf den Durchschnitt des Euroraums bringen. Das wird als der reale Wechselkurskanal der Anpassung bezeichnet. Diese Anpassung setzt jedoch voraus, dass die verschiedenen Regionen wirtschaftlich so eng miteinander verbunden sind, dass der reale Wechselkurskanal funktionieren kann. Der Euroraum erwies sich jedoch als ein nur teilweise integrierter Wirtschaftsraum. Während sich das Kapital frei bewegte, gab es weiterhin zahlreiche Hindernisse im Güter- und Dienstleistungshandel. Daher standen einige Sektoren kaum im Wettbewerb mit ausländischen Gütern. Der Euroraum spaltete sich in ein Gebiet mit hohem Wachstum und hoher Inflation mit Ländern wie Spanien und Irland und ein Gebiet mit geringem Wachstum und niedriger Inflation um Deutschland. Die Wettbewerbsfähigkeit der ersten Gruppe verschlechterte sich aufgrund der steigenden Preise und Löhne, aber ihr Wachstum verlangsamte sich nicht. Die erhöhte Binnennachfrage ersetzte sinkende Exporte. Vor dem Beginn der Währungsunion gingen die meisten theoretischen Analysen davon aus, dass der reale Wechselkurseffekt gegenüber dem Realzinseffekt dominieren würde und somit automatisch zu hoher Binnenstabilität im Euroraum führen würde. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die innerstaatlichen Preise (und damit auch die Realzinssätze) in einer Währungsunion angesichts der Freizügigkeit von Gütern und Dienstleistungen im Binnenmarkt notwendigerweise konvergieren. Wenn in Deutschland und Spanien ähnliche Güter produziert werden, die lokale Inflation in Spanien aber deutlich über der deutschen liegt, dann werden die spanischen Güter in Deutschland immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Als Konsequenz nimmt die Wirtschaftsdynamik in Spanien ab, in Deutschland aber zu. Damit fällt in Spanien mittelfristig das Wachstum und mit ihm der Preisauftrieb – während der gegenteilige Effekt in Deutschland einsetzt. Doch ein Kernproblem der Währungsunion war (und ist teilweise immer noch) der nicht ausreichend integrierte Binnenmarkt. Denn viele Waren oder Dienstleistungen stehen nicht im direkten Wettbewerb zu Gütern aus anderen Ländern der Währungsunion. Im Dienstleistungssektor, der rund drei Viertel der Wertschöpfung im Euroraum ausmacht, macht der grenzüberschreitende Handel nur rund 20 Prozent aus. In der Tat ist ein Großteil der ökonomischen

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Leistungen eines Landes auf »räumlich fixe Faktoren« ausgerichtet, wie zum Beispiel Immobilien oder schwere Maschinenanlagen, die nicht direkt vom Preiswettbewerb betroffen sind. Regionale wirtschaftliche Angleichungen, die auf realen Wechselkursdifferenzen beruhen, nehmen deshalb sehr viel Zeit in Anspruch. Während die EU auf dem Papier zweifelsohne einen Binnenmarkt geschaffen hat, ist sie von einem wirklich integrierten Wirtschaftsraum noch weit entfernt. Dieses Funktionsdefizit müsste durch einen noch viel stärker integrierten Markt für Waren und Dienstleistungen aufgehoben werden. Ob die Länder des Euroraums zu einer weiteren Marktvertiefung bereit sind, ist jedoch fraglich. Gerade die politischen Hürden für einen Abbau von Barrieren im Dienstleistungssektor sind hoch.

Nationale Anpassung Ein zweiter Weg, um mit den Ungleichgewichten in der Währungsunion umzugehen, besteht darin, die im nationalen Raum verbliebenen wirtschaftspolitischen Instrumente zur Stabilisierung einzusetzen: hauptsächlich in der Finanzpolitik, Lohnpolitik, in den nationalen Steuerpolitiken, aber auch in der nationalen Banken- und Finanzmarkregulierung, die aber wiederum direkt durch eine europäische Koordinierung ausgelöst werden können. Während der ersten zehn Jahre der WWU versäumten es die nationalen Verantwortlichen jedoch, diese Instrumente effektiv einzusetzen – vor allem in den Hochwachstumsländern, in denen eine konjunkturelle Überhitzung und Spekulationsblasen klar erkennbar waren. So gerieten gerade in Spanien und Irland die Wachstumszyklen außer Kontrolle und führten zu gefährlichen Preisblasen vor allem im Immobiliensektor, aber auch zu schnell steigenden Staatseinnahmen (Irland und Spanien verletzten den Stabilitäts- und Wachstumspakt vor der Krise nicht). Eine entschiedene und europäisch koordinierte antizyklische Haushaltspolitik hätte die nationalen Konjunkturzyklen jedoch durchaus wieder synchronisieren können. Aus diesem Grund hatten die Architekten des Euro ja Instrumente zur wirtschaftspolitischen Koordination eingeplant. Aber ihre Werkzeuge erwiesen sich als stumpf: Die europäischen Verträge schrieben »Empfehlungen über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik« vor und verpflichteten die Mitgliedstaaten, ihre Wirtschaftspolitik als eine »Angelegenheit von gemeinsamem Interesse« zu behandeln (Artikel 121 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU). Doch in den Jahren bis zur Krise erwiesen sich diese Instrumente als nicht effektiv. Als die Europäische Kommission Irland 2001 rügte, weil es trotz einer sich überhitzenden Konjunktur die Steuern senkte, reagierte die irische Regierung einfach nicht. Und die Warnung der Europäischen Kommission verhallte ohne jede Konsequenz.

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

Das andere Hauptinstrument, der Stabilitäts- und Wachstumspakt, sollte öffentliche Defizite begrenzen. Allerdings koordinierte es die Haushaltspolitik nicht sinnvoll, da es sich asymmetrisch auf die Defizitseite konzentrierte, aber keinen Druck auf Länder im Aufschwung ausüben konnte. Des Weiteren führten Frankreich und Deutschland im Jahre 2003 vor, dass die Europäische Kommission nicht einmal die Defizitseite der Regeln gegen den entschlossenen Widerstand der Kernmitgliedstaaten durchsetzen konnte. Das Zusammenspiel von unzureichender Marktintegration und schwacher wirtschaftspolitischer Koordination machte die Synchronisierung der Konjunkturzyklen unmöglich. Der einheitliche Zinssatz der EZB verstärkte die Auswirkungen noch. Letztlich führte die fehlende Konvergenz zu untragbaren makroökonomischen Ungleichgewichten. Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in den GIIPS-Ländern (Griechenland, Italien, Irland, Portugal und Spanien) gegenüber den Ländern mit niedriger Inflation im Euroraum zeigte sich in den Leistungsbilanzdefiziten und einer wachsenden privaten Verschuldung in den GIIPS-Staaten. In Griechenland wurde dies durch übermäßige öffentliche Ausgaben noch verschlimmert. Durch günstige Kredite, die von zu optimistischen Kreditgebern vergeben wurden, konnte diese Situation eine Zeit lang aufrechterhalten werden, aber die hohe öffentliche und private Verschuldung machten die GIIPSLänder anfällig für Unterbrechungen des Kapitalzuflusses. Als die Krise 2008 ausbrach und die Auslandsfinanzierung stark einschränkte, hatte das verheerende Folgen für den Euroraum. Die Kosten, die durch die darauf folgende Kettenreaktion entstanden, sind wohlbekannt. Zwar wäre es zu einfach, zu behaupten, dass die Eurokrise nur durch eine fehlende zyklische Konvergenz und die daraus resultierenden Kredit-Ungleichgewichte verursacht wurde. Es besteht aber kein Zweifel, dass sie eine zentrale Rolle spielten. Noch heute behindern heterogene Wachstumsraten in den Wirtschaften des Euroraums das Krisenmanagement. Die EZB hat wenig politische Unterstützung für eine entschiedene antizyklische Geldpolitik, solange manche Teile des Euroraums sich in einer Krise befinden und andere wachsen. Eine Währungsunion, die mit einer fast uneingeschränkten nationalen wirtschaftspolitischen Autonomie verbunden ist, kann folglich nicht glücken. Wer dieses Funktionsdefizit beheben will, muss die Autonomie der nationalen Wirtschaftspolitik einschränken, was im Rahmen des aktuellen Vertragswerks nur sehr schwer zu realisieren ist.

Finanzielle Ausgleichsmechanismen Der dritte Weg, mit den ökonomischen Herausforderungen einer Währungsunion umzugehen, besteht darin, finanzielle Ausgleichsmechanismen zwi-

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Teil I: Herausforderungen

schen den Mitgliedstaaten einzuführen. Diese Ausgleichsmechanismen können über das Steuersystem umgesetzt werden, über eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, über eine gemeinsame Sozialversicherung (siehe dazu Kapitel 10 von Peter Becker) oder auch über einen effektiv operierenden und stark integrierten Kapital- und Finanzmarkt, der dazu führt, dass hohe Erträge im einen Teil der Währungsunion in andere Teile der Währungsunion transferiert werden. Es ist konsequent, dass viele Diskussionen über die Zukunft des Euroraums Instrumente in den Vordergrund gerückt haben, von denen ein dämpfender Effekt auf die divergierenden Konjunkturzyklen im Euroraum zu erwarten wäre. Unterschiedliche Vorschläge, wie ein Eurozonenhaushalt (siehe dazu Kapitel 8 von Jeromin Zettelmeyer), eine EU-Arbeitslosenversicherung oder auch die Kapitalmarktunion in Europa, sind immer auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass sie automatische Ausgleichsmechanismen für den Euroraum schaffen. Dass solche Vorschläge aber oft auf Skepsis stoßen, darf nicht überraschen. Wirtschaftshistoriker können davon berichten, wie Fiskalföderationen mit dem Ziel gebildet wurden, den inhärenten wirtschaftlichen Herausforderungen einer Währungsunion zu begegnen. Gleichzeitig beschreiben sie auch, wie die daraus folgende Umverteilung oft mit dem Zusammenbruch ehemals politisch integrierter Gebiete endete. Das Spannungsfeld zwischen einer Stabilisierung durch Transfers und einer damit verbundenen »Moral Hazard«Problematik ist klar erkennbar. Und die deutsche Debatte über die »Transferunion« beschreibt dieses Spannungsfeld sehr konkret. Das Versprechen des Maastricht-Vertrags, durch die gemeinsame Währung würden sich auch die Wirtschaftszyklen angleichen – der »optimale Währungsraum« müsse also gar nicht der Startpunkt der monetären Integration sein, sondern könne diesen mit der Zeit hervorbringen –, hat sich nicht bewahrheitet. Was an weiteren Integrationsschritten nötig erschiene, um die Wirtschaftszyklen anzugleichen, ist politisch aber hoch umstritten.

E ine F ortse t zung der W ährungsunion ist der einzige W eg Angesichts dieser großen ökonomischen Herausforderungen werden Eurokritiker nun schnell eine sofortige Beendigung des Projekts fordern (siehe dazu Kapitel 11 von Armin Steinbach). Ich halte das für unverantwortlich. Der Euro garantiert den gerade für Deutschland wichtigen Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt, weil kompetitive Abwertungen ausgeschlossen sind. Der Euro stärkt die Position Europas im Weltmarkt, weil er eine Weltreservewährung geworden ist. Der Euro ist aber auch die politische Garantie, dass wir es mit dem europäischen Projekt ernst meinen.

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

Auch der Ausschluss einzelner Länder ist gefährlich. Nicht nur, weil politisch und rechtlich weiterhin völlig ungeklärt ist, wie er ablaufen könnte. Sondern auch, weil eine Währungsunion, die eine Exit-Option enthält, nichts anderes ist als ein System fester Wechselkurse. Man stelle sich die Krise von 2010 bis 2012 vor dem Hintergrund einer Exit-Option vor. Die Konsequenzen wären verheerend gewesen. Hätten die Finanzmärkte und die Privatanleger ihr Geld in den Krisenländern gelassen, wenn es die Ausstiegsmöglichkeit gegeben hätte? Hätten Irland und Portugal ihre politisch schwierigen, aber ökonomisch dringend notwendigen Strukturreformen durchgeführt, wenn sie die Möglichkeit zum Exit gehabt hätten? Dass es keinen Ausgang gab, hat den Euro in der Krise beschützt.

D ie G ener alüberholung : eine selek tive V ertiefung der W ährungsunion Durch Abriss oder Umbau würden immense Kosten entstehen. Die Generalüberholung ist deshalb der klügere Ansatz. Was Europa braucht, ist eine selektive Vertiefung der Währungsunion (siehe dazu die Vorschläge von Peter Becker, Jeromin Zettelmeyer und Daniela Schwarzer sowie die Zukunftsszenarien in Kapitel 12 von Alexander Schellinger und Philipp Steinberg). Vier Bereiche kommen dafür infrage, sie werden im Folgenden skizziert.

Den Binnenmarkt vollenden Der Euroraum lebt in der Illusion, ein integrierter Markt zu sein. Das stimmt so nicht. Vor allem im Dienstleistungssektor mangelt es an grenzüberschreitendem Handel. So lange Dienstleistungen aber national eingemauert sind, weil obskure Regeln kaum Mobilität und Handel vom einen ins andere Land zulassen, werden die Divergenzen zwischen den Ländern bestehen bleiben. Der Euroraum muss ein echter Binnenmarkt werden, mit einer gemeinsamen Regulierung im Kapitalverkehr und im Digitalbereich sowie mit einer deutlich erhöhten Arbeitskräftemobilität. In diesen Feldern geschieht jedoch sehr wenig. Das zeigt, dass die Hauptursachen der Divergenzen im Euroraum immer noch verkannt werden.

Die Bankenunion vollenden Obwohl es inzwischen eine einheitliche Aufsicht und Abwicklung gibt, ist die Stabilität noch nicht garantiert. Eine Abwanderung von Einlagen könnte die nächste Krise in der WWU auslösen. Wenn in Italien die Frage gestellt wird, ob der Euro überleben kann, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sparer

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Teil I: Herausforderungen

ihre Einlagen auf deutsche Konten übertragen. Diese Einlagenflucht ist die größte Bedrohung des Euroraums. Die Kapitalkontrollen in Zypern und Griechenland zeigen, dass ein Euro eben nicht in allen Ländern den gleichen Wert hat. Getrennte Einlagensicherungssysteme sind vor diesem Hintergrund eine Gefahr. Dass viele in Deutschland einem europäischen Einlagensicherungssystem skeptisch gegenüberstehen, ist angesichts der verbleibenden Risiken in vielen Ländern nachvollziehbar. Aber diese Bedenken sind kurzsichtig. Wer sich einem gemeinsamen System versperrt, das ja auch auf dem Weg einer Rückversicherung erreicht werden kann, der läuft in die Falle der Zeitinkongruenz: Die langfristigen Kosten eines Zusammenbruchs der Währungsunion oder auch einer hastigen Übernachtrettung könnten die heutigen Risiken deutlich übersteigen.

Die Kriseninstrumente überarbeiten und stärker politisieren Der Europäische Stabilitätsmechanismus ist weit von einem echten Europäischen Währungsfonds entfernt, der eine wahre Risikoteilung zwischen den Ländern erzielt, dafür aber auch eine stufenweise Übertragung von Hoheitsrechten einfordert. Dass der Europäische Stabilitätsmechanismus aktuell nur die Pro-Rata-Haftung enthält, ist angesichts dessen, dass die nationale Souveränität in den Krisenländern fast uneingeschränkt gewahrt bleibt, konsequent. Doch die Balance zwischen Souveränitätsteilung und Risikoteilung stimmt noch nicht. In einer Währungsunion endet die Souveränität, wenn die Solvenz endet. Noch wird dieser Satz über die chaotische Ad-hoc-Übertragung von Souveränitätsrechten per »Memorandum of Understanding« an eine gesichtslose Troika umgesetzt, die weitgehend außerhalb demokratischer Kontrollorgane operiert. Doch diese Souveränitätsübertragung ist weder transparent noch demokratisch verankert. Der Troika-Ansatz könnte in der nächsten Krise schon viel früher zu politischer Instabilität führen, als uns Recht sein kann. Ein demokratisch kontrollierter Europäischer Währungsfonds, an dessen Spitze ein Europäischer Finanzminister steht – der die europäischen Regeln überwachen würde, aber auch einen politischen Spielraum im Krisenfall hätte und das Gesicht der Troika würde –, wäre dringend nötig. Ein solcher Finanzminister sollte im Ernstfall dann auch ein Veto über nationale Haushalte erhalten.

Die demokratische Kontrolle verbessern Der Euro kämpft überall in der Währungsunion mit einem Legitimationsdefizit, dessen Ursprünge unterschiedlicher nicht sein könnten. In den Krisenländern steht »Währungsunion« oft für faktische Okkupation und Sparpolitik (Austerität), in Deutschland oft für den Machtverlust in der EZB und teure Rettungspakete. Beide Perspektiven zeigen, dass die Gesamtheit des Euro-

3. Henrik Enderlein — Die Konstruktionsfehler der Währungsunion

raums dabei gar keine Rolle spielt, es dominiert der nationale Blickwinkel. Solche Legitimationsdefizite gilt es zu beseitigen – am besten über eine gemeinsame Kammer von nationalen Parlamenten und dem Europaparlament, die den Europäischen Währungsfonds kontrolliert. Europa sollte auch bei den Legitimationsstrukturen den Anforderungen eines echten Mehrebenen-Regierungssystems entsprechen. Ich halte diese vier Maßnahmen für eine Art Minimalpaket, das den Euro langfristig lebensfähig machen würde. Weniger Integration darf es nicht sein. Mehr Integration muss nicht sein.

S chlussfolgerung Die Währungsunion hat bis 2010 indirekte Umverteilungseffekte im Euroraum hervorgebracht, weil die »one size fits none«-Geldpolitik der EZB in Kombination mit den unterschiedlichen nationalen Wirtschaftspolitiken die Heterogenität im Euroraum verstärkte. Nach 2010 führte die Krise zu einer zweiten Welle von Umverteilungsphänomenen, die vor allem durch die Korrektur der falschen Wirtschaftspolitik vor 2010 ausgelöst wurden. Diese zweite Welle wurde sehr unterschiedlich interpretiert: in den Krisenländern als Diktat der Länder aus dem Norden, in Deutschland als Machtverlust. Beide Perspektiven zeigen, dass die nationale Brille dominiert und die Gesamtheit des Euroraums gar nicht erst ins Blickfeld nimmt. Dieses Kapitel hat die wichtigsten ökonomischen Herausforderungen in der Währungsunion beschrieben und eine Art Kriterienkatalog für ein Minimalpaket vorgelegt, das den Euro langfristig lebensfähig machen könnte. Doch selbst dieses Minimalpaket wird aktuell auf die lange Bank geschoben. Und damit bleiben auch drei Kernfragen unbehandelt, deren Beantwortung für eine Generalüberholung des Euros essenziell ist: 1. Wie geht der Euroraum mit Ländern um, die sich weiteren Integrationsschritten und der dringend nötigen Souveränitätsübertragung verweigern? Wie oben beschrieben, wäre eine Exit-Klausel sehr gefährlich. Sie würde den Charakter des Euroraums grundlegend verändern. Doch gleichzeitig entsteht aus der Unumkehrbarkeit der Euromitgliedschaft auch eine gewisse Erpressbarkeit, die – wenn wir ehrlich sind – in den Verhandlungen mit Griechenland ein echtes Problem war. Um dies zu vermeiden, muss der Euroraum Wege finden, ein Land im Ernstfall komplett aus dem Solidaritätssystem der Währungsunion herauszulösen. »Allein lassen statt aussperren« sollte die Maxime lauten. Das bedeutet aber, dass Leistungen wie die Liquiditätshilfen der EZB nicht zu Rettungsseilen werden dürfen,

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Teil I: Herausforderungen

die man nicht mehr loslassen kann. Dass solche Hilfen heute von den nationalen Zentralbanken vergeben werden und nicht von der EZB selbst, ist ein Anachronismus. 2. Muss ein Land, das seine Schulden nicht mehr bedienen kann, die Währungsunion verlassen? Zwingend ist das nicht. Eine geordnete Staatsinsolvenz ohne Austritt aus der Währungsunion ist möglich, wenn es einen klaren Rahmen dafür gibt. Doch bislang trauen sich die wenigsten in Europa, einen Mechanismus für geordnete Insolvenzen im Euroraum vorzuschlagen. Wohl auch deshalb, weil die weitgehend risikolose Behandlung von Staatsanleihen in den Bankbilanzen damit passé wäre und Banken Staatsanleihen mit Eigenkapital unterlegen müssten. Nichts wäre logischer als ein Doppelschritt aus Insolvenzregime und Risikounterlegung. Jeromin Zettelmeyer stellt in Kapitel 8 einen möglichen Mechanismus vor. 3. Brauchen wir ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten? Diese Frage, die sich gerade nach dem Austrittsvotum Großbritanniens neu stellt, könnte, wenn sich der Staub um das Referendum gelegt hat, klug beantwortet werden. Europa wird sich in zwei Ringen strukturieren müssen. Ein innerer Ring, die »Euro-Union«, wäre innerhalb des heutigen Vertrags angesiedelt, ein äußerer Ring, die »Binnenmarkt-Union«, außerhalb des Vertrags. Der neue Status Großbritanniens könnte wegweisend sein für die zukünftige Verbindung der EU mit der Türkei, auch mit Norwegen, der Schweiz, vielleicht sogar mit Ungarn und vielleicht eines Tages auch mit der Ukraine. Klar ist, die Währungsunion wird sich reformieren müssen. Wie in diesem Kapitel skizziert, liegt dies vor allem an den ökonomischen Herausforderungen. Aber wer die ökonomischen Herausforderungen genauer betrachtet, wird schnell feststellen, dass es um viel mehr geht als nur um technische Anpassungen. Überlegungen zur konkreten Ausgestaltung der Währungsunion können nicht ohne einen Fokus auf die politische Umsetzung angestellt werden – das zeigt auch der vorliegende Sammelband. Wer die ökonomischen Herausforderungen lösen will, muss letztlich Souveränitätsverlagerungen und Risikoteilungen ermöglichen, ohne gleichzeitig die demokratische Verankerung des Gesamtprojekts zu verlieren. Dieses Unterfangen ist ein politisches – genau wie der Euro von Beginn an ein politisches Projekt war.

4. Die soziale Dimension der Eurozone Michael Dauderstädt

Die soziale Entwicklung in der Eurozone gibt Anlass zur Besorgnis (siehe Tabelle 1). Sie unterscheidet sich aber stark zwischen den Ländern und in der Zeit vor und nach der Krise, wie im folgenden Abschnitt belegt wird. Nationale Politiken und Strukturen sowie europäische und globale Faktoren haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) trägt, wie im letzten Abschnitt gezeigt wird, nur für die Entwicklung in den Ländern eine eindeutige Verantwortung, die ab 2010 den Auflagen im Zuge von Hilfsprogrammen unterworfen waren (GIPS: Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern).

D ie soziale E nt wicklung der E urozone : grundverschieden und bedenklich Die Arbeitslosigkeit liegt bei über zehn Prozent (2015), die Armutsquote bei 23,5 Prozent (2014), die Rate der materiellen Deprivation (also der Menschen, denen es an lebenswichtigen Dingen mangelt) bei 7,4 Prozent (2014) und die Ungleichheit (S80/S20-Quote; sie gibt das Verhältnis des Einkommens des reichsten Fünftels der Bevölkerung zum ärmsten Fünftel an) bei 5,2 bzw. bei einem Gini1 von 0,31. Die Lohnquote beträgt etwas über 56 Prozent. Dabei erreichten die Ausgaben für Sozialschutz 2013 fast 30 Prozent des BIP.2 Vergleicht man diese Angaben mit dem Durchschnitt der ganzen EU, so schneidet die Eurozone bei der Arbeitslosigkeit schlechter, bei Armut und Deprivation besser ab. Das hängt damit zusammen, dass die Eurozone überwiegend reichere EU-Länder umfasst, aber ein geringeres Wachstum aufweist. Im Vergleich zu Schweden oder Dänemark wirkt die Eurozone jedoch wie ein soziales Notstandsgebiet. Das gilt besonders für die Programmländer Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern, in denen die soziale Entwicklung ab 2010 katastrophal verlief.

27,6

4,7

29,4

6,0

22,1

27,3

91,2

54,8

8,4

2006

4,8

30,0

5,6

21,9

26,8

92,7

54,3

7,5

2007

2008

4,9

30,5

5,9

21,7

27,5

96,2

55,2

7,6

4,9

30,3

6,0

21,6

30,4

100,6

57,1

9,6

2009

4,9

30,3

6,1

22,0

30,3

100,0

56,3

10,2

2010

5

30,6

6,9

22,9

30

100,6

56,1

10,2

2011

5

30,4

7,8

23,3

102,4

56,5

11,4

2012

5

30,7

7,5

23,1

103,6

56,4

12,0

2013

5,2

31,0

7,4

23,5

104,7

56,6

11,6

2014

105,4

56,2

10,9

2015

Quelle: Eurostat Bemerkungen: Arbeitslosigkeit in Prozent, Lohnquote in Prozent, nominale Lohnstückkosten als Index (2010=100), Sozialleistungsquote, Armutsquote und Deprivation in Prozent, Gini und S80/S20-Quote dimensionslos. Die Datenverfügbarkeit variiert von Indikator zu Indikator ebenso wie die genaue Länderzusammensetzung des Euroraums.

4,7

27,6

90,3

S80/S20-Quote

27,7

88,9

55,3

29,4

27,3

88,2

55,6

9,1

2005

6,3

26,7

86,1

56,3

9,3

2004

Gini

26,7

Sozialleistungsquote

83,9

56,3

9,1

2003

Deprivation

82,4

nominale Lohnstückkosten

56,3

8,6

2002

22,0

56,6

Lohnquote

8,3

2001

Armutsquote

8,9

Arbeitslosigkeit

2000

Tabelle 1: Soziale Indikatoren der Eurozone

56 Teil I: Herausforderungen

4. Michael Dauderstädt — Die soziale Dimension der Eurozone

Die aktuellen Werte der Eurozone stellen nicht überall den Tiefstand der Entwicklung dar (siehe Tabelle 1). Arbeitslosigkeit und Deprivation hatten ihre Maximalwerte 2013 bzw. 2012 mit zwölf Prozent bzw. 7,8 Prozent erreicht, aber bei der Armutsquote und der Ungleichheit hält das Jahr 2014 den traurigen Rekord. Vor der globalen Krise (2008/09) sah es deutlich besser aus: Die Arbeitslosigkeit lag 2007 bei 7,5 Prozent, die Armutsquote bei 21,6 Prozent, die Deprivationsrate bei 5,6 Prozent und die Ungleichheit bei 4,7, während die Sozialausgaben nur 25,9 Prozent des BIP betrugen. Die Lohnquote ist von circa 56,6 Prozent im Jahr 2000 auf fast 54,2 Prozent im Jahr 2007 gesunken. In der großen Rezession stieg sie kurz auf 57 Prozent, geht aber seitdem wieder zurück. Die nominalen Lohnstückkosten stiegen (2010=100) von 82 im Jahr 2000 auf 105 im Jahr 2015. Die Zunahme der Ungleichheit im Durchschnitt der Eurozone (sichtbar im Anstieg sowohl des Gini-Koeffizienten als auch der S80/S20-Quote) spiegelt nur die Entwicklung der Ungleichheit innerhalb der EU-Mitgliedstaaten wider. Dank des rascheren Wachstums in den ärmeren Ländern (vor allen in Osteuropa, aber auch in der Südperipherie bis zur Krise) hat die EU-weite Ungleichheit, die sich als Resultante der inner- und zwischenstaatlichen Ungleichheit ergibt, bis 2009 abgenommen. Seit 2010 stagniert diese Entwicklung aber. Diese Durchschnittswerte für die gesamte Eurozone verbergen allerdings eine sehr divergente Entwicklung zwischen verschiedenen Ländern. Das gilt insbesondere für die Löhne und Arbeitskosten. Betrachtet man die Länder der Eurozone, so bietet sich eine regionale Differenzierung an, die auf relevanten Unterschieden in der sozialen Entwicklung beruhen: der Sonderfall Deutschland, andere reiche Länder (Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Italien, Österreich, Finnland), die Programmländer (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern) sowie die relativ arme Ostperipherie (Slowenien, Slowakei, Baltikum, Malta).

Sonderfall Deutschland: von der Arbeitslosigkeit zur Ungleichheit Deutschland startete in die WWU mit einer gefühlten Wettbewerbsschwäche und einer sozialen Krise, wofür Hans-Werner Sinns Buch »Ist Deutschland noch zu retten?« von 2003 ein typisches Bild lieferte. Hohe Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und überforderte Staatsfinanzen prägten das düstere Bild. Langfristig wurden die Alterung und der Rückgang der Bevölkerung als zusätzliches Problem gesehen. Die Arbeitslosigkeit erreichte 2005 mit 11,2 Prozent einen Höchststand. Trotz weiterhin hoher Exportüberschüsse galt die Wettbewerbsfähigkeit als gefährdet, wofür viele Experten (so auch Sinn) zu hohe Löhne, Arbeitsmarktrigiditäten, ein leistungsfeindliches Steuersystem und einen zu großzügigen und falsch ausgerichteten Wohlfahrtsstaat verant-

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Teil I: Herausforderungen

wortlich machten. Andere (so etwa Peter Bofinger oder Fritz Scharpf) sahen die Verantwortung auch bei der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, deren Zinsen für die stagnierende deutsche Wirtschaft real zu hoch waren. Umstritten war, ob Deutschland in die WWU mit einem überbewerteten Wechselkurs D-Mark/Euro eingetreten war. Deutschland war ein Nettoeinwanderungsland, wenn auch mit stark sinkendem Saldo (von circa 220.000 im Jahr 2002 auf 22.000 im Jahr 2006). Die Einkommensverteilung war mit einem Gini von etwa 0,26 und einer S80/ S20-Quote von unter vier in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre noch relativ egalitär. Nur etwa 40 Prozent der Arbeitslosen waren arm. 2005 litten 4,6 Prozent der Bevölkerung unter Deprivation und 18,4 Prozent unter Armut. Die Lohnquote lag bei etwa 58 Prozent. Zwischen 2003 und 2005 beschloss die Bundesregierung eine Reihe von Reformen (»Agenda 2010«, Hartz-Gesetze) in den Bereichen Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Sozialgesetzgebung, um die Arbeitslosigkeit abzubauen und die Staatsfinanzen zu sanieren und langfristig nachhaltig zu gestalten. Ein wichtiger Hebel für beide Ziele war die Senkung der Lohnnebenkosten, wozu insbesondere auch Reformen in der Kranken- und Rentenversicherung (»Rente mit 67«) beitragen sollten. Die folgende Entwicklung ab etwa 2006 leidet zwar unter dem massiven Schock der globalen Finanzmarktkrise (2007/08) und großen Rezession (2009). Bei vielen Indikatoren lässt sich aber zwischen 2006 und 2014 eine relativ kontinuierliche Entwicklung feststellen, die nur von einem kurzen V-förmigen Einschnitt 2009 unterbrochen war. Am meisten beeindruckt die Entwicklung der Arbeitslosenquote, die von 11,2 Prozent (2005) auf 4,6 Prozent (2015) zurückging. Ähnlich positiv entwickelte sich die Beschäftigung, die um etwa zwei Millionen Personen zunahm. Um die gleiche Zahl sank die Zahl der Arbeitslosen. Die Zahl der gearbeiteten Stunden stieg aber deutlich langsamer als die Beschäftigung und erreichte erst 2015 wieder etwa das Niveau von 1993, wobei 2015 vier Millionen mehr Menschen beschäftigt waren als 1993. Vor allem bis etwa 2010 ging somit die durchschnittliche Arbeitszeit zurück, da Vollzeitarbeitsplätze durch prekäre Teilzeitarbeitsplätze ersetzt wurden. Zur Entlastung des Arbeitsmarkts trug auch die demografische Entwicklung bei. Der Nettowanderungssaldo war bis 2011 niedrig (2008 sogar negativ) und zudem schrumpfte die aktive Bevölkerung (im Alter zwischen 15 und 64) zwischen 2003 und 2014 um gut zwei Millionen. Ab 2010 nahm die Zuwanderung aber wieder zu. Die Lohnentwicklung spiegelte die Zustände am Arbeitsmarkt. Hohe Arbeitslosigkeit, verschärfte Zumutbarkeitsregelungen (Ein-Euro- und 400Euro-Jobs) und Zugangsbedingungen zu Leistungen für Erwerbslose sowie die Liberalisierung des Arbeitsmarktes (zum Beispiel Erleichterung von Leiharbeit) drückten auf die Löhne. Gewerkschaften und Betriebsräte trugen eine

4. Michael Dauderstädt — Die soziale Dimension der Eurozone

Politik der Lohnspreizung mit. Die Quote der Armen unter den Arbeitslosen stieg von 40 Prozent (2003) auf 70 Prozent (2010) und ist auch heute noch mit Abstand die höchste in der EU. Die Reallöhne fielen zwischen 2001 und 2009. Es entstand ein großer Niedriglohnsektor, der 2010 schon 23 Prozent der Beschäftigten umfasste. Die Lohnquote sank zwischen 2000 und 2007 von 58,8 Prozent auf 53,7 Prozent. Entsprechend gingen die realen Lohnstückkosten zurück, was die preisliche Wettbewerbsfähigkeit des ohnehin exportstarken Landes weiter verbesserte. Die dafür noch wichtigeren nominalen Lohnstückkosten blieben zwischen 1999 und 2008 praktisch unverändert und stiegen erst danach leicht an. Denn erst ab etwa 2011 kam es zu einem länger anhaltenden Anstieg der Löhne, zu dem auch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns beitrug. Die Einkommensverteilung verschlechterte sich deutlich. Die S80/S20Quote nahm von 3,8 (2005) auf 5,1 (2014) zu. Auch das Armutsrisiko stieg von 18,4 (2004) auf 20,6 (2014). Der Gini der verfügbaren Einkommen wuchs von 0,25 auf über 0,3, der Gini der Markteinkommen von gut 0,4 auf über 0,5. Beide Werte sanken aber in den letzten Jahren wieder. Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen und der Markteinkommen unterscheidet sich relativ stark. Dies deutet darauf hin, dass die Umverteilung über Steuern und Transfers die sehr ungleiche Marktverteilung deutlich korrigiert. Die Sozialausgaben stiegen zunächst an und erreichten 2003 einen Höhepunkt mit 29,8 Prozent des BIP. Anschließend sanken sie – wohl auch wegen der Reformen – leicht und erreichten 2007 einen relativen Tiefstand mit 26,8 Prozent des BIP. In der Krise 2009 stiegen sie noch mal über das Niveau von 2003 an (auf über 30 Prozent des BIP), gingen danach aber wieder zurück. Die soziale (und wirtschaftliche) Entwicklung Deutschlands stellt einen Sonderfall dar; sie verlief in eine ganz andere Richtung als im Rest der Eurozone, insbesondere in den Krisenländern (GIPS). Nach einer längeren kritischen Phase zu Beginn der Währungsunion stabilisierte sich die Lage und verbesserte sich zuletzt sogar, was sich nach innen vor allem auf dem Arbeitsmarkt und bei den Staatsfinanzen, nach außen in wachsenden Exportüberschüssen zeigte. Bei der Lohnentwicklung blieb Deutschland lange deutlich unter dem Durchschnitt der WWU. Der Preis, den die Gesellschaft dafür zahlen musste, war hoch: eine starke Zunahme der Ungleichheit, die auch den Nährboden für Radikalismus bilden kann.

Die reiche Mitte der Eurozone: langsame Erholung von der Krise Die Entwicklung in den reicheren Euroländern Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Finnland bewegt sich – ungeachtet einiger Unterschiede (Luxemburg ist ein superreicher Sonderfall) – nahe am Durchschnitt der WWU, der natürlich durch diese großen Volkswirtschaften

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Teil I: Herausforderungen

auch stark geprägt wird. Die Arbeitslosigkeit war bis zur Krise in der Regel niedriger als in Deutschland, stieg aber danach deutlich an. Vor allem in Frankreich und Italien lag sie in den letzten Jahren bei über zehn Prozent. Alle Länder haben eine relativ starke Nettozuwanderung, am stärksten Italien (3,8 Millionen zwischen 2002 und 2013). Die Lohnquote stieg in Frankreich und Italien leicht an, blieb aber ansonsten relativ stabil bei 53 bis 55 Prozent. Die Reallöhne wuchsen um fünf bis zehn Prozent zwischen 2001 und 2009. Bei den für die Wettbewerbsfähigkeit wichtigeren nominalen Lohnstückkosten lagen die Anstiege zwischen 1999 und 2015 mit 25,4 für Frankreich und 31,1 für Italien leicht über dem Durchschnitt der Eurozone von 23,9 (der allerdings auch von Deutschland nach unten gezogen wird). Dabei wuchsen sie bis 2008 um 15,2 bzw. 20,7 Punkten deutlich stärker als in Deutschland (1,2), ab 2009 dagegen langsamer (6,9 in Frankreich, 5,5 in Italien) als in Deutschland (9,0). Insgesamt entsprachen ihre Wachstumsraten mit durchschnittlich etwa zwei Prozent pro Jahr dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank. Die Ungleichheit – gemessen durch die S80/S20-Quote oder den Gini-Index – blieb in diesen Ländern relativ unverändert, wobei sie in Italien über dem deutschen Niveau und über dem WWU-Durchschnitt lag, in den übrigen Ländern eher darunter. Die Sozialausgaben (als Anteil am BIP) nahmen vor allem nach der Krise zu (im Gegensatz zu Deutschland). Sie waren in Frankreich langfristig eher hoch (bei etwa 33 Prozent), in Italien lange relativ niedrig (unter 30 Prozent). Auch die Armutsquoten blieben relativ stabil und lagen meist unter den deutschen Werten. Frankreichs Armutsquote stieg von unter 19 Prozent in den ersten Nachkrisenjahren an, fiel aber 2013 wieder auf 18,1 Prozent. Nur Italien und Belgien wiesen meistens höhere Quoten auf, wobei Italien mit Werten von teilweise fast 30 Prozent deutlich über dem EuroraumDurchschnitt liegt. Bis zur Krise kann man diese »Kerngruppe« fast als Stabilitätsanker der Eurozone betrachten, deren Lohnentwicklung die wirtschaftspolitischen Ziele der WWU stützte. Allerdings schreitet die Erholung nach der Rezession nur langsam voran, was mit Lohnzurückhaltung, steigenden Sozialausgaben und höherer Arbeitslosigkeit einhergeht.

Die neuen Mitgliedstaaten: ärmer und ehrgeiziger Die kleineren, schon 2004 der EU beigetretenen Länder Slowenien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern (das aber wegen seiner Bankenkrise im nächsten Abschnitt betrachtet wird) wurden zwangsläufig erst relativ spät (zwischen 2007 und 2015) Mitglied der Eurozone. Die baltischen Länder entschlossen sich sogar noch nach dem Ausbruch der »Eurokrise« von 2010 zum Beitritt (Estland 2011, Lettland 2014, Litauen 2015). Aber schon in der

4. Michael Dauderstädt — Die soziale Dimension der Eurozone

Zwischenzeit unterlagen sie den Vorgaben des Maastricht-Vertrags und folgten einer festen Wechselkursbindung an den Euro. Alle Länder sind ärmer als der Durchschnitt der Eurozone. Mit Ausnahme des schon etwas wohlhabenderen Sloweniens und Maltas hatten die neuen Mitgliedstaaten zu Anfang des Jahrhunderts noch recht hohe Arbeitslosenquoten im zweistelligen Bereich. Sie gingen aber bis zur Finanzmarktkrise deutlich zurück (auf vier bis sieben Prozent), um ab 2009 wieder stark anzusteigen (Ausnahme Slowenien, das drei Jahre später in die Krise rutschte). Die Erholung ab 2011 vollzog sich nur langsam. Die baltischen Länder weisen eine hohe Nettoauswanderung auf – im Gegensatz zu Slowenien und der Slowakei. Die nominalen Lohnstückkosten stiegen massiv an. Zwischen 1999 und 2015, als sie in der WWU durchschnittlich um 23 Prozent zunahmen, wuchsen sie in Estland um 66 Prozent, in Lettland um 53 Prozent, in Litauen um 46 Prozent, in der Slowakei um 56 Prozent. Nur Slowenien blieb im WWUDurchschnitt. Der Großteil dieses Aufholprozesses vollzog sich vor der Krise, die ihn aber nur kurz für ein bis zwei Jahre abbremste. Die Reallöhne wuchsen zwischen 2001 und 2009 in Estland und Lettland um circa 75 Prozent, in Litauen um circa 55 Prozent, in der Slowakei um 30 Prozent, in Slowenien und Malta um circa zehn Prozent. Die Ungleichheit war in den baltischen Ländern hoch (Gini deutlich über 0,3; S80/S20-Quoten über fünf, in Litauen und Lettland sogar über sechs), während sie in Slowenien, der Slowakei und Malta unter dem WWU-Durchschnitt lag. In Lettland, Litauen und der Slowakei ist der Rückgang der Armut deutlich zu beobachten, während sie in Slowenien und Malta nach der Krise anstieg. Abgesehen von Slowenien liegen die Sozialleistungsquoten – typisch für ärmere Länder – weit unter dem WWU-Durchschnitt. Sie stiegen in der Rezession an, wurden danach aber wieder langsam zurückgeführt. Die neuen Mitgliedstaaten lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Das Baltikum und die Slowakei sind ärmer, ungleicher und dynamischer, vor allem auch in der Lohnentwicklung. Slowenien und Malta sind etwas reicher, sozialer, aber auch maßvoller bei den Lohnzuwächsen.

Die Programmländer: zerplatzte Träume Irland und die Südperipherieländer Griechenland, Spanien, Portugal und Zypern haben eine sehr unterschiedliche Integrationsgeschichte in der EU hinter sich. Irland stieg in den 1990er-Jahren zum zweitreichsten EU-Land auf (gemessen am BIP/Kopf), während die andern Länder weiter zum »EU-Mittelstand« zählten: reicher als die postkommunistischen Länder, aber ärmer als die nordwestlichen Mitgliedstaaten. Allen gemeinsam war eine heftige Staatsschuldenkrise, ausgelöst durch die Bankenkrise, die große Rezession und die Versuche, die Banken zu retten und die Konjunktur wieder anzukurbeln. Sie

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führte dazu, dass alle Länder auf Hilfe angewiesen waren, die die EU (gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds) mit Auflagen verband. Um die soziale Entwicklung der Länder besser zu erfassen, liegt es nahe, zwischen der Vorkrisenperiode bis 2008/09 und der Phase der Austeritätspolitik ab 2010 zu unterscheiden.

Boomender Arbeitsmarkt bis zur Krise Die Arbeitsmärkte entwickelten sich in den ersten Jahren der WWU-Mitgliedschaft positiv. Vor allem Spanien, aber auch Griechenland konnten ihre historisch hohe Arbeitslosigkeit deutlich auf etwa acht Prozent reduzieren. In Irland, Portugal und Zypern war die Arbeitslosigkeit schon 2000 viel niedriger und blieb weitgehend unverändert; nur Portugal hatte bereits ab 2002 wieder eine zunehmende Arbeitslosigkeit. Diese Arbeitsmarktentwicklung ist umso beachtlicher, als vor allem Spanien, aber auch die anderen Länder hohe Einwanderungsüberschüsse zu verzeichnen hatten. Allein nach Spanien wanderten zwischen 2002 und 2008 netto vier (!) Millionen Personen (also etwa zehn Prozent der Bevölkerung von 2002) zu. Nach Irland kamen im gleichen Zeitraum 370.000 (ebenfalls fast zehn Prozent), nach Portugal 270.000 Zuwanderer (2,7 Prozent) und nach Zypern 70.000 (circa acht Prozent). Für Griechenland liegen keine gleichwertigen Angaben vor, aber der Saldo dürfte bei etwa 200.000 (zwei Prozent) liegen, wobei es eine hohe Dunkelziffer illegaler Einwanderung gibt. Die Lohnentwicklung spiegelt die positive Arbeitsmarktlage wider: Die Reallöhne stiegen zwischen 2001 und 2009 in Irland um über 20 Prozent, in Griechenland und Zypern um circa 15 Prozent, in Spanien um knapp zehn Prozent, in Portugal nur um fünf Prozent. Die nominalen Lohnstückkosten wuchsen bis 2008 kräftig. Bei einem Index von 100 für das Jahr 2010 nahmen sie zwischen 1999 und 2008 in Irland um 32, in Griechenland und Zypern um 23, in Spanien um 27 und in Portugal um 20 Punkte zu. Zum Vergleich: Der WWU-Durchschnitt betrug knapp 15 Punkte, der Zuwachs für Deutschland nur einen Punkt. Bei der Lohnquote (entspricht den realen Lohnstückkosten) war die Entwicklung uneinheitlich: In Spanien, Portugal und Irland sank sie tendenziell, in Griechenland stieg sie um circa fünf Prozentpunkte und in Zypern schwankte sie nur leicht. Diese Lohnsteigerungen haben das Exportwachstum zwar kaum gebremst, aber zum Defizit der Leistungsbilanz beigetragen, was als Verlust der Wettbewerbsfähigkeit interpretiert wurde. Die Einkommensverteilung veränderte sich – gemessen im Gini oder durch die S80/S2-Relation – in dieser Phase bis 2008 nur wenig. Die Ungleichheit lag in allen Ländern außer Zypern über dem WWU-Durchschnitt. Sie ging nur in Irland und Portugal, das 1999 bis 2001 die höchste Ungleichheit in der EU aufwies, ab 2005 etwas zurück. Die Armutsquoten waren ebenfalls überdurchschnittlich hoch, vor allem in Griechenland, fielen aber dort bis 2009 um circa

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fünf Prozentpunkte. Der Rückgang in den anderen Ländern war mit zwei bis drei Prozentpunkten schwächer. Die Ausgaben für Sozialpolitik (als Anteil am BIP) lagen in allen Peripherieländern unter dem WWU-Durchschnitt von circa 26 Prozent. Der Abstand war in Irland und Zypern besonders groß (jeweils um die 15 Prozent), während Spanien knapp 20 Prozent, Griechenland und Portugal etwa 22 bis 23 Prozent des BIP für den Sozialschutz ausgaben. Bis zur Krise lässt sich die soziale Lage in der Peripherie also grob so zusammenfassen: Eine kräftige Beschäftigungsentwicklung mit hoher Zuwanderung war begleitet von steigenden Lohnstückkosten und abnehmender Armut. Das Wachstumsmodell konzentrierte sich auf den Sektor der nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen, wobei in Spanien und Irland zugleich eine Immobilienblase entstand. Die Gesellschaften hatten eine relativ hohe Ungleichheit und Armut mit einem relativ schwach ausgebauten Sozialstaat.

Absturz in die Austerität Dieses Bild wandelte sich komplett mit der Finanzmarktkrise, der großen Rezession, der anschließenden Staatsschuldenpanik und dem Einsatz der von den Gläubigerinstitutionen geforderten Sparmaßnahmen und Reformen. Das kreditfinanzierte Wachstum, vor allem im Immobiliensektor, brach ein. Die Arbeitsmarktlage verschlechterte sich dramatisch. Die Arbeitslosenquote stieg aus dem einstelligen Bereich auf über 26 Prozent in Spanien und Griechenland, auf 16 Prozent in Portugal und Zypern sowie auf 14 Prozent in Irland. Eine leichte Verbesserung war ab 2013 zu beobachten, am deutlichsten in Irland. Das lag auch an der geänderten Migrationsrichtung: Aus Einwanderungs- wurden Auswanderungsländer. Aus Spanien wanderten zwischen 2010 und 2013 netto 460.000, aus Griechenland 145.000, aus Irland 138.000 und aus Portugal 79.000 Menschen aus. Nur Zypern hatte bis 2013 noch eine Zuwanderung zu verzeichnen. Die Gläubiger setzten Reformen im Lohnfindungssystem und Lohnkürzungen im öffentlichen Sektor und beim Mindestlohn, dessen realer Wert in Griechenland um 30 Prozent fiel, durch. Die Lohnentwicklung folgte der Arbeitsmarktentwicklung und dieser der Politik mit sinkenden Reallöhnen, einer fallenden Lohnquote und einem Rückgang der nominalen Lohnstückkosten. Während Letztere zwischen 2009 und 2015 in der WWU um 4,7 Punkte und in Deutschland um neun Punkte zunahmen (2010=100), sanken sie in Irland um fast 16, in Griechenland um fast 14 und in Spanien, Portugal und Zypern um etwa sechs Punkte. Die Ungleichheit nahm dagegen zu. Der Gini-Koeffizient stieg vor allem in Zypern und Spanien; bei der S80/S20-Quote zeigte sich die wachsende Ungleichheit noch deutlicher: Sie stieg bis 2014 in Spanien auf 6,8 (von 5,6 im

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Jahr 2008), in Griechenland auf 6,5 (von 5,6 im Jahr 2010), in Irland auf 4,7 (von 4,2 im Jahr 2009), in Zypern auf 5,4 (von 4,3 im Jahr 2008) und in Portugal auf 6,2 (von 5,6 im Jahr 2010). Die Armutsquoten nahmen in Irland, Griechenland und Spanien spürbar um etwa fünf Prozentpunkte, in Zypern um vier und in Portugal um zweieinhalb Punkte zu. Die Sozialpolitik konnte diese Entwicklungen kaum auf halten, da sie den wachsenden Problemen mit Budgets gegenüberstand, die unter Spardruck standen. Trotzdem hat der Anteil der Sozialausgaben am BIP zwischen 2007 und 2012/13 überall zugenommen: in Griechenland von 23,7 Prozent auf 31,6 Prozent, in Spanien von 20,3 Prozent auf 25,7 Prozent, in Irland von 17,3 Prozent auf 23 Prozent (2010: 24,5 Prozent), in Portugal von 23 Prozent auf 27,6 Prozent, in Zypern von 16,6 auf 22,3 Prozent. Dieser Anstieg ist aber auch auf den Rückgang des BIP, das ja den Nenner dieser Sozialschutzquote bildet, zurückzuführen. Zwischen 2010 und 2012 wurden die konkreten nominalen Ausgaben (also die Zählerwerte), die im Durchschnitt der Eurozone um 3,5 Prozent wuchsen, in Griechenland um 6,6 Prozent, in Spanien um 0,1 Prozent, in Irland um 1,2 Prozent und in Portugal um 4,2 Prozent gekürzt. Insgesamt bietet die Peripherie das Bild einer sozialen Katastrophe, die am schlimmsten in Griechenland und am glimpflichsten in Irland verlief. Arbeitslosigkeit und Armut nahmen zu und der soziale Schutz ab, da sinkende Ausgaben wachsenden Bedürftigenzahlen gegenüberstanden. Allerdings war vor allem in Spanien und Irland in den letzten Jahren eine Trendwende zu beobachten. Aus Ländern, deren Wachstumsdynamik Menschen anzog, wurden Auswanderungsländer, deren Bewohner ihr Glück in der Fremde, oft auch in Deutschland, suchen mussten.

Ein differenziertes Bild der Eurozone Die soziale Entwicklung der Eurozone verlief somit im Zentrum und in der Peripherie sehr unterschiedlich. Während im Zentrum Deutschland – nach einer realen internen Abwertung mit wachsender Ungleichheit – in eine relativ stabile Nachkrisenphase mit niedriger Arbeitslosigkeit hineinwuchs, konnten die übrigen reichen Länder in Westeuropa die Krisenfolgen nur langsam überwinden. Im Osten gelang es den neuen Mitgliedstaaten, ihre Vorkrisendynamik halbwegs (Ausnahme: Slowenien) wiederzugewinnen, während die Programmländer die meisten sozialen Fortschritte aus den ersten Jahren der WWU-Mitgliedschaft im Zuge der Austeritätspolitik mehr als einbüßten.

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H ausgemachte und e x terne U rsachen der sozialen E nt wicklung Die unterschiedliche soziale Entwicklung in den einzelnen Ländern der Eurozone ist das Ergebnis einer komplexen Wechselbeziehung zwischen ihren nationalen Strukturen und Politiken und äußeren Bedingungen und Einflüssen, die sich aus ihrer Integration in die WWU, die EU und die globale Wirtschaft ergeben.

Nationale Einflussfaktoren Es lassen sich verschiedene Typen von Wohlfahrtsstaaten und Kapitalismusvarianten unterscheiden, die von Fritz Scharpf, Gösta Esping-Andersen, Peter Hall und vielen anderen Wissenschaftlern untersucht wurden. So beeinflussen die industriellen Beziehungen und Gewerkschaftsstrukturen die Lohnentwicklung im jeweiligen Land. Während in Deutschland oder in den Niederlanden starke Einheitsgewerkschaften in der Lage sind, im Interesse der Beschäftigungssicherung und Wettbewerbsfähigkeit Lohnzurückhaltung durchzusetzen, sind derartige Kompromisse in Ländern mit politisch zersplitterten, konkurrierenden Gewerkschaften (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) viel schwieriger zu erreichen. Während in Nordwest- und Südeuropa Lohnabschlüsse meist für ganze Sektoren getroffen werden, dominieren in Osteuropa und Irland betriebliche Abschlüsse. Auch die Ausbildungs- und Innovationssysteme unterscheiden sich von Land zu Land. Während in Deutschland in der dualen Ausbildung sehr spezifische Kenntnisse vermittelt werden, bleibt dies in anderen Ländern den Unternehmen überlassen. Bei den Wohlfahrtsstaaten zeichnen sich die mitteleuropäischen Länder durch »Bismarck’sche« Sozialsysteme aus, die nach einem Versicherungsprinzip funktionieren, das an die abhängige Beschäftigung gekoppelt ist. In anderen Ländern ist ein eher universeller oder schwacher Sozialstaat vorzufinden, wie an den oben dargestellten unterschiedlichen Sozialschutzquoten zu erkennen ist. Bezeichnenderweise haben es die skandinavischen und angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten (sie werden in der Literatur als spezifische Typen angeführt) abgelehnt, der WWU beizutreten (Ausnahme: Irland), da sie ihre Modelle durch eine Mitgliedschaft bedroht sahen. Aus einer weniger soziologischen Perspektive werden Länder etwa vom Weltwirtschaftsforum nach ihrer Wettbewerbsfähigkeit oder von der Weltbank nach ihrer Unternehmensfreundlichkeit (»Doing Business«) eingeordnet. Dabei spielen unter anderem die Regulierungsintensität auf den Produkt- und Arbeitsmärkten, die Lohnfindungssysteme, der Kündigungsschutz, die Regulierung von Geschäftsgründungen, die Effizienz und Transparenz der Steuerverwaltung, die Bildungssysteme eine Rolle. Generell schneiden bei diesen

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Bewertungen die südeuropäischen Länder relativ schlecht ab. Die nord- und mitteleuropäischen Länder stehen sehr gut da, während die osteuropäischen Länder sich dazwischen streuen, wobei die baltischen Staaten unter ihnen relativ am besten bewertet werden. Die Wirtschaften der einzelnen Euroländer weisen unterschiedliche Spezialisierungsmuster auf, die die regionale und sachliche Struktur ihres Außenhandels prägen. Schon die Bedeutung des Außenhandels und des Sektors der nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen unterscheidet sich erheblich von Land zu Land. Deutschlands Wirtschaft ist für ihre Größe extrem internationalisiert, während zum Beispiel in Griechenland das Gewicht des Exports sehr niedrig ist.

E xterne Schocks und der Einfluss der Währungsunion Auf diese nationalen Strukturen treffen externe »Schocks«, für deren Bewältigung sie unterschiedlich gut gerüstet sind. Dazu zählt die Marktöffnung gegenüber Osteuropa und Schwellenländern (vor allem China), die durch die Außenhandelspolitik der EU bestimmt wird. Darauf haben die einzelnen Mitgliedstaaten nur indirekten Einfluss. Sie treffen Länder mit einer konkurrierenden Angebotspalette (Südperipherie) stärker als Deutschland, das mit seinem Exportprofil stark vom globalen Wachstum profitiert. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU erleichtert die Zu- und Abwanderung, wobei die EU-internen Wanderungsbewegungen oft weniger groß sind als Zuwanderungen aus Drittländern. Die zugewanderten Arbeitskräfte und die – durch die Dienstleistungsfreiheit ermöglichten – Konkurrenzangebote aus Niedriglohn-Mitgliedstaaten üben einen Druck auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Preise (und damit Einkommen) in einigen Dienstleistungsbranchen (zum Beispiel Logistik) aus. Das EU-Recht schränkt die nationalen Reaktionsmöglichkeiten ebenfalls ein, etwa im Bereich der Industriepolitik oder beim Ausbau öffentlicher Angebote, die potenziell mit privaten Angeboten konkurrieren. Diese äußeren Einflüsse haben alle EU-Staaten gleichermaßen betroffen. Für die Mitglieder der Eurozone gelten nochmals engere Schranken für die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik und den Umgang mit spezifischen Schocks. Vor allem die großen Schwankungen im Außenwert des Euro, sichtbar am Euro-Dollar-Wechselkurs, treffen nationale Ökonomien unterschiedlich stark. Die deutliche Euroaufwertung nach 2000 (um circa 50 Prozent) hat die preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf Märkten in Drittländern verschlechtert und die Importe verbilligt. Letzteres hat einerseits die Kauf kraft verbessert (durch relative Verbilligung etwa von Ölimporten), andererseits geriet aber auch die einheimische Produktion unter einen verstärkten Konkurrenzdruck.

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Innerhalb der Eurozone waren dagegen die nominalen »Wechselkurse« zwangsläufig stabil. Ein Ausgleich unterschiedlicher Inflations- und Lohnsteigerungsraten durch Auf- oder Abwertung der jeweiligen Währungen war daher nicht mehr möglich. Soweit sich also Preise, Löhne und Profite unterschiedlich entwickelten, kam es zu realen Auf- und Abwertungen. Tendenziell wertete Deutschland real ab, während die Peripherie im Süden und Osten real aufwertete. Die Mitte um Frankreich verhielt sich relativ neutral. Ein weiterer Effekt der WWU war die Integration der Kapitalmärkte. Der wichtigste Preis, der Zins, wies zwischen den WWU-Mitgliedern nur noch geringe Unterschiede auf. Die Kapitalbewegungen und grenzüberschreitenden Investitionen nahmen zu. Dabei erhielten vor allem die dynamischen Peripherieregionen starke Zuflüsse. Ihre Bankensysteme weiteten die Kreditvergabe angesichts guten Wachstums und optimistischer Wachstumserwartungen aus, womit die Kaufkraft automatisch und ohne Wechselkursrisiko (da im Euroraum) zunahm. Umgekehrt boten die niedrigen Zinsen Haushalten und Unternehmen Anreize, sich zu verschulden, was angesichts wachsender Einnahmen auch unproblematisch erschien. Teilweise kompensierten sie damit auch sinkende Einnahmen aus Transferzahlungen aus dem Ausland, vor allem aus Europa. Steigende Kaufkraft und Ausgaben erhöhten nicht nur die Importe, sondern auch die Nachfrage nach dem Binnenangebot, insbesondere nach nicht handelbaren Gütern und Dienstleistungen. Die damit wachsende Beschäftigung führte zudem zu höheren Löhnen. So entstand ein positiver Rückkopplungseffekt aus Kaufkraft, Produktion und Beschäftigung. Die schärfsten äußeren Eingriffe in die soziale Entwicklung von WWUMitgliedstaaten erfolgten im Zuge der Anpassungsprogramme, die den hoch verschuldeten Ländern Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Zypern als Bedingung für Finanzhilfen auferlegt wurden. Mindestlöhne und Löhne im öffentlichen Sektor wurden eingefroren oder gekürzt. In Griechenland betrugen diese Kürzungen über 20 Prozent. Das Lohnfindungssystem wurde dezentralisiert (weniger Branchenabschlüsse, mehr Betriebsabschlüsse). Die Abdeckung der Beschäftigten durch Kollektivverträge ging zurück, da Allgemeinverbindlichkeitsregelungen abgeschwächt und betriebliche Ausnahmen erleichtert wurden. In Portugal sank die Anzahl der Branchentarifverträge von 200 im Jahr 2008 auf 46 im Jahr 2012, die Anzahl der Beschäftigten mit Tarifverträgen ging im gleichen Zeitraum von 1,9 Millionen auf 328.000 zurück. In Griechenland sank die Zahl der Branchentarifverträge von 202 (2008) auf 14 (2013) und in Spanien im gleichen Zeitraum von 1.448 auf 543. Die Leistungen aus der Arbeitslosen- und Rentenversicherung wurden gekürzt und das Renteneintrittsalter erhöht. In Griechenland wurden die Renten, die mehr als 1.000 Euro monatlich betrugen, um fünf bis 15 Prozent gesenkt, das bisher übliche Weihnachtsgeld abgeschafft und das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 erhöht.

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Die Kürzungen bei den Staatsausgaben betrafen nicht nur die Sozialausgaben. Zwischen 2009 und 2014 sanken auch die Ausgaben für das Gesundheitswesen in Griechenland um 48,6 Prozent, in Spanien um 13,6 Prozent, in Portugal um 21,5 Prozent; die Ausgaben für Bildung gingen in Griechenland um 20 Prozent, in Spanien um 14,9 Prozent, in Portugal um 16,1 Prozent zurück. Die Einsparungen im Gesundheitssystem führten vor allem in Griechenland zu bedenklichen Zuständen in vielen Krankenhäusern. Diese Maßnahmen sind eingebettet in breitere Maßnahmenbündel wie den Euro-Plus-Pakt und den Six-Pack, die in eine ähnliche Richtung zielen. Der Euro-Plus-Pakt gilt für WWU-Länder und strebt – im Zuge der Haushaltskonsolidierung und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit – an, Lohnindexierungssysteme abzuschaffen und Rentensysteme der demografischen Entwicklung anzupassen. Im Six-Pack, der grundsätzlich EU-weit gilt, werden neben vielen anderen Indikatoren der Verschuldung, Wettbewerbsfähigkeit und Inflation auch die nominalen Lohnstückkosten und die Arbeitslosenrate überwacht.

D ie W ährungsunion und die soziale E nt wicklung in der E urozone Welchen Beitrag hat die Währungsunion durch ihre strukturellen Bedingungen (einheitliche Währung, zentrale Geldpolitik) und spezifischen Maßnahmen (Politikkoordination und -überwachung, Rettungsprogramme mit Auflagen) zu der zu Beginn dargestellten sozialen Entwicklung geleistet? Bevor man diese Frage beantworten kann, müssen verschiedene Einflussfaktoren untersucht werden (siehe vorherigen Abschnitt). Von der Antwort hängt auch ab, wo man für eine Verbesserung der sozialen Lage in der Eurozone ansetzen müsste. Zwei einfache Antworten kann man aufgrund der Empirie ausschließen: Weder die WWU noch nationale Strukturen können allein verantwortlich gemacht werden. Wäre die WWU die alleinige Ursache, dürften die sozialen Entwicklungen zwischen Ländern und in verschiedenen Zeiträumen nicht so divergent ausfallen. Wären nationale Strukturen allein verantwortlich, so wären vor allem die unterschiedlichen sozialen Entwicklungen in den einzelnen Perioden schwer zu erklären. Wären Länder wie die GIPS und Italien aufgrund ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur für die Mitgliedschaft in der WWU grundsätzlich ungeeignet, so hätte ihre Entwicklung bis 2008 nicht so dynamisch ausfallen dürfen. Einige der hier betrachteten Länder übernahmen den Euro auch erst sehr spät: vor allem das Baltikum (2011, 2014, 2015) und die anderen neuen Mitgliedstaaten (2007 bis 2009). Allerdings waren ihre Währungen schon davor an den Euro gebunden.

4. Michael Dauderstädt — Die soziale Dimension der Eurozone

Die beiden E xtreme: Deutschland und die Programmländer Die beiden Extremfälle der Eurozone, Deutschland und die Programmländer, bieten komplementäre Beispiele für die Verschränkungen von inneren und äußeren Faktoren. Deutschland reagierte auf seine Probleme zu Beginn der Eurozeit (Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizite) nach längerem Schwanken 2003 mit der Agenda 2010. Druck aus Brüssel kam dabei nur, weil die Maastrichtgrenze von drei Prozent beim Haushaltdefizit überschritten worden war. Die flankierende Lohnstagnation und -spreizung (erleichtert durch kooperative Gewerkschaften und Betriebsräte) und die reale interne Abwertung verbesserte eine schon gute Leistungsbilanz (»Exportweltmeister«) enorm: Die einheimische Nachfrage wurde begrenzt und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit wuchs, was wie ein Turbolader auf eine ohnehin gute strukturelle Wettbewerbsfähigkeit (optimale Spezialisierung auf globale Nachfragetrends) wirkte. Ohne die gemeinsame Währung hätte eine nominale Aufwertung der D-Mark diese preislichen Vorteile bald wieder abgebaut – wohl mit dem Vorteil relativ höherer Kaufkraft im Inneren. Die Programmländer sahen dagegen keine Veranlassung, ihre Politiken zu ändern, als ihre Wirtschaften in der Vorkrisenphase dynamisch wuchsen. Die überdurchschnittlichen Preis- und Lohnsteigerungen untergruben kaum die Wettbewerbsfähigkeit (die Exporte wuchsen weiter; die Weltmarktanteile blieben außer für Irland relativ stabil). Die hohen Leistungsbilanzdefizite waren nicht sinkenden Exporten, sondern der stark expandierenden Binnennachfrage geschuldet. Außerhalb der WWU hätten sie aber vielleicht zu einer Abwertung geführt. Die Haushaltssituation war relativ stabil (Irland und Spanien wiesen sogar Überschüsse auf), weswegen die EU kaum Kritik am Wachstumsmodell äußerte. Mit der dreifachen Krise der Banken 2008, der großen Rezession 2009 und der Staatsschuldenpanik 2010 änderte sich das Bild schlagartig. Im Zuge der Hilfsprogramme erwarteten die Gläubiger gleichzeitig eine Haushaltskonsolidierung und eine reale interne Abwertung. Die beiden Ziele waren schwer miteinander zu vereinbaren, da sinkende Löhne zumindest kurzfristig die Steuereinnahmen senkten. Negative Multiplikatoreffekte reduzierter Staatsausgaben verstärkten dies noch. Im Ergebnis sanken die Löhne und der Sozialschutz ging zurück. Da diese nationalen Politiken klar auf Druck der Gläubiger (»Troika«) verfolgt wurden, ist hier der Zusammenhang zwischen sozialen Problemen und WWU-Mitgliedschaft eindeutig. Allerdings stellt sich die Frage, ob nationale Alternativszenarien (Austritt aus dem Euro und/oder Staatsbankrott) weniger schmerzhaft gewesen wären.

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Teil I: Herausforderungen

Auswirkungen bei Lohnentwicklung, sozialer Sicherung und Einkommensverteilung Die Auswirkungen der WWU auf drei zentrale soziale Herausforderungen, nämlich Lohnentwicklung/Arbeitsmarkt, soziale Sicherung und Einkommensverteilung/Armut, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die WWU ist offensichtlich mit sehr unterschiedlichen Lohnentwicklungen kompatibel. Sie verhindert jedoch, dass stark abweichende Lohnentwicklungen den Außenwert der Währung beeinflussen, also Aufwertungen Lohnzurückhaltung und Abwertungen Lohnsteigerungen (immer relativ zu den Handelspartnern) korrigieren. Das führt dazu, dass sich Ungleichgewichte länger auf bauen können. Sie werden aber nur für Defizitländer wirklich problematisch, wenn die Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite nicht mehr gelingt. Überschussländer verlieren schlimmstenfalls Ersparnisse (Forderungen ans Ausland). 2. Die Währungsunion lässt sich auch mit unterschiedlichen Sozialstaatsmodellen und Sozialschutzniveaus vereinbaren. Tendenziell sind in fast allen Ländern die Ausgaben für soziale Sicherung gestiegen, kurzfristig vor allem in der Rezession 2009. Die Defizit- und Verschuldungsobergrenzen führten nicht zwangsläufig zu Kürzungen bei den Sozialausgaben. Problematisch waren die tiefen Einschnitte, die den Programmländern aufgezwungen wurden und dort in Zeiten sozialer Krise die Ausgaben kürzten. 3. Die WWU hat kaum klare Wirkungen auf die Einkommensverteilung in den Euroländern. Allerdings stiegen Ungleichheit und Armut in Phasen interner Abwertung, zum Beispiel in Deutschland ab 2003 und in den Programmländern ab 2010. In den Programmländern kann man die Auflagen der Troika verantwortlich machen, in Deutschland war diese Entwicklung selbst gewählt – wenn auch als Reaktion auf gefühlte Anpassungszwänge in der WWU. Die grundsätzliche Kompatibilität der Mitgliedschaft in der WWU mit verschiedenen sozialen Entwicklungen (Löhne, Sozialpolitik, Einkommensverteilung) heißt aber nicht, dass gemeinsame Politiken oder Standards überflüssig wären. Dafür sind die gegenseitigen Abhängigkeiten zu groß. Wegen der Integration der Märkte und der Koordinierungsimperative der europäischen Politik sind nationale Politiken alleine oft nicht mehr in der Lage, optimal zu reagieren. Einzelstaatliche Initiativen sind nicht nur weniger wirkungsvoll als gemeinsame, sondern es besteht auch die Gefahr, dass sie ihre Erfolge auf Kosten anderer Länder erzielen. Die europäische Überwachung nationaler Entwicklungen und die Unterstützung in kritischen Zeiten können problematische soziale Entwicklungen in der WWU verhindern oder wenigstens abmildern.

4. Michael Dauderstädt — Die soziale Dimension der Eurozone

A nmerkungen 1 | Der Gini ist ein Indikator der Ungleichheit, der zwischen null (vollständige Gleichverteilung) und eins (alle Einkommen an ein Individuum oder Haushalt) schwankt. 2 | Die Zahlenangaben beruhen auf Eurostatdaten, jeweils vom letzten verfügbaren Jahr (wie angegeben); bei der Lohnquote: Ameco Database.

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Teil II: Politik, Macht, Ideen

5. Deutscher Sonderweg?

Ökonomische Grundannahmen der Politik in Deutschland

Mark Schieritz

Vom früheren italienischen Ministerpräsident Mario Monti stammt folgende Geschichte: Auf dem Höhepunkt der Eurokrise habe er Barack Obama im Weißen Haus in Washington aufgesucht. Der amerikanische Präsident habe von ihm wissen wollen, warum internationale Wirtschaftsverhandlungen mit Deutschland oft so schwierig seien und sich die Deutschen so beharrlich weigerten, mehr für die Stärkung der heimischen Nachfrage zu tun. Daraufhin habe er, Monti, geantwortet, für die Deutschen sei die Ökonomie keine Sozialwissenschaft, sondern »immer noch ein Zweig der Moralphilosophie«. Diese kurze Episode macht die Sonderstellung deutlich, die Deutschland im internationalen ökonomischen Diskurs einnimmt. In den makroökonomischen Diskussionskreisen globaler Gremien wie der G20 oder der G7 finden deutsche Unterhändler in der Regel kaum Verbündete und in der angelsächsischen Welt gelten die Ökonomen des Landes vielfach als Außenseiter, die längst den Anschluss verloren haben. Martin Wolf, Chefkolumnist der Financial Times, hat eine in vielen Hauptstädten Europas verbreitete Stimmung auf den Punkt gebracht, als er Deutschland als »das größte Problem« der Eurozone bezeichnete. Ziel dieses Kapitels ist es, die Eigenheiten der deutschen wirtschaftspolitischen Debatte zu skizzieren und den Ursachen dieser Eigenheiten auf den Grund zu gehen. Daran anschließend soll ausgelotet werden, welche Folgen sich daraus für progressive Politikansätze in Europa ergeben.

E s war der S ta at Am 29. Juni 2012 gibt Angela Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Thema: die Eurokrise. Die Abgeordneten müssen über die Einführung des Fiskalvertrags abstimmen, der die Mitgliedstaaten der Währungsunion unter anderem zu einem ausgeglichenen Haushalt und der Verankerung einer

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Teil II: Politik, Macht, Ideen

Schuldenbremse nach deutschem Vorbild im nationalen Recht verpflichtet. Die deutsche Kanzlerin spricht von einem »Meilenstein in der Geschichte der EU«, der den Weg für eine »nachhaltige Stabilitätsunion« bereite. In dieser Wortwahl manifestiert sich eine erste Besonderheit der deutschen Diskussion. Sie verweist darauf, wo in Berlin die Ursache der Krise vermutet wird: in einer zu hohen Verschuldung der Staaten. Aus dieser Diagnose ergibt sich auch die empfohlene Therapie: Das wichtigste Ziel der deutschen Krisenpolitik – zumindest in ihrer ersten Phase – war jedenfalls eine Härtung der europäischen Budgetregeln. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung etwa schlägt in seinem Jahresgutachten 2011 einen »langfristigen Ordnungsrahmen« für den Umgang mit »Staatsschuldenkrisen« in Europa vor und die Bundesregierung machte sich neben ihrem Einsatz für den Fiskalvertrag auch für eine Verschärfung des Stabilitätsund Wachstumspakts stark.1 International hatte sich zu diesem Zeitpunkt freilich längst eine differenziertere Interpretation der Krise durchgesetzt. Schließlich hatte diese inzwischen auch Länder wie Spanien oder Irland erfasst, die anders als etwa Griechenland vergleichsweise niedrige Schuldenquoten aufwiesen. In den Blick geriet beispielsweise die Rolle der Finanzmärkte bei der Entstehung spekulativer Übertreibungen an den Immobilienmärkten. So strömte in den Jahren nach der Einführung des Euro in großem Stil ausländisches Kapital – nicht zuletzt aus Deutschland – in Länder wie Spanien oder Irland, weil sich die Investoren dort höhere Renditen versprachen. Es gelang aber nicht, dieses Kapital einer produktiven Verwendung zuzuführen. In Spanien etwa kam es zu einer gewaltigen Ausweitung der Vergabe von Hypothekenkrediten und der Bautätigkeit. Die Staatsschulden schossen erst nach oben, als die Blase platzte und die maroden Banken gestützt werden mussten. Als weitere Krisenursache wurden in der internationalen Debatte auch die Entscheidungsmechanismen der Investoren an den Finanzmärkten thematisiert, die mit Ausbruch der Krise schlagartig ihr Geld abzogen und damit die Lage noch verschlimmerten, weil dadurch auch bislang fiskalisch vergleichsweise solide Staaten wie Frankreich in Finanzierungsschwierigkeiten zu geraten drohten. Gemäß dieser aus der Spieltheorie stammenden Sichtweise gibt es in ökonomischen Zusammenhängen nicht nur einen, sondern mehrere stabile Zustände oder Gleichgewichte. Der Zustand vor der Krise war ein solches Gleichgewicht: Die Investoren stellten den Südstaaten billiges Geld zur Verfügung, weshalb diese Staaten immer alle Schulden pünktlich bedienen konnten. Durch die Panik an den Finanzmärkten schossen die Zinsen nach oben, weil aus Angst vor einer drohenden Pleite niemand mehr Geld in der Peripherie investieren wollte. Aufgrund der steigenden Kosten für den Schuldendienst wurde genau diese Pleite wahrscheinlich. Die Europäische Zentralbank (EZB) schätzte die Gefahr eines solchen Szenarios als so groß ein, dass sich

5. Mark Schierit z — Deutscher Sonder weg?

der Rat der Notenbank im Frühsommer 2012 gezwungen sah, eine Gegenmaßnahme zu ergreifen. Im Rahmen des Programms der sogenannten Outright Monetary Transactions (OMT) kündigte die Notenbank an, zu intervenieren, wenn das Zinsniveau in einzelnen Mitgliedsländern durch irrationale Marktbewegungen zu stark nach oben getrieben würde. Sie trug damit wesentlich zur Stabilisierung der Finanzmärkte bei. Diese unterschiedlichen Deutungsmuster werden in einem Expertenstreit offenbar, den ein vom Center for Economic Policy Research veröffentlichter Aufsatz auslöste. Im November 2015 unternahm eine Gruppe internationaler Ökonomen unter der Leitung von Richard Baldwin und Francesco Giavazzi den Versuch, einen Konsens in der Analyse der Eurokrise zu definieren. In ihrem Artikel heißt es, die Krise solle »nicht als eine Staatsschuldenkrise« betrachtet werden. Vielmehr sei sie durch eine Umkehr starker Kapitalzuflüsse in die Peripheriestaaten ausgelöst worden.2 In Deutschland ist diese Interpretation bis heute umstritten. In ihrer Antwort auf das Papier argumentierten Mitglieder des Sachverständigenrats, dass der Konsens die Rolle des Staates nicht ausreichend thematisiere und das Fehlverhalten einseitig bei den Akteuren an den Finanzmärkten sehe. So hätte in Griechenland und Portugal auch der Staat die billigen Kredite aus dem Ausland angenommen und seine Verschuldung ausgeweitet. In Spanien und Irland hätten die staatlichen Organe den Boom am Immobilienmarkt wohlwollend hingenommen, statt entschlossen dagegen vorzugehen. In ihrem Kern wäre die Krise damit wieder ein Fall von Staatsversagen.3 Aus solchen Aussagen spricht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln im europäischen Kontext. Dieses Misstrauen prägte die deutsche Linie bei den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht und es schlug sich auch in der spezifischen Konstruktion der Währungsunion nieder, die den Finanzmärkten eine zentrale Rolle bei der Kontrolle der nationalen Fiskalpolitik einräumt. Gemäß dieser Vorstellung soll das Zinsniveau die Funktion übernehmen, die der Wechselkurs durch die Einführung der gemeinsamen Währung nicht mehr übernehmen kann. Eine nachhaltige Haushaltsführung wird demnach mit niedrigen Zinsen belohnt, eine zu expansive Ausgabenpolitik hingegen mit höheren Zinsen. Weil dieser Mechanismus durch Interventionen der Zentralbank außer Kraft gesetzt zu werden droht, lehnt die Bundesbank das OMT-Programm bis heute ab. Im Juni 2013 argumentierte Notenbankpräsident Jens Weidmann vor dem Bundesverfassungsgericht, die Antwort auf die Frage, ob das Zinsniveau durch Marktkräfte verzerrt werde, müsse immer »in hohem Maße subjektiv« ausfallen. Vor diesem Hintergrund würden Anleihenkäufe durch die EZB »beträchtliche stabilitätspolitische Probleme« mit sich bringen, »die disziplinierende Rolle des Marktzinses aushebeln und die finanzpolitische Eigenverantwortung unterlaufen«.

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A chtung , A nreize! Am 12. Juli 2012 landet eine zweistrahlige amerikanische Militärmaschine auf dem Flughafen von Westerland. An Bord: Timothy Geithner, zu diesem Zeitpunkt US-Finanzminister. Er ist nach Sylt gekommen, um Wolfgang Schäuble zu treffen, der auf der Insel wie jedes Jahr seinen Sommerurlaub verbringt. Schäuble erläutert Geithner, er sei bereit, Griechenland aus der Währungsunion auszuschließen, weil sich das Land partout nicht an die Regeln halte. Geithner ist schockiert, denn er ist sich sicher: Das wird die Krise noch verschärfen. So beschreibt es Geithner in seinen Memoiren. Sie offenbaren ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der deutschen wirtschaftspolitischen Debatte: die Bedeutung von Anreizwirkungen. Während insbesondere Amerikaner und Franzosen wiederholt auf Interventionen zur Beruhigung der Lage an den Finanzmärkten drängten, argumentierte die Bundesregierung, dadurch würde Fehlverhalten belohnt und das Fundament für eine neue Krise gelegt werden. Die Angst vor Fehlanreizen durch großzügig bemessene Hilfsmaßnahmen zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Krisenpolitik: In den Verhandlungen über das erste Unterstützungsprogramm für Griechenland im Frühsommer 2010 etwa drängte Berlin auf besonders drastische Sparauflagen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Durch die restriktive Ausgestaltung des Programms sollte verhindert werden, dass andere Krisenländer ebenfalls finanzielle Unterstützung einforderten. Die Ablehnung von Schuldenerleichterungen für Griechenland wurde von der Bundesregierung unter anderem damit begründet, dass im Fall großzügiger Nachlässe in Portugal oder Spanien ähnliche Forderungen gestellt würden. Und als die Europäische Zentralbank im Januar 2015 dem Vorbild anderer großer Notenbanken folgte und ankündigte, durch den Ankauf von Staatsanleihen das langfristige Zinsniveau senken zu wollen, wurde das in Deutschland auch mit dem Argument kritisiert, dass die günstigeren Finanzierungskosten den Reformdruck auf die Mitgliedstaaten vermindern würden. Die Anreizproblematik prägte auch in früheren Krisen die deutsche Positionierung. In den 1990er-Jahren stellte der Internationale Währungsfonds (IWF) als Reaktion auf die Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage in Lateinamerika und Asien umfangreiche Kreditpakete zusammen. Sie sollten die Abflüsse an privatem Kapital ausgleichen, die die Stabilität der Banken in den betroffenen Ländern bedrohte. Im Fall Mexikos und Indonesiens summierten sich die Hilfen auf fast 20  Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die nicht zuletzt auf Drängen der amerikanischen Regierung verabschiedeten Maßnahmen wurden von der Bundesbank – die zusammen mit dem Bundesfinanzministerium für die Beziehungen Deutschlands zum Währungsfonds zuständig ist – in scharfer Form kritisiert. Die gewählte Strategie sei »unter stabilitätspolitischen

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Gesichtspunkten höchst bedenklich«, heißt es in einem Aufsatz im Monatsbericht vom September 2000. Die Anreizstrukturen würden »in Richtung eines risikoreicheren Verhaltens verzerrt« und das mache »künftige Finanzkrisen« wahrscheinlicher.4 Diese vom ehemaligen amerikanischen Finanzminister Timothy Geithner als »Moral-Hazard-Fundamentalismus« bezeichnete Haltung lässt sich in dieser Form in kaum einem anderen Industriestaat beobachten.

K eine E xperimente Im Februar 2008 reist Dominique Strauss-Kahn nach Indien. Der geschäftsführende Direktor des IWF soll dort eine Rede halten – und Strauss-Kahn nutzt die Gelegenheit für die Ankündigung eines radikalen Kurswechsels. Er fordert die Staatengemeinschaft auf, im Rahmen eines »zielorientierten fiskalischen Stimulus« die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stützen. Eine Ausführung, die eine Abkehr von der finanzpolitischen Orthodoxie markiert, die über Jahrzehnte hinweg die Politik des IWF geprägt hatte – und die von den meisten Ökonomen geteilt wurde. Die Anwendung geld- und finanzpolitischer Instrumente zur Steuerung der Konjunktur erfuhr auf diese Weise eine weltweite Renaissance. In mehreren Länderberichten forderte der Fonds auch Deutschland dazu auf, Spielräume in den öffentlichen Haushalten für mehr Investitionen zu nutzen, selbst wenn es dadurch zu einer Ausweitung der staatlichen Kreditaufnahme komme. In Deutschland stößt ein solches Vorgehen weiterhin auf Vorbehalte. Zwar hat die Bundesregierung auf dem Höhepunkt der internationalen Finanzkrise ebenfalls zwei Konjunkturpakete aufgelegt. Als die Krise die europäische Währungsunion erreichte, wurde im Einklang mit der eingangs beschriebenen Interpretation der Krise als Staatsschuldenkrise die Stabilisierung der Nachfrage dem Ziel der fiskalischen Konsolidierung jedoch untergeordnet. Im weiteren Krisenverlauf wuchs die Skepsis gegenüber expansiven Politikmaßnahmen. Insbesondere Finanzminister Wolfgang Schäuble wandte sich wiederholt gegen die – aus seiner Sicht – mechanistische Vorstellung, der Staat könne eine Nachfragelücke durch expansive Politikmaßnahmen ausgleichen. Zinssenkungen seien als problematisch anzusehen, weil sie den Boden für neue spekulative Übertreibungen an den Finanzmärkten bildeten. Staatliche Ausgabenprogramme könnten das Wirtschaftswachstum sogar bremsen, wenn Unternehmen und Verbraucher durch den Anstieg der Verschuldung verunsichert würden. Und niedrige Zinsen würden auch spekulative Übertreibungen an den Finanzmärkten verursachen. Die deutsche Politik betonte deshalb die Notwendigkeit, durch strukturelle Reformen die Voraussetzungen für ein langfristig nachhaltiges Wachstum zu schaffen. Solche Reformen könnten – obwohl sie möglicherweise mit Leis-

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tungskürzungen einhergingen – auch kurzfristig wirken, wenn dadurch das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zunehme. Diese Sichtweise wird in Deutschland von den meisten wirtschaftspolitischen Beratungseinrichtungen geteilt. Der Sachverständigenrat etwa schreibt in seinem Jahresgutachten 2015, eine Lockerung des Sparkurses in den Krisenländern würde »die Glaubwürdigkeit und angebotssteigernde Wirkung der Konsolidierung gefährden«. Aus diesem Grund seien auch »neue schuldenfinanzierte Ausgabenprogramme in Deutschland« abzulehnen.5 Wie groß der Graben zwischen Deutschland und dem Rest der Welt in der Fiskalpolitik ist, zeigt die Aussage von Olivier Blanchard, ehemals Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, er habe in seiner Amtszeit unzählige Male die »Hoover-German line« (der damalige amerikanische Präsident Herbert Hoover setzte während der großen Depression in den USA eine rigide Finanzpolitik durch) bekämpfen müssen, nach der eine Rückführung der Budgetdefizite für sich genommen stimulierend auf die Wirtschaft wirke.6

M y thos W eltmark t Im Januar 2013 ist Angela Merkel Gast auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Es geht wie so häufig in diesen Tagen um die Zukunft Europas. Die Eurostaaten könnten nur wachsen, »wenn sie auch Produkte anbieten, die global verkäuflich sind«, sagt die Kanzlerin. Deshalb sei das Thema Wettbewerbsfähigkeit »wichtig«. Dass nur der Export echten Wohlstand schaffe, ist eine Sicht, die in Deutschland verbreitet ist. Im Regierungsprogramm von CDU und CSU für die Bundestagswahl 2013 etwa steht, Europa müsse »seine Chancen auf den internationalen Märkten sichern« und deshalb einen »Pakt für Wettbewerbsfähigkeit« beschließen. Dieser Ansicht liegt die Annahme zugrunde, ein Land könne wie ein Unternehmen neue Märkte erobern, wenn es seine Kosten – in diesem Fall zumeist die Lohnkosten – senke. Auch deshalb gehört die Forderung nach Lohnkürzungen zum zentralen Instrumentarium der deutschen Krisenpolitik. In der internationalen Debatte wurde allerdings wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Strategie in einem großen Wirtschaftsraum wie der Eurozone sehr schnell an ihre Grenzen stößt. In kleinen oder sehr offenen Volkswirtschaften kann es bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit unter Umständen funktionieren, über niedrige Löhne die Konjunktur zu stützen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Vorteile im Exportgeschäft nicht aufgrund der durch niedrige Lohnsteigerungen ausgelösten Nachteile im Binnenmarkt wettgemacht werden. In Deutschland mit einer Exportquote von 46 Prozent ist das der Fall.

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Mit einem Anteil der Güterexporte an der Wirtschaftsleistung von 19,5 Prozent gleicht die Währungsunion eher den USA oder Japan als Deutschland. Sie ist, wie die Europäische Zentralbank schreibt, im Vergleich zu den einzelnen Mitgliedstaaten »eine viel geschlossenere Volkswirtschaft« und verkauft den weitaus größten Teil ihrer Waren an sich selbst und nicht an das Ausland. Das bedeutet aber auch, dass sich eine Verbesserung der externen Wettbewerbsfähigkeit nicht so positiv auf die Gesamtwirtschaft auswirkt wie im Fall Deutschlands. Der Kontinent ist ökonomisch betrachtet schlicht zu groß, um sich durch Lohndumping auf Kosten seiner Handelspartner zu sanieren – zumal sich diese schon gegen den bloßen Versuch wehren würden. Die Amerikaner etwa beobachten die wachsenden Außenhandelsüberschüsse der Europäer bereits mit Argwohn und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Gegenmaßnahmen ergreifen. Sie könnten etwa den Marktzugang für europäische Produkte erschweren oder ihre Währung abwerten. Der niederländische Politikwissenschaftler Matthias Matthijs kommt in seiner Analyse der deutschen Krisenpolitik zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung die Rolle eines coercive hegemon übernommen habe. Deutschland könne seinen Führungsanspruch in Europa nur durch Zwangsmittel – wie die Strafe des Entzugs finanzieller Hilfen oder die Drohung mit dem Ende der Mitgliedschaft in der Währungsunion – aufrechterhalten, weil die deutsche Sicht der Krise von den meisten anderen europäischen Staaten nicht geteilt werde. Er vergleicht die Rolle Deutschlands mit den USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg als benevolent hegemon zur globalen Führungsmacht aufsteigen konnten, weil amerikanische Politikvorstellungen in vielen westlichen Ländern als den eigenen nationalen Interessen dienlich empfunden wurden. Matthijs leitet daraus die Prognose ab, dass die deutsche Vormachtstellung in Europa nicht von Dauer sein könne. Eine allein auf Zwang basierende Ordnung sei auf lange Sicht instabil.7 Warum aber sind die Deutschen anders als die anderen?

I deen Die deutsche wirtschaftspolitische Debatte ist nicht verständlich ohne eine Beschäftigung mit ihrem dogmengeschichtlichen Fundament: dem Ordoliberalismus. Seine Geschichte geht zurück auf eine Gruppe von Ökonomen um Walter Eucken, Alexander Rüstow und Franz Böhm, die in den 1930er-Jahren nach einer Antwort auf die unübersehbaren Krisenphänomene der kapitalistischen Produktionsweise suchten. Sie fanden sie in einer Art drittem Weg zwischen Planwirtschaft sowjetischer Prägung und radikalem Liberalismus. Nach den Vorstellungen der Ordoliberalen ist einerseits eine staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik zum Scheitern verurteilt, weil der Staat nicht über die Informationen und die Durchsetzungsmacht verfügt, die nötig wären, um

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wirtschaftliche Prozesse zentral zu lenken. Auf der anderen Seite würde eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft zu einer Konzentration wirtschaftlicher und damit auch politischer Macht durch Kartellbildung und Fusionen führen. In den Worten Euckens: »Zwischen amerikanischen Trusts und russischen zentralen Planstellen besteht nur ein kleiner Unterschied.« Die Aufgabe der Wirtschaftspolitik bestehe deshalb vor allem darin, einen Ordnungsrahmen zu entwickeln, der dafür sorgt, dass das Wirken marktwirtschaftlicher Kräfte am Ende dem Wohle aller dient. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Haftungsprinzip, also die Idee, dass Marktteilnehmer für ihr Handeln die volle Verantwortung tragen und sich dieser im Schadensfall nicht entziehen können. Obwohl der Ordoliberalismus dem Liberalismus zugeordnet werden kann, spielt der Staat in ordoliberalen Konzeptionen eine zentrale Rolle, wie es die Forderung Alexander Rüstows nach einem »starken Staat […] oberhalb der Wirtschaft, da, wo er hingehört« deutlich macht. Im Zentrum ordnungspolitischer Konzeptionen steht dabei – zum Teil historisch bedingt – zwar zumeist der faire Wettbewerb und der Kampf gegen Monopole. Eucken sieht darüber hinaus jedoch auch die Notwendigkeit sozialpolitischer Maßnahmen beziehungsweise von »Vorkehrungen, um Lücken auszufüllen und Härten zu mildern« – ein Gedanke, der von Wissenschaftlern wie Alfred Müller-Armack, unter Ludwig Erhard Leiter der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium und Mitbegründer des Programms der Sozialen Marktwirtschaft, ausführlicher aufgegriffen wurde.8 Heute gibt es an deutschen Universitäten praktisch keine Lehrstühle für Ordnungspolitik mehr und auch deutsche Ökonomen werden mittlerweile daran gemessen, ob sie Publikationen in internationalen Fachzeitschriften unterbringen, die sich mit dem Ordoliberalismus allenfalls in wirtschaftshistorischer Hinsicht befassen. Dennoch sind in der wirtschaftspolitischen Debatte ordoliberale Prinzipien bis heute extrem wirkungsmächtig – und zwar über Parteigrenzen hinweg. Sie haben sich tief in das institutionelle Gedächtnis zentraler wirtschaftspolitischer Institutionen wie Bundesbank und Sachverständigenrat eingeprägt und üben nach wie vor über wissenschaftliche Beiräte in den Ministerien und handelnde Politiker großen Einfluss auf die praktische Politik aus. Wenn deutsche Ökonomen geldpolitische oder fiskalpolitische Interventionen zur Stabilisierung der Konjunktur ablehnen, dann hat das immer auch mit einem generellen, aus der ordoliberalen Tradition herrührenden Unbehagen gegenüber jeder Form der Prozesspolitik zu tun. Auch die deutsche Betonung von Anreizen und der Glaube an die Bindungswirkung von Regeln haben ihre Wurzeln im Ordoliberalismus: Stabilitätspakt und Fiskalpakt sind aus deutscher Sicht der Versuch, auf europäischer Ebene einen staatlichen Rahmen für wirtschaftliches Handeln zu definieren. Der europäischen Integration standen viele Ordoliberale aufgrund der europäischen Wirtschaftsverfassung mit ihrer Betonung wirtschaftlicher Freiheits-

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rechte zunächst aufgeschlossen gegenüber.9 Fast allen ordoliberalen Strömungen liegt ein skeptisches Menschenbild zugrunde, das stark die Fehlbarkeit politischer Entscheidungsträger – etwa ihre Anfälligkeit für Lobbyinteressen und Parteitaktik – betont. Deshalb haben die Ordoliberalen generell wenig Vertrauen in die Rationalität politischer Prozesse, was sich auf politischer Ebene in einer gewissen Reserviertheit gegenüber den Verfahren der demokratischen Willensbildung äußert. Mit der Ausweitung der gemeinschaftlichen Kompetenzen auf Bereiche des Umweltschutzes und der Sozialgesetzgebung änderte sich die Einstellung gegenüber den Organen der EU, die nun zunehmend als Bedrohung für die wirtschaftliche Freiheit empfunden wurden. Diese ablehnende Haltung hat sich in der Krise noch einmal verschärft. Eine Vergemeinschaftung von Risiken zum Beispiel in Form von Eurobonds wird beispielsweise als problematisch angesehen, weil sie das Verantwortungsprinzip aushöhlen könnte: Während die finanzpolitische Kontrolle in nationaler Hand verbleibt, wird die Haftung zentralisiert. Für ein mögliches Fehlverhalten einzelner Mitgliedstaaten müssten damit schlimmstenfalls alle an der Währungsunion teilnehmenden Länder aufkommen. So besteht aus Sicht der Bundesbank das größte Risiko für die Stabilität der Währungsunion darin, dass »einerseits die gemeinschaftliche Haftung ausgebaut und so der vorhandene institutionelle Rahmen deutlich gedehnt wird, andererseits die Kontroll- und die Eingriffsmöglichkeiten aber dahinter zurückbleiben«.10 Der Ordoliberalismus entzieht sich dennoch den international gängigen wirtschaftspolitischen Schemata. Sein international konservatives Image verdankt er der Ablehnung diskretionärer Eingriffe. In der angelsächsischen Tradition zählt eine aktivistische Konjunktursteuerung zu den zentralen Merkmalen progressiver Strömungen, während ordoliberalen Ansätzen in vielen Fällen jede makroökonomische Dimension fehlt.11 Allerdings wird in der linken Kritik des neoliberalen Gedankengebäudes das progressive Potenzial dieser Strömung in der Regel kaum wahrgenommen. So lässt der Ordoliberalismus beispielsweise eine umverteilende Sozialpolitik wie bereits angedeutet durchaus zu – solange diese Umverteilung nicht diskretionär erfolgt, sondern Teil des Ordnungsrahmens ist (etwa in Form von Steuerfreibeträgen oder an das Einkommensniveau gebundenen Transferleistungen). Ein Teil der Verständigungsschwierigkeiten zwischen deutschen und internationalen Ökonomen lässt sich deshalb wohl auch aus unterschiedlichen Sozialstaatsmodellen erklären, die in der Auseinandersetzung implizit mitgedacht werden. In den angelsächsischen Staaten mit ihren tendenziell geringen sozialen Absicherungsniveaus kommt der Stabilisierung der Wirtschaft durch Geld- und Finanzpolitik eine viel größere Bedeutung zu als in der Bundesrepublik, wo der Sozialstaat im Krisenfall eine Mindestabsicherung garantiert. Deshalb steht die amerikanische Politik unter einem erheblich höheren Druck, in Krisensituationen schnell mit makroökonomischen Instrumenten gegenzusteuern.

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Es wäre zumindest zu diskutieren, ob das aus einer progressiven Perspektive automatisch immer zu besseren Ergebnissen führt.

I nteressen So wichtig gerade in Deutschland die wirtschaftspolitische Tradition ist – sie alleine kann deutsche Krisenpolitik nicht erklären. Politische Auseinandersetzungen finden schließlich nicht im luftleeren Raum statt, sie werden von Interessen getrieben (wobei unter Interessen hier das verstanden werden soll, was die handelnden Akteure als ihr Interesse empfinden, und nicht, was möglicherweise aus einer Beobachterperspektive als Interesse definiert werden kann). Die Besonderheiten der deutschen Debatte lassen sich deshalb auch auf die Besonderheiten der deutschen Wirtschaftsstruktur zurückführen. Deutschland unterscheidet sich von den Krisenstaaten durch seinen enormen Ersparnisüberschuss, der sich in einem positiven Leistungsbilanzsaldo in Höhe von fast zehn Prozent der Wirtschaftsleistung niederschlägt. Die Peripheriestaaten hingegen wiesen bis zuletzt Leistungsbilanzdefizite auf; sie sparten also weniger als sie investierten und mussten unter dem Strich Kapital aus dem Ausland importieren. Eine Senkung des Leitzinses wirkt sich auf ein Überschussland anders aus als auf ein Defizitland – zumal, wenn wie in Deutschland die Sparer einen großen Teil ihres Vermögens in festverzinslichen Wertpapieren angelegt haben und ein vergleichsweise geringer Anteil der Bevölkerung über Immobilienbesitz verfügt und dadurch über den Mechanismus steigender Immobilienpreise von den niedrigen Zinsen profitiert. Es ist vor diesem Hintergrund nicht ungewöhnlich, dass die Krisenpolitik der EZB in Deutschland kritischer gesehen wird als in anderen Staaten der Währungsunion. Das gilt umso mehr, als ein Land wie Deutschland, in dem annähernd Vollbeschäftigung herrscht und die Staatsschuldenquote seit Jahren stetig sinkt, die Notwendigkeit einer makroökonomischen Stimulierung der Wirtschaft anders sieht als ein Staat wie Griechenland mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent. Die ökonomische Debatte wird zudem von dem spezifisch deutschen Branchenmix beeinflusst. Die hohe Exportabhängigkeit und die erhebliche internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft haben dazu geführt, dass im Exportgeschäft tätige Unternehmen, etwa in der Automobilindustrie, sich im politischen Betrieb leichter Gehör verschaffen können als beispielsweise Dienstleistungsbetriebe. Das erklärt auch, weshalb die internationale Kritik am hohen deutschen Exportüberschuss – die Kehrseite des Ersparnisüberschusses – in Deutschland selbst kaum Widerhall findet.

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E rfahrungen Die EU ist in ihrem Kern ein Beispiel für ein Mehrebenensystem mit einem komplexen Gefüge aus horizontalen und vertikalen Entscheidungslinien. Das eher vorsichtige Agieren Deutschlands lässt sich auch damit begründen, dass ganze Generationen von deutschen Politikern und Ökonomen Erfahrungen mit den Problemen des Regierens in solchen Systemen gesammelt haben: durch den politischen Alltag im deutschen Föderalismus. Die Beziehungen zwischen Bund und Ländern weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Währungsunion und der europäischen Ebene auf. Sie zeichnen sich einerseits durch ein hohes Maß an Risikoteilung in der Finanzierung aus, weil sich die Finanzierungskosten der Länder nur minimal von denen des Bundes unterscheiden und mit dem Länderfinanzausgleich ein Transfermechanismus existiert. Zugleich verfügen die Länder andererseits in einigen Politikbereichen über eine beträchtliche Autonomie. Die deutsche Debatte über eine Vergemeinschaftung von Risiken in Europa ist von der Erfahrung geprägt, dass sich diese Dichotomie als problematisch herausgestellt hat und Länder wie Bremen oder das Saarland zu Dauerempfängern von Transferleistungen wurden. In zentralistischen Staaten wie Frankreich spielen solche Überlegungen kaum eine Rolle; sie sind auch in föderalen Staaten mit mehr wettbewerblichen Elementen wie den USA nicht so präsent wie in Deutschland. Die scharfe Ablehnung von Eurobonds und anderen Instrumenten der Risikoteilung ist demnach auch ein Ergebnis der ungelösten Probleme im deutschen Föderalismus.

W as tun ? Im Jahr 2011 machte der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten einen bemerkenswerten Vorschlag: Er plädierte dafür, einen Teil der Altschulden der Mitgliedstaaten der Währungsunion in einen Schuldentilgungsfonds mit gemeinschaftlicher Haftung auszulagern und allmählich abzubauen, was für die Südländer mit einem erheblichen Zinsvorteil verbunden gewesen wäre. Im Gegenzug müssten die teilnehmenden Staaten Sicherheiten hinterlegen und verbindliche Konsolidierungspläne verabschieden.12 Bemerkenswert ist dieser Vorschlag, weil er durch die Risikoteilung ein klar progressives Element enthält, aber vom stark durch ordoliberale Ideen geprägten Sachverständigenrat ausgearbeitet wurde, der dafür von konservativen Ökonomen auch kritisiert wurde. Obwohl der Schuldentilgungsfonds nicht umgesetzt wurde, lässt sich aus seiner Genese eine wichtige Lehre ziehen: Auch der deutsche ökonomische Mainstream lässt sich für progressive Ansätze gewinnen, wenn in diesen

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neben kurzfristigen Stabilisierungszielen auch die langfristige Anreizproblematik berücksichtigt wird. In den vergangenen Jahren sind nicht nur im Rat, sondern auch in der Bundesbank, in den Ministerien und in den großen Wirtschaftsforschungsinstituten Ökonom_innen in entscheidende Positionen gekommen, die – bei aller Skepsis gegenüber angelsächsischen Denkansätzen – ein Interesse an der Lösung von Problemen haben und deshalb eine gewisse Offenheit für innovative Ideen mitbringen. Die Bundesbank etwa hat neben der Rückbesinnung auf den Vertrag von Maastricht und dem Prinzip der Eigenverantwortung auch die aus ihrer Sicht ebenfalls anreizkompatible Alternative einer »echten Fiskalunion« mit einem weitreichenden Verzicht auf nationale Souveränität ins Spiel gebracht – und zugleich die deutsche Lohnpolitik angesichts des Preisstabilitätsziels der Europäischen Zentralbank als nicht ambitioniert genug charakterisiert. Vor diesem Hintergrund wäre beispielsweise die Forderung nach einer europäischen Fiskalkapazität durch das Eintreten für eine europäische Steuerungskapazität zu ergänzen, damit Haftung und Kontrolle nicht auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und die Konsistenz des Handlungsrahmens gewahrt bleibt. Vielleicht liegt in der Zusammenführung ordnungspolitischer und progressiver Elemente sogar eine Chance, die Debatte über die Zukunft der Währungsunion aus ihren ideologischen Gräben zu holen und in eine produktive Richtung zu lenken.

A nmerkungen 1 | Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011): Verantwortung übernehmen. Jahresgutachten 2011/2012. 2 | Baldwin, Richard et al. (2015): Rebooting the Eurozone. Step I – Agreeing a Crisis Narrative. Policy Insight 85, Center for Economic Policy Research. 3 | Feld, Lars et al. (2016): Causes of the Eurozone Crisis: A Nuanced View. VoxEU (22.3.2016). 4 | Bundesbank (2000): Die Rolle des Internationalen Währungsfonds in einem veränderten weltwirtschaftlichen Umfeld. Monatsbericht September 2000. 5 | Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2015): Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt. Jahresgutachten 2015/2016. 6 | Blanchard, Olivier (2016): How to Teach Intermediate Macroeconomics After the Crisis. Real Time Economics Watch (2.6.2016), Peterson Institute for International Economics. 7 | Matthijs, Matthias (2015): Reading Kindleberger in Washington and Berlin. Ideas and Leadership in a Time of Crisis. Annual Meeting Paper, APSA, 2014. 8 | Eucken, Walter (2004): Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Stuttgart: UTB.

5. Mark Schierit z — Deutscher Sonder weg? 9 | Joerges, Christian (2010): Europa nach dem Ordoliberalismus: Eine Philippika. Postneoliberale Rechtsordnung. Suchprozesse in der Krise, in: Juridikum 4/2010. 10  | Bundesbank (2015): Ansätze zur Stärkung des Ordnungsrahmens der Europäischen Währungsunion. Monatsbericht März 2015. 11 | Bofinger, Peter (2016): German Macroeconomics. The Long Shadow of Walter Eucken. VoxEU (7.6.2016). 12 | Sachverständigenrat (2011).

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6. Wer fordert was?

Ein Mapping politischer Akteure und ihr Einfluss



auf die Währungsunion

Björn Hacker, Cédric M. Koch

E inleitung Die Aufgeregtheit der Debatten rund um die Krise der Eurozone erweckt immer wieder aufs Neue den Eindruck, als handele es sich bei den Diskussionen um nie dagewesene Kontroversen. Wenn im Folgenden die Positionen der zentralen Akteure des innerdeutschen Diskurses um eine Reform der Eurozone vorgestellt werden, wird sich jedoch zeigen: Ein Grundstein der identifizierbar scharfen Trennung zwischen Befürwortern einer Stabilitätsunion und Anhängern einer Fiskalunion wurde bereits sehr früh gelegt. Ausgetragen wird nämlich ein alter Konflikt der Wirtschaftspolitik um den Glauben an die regelbasierte Selbstdisziplinierung des Marktes einerseits und die Überzeugung staatlicher Marktkorrektur und -gestaltung andererseits. Bereits in der Gründungsphase der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurde sichtbar, wie gegensätzlich sich diese zwei Wirtschaftsparadigmen in Europa gegenüberstanden. Für den ersten Anlauf zu einer Währungsunion – den Werner-Plan von 1970 – kann von einer Dominanz keynesianisch inspirierter Wirtschaftssteuerung gesprochen werden. Vorgesehen waren etwa eine Synchronisierung nationaler Haushaltsverfahren, die steuerliche Harmonisierung und eine Koordinierung der Konjunkturpolitik durch ein wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium auf Gemeinschaftsebene. Dagegen spricht zwar der vom damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors 1989 vorgelegte Bericht für einen neuen Anlauf zur 1999 umgesetzten WWU von der Notwendigkeit eines makroökonomischen Rahmens und gemeinschaftlicher Politik, zugleich rückt jedoch das monetaristisch-ordoliberale Argument budgetärer Disziplinierung nationaler Fiskalpolitiken in den Mittelpunkt.1 In der innerdeutschen Debatte ist unschwer eine seit Langem existierende Mehrheitsposition für die regel- und marktbasierte Version eines transnatio-

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Teil II: Politik, Macht, Ideen

nalen Währungsraumes auszumachen (vgl. Kapitel von Mark Schieritz). Zwar haben einzelne Stimmen wiederholt auf die Gefahren einer währungspolitischen Vergemeinschaftung bei national belassenen Fiskalpolitiken hingewiesen. Abgesehen von einem kurzen Streit um das budgetpolitische Regelwerk im Zuge der Verletzung des Stabilitätspakts 2002 bis 2005 durch Deutschland, kann die innerdeutsche Debatte um die Architektur der WWU bis zum Beginn der Krise in der Eurozone im Jahr 2010 allerdings als ruhig eingestuft werden. Vereinzelt durch europäische Partnerländer angemahnte größere Reformvorhaben wurden von deutscher Seite abgeblockt. Als im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 der französische Präsident und amtierende EU-Ratsvorsitzende Nicolas Sarkozy einen gemeinsamen Bankenrettungsschirm und eine europäische Wirtschaftsregierung forderte, fand dies wenig Widerhall in Deutschland. Die von italienischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments zur gleichen Zeit lancierte Initiative für eine Einführung der einst von Jacques Delors vorgeschlagenen gemeinsamen europäischen Anleihen für große Infrastrukturprojekte, für die sich auch Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker aussprach, wurde in Deutschland von Vertretern der Bundesbank und in der Bundesregierung von Angela Merkel zurückgewiesen. Bevor sich eine öffentliche Debatte hierum bilden konnte, wurde die Idee auch vonseiten der Europäischen Kommission im Frühjahr 2009 beerdigt. Selbst eine Initiative der französischen Regierung für eine Stärkung der Eurogruppe durch regelmäßige gemeinsame Treffen wurde noch 2009 von deutscher Seite gebremst. In der Krise bricht das tradierte Schisma zwischen den Verfechtern einer Stabilitäts- und den Anhängern einer Fiskalunion jedoch wieder auf 2 und wird ergänzt durch die neue Position einer Rückabwicklung der WWU. Alle drei Akteurslager und ihre Argumente werden im nächsten Kapitel vorgestellt. Im Anschluss werden auf dieser Grundlage Bestimmungsfaktoren für eine im deutschen Diskurs tragfähige Reform der Eurozone und die Stabilität eines Verbleibs beim Status quo diskutiert.

P ositionierungen zur R eform der WWU in D eutschl and Während das Lager der Stabilitätsunion das bisherige Modell der Währungsunion fortschreiben und in Reichweite und Lückenlosigkeit verstärken will, strebt die Seite der Fiskalunion die Entwicklung bisher fehlender komplementärer Institutionen und Instrumente zum existierenden Modell an. Darüber hinaus hat sich über die Dauer der Krise in der Eurozone ein heterogenes Feld von prinzipiellen Kritikern der Währungsunion formiert, das im Kern die (teilweise) Rückabwicklung der Währungsintegration vertritt.

6. Björn Hacker, Cédric M. Koch — Wer forder t was?

Weiter so! Zentrale Anhänger einer Stabilitätsunion Die Hoheit innerhalb der deutschen Akteurslandschaft haben unbestreitbar die Befürworter einer Stabilitätsunion inne – angeführt durch die beiden Regierungen unter Angela Merkels CDU. Angestoßen unter Schwarz-Gelb, setzte sich die konsequente Linie der Bewahrung, Vertiefung und Verstärkung der Stabilitätsunion auch in der Großen Koalition ab 2013 fort. Unter den Schlagworten »Haushaltskonsolidierung und wachstumsfreundliche Strukturreformen« wurde bereits früh in der Krise eine Doppelstrategie ausgerufen und seitdem verfolgt, welche sich in den Kreditverhandlungen mit den sogenannten Krisenstaaten in dem Diktum der »Solidarität nur mit Solidität« niederschlägt. Auf der einen Seite ist in dieser Strategie der Erhalt der Währungszone unabdinglich, der von Merkel selbst mit den Worten »scheitert der Euro, dann scheitert Europa« ins Existenzielle zugespitzt wurde. Auf der anderen Seite ist für das Regierungslager jedoch die Ablehnung jeglicher Form von finanzieller Vergemeinschaftung unverrückbar – beispielhaft die Aussage der Kanzlerin, es werde keine Eurobonds geben, solange sie lebe – sowie das Pochen auf strikte Konditionalität bei den zum Erhalt des Euro unvermeidbar gewordenen Rettungsschirmen. Die Grundursachen der Krise in der Eurozone sind in dieser Sicht in der mangelnden Befolgung der existierenden Regeln und dem wettbewerbsschädlichen Wirtschaften der Krisenstaaten verortet. Diese vermeintlich »falsche« Politik in den Ländern zu korrigieren und eventuelle Schlupflöcher im europäischen Regelwerk zu stopfen, sind demnach vorrangige Ziele bei der Krisenbekämpfung und Weiterentwicklung der Eurozone. Bereits durchgesetzt wurden in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Maßnahmen, von der Einführung nationaler Schuldenbremsen durch den Fiskalpakt über die deutliche Automatisierung und neue Sanktionskomponenten der Schuldenregeln bis hin zur Festschreibung von wettbewerbsfördernden Strukturreformen und fiskalischer Konsolidierung im Euro-Plus-Pakt und im Europäischen Semester sowie deren zur Not zwanghafte Durchsetzung im Rahmen der Kredithilfeprogramme. Darüber hinaus stehen nach wie vor weitere Reformen zur Diskussion, etwa ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten sowie Instrumente für verstärkte Eingriffe in die nationale Wirtschaftspolitik auch außerhalb der Programme des Europäischen Stabilitätsmechanismus, wie etwa die sogenannten Vertragspartnerschaften für Strukturreformen zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Kommission. Schlüsselakteure auf Regierungsseite waren und sind in beiden MerkelRegierungen das Bundeskanzleramt als Koordinationsstelle der Europapolitik sowie das Finanzministerium unter Leitung von Wolfgang Schäuble. Dies ist im Falle des Finanzministeriums vor allem eine Frage der Ressortzuständigkeit – schließlich geht es bei der Eurozone um die Währung und um die Frage nach der Verwendung deutschen Steuergeldes. Die zentrale Rolle des Bundes-

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kanzleramts erklärt sich zu großen Teilen dadurch, dass alle maßgeblichen Foren und Entscheidungen in der Krise der Eurozone auf Ebene der Staats- und Regierungschefs verhandelt wurden und werden. Nur zwischenstaatliche Verträge auf höchster Ebene waren dazu imstande, in der notwendigen Schnelligkeit und unter halbwegs handhabbaren Anzahlen von Verhandlungspartnern weitreichende Entscheidungen zu treffen. Obwohl keineswegs prinzipiell undenkbar, wurde die von Kanzleramt und Finanzministerium vorgegebene Linie nicht offensiv kritisiert oder moderiert durch aktive Einlassungen seitens anderer wichtiger Akteure in der Regierung. Unter Schwarz-Gelb überließ etwa das von Guido Westerwelle geführte Auswärtige Amt die Europapolitik nahezu gänzlich den beiden CDU-geführten Institutionen, während das FDP-Wirtschaftsministerium unter Rainer Brüderle den eingeschlagenen marktbasierten Kurs aktiv stützte und sich unter Philipp Rösler bezüglich Themen der Währungsunion eher in Zurückhaltung übte. Diese Grundlinie, nach der andere Ressorts im wirtschaftlichen Feld der Europapolitik der CDU das Feld überließen, setzte sich auch in der Großen Koalition größtenteils fort. Die CSU als bayerische Schwesterpartei der CDU nimmt in beiden Koalitionsregierungen eine punktuelle Mahnerrolle ein und fordert teilweise lautstark, in der Reform der Eurozone bloß keine Elemente einer Transfer- oder Haftungsunion zuzulassen. Im Ton zwar deutlich schriller und stärker mit Ressentiments gegen die »Südstaaten« aufgeladen, stützte die CSU letztlich allerdings immer den eingeschlagenen Kurs der Kanzlerin und sah sich eher als Korrektiv gegen zu große Zugeständnisse an europäische Partner. Als gewichtige Unterfütterung dieser konsequenten Regierungslinie diente und dient eine ganze Reihe von Akteuren aus Wissenschaft, Medien, ökonomischer Praxis und Gesellschaft, vor allem aus der Riege der Arbeitgeberverbände. Großer Einfluss auf den ökonomischen Diskurs in Deutschland kann dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – den sogenannten Wirtschaftsweisen – zugerechnet werden, welcher zu den Hauptarchitekten und Unterstützern der Merkel’schen Europolitik zählt. In weiten Teilen in der ordoliberalen Tradition verankert, lieferte er die theoretische und ökonomische Rechtfertigung und Begründung sowohl für die spezifische Ursachenanalyse der Krise der Eurozone als auch für den daraus abgeleiteten Reformkurs im Sinne einer Konsolidierung und Verstärkung der Stabilitätsunion. Auch weitere wichtige Wirtschaftsinstitute und deren Vertreter können hierzu gezählt werden, wie etwa der langjährige Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln oder die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Darüber hinaus muss in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Deutschen Bundesbank erwähnt werden, welche aufgrund der ähnlichen ökonomischen Ideologie und ihrer Position als traditioneller Hort der stabi-

6. Björn Hacker, Cédric M. Koch — Wer forder t was?

litätsorientierten Wirtschaftspolitik unterstützend in den Debatten um die Eurozonenreformen auftritt und als wichtigste währungspolitische Institution im Land und größter Anteilseigner der Europäischen Zentralbank (EZB) auch noch Gewicht in den tatsächlichen politischen Reformprozessen genießt. Stützen diese Akteure den Kurs der letzten Jahre vor allem aus ideologischer und ökonomischer Überzeugung, so treten Arbeitgeberorganisationen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder die übergeordnete Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) naturgemäß stärker interessengeleitet als Unterstützer auf. Die deutsche exportorientierte Wirtschaft profitiert als Ganzes sowohl vom offenen Binnenmarkt und den mikroökonomischen Vorteilen der einheitlichen Währung als auch von der Unterbewertung des Euro im Vergleich zu einer alternativen »Deutschen Mark 2.0«, welche die hiesigen Produkte auf dem Weltmarkt deutlich verteuern würde und so Absatzschwierigkeiten mit sich brächte – der Wille zum Erhalt der Eurozone wird daher geteilt. Auch der Fokus auf wettbewerbsfördernde Strukturreformen und deren Durchsetzung in Europa wird verständlicherweise von Arbeitgeberseite mitgetragen. Darunter fallen schließlich in den gängigen Interpretationen vor allem unternehmerfreundliche Arbeitsmarktreformen und Lockerungen der Arbeitnehmerrechte. Dies unterstützt die gleiche Perspektive, aus der heraus auch die deutschen Hartz-IV-Reformen als Schlüssel zu Deutschlands wirtschaftlichem Erfolg deklariert wurden und werden. Wenn die Eurozone nun durch Druck von außen und eine innere Abwertung durch Lohnkürzungen näher an das deutsche Exportmodell heranrückt, ist dies aus Arbeitgebersicht als zusätzliche Legitimation der arbeitgeberfreundlichen heimischen Politik ebenso zu begrüßen wie die asymmetrische Behandlung von Leistungsbilanzüberschüssen: Diese werden als weniger problematisch angesehen als entsprechende Defizite, da sie als Ausweis der durch Strukturreformen erreichten »Wettbewerbsfähigkeit« gelten. Besonders gewichtig für die Rolle dieser Akteurskonstellation aus Wissenschaft und Arbeitgebergruppen ist außerdem ihre Prominenz in der deutschen Medienlandschaft, die in weiten Teilen den Kurs der Regierung in Richtung Stabilitätsunion teilte und sich nicht fundamental kritisch dagegen positionierte. Hierfür stehen nicht nur drastische Beispiele wie die reichweitestarke BILD-Zeitung mit denkwürdigen Titelseiten wie »Ihr griecht nichts von uns!« im Frühjahr 2010, sondern auch die Kommentarspalten und Berichterstattungen von F.A.Z., Welt, FOCUS, Wirtschaftswoche oder Handelsblatt. Auch DER SPIEGEL und die Süddeutsche Zeitung trugen nicht entscheidend dazu bei, den Diskurs zu erweitern und Kritik am Regierungsansatz in der Eurozone prominenter zu machen. Erst im späteren Verlauf der Krise und in Bezug auf einzelne Themen, wie das Austeritätsdogma, hat in Teilen der Medien diesbezüglich ein Umdenken stattgefunden.

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Außerdem fällt auf, dass eine heterogene Reihe von Gruppierungen sich punktuell an für sie wichtigen Wegscheiden in die Debatte einbringt. So ist etwa der Sparkassen- und Giroverband in Deutschland ein wichtiger Spieler in den Diskussionen um die Bankenunion und genießt in seiner stilisierten Funktion als Beschützer der deutschen Sparer Gewicht in Bevölkerung und Medien. Ähnliches gilt für den Bund der Steuerzahler, welcher regelmäßig teils lautstark in die Reformdiskussionen einsteigt und speziell vor Schritten zur fiskalischen Vergemeinschaftung und vor dem Verleihen deutschen Steuergeldes an Krisenstaaten warnt. Schließlich bleibt zu erwähnen, dass auch die deutschen Gewerkschaften in der Akteurslandschaft zumindest in einer ambivalenten Position zu verorten sind. Einerseits treten sie als klare Befürworter einer alternativen Vision der Eurozone im Stile einer Fiskalunion auf (siehe nächster Abschnitt), andererseits profitieren viele Gewerkschaften, insbesondere die IG Metall und die IG BCE, von der derzeitig günstigen wirtschaftlichen Situation, welche die Währungsunion für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im industriellen und verarbeitenden Gewerbe mit sich bringt. Ein Ende der Eurozone und die damit verbundene Aufwertung der deutschen Währung würde viele exportierende Firmen und ihre Angestellten hart treffen. Speziell im Bereich der zeitweise im Raum stehenden lohnpolitischen Koordinierung innerhalb der Eurozone wandten sich Arbeitgeber und Gewerkschaften bemerkenswert geschlossen gegen eine stärkere wirtschaftspolitische Integration: Jegliche Versuche in diese Richtung wurden als Angriff auf die Tarifautonomie gewertet und daher abgelehnt – ironischerweise obwohl Einflüsse von europäischer Ebene in der derzeitigen Situation vor allem auf deutlich höhere Tarifabschlüsse und ein Ende der chronischen Lohnzurückhaltung in Deutschland drängen.

Vor wärts! Zentrale Anhänger einer Fiskalunion Angesichts der beschriebenen Phalanx der Verfechter einer Stabilitätsunion hatten und haben es die Akteure für einen fiskalischen und politischen Ausbau der Währungsunion im deutschen Diskurs schwer. Das Begreifen der Krise in der Eurozone als Manifestation eines zentralen Konstruktionsfehlers des Vertrags von Maastricht, der die Geldpolitik vereinheitlichte ohne ausreichend weitere Bereiche der Wirtschaftspolitik zu integrieren, mag in vielen anderen Ländern eine Binsenweisheit sein. In Deutschland aber lässt diese Feststellung ihre Vertreter zumindest als nonkonformistische Idealisten erscheinen, wenn nicht als fehlinformierte Geldverschwender. Eine Vervollständigung der Währungsunion zur Behebung ihrer in der Krise offen zutage tretenden Defizite sähe im Kern grenzüberschreitende Haftung und eine abgestimmte Wirtschaftspolitik für die Eurozone vor. Unschwer erkennbar wären hiermit eine Einschränkung der nationalen Souveränität und ein großes finanzielles

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Engagement Deutschlands verbunden. Aus der Position einer relativen wirtschaftlichen Stärke bleibt im öffentlichen Krisendiskurs vielen der ökonomische und politische Sinn eines Aus- und Umbaus der WWU zur Fiskalunion verschlossen. Für die Akteure, die ein Systemversagen in der Krise beheben wollen, ist ein Verbleib bei der Härtung einzelner Komponenten der existierenden WWU-Architektur dagegen nicht nachhaltig. Schon zu Krisenbeginn wurden gerade aus der deutschen Wissenschaft daher viele konkrete Vorschläge publiziert, die auf eine größer angelegte Reform der WWU setzen. Ihr Kern besteht darin, den vorherrschenden negativen beziehungsweise marktschaffenden Integrationsmodus durch Elemente der positiven beziehungsweise marktgestaltenden Integration zu ergänzen. Dabei wurde betont, wie ungenügend die Geldpolitik der EZB etwas gegen asymmetrische Schocks ausrichten könne. In Abkehr eines Vertrauens auf die mit der Austerität gewählte Anpassung makroökonomischer Ungleichgewichte durch interne Abwertung in den Krisenstaaten, wird eine tiefere fiskalische Integration für nötig erachtet. Dazu gehören konkrete Instrumente wie ein außenwirtschaftlicher Stabilitätspakt, verschiedene Formen eines europäischen Schuldenmanagements, automatische Stabilisatoren für die Eurozone in Form von Versicherungsmechanismen oder eines gemeinsamen Budgets. Um asymmetrische Schocks einzudämmen und Nachfrageausfälle zu kompensieren, werden zudem gesamteuropäische Investitionsinitiativen und eine enge Abstimmung von Lohn- und Sozialpolitiken vorgeschlagen. Da eine allein regelbasierte Koordinierung von Politiken als nicht ausreichend spezifisch und legitimiert angesehen wird, müsste es zu einer Politisierung und Demokratisierung der Eurozone kommen. In der öffentlichen Debatte in Politik und Medien wurden diese Ideen der fiskalischen und politischen Integration jedoch nur vereinzelt aufgegriffen und zumeist erst, wenn Nachbarstaaten oder die europäischen Institutionen Forderungen in diese Richtung an Deutschland herangetragen hatten. Dies lag und liegt daran, dass nur eine kleine Gruppe von keynesianisch oder heterodox arbeitenden Wirtschaftswissenschaftlern gegen die Dominanz der neoklassischen beziehungsweise ordoliberalen Lehre steht. Ihre Vertreter finden sich nur vereinzelt in den großen Forschungsinstituten und Universitäten, dafür vor allem an Hochschulen, in Think-Tanks und Stiftungen, wie etwa dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. Auch wenn sich im Verlauf der Krise immer mehr kritische Stimmen mit Vorschlägen zu Reformen in Richtung einer Fiskalunion zu Wort meldeten – zu nennen ist hier etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, aber auch politiknahe Institutionen, wie die Stiftung Wissenschaft und Politik –, bildeten sie nur eine Minderheit gegenüber jenen Forschern, die eine Stabilitätsunion als optimale Lösung für die WWU analysieren.

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Entsprechend wenig werden weder eine alternative Deutung der Krise in der Eurozone noch daraus abgeleitete Rezepte für eine progressive Veränderung der Währungsunion in den Nachrichten und Talkshows beleuchtet. Am ehesten ist es bekannten Intellektuellen gelungen, Ideen für eine Fiskalunion in den Medien zu platzieren, so etwa Jürgen Habermas, Ulrich Beck oder Gesine Schwan. Deren Rezepturen sind allerdings oftmals Makrokonzepte, die stärker den Aspekt der politischen Integration betonen und bezüglich der als notwendig erachteten ökonomischen Veränderungen allgemein bleiben. Die wissenschaftlichen Konzepte – Europäische Arbeitslosenversicherung3, zyklische Schockversicherung4, Altschuldentilgungsfonds5, Blue-Bond/Red-BondKonzept6 – sind oftmals sehr komplexe Modelle, die sich einer einfachen Darstellung in den Medien verweigern. Demgegenüber lassen sich die Positionen für eine stärkere budgetäre Überwachung und mehr wettbewerbsrelevante Strukturreformen leichter darstellen. Dennoch ist mit Blick auf die deutsche Medienlandschaft seit 2010 eine Veränderung der Berichterstattung zu beobachten. Je länger und unlösbarer die Krise in der Eurozone erscheint, desto mehr wird von der Spiegelung der wissenschaftlich und politisch dominanten Position abgerückt und desto häufiger kommen kritische Stimmen zu Wort. Dies sind bei Eruptionen der Krise wie im Sommer 2015 zunehmend Kommentatoren und Interviewpartner aus dem Ausland, wie es etwa die Financial Times Deutschland bis zu ihrer Einstellung Ende 2012 bereits zeitig praktiziert hatte. Viele Printmedien, wie etwa das Handelsblatt, DIE ZEIT oder die Süddeutsche Zeitung, stellen nun Pro- und Kontraargumente zu spezifischen Reformschritten einander gegenüber. Ohne politische Verankerung muss die mediale Spiegelung einer alternativen Betrachtung der Krise in der Eurozone aber schwach bleiben. Zwar standen zu Beginn des Krisenmanagements 2010 mit SPD, Grünen und der Linken drei Oppositionsparteien bereit, den Merkel’schen Kurs in Richtung einer Stabilitätsunion als nicht nachhaltig zu verwerfen. Die programmatische Ausrichtung der drei Parteien für einen Ausbau europäischer Kooperation bei gleichzeitiger Einhegung von Exzessen des transnationalen Marktgeschehens wie in der Finanzkrise hatte dies auch vermuten lassen. Faktisch zeigen sich die Oppositionsparteien jedoch überfordert und erkennen erst spät die Chance eines gegen die CDU/CSU/FDP-Regierung gerichteten europapolitischen Ansatzes mit dem Ziel einer Fiskalunion. Mit Verweis auf die damit einhergehende Austeritätspolitik verweigerte die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag zwar ihre Zustimmung zu den im Bundestag beschlossenen Rettungsschirmen aus Kredithilfen für die Krisenstaaten – außer bei der Verlängerung der Griechenlandhilfen im Februar 2015 aus Solidarität mit den gerade ins Regierungsamt gewählten griechischen Parteigenossen von Syriza. Zugleich gelingt es der Linken aber nicht, im politischen Diskurs ein überzeugendes Zukunftskonzept für die Eurozone zu verankern, da die Partei

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intern in Befürworter und Gegner der gemeinsamen Währung gespalten zu sein scheint. Die Fraktionen von Grünen und SPD schlingern bei den ersten Krisenbeschlüssen des Bundestages zwischen Zustimmung und Enthaltung, stützen ab 2011 bis auf wenige Abweichler jedoch den Regierungskurs. Besonders bemerkenswert ist das Verhalten der Sozialdemokratie. Sie ist es, die flankiert von der Mehrheitsmeinung der deutschen Gewerkschaften und gestützt von den meisten Wohlfahrtsverbänden, ihre Programmatik mit Krisenbeginn gezielt in Richtung Fiskalunion fortschreibt. Der einflussreiche Altkanzler Helmut Schmidt vertrat die fiskalische und politische Integration der Eurozone explizit und fungierte als Bindeglied der Partei zu einer Vielzahl an Intellektuellen, die diesen Kurs mittrugen. Auf einem Parteitag 2011 in Berlin las Schmidt unter donnerndem Applaus der sozialdemokratischen Delegierten der Krisenkanzlerin die Leviten und mahnte die historische, ökonomische und europapolitische Aufgabe der Sozialdemokratie an, dem falschen Narrativ einer Staatsschuldenkrise etwas Substanzielles entgegenzusetzen. Doch die Partei kommt dieser Aufforderung nur sporadisch nach. Zeitweise stützt sie aus der keynesianischen und heterodoxen Wissenschaft sowie den Gewerkschaften kommende Pläne, etwa für Eurobonds oder einen neuen Marshallplan als europäisches Investitionsprogramm. Sie zeigt auch Verständnis für – in Deutschland relativ klein bleibende – zivilgesellschaftliche Protestbewegungen wie Occupy, die den unregulierten Finanzmarktkapitalismus als zentrale Ursache der Krise in der Eurozone identifizieren. Doch unter dem Eindruck negativer Schlagzeilen und Umfragewerte zieht die SPD-Spitze Ideen zur fiskalischen und politischen Integration zumeist wieder zurück und verlegt sich auf vage Positionen, die sich sicher im Mehrheitsfeld und damit auch im Bereich der schwarz-gelben Regierungspolitik verorten lassen. Mit dem Eintritt in die Große Koalition 2013 legt die SPD dann alle noch im Wahlkampf mit Verve vertretenen Positionen für eine Fiskalunion zur Seite und fügt sich für die Dauer der Legislaturperiode in die stabilitätspolitische Pfadabhängigkeit. Von vereinzelten Initiativen des Bundeswirtschafts- und des -außenministers sowie des Staatsministers für Europa, zumeist in Verbindung mit ihren jeweiligen Ministerkollegen in Nachbarländern, insbesondere in Frankreich, abgesehen,7 exekutieren die SPD-geführten Ministerien in Fragen der Eurozonenreform die Vorgaben aus dem CDU-geführten Kanzleramt und dem Finanzministerium. Zusammenfassend präsentiert sich das Lager der Anhängerinnen und Anhänger einer Fiskalunion in Deutschland also als wenig konturiert. Durchaus vorhandene konzeptionelle Ansätze zur fiskalischen Integration der WWU bleiben bereits in der Wissenschaft eine Minderheitenposition und werden, da sie eine paradigmatische Abkehr vom bisherigen Krisenmanagement bedeuten würden, nur von wenigen politischen Akteuren mit Nachdruck vertreten.

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Zurück! Zentrale Befürworter eines Rückbaus der Eurozone Nicht alle Akteure in der deutschen Debatte zur Reform der Eurozone wollen entweder eine verstärkte Stabilitätsunion oder den Schwenk hin zur Fiskalunion. Komplettiert wird die Konstellation in Deutschland von einer sehr heterogenen Gruppierung, welche als notwendige Reform der Währungsunion deren teilweisen oder kompletten Rückbau fordert. Diese vor der Krise im Diskurs nicht nennenswert präsente Ansicht hat in den letzten Jahren starken Zulauf erhalten. Bei der inhaltlichen Begründung dieser Forderung stehen sich zwei diametral unterschiedliche Ansätze gegenüber: Auf der einen Seite ist dies eine konservativ-liberale Kritik an der Eurozone, nach der diese eine viel zu starke ökonomische Bindung an vermeintliche Krisen- und Schuldenstaaten aufweist und entweder bereits jetzt oder in der Zukunft eine fundamentale Bedrohung für deutsches Steuergeld darstellt. Den Souveränitätstransfer weg vom Deutschen Bundestag, welcher mit der Währungsunion einhergehe, lehnt diese Sichtweise grundsätzlich ab. Befürchtet wird eine Aushöhlung des deutschen Wirtschaftserfolgs und grundsätzlicher Stabilitätsprinzipien, etwa durch die Rettungspolitik in der Krise oder die Geldpolitik der EZB. Diese Fraktion hinterließ sicherlich die bisher größten Spuren in der Debatte. Ursprünglich vertreten von den Professoren Bernd Lucke und Joachim Starbatty sowie Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, führte dieser Ansatz zur Gründung der »Alternative für Deutschland« (AfD) und ist nach deren Aufspaltung sowohl im AfD-Grundsatzprogramm als auch in der »ALFA«-Partei verankert. Diese Akteure fordern zu unterschiedlichen Zeitpunkten wahlweise den Austritt einzelner Mitglieder (Griechenlands, der Krisenstaaten, aber auch Deutschlands) oder die Aufspaltung des Währungsraums in wirtschaftlich homogenere Teile wie etwa einen Nord- und Süd-Euro oder auch einen »Kerneuro« um Deutschland herum. Im Verlauf der Krise der Eurozone schlossen sich jedoch auch Vertreter anderer Parteien solchen Positionen an und unterstützten etwa Klagen gegen die Rettungspolitik vor dem Bundesverfassungsgericht (siehe Kapitel von Franz Mayer); im Falle des CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler führte das sogar bis hin zum Bruch mit der eigenen Partei. Auch andere Abweichler wie etwa Wolfgang Bosbach in der CDU oder Frank Schäffler in der FPD tauchten periodisch im Diskurs auf, waren jedoch trotz teilweise großer medialer Präsenz zu keinem Zeitpunkt zahlenstark genug, um den jeweiligen Regierungskurs zu gefährden. In dieser Gruppierung fällt auf, dass es bei Analyse und Forderungen vereinzelt deutliche Schnittmengen mit dem Lager der Befürworter einer Stabilitätsunion gibt. So forderten an verschiedenen Stellen auch zentrale Proponenten dieser Linie den (zeitweisen) Ausstieg einzelner Länder aus dem Euro, am prominentesten sicherlich Finanzminister Schäuble gegenüber Griechenland im Sommer 2015. Auch CSU-Mitglieder wie der bayerische Finanzminister

6. Björn Hacker, Cédric M. Koch — Wer forder t was?

Markus Söder oder der Generalsekretär und spätere Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt plädierten dafür, speziell Griechenland aus der Eurozone auszuschließen: Eine Forderung, in der sie in Teilen auch von wissenschaftlichen Vertretern wie Hans-Werner Sinn oder seinem Nachfolger als Chef des ifo-Instituts, Clemens Fuest, unterstützt werden. Auch die Attacken gegen die zum Erhalt der Währungsunion durchgeführte Politik der EZB nehmen teilweise Ausmaße an, die der Position des AfD-nahen Lagers der Eurogegner ähnelt. Geteilt werden sie unter anderen von politischen Akteuren wie dem ExBundesbankpräsidenten Axel Weber oder dem Ex-EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark, die beide aus Protest gegen die Zentralbankpolitik zurücktraten. Grundsätzlich divergierend hiervon steht dieser Flanke der Rückbaubefürworter eine vom linken politischen Spektrum herrührende Kritik an der Eurozone gegenüber. In dieser Wahrnehmung ist die Währungsunion in ihrer derzeitigen und in der Krisenpolitik verstärkten Variante einer Stabilitätsunion ein Arrangement, welches aufgrund seines marktliberalen Charakters zur Erosion nationaler Wohlfahrtsstaaten beiträgt, existierende Mechanismen zur sozialen und demokratischen Einhegung von schädlichen Marktresultaten untergräbt und den europäischen Zusammenhalt fundamental gefährdet. Kritisiert wird hierbei unter anderem die starke Privilegierung der Interessen von Marktteilnehmern wie Banken und international agierenden Firmen im europäischen Projekt sowie die Tendenz, Staaten innerhalb der Währungsunion auf einen wettbewerbsbasierten und marktkonformen Kurs zu drängen. Das Fehlen supranationaler Elemente zur Abwehr von Steuerwettbewerb und die wahrgenommene Abwertung von sozialen Gesichtspunkten und Arbeitnehmerinteressen zugunsten eines auf Deregulierung und Liberalisierung ausgerichteten Wettbewerbsmantras sind demnach ebenso problematische Resultate einer unausgegorenen Eurozone wie das starke Durchsetzen einer austeritären Fiskalpolitik und die faktische Hinnahme langjähriger Massenarbeitslosigkeit und Stagnation in großen Teilen Europas. Die Manifestation dieser Aspekte in der Krisen- und Reformpolitik und das Erzwingen einer als unsozial wahrgenommenen, uniformen und angebotsseitigen Wirtschaftspolitik in einer Union von berechtigt unterschiedlichen Kapitalismusmodellen stellt für diese Beobachter die Legitimität des Währungsprojekts grundsätzlich infrage. Da die Fähigkeit der WWU zur inneren Reform und das Vorhandensein hierfür erforderlicher politischer Mehrheiten bezweifelt werden, wird der Rückbau empfohlen. Besonders wirkungsvoll in die Debatte getragen wurde dies durch den langjährigen Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts, Wolfgang Streeck 8, welcher seit 2012 die zumindest teilweise Rückkehr zu nationalen Währungen fordert, um die fehlgeleitete deflationäre Politik beenden zu können, welche aus seiner Sicht die logische Konsequenz einer als marktliberal konzipierten und in der Krise drastisch radikalisierten Währungszone ist. Der Euro in seiner derzeiti-

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gen Erscheinung führe zur Spaltung Europas in Schuldner und Kreditgeber und verurteile eine ganze Reihe von Ländern zur wirtschaftlichen Stagnation, während Deutschland davon profitiere – eine Situation, die mittelfristig nicht nachhaltig sein könne. Weitere Vertreter aus Wissenschaft und Medien wie etwa der Politikwissenschaftler Martin Höpner, der Ökonom Heiner Flassbeck oder der Journalist Wolfgang Münchau schlossen sich mit der Zeit in verschiedener Weise dieser Analyse und Position an und sehen einen zumindest teilweisen Rückbau der Eurozone als einzige nachhaltige und realistische Lösung. Politisch wurde sich diese Forderung vor allem von einem Flügel der Linkspartei zu eigen gemacht und von deren ehemaligem Vorsitzenden Oskar Lafontaine 2013 in die Diskussion eingebracht. Seitdem tobt ein interner Flügelstreit, bei dem die Eurobefürworter um Gregor Gysi einer Reihe von Personen um die aktuelle Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht gegenüberstehen, welche mittlerweile ebenfalls eine Abkehr vom Euro fordern. Während diese negative Interpretation des Euro in Teilen auch in den Gewerkschaften sowie bei anderen kritischen Akteuren in Wissenschaft und Medien diskutiert wird, schließen diese sich bisher jedoch nicht der Schlussfolgerung an, dass der Euro an sich das Problem sei und folglich abgewickelt werden müsse. Bei allen herausgestellten Unterschieden ist den beiden politisch gegensätzlichen Polen der Rückbaubefürworter jedoch eines gemein: die Kritik an der aus ihrer Sicht fehlgeleiteten und aus demokratischer Sicht zutiefst problematischen Krisen- und Reformpolitik. Während die eine Seite die klammheimliche Einführung einer Transfer- und Haftungsunion zu Lasten Deutschlands beklagt, rebellieren ihre Gegenüber vielmehr gegen die Schleifung der europäischen Wohlfahrtsstaaten, die Zementierung des Gefälles zwischen erfolgreichen Kreditgeberstaaten und stagnierenden Krisenländern durch die gemeinsame Währung sowie gegen die demokratische Entmachtung der Krisenstaaten. Beide Pole sehen die Weiterentwicklung der Eurozone im Sinne tieferer Integration nicht als mögliche Lösung – entweder, weil dies ohnehin unerwünscht wäre und weitere Souveränitätsverluste über deutsches Steuergeld bedeuten würde oder, auf der anderen Seite, weil eine Korrektur der unsozialen Eurokonstruktion angesichts der Machtverhältnisse und bisherigen Erfahrungen keine realistische Chance auf Erfüllung habe. Jenseits dieser Gemeinsamkeiten zeigt sich jedoch ein zentrales Charakteristikum dieses Akteurblocks: Sowohl in Ursachenanalyse als auch in Schlussfolgerungen und Forderungen ist sich diese Gruppierung höchst uneinig. So herrscht keinerlei Konsens darüber, ob eine vollständige Auflösung der Eurozone notwendig wäre, ihre Teilung in verschiedene Währungsregionen oder nur der Ausstieg einzelner Länder. Auch die Modalitäten des Übergangs bleiben kontrovers: Während einige Akteure die Einführung von Parallelwährungen für unabdinglich erachten, plädieren andere für die direkte Einführung nationaler Zahlungsmittel. Die auch politisch wichtige Frage danach, welche

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ökonomischen Verwerfungen dies mit sich brächte und inwiefern andere Aspekte der europäischen Integration wie etwa Kapitalfreiheit oder der Binnenmarkt hiervon in Mitleidenschaft gezogen würden, wird darüber hinaus ebenfalls teils sehr unterschiedlich bewertet. Konservativ-liberale Kritiker laufen außerdem regelmäßig Gefahr, in offen nationalistische und gegenüber Krisenländern oder dem europäischen Projekt Ressentiments schürende Töne zu verfallen, was in der AfD sein drastischstes Beispiel findet. Beiden Lagern ist gemein, dass teilweise berechtigte Kritik der Versuchung populistischer und vereinfachender Lösungen gegenübersteht, was der Verankerung dieser Strömung von Akteuren im mehrheitsfähigen politischen Diskurs bisher entscheidend im Weg steht.

B estimmungsfak toren für eine von D eutschl and ge tr agene E urozonenreform Wir unterscheiden auf Basis der obigen drei Akteursgruppen und ihrer zentralen Forderungen vier Bestimmungsfaktoren für eine im deutschen Diskurs tragfähige und damit auch nach außen in Brüsseler Kreisen vertretbare Reform der WWU. Diese Faktoren sind: 1. die Pfadabhängigkeit der einmal umgesetzten Lösungsansätze in der Krise; 2. die ökonomische Entwicklung; 3. das Verhalten der EU-Partner und EU-Institutionen gegenüber der deutschen Positionierung; 4. Diskurshegemonie organisierende Akteurskoalitionen.

Pfadabhängigkeiten bisheriger Lösungsansätze in der Krise Für Angela Merkel und die im Diskurs dominante Regierungsposition ist eine Kehrtwende in der Krise der Eurozone und eine Hinwendung zu Ideen der Fiskalunion oder des Rückbaus der Eurozone kaum mehr möglich. Seit dem Erscheinen der AfD in der politischen Landschaft ist die Rückbauposition auf der rechten Seite des politischen Spektrums besetzt und lässt der CDU nur mehr die Konzentration auf ihr Markenzeichen der primär budgetpolitisch verstandenen europapolitischen Koordinierung in der WWU. Die CSU auf der anderen Seite wird wohl, auch im Angesicht des Stimmenfangs der AfD, weiterhin ihre Wächterrolle gegenüber einer stärkeren Vergemeinschaftung einnehmen, sodass auch die Fiskalunionsposition der CDU nicht offen steht. Zudem würde eine abrupte Kehrtwende die bisherige Politik der Kanzlerin unglaubwürdig erscheinen lassen.

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Die konservativen Parteien bleiben im Krisenmanagement daher am ehesten ihrem 2010 eingeschlagenen Pfad verhaftet. Dies haben sie einerseits selbst befördert, indem alle bisherigen Krisenmaßnahmen als »alternativlos« verkauft wurden. Zum anderen hat sich in Politik, Zivilgesellschaft und Medien lange keine schlagkräftige alternative Vision zur Stabilitätsunion etablieren können. Mit der Länge der Krise und regelmäßigen neu aufflammenden grundsätzlichen Konflikten zwischen den europäischen Partnern hat zwar die Deutungshoheit des Stabilitätslagers gelitten, profitiert haben hiervon jedoch weniger die zaghaft agierenden Akteure für eine Hinwendung zur Fiskalunion als vielmehr die Stichwortgeber eines harten Bruchs mit der bisherigen Europapolitik durch einen Integrationsrückbau. Obwohl diese Gruppe noch heterogener aufgestellt ist als die Verfechter einer fiskalischen Integration, wirkt sie durch die Radikalität ihrer Vorschläge ungleich anziehender auf die mit dem Merkel’schen Krisenmodus unzufriedenen Teile der Bevölkerung. Die Problematik der Pfadabhängigkeit hat auf der politischen Linken vor allem die SPD erfahren müssen. Auch durch die staatstragende Stützung des Krisenmanagements der schwarz-gelben Bundesregierung bedingt konnte nach nur wenigen Jahren kein fiskalpolitisch inspirierter Kurs mehr im öffentlichen Diskurs verankert werden. Das Auseinanderfallen der SPD zwischen Programmatik und realpolitischem Handeln zur Zukunft der Eurozone ist bis heute nicht aufgelöst und spiegelt die Zerrissenheit der Fiskalunionisten und die festgefahrene öffentliche Meinung in Deutschlands Krisendiskurs.

Zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen Ein zweiter Bestimmungsfaktor für eine in Deutschland mehrheitsfähige WWU-Reform ist die wirtschaftliche Entwicklung. Anders als es die besorgten Meldungen zur Situation der Eurozone und vieler ihrer Mitgliedstaaten suggerieren, fühlt die deutsche Bevölkerung keine schwere Krise. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen durch das spezifische Modell der Sozialen Marktwirtschaft und das beherzte Eingreifen und Steuern der damaligen Großen Koalition einigermaßen milde an Deutschland vorbeigezogen. Nach Jahren der medial stilisierten Selbstzweifel an der Zukunftsfähigkeit des »deutschen Modells« ist heute eine satte Selbstzufriedenheit vom industriellen Kern über die Arbeitnehmermitbestimmung bis hin zur Selbstverständlichkeit des Exportüberschusses tonangebend. Die wirtschaftlichen Probleme in der Eurozonenperipherie, aber auch im Nachbarland Frankreich, wurden von der Politik erfolgreich als selbstverschuldet gebrandmarkt. Daher rührt das Unverständnis über die nicht enden wollende Krise, die sich in Deutschland zwar in ökonomischen Chiffren relativ geringer Wachstumsraten, im Bewusstsein der Bevölkerung jedoch kaum bemerkbar macht. Dass das hoch gepriesene deutsche Modell

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zu hohen Anteilen eine satte Krisenrendite einstreicht und Mitverantwortung trägt an den ökonomischen Ungleichgewichten in der WWU, wird hierzulande nur selten thematisiert. Die deutsche Wirtschaft hat sich, seit mit Beginn der Krise der Eurozone die Nachfrage im europäischen Ausland eingebrochen ist, zum Absatz ihrer Exportprodukte stärker auf den Weltmarkt konzentriert. Trifft sich die politisch herbeigeführte Dauerstagnation in der WWU mit lahmenden internationalen Konjunkturaussichten, könnte dies zu einem wirtschaftlichen Abschwung auch in Deutschland führen. Damit würde sich die Bereitschaft für alternative Krisenmodi unter Umständen erhöhen. Unklar allerdings bleibt, ob in einer deutschen Rezession der Ruf nach europäischer Kooperation eine neue Chance hätte oder ob dann erst recht die Apologeten eines Zurück zum Nationalstaat Zulauf bekämen. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich, da die »Schuldfrage« einer Wirtschaftskrise – diskursiv jahrelang vorbereitet – absehbar in einer verschleppten Reformbereitschaft der europäischen Nachbarn gesucht würde. Dies zeigt sich bereits heute in dem von der Bevölkerung geäußerten Unmut über die EZB-Politik. Niedrige Sparzinsen werden nicht etwa als Konsequenz des in Berlin ersonnenen zurückhaltenden fiskalpolitischen Krisenkurses diskutiert, sondern einer Geldpolitik angelastet, die »uns« schadet und den Krisenstaaten trotz ihrer Verfehlungen nützt.

Positionierung der EU-Partner und Institutionen Für die Formierung einer Reformposition Deutschlands zur WWU sind nicht nur innerdeutsche Aspekte relevant. Auch das Verhalten der europäischen Partnerländer beziehungsweise der EU-Institutionen kann entscheidend werden. Zwar konnte die deutsche Regierung in den Brüsseler Verhandlungen ihre Vision einer Stabilitätsunion bislang sehr erfolgreich durchsetzen, doch wird diese im europäischen Rund längst nicht von allen Akteuren geteilt. Im Gegenteil lassen sich mehrheitlich Länder finden, die zumindest mittel- bis langfristig eine Fiskalunion anstreben. Auch hier gilt: Je länger die Krise dauert, umso lauter werden Alternativen zu Austerität und innerer Abwertung eingefordert. Und anders als in Deutschland sorgt die anhaltende Stagnation mit hoher Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten für ein starkes Krisenbewusstsein und Veränderungsdruck. Insofern sind die Wahlzugewinne und Regierungsbeteiligungen radikal linker Parteien in Griechenland, Portugal und Spanien die Antithese zur Dominanz des Stabilitätsansatzes und zugleich die Geister, die Merkel selbst gerufen hat und nun nicht wieder los wird. Die Bankenunion konnte 2012 durch eine geschickte Allianz der Regierungen Frankreichs, Italiens und Spaniens gegen die deutschen Interessen auf den Weg gebracht werden. Ein ähnliches Vorgehen könnte bei weiteren Reformplänen in Richtung Fiskalunion Nachahmer finden. Das aggressive Auftreten der ita-

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lienischen Regierung im Umgang mit Flüchtlingen und die Verquickung mit Themen der Währungsunion (Stichwort: »Flüchtlingsbonds«) in der EU rührt aus dem gestiegenen innenpolitischen Druck infolge einer als oktroyiert und falsch angesehenen Krisenpolitik. Ob und wie lange es hier bei der Forderung stärkerer fiskalischer Integration bleibt, ist offen. Auch die linken Parteien in den EU-Partnerländern stehen längst vor der Frage, ob sie sich – nicht ohne Frustration – zum Erhalt ihrer Wohlfahrtsstaaten eher dem Rückbau der Eurozone zuwenden sollten. Die Reformagenda der WWU wird auch von der Europäischen Kommission mit Nachdruck angemahnt. Nachdem ein erster Anlauf für umfassende institutionelle Veränderungen im Jahr 2012 als gescheitert gelten muss, möchte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – unterstützt vom Europäischen Parlament und der EZB – mit seinem 2015 vorgestellten Reformpapier vorankommen und dabei Elemente einer Fiskalunion auf den Weg bringen.7 Die Bundesregierung sah sich – wenn auch unter Protest – bereits genötigt, die von der Kommission durchgesetzte lockerere Handhabung des Stabilitätspaktes zu tolerieren. Auch IWF und OECD setzen durch kritische Bilanzierung ihrer eigenen, lange an der Seite Deutschlands vorgetragenen Empfehlungen in der Krise die deutsche Haltung der Alternativlosigkeit unter Druck. Darüber hinaus könnte Deutschland unter erheblichen Zugzwang geraten, wenn sich die Rechtspopulisten und Eurogegner in vielen Eurostaaten in Wahlen weiter durchsetzen. Aus Angst vor einem impulsiv einseitig angestoßenen Auseinanderfallen der Eurozone stünde dann auf der einen Seite die Diskussion eines Integrationssprungs nach vorne oder auf der anderen die eines kontrolliert multilateral erfolgenden Rückbaus an. Einen Vorgeschmack auf die möglichen wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen von unilateralen Zentrifugalbewegungen geben die Entwicklungen nach Bekanntwerden des britischen Austrittswunsches aus der EU am 23. Juni 2016.

Akteurskoalitionen im deutschen Diskurs Der vierte Faktor für die Positionierung Deutschlands zu weitergehenden Reformen der Eurozone sind Koalitionen zwischen Akteursgruppen, denen es gemeinsam gelingt, den Diskurs nachhaltig zu prägen. Am statischsten wird vermutlich die Wissenschaftslandschaft in Deutschland bleiben. Zwar mag die Gruppe keynesianisch oder heterodox denkender Ökonomen zunehmen und die Internationalisierung des akademischen Betriebs frischen Wind in die Fakultäten tragen, doch der lange Schatten des Ordoliberalismus wird so schnell nicht schwinden (siehe dazu das Kapitel von Mark Schieritz). Seine Reichweite in viele relevante Akteursgruppen verleiht der Vision einer Stabilitätsunion weiterhin Glaubwürdigkeit. Obwohl die Kanzlerin durch mangelnde europäische Problemlösungsfähigkeit in der Flüchtlingskrise angezählt ist, wird sie

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sich auf absehbare Zeit auf die Geschlossenheit des Stabilitätslagers verlassen können. Bewegung könnte in die Diskurslandschaft kommen, wenn die deutsche Wirtschaft im Falle einer weiteren Zuspitzung ökonomischer Unwägbarkeiten über die Arbeitgeberverbände den Druck auf die Politik in Richtung Fiskalunion erhöht, wie dies jüngere Positionspapiere etwa des BDI vermuten lassen.8 Dies würde insbesondere innerhalb der CDU zu Diskussionen über eine Kurskorrektur führen. Dagegen könnte die Verfestigung des aus dem Ad-hocKrisenmodus geronnenen intergouvernementalen europäischen Interventionismus in nationale Wirtschafts- und Sozialpolitiken in den Gewerkschaften Tendenzen in Richtung Rückbau der WWU beflügeln – aus Angst vor einer Opferung nationaler Arbeitnehmerrechte und Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates. Dies wiederum würde den künftigen Kurs der SPD beeinflussen. Überhaupt ist die Positionierung der Sozialdemokratie der entscheidende Schlüssel, ob und wohin sich der Reformdiskurs in Deutschland bewegen wird. Alle anderen politischen Kräfte sind zu schwach, um eine Abkehr von der Perspektive einer Stabilitätsunion nachhaltig im Diskurs verankern zu können. Grünen, Liberalen und der CSU wäre 2017 in jeweils denkbaren Koalitionsverhandlungen mit der CDU eine grundsätzliche Neuorientierung der Europapolitik aus innenpolitischen Erwägungen vermutlich nicht prioritär genug. Das Lager der Befürworter eines Rückbaus der WWU wird sehr wahrscheinlich weiter Zulauf erhalten, so lange keine tragfähigen Lösungen für die Eurozone in Sicht sind. Weitere Akteure könnten versucht sein, diesen Zulauf durch Positionsannäherung auf sich umzulenken – ein Phänomen, das in der Asylpolitik zwischen der AfD und den etablierten Parteien zu beobachten ist. Doch die Heterogenität der Akteure und Forderungen des Rückbaulagers wird eine Mehrheitsfähigkeit trotz einzelner Gemeinsamkeiten in der jetzigen Konstellation verhindern. Insofern kommt es auf die SPD an: So wie die Minderheit der Fiskalunionisten im Diskurs seit Krisenbeginn in großen Stücken der wechselhaften Positionierung der Partei geschuldet ist, so könnte sie nun – ob in einer Neuauflage der Großen Koalition, gar einer rot-rot-grünen Regierung vorstehend oder auch als Oppositionsführerin – eine Abkehr vom Status quo befeuern.

F a zit : D ie trügerische S tabilität des S tatus quo Der deutsche Diskurs zur Reform der Währungsunion gleicht einer gefrorenen Landschaft. Die Verwirklichung einer Stabilitätsunion stützt sich auf ein stabiles Akteurslager und profitiert vom niedrigen Krisenbewusstsein der deutschen Bevölkerung. So lange Wachstum und Beschäftigung in Deutschland höher bleiben als in vielen Nachbarstaaten, ist ein Spurwechsel des Kri-

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senkurses trotz stagnierender Wirtschaft, Deflation und hoher Arbeitslosigkeit in vielen Krisenländern sehr unwahrscheinlich. Falls kein weiterer großer Crash auf den Finanzmärkten und in der globalen Wirtschaft stattfindet, der die ökonomische Situation der Eurozone und auch Deutschlands verschlechtert, könnte die Stabilitätsvision weiter im Kielwasser dauerhafter Stagnation vor sich hin dümpeln: Die Krise wäre nicht schlimm genug, um genügend Druck aus den Nachbarstaaten und innerhalb Deutschlands zum Schwenk in Richtung Fiskalunion aufzubauen. Doch zugleich könnte die wirtschaftliche Situation als zu ungenügend empfunden werden, um den weiteren Aufstieg der radikalen Rückbauverfechter aufzuhalten. Hier genau lauert die Gefahr eines Verbleibs beim Status quo: Die Stabilitätsunion kann weder dabei helfen, die Krise in der Eurozone schnell zu überwinden, noch verfügt sie über ausreichende Sicherungsinstrumente zur Verhinderung oder Milderung der nächsten Krise. Die im deutschen Diskurs suggerierte Nachhaltigkeit des Ansatzes existiert nicht. Es ist absehbar, dass die Frage nach Ausbau oder Rückbau der Währungsunion immer wieder und immer drängender gestellt werden wird. Die wachsende Attraktivität des Lagers der Rückbaubefürworter spiegelt die politische Brisanz. Ratsam wäre daher eine zeitige Entscheidung zwischen der Ansteuerung einer Fiskalunion oder der Beendigung des Projektes einer gemeinsamen Währung. Beide Perspektiven enthalten eine Vielzahl an Unwägbarkeiten, die schwer eingepreist werden können. Beide Ansätze haben es nicht nur aufgrund der Dominanz der Stabilitätsvision schwer im deutschen Diskurs Schritt zu fassen, sondern auch, weil eine Abkehr von der Währungsunion die Integrationsoffenheit Deutschlands infrage stellen könnte beziehungsweise weil eine Fiskalunion sehr wahrscheinlich mit einem Ende der ökonomischen Privilegierung Deutschlands in der WWU sowie mit Souveränitätsverlust und Finanztransfers verbunden wäre. Das muss man den Wählerinnen und Wählern erst einmal erklären können! Nicht hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass es sich viele Akteure beider Lager mit einer idealistischen Weltsicht einfach machen, indem sie entweder mit der Abschaffung des Euro oder mit der Errichtung der »Vereinigten Staaten von Europa« die Lösung aller derzeitigen Probleme versprechen. Ein Startpunkt für eine progressive Reform der Eurozone wäre dagegen die Konkretisierung von Reformperspektiven für einen ordentlichen Betrieb der Währungsunion. Diese müssten gemessen werden an ihren realistischen Chancen zur Überwindung des trügerischen Status quo – denn ewig wird dieser nicht halten.

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A nmerkungen 1 | Pisani-Ferry, Jean (2006): Only One Bed for Two Dreams: A Critical Retrospective on the Debate over the Economic Governance of the Euro Area, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 44, Nr. 4, S. 823-844. 2 | Hacker, Björn (2013): On the Way to a Fiscal or a Stability Union? The Plans for a ›Genuine‹ Economic and Monetary Union. International Policy Analysis. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, December 2013. 3 | Dullien, Sebastian (2008): Eine Arbeitslosenversicherung für die Eurozone. Ein Vorschlag zur Stabilisierung divergierender Wirtschaftsentwicklungen in der Europäischen Währungsunion. SWP-Studien 2008/S 01, Februar 2008. 4 | Enderlein, Henrik/Guttenberg, Lucas et al. (2013): A Blueprint for a Cyclical Shock Insurance in the Euro Area. Paris: Jacques Delors Institute Note Europe, September 2013. 5 | Sachverständigenrat (2012): Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen. Sondergutachten gemäß § 6 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (12.7.2012). 5 | Delpla, Jacques/von Weizsäcker, Jakob (2011): Eurobonds. Das Blue Bond-Konzept und seine Implikationen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 2011. 6 | Etwa Gabriel, Sigmar/Macron, Emmanuel (2015): Warum Europa zu einer Sozialunion werden muss, in: Die Welt (4.6.2016); www.welt.de/wirtschaft (aufgerufen am 29.6.2016) und Auswärtiges Amt (2016): Gemeinsamer Beitrag des französischen Außenministers Jean-Marc Ayrault und Außenminister Frank-Walter Steinmeiers: Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt (24.6.2016); www.aus waertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2016/160624-BM-AM-FRA. html (aufgerufen am 13.07.2016) und Auswärtiges Amt (2014): Joint statement of the Ministers for European affairs of France, Italy and Germany: For a European Union of values and solidarity, of prosperity and competitiveness (30.07.2014); www.auswaertiges-amt.de (aufgerufen am 29.6.2016). 6 | Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag. 7 | Juncker, Jean-Claude (2015): Completing Europe’s Economic and Monetary Union (22.6.2015); https://ec.europa.eu (aufgerufen am 29.6.2016). 8 | BDI (2015): Die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Reformoptionen in der Diskussion. Integrationsbericht Europa; http://bdi.eu/media (aufgerufen am 29.6.2016).

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7. Der rechtliche Rahmen für Reformvorhaben und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts Franz C. Mayer

Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise im Euroraum im Mai 2010 sind rechtliche Fragestellungen fester Bestandteil der Eurodiskussion. Entsprechend spielen Rechtsfragen auch für sämtliche Reformüberlegungen zur Wirtschaftsund Währungsunion eine zentrale Rolle. Unterscheiden lässt sich zwischen den bereits bestehenden allgemeineren rechtlichen Rahmenbedingungen im geltenden Europarecht auf Ebene der Gründungsverträge (dazu Abschnitt »Die Vorgaben der europäischen Verträge«) sowie den im Verlauf der Eurokrise hinzugekommenen rechtlichen Rahmenelementen (dazu Abschnitt »Umbau des Schiffes auf hoher See?«). Daneben ergeben sich jedenfalls für Deutschland zahlreiche verfassungsrechtliche Vorgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) (dazu Abschnitt »Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen«).

D ie V orgaben der europäischen V ertr äge (EUV, AEUV ) Die Wirtschafts- und Währungsunion wird in den Gründungsverträgen zur Europäischen Union, dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) näher ausgeformt. Es finden sich dort etliche rechtliche Vorgaben, die auch in der Eurokrise eine wichtige Rolle gespielt haben. Dies, weil sie den Rahmen für Reformen oder schlicht Neuerungen unterhalb der Schwelle einer Vertragsänderung setzen (zu den rechtlichen Rahmenbedingungen zur Umsetzung der in diesem Band vorgestellten Vorschläge vergleiche auch Kapitel 12). Zu nennen sind das bail out-Verbot, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, die allgemeine Stabilitätsvorgabe und der Grundsatz der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB).

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No bail out – jeder ist für sich verantwortlich Von zentraler Bedeutung ist im Recht der Währungsunion das sogenannte bail  out-Verbot. Danach »haften« weder die EU noch einzelne Mitgliedstaaten für die Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten und »treten nicht für derartige Verbindlichkeiten ein«. Damit soll sichergestellt werden, dass kein Staat über die eigenen Verhältnisse wirtschaftet. Wörtlich heißt es in Art. 125 Abs. 1 AEUV: »Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens. Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.«

Natürlich kann es Notlagen geben, in denen eine Hilfe dann doch ausnahmsweise möglich sein soll. Dazu sieht Art. 122 Abs. 2 AEUV Folgendes vor: »Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Der Präsident des Rates unterrichtet das Europäische Parlament über den Beschluss.«

In der Euro-Rettung hat diese Ausnahme bisher freilich keine Rolle gespielt. So ist man beispielsweise im Falle Griechenlands davon ausgegangen, dass sich die Gründe für die dort eingetretene Situation keineswegs der Kontrolle Griechenlands entziehen. Das bail  out-Verbot schließt aus, dass Gläubiger von Mitgliedstaaten beziehungsweise diese Mitgliedstaaten selbst die EU oder andere Mitgliedstaaten gleich einem Bürgen für die Schulden dieser Mitgliedstaaten automatisch heranziehen können. Es besteht grundsätzlich kein Haftungsverband und kein Mitgliedstaat hat einen Anspruch darauf, dass die EU oder andere Mitgliedstaaten seine Verbindlichkeiten übernehmen oder ablösen. Bezweckt wird hier, dass die Bewertung der Bonität der

7. Franz C. Mayer — Der rechtliche Rahmen für Reformvorhaben

einzelnen Mitgliedstaaten den Finanzmärkten überlassen bleibt, sodass eine unseriöse Haushaltspolitik gegebenenfalls mit Risikoaufschlägen bestraft wird. Jedoch verbietet das bail out-Verbot finanziellen Beistand an Mitgliedstaaten nicht generell und ohne jede Ausnahme: Die Griechenlandhilfen und die im Rahmen der Rettungsschirme (siehe unten) ausgereichten Hilfen dürften deswegen nicht gegen Art. 125 AEUV verstoßen haben. Denn ausgehend vom Wortlaut des Art.  125 Abs.  1  AEUV ist einem Mitgliedstaat nur der Eintritt in die Schuldbeziehung zwischen einem anderen Mitgliedstaat und seinem Gläubiger untersagt. Eine freiwillige Hilfeleistung begründet dagegen eine neue, eigenständige Verbindlichkeit und ist somit schon begrifflich kein Eintritt in eine alte, bestehende Schuldbeziehung. Mit anderen Worten: Man muss nicht helfen – aber man darf. Am Beispiel der Eurobonds lässt sich veranschaulichen, wie sich diese Vertragslage auswirkt:1 Eurobonds dürften mit der no bail out-Klausel, wie sie heute besteht, kaum vereinbar sein. Die Einführung von Eurobonds würde eine gemeinsame Haftung aller Mitgliedstaaten der Währungsunion untereinander in der Form bewirken, dass jeder Mitgliedstaat in die Schuldbeziehungen eines anderen Mitgliedstaats eintritt. Daher werden, anders als etwa bei freiwilligen Hilfeleistungen im Rahmen der Rettungsschirme, keine neuen Verbindlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten begründet. Der maßgebliche Unterschied zwischen Rettungsschirmen und Eurobonds besteht in dieser Lesart darin, dass es bei Eurobonds gerade auch um die Vergemeinschaftung der Schuldbeziehungen zu dritten Gläubigern geht. Zudem würden Eurobonds mit einer Gesamthaftung alle Mitglieder der Währungsunion automatisch und unbeschränkt zu einer Haftungsunion (insoweit näher an der »Transferunion«) verbinden. Dies kann als unvereinbar mit dem Telos des Art. 125 AEUV angesehen werden. Als gleichsam dauerhafter Mechanismus lassen sich Eurobonds auch nicht in analoger Anwendung des Art.  122 Abs.  2  AEUV rechtfertigen, da dieser jedenfalls nur von einem im Notfall zu aktivierenden Stabilisierungsmechanismus spricht. Damit spricht einiges dafür, dass die Einführung von Eurobonds – gleich ob im derzeitigen Primärrecht oder in gesonderten neuen Verträgen – eine Änderung des Art. 125 Abs. 1 AEUV und damit eine Änderung der Verträge voraussetzt. Diese Änderung des AEUV hätte im Falle einer »Ausdehnung der Zuständigkeiten der Union« im ordentlichen Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 2 bis 5 EUV zu erfolgen und wäre ein mehrjähriges Unterfangen.

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Das Verbot der monetären Staatsfinanzierung Damit Staaten in der Währungsunion nicht über ihre Verhältnisse leben, verbieten die Gründungsverträge auch die sogenannte monetäre Staatsfinanzierung durch die EZB. Die Eurostaaten können sich nicht direkt über die EZB finanzieren. Wörtlich heißt es in Art. 123 Abs. 1 AEUV: »Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als ›nationale Zentralbanken‹ bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken«.

Das Verbot des »unmittelbaren Erwerbs« von Schuldtiteln lässt indessen die Möglichkeit unberührt, dass die EZB Anleihekaufprogramme auf dem sogenannten Sekundärmarkt, dem Wiederverkaufsmarkt für Staatsanleihen, durchführt (siehe dazu unten). Der EZB sind damit Anleiheaufkaufprogramme nicht von vornherein verboten. Freilich ist der Aufkauf auf einem Sekundärmarkt für einen Staat wenig kalkulierbar und gibt daher weniger Anreize, sich auf Anleiheankäufe durch die EZB und deren Effekte zu verlassen.

Der Grundsatz der Stabilitätsorientierung Ein zentrales Anliegen in der europäischen Währungsunion ist die Stabilität der Währung. Art. 126 AEUV macht dazu eine Reihe von Vorgaben und rückt insbesondere die Europäische Kommission in die zentrale Aufsichtsrolle. Wörtlich heißt es in Art. 126 AEUV Abs. 1: »Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite«. Zuständig für die Überwachung ist die Europäische Kommission, wie sich aus Art. 126 Abs. 2 AEUV ergibt. In Abs. 3 heißt es: »Erfüllt ein Mitgliedstaat keines oder nur eines dieser Kriterien, so erstellt die Kommission einen Bericht. In diesem Bericht wird berücksichtigt, ob das öffentliche Defizit die öffentlichen Ausgaben für Investitionen übertrifft; berücksichtigt werden ferner alle sonstigen einschlägigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedstaats. Die Kommission kann ferner einen Bericht erstellen, wenn sie ungeachtet der Erfüllung der Kriterien der Auffassung ist, dass in einem Mitgliedstaat die Gefahr eines übermäßigen Defizits besteht«. Ergänzend zu dieser vertraglichen Grundvorgabe bestehen etliche Schichten an Regeln und Vorgaben zur Stabilität im Protokoll Nr. 12 über das Verfah-

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ren bei einem übermäßigen Defizit, im Euro-Plus-Pakt sowie im Six-Pack und im Two-Pack. Wo Vertragsrecht und Protokoll nur nach den Regeln über die Vertragsänderung (einstimmig) geändert werden können, gehören die anderen Schichten zum Untervertragsrecht und können je nach Rechtsform mit einer Mehrheitsentscheidung geändert werden. Mit dem 2012 im Zuge der Eurokrise geschlossenen Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalvertrag)2 wird im Kern die Stabilitätsverpflichtung ein weiteres Mal betont. Dieser Vertrag liegt indessen außerhalb der Gründungsverträge, weil eine Änderung der Gründungsverträge auf den Widerstand Großbritanniens stieß. Der Fiskalvertrag illustriert, wie außerhalb der Gründungsverträge Reformen durch Nebenvertragsrecht ins Werk gesetzt werden können. Zugleich offenbaren sich an diesem Beispiel auch Probleme eines solchen Ansatzes, wenn nämlich auf Institutionen und Mechanismen aus den Gründungsverträgen zurückgegriffen wird. So war die Inanspruchnahme der Europäischen Kommission durch den Fiskalvertrag nicht unstrittig. Großbritannien hat eine anfänglich erwogene gerichtliche Klärung dieser Frage nicht weiterverfolgt. Wollte man auch künftige Reformen außerhalb der Verträge in Zusatzverträgen vereinbaren und dabei auf Institutionen der EU zurückgreifen, wird die nicht abschließend geklärte Frage, ob und in welchem Umfang dies geht, wieder zurückkehren.

Der Grundsatz der Unabhängigkeit der EZB Die Unabhängigkeit der EZB wird in Art. 130 AEUV explizit vorgeschrieben. Wörtlich heißt es hier: »Bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und die Satzung des ESZB [Europäischen Systems der Zentralbanken] und der EZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die Europäische Zentralbank noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen«.

Die EZB ist als eine countermajoritarian institution angelegt, ähnlich wie die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die EZB soll nicht durch einen politischen Mehrheitswillen kontrolliert werden, sie ist dem demokratisch geformten Mehrheitswillen (des Parlaments) nicht unterworfen.

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Unabhängigkeit heißt freilich nicht, dass man tun kann, was man will. Der EuGH hat schon 2003 klargestellt, dass die EZB im Grundsatz der Kontrolle durch den EuGH unterliegt. In dem Urteil heißt es:3 »Dagegen hat diese Zuerkennung einer solchen Unabhängigkeit nicht zur Folge, dass die Europäische Zentralbank völlig von der Europäischen Gemeinschaft gesondert und von jeder Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ausgenommen wäre. Nichts erlaubt es, von vornherein auszuschließen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber gemäß den Befugnissen, über die er nach dem EG-Vertrag verfügt, und unter den im EG-Vertrag vorgesehenen Bedingungen normative Maßnahmen erlässt, die Geltung gegenüber der Europäischen Zentralbank beanspruchen können.«

Die EZB steht nicht außerhalb des Rechts. Die nationalen Zentralbanken wirken auf europäischer Ebene im ESZB, dem Europäischen System der Zentralbanken, zusammen. Die Bundesbank ist eine unabhängige nationale Zentralbank und ist damit Anweisungen beispielsweise des Bundestags oder der Bundesregierung nicht ausgesetzt. Art.  130  AEUV bestimmt, dass nationale Zentralbanken bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und die Satzung des ESZB und der EZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten von keiner Regierung eines Mitgliedstaats oder einer anderen Stelle Weisungen entgegennehmen dürfen. Anerkanntermaßen geht EU-Recht dem nationalen Recht vor (Anwendungsvorrang),4  selbst dem Verfassungsrecht.5 Art. 131 AEUV bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften in Einklang mit den Verträgen stehen. Soweit nationale Zentralbanken sich nicht europarechtskonform verhalten, kann die EZB nach Art. 35 Abs. 6 ESZB/EZB-Statut die nationalen Zentralbanken vor den EuGH bringen. Die im Zuge der Eurokrise begonnene Bankenunion ist ein Beispiel dafür, wie die Unabhängigkeit der EZB zum Problem für Reformkonzepte werden kann. Bankenaufsicht ist vielerorts Aufgabe der jeweiligen Zentralbank. Für die EU stellt sich aber die Frage, ob der unabhängigen EZB überhaupt eine Rolle in der Bankenaufsicht anvertraut werden darf. Sie wird in den Gründungsverträgen mit Art. 127 Abs. 6 AEUV nur unzureichend beantwortet und letztlich offen gelassen. Bei der Verwirklichung der Bankenunion hat man mit Maßnahmen der Binnenorganisation in der EZB versucht, die Trennung zwischen Aufsicht und Geldpolitik sicherzustellen. Restlos befriedigend ist dies jedoch nicht.

Zwischenbefund Die vertraglichen Vorgaben zur Währungsunion sind dadurch gekennzeichnet, dass sie wie alle Vertragsbestimmungen im Grundsatz änderbar sind,

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allerdings nur, wenn alle Mitgliedstaaten – nicht nur die Eurostaaten – einverstanden sind. Dies bedeutet faktisch mittlerweile bei 28 Mitgliedstaaten eine erhebliche politische und jedenfalls zeitliche Hürde. Das Beispiel des Fiskalvertrags illustriert, wie man neben den Verträgen voranschreiten kann; das Beispiel der Bankenunion zeigt, dass auch innerhalb der Verträge noch nicht ausgeschöpfte beziehungsweise geklärte Rechtsgrundlagen bestehen (Art.  127 Abs.  6  AEUV). Ein anderes Beispiel für eine in ihrer Reichweite wohl noch nicht völlig ausgelotete Vertragskompetenz ist Art. 136 Abs. 1 AEUV.

U mbau des S chiffes auf hoher S ee ? Die Eurokrise hat ab Mai 2010 eine Reihe von rechtlichen Entwicklungen nach sich gezogen. Der in den Gründungsverträgen niedergelegte Rechtsrahmen reichte offenbar nicht aus, um die Krise zu bewältigen. Zugleich waren weder die zeitlichen noch die politischen Voraussetzungen gegeben, um im Wege eines umfassenden Vertragsänderungsverfahrens vorzugehen, das mehrere Jahre gedauert hätte. Man musste das Schiff gleichsam auf hoher See umbauen. Nachdem die Griechenlandhilfe anfänglich auf der Grundlage koordinierter bilateraler Absprachen organisiert worden war, folgten zunächst der temporäre Rettungsschirm Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und dann der dauerhafte Rettungsschirm Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM). Beide Rettungsschirme wurden außerhalb der Gründungsverträge angelegt. Flankiert wurden die Rettungsschirme durch den Fiskalvertrag (siehe oben), der auf der Ausgabenseite ansetzt sowie auf Anleiheankaufprogramme der EZB, deren rechtliche Grundlage nicht unbestritten war.

Rettungsschirme EFSF und ESM Die EFSF war eine Aktiengesellschaft nach luxemburgischem Recht, die für einen befristeten Zeitraum einen ersten Rettungsschirm abgab.6 Mit dem auf Dauer angelegten Nachfolgerettungsschirm ESM, der auf dem ESM-Vertrag beruht,7 wurde mit einem völkerrechtlichen Vertrag auf herkömmliche institutionelle Konzepte zurückgegriffen. Allerdings liegt auch der ESM außerhalb der Gründungsverträge. Der ESM kann über Kredite Geld und andere Finanzhilfen für Staaten in Schwierigkeiten bereitstellen – allerdings nur unter strengen Bedingungen für diese Staaten. Die Instrumente des ESM können innerhalb des ESM-Vertrags durch einstimmigen Beschluss weiterentwickelt werden. Daneben sind auch Änderungen am ESM-Vertrag denkbar. Durch einen klarstellenden Zusatz in Art. 136 Abs. 3 AEUV – dies ist ausdrücklich

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keine Kompetenzbestimmung – hat man in den Gründungsverträgen zum Ausdruck gebracht, dass der ESM nicht gegen das Unionsrecht verstößt. Der EuGH hat in seinem Pringle-Urteil bestätigt, dass der ESM mit dem Unionsrecht vereinbar ist.8

Anleiheankaufprogramme der EZB Obwohl die Rettungsschirme EFSF und ESM meist medial im Vordergrund standen, war die EZB von Anbeginn ein bedeutsamer Akteur in der Eurokrise. Schon früh hatte sie ein begleitendes Anleiheankaufprogramm in Gang gesetzt. Das Securities Market Programme (SMP) dauerte von Mai 2010 bis September 2012. Im September 2012 kündigte EZB-Präsident Mario Draghi als Nachfolge ein OMT-Programm9 an, kurz nachdem er im Sommer 2012 öffentlich geäußert hatte, die EZB werde was immer erforderlich sei unternehmen, um den Euro zu wahren (»whatever it takes«). Um den Druck auf in Schwierigkeiten geratene Eurostaaten zu mindern und das Funktionieren der Währungsunion zu sichern, würde die EZB unter dem OMT-Programm auf dem Sekundärmarkt falls notwendig Staatsanleihen aufkaufen. Bedingung soll dabei sein, dass sich diese Staaten zur Teilnahme an einem ESM-Programm und damit zur Einhaltung strenger Bedingungen, in der Regel Reform- und Sparmaßnahmen, verpflichten. Niedergelegt ist dies in einem Beschluss des EZB-Rats vom 6. September 2012 betreffend »Technical Features of Outright Monetary Transactions« und einer entsprechenden Pressemitteilung. Im Ergebnis bewirkt das OMT-Programm dasselbe wie der ESM, nämlich die Liquidität von in Schwierigkeiten geratenen Staaten zu sichern – nur dass hier die EZB entscheidet, und zwar ohne Regierungen und Parlamente. Bereits die bloße Pressemitteilung, mit der das OMT-Programm 2012 angekündigt wurde, reichte seinerzeit aus, um die Märkte zu beruhigen. Eine Aktivierung des Programms ist bis heute nicht erfolgt. Gleichwohl hat das OMT-Programm die Gerichte beschäftigt. Der EuGH hat in einem Urteil vom Juni 201510 die Vereinbarkeit des OMT-Programms mit Europarecht bestätigt. Das OMT-Programm gehöre zur Währungspolitik und damit in den Kompetenzbereich der EU und dort der EZB. Mangels Definition von »Währungspolitik« in den Verträgen erfolgt eine Annäherung über Ziele und Instrumente. Im Hinblick auf Ziele steht das Argument im Zentrum, dass mit dem OMT-Programm die ordnungsgemäße Transmission der Geldpolitik sowie ihre Einheitlichkeit sichergestellt werden soll. Wenn die Impulse geldpolitischer Entscheidungen nicht mehr übertragen werden und in Teilen des Euro-Währungsgebiets ins Leere laufen, dann beeinträchtigt das auch die Fähigkeit, die Preisstabilität zu gewährleisten. Dass es auch mittelbare wirtschaftspolitische Effekte eines solchen Programms gibt, hält der EuGH für unschädlich für die Kompetenzfrage.11 Auch die »Selektivität«, also den

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Umstand, dass nur einige Mitgliedstaaten durch das OMT-Programm erfasst werden – der Sache nach Krisenstaaten, die sich unter den Rettungsschirm des ESM begeben –, hält der EuGH für rechtlich begründbar, wenn es eben nur einige Staaten sind, von denen Störungen des geldpolitischen Transmissionsmechanismus ausgehen.12 Anleihenkäufe mögen beim ESM als Mittel zur Wirtschaftspolitik angesehen werden, wegen der Unterschiede von ESM und EZB kann die EZB dieses Instrument gleichwohl für die Geldpolitik einsetzen (vergleiche Art.  18 EZB-Statut). Der EuGH macht sehr klar, dass das OMTProgramm nur so lange stattfinden darf, wie Probleme mit der Transmission der Geldpolitik anhalten.13 Der EuGH unterzieht das OMT-Programm ferner einem Verhältnismäßigkeitstest, um seine Geeignetheit und seine Erforderlichkeit zu prüfen.14 Hier räumt der EuGH der EZB ein »weites Ermessen« ein, mit der Grenze der offensichtlichen Beurteilungsfehler – »mit Rücksicht darauf, dass geldpolitische Fragen gewöhnlich umstritten sind«15. Ein wiederkehrender Vorwurf lautet, die EZB finanziere durch den Aufkauf von Staatsanleihen letztlich den Haushalt der entsprechenden Staaten, die dann gar keinen Anreiz mehr zur Haushaltsdisziplin hätten (monetäre Staatsfinanzierung). Der EZB ist indessen der Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt nach den Verträgen durchaus gestattet, allerdings nicht auf dem Primärmarkt (Art. 123 Abs. 1 AEUV). Der EuGH stellt dazu klar, dass keine Umgehung dieser Vorgaben geduldet werden darf. Daher muss die EZB, wenn sie Staatsanleihen an den Sekundärmärkten erwirbt, ihr Tätigwerden mit hinreichenden Vorkehrungen versehen, um sicherzustellen, dass es mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung in Einklang steht.16 Insbesondere dürfen die Marktteilnehmer und die Mitgliedstaaten nicht auf Dauer die Gewissheit haben, dass bestimmte Staatsanleihen alsbald von der EZB am Sekundärmarkt aufgekauft werden, und es muss eine Stillhaltefrist zwischen Primäremission und Sekundärmarktkauf eingehalten werden.17

Eurokrisenbedingte Vertragsänderungen? Eurokrisenbedingt wurde sogar eine Änderung des Primärrechts in Form der Einfügung von Art. 136 Abs. 3 AEUV durchgeführt.18 Sie ist für Reformdiskussionen deswegen von Interesse, weil sie etwas über die Zeitschiene in einer EU mit 28 – bzw. nach einem Brexit 27 – Mitgliedstaaten bei Reformen jedweder Art aussagt. Der durch Änderung des Primärrechts neu eingefügte Art.  136 Abs. 3 AEUV ist die unambitionierteste Vertragsänderung, die man sich vorstellen kann. Danach können die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Es wird damit ohne jegliche Kompetenzübertragung rein deklaratorisch festgehalten, dass die Mitgliedstaaten nicht gehindert sind, außerhalb des EU-

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Primärrechts der Verträge einen Rettungsschirm wie beispielsweise den ESM zu gründen. Selbst diese Minimaländerung der Verträge hat vom Entwurf bis zum Inkrafttreten zweieinhalb Jahre gedauert. Eine in aller Regel mit weiterer Verzögerung verbundene Überprüfung durch ein Verfassungsgericht hat dabei noch nicht einmal stattgefunden. Man muss also, wenn man heute über institutionelle Reformen und Änderungen des Primärrechts nachdenkt, in Rechnung stellen, dass es einen Zeitfaktor von mindestens zwei Jahren gibt.

Zwischenbefund Die rechtlichen Mechanismen, die sich im Zuge der Eurorettung ausgeprägt haben, reagieren auf Krisenbefunde. Sie stehen Reformüberlegungen nicht im Weg.

V erfassungsrechtliche R ahmenbedingungen und die R echtsprechung des B undesverfassungsgerichts Die Weiterentwicklung der europäischen Integration lässt sich in Deutschland aus mindestens zwei Verfassungsperspektiven betrachten. Die Ermöglichungsperspektive betont das Staatsziel Vereintes Europa (Präambel, Art. 23 Abs.  1  GG), die Offenheit des Grundgesetzes für die europäische und internationale Zusammenarbeit (Europafreundlichkeit).19 Die Defensivperspektive, die in der Rechtsprechung des BVerfG vorherrscht, betont die Grenzen, die die Verfassung setzt.20 Dies gilt auch für den gesamten Bereich der Wirtschaftsund Währungsunion.

Das Grundgesetz Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ermöglicht »zur Verwirklichung eines vereinten Europas« die Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz (Zustimmungsgesetz) und macht die Verfassung damit permeabel.21 Das Staatsziel »Vereintes Europa« und die die gesamte Verfassung prägende Offenheit des Grundgesetzes für die überstaatliche Zusammenarbeit sind dabei die zentralen Vorgaben.

Das Bundesverfassungsgericht Verfassungstexte erklären die Verfassungslage indessen nur zum Teil, es kommt auch auf die Rechtsprechung der zuständigen Gerichte an. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Eurokrise nehmen im europäischen Vergleich in Quantität und Qualität eine hervorgehobene Rolle ein. Anfänglich standen dabei die europa- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit und

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die legitimatorisch-verfahrensmäßigen Voraussetzungen von Euro-Rettungsmaßnahmen durch die Rettungsschirme EFSF beziehungsweise ESM im Vordergrund.22 In den jüngeren Entscheidungen des BVerfG zur Eurokrise sind zunehmend auch die EZB und deren Krisenmaßnahmen (Ankaufprogramme) thematisiert worden.

Ultra vires-Kontrolle Mit dem Maastricht-Urteil von 199323 formulierte das BVerfG eine Ultra viresDoktrin mit einem Kontrollvorbehalt über die Kompetenzausübung der EU. Demzufolge soll das BVerfG prüfen können, ob Maßnahmen der europäischen Einrichtungen und Organe mit den für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU aufgestellten Grenzen übereinstimmen. Im Maastricht-Urteil von 1993 formuliert das BVerfG die Konsequenzen einer Ultra  vires-Feststellung wie folgt: »Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das BVerfG, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.« 24

Das Gericht rechtfertigt seine Kontrollbefugnis über Ultra vires-Akte (in der Entscheidung von 1993 spricht das BVerfG noch von ausbrechenden Rechtsakten 25) mit seiner Zuständigkeit für die Integrationsschranken des Grundgesetzes. Dem BVerfG zufolge kann das Integrationsprogramm,26 das vom Zustimmungsgesetz und den Gründungsverträgen umrissen wird, nicht im Nachhinein im Wege europäischer Ultra  vires-Akte substanziell geändert werden, ohne die Deckung durch das Zustimmungsgesetz zu verlieren. Rechtsfolge der Feststellung, dass eine europäische Maßnahme sich als Ultra vires – kompetenzwidrig – erweist, ist der Verlust der Verbindlichkeit des betreffenden Rechtsaktes in Deutschland. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind Ultra vires-Akte schlicht unbeachtlich. Ob man dem »Rechtsanwendungsbefehl« des Unionsrechts in einem solchen Falle gewissermaßen freiwillig nachkommen darf, hängt dann davon ab, ob im Übrigen ein Verstoß gegen das Grundgesetz besteht. Es ergibt sich insgesamt ein aus deutschem Verfassungsrecht begründeter Kontrollvorbehalt über europäische Akte, der letztlich den Vorranganspruch des Europarechts einschränkt. Das BVerfG beansprucht das letzte Wort über die Rechtmäßigkeit von Unionsrecht und

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damit die Rolle als letzte Instanz in Fragen des Unionsrechts in Deutschland. Wohl nicht zuletzt als Reaktion auf die überwiegende Negativkritik an der die Ultra vires-Doktrin bestätigenden Lissabon-Entscheidung27 hat das BVerfG in seiner Honeywell-Entscheidung 2010 seine Ultra vires-Doktrin neu formuliert.28 Dabei wurden die Voraussetzungen für eine Ultra vires-Entscheidung, die Unionsrecht für in Deutschland unbeachtlich erklärt, derart streng gefasst, dass es nach Honeywell nahezu hypothetisch erscheinen musste, dass das BVerfG tatsächlich jemals Unionsrecht für Ultra vires erklären würde: Neben dem grundsätzlichen Erfordernis, die Ultra  vires-Kontrolle europarechtsfreundlich auszuüben,29 muss die in Rede stehende Maßnahme Kompetenzen der EU evident überschreiten, es muss dadurch zu einer strukturellen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommen, und der EuGH muss die Möglichkeit gehabt haben, die angegriffene Maßnahme der EU zu überprüfen. Dies impliziert, dass falls noch keine Vorlage erfolgte, jedenfalls das BVerfG den EuGH anruft, wenn es beabsichtigt, eine Maßnahme der EU für Ultra vires zu erklären. Bereits im Maastricht-Urteil 1993 werden auch inhaltliche Grenzmarkierungen im Bereich der Währungsunion vorgenommen, die den Ultra vires-Vorbehalt für diesen Bereich konkretisieren: »Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen.« 30

Im Lissabon-Urteil 2009 werden die Themenfelder, die unter nationaler Kontrolle bleiben sollen, näher bestimmt: »Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten […] die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen […].« 31

Mit Beschluss vom 14.  Januar  201432 rief das BVerfG erstmalig in seiner Geschichte den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art.  267  AEUV an.33 Gegenstand der Vorlage war das OMT-Programm der EZB (siehe oben) und seine Vereinbarkeit mit Europa- und Verfassungsrecht. Im Kern ging es hier um einen Ultra vires-Vorwurf an die EZB, die sich mit dem OMT-Programm jenseits ihrer Kompetenzen betätige.

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Nachdem der EuGH im Juni 2015 das Handeln der EZB für rechtmäßig erklärt hatte (siehe oben), fügte sich das BVerfG im Juni 2016 dieser Vorgabe.34 Es machte dabei allerdings sehr deutlich, dass es weiter an der Kompetenz der EZB wie an der Rechtsansicht des EuGH zweifele, letztlich aber den Fall nicht für ausreichend schwerwiegend ansehe, um einen Ultra vires-Akt festzustellen. Für Reformüberlegungen bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit sämtlicher Umbauten und Anbauten an der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem bestehenden Vertragsrecht vom BVerfG überprüft werden kann. Das kann auf jeden Fall eine zeitliche Verzögerung durch entsprechende Gerichtsverfahren bedeuten. Auch inhaltlicher Widerstand in Form eines Ultra vires-Verdiktes ist trotz der hierfür notwendigen hohen Anforderungen nicht auszuschließen. Dies betrifft freilich nicht Änderungen an den vertraglichen Grundlagen der Wirtschafts- und Währungsunion, weil dafür der Vorwurf des Überschreitens der vertraglichen Grenzen nicht greift.

Identitätskontrolle Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfG mit der »Identitätskontrolle« zusätzlich zur Ultra vires-Kontrolle einen weiteren Hebel zur Kontrolle von Unionsrecht entwickelt: »Darüber hinaus prüft das BVerfG, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist. Die Ausübung dieser verfassungsrechtlich radizierten Prüfungskompetenz folgt dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, und sie widerspricht deshalb auch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV-Lissabon); anders können die von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden. Insoweit gehen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum Hand in Hand.« 35

Und: »Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt.« 36

Integrationsverantwortung und Haushaltsverantwortung Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil in richterrechtlicher Rechtsfortbildung das Konzept der Integrationsverantwortung entwickelt. »Integrationsverantwor-

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tung« findet sich nicht ausdrücklich im Grundgesetz, anderen nationalen Verfassungsordnungen oder im europäischen Primärrecht. Es beruht auf einer Auslegung des Verfassungsrechts.37 In der Euro-Rettungsrechtsprechung wird das Konzept der Integrationsverantwortung zum Konzept der Haushaltsverantwortung des Bundestags weiterentwickelt. Schon im Lissabon-Urteil hat das BVerfG festgestellt, dass »die Hoheit über den Haushalt der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen [ist]«38 und eine »Blankettermächtigung« in diesem Bereich nicht erteilt werden darf.39 Dementsprechend genügt beispielsweise die einmalige parlamentarische Befassung mit Euro-Rettungsfragen nicht. Konkret, so die Karlsruher Richter im Urteil zu den Griechenlandhilfen und dem Euro-Rettungsschirm, folge aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie, »dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist«.40 Haushaltsbedeutsame Belastungen und die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben müssten vielmehr der Dispositionsbefugnis des Bundestags unterliegen – und zwar anhaltend und kontinuierlich, nicht nur zu Beginn.41

Parlamentsbeteiligung Das BVerfG hat durchweg für Euro-Rettungsmaßnahmen eine enge parlamentarische Begleitung durch den Bundestag vorgegeben. Bei der Ausübung des Budgetrechts und der Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung muss der Bundestag die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Nichts Wesentliches passiert im ESM ohne vorherige Zustimmung des Bundestags im Plenum. Im September 2012 erlaubte das BVerfG die deutsche Beteiligung am ESM im Eilrechtsschutzverfahren42 nämlich nur unter der Voraussetzung, dass der Bundestag jederzeit die Kontrolle über Maßnahmen des ESM behält. Das bedeutet etwa, dass der deutsche Regierungsvertreter in den beschlussfassenden Organen des ESM die vorherige Erlaubnis des Bundestags benötigt, bevor er seine Zustimmung zu einer Maßnahme des ESM erteilen kann.43 Die Möglichkeit, dass demokratische Legitimation auch durch das Europäische Parlament (EP) hergestellt werden könnte, spielt in der Vorstellung des BVerfG von europäischer Demokratie keine große Rolle. Die jüngeren Entscheidungen des BVerfG zum deutschen EP-Wahlrecht wurden verbreitet so wahrgenommen, dass Karlsruhe das Europäische Parlament in seiner Bedeutung herabstuft.44 In der Welt des zuständigen Zweiten Senats des BVerfG

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kann Demokratie offenbar allein von den Völkern der Nationalstaaten ausgehen. Die Kritik im Schrifttum an dieser sehr deutschen Sicht einer »bundesrepublikanischen Volksdemokratie«45 wächst seit der Maastricht-Entscheidung von 1993 kontinuierlich an. Das Gericht bleibt davon bisher unbeeindruckt. Warum es einerseits das EP – gegen den Vertragswortlaut46 – weiterhin als Vertretung der »Völker« sieht, andererseits aber das Argument nicht hört, der Wegfall der Sperrklauseln in Deutschland schwäche den Einfluss Deutschlands im EP, erklärt das BVerfG übrigens nicht.

Quantitative Grenzen. Das Konzept der Begrenzung von Gewährleistungsermächtigungen Die prinzipielle quantitative Begrenzung des Umfangs von Gewährleistungsermächtigungen hat das BVerfG 2011 anlässlich der Griechenlandrettung aus dem Demokratieprinzip hergeleitet.47 Es ging um die Frage, ob und in welchem Umfang in der Euro-Rettung eine Art Bürgenfunktion übernommen werden darf. Auf einen bestimmten Umfang konkretisiert hat es die Begrenzung nicht. Es hat vielmehr festgehalten, dass es sich bei der Feststellung einer verbotenen Entäußerung der Haushaltsautonomie im Hinblick auf den Umfang der Gewährleistungsübernahme auf evidente Verletzungen zu beschränken und einen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zu respektieren habe.48 Mit den Griechenlandhilfen in Höhe von 22,4 Milliarden Euro und dem Euro-Rettungsschirm in Höhe von 147,6 Milliarden Euro waren die Grenzen (noch) nicht überschritten.49

Anforderungen an EZB-Anleiheankaufprogramme Das OMT-Programm der EZB (siehe oben) hat das BVerfG intensiv beschäftigt. Es lässt sich eine funktionale Parallele von Rettungsschirmen und Anleiheankaufprogrammen beschreiben: Beide sollen die Liquidität von in Schwierigkeiten geratenen Staaten sichern. Maßnahmen der EZB erfordern weder die Zustimmung eines nationalen Verfassungsgerichts noch die eines mitgliedstaatlichen Parlaments.50 Bei den Anleiheankaufprogrammen kann das BVerfG die Beteiligung des Bundestags nicht anordnen, schon weil die EZB unabhängig ist. Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass man im BVerfG nicht begeistert davon war, dass die EZB das ausgeklügelte Konstrukt des BVerfG zur Sicherung weitreichender ESM-Einwirkungsrechte für den Bundestag zum Schutze des deutschen Steuerzahlers durch eine dürre Pressemitteilung überspielen konnte. Für das OMT-Anleiheankaufprogramm der EZB hat das BVerfG klare Vorgaben in seiner historisch ersten Vorlage an den EuGH in Luxemburg gemacht. Diese sind im Kern durch den EuGH bestätigt worden.

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Zu den Vorgaben zählt, dass die Konditionalität der Hilfsprogramme der Rettungsschirme nicht unterlaufen werden darf; das Programm muss einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur unterstützenden Charakter haben. Mit Blick auf Art. 123 AEUV setzte dies aus Sicht des BVerfG voraus, dass ein Schuldenschnitt ausgeschlossen werden muss, Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in unbegrenzter Höhe angekauft und Eingriffe in die Preisbildung am Markt soweit wie möglich vermieden werden. Das auf OMT folgende Anleiheankaufprogramm unter dem Namen Quantitative Easing (QE) ist nicht auf Eurokrisenstaaten begrenzt. Es verfolgt einen anderen Ansatz. OMT und QE unterscheiden sich auf mehreren Ebenen. Nicht zuletzt wirkte OMT bereits auf einer psychologischen Ebene, schon seine Ankündigung reichte aus, um den Markt zu beruhigen. QE wirkt dagegen nur, wenn es auch umgesetzt wird. Umfassende Anleiheankaufprogramme gehören zum Werkzeugkasten von Zentralbanken überall auf der Welt. Durch QE werden Banken gestützt, nicht zuletzt in den Krisenstaaten, und staatliche wie private Schuldner entlastet. Vor allem aber verbindet sich mit einem Anleiheankaufprogramm in aller Regel die Hoffnung auf Impulse für ein allgemeines Wirtschaftswachstum. Etliche rechtliche Bedenken, die gegen OMT bestanden, lassen sich nicht gegen QE richten. Die Einwände der Selektivität und der Haftungsrisiken unbegrenzter Ankäufe greifen nicht, weil QE nicht auf Staatsanleihen aus Krisenstaaten beschränkt und im Umfang klar begrenzt ist. Ferner haften die nationalen Zentralbanken ausschließlich für die Staatsanleihen ihres Mitgliedstaats. Ankäufe erfolgen nur auf dem Sekundärmarkt und es bleiben Ungewissheiten, welche Anleihen genau gekauft werden. Die Verbesserung der geldpolitischen Transmission ist wieder ein Argument 51, und mit der Begründung, die EZB müsse einer Deflation vorbeugen, stützt sie sich auf ein nachprüf bares geldpolitisches Kriterium: die niedrige Inflationsrate. Letztlich wird die Einordnung von QE als Geldpolitik im Dienste der Preisstabilität schwer zu bestreiten sein.

S chlussbe tr achtung Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Wirtschafts- und Währungsunion finden sich auf unterschiedlichsten Normebenen. Die Vorgaben auf europäischer Ebene sind dabei fast durchweg gestaltbar, wenn auch in Teilen nur im Konsens der Mitgliedstaaten. Die am schwierigsten zu verändernden Rahmenbedingungen finden sich für Deutschland im Bereich des nationalen Verfassungsrechts unter der Aufsicht des BVerfG. Dies gilt insbesondere dort, wo das BVerfG seine Prüfmaßstäbe in den in Deutschland unabänderlichen Verfassungskern nach Art. 79 Abs. 3 GG verortet (Ewigkeitsklausel), etwa über den Kernbereich des Demokratieprinzips. Dann könnte selbst eine Verfassungsän-

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derung nichts ausrichten, es bedürfte dann in Deutschland einer neuen Verfassung. Was bedeutet dies konkret für Reformvorschläge wie einen europäischen Finanzminister, eine Fiskalkapazität oder einen Schuldenrestrukturierungsmechanismus? Letztlich kommt es hier auf die Ausgestaltung der Vorschläge im Einzelnen und im ganz Konkreten an. Pauschale Aussagen sind hier nicht sinnvoll (für eine rechtliche Bewertung einzelner Reformvorhaben siehe Kapitel 12). Wären etwa ein europäischer Finanzminister und eine Fiskalkapazität mit neuen europäischen Zuständigkeiten verbunden, würde auf der europäischen Ebene eine Vertragsänderung erforderlich sein. Dies gibt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV) vor, wonach die EU nur dann tätig werden darf, wenn ihr Kompetenzen auch zugewiesen sind. Neue Institutionen und Mechanismen außerhalb von EUV und AEUV zu organisieren war der für den ESM und den Fiskalvertrag gewählte Weg. Der Vorteil ist hier, dass man dafür nicht alle 28 Mitgliedstaaten an Bord haben muss, sondern die Bedingungen des Inkrafttretens frei wählen kann. Man darf dabei aber nicht gegen EUV und AEUV verstoßen. Unverkennbar ist eine bestimmte Konzeption der Währungsunion, die auf Stabilität ausgerichtet ist und in der das bail out-Verbot den Ton setzt. Ändert man die Gründungsverträge, kann man auch diese Konzeption ändern. Wenn alle Mitgliedstaaten beteiligt sind, dann kann auch ein gesonderter neuer Vertrag mit einigen argumentativen Klimmzügen – es gibt ja ein dann möglicherweise nicht eingehaltenes Änderungsverfahren für die Verträge – als eine konzeptionelle Änderung angesehen werden. Sobald aber nicht mehr alle beteiligt sind, dürfen Verträge außerhalb der Gründungsverträge nicht gegen die Gründungsverträge verstoßen und müssen die dort niedergelegten Grundsätze wahren. Bei einer Fiskalkapazität wäre zu überlegen, ob dadurch nicht der Art. 125 AEUV (bail out-Verbot) umgangen werden könnte, jedenfalls dann, wenn Mittel für die »Vergemeinschaftung« bestehender Schulden der Mitgliedstaaten genutzt werden sollten. Fraglich aus Sicht des Europarechts dürfte auch sein, wie sich eine Fiskalkapazität mit Art. 311 AEUV (Eigenmittel der Union) verträgt. Die Grundkonzeption – konkret hier, die Reichweite des bail out-Verbots – kann nur einvernehmlich durch alle wieder geändert werden. Aber letztlich ist auf der Ebene des europäischen Rechts alles gestaltbar, wenn der politische Wille zur Vertragsänderung besteht. In der Gesamtschau dürfte das deutsche Verfassungsrecht die höheren Hürden setzen. Die Entscheidungsmacht des Bundestags über substanzielle Haushaltsfragen und in Bezug auf die finanzielle Belastung der Bürgerinnen und Bürger insgesamt muss nämlich nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des BVerfG dauerhaft erhalten bleiben. Übertragungen von Hoheitsrechten an die EU, die eine Determinierung wesentlicher Haushalts-

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entscheidungen ohne Mitwirkung des Bundestages nach sich ziehen würden, wären somit im Rahmen des Grundgesetzes nicht möglich. Sie wären auch durch Verfassungsänderung nicht erreichbar, wenn man hier Kerngehalte des Demokratieprinzips berührt sieht, die nicht verfügbar sind (Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 GG, Verfassungsidentität). Dazu würden insbesondere auch solche Konstruktionen zählen, die außerhalb der deutschen Staatsgewalt und deshalb vom Bundestag nicht unmittelbar kontrollierbare Stellen – etwa einen europäischen Finanzminister – dazu ermächtigen würden, auf den Bundeshaushalt im Wege eines Durchgriffs einzuwirken. Zugleich ist festzuhalten, dass das BVerfG die Diagnose eines verfassungswidrigen Verfassungsrechts bisher noch nie gestellt hat. Die Frage ist also, was passieren würde, wenn man das Grundgesetz mit Blick auf weitreichende Umbauten an der Währungsunion änderte. Sich dem verfassungsändernden Gesetzgeber mit seinen qualifizierten Mehrheiten im demokratisch unmittelbar legitimierten Bundestag und im Bundesrat entgegenzustellen, erfordert dann wohl doch eine sehr klare Verletzung der Ewigkeitsklausel. Und diese dürfte mit Blick auf die vom Grundgesetz gewollte Einbindung in die europäische Integration bei Verfassungsänderungen, die letztlich dem besseren Funktionieren der europäischen Integration dienen, nicht einfach zu begründen sein. Man wird wesentliche Umbauten an der gemeinsamen Währung nicht ohne breiten politischen Konsens durchbringen können – wenn es einen solchen breiten Konsens gibt, wird sich dies auch in der Weiterentwicklung des Verfassungsrechts spiegeln oder spiegeln lassen.

A nmerkungen 1  |  Mayer, Franz C./Heidfeld, Christian (2012): Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Einführung von Eurobonds, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2012, S. 422. 2 | Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BGBl. 2012 II, S. 1006. 3 | EuGH, Rs. C-11/00 (Kommission/EZB), Slg. 2003, I-7147 u.a. Leitsatz 6. 4 | EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1141. 5 | EuGH, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1134); siehe auch BVerfG, 2 BvR 2728/13 Urt. v. 21.6.2016 – OMT, Rn. 118: »Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht und führt bei einer Kollision in aller Regel zur Unanwendbarkeit des nationalen Rechts im konkreten Fall.« 6 | www.efsf.europa.eu. 7 | www.esm.europa.eu. 8 | EuGH, Rs. C-370/12 (Pringle), Slg. 2012, I-13.

7. Franz C. Mayer — Der rechtliche Rahmen für Reformvorhaben 9 | Outright monetary transactions, geldpolitische Outright-Geschäfte, wörtlich übersetzt: »vorbehaltlose geldpolitische Geschäfte«. 10  | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015. 11 | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 51f. 12 | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 55. 13 | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 62, 112. 14 | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 66. 15 | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 68 und 74. 16  | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 93. 17  | EuGH, Rs. C-62/14 (Gauweiler u.a.), Urt. v. 16.6.2015, Rn. 104ff., 113. 18  | Beschluss des Europäischen Rates vom 25.3.2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, 2011/199/EU, ergangen im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 und 3 EUV, ABl. Nr. L 91 v. 6.4.2011. 19 | Vgl. dazu Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 113, 273 (336ff.) – Europäischer Haftbefehl. 20 | Etwa in BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 21  | Wendel, Mattias (2011): Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht. Tübingen: Mohr Siebeck. 22 | In Deutschland: BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF; BVerfGE 130, 318 – Neuner-Gremium; BVerfGE 131, 152 – ESM und parlamentarische Kontrolle; BVerfGE 132, 195 – ESM und Fiskalvertrag (einstweiliger Rechtsschutz); BVerfGE 135, 317 – ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache); BVerfGE 134, 366 – OMT (Vorlagebeschluss); BVerfG, 2 BvR 2728/13 Urt. v. 21.6.2016 – OMT (Schlussurteil). Ältere Verfahren, die im Hinblick auf den Euro eine Rolle spielen, sind BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 97, 350 – Euro; BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 23 | BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 24 | BVerfGE 89, 155, 188 – Maastricht. Siehe auch die einschlägige Passage der Honeywell-Entscheidung, BVerfGE 126, 286 (302) – Honeywell. 25 | Für den Begriff BVerfGE 75, 223 (242) – Kloppenburg. 26 | »Integrationsprogramm« auch im Kontext der NATO, BVerfGE 104, 151 – Neues Strategisches Konzept der NATO. 27 | BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 28 | BVerfGE 126, 286 (303-307) – Honeywell. 29 | BVerfGE 126, 286 (303) – Honeywell. 30 | BVerfGE 89, 155 (205) – Maastricht. 31 | BVerfGE 123, 267 (359) – Lissabon. 32 | BVerfGE 134, 366 – OMT (Vorlage). 33 | Siehe dazu Mayer, Franz C. (2014): Rebels without a cause?, in: German Law Journal (Special Issue), S. 111 (= EuR 2014, 473 und RTDE 2014, 683); Steinbach, Armin (2013): Die Rechtmäßigkeit der Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank,

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Teil II: Politik, Macht, Ideen in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ), S.  918; Wendel, Mattias (2014): Kompetenzrechtliche Grenzgänge: Karlsruhes Ultra  vires-Vorlage an den EuGH, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV), 74, S. 615. 34 | BVerfGE, 2 BvR 2728/13 Urt. v. 21.6.2016 – OMT. 35 | BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 36 | BVerfGE 123, 267 (253ff.) – Lissabon, Rn. 240. 37 | BVerfGE 123, 267 (355f.) – Lissabon. 38 | BVerfGE 123, 267 (361) – Lissabon. 39 | BVerfGE 123, 267 (351) – Lissabon. 40 | BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF, Rn.127. 41  | BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF, Rn. 126. 42 | Bestätigt in BVerfGE 135, 317 – ESM und Fiskalvertrag (Hauptsache). 43 | Siehe für Einzelheiten das Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus, (ESM-Finanzierungsgesetz, ESMFinG). 44 | Siehe etwa BVerfGE 135, 259 – Drei-Prozent-Sperrklausel. 45 | Bryde, Brun-Otto (1994): Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, Heft 3. 46 | Nach Art. 14 Abs. 2 EUV setzt sich das EP aus Vertretern der Unionsbürger zusammen. 47 | BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF, Rn. 131. 48 | BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF, Rn. 130. 49 | BVerfGE 129, 124 – Griechenland/EFSF, Rn. 135. 50 | Die Senatsmehrheit macht sehr deutlich, dass sie ESM und OMT in einer funktionalen Parallele sieht, BVerfGE 134, 366 – OMT (Vorlagebeschluss), Rn. 40 und 78. 51  | 2. Erwägungsgrund des Beschlusses zum PSPP, EZB/2015/10.

Teil III: Reformvorschläge

8. Wirtschaftspolitik neu denken – ein besserer Fiskalrahmen für die Eurozone Jeromin Zettelmeyer 1

Seit der Einführung des Euro werden haushaltspolitische Entscheidungen in der EU in einem Ordnungsrahmen mit bestimmten Fiskalregeln sowie Überwachungs- und Koordinationsmechanismen getroffen. Trotz wiederholter Reformversuche hat dieser Ordnungsrahmen seine wirtschaftspolitischen Ziele nicht erreicht und hat in den letzten Jahre zu zunehmenden Spannungen unter den Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion sowie zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission geführt. Das vorliegende Kapitel schlägt einen alternativen fiskalischen Ordnungsrahmen vor. Dabei werden weder neue Ziele gesetzt (etwa zentralisierte Allokations- und Verteilungsaufgaben, wie sie für eine Fiskalunion typisch wären) noch zusätzliche politische oder strukturelle Annäherung zwischen den Mitgliedstaaten vorausgesetzt. Es geht lediglich darum, den Zielen des ursprünglichen Ordnungsrahmens besser gerecht zu werden: wirtschaftliche Schocks und Konjunkturschwankungen zu stabilisieren 2 sowie Krisen und Konflikte zwischen Mitgliedstaaten zu vermeiden. Und das alles innerhalb des existierenden politischen Rahmens. Selbst diese relativ bescheidenen Ziele sind jedoch ohne Reformen nicht zu erreichen und sie erfordern einen starken politischen Willen.

D ie L ogik von M a astricht Die durch den Vertrag von Maastricht geschaffene Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) beruht einerseits auf einer zentralisierten Geldpolitik und andererseits auf einer – innerhalb des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) – dezentralisierten Fiskalpolitik. In diesem Nebeneinander von Zentralisierung und Dezentralisierung liegt nicht notwendigerweise ein Widerspruch. Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) ist es, die Preisstabilität

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Teil III: Reformvorschläge

zu sichern und damit die zyklische Stabilisierung der Eurozone insgesamt zu gewährleisten. Länderspezifischen Stabilisierungsbedürfnissen einzelner Mitglieder wird dies nicht unbedingt gerecht (siehe Kapitel 3). Solange jeder Mitgliedstaat über ein zusätzliches Stabilisierungsinstrument in Form einer effektiven Fiskalpolitik verfügt, ist dies jedoch unproblematisch. Die Voraussetzung dafür ist, dass Mitgliedstaaten über fiskalischen Spielraum verfügen, sich also problemlos am Finanzmarkt verschulden können. Die Fiskalregeln des SWP, die Staatsverschuldung grundsätzlich auf 60 Prozent und Defizite auf drei Prozent vom BIP zu begrenzen, versuchen diesen Spielraum zu erhalten, indem sie einerseits eine Überschuldung verhindern und andererseits Mitgliedern eine angemessene Flexibilität für antizyklische Fiskalpolitik zugestehen. Der Ordnungsrahmen von Maastricht ist daher durchaus durchdacht – aber er hat dennoch nicht funktioniert. Sein Scheitern wurde spätestens 2010 deutlich, als nach der globalen Finanzkrise zunächst Griechenland und dann weitere Mitglieder der Eurozone den Marktzugang verloren (oder kurz davor standen, ihn zu verlieren) und zu abrupten Ausgabenkürzungen und/oder Steuererhöhungen gezwungen wurden – also dem Gegenteil einer antizyklischen Stabilisierungspolitik. Dieses Scheitern hatte im Wesentlichen zwei Ursachen: • Der SWP beschränkte sich auf die Kontrolle von offizieller Staatsverschuldung. Die Möglichkeit, dass im Zuge einer Finanzkrise sich die private Verschuldung auf dem Wege eines kollabierenden Bankensystems zu Staatsverschuldung wandeln könnte (wie es in Irland oder Spanien geschah), wurde nicht bedacht. Dadurch hatte der Pakt eine offene Flanke. • Der SWP stellte sich selbst in seinem »Kerngeschäft« als nicht sonderlich effektiv heraus. Von den zwölf Mitgliedstaaten des Euro vor 2007 verletzten sieben die Defizitgrenzen des Pakts mindestens einmal, darunter fünf Mitgliedstaaten häufig (Deutschland, Frankreich, Italien) oder immer (Griechenland, Portugal). Selbst in den konjunkturellen Boomjahren 2006 und 2007, in denen die Mitglieder nach der Logik des Pakts fiskalische Spielräume hätten aufbauen sollen, gelang es nur etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten, fiskalische Überschüsse zu erwirtschaften. In der Eurozone fiel die gesamtwirtschaftliche Verschuldungsquote zwischen 1998 und 2007 daher kaum (siehe Abbildung 1).

8. Jeromin Zettelmeyer — Wir tschaf tspolitik neu denken

Abbildung 1: Schuldenstände in der Währungsunion und ihren fünf größten Mitglieder 140

Schuldenstandsquote in % vom BIP

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1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Deutschland

Frankreich

Italien

Niederlande

Eurozonen Gründungsmitglieder

Spanien

Quelle: AMECO, eigene Berechnungen

Seit 2011 sind eine Reihe von Reformen und Ergänzungen der WWU im Gang, die versuchen, auf diese Probleme zu reagieren. Sie stellen dabei die definitorischen Elemente des Ordnungsrahmens von Maastricht – eine zentrale Geldpolitik sowie eine dezentrale, aber regelgebundene Fiskalpolitik – aber nicht infrage. Die wichtigste Ergänzung war die (partielle) Errichtung einer europäischen Bankenunion (in Form gemeinsamer Aufsichts- und Abwicklungsbehörden) sowie europaweite bail-in-Regeln, nach denen Verluste von Banken in erster Linie von den Aktionären und Gläubigern dieser Banken zu tragen sind. Zukünftige Bankenkrisen in der Eurozone sollen durch diese Reformen weniger wahrscheinlich und die öffentlichen Haushalte besser vor den Folgen von Finanzkrisen geschützt werden. Zugleich wurden stärkere Anreize zur Einhaltung der SWP-Regeln geschaffen, die Fiskalregeln mehr auf den mittelfristigen Schuldenabbau ausgerichtet und die Überwachung nationaler Wirtschaftspolitik auf nicht fiskalische Krisenrisiken ausgedehnt (siehe Abbildung 2). Schließlich wurde 2012 mit dem European Stability Mechanism (ESM) ein öffentlicher Fonds geschaffen, der im Falle eines drohenden Verlusts des Marktzugangs eine öffentliche Brückenfinanzierung bereitstellen kann und dadurch den Mitgliedstaaten Zeit für Konsolidierung und Reformen verschafft.

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Teil III: Reformvorschläge

Abbildung 2: Reformen und Ergänzungen der EU-Fiskalregeln, 2011-2013

Dezember 2011: Six-Pack (eine EU-Richtlinie, fünf EU-Verordnungen)

1. Reformen des SWP • Verfahren der umgekehrten qualifizierten Mehrheit: Empfehlungen der Europäischen Kommission gelten als vom Rat angenommen, wenn dieser die Kommissionsinitiative nicht mit einer qualifizierten Mehrheit ablehnt. • Schuldenabbauregel: EU-Mitglieder, deren Schuldenstandsquote den Referenzwert von 60 % des BIP überschreitet, müssen den Abstand zum Referenzwert jährlich um ein Zwanzigstel abbauen. • Bei Nichterreichen des mittelfristigen Haushaltsziels (Medium-Term Objective) wird im Anpassungspfad festgelegt, dass das strukturelle Defizit jährlich um mindestens 0,5 % des BIP sinken soll. • die Einführung von finanziellen Sanktionen (verzinsliche Einlage von 0,2 % des BIP) sind bereits im präventiven Arm möglich, wenn ein Mitgliedstaat nach einer Empfehlung des Rats es unterlassen hat, effective action zu ergreifen. 2. Einführung eines »Frühwarnsystems für makroökonomische Ungleichgewichte« (Macroeconomic Imbalance Procedure) Dadurch sollen mittels eines Scoreboards (den die Europäische Kommission mit »makroökonomischen und makrofinanziellen Indikatoren« für jeden Mitgliedstaat erstellt) mögliche wirtschaftliche Fehlentwicklungen frühzeitig entdeckt und korrigiert werden.

Januar 2013: Fiskalvertrag (völkerrechtlicher Vertrag) Er verpflichtet die (25) unterzeichnenden Staaten zur Einführung einer sogenannten Schuldenbremse in die jeweilige nationale Rechtsordnung (jährliches strukturelles Defizit darf 0,5 % des nominellen BIP nicht übersteigen).

Mai 2013: Two-Pack (zwei EU-Verordnungen) Zur verschärften wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von EUMitgliedstaaten, die ernste Schwierigkeiten haben, ihre finanzielle Stabilität zu wahren, die bereits finanzielle Unterstützung erhalten oder deren Unterstützung aus einem Finanzhilfeprogramm (zum Beispiel ESM) in Kürze ausläuft. Die Eurostaaten sind verpflichtet, ihren Haushaltsplan vor der Verabschiedung im nationalen Parlament der Europäischen Kommission zur Kontrolle vorzulegen.

8. Jeromin Zettelmeyer — Wir tschaf tspolitik neu denken

Dies waren sehr ehrgeizige Reformen, die auf nahezu jedes Problem der ersten Dekade des Euro eine Antwort boten. Es stellt sich daher die Frage, warum die WWU-Reformdebatte seither nicht erloschen, sondern – im Gegenteil – wieder aufgeflammt ist,3 warum in vielen WWU-Mitgliedstaaten Anti-EuroParteien entstanden sind oder an Zulauf gewonnen haben und warum sich die öffentliche Unterstützung eines Eurobeitritts unter Nicht-WWU-Mitgliedern zwischen 2010 und 2015 um zehn Prozentpunkte verschlechtert hat (siehe Abbildung 3). Drei wesentliche Faktoren scheinen dabei eine Rolle zu spielen: 1. Zum Teil ist die Unzufriedenheit mit der WWU sicherlich eine Folge dessen, dass die Probleme im Euroraum seit der 2010 einsetzenden Schuldenkrise nicht abreißen. Die Reformen stellten darauf ab, zukünftige Krisen dieses Typs zu verhindern; gleichzeitig ist es aber durchaus möglich, dass sie die Überwindung der laufenden Krise erschwert haben. Die Fiskalpolitik in der Eurozone hat sich in den Jahren 2011-2013 »prozyklisch« verhalten (verstärkte Konsolidierung in Zeiten schwachen Wachstums) und dadurch wahrscheinlich zur Tiefe und Länge der Eurokrise beigetragen.4 Dieses prozyklische Verhalten machte sich besonders in den Staaten bemerkbar, die im Rahmen des SWP zu fiskalischer Anpassung verpflichtet waren.5 Obwohl es unmöglich ist zu sagen, ob sich die Fiskalpolitik der Eurozone ohne die Weiterentwicklung des SWP seit 2011 anders verhalten hätte, so ist zumindest klar, dass diese Reformmaßnahmen das Problem der Prozyklizität der europäischen Fiskalregeln nicht gelöst haben. 2. Ein weiterer Grund für die Unzufriedenheit mit der WWU sind die praktischen Erfahrungen, die mit den Fiskalregeln seit 2011 gemacht wurden. Länder im (oder nahe am) korrektiven Arm des SWP empfinden die Anwendung der Konsolidierungsregeln oft als zumindest kurzfristig schädlich und haben deshalb versucht, die vom SWP verordnete Anpassung hinauszuzögern.6 Dies wiederum ruft bei Deutschland und anderen fiskalisch orthodoxen Mitgliedern Kritik hervor, und zwar nicht nur an den Defizitsündern, sondern auch an der Europäischen Kommission, der nachgiebige und »politisierte« Entscheidungen vorgeworfen werden.7 Schließlich stehen die Regeln selbst im Kreuzfeuer, weil sie kompliziert sind und technisch nicht gut zu funktionieren scheinen.8 Im Mittelpunkt steht dabei der (an und für sich vernünftige) Versuch, die Anpassungsbemühungen im SWP an einem strukturellen (konjunkturbereinigten) länderspezifischen Defizitziel zu orientieren. Dadurch soll eine prozyklische Fiskalpolitik vermieden werden: Je mehr das Defizit einer Rezession geschuldet ist, desto geringer der vom SWP verordnete Anpassungsbedarf. In der Praxis ist die Trennung von zyklischen und strukturellen Komponenten des Defizits jedoch mit einer hohen Fehlerquote verbunden, mit der Konsequenz, dass die den Mitgliedstaaten abverlangte Anpassung ganz oder teilweise auf Messfehlern beruhen könnte.9

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Teil III: Reformvorschläge

3. Schließlich hat sich seit etwa 2013 ein neues Problem herauskristallisiert, gegen das auch die reformierte WWU machtlos zu sein scheint – unabhängig davon, ob sich die Mitglieder regelkonform verhalten oder nicht. Im Zentrum des Maastricht-Vertrags steht die Idee, dass sich die Fiskalpolitik in den einzelnen EU-Mitgliedsländern nur um Abweichungen der zyklischen Position vom Durchschnitt der Eurozone kümmern muss. Die »durchschnittliche« Stabilisierung der Eurozone ist Aufgabe der EZB. Die letzten drei Jahre haben jedoch gezeigt, dass sich die EZB mit dieser Aufgabe trotz hochgradig expansiver und teilweise unorthodoxer Geldpolitik schwer tut. Daher haben die Europäische Kommission, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die OECD Deutschland und andere fiskalisch starke WWU-Mitglieder dazu aufgerufen, der EZB durch eine expansivere Fiskalpolitik zur Hilfe zu kommen. In diesen Ländern stößt dieser Aufruf jedoch zumeist auf taube Ohren – unter anderem, weil die Fiskalpolitik für die heimischen Konjunkturen dieser Länder als durchaus angemessen empfunden wird. Gleichzeitig wächst die Frustration über die geldpolitischen Maßnahmen der EZB, die sich ihrerseits missverstanden und alleine gelassen fühlt. Abbildung 3: Ablehnung des Euro, 2010-2015 60

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Mai 12 Nov 12 Mai 13 Nov 13 Eurozone Potenzielle Beitrittsländer

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Anmerkung: Die Abbildung zeigt den durchschnittlichen Anteil ablehnender Antworten auf die Frage »Wie ist Ihre Meinung zu den folgenden Vorschlägen? Bitte sagen Sie mir für jeden Vorschlag, ob Sie dafür oder dagegen sind. Eine Europäische Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung, nämlich dem Euro.« Die Ländergruppe »Potenzielle Beitrittsländer« bezeichnet alle EU-Mitglieder, die nicht Mitglied des Euro sind, aber grundsätzlich verpflichtet sind, dem Euro beizutreten (alle nicht-Euro EU-Mitglieder außer Großbritannien und Dänemark). Quelle: Eurobarometer der Europäischen Kommission

8. Jeromin Zettelmeyer — Wir tschaf tspolitik neu denken

A nforderungen an eine effek tive R eform Der Ordnungsrahmen von Maastricht – eine einheitliche Geldpolitik zusammen mit einer dezentralen, aber regelgebundenen Fiskalpolitik – hat sich trotz wiederholter Reformversuche nicht bewährt: weder auf Ebene der Eurozone noch auf Ebene individueller Staaten, weder im Sinne der Krisenprävention noch im Sinne effektiver Stabilisierung. Stattdessen fördert er den Dissens zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone sowie zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen wie der Europäischen Kommission und der EZB. Um diese Probleme zu lösen, brauchen wir eine Reform des fiskalischen Ordnungsrahmens der WWU, die einerseits viel tiefer greift als die bisherigen Reformen des SWP, andererseits aber mögliche politische Reibungsflächen, Interessenskonflikte und Implementationsschwierigkeiten antizipiert und abfedert. Ziel dieser Reform sollte es sein, eine gut funktionierende Stabilisierungsfunktion für die Eurozone und ihre Mitglieder zu schaffen, die sich innerhalb der existierenden politischen Ordnung der Eurozone umsetzen lässt – also keine »politische Union« voraussetzt, die wohl erst in ferner Zukunft (oder vielleicht nie) realisiert werden wird. Daraus lassen sich drei Anforderungen ableiten. • Anforderung 1: Ein Element des neuen Ordnungsrahmens muss eine zentrale fiskalische Kapazität für die Eurozone sein – eine Institution, die in der Lage ist, mit fiskalischen Instrumenten zur Stabilisierung der Eurozone beizutragen. Fiskalpolitische Entscheidungen auf Ebene der Mitgliedstaaten können für die Eurozone insgesamt entweder zu expansiv (wie 2006-2007) oder zu restriktiv (wie 2011-2014) sein, obwohl Fiskalregeln eingehalten werden. Die Hoffnung, diese Inkonsistenz durch eine bessere »Koordinierung« nationaler Fiskalpolitiken aufzulösen, hat sich nicht erfüllt. In einer WWU, in der die Souveränität über nationale Fiskalpolitiken auf nationaler Ebene verbleibt, ist dies auch nicht anders zu erwarten: Man kann von Mitgliedstaaten nicht verlangen, dass sie ihre Fiskalpolitik über die Erfüllung verabredeter Fiskalregeln hinaus an einem kollektiven Interesse ausrichten, wenn dies dem nationalen Interesse zu widersprechen scheint. Insbesondere kann man nicht erwarten, dass Deutschland die Rolle einer zentralen Fiskalkapazität für die WWU übernimmt – schon allein deshalb, weil die dadurch entstehende zusätzliche Verschuldung allein auf nationaler Ebene getragen werden müsste. • Anforderung 2: Der fiskalische Ordnungsrahmen darf nicht zu permanenten Transfers zwischen Mitgliedern führen – jedenfalls nicht außerhalb gesondert legitimierter, verwalteter und begrenzter Funktionen, wie sie mit den EU-Strukturfonds schon jetzt existieren. Sofern automatische Transfers stattfinden – zum Beispiel, weil ein von einer heimischen Rezession

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Teil III: Reformvorschläge

besonders hart getroffener Mitgliedstaat zum fiskalischen Nettoempfänger wird – müssen diese temporär sein und sich im Zuge von wenigen Konjunkturzyklen wieder ausgleichen. Andernfalls besteht die Gefahr, Anreize für eine schlechte Wirtschaftspolitik zu schaffen und neue Verteilungskonflikte zwischen den Mitgliedstaaten auszulösen. • Anforderung 3: Fiskalregeln muss es geben, aber sie dürfen nicht der einzige Pfeiler des Ordnungsrahmens sein, und sie müssen viel besser konstruiert werden, als es bisher der Fall ist. Das im SWP verankerte Mikromanagement nationaler Fiskalpolitik schreibt jährliche Konsolidierungsschritte numerisch vor. Das ist ökonomisch nicht zu rechtfertigen und verursacht hohe politische Kosten: eine wachsende Aversion gegenüber »Brüssel« und der WWU. Die Prozyklizität der jetzigen Regeln muss verschwinden und damit Situationen, in denen sich Regierungen gezwungen sehen, entweder kurzfristig gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung zu handeln oder sich dem Risiko von Sanktionen auszusetzen. Ferner sollte die Effektivität von Fiskalregeln nicht davon abhängen, ob es gelingt, zyklische und strukturelle Komponenten des Wachstums und anderer konjunkturabhängiger Variablen sauber »in Echtzeit« voneinander zu trennen. Wenn man diese drei Anforderungen ernst nimmt, so hat dies direkte Folgen für die laufende WWU-Reformdebatte. Die drei am häufigsten diskutierten Modelle für eine zentrale Fiskalkapazität für die Eurozone sind: • ein Eurozonenbudget, • eine europäische Arbeitslosenversicherung sowie • ein automatischer Stabilisierungsmechanismus, bei dem in Abhängigkeit der jeweiligen konjunkturellen »Outputlücke« Zahlungen zwischen Staaten stattfinden.10 Die Idee eines automatischen Stabilisierungsmechanismus scheint mit den genannten Anforderungen unvereinbar. In ihrer Reinform11 verletzt sie Anforderung 1, da sie nicht die Eurozone als Ganzes stabilisiert, sondern nur Mitgliedstaaten mit überdurchschnittlich hohen Outputlücken.12 Anforderung 3 ist ebenfalls verletzt, da das Verfahren nur effektiv ist, wenn zyklische Aufschwünge und Abschwünge in Echtzeit korrekt gemessen werden. Dadurch ergibt sich auch für Anforderung 2 ein Fragezeichen: Werden Outputlücken nicht richtig gemessen, so könnte es über lange Perioden zu Transfers zugunsten eines Staates kommen, die schwer rückgängig zu machen sind. Auch eine europäische Arbeitslosenversicherung13 ist derzeitig nur schwer mit Anforderung 2 und 3 vereinbar. Die strukturelle, also nicht konjunkturabhängige Arbeitslosigkeit unterscheidet sich erheblich unter den WWU-Mitgliedern. Eine einheitliche Versicherung, die diese Unterschiede nicht berück-

8. Jeromin Zettelmeyer — Wir tschaf tspolitik neu denken

sichtigt, würde daher zu dauerhaften Transfers zugunsten von Mitgliedstaaten mit einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit führen. Grundsätzlich ist dieses Problem lösbar, indem nur zusätzliche Arbeitslosigkeit – jenseits des strukturell bedingten Niveaus – Transfers auslöst oder indem die Prämienzahlungen der Staaten vom Niveau der strukturellen Arbeitslosigkeit abhängen. Dies würde jedoch bedeuten, dass für einen spanischen Arbeitnehmer viel höhere Prämien anfallen würden als für einen deutschen Arbeitnehmer. Und wenn diese Prämien falsch berechnet werden, weil sich die konjunkturelle Komponente der Arbeitslosigkeit in Spanien als höher (oder geringer) herausstellt als angenommen, so könnte dies zu massiven unbeabsichtigten Transfers auf Kosten (oder zugunsten) Spaniens führen. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich solche Fehler durch rückwirkende Korrekturmechanismen ausgleichen (vergleichbar einer rückwirkenden Steuerforderung, wenn das Finanzamt einen Fehler gemacht hat) – aber nur wenn die Fehler nicht zu groß sind, da ja in der Zwischenzeit möglicherweise irreversible Ausgabenentscheidungen getroffen wurden. Dies ist erst dann plausibel, wenn sich die Strukturen nationaler Arbeitsmärkte in Europa in einem hohen Maß angeglichen haben. Die europäische Arbeitslosenversicherung sollte Ziel einer europäischen Fiskalund Sozialunion bleiben, aber erst nach Reformen, die zu einem Abbau der strukturellen Arbeitslosigkeit und der Konvergenz anderer relevanter Strukturmerkmale auf dem Niveau der besten Performer in der Eurozone führen. Im Rahmen der existierenden wirtschaftlichen und politischen Struktur der Eurozone bleibt daher nur noch ein Kandidat für eine zentrale Fiskalkapazität: ein Eurozonenbudget. Diese Option wird unter Verweis auf den Umfang und die Komplexität von föderalen Budgets oft als ökonomisch riskant und politisch unrealistisch abgelehnt. Entgegen dieser Auffassung wird im weiteren Verlauf dieses Kapitel die These vertreten, dass ein solches Budget durchaus wünschbar und mittelfristig umsetzbar sein könnte, sofern • sein Umfang und seine Aufgaben viel kleiner und einfacher definiert werden als das Zentralbudget eines Bundesstaates und • es nicht die einzige Reform des fiskalischen Ordnungsrahmens der Eurozone ist, sondern eine von mehreren sich ergänzenden Reformen.

W ie eine R eform gelingen k ann Im Folgenden wird ein Reformprojekt skizziert, das sofort beginnen und mittelfristig – innerhalb von fünf bis zehn Jahren – abgeschlossen werden könnte. Dazu gehört ein minimalistisches Eurozonenbudget, ein Ordnungsrahmen für die Restrukturierung von Staatsschulden der WWU-Mitgliedstaaten, die Emission eines wesentlichen Anteils neuer Staatsschulden in Form von wachs-

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Teil III: Reformvorschläge

tumsindizierten Anleihen und eine grundlegende Reform des SWP. Dieses Projekt ist fast so ehrgeizig wie die bereits erfolgten institutionellen Aufbauschritte der WWU, also die Gründung der EZB, des ESM und der gemeinsamen Aufsichts- und Abwicklungsbehörden. Dies soll heißen: Es ist sehr ambitioniert – zumindest sein erster Baustein, das Eurozonenbudget könnte eine Änderung der EU-Verträge erfordern –, geht aber im Hinblick auf eine politische Integration nur unwesentlich über den Status quo hinaus und wäre etwa im gleichen Zeitraum realisierbar wie das ursprüngliche WWU-Projekt.

Ein Eurozonenbudget für Stabilisierungszwecke Haushalte haben Verteilungs- und Allokationsfunktionen (Bereitstellung öffentlicher Güter) und sind entsprechend groß. Dies gilt selbst für die oberste Haushaltsebene (Bundesebene) in Föderationen: Ohne Berücksichtigung der Sozialversicherung hat die Schweiz den kleinsten Bundeshaushalt unter den größeren Industrienationen, er umfasst etwa 10,5 Prozent des BIP (Deutschland: etwa 13 Prozent); einschließlich der Sozialversicherung sind es in der Schweiz sowie Kanada um die 17 Prozent (Deutschland: 28,5 Prozent).14 Ohne eine viel weitergehende politische Union ist ein Haushalt dieses Typs für die Eurozone nicht vorstellbar. Die Frage ist nun, ob es möglich ist, einen Haushalt für die Eurozone zu definieren, • der viel kleiner ist als ein föderales Budget, gleichzeitig aber eine spürbare Stabilisierungsrolle spielt. • der nur eng umgrenzte Entscheidungen über die Zusammensetzung von öffentlichen Ausgaben trifft, und • der keine oder nur minimale dauerhafte Umverteilungswirkungen zwischen Staaten hat.

Einnahmenseite Für die Stabilisierungsfunktion des Budgets ist es wichtig, dass es sich aus konjunkturabhängigen Steuern speist. Ideal ist eine Körperschafts- bzw. Gewinnsteuer, weil diese besonders sensibel auf die Konjunktur reagiert (siehe Abbildung 4), möglicherweise ergänzt durch eine Einkommens- oder Mehrwertsteuer. Zwei Durchführungswege sind denkbar: eine neue Steuer auf europäischer Ebene, die durch entsprechende Steuersenkungen auf nationaler Ebene kompensiert wird, oder die »Abzweigung« eines Prozentsatzes national erhobener Steuern. Dieser Prozentsatz müsste so festgelegt werden, dass dies in einer konjunkturell neutralen Position zur Abführung eines bestimmten Anteils des nationalen BIP (zum Beispiel zwei Prozent, siehe unten) in allen Mitgliedstaaten führt. Die Entscheidung, was genau »konjunkturell neutral« bedeutet, kann nicht völlig vermieden werden, sie fände aber nur einmal statt,

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und zwar im Zuge einer Ausgangsverhandlung. Außerdem ließe sie sich korrigieren, falls nach einigen Jahren ein Fehler oberhalb einer festgesetzten Größenordnung festgestellt wird. Abbildung 4: Gewinnsteuerauf kommen in ausgewählten Ländern, 2007-2010 4,0

6,0

3,5

4,0

3,0

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2,5 0,0 2,0 -2,0 1,5 -4,0

1,0

-6,0

0,5

0,0

-8,0 2007 2008 2009 2010 Deutschland

2007 2008 2009 2010 Frankreich Gewinnsteuer ggü. BIP

2007 2008 2009 2010

2007 2008 2009 2010

Italien

Niederlande

BIP (% Wachstum gegenüber Vorjahr, 2. Achse)

Anmerkung: Das Schaubild zeigt für Deutschland die Summe aus Körperschafts- und Gewerbesteuer und für die übrigen Länder die Eurostat-Reihe »Taxes on the income or profits of corporations«. Quelle: Bundesregierung, Destatis, Eurostat, eigene Berechnungen

Ausgabenseite Damit es sich im existierenden politischen Rahmen umsetzen lässt, sollte das Eurozonenbudget die Allokationskompetenzen der Budgets der Mitgliedstaaten möglichst wenig einschränken. Der Vorschlag ist daher, ein Budget zu schaffen, das lediglich zwei Ausgabenkategorien umfasst: 1. Bestimmte Infrastrukturinvestitionen wie grenzüberschreitende Netze oder großvolumige Hoch- und Tiefbauprojekte. Die Europäische Investitionsbank (EIB) könnte diese Projekte – im Rahmen bestimmter Ausgabenkorridore für jedes Mitglied – auswählen und umsetzen. Dazu müsste die EIB möglicherweise föderal erweitert werden. Zwei Argumente sprechen dafür, diese Infrastrukturausgaben auf europäischer Ebene zu tätigen. Zum einen, dass sich dadurch gesamteuropäische Effizienz- und Wachstumsgewinne realisieren lassen (im Sinne einer Stärkung des Binnenmarktes), zum anderen, dass es dadurch möglich werden könnte, bei der Durchführung großer Pro-

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jekte best practices auf institutionell schwächere Länder zu übertragen. Neue Forschungsergebnisse des IWF zeigen, dass die Auswirkungen höherer öffentlicher Investitionen auf das kurz- und mittelfristige Wachstum von der Effizienz öffentlicher Investitionen abhängt.15 In dieser Hinsicht bestehen derzeit große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.16 2. Eine pauschale Zuweisung an die Budgets der Mitgliedstaaten, deren Allokation anfangs vollständig unter nationaler Kontrolle bleibt (eine Verständigung auf Ausgabenbereiche wäre wünschenswert, ist für diesen Vorschlag aber nicht essenziell).17 Diese Zuweisungen könnten als Vorläufer zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung oder zu einem anderen Beitrag zu den Sozialausgaben der Mitgliedstaaten interpretiert werden. Sie würden jedoch nicht von der Höhe der Arbeitslosigkeit oder anderen, durch wirtschafts- oder strukturpolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten beeinflussbaren sozialen Indikatoren abhängen (denkbar wären jedoch Änderungen der Zuweisung im Zeitverlauf in Abhängigkeit von demografischen Entwicklungen). Die Höhe der Zuweisung würde stattdessen für jeden Mitgliedstaat so kalibriert, dass die Summe aus Transfer und Investitionsbudget gleich dem konjunkturell neutralen Steuerbeitrag ist, der aus dem Mitgliedstaat dem Eurozonenbudget zufließt. Die Euro-Finanzministerin bzw. -Budgetkommissarin hätte darüber hinaus die Möglichkeit, diese Zuweisungen zu Stabilisierungszwecken nach oben oder unten zu skalieren, ohne das Verhältnis der Zuweisungen an die Mitgliedstaaten untereinander zu verändern. Die Höhe der Zuweisungen für ein bestimmtes Jahr würde den Mitgliedstaaten im dritten Quartal des Vorjahres mitgeteilt werden, sodass sie auf der Einnahmenseite des Draft Budgetary Plan, den die Mitgliedstaaten zum 15. Oktober jedes Jahres vorlegen, berücksichtigt werden können.

Umfang Das Eurozonenbudget sollte einen spürbaren makroökonomischen Effekt erzielen. Daher sollte es – ausgehend von einem ausgeglichenen Haushalt – einen fiskalischen Impuls (Veränderung des strukturellen Saldos) von mindestens 1,5 bis zwei Prozent vom BIP ausüben können, also einen entsprechenden Überschuss oder Defizit erzeugen. Sofern ein Verschuldungsspielraum existiert, kann auch mit einem kleinen Eurozonenbudget ein Defizit erzeugt werden. Ob ein Überschuss erzielt wird, hängt jedoch davon ab, in welchem Umfang sich Ausgaben kurzfristig reduzieren lassen. Gemessen am Investitionsvolumen des Bundeshaushalts (etwa ein Prozent vom deutschen BIP) erscheint es unwahrscheinlich, dass die vom Eurozonen-BIP finanzierten Investitionen 0,5 Prozent des Eurozonen-BIPs übersteigen können. Will man diese Investitionen auch in einem Boom nicht zu sehr drosseln, so könnte bei einem »normalen« Einnahme- und Ausgabevolumen von zwei Prozent ein

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Überschuss von mindestens 1,5 Prozent erzeugt werden, indem die pauschale Zuweisung an die Mitgliedstaaten für die Dauer des Booms ausgesetzt würde.

Stabilisierungswirkungen Veränderungen in den Einnahmen bzw. Ausgaben des so definierten Budgets würden sich aus folgenden Quellen ergeben: • Konjunkturschwankungen, die zu höheren oder niedrigeren Steuereinnahmen führen • Investitionsentscheidungen innerhalb vorgegebener Unter- und Obergrenzen für jedes Mitglied • Entscheidungen der Budgetkommissarin, die Höhe der pauschalen Zuweisungen (und möglicherweise der Investitionsausgaben) an die Mitgliedstaaten innerhalb gewisser Grenzen nach oben oder unten zu skalieren • sofern Zuweisungen an die Mitgliedstaaten an die demograpfische Entwicklung gekoppelt sind: Veränderungen der Bevölkerungszahl bzw. -struktur Die Stabilisierung würde somit über drei verschiedene Kanäle erfolgen: • Kanal 1: einnahmeseitige automatische Stabilisatoren (Mitgliedstaaten in einer Rezession zahlen automatisch weniger in das Eurozonenbudget ein, Mitglieder in einem Boom automatisch mehr) • Kanal 2: Skalierung von Zuweisungen nach oben oder unten • Kanal 3: Investitionsentscheidungen innerhalb vorgegebener Grenzen Kanal 3 wäre im Umfang relativ bescheiden, er erfordert geeignete Projekte und ist normalerweise mit mehrjährigen Verzögerungen verbunden, da von der Entscheidung bis zur Durchführung viel Zeit vergeht. Bei einer anhaltenden Stagnation könnte er jedoch eine Rolle spielen. Die Kanäle 1 und 2 wären besser geeignet, um auf Schocks zu reagieren bzw. die Konjunktur zu stabilisieren. Bei einem Eurozonenbudget von nur etwa zwei Prozent des BIP – und der Tatsache, dass dieses wahrscheinlich nur zum Teil über konjunktursensible Steuern wie eine Körperschaftssteuer finanziert werden könnte – würde sich die automatische Stabilisierungswirkung des Budgets jedoch in Grenzen halten.18 Das leistungsstärkste Instrument wäre daher Kanal 2, durch den sich die Zuweisungskomponente nach oben oder unten skalieren bzw. ganz aussetzen ließe. Die Wirkung dieser Skalierung nach unten (Kontraktion) ist durch null begrenzt; nach oben (Expansion) ist sie aber offen, sofern das Budget über einen Verschuldungsspielraum verfügt.

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Verschuldungsmöglichkeit und Governance Die Stabilisierungsfunktion führt dazu, dass das Eurozonenbudget normalerweise nicht ausgeglichen wäre, sondern entweder einen Überschuss oder ein Defizit aufweist. Aus kumulativen Defiziten könnte eine Verschuldung der Eurozone erwachsen, deren Nachhaltigkeit vom Wachstum, von den Zinsen und von der Möglichkeit abhängt, in Zukunft Primärüberschüsse zu erwirtschaften. Der Spielraum der Stabilisierungspolitik, von Fall zu Fall zu entscheiden (diskretionärer Spielraum), muss deshalb so genutzt werden, dass die Nachhaltigkeit der Eurozonen-Verschuldung niemals infrage gestellt wird. Dies könnte durch einen niedrigen maximalen Schuldenstand erreicht werden, der nur in Notfällen überschritten werden darf.19 Ein demokratisch legitimiertes Aufsichtsgremium (etwa ein Ausschuss des Europäischen Parlaments) müsste feststellen, ob und wann ein solcher Notfall gegeben ist, und den von der Budgetkommissarin vorgeschlagenen Investitionshaushalt verabschieden.

Einwände und offene Fragen Hält die oben skizzierte Konstruktion, was sie verspricht? Zwei mögliche Einwände fallen hier besonders ins Gewicht. 1. Würde ein kontraktionärer bzw. expansiver Impuls des Eurozonenbudgets durch das Verhalten nationaler Budgets konterkariert? In Falle eines kontraktionären Impulses (Zuweisung wird ausgesetzt) ist dies denkbar, sofern die Mitgliedstaaten den Spielraum haben, ihre Verschuldung entsprechend zu erhöhen. Sofern jedoch Fiskalregeln existieren, die diesen Spielraum teilweise einschränken, und/oder sofern ein Unterschied darin besteht, ob eine fiskalische Expansion durch eigene Verschuldung oder einen Transfer finanziert wird, ist nicht anzunehmen, dass die Reaktion nationaler Haushalte den fiskalischen Impuls völlig neutralisiert. Ähnlich verhält es sich im Falle eines expansiven Impulses. Ein konservativer Finanzminister, der keinen makroökonomischen Grund sieht, die Fiskalpolitik zu lockern, könnte sich weigern, die Zuweisung aus Brüssel auszugeben, und sie stattdessen in den Schuldenabbau stecken. Sofern die Haushaltpolitik nicht ausschließlich auf die Stabilisierung der heimischen Konjunktur ausgerichtet ist, sondern sich an der Vermeidung oder Begrenzung von NettoNeuverschuldung orientiert (wie dies in Deutschland in den letzten Jahren der Fall war), erscheint eine Neutralisierung des fiskalischen Impulses jedoch unwahrscheinlich. Die Bereitschaft, Ausgaben zu erhöhen, hängt zum Teil von der Finanzierungsquelle ab. Eine Aufforderung, 15 Milliarden Euro zusätzlich auszugeben, wird viel eher befolgt werden, wenn sie mit einem Scheck über 15 Milliarden Euro unterlegt ist, als wenn sie durch zusätzliche nationale Verschuldung finanziert werden muss.20

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2. Wäre das vorgeschlagene Budget tatsächlich in seinen erwarteten Verteilungswirkungen neutral? Die Regeln des Eurozonenbudgets würden der Budgetkommissarin keinen Handlungsspielraum (Diskretion) geben, höhere länderspezifische Zuweisungen zu beschließen: Sie könnte lediglich über die Höhe der Zuweisung an die Eurozone insgesamt entscheiden, die dann nach einem festen Schlüssel verteilt wird. Verteilungswirkungen könnten dennoch aus zwei Quellen entstehen: dem Investitionsbudget und der Tatsache, dass manche Länder schneller wachsen als andere und dadurch höhere Einnahmen in das Eurozonenbudget einzahlen. Ersteres ist unproblematisch, da dieses Budget klein ist, die Diskretion auch hier beschränkt wäre (durch länderspezifische Ausgabenkorridore) und es einer demokratischen Kontrolle unterliegen würde. Letzteres würde nur dann zu permanenten Transfers führen, wenn bestimmte Länder auf Dauer schneller bzw. langsamer wachsen (konjunkturbedingte höhere Einnahmen ermöglichen eine automatische Stabilisierung und gleichen sich über die Zeit aus). Dieser Effekt ist einfach zu neutralisieren: Zum Beispiel könnte bei der Kalibrierung des Zuweisungsschlüssels das – von der Europäischen Kommission oder vom IWF – prognostizierte Potenzialwachstum berücksichtigt werden; alle fünf Jahre könnte eine neue Kalibrierung stattfinden, in die die Unterschiede zwischen dem erwarteten und dem realisierten Wachstum der letzten Periode einbezogen werden. Eine weitere wichtige Frage betrifft mögliche unbeabsichtigte Konsequenzen, insbesondere Fehlanreize für die nationale Ebene. Zwei Probleme sind denkbar: 1. »Free Riding« von nationalen Haushalten gegenüber dem Eurozonenhaushalt, indem die Ausgabenverantwortung für bestimmte Investitionen auf das Niveau der Eurozone »geschoben« wird 2. ein Mangel an Ausgabendisziplin in der Hoffnung, das Eurozonenbudget würde zur Hilfe kommen, wenn etwas schiefgeht Das erste Problem lässt sich dadurch lösen, dass klar zwischen Ausgabenkategorien in Eurozonen- und nationaler Verantwortung unterschieden wird. Dies sollte möglich sein: Innerhalb einzelner Staaten lässt sich die Ausgabenverantwortung verschiedener staatlicher Ebenen ja auch klar abgrenzen. Dem zweiten Problem lässt sich dadurch begegnen, dass ein klares bail-out-Verbot besteht, das vertraglich abgesichert ist und sich speziell an das neue Budget richtet, effektive Fiskalregeln auf nationaler Ebene eingeführt werden sowie ein Mechanismus, der sicherstellt, dass Schuldenkrisen nicht zulasten der europäischen Steuerzahler gehen. Die letzten beiden Themen werden im folgenden Abschnitt ausgeführt.

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Komplementäre Reformbausteine Das Eurozonenbudget soll in erster Linie die Eurozone insgesamt stabilisieren sowie die Effizienz von Infrastrukturinvestitionen verbessern. Zur Stabilisierung asymmetrischer Schocks ist das Eurozonenbudget dagegen – im Vergleich zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung oder dem Mechanismus von Enderlein21 – nicht so gut geeignet. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf einnahmeseitige, automatische Stabilisatoren, deren Wirkung angesichts des begrenzten Umfangs konjunkturabhängiger Steuern bescheiden ausfallen könnte. Ein weiteres Problem sind mögliche Fehlanreize durch die Existenz eines zentralen Budgets, das Mitgliedstaaten vor den Konsequenzen schlechter Fiskalpolitik auf Mitgliedsebene schützt. Um diese Probleme zu lösen, muss die Errichtung eines Eurozonenbudgets von komplementären Reformschritten begleitet werden.

Ein Ordnungsrahmen für die Restrukturierung exzessiver Staatsschulden Die europäischen Fiskalregeln waren darauf ausgerichtet, es nie zu einer exzessiven Staatsverschuldung kommen zu lassen. Dies ist misslungen: So reichten bei Griechenland selbst extreme Konsolidierungsanstrengungen und billige Kredite der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität nicht aus, um die Solvenz der öffentlichen Hand wiederherzustellen. Im Frühjahr 2012 kam es zu einer Ad-hoc-Restrukturierung der griechischen Staatsanleihen, bei der die (überwiegend privaten) Gläubiger etwa zwei Drittel des Barwerts ihrer Forderungen verloren. Selbst dieser massive Schuldenschnitt reichte jedoch nicht aus, auch weil er zu spät kam.22 Eine erneute Restrukturierung der griechischen Staatsschulden erscheint daher heute unvermeidlich, diesmal jedoch auf Kosten der öffentlichen Gläubiger.23 Um zu vermeiden, dass zukünftige Schuldenkrisen wieder entweder auf dem Rücken der Bürger des betroffenen Mitgliedstaats oder – nach letztlich fruchtlosen Konsolidierungsanstrengungen – auf dem Rücken der Steuerzahler im Euroraum ausgetragen werden, benötigt die Eurozone ein Verfahren zur geordneten Restrukturierung von exzessiven Staatsschulden. Ein solches Verfahren hätte zur Vermeidung und Lösung der Eurokrise beitragen können. Als komplementäre Reform zum Eurozonenbudget ist sie überdies unverzichtbar. Erfahrungen aus fiskalischen Föderationen zeigen, dass die Existenz eines zentralen Budgets die fiskalische Disziplin der untergeordneten fiskalischen Ebenen untergraben kann.24 Um dies zu verhindern, ist ein glaubwürdiges bail-out-Verbot notwendig. Einem bail-out-Verbot fehlt es aber an Glaubwürdigkeit, solange es in der Eurozone kein klares Verfahren gibt, durch das die Überschuldung eines Staats auf Kosten privater Gläubiger abgebaut werden kann. Die Möglichkeit der geordneten Restrukturierung von Staatsschulden

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schafft ein Ventil, um mit extremen länderspezifischen Schocks fertig zu werden, ohne das Eurozonenbudget beanspruchen zu müssen. Zur Frage, wie ein europäischer Ordnungsrahmen zur Restrukturierung von exzessiven Staatsschulden genau aussehen könnte, existiert inzwischen eine umfangreiche Literatur.25 Die Vorschläge umfassen typischerweise zwei Komponenten: • einen Rechtsrahmen, der eine zwischen den Gläubigern und dem Mitgliedstaat ausgehandelte Restrukturierung legitimiert (etwa durch Zustimmung von zwei Dritteln der Gläubiger und/oder des ESM) und gegen rechtliche Anfechtung durch nicht teilnehmende Gläubiger (»Geierfonds«) schützt. Dies könnte zum Beispiel durch eine Änderung des ESM-Vertrags erreicht werden. • ein Kriterium, das neue ESM-Kredite oder andere fiskalische Hilfen an sehr hoch verschuldeten Mitgliedstaaten innerhalb der Eurozone ausschließt, wenn nicht zumindest die Amortisierungsfristen existierender Staatsanleihen verlängert werden. Falls das neue ESM-Programm nicht ausreicht, um die Solvenz des Mitgliedstaats wiederherzustellen, würde dadurch die Option einer weitergehenden Restrukturierung der Staatsverschuldung zulasten privater Gläubiger erhalten bleiben. Die Einführung eines solchen Ordnungsrahmens wäre mit Komplikationen und Risiken verbunden: • Auch der beste Ordnungsrahmen dieser Art ist nicht glaubwürdig, solange ein hoher Anteil der Anleihen eines Staats von den eigenen Banken gehalten wird. Dies erfordert regulatorische Änderungen, die zu einem Abbau dieser Bestände führen und dafür sorgen, dass diese bestimmte Großkreditgrenzen nicht überstiegen werden. • Die unvermeidliche – und bis zu einem gewissen Grade auch beabsichtigte – Folge eines Schuldenrestrukturierungsregimes ist, dass Staaten mit sehr hoher Verschuldung höhere Zinsen zahlen müssten und den Marktzugang früher verlieren würden, als dies heute der Fall ist. Gerade dieser Mechanismus ist es, der – ausgehend von einer moderaten Verschuldung – die Überschuldung verhindern soll. Wird der Ordnungsrahmen jedoch zu einer Zeit eingeführt, in der mehrere Staaten auf sehr hohen Altschuldenbeständen sitzen, so könnte dies eine neue Schuldenkrise auslösen. Es ist daher entscheidend, bei der Einführung eines solchen Rahmens zum einen angemessene Übergangsfristen zu setzen und sie zum anderen mit Reformen zu verbinden (wie die Einführung eines Eurozonenbudgets und die nachstehend skizzierte Reform des SWP), die hochverschuldeten Staaten bes-

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sere Chancen geben, aus der Stagnation herauszukommen und ihre Schuldenberge durch eine Kombination aus Wachstum und Konsolidierung abzubauen.

Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes Die derzeitigen Fiskalregeln für die Eurozone sind komplex, fehleranfällig und prozyklisch. Sie müssen durch eine Governance-Struktur ersetzt werden, die einerseits Überschuldung verhindert und andererseits ausreichende Freiräume für eine länderspezifische Stabilisierungspolitik erhält. Dafür gibt es eine Reihe von Vorschlägen.26 Diesen Vorschlägen ist gemein, dass sie, um Prozyklizität zu vermeiden, nicht auf mechanistische und möglicherweise fehleranfällige Konjunkturbereinigungsverfahren setzen, sondern stattdessen auf die Identifikation von Abschwung- bzw. Krisenphasen durch externe, unabhängige Expertengremien. In diesen Phasen würde dem Mitgliedstaat eine höhere Flexibilität eingeräumt bzw. gelten modifizierte Regeln, die höhere Ausgaben für Arbeitslose, höhere Investitionen oder beides zulassen. Andrle/Bluedorn et al. (2015) und Claeys/Darvas et al. (2016) setzen sich außerdem für Fiskalregeln ein, die in normalen Zeiten das Ausgabenwachstum statt das möglicherweise fehlerhaft gemessene strukturelle Defizit deckeln. Eine noch weitreichendere Lösung könnte es sein, bei einer Überschreitung bestimmter Schuldenstände oder Defizite gänzlich auf regelabhängige Konsolidierungsvorgaben zu verzichten und stattdessen mit den betroffenen Staaten länderspezifische, die heimische Konjunktur berücksichtigende Konsolidierungs- und Reformprogramme zu verhandeln. Diese Programme würden nicht nur individuell passende Konsolidierungsziele und -mittel festlegen, sondern auch wachstumsfördernde Strukturreformen und Investitionen. Je glaubhafter und besser strukturiert das Reformpaket ist, desto geringer ist der kurzfristige Konsolidierungsbedarf. Dieser Ansatz erfordert jedoch eine fachlich sehr starke und politisch unabhängige Überwachung durch eine Institution, die die Umsetzung der Reformen regelmäßig prüft, eine Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten gewährleistet und im Falle mangelnder Fortschritte zu einem reinen Konsolidierungsansatz zurückkehrt.

Emission wachstumsabhängiger Staatsanleihen Es existiert noch ein weiterer, einfach realisierbarer Stabilisierungsmechanismus: »wachstumsabhängige Staatsanleihen« (GDP-Indexed Bonds), bei denen der Zins vom Wachstum abhängt.27 Es gibt historische Beispiele für solche Anleihen, bisher wurden sie jedoch nur im Nachgang zu Schuldenrestrukturierungen emittiert und in entwickelten Volkswirtschaften kaum eingesetzt. Wie Blanchard/Mauro et al. (2016) zeigen, könnten sie jedoch für Mitglieder der Eurozone besonders hilfreich sein, da deren Stabilisierungsoptionen mangels länderspezifischer Geld- und Währungspolitik eingeschränkter sind als in anderen entwickelten Staaten außerhalb des Euro-Währungsgebiets.

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Wachstumsabhängige Staatsanleihen wirken sich auf die öffentlichen Finanzen des Emittenten über zwei Kanäle aus. Da ein Teil des Wachstumsrisikos eines Staats an den Gläubiger abgegeben wird, sind sie aus der Perspektive des Emittenten typischerweise teurer (höhere erwartete Rendite) als normale Staatsanleihen. Gleichzeitig führen sie jedoch in Rezessionen zu deutlich niedrigeren Zinsausgaben, als dies sonst der Fall wäre. Wachstumsabhängige Staatsanleihen tragen so einerseits zur konjunkturellen Stabilisierung bei (sie erlauben in einem Abschwung eine expansivere Fiskalpolitik) und können andererseits den sprunghaften Anstieg der Staatsverschuldung im Falle einer anhaltenden oder sehr tiefen Rezession bremsen. Sie unterstützen dadurch die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung und machen es weniger wahrscheinlich, dass ein Schuldenproblem auf dem Wege eines ESM-Programms – oder im Extremfall, durch eine Restrukturierung der Staatsverschuldung – gelöst werden muss. Blanchard/Mauro et al. (2016) zeigen, dass wachstumsabhängige Staatsanleihen angesichts der Schocks, die ein Staat wie Spanien zwischen 1999 und 2014 einstecken musste, wesentlich zur Stabilisierung der spanischen Staatsverschuldung beigetragen hätten. Regierungen stehen der Emission von wachstumsabhängigen Staatsanleihen oft kritisch gegenüber, weil sie etwas teurer wären als normale Anleihen und weil die emittierende Regierung implizit zugibt, dass das zukünftige Wachstum mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Aber dies ist kurzsichtig gedacht und lässt die Ansteckungsrisiken einer ausufernden Schuldenkrise für andere Mitglieder der Eurozone außer Acht. Eine Vereinbarung, bei der sich alle Mitglieder der Eurozone verpflichten, einen Mindestanteil ihrer zukünftigen Staatsanleihen (zum Beispiel ein Drittel) als wachstumsabhängige Anleihen zu emittieren, wäre sowohl im kollektiven Interesse der Eurozone wie im langfristigen Interesse der einzelnen Mitglieder.

F a zit Die vorgeschlagene Reform des fiskalischen Ordnungsrahmens für die Eurozone besteht aus vier Elementen: 1. ein Eurozonenbudget im Umfang von etwa zwei Prozent vom BIP, das kritische Infrastrukturinvestitionen finanziert und die EZB bei der Dämpfung von Booms und der Überwindung anhaltender Niedrigzinsphasen unterstützt 2. ein Mechanismus zur Restrukturierung von Staatsschulden, um das bailout-Verbot glaubwürdig zu machen und die Lasten von Schuldenkrisen gerechter zu verteilen

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3. eine Reform des SWP, um eine prozyklische Fiskalpolitik zu vermeiden und Investitionen und Strukturreformen eine größere Chance zu geben 4. die Emission wachstumsabhängiger Staatsanleihen, um einen zusätzlichen Kanal für eine automatische Stabilisierung zu schaffen und die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung in Stagnationsphasen zu verbessern Kaum eine dieser Reformen ist politisch einfach. Dies liegt zum Teil daran, dass ihre Chancen und Risiken in jedem Mitgliedstaaten des Euro unterschiedlich ausfallen. So sind die Risiken, dass ein dilettantisch eingeführter Mechanismus zur Restrukturierung von Staatsschulden die Staatsverschuldung drastisch verteuert und womöglich eine neue Krise auslöst, in Italien viel höher als in Deutschland. Diese Risiken müssten durch einen großzügig bemessenen Übergangsmechanismus minimiert werden. Etwas anders verhält es sich mit der Errichtung eines Eurozonenbudgets mit einer eigenen Verschuldungskapazität. Dieses Element des Reformpakets wird in Deutschland am kontroversesten diskutiert. In der hier vorgeschlagenen Form wäre die Funktion des Budgets aber derart begrenzt, dass es kaum zu einem Instrument der Umverteilung in Europa werden könnte. Der einzige Grund, den Vorschlag dennoch als eine Art Einfallstor für zusätzliche Umverteilung in Europa abzulehnen, ist die Befürchtung, dass er missbraucht werden könnte: Ginge etwas schief – und bliebe ein europäischer Schuldenberg übrig –, so sähe sich Deutschland als fiskalisch leistungsfähigster Mitgliedstaat mit in der Haftung. Mit diesem Argument »Geht etwas schief, so sind wir in der Haftung« lässt sich jedoch nahezu jede WWU-Reformidee zerschießen. Diese für deutsche und andere »nordische« Konservative typische Ablehnungshaltung und die Tendenz des »Südens«, jede Reform abzulehnen, die – selbst in ferner Zukunft – auf eine Erhöhung von Marktdisziplin hinausläuft, verdammt die WWU jedoch zum Stillstand. Stillstand aber bedeutet weitere Stagnation, geht wieder zulasten der Bevölkerung und zugunsten von Parteien, die sich mit trügerischen Lösungen gegen das europäische Integrationsprojekt wenden. Es gibt einen anderen Weg: einen Reformpfad, in denen die Risiken einerseits minimiert und andererseits symmetrisch zwischen »Norden« und »Süden« verteilt werden. Dies wird dadurch erreicht, dass die institutionellen Reformen auf dem Bestehenden auf bauend und experimentell stattfinden (ein Eurozonenbudget könnte viel bescheidener anfangen als die oben vorgeschlagenen zwei Prozent des BIP), einer starken und transparenten Governance unterliegen und in einer Weise gebündelt werden, die Chancen und Risiken gerecht verteilt. Die skizzierten Reformelemente sind in diesem Sinne gemeint. Die Alternative wäre Stillstand – und ein fortgesetzter Stillstand ist das größte aller Risiken.

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A nmerkungen 1 | Dieser Beitrag gibt die private Meinung des Autors wieder. Ich bedanke mich für ihre Unterstützung und Kommentare bei den Herausgebern dieses Buches, Philipp Steinberg und Alexander Schellinger, sowie bei Agnès Bénassy-Quéré, Henrik Enderlein, Agata Grzeszewski, Katharina Marsch, Jean Pisani-Ferry, Felix Probst, Xavier Ragot und den Teilnehmern eines Workshops der France-Strategie, der am 7.6.2016 stattfand. 2 | Der Begriff »Stabilisierung« bezeichnet in diesem Beitrag eine gesamtwirtschaftliche Nachfragepolitik im weitesten Sinne: zur Dämpfung von Konjunkturzyklen, zur Stabilisierung nach Schocks, aber auch zur Überwindung von längeren Deflations- oder Stagnationsphasen. 3 | Juncker, Jean Claude/Tusk, Donald et al. (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas beenden; http://ec.europa.eu/priorities/sites/beta-political/ files/5-presidents-report_de_0.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2015): Anhang zum Jahresgutachten »Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt«; www.sachverstaen digenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201516/wirtschafts-gut achten/jg15_ges.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 4 | Barbiero, Francesca/Darvas, Zsolt (2014): In sickness and in health: protecting and supporting, in: Bruegel Policy Contribution 2, Februar; http://bruegel. org/wp-content/uploads/imported/publications/pc_2014_02.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); inwieweit »Austerität« in den Jahren 2011-2013 zur europäischen Rezession von 2012-2013 beigetragen hat, ist nach wie vor umstritten. Dass sie einen kontraktiven Effekt hatte, ist nicht mehr umstritten. Siehe Alesina, Alberto/Barbiero, Omar et al. (2015): Austerity in 2009-2013, in: Economic Policy, 30. Jg., Juli, S.  383-437; http://scholar.harvard.edu/files/alesina/files/austerity_in_09-13_2014. pdf?m=1414170559 (aufgerufen am 20.6.2016) sowie die Diskussion von Taylor, Alan M. (2015): Comment on »Austerity in 2009-2013« by Alesina, Barbiero, Favero, Giavazzi, and Paradisi, in: Economic Policy, 30. Jg., Juli, S. 383-437. 5 | Bénassy-Quéré, Agnè/Ragot, Xavier et al. (2016): Which Fiscal Union for the Euro Area, in: Bruegel Policy Contribution 5, Februar; http://bruegel.org/wp-con tent/uploads/2016/02/pc_2016_05.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 6 | Zu Frankreich siehe Europäische Kommission (2015): Recommendation for a council recommendation with a view to bringing an end to the excessive government deficit in France; http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/ sgp/pdf/30_edps/126-07_commission/2015-02-27_fr_126-7_commission_en.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); zu Italien, Portugal und Spanien siehe Europäische Kommission (2016): Spring 2016 European Semester package: Commission issues country-specific recommendations; http://europa.eu/rapid/press-release_IP-161724_en.htm (aufgerufen am 20.6.2016).

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Teil III: Reformvorschläge 7 | So zuletzt sehr deutlich der Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, am 14.6.2016 in einer Stellungnahme vor dem Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments, in der er zum einen die Rolle der Europäischen Kommission als »Hüterin der Verträge« anmahnte und zugleich vor einer Ungleichbehandlung großer und kleiner Länder warnte. 8 | Andrle, Michal/Bluedorn, John et al. (2015): Reforming Fiscal Governance in the European Union, in: Staff Discussion Notes 9, International Monetary Fund; https://www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2015/sdn1509.pdf (aufgerufen am 20.6. 2016); Claeys, Grégory/Darvas, Zsolt et al. (2016): A Proposal to revive the European Fiscal Framework, in: Bruegel Policy Contribution 7, März; http://bruegel.org/ wp-content/uploads/2016/03/pc_2016_07.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 9 | So ermitteln zum Beispiel Claeys/Darvas et al. 2016, dass der typische jährliche Messfehler (durchschnittliche Korrektur im gemessenen strukturellen Defizit zwischen zwei Jahren) regelmäßig höher ist als die den Ländern typischerweise abverlangte Konsolidierung von einem halben Prozent vom BIP. 10  | Enderlein, Henrik/Bofinger, Peter et al. (2012): Completing the Euro. A road map towards fiscal union in Europe (Report of the »Tommaso Padoa-Schioppa Group«), Notre Europe; www.notre-europe.eu/media/completingtheeuroreportpadoa-schioppagroupnejune2012.pdf?pdf=ok (aufgerufen am 20.6.2016); Wolff, Guntram (2012): A budget for Europe’s monetary union, in: Bruegel Policy Contribution 22; http://bruegel.org/wp-content/uploads/imported/publications/pc_2012_ 22_EA_budget_final.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); Pisani-Ferry, Jean/Vihriälä, Erkki (2013): Options for Euro-Area Fiscal Capacity, in: Bruegel Policy Contribution 1, Januar; http://bruegel.org/wp-content/uploads/imported/publications/pc_ 2013_02.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); Allard, Celine/Koeva Brooks, Petya et al. (2013): Toward a Fiscal Union for the Euro Area, IMF Staff Discussion Note 13/09, September; Enderlein, Henrik/Guttenberg, Lucas et al. (2013): Blueprint for a Cyclical Shock Insurance in the Euro Area, Project »EU & differentiated Integration«, September 2013, Notre Europe; www.notre-europe.eu/media/blueprintforacyclicalshockinsurancene-jdisept2013.pdf?pdf=ok (aufgerufen am 20.6.2016). 11 | Enderlein, Henrik/Guttenberg, Lucas et al. (2013). 12 | Man könnte sich auch eine Variante vorstellen, in der nicht Abweichungen von der durchschnittlichen Outputlücke Transfers auslösen, sondern die absolute Höhe der Outputlücke. In diesem Fall müsste der Mechanismus mit einem Fonds oder einer Schuldenaufnahmekapazität verbunden sein. Anforderung 1 wäre erfüllt, da der Mechanismus auch dann noch eine stabilisierende Wirkung hätte, wenn die Eurozone als Ganzes in eine Rezession rutscht. Die Fehleranfälligkeit des Mechanismus würde dadurch aber noch verschärft, da die absolute Höhe von Outputlücken noch schwerer in Echtzeit einzuschätzen ist als die relative Höhe der Outputlücke in einem Mitgliedstaat im Vergleich mit anderen. 13 | Siehe zum Beispiel Claeys, Grégory/Darvas, Zsolt et al. (2014): Benefits and drawbacks of European Unemployment Insurance, in: Bruegel Policy Brief 6, Sep-

8. Jeromin Zettelmeyer — Wir tschaf tspolitik neu denken tember; http://bruegel.org/wp-content/uploads/imported/publications/pb_2014_06 _281114.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 14 | Quelle: Internationaler Währungsfonds: Government Finance Statistics. Die Angaben für die Schweiz beziehen sich auf 2013, für die übrigen Länder auf 2014. Das sind die jeweils letzten verfügbaren Jahrgänge. 15 | Internationaler Währungsfonds (2014): Is it time for an infrastructure push? The macroeconomic effects of public investment, World Economic Outlook, Kapitel 3, Oktober, S. 75-114; https://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2014/02/pdf/ c3.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 16  | Die IWF-Studie verwendet umfragebasierte Indikatoren des Weltwirtschaftsforums. Unter den Staaten der Eurozone erzielte im Jahre 2015 Finnland die beste Bewertung (knapp fünf auf einer Skala von eins bis sieben, die bestmögliche Bewertung), während Italien lediglich eine Bewertung von knapp zwei erzielte. 17  | Dies ähnelt den von Henrik Enderlein und Jean Pisani-Ferry vorgeschlagenen »Zielzuschüssen zur Erreichung gemeinsamer Ziele« aus einem Eurozonenfonds an Mitgliedstaaten, siehe Enderlein, Henrik und Jean Pisani-Ferry (2014): Reformen, Investitionen und Wachstum: eine Agenda für Frankreich, Deutschland und Europa, ein Bericht für Sigmar Gabriel und Emmanuel Macron, November; www. bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/empfehlung-enderlein-pisaniferry-deutsch,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). Im Unterschied zu Enderlein und Pisani-Ferry wären die hier vorgeschlagenen Zuweisungen jedoch nicht zweckgebunden. 18  | In Deutschland zum Beispiel erbringt die Körperschaftssteuer nur etwa 0,7 Prozent vom BIP. 19  |  Bei einem maximalen Primärüberschuss (das heißt ohne Zinszahlungen) von 1,5 Prozent und sehr konservativen Annahmen über den Realzins (maximal vier Prozent) und das langfristige reale Wachstum (mindestens ein Prozent) ergibt sich eine maximale nachhaltige Verschuldung (der Wert, bei dem der Schuldenquote gerade noch stabil gehalten werden kann) von 50 Prozent vom BIP. Bei dieser Quote wäre jedoch keine zusätzliche Verschuldung mehr möglich. Um Stabilisierungsspielräume zu erhalten, sollte deshalb ein sehr viel niedrigerer maximaler Schuldenstand angestrebt werden. Bei einem Realzins von drei Prozent und einem Wachstum von einem Prozent würde die Stabilisierung eines Schuldenstands von 15 Prozent einen Primärüberschuss von lediglich 0,3 Prozent vom BIP erfordern. Damit bliebe mehr als genug »Pulver«, um im Notfall einen expansiven Impuls zu erzeugen. 20 | Der Umgang des deutschen Finanzministers mit unerwartet hohen Einnahmen in den Jahren 2014 und 2015 verdeutlicht diesen Punkt: Trotz Rekordbeschäftigung und einer starken Konjunktur flossen diese zusätzlichen Gelder überwiegend in höhere Ausgaben (für Kommunen, öffentliche Investitionen und Ende 2015 in eine Reserve für Flüchtlinge) statt in den Schuldenabbau. Die zusätzlichen In-

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Teil III: Reformvorschläge vestitionen und Kommunalausgaben wären nicht zustande gekommen, wenn sie auf Kosten höherer Verschuldung gegangen wären. 21  | Siehe Enderlein, Henrik/Guttenberg, Lucas et al. (2013). 22 | Zettelmeyer, Jeromin/Trebesch, Christoph et al. (2013): The Greek Debt Restructuring: An Autopsy, in: Economic Policy, Juli, S. 513-563; http://economicpoli cy.oxfordjournals.org/content/economicpolicy/28/75/513.full.pdf (aufgerufen am 20.6.2016). 23 | Eurogruppe (2016): Eurogroup statement on Greece, Press release, 25.5.2016; www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2016/05/24-eurogroup-state ment-greece/ (aufgerufen am 20.6.2016). 24 | Rodden, Jonathan (2002): The Dilemma of Fiscal Federalism: Grants and Fiscal Performance around the World, in: American Journal of Political Science 3, S. 670-687. 25 | Siehe Übersicht: Zettelmeyer, Jeromin (2016): A Sovereign Debt Restructuring Mechanism for the Euro Area?, in: Olli Rehn/Jeromin Zettelmeyer (Hg.): Global Fiscal Systems: From Crisis to Sustainability, World Economic Forum, Mai, S. 24-29; http://www3.weforum.org/docs/WEF_GAC16_Global_Fiscal_Systems_From_Cri sis_to_Sustainability_report.pdf (aufgerufen am 7.7.2016). 26 | Andrle, Michal/Bluedorn, John et al. (2015); Bénassy-Quéré, Agnè/Ragot, Xavier et al. (2016); Claeys, Grégory/Darvas, Zsolt et al. (2016). 27  |  Zum Beispiel Zins gleich Wachstumsrate des BIP plus einem festen Aufschlag, siehe Borensztein, Eduardo/Mauro, Paolo (2004): The Case for GDP-indexed Bonds, in: Economic Policy 38, April, S. 165-216; Barr, David/Bush, Oliver et al. (2014): GDPlinked bonds and sovereign default, Bank of England, Working Paper 484, Januar; www.bankofengland.co.uk/research/Documents/workingpapers/2014/wp484.pdf (aufgerufen am 20.6.2016); Blanchard, Olivier/Mauro, Paolo et al. (2016): The Case for Growth-Indexed Bonds in Advanced Economies Today, Peterson Institute for International Economics, Policy Brief 16-2, Februar.

9. Ein institutioneller Rahmen für die reformierte Eurozone Daniela Schwarzer

Seit Beginn der Währungsunion im Jahr 1999 ist die Europäische Zentralbank (EZB) für die Geldpolitik in der Eurozone zuständig. Anders als in anderen Währungsgebieten, deren Grenzen sich zumeist mit denen der Nationalstaaten decken, steht ihr jedoch keine Eurozonen-Regierung oder ein EurozonenFinanzminister gegenüber. Neben der EZB wirkt eine Vielzahl an nationalen und europäischen Akteuren am »wirtschaftspolitischen Regieren« mit. Die sogenannte Economic Governance der Eurozone ist damit ein komplexer und mitunter nur bedingt effizienter, transparenter und demokratischer Prozess. Bei der Gründung der Eurozone wurden neben der EZB zunächst keine weiteren Institutionen geschaffen, die nur den Mitgliedern der Eurozone vorbehalten waren. In den Verhandlungen zum Maastricht-Vertrag ging man davon aus, dass die Situation, in der nur eine Gruppe von EU-Staaten Eurozonenmitglieder sind, nur eine Übergangsphase sei. Über die Jahre wurde jedoch deutlich, dass nicht nur die Opt out-Staaten Großbritannien und Dänemark dauerhaft nicht der Eurozone beitreten würden. Auch Polen und andere mittelund osteuropäische Staaten entfernten sich vom Ziel eines raschen Beitritts. Die Eurozone und die EU werden sich also auf absehbare Zeit hinsichtlich ihrer Mitglieder nicht überlappen. Gleichzeitig zeigte sich bereits in den ersten Jahren der Währungsunion, dass der Abstimmungs- und Integrationsbedarf zwischen den Eurozonenstaaten deutlich über dem in der EU und dem Binnenmarkt hinausgeht. Insbesondere seit Beginn der Krisenserie in der Eurozone mit dem Überschwappen der Finanzkrise aus den USA in die EU im Jahr 2007/2008 wurde deutlich, dass der Eurozone Instrumente und Institutionen fehlen. So rückte die Frage ihrer weiteren institutionellen Gestaltung wieder auf die Tagesordnung. Im Zuge des Krisenmanagements selbst haben sich die Strukturen bereits verändert, da mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Eurozonengipfel neue Formate und Instrumente geschaffen wurden. Darüber hinaus gibt es weitreichende Vorschläge, wie die Governance-Strukturen weiterentwickelt

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Teil III: Reformvorschläge

werden können, um politische Entscheidungen in der Eurozone effizient und demokratisch legitimiert zu fällen. Im Jahr 2016 erhält dieses Thema eine neue Relevanz. Erstens hat die Diskussion um legitimere, transparentere und effizientere Entscheidungen durch das »Brexit«-Votum im Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU im Juni 2016 Aufwind bekommen. Auch in anderen Mitgliedstaaten werden Forderungen nach Volksabstimmungen über den Verbleib in der EU laut. Zweitens gewinnt die Einschätzung immer mehr an Gewicht, dass die Zukunft der EU eine weitaus differenziertere sein wird, als man in der Vergangenheit gedacht hatte. Differenzierung mag für einige Staaten »weniger EU« heißen. Für andere, wie die Eurozone, besteht die Chance und funktionale Notwendigkeit, sich als Kern der EU tiefer zu integrieren. Diese institutionelle Dimension kann nur im Zusammenhang mit den Fragen beantwortet werden, welche wirtschafts-, haushalts- und finanzpolitischen Instrumente in einer Währungsunion überhaupt auf föderaler Ebene angesiedelt werden sollten, und welche funktionale Notwendigkeit es gibt, nationale Politiken zu koordinieren und gegebenenfalls zu kontrollieren, um eine makroökonomisch stabile Entwicklung zu ermöglichen. Zudem ist für die Frage der institutionellen Weiterentwicklung relevant, ob die Mitglieder der Eurozone und der EU auf absehbare Zeit nicht deckungsgleich bleiben, wovon dieser Text ausgeht. Entsprechend sollten die Eurozonenstaaten schrittweise stärkere eigene Institutionen, Foren und administrative Strukturen schaffen und stärken sowie möglicherweise einen eigenen Eurozonenvertrag anstreben, ohne jedoch die Verknüpfung mit der EU zu vernachlässigen. Im folgenden Abschnitt wird zunächst der Status quo der institutionellen Struktur der Eurozone dargestellt. Vorgestellt werden weiterhin Handlungsnotwendigkeiten und Reformprinzipien sowie konkrete Vorschläge zu ihrer Weiterentwicklung.1 Im letzten Teil werden die Aussichten für institutionelle Reformen und die Implikationen für das Verhältnis von der Eurozone zur EU diskutiert.

D er S tatus quo Die einzige föderale Institution der Europäischen Währungsunion ist die Europäische Zentralbank. Sie ist für die Geldpolitik in der Eurozone zuständig, politisch unabhängig und der Wahrung der Geldwertstabilität verpflichtet. In wirtschafts- und haushaltspolitischen Belangen hat kein entsprechender Kompetenztransfer auf die europäische Ebene stattgefunden. Neben der Europäischen Kommission sind daher vor allem die Regierungen der Mitgliedstaaten entscheidende Akteure: Sie beschließen ihre nationalen Haushalte und sollten dies unter Berücksichtigung europäisch festgelegter Grenzen und im Rahmen

9. Daniela Schwarzer — Ein institutioneller Rahmen für die reformier te Eurozone

der Empfehlungen der Europäischen Kommission tun. Sie sind zudem, auf Initiative der Europäischen Kommission und in vielen Bereichen gleichberechtigt mit dem Europäischen Parlament, gesetzgeberisch tätig.

Der Ecofin Im Ecofin, dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister, wirken die Regierungen der EU-Staaten an der Gesetzgebung und an der wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung mit. Der Ecofin ist der entscheidende Gesetzgeber in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Darüber hinaus ist er für die Koordinierung und die gemeinsame Überwachung der EU-Mitgliedstaaten zuständig und entscheidet beispielsweise über Sanktionen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Der Ecofin bestimmt außerdem über die Aufnahme von EU-Mitgliedstaaten in die Eurozone. Darüber hinaus verabschiedet er gemeinsam mit dem Europäischen Parlament den jährlichen Haushaltsplan der EU. In den meisten Fällen entscheiden die Wirtschafts- und Finanzminister mit qualifizierter Mehrheit. Steuerfragen werden einstimmig beschlossen. Entweder wird das Europäische Parlament konsultiert oder es ist im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens als Ko-Gesetzgeber beteiligt. Zwischen Eurozonen- und Nicht-Eurozonenmitgliedern gelten abgestufte Abstimmungsrechte. Sie stellen sicher, dass Belange der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) (Art. 136 Abs. 1 AEUV) und die Gewährleistung der Stellung des Euro im internationalen Währungssystem (Art. 138 Abs. 1 AEUV) nur von Ministern derjenigen Staaten beschlossen werden, die Mitglied der Eurozone sind.

Eurozonenspezifische Formate: Eurogruppe und Eurozonengipfel Zusätzlich zum Ecofin wurde im Jahr 1998 die Eurogruppe eingeführt, als exklusives Forum für die Minister der Eurozone, um den gegenseitigen Abhängigkeiten und gemeinsamen Handlungsnotwendigkeiten in der Währungsunion Rechnung zu tragen. Bislang ist sie jedoch kein entscheidungsfähiges Organ. Obwohl sie zunächst ohne Vertragsgrundlage eingeführt wurde, ist die Eurogruppe heute fest im Governance-Gefüge der Eurozone verankert und trägt wesentlich zu ihrer wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung bei. Im Lissabon-Vertrag wurde sie erstmals erwähnt (Art. 137 AEUV) – mit Verweis auf das dem Vertrag anhängige Protokoll Nr. 14, das die Zusammensetzung und Zielsetzung der Eurogruppe erläutert. Seit dem 1. Januar 2005 hat die Eurogruppe einen festen Vorsitz, der für zweieinhalb Jahre gewählt wird, während die rotierende EU-Ratspräsidentschaft den Vorsitz im Ecofin hält und alle sechs Monate wechselt.

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Teil III: Reformvorschläge

Mit der zunehmenden Verschärfung der Schuldenkrise kamen die Staatsund Regierungschefs der Eurozonenmitgliedstaaten immer häufiger in Sondertreffen zusammen, die größtenteils direkt vor oder nach dem Europäischen Rat stattfanden. Ab 2008 fanden die Gipfel zunächst ad hoc als Krisenmanagementgremien statt. Erst beim Eurozonengipfel am 26. Oktober 2011 beschlossen die Eurostaaten auf deutsch-französischen Vorschlag hin, einen regelmäßigen Eurozonengipfel zu institutionalisieren. Er sollte auf höchster politischer Ebene die Leitlinien für die Entwicklung der Eurozone und die wirtschaftspolitische Zusammenarbeit legen. Die Staats- und Regierungschefs sollen demnach mindestens einmal im Halbjahr tagen. In den Krisenjahren 2011/2012 war die Frequenz indes deutlich höher und die Diskussionen oft auf operative Fragen konzentriert. Dem Eurozonengipfel wurde parallel zum Amt des ständigen Präsidenten des Europäischen Rates ein eigener ständiger Vorsitz gegeben. Derzeit werden beide in Personalunion von Donald Tusk gehalten. Der Eurogruppenpräsident hat ähnliche Aufgaben wie der Präsident des Europäischen Rates, etwa im Bereich der Organisation und Kompromissfindung im Vorfeld und während der Treffen der Staats- und Regierungschefs. Schließlich erhielten die Eurozonenformate 2012 einen eigenen administrativen Unterbau. Seitdem bereitet eine eigene Arbeitsgruppe analog zu den Ratsarbeitsgruppen die Sitzungen der Eurogruppe und der Eurozonengipfel vor und behandelt technische Fragen vorab. Nach der besonderen Intensität der Eurozonengipfel in den schweren Krisenphasen ist das Format indes nach dem Abklingen der akuten Krise im Jahr 2013 immer weiter in den Hintergrund getreten. Der letzte Eurozonengipfel fand am 12. Juli 2015 statt.

Die Europäische Kommission Die Europäische Kommission hat das Initiativrecht und legt Gesetzesentwürfe vor, die vom Ministerrat und dem Europäischen Parlament gleichberechtigt im Mitentscheidungsverfahren verabschiedet werden. Sie überprüft zudem die Implementierung europäischer Gesetze und kann beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Verhängung von Sanktionen beantragen. In der Überwachung und Koordinierung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten spielt sie eine entscheidende Rolle. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt zur Überwachung und Koordinierung nationaler Haushaltspolitiken sieht vor, dass die Kommission präventiv zur Stabilisierung nationaler Haushalte beiträgt, indem sie für Länder mit drohenden Verstößen gegen das Defizitkriterium Reformvorschläge formuliert. Ist der Verstoß eingetreten, kann die Kommission mit Zustimmung des Ecofin ein Defizitverfahren einleiten. Die Rolle der Kommission wurde mit der Einführung des Europäischen Semesters 2010 und der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts sowie der makroöko-

9. Daniela Schwarzer — Ein institutioneller Rahmen für die reformier te Eurozone

nomischen Überwachung durch den sogenannten Six-Pack von 2011 gestärkt. Im Rahmen der Überwachung und Behebung makroökonomischer Ungleichgewichte bewertet sie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Länder und analysiert im Falle sich abzeichnender Ungleichgewichte das daraus entstehende Risiko für die Eurozone und die EU. Die Kommission und der Ecofin können Mitgliedstaaten Korrekturmaßnahmen empfehlen. Liegt ein übermäßiges gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht vor, überwacht die Kommission die Umsetzung der nötigen Reformmaßnahmen durch die Regierungen. Sie erstellt zudem einen Jahreswachstumsbericht und bewertet die Länderberichte sowie die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme, die die Diskussionsgrundlage für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates bilden. Die Kommission ist in den vergangenen Jahren in der wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung also einerseits wichtiger geworden. Andererseits ist sie durch das Erstarken des Europäischen Rats und des Eurozonengipfels unter Druck geraten. So hat etwa der Europäische Rat, der laut Vertrag von Lissabon »nicht gesetzgeberisch tätig wird« (Art. 15 Abs. 1 AEUV), seinen Präsidenten Herman Van Rompuy in den Krisenjahren 2010 bis 2013 immer wieder mit der Ausarbeitung von Vorschlägen beauftragt und so das Initiativmonopol der Kommission infrage gestellt. Zudem schwächten intergouvernementale Vereinbarungen zwischen den Hauptstädten, wie etwa die zur Schaffung der Rettungsmechanismen und die Übereinkunft über den Fiskalpakt, die supranationalen Institutionen und Gemeinschaftsverfahren der Union (siehe hierzu auch Kapitel 2). Diese Schwächung machte es der Kommission mitunter schwer, ihre Brückenfunktion zwischen Eurozone und EU-28 wahrzunehmen und als »Hüterin der Verträge« aufzutreten.

Der Europäische Stabilitätsmechanismus Im Zuge des Managements der Verschuldungskrise in der Eurozone wurde im Jahr 2012 auf Grundlage eines Vertrags zwischen den Eurostaaten der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) geschaffen. Der ESM ist ein Finanzierungsinstrument, das für Regierungen in Liquiditätskrisen und für Banken Finanzhilfen gewähren kann, wenn diese nötig sind, um die Finanzstabilität des Euroraums zu wahren (Art. 3 ESM-Vertrag). Die Stabilitätshilfe wird an Reformbedingungen geknüpft. Der ESM ersetzte die im Mai 2010 zunächst temporär angelegte Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM). Der ESM kann präventiv oder im akuten Fall Finanzhilfe in Höhe einer maximalen Darlehenskapazität von 500 Milliarden Euro in Form von Darlehen zur Finanzierung von Staatsschulden oder zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten gewähren. Darüber hinaus kann er am Primär- und Sekundärmarkt Staatsanleihen kaufen. Der ESM-Vertrag gibt zudem vor, dass ab dem 1. Janu-

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ar 2013 alle neuen Staatsschuldtitel des Euroraums mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr Umschuldungsklauseln, sogenannte Collective Action Clauses, enthalten müssen, da es in der Eurozone ansonsten kein Regelwerk für Staatsinsolvenzen gibt. Im ESM beschließt der Gouverneursrat über Stabilitätshilfen. Er besteht aus den Finanzministern der Mitgliedsländer und ihren Stellvertretern, die wiederum pro Mitgliedsland jeweils zwei Vertreter für das Direktorium ernennen und den Geschäftsführenden Direktor wählen. Damit entspricht der Gouverneursrat im Prinzip der Eurogruppe, nur dass hier auf der Grundlage anderer Regeln abgestimmt wird. Die Stimmengewichte entsprechen dem finanziellen Beitrag zum ESM: Es besteht anders als im Ministerrat also keine Stimmenparität zwischen Frankreich und Deutschland. Beschlüsse zur Gewährung von Finanzhilfen, Änderung des Kreditrahmens und des Stammkapitals oder Mandatierungen der Kommission zur Aushandlung von wirtschaftspolitischen Auflagen trifft der Gouverneursrat einvernehmlich. Enthaltungen sind möglich. In dringlichen Fällen kann die Europäische Kommission und die EZB jedoch eine Entscheidung im Eilverfahren mit einer qualifizierten Mehrheit von 85 Prozent der abgegebenen Stimmen herbeiführen. Die Bundesregierung hat gemäß ihres Kapital- und Stimmenanteils von 28 Prozent am ESM bei diesen Entscheidungen ein Veto. Beantragt ein Mitgliedstaat Stabilitätshilfen, beauftragt der Vorsitzende des Gouverneursrats die EZB und die Europäische Kommission damit, den Finanzierungsbedarf sowie das Gefährdungspotenzial für die Eurozone und den entsprechenden Staat festzustellen. Wird dem Staat auf Grundlage dieser Bewertung finanzielle Unterstützung zugesichert, werden mit der Europäischen Kommission, der EZB und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) die Auflagen verhandelt. Parallel erfolgt durch den geschäftsführenden Direktor ein Vorschlag für eine »Vereinbarung über eine Finanzhilfefazilität«, der die spezifischen Finanzierungsbedingungen auflistet und vom Direktorium gebilligt werden muss. Nach der Zustimmung des Direktoriums zur Auszahlung der ersten Gelder überwachen die Kommission, der IWF und die EZB die Einhaltung der Auflagen langfristig, was entscheidend dafür ist, ob sich das Empfängerland für die Auszahlung weiterer Tranchen qualifiziert. Grundsätzlich steht der ESM jedem EU-Staat bei Einhaltung der Maastricht-Kriterien offen. EU-Staaten können sich überdies auch ohne Mitgliedschaft auf Ad-hoc-Basis an Stabilitätshilfen für Eurostaaten beteiligen.

9. Daniela Schwarzer — Ein institutioneller Rahmen für die reformier te Eurozone

Das Europäische Parlament Das Europäische Parlament wirkt im Bereich der Economic Governance im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens zusammen mit dem Ministerrat an der Gesetzgebung mit. Ebenso ist es auf Basis des Lissabon-Vertrags in die Überwachung der wirtschaftspolitischen Koordinierung involviert, die maßgeblich innerhalb des Ecofin im Austausch mit der Kommission erfolgt (Art. 121 Abs. 6 AEUV). Der Rat und die Kommission sind verpflichtet, das Europäische Parlament regelmäßig über die vereinbarten Zielsetzungen der gemeinsamen Wirtschaftspolitik sowie über die Ergebnisse der multilateralen Überwachung zu unterrichten. Weiterhin ist das Parlament für die Ausgestaltung des Verfahrens der multilateralen Überwachung zuständig, die es in Kooperation mit dem Rat ausübt. Beim Europäischen Semester nimmt es zum jährlichen Wachstumsbericht der Kommission im Februar und den länderspezifischen Reformempfehlungen des Rates im Herbst Stellung, dem ein Austausch mit den nationalen Parlamenten vorausgeht. Der Ausschuss des Europäischen Parlaments für Wirtschaft und Währung (ECON) ist im Rahmen des sogenannten Wirtschaftsdialogs berechtigt, den Präsidenten der Eurogruppe, der Europäischen Kommission oder des Europäischen Rates zur Anhörung in einen Ausschuss zu berufen. Außerdem kann das Europäische Parlament auch direkt in den Dialog mit einem Mitgliedstaat treten, gegen den bei einem übermäßigen Defizit oder makroökonomischen Ungleichgewichten ein Verfahren eingeleitet wurde. Der Wirtschaftsdialog ist indes lediglich eine unverbindliche Kommunikationsplattform, die dem Europäischen Parlament kein Vetorecht gewährt und weder die Berichterstattungspflicht der entscheidungsfassenden Gremien und Institutionen noch die Verbindlichkeit getroffener Absprachen mit diesen vorsieht. Im Bereich des ESM, des Fiskalpakts und auch des Euro-Plus-Pakts hat das Europäische Parlament derweil nur einen sehr geringen Einfluss. Im Zuge ihrer Anwendung wird es in den meisten Fällen informiert, hat jedoch kein Mitbestimmungsrecht. Diese eingeschränkte Rolle im Management der Finanz-, Verschuldungs- und Bankenkrise wurde im politischen Nachspiel der Krisen durch die Verlagerung von maßgeblichen Entscheidungen auf zwischenstaatliche Ebene durch den Europäischen Rat beziehungsweise die Eurozonengipfel noch verstärkt. Um schnell handeln zu können, wurden einige der neu geschaffenen Mechanismen zur Bekämpfung der Finanz- und Staatsschuldenkrise, wie der ESM, bewusst außerhalb des institutionellen Rahmens der EU etabliert. Während die zur ESM-Gründung notwendige Änderung des Vertrags von Lissabon (Art. 136 Abs. 3 AEUV) im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren lediglich eine nicht bindende Beratung mit dem Europäischen Parlament vorsah, wurde der ESM selbst durch einen zwischenstaatlichen Ver-

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trag gegründet. Forderungen des Europäischen Parlaments, im Zuge seiner späteren Ausgestaltung und Anwendung eingebunden zu werden, wurden nicht berücksichtigt. Insgesamt hat das Europäische Parlament in der europäischen Economic Governance also nur eine recht schwache Stellung. Allerdings wird der Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten eine wachsende Bedeutung zugesprochen. So sieht der Fiskalpakt unter anderem vor, dass sich das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente über haushaltspolitische Fragen austauschen sollen. Dies löst jedoch nicht das Problem, dass die mangelnde Einbindung des Europäischen Parlaments sowohl in die Schaffung neuer Governance-Instrumente als auch in ihre Anwendung zu Lücken im Legitimationsprozess führt, da diese Aufgaben auch nicht von nationalen Parlamenten wahrgenommen werden können.

E ine V erbesserung der G overnance -S truk turen – wozu ? Die Status-quo-Analyse hat aufgezeigt, wie seit Einführung des Euro Schritt für Schritt eurozonenspezifische Strukturen und Mechanismen entwickelt wurden, die von der Arbeitsebene über die Eurogruppe bis hin zu den Staatsund Regierungschefs eine engere Zusammenarbeit ermöglichen sollen. Diese Gremien fällen keine rechtsverbindlichen Entscheidungen, bieten aber Raum, um relevante nationale und europäische Fragen zu besprechen. Ein intensiverer Austausch unter den Eurozonenstaaten unter Beteiligung der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Mitgliedstaaten Eurozonenbelange in möglichst europäischer Perspektive betrachten und gleichzeitig problematische Entwicklungen in einzelnen Staaten ansprechen können. Trotz dieser Weiterentwicklungen weist das institutionelle Gefüge jedoch Schwächen auf, die gerade durch die Erfahrungen in den Krisen deutlich geworden sind. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Komplexe Überwachung mit geringer Wirksamkeit: Für die Haushaltsund Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten sind komplexe Überwachungs- und Koordinierungsarrangements entstanden. Obwohl es einen dringenden Abstimmungsbedarf zwischen den nationalen Politiken gibt, sind keine Kompetenzen transferiert worden. In vielen Fällen hat die regelbasierte Koordinierung nicht die gewünschten Erfolge gebracht. • Zunehmende Exekutivlastigkeit der Entscheidungen: Durch die Notwendigkeit, rasch auf die Krisen im Euroraum reagieren zu können, nahm die Rolle des Eurozonengipfels und damit die Exekutivlastigkeit der Eurozonen-Governance zu. Die Regierungen schufen etwa mit dem ESM außer-

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halb des EU-Vertrags und Institutionengefüges ein Instrument, in dessen Governance die Finanzminister eine entscheidende Rolle spielen, die EUInstitutionen aber kaum vertreten sind. • Formate jenseits des Gemeinschaftsgefüges: Der ESM ist ein Beispiel dafür, wie institutionelle Reformen jenseits des Primärrechts und der Gemeinschaftsinstitutionen umgesetzt wurden. Den Reformprozess bestimmten immer wieder Ad-hoc-Absprachen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs, die weniger transparent und schwächer legitimiert waren als Vertragsrevisionen, die in den Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen. • Geringe parlamentarische Kontrolle und Mitwirkung: Weder das Europäische Parlament noch die nationalen Parlamente verfügen über einen einheitlichen oder koordinierten, sanktionsbewährten Kontrollmechanismus gegenüber den exekutiven Entscheidungsträgern des Europäischen Rates, seines Präsidenten und der Eurogruppe. Das Europäische Parlament bleibt in vielen zentralen Fragen Beobachter. In der derzeitigen Architektur der Eurozone ist die Europäische Zentralbank die einzige europäische Institution mit der Fähigkeit, makroökonomische Entwicklungen in europäischer Perspektive zu beeinflussen. Dabei ist sie allerdings an ihr Mandat gebunden, das die geldpolitische Stabilität über andere wirtschaftspolitische Ziele wie Wachstum und Beschäftigung stellt. Dass eine unabhängige Zentralbank die Aufgabe hat, die Stabilität der Währung und des Finanzsystems zu schützen, während Regierungen in anderen Politikfeldern demokratisch handeln können, ist ein wichtiges, grundlegendes Prinzip. Problematisch wird es jedoch dann, wenn die Instrumente auf nationaler Ebene angesichts der Integration der Geldpolitik und der Märkte an Wirksamkeit einbüßen und makroökonomische Entwicklungen nur noch sehr bedingt demokratisch gestaltet werden – und gleichzeitig auf Eurozonenebene die Mechanismen unterentwickelt sind. Im Zuge der bestehenden Politikprozesse werden etwa eurozonenweite Aggregate (etwa bei der Bewertung der Haushaltspolitiken) zu wenig in Betracht gezogen, während fiskalische Instrumente auf Eurozonenebene, etwa ein Eurozonenhaushalt mit Allokations- und Stabilisierungsfunktion, fehlen (siehe hierzu Kapitel 3 und 8). Zudem wirft die Ausweitung der regelbasierten Koordinierung der nationalen Fiskal- und Wirtschaftspolitiken immer wieder Fragen nach der demokratischen Legitimation der Vorgaben und Eingriffe auf. Wenn zu detaillierte und beschränkende Regeln im Sekundärrecht verankert oder auf nationaler Ebene im Wesentlichen nur umgesetzt werden sollen, wird die Fähigkeit der Demokratien zur Selbstkorrektur untergraben. Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn der regelbasierte Governance-Rahmen keine soliden makroökonomischen Ergebnisse liefert. Die Konsequenz dieser Situation ist,

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dass immer wieder einzelne Regierungen dem von »Brüssel« auferlegten Kurs nicht folgen. Auch dieses Handeln kann zu Legitimationsproblemen führen. Die Mitgliedstaaten, die sich tatsächlich an die Regeln halten und finanzielle Risiken durch europäische Rettungsmechanismen eingehen, empfinden es als illegitim, wenn sich nicht alle Parteien (trotz gravierender Mängel) an die Regeln und Ziele der haushalts- und wirtschaftspolitischen Koordinierung gebunden fühlen. Es gibt also ein doppeltes Legitimationsproblem in der Eurozone. Einerseits ist die Input-Legitimation der Governance-Strukturen in einem Kernbereich europäischer Politik, der wirtschaftlichen Governance der Eurozone, schwach ausgeprägt. Andererseits ist die Output-Legitimation, die traditionell in EU-Belangen eine große Rolle spielt, nach fast einer Dekade Krisen in der Eurozone in Mitleidenschaft gezogen worden. Die EU und die meisten nationalen Regierungen blicken im Bereich Wachstum, Beschäftigung und soziale Sicherheit auf eine schlechte Bilanz zurück. Die Währungsunion wird zunehmend als Problem denn als Lösung betrachtet, und dies sowohl von Schuldnern als auch von Kreditgebern. All das ist angesichts der allgemein schwachen wirtschaftlichen Aussichten, des globalen Wettbewerbs und demografischer Entwicklungen kein vorübergehendes, krisengebundenes Problem.

K onkre te V orschl äge zur V erbesserung der G overnance in der E urozone Um die beschriebenen Legitimationsprobleme auf der Input- und Output-Seite des Systems zu beheben, ist es notwendig, auf Eurozonenebene neue Politikinstrumente zu entwickeln (siehe hierzu die Kapitel 8 und 10) und die institutionelle Struktur der Gemeinschaft zu ergänzen. Im Folgenden werden hierfür zwei Ansatzpunkte in den Mittelpunkt gestellt: das Amt eines Europäischen Finanzministers und eine stärkere parlamentarische Kontrolle.

Ein Eurozonen-Finanzminister Der Vorschlag, einen Eurozonen-Finanzminister einzuführen, wird meist dadurch begründet, die politische Steuerungskapazität und Exekutivfunktion im Entscheidungsgefüge der Eurozone, die derzeit vor allem durch den Ecofin und die Europäische Kommission ausgeübt wird, zu verbessern. Dadurch würde die Entscheidungsfindung effektiver, die Durchsetzung von Regeln und Prinzipien verbessert sowie die europäische Perspektive auf Eurozonenbelange gestärkt werden. Der Eurozonen-Finanzminister würde nicht nur die Interessen der Mitgliedstaaten vertreten, sondern die des gesamten Euroraums.2

9. Daniela Schwarzer — Ein institutioneller Rahmen für die reformier te Eurozone

Die Idee wurde erstmals von EZB-Chef Jean-Claude Trichet formuliert3 und in der Folge von verschiedenen Seiten zur Diskussion gestellt, dabei allerdings unterschiedlich konnotiert.4 Der französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron nahm die Diskussion um einen möglichen Euroaustritt Griechenlands zum Anlass, um einen Kommissar für den Euro zu fordern, der die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Euroländer koordiniert und über ein Eurozonenbudget verfügt.5 Benoît Coeuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, sprach sich für ein Eurozonen-Finanzministerium unter der Aufsicht des Europäischen Parlaments aus. Dies wäre dafür verantwortlich, wirtschaftliche und haushaltspolitische Ungleichgewichte zu verhindern, Krisen im Eurogebiet zu bewältigen, die im Bericht der fünf Präsidenten anvisierte haushaltspolitische Kapazität zu steuern sowie die Regierungen des Euroraums in internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen zu vertreten.6 Auch die Europäische Kommission schlägt die Einführung eines Schatzamtes für die Eurozone vor, welches eine gestärkte, einheitliche Vertretung von Eurozoneninteressen nach außen sowie eine stärkere gemeinsame Entscheidungsfindung in fiskalpolitischen Angelegenheiten gewährleisten soll, ohne eine vollständige Zentralisierung der Einnahmen- und Ausgabenpolitik anzustreben.7 Schließlich dürfte sich die Idee eines Finanzministers und eines Europäischen Schatzamts auch im Initiativbericht des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Arbeitsweise der EU durch Ausschöpfung des Potenzials des Vertrags von Lissabon wiederfinden.8 Seitens der deutschen Regierung steht in der Diskussion um einen möglichen Finanzminister oder gestärkten »Super-Kommissar« tendenziell die Aufgabe im Vordergrund, die regelbasierte Koordinierung zu überwachen. Der Amtsinhaber sollte die Möglichkeit haben, Vorgaben aus Brüssel tatsächlich verbindlich gegenüber anderen Mitgliedstaaten durchzusetzen. In der Diskussion um fiskalische Instrumente auf europäischer Ebene hat sich die deutsche Regierung bislang vor allem auf die Frage konzentriert, wie Mechanismen geschaffen werden können, um Anreize für Reformen zu setzen (siehe auch Kapitel 5).

Aufgaben Die möglichen Aufgaben eines Eurozonen-Finanzministers greifen verschiedene Dimensionen der oben beschriebenen institutionellen Entwicklungsbedarfe in der Eurozone auf. Ohne die Einrichtung neuer Instrumente auf Eurozonenebene könnte ein Eurozonen-Finanzminister im Rahmen einer stärker regelbasierten Zusammenarbeit und Koordinierung dafür zuständig sein, die haushalts- und wirtschaftspolitische Überwachung mitgliedstaatlicher Politiken durchzuführen und durchzusetzen. Diese Funktion haben Enderlein und Haas9 als »Souveränitätsteilung« beschrieben. Er könnte zudem in allen Dis-

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kussionen die Eurozonendimension stärken, sodass etwa in makroökonomische Betrachtungen nicht nur durch die Europäische Kommission, sondern auch durch den Vorsitzenden der Eurogruppe eine Analyse der Entwicklungen einfließt, die die gesamte Eurozone betreffen. So stünden europäische Aggregate im Vordergrund, und nicht vor allem nationale Betrachtungen, beispielsweise der Entwicklungen von Defiziten und ihrer makroökonomischen Auswirkungen. Das Amt des Eurozonen-Finanzministers wäre insbesondere wichtig, wenn neue europäische Politikinstrumente eingeführt würden, die auf eine effektivere Economic Governance in der Eurozone ausgerichtet sind. Kommt es zu einer Einführung eines Eurozonenbudgets, bedarf es einer politisch verantwortlichen Person, die hierfür zuständig ist. Der Finanzminister könnte etwa die Verantwortung für ein Budget übernehmen, das investive Ausgaben vorsähe und gleichzeitig dazu dienen würde, über automatische Stabilisatoren asymmetrische Schocks auszugleichen (siehe dazu Kapitel 8). Über diskretionäre Ausgaben könnten zudem Reformanreize für nationale Regierungen gesetzt werden, deren Politiken ansonsten weiterhin über die regelbasierten Mechanismen koordiniert werden. Je nachdem, aus welchen Finanzierungsquellen sich das Budget speist, wären das Europäische Parlament oder die nationalen Regierungen und Parlamente in den Prozess einzubeziehen. Die derzeit bestehende Asymmetrie zwischen einheitlicher europäischer Geldpolitik und viel weniger stark integrierter Wirtschafts- und Haushaltspolitik würde somit abgeschwächt. Ein Eurozonen-Finanzminister könnte außerdem dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vorsitzen, oder einem Europäischen Währungsfonds, sollte der ESM entsprechend weiterentwickelt werden. In beiden Fällen wäre der Eurozonen-Finanzminister neben der EZB maßgeblich für das Krisenmanagement der Eurozone mitverantwortlich. Je nachdem, wie die Finanzierung des künftigen Krisenmechanismus strukturiert wäre, würden der Europäische Finanzminister und das Europäische Parlament in einer möglicherweise gestärkten Kontrollfunktion Aufgaben von nationalen Finanzministern und Parlamenten übernehmen. Derzeit ist der ESM, wie oben beschrieben, eine intergouvernementale Organisation, deren Handlungsfähigkeit durch nationale Vetos beschränkt werden kann. Schließlich könnte der Eurozonen-Finanzminister die Aufgabe übernehmen, die Eurozone in wirtschafts- und haushaltspolitischen Belangen nach außen zu vertreten. Die Vertretung der Währungsunion in internationalen Foren und Institutionen obliegt derzeit der EZB in ihrer Zuständigkeit für die Währung. Ihr steht jedoch keine einheitliche Außenvertretung in anderen wirtschaftspolitischen Belangen zur Seite, die bislang teils durch einen Vertreter der Europäischen Kommission oder auch von Vertretern nationaler Regierungen wahrgenommen wird.

9. Daniela Schwarzer — Ein institutioneller Rahmen für die reformier te Eurozone

Institutionelle Verankerung Der Europäische Finanzminister wäre idealerweise als Vizepräsident für Wirtschafts- und Finanzfragen Teil der Europäischen Kommission und würde diese als Exekutive stärken. Gleichzeitig könnte er von den Mitgliedstaaten für die Mandatsdauer der Europäischen Kommission den Vorsitz der Eurogruppe und des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) übertragen bekommen. Der Europäische Finanzminister würde eng mit dem europäischen Fiscal Board zusammenarbeiten, das dafür geschaffen wurde, die Anwendung des Stabilitätspakts auch in Zusammenarbeit mit den nationalen Fiscal Councils zu unterstützen und zu Fragen der Ausrichtung der Haushaltspolitiken in der Eurozone zu beraten. Kommt es zu einer substanziellen Vertiefung der Eurozone, könnten sich über die Zeit die Aufgaben der Eurogruppe ändern – und damit auch die Bedeutung des Eurozonen-Finanzministers, etwa wenn formale Entscheidungsbefugnisse vom Ecofin in die Eurogruppe übertragen würden. Durch die Kombination des Kommissionsamtes und des Eurogruppenvorsitzes würde der Eurozonen-Finanzminister zum Zusammenhalt von EU und Eurozone beitragen, da er auch für Belange des Binnenmarktes zuständig wäre. Der Doppelhut aus Vizepräsidentschaft der Europäischen Kommission und Eurogruppenvorsitz könnte durch eine interinstitutionelle Vereinbarung geregelt werden. Zum Vorsitzenden des ESM, der sich außerhalb des EU-Vertragsgefüges befindet, würde er durch die Mitgliedstaaten ernannt. Bündelt er diese drei Funktionen, müsste er gleichzeitig vom Präsidenten der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten der EU, also durch den Europäischen Rat, ernannt werden. Das Europäische Parlament sollte die Besetzung ratifizieren. Rat, Kommission und Europäisches Parlament müssten ihn durch einen Vertrauensentzug zum Rücktritt zwingen können. Im Ausüben einiger Aufgaben müsste der Eurozonen-Finanzminister parlamentarisch kontrolliert werden, insbesondere beim Management eines möglichen Eurozonenbudgets und eines weiterentwickelten ESM. Je nachdem wie beide Instrumente auf der Einnahmeseite strukturiert sind, müsste auch die parlamentarische Kontrolle organisiert sein. Ein Eurozonenbudget mit europäischen Einnahmequellen sollte demnach durch eine Teilversammlung des Europäischen Parlaments geprüft werden. Würde der ESM hingegen weiterhin aus nationalen Beiträgen gespeist werden, dann sollte seine Kontrolle nationalen Parlamentariern obliegen.

Stärkung der parlamentarischen Kontrolle Die Diskussion um einen Eurozonen-Finanzminister, der möglicherweise mit mehr eurozonenweiten Instrumenten und Ressourcen ausgestattet wäre, nährt also auch die Diskussion um die parlamentarische Beteiligung, da die

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demokratische Legitimation von Eurozonenentscheidungen insgesamt erhöht werden muss. Jedoch ist die oben beschriebene geringe Rolle des Europäischen Parlaments in der Entwicklung einer Krisenbekämpfungsstrategie der EU sowie in der laufenden Economic Governance der Eurozone auch entkoppelt von der Finanzministerdiskussion ein Thema und wird als ein Grund für die Schwäche ihrer demokratischen Legitimation gesehen. Um die parlamentarische Kontrolle weiterzuentwickeln, insbesondere in dem Fall, dass durch die Benennung eines Europäischen Finanzministers die Exekutive gestärkt und mit neuen Instrumenten ausgestattet würde, sind drei unterschiedliche Ansätze denkbar. Die weitreichendste Form wäre die Schaffung eines Euro-Parlaments als neue Institution zur Ausübung parlamentarischer Kontrolle und Mitbestimmung in gesetzgeberischen und Koordinierungsbelangen, die die Eurozone betreffen.10 Würde tatsächlich ein Eurozonen-Parlament geschaffen, würde die Abgrenzung zwischen Eurozone und EU-28 sehr deutlich werden. Es bestünde die Gefahr, dass die Kohärenz von Politiken für Binnenmarkt und EU-28 untergraben würde. Vielversprechender und in der Diskussion mittlerweile präsenter ist der zweite Ansatz, einen Eurozonen-Ausschuss im Europäischen Parlament, etwa als Unterausschuss des ECON-Ausschusses zu gründen.11 In diesem Unterausschuss hätten nur Abgeordnete aus Eurozonenmitgliedstaaten je nach Kompetenzzuschnitt volle Abstimmungsrechte in Bereichen wie Fiskalpolitik12 beziehungsweise volle Kontrollrechte über die Bankenunion und den ESM13. Abgeordnete aus Nicht-Eurozonenstaaten könnten beisitzen, ohne mit einem Stimmrecht ausgestattet zu sein. Drittens gibt es den Vorschlag, nationale Abgeordnete in die parlamentarische Vertretung der Eurozone mit aufzunehmen. Enderlein und Haas14 schlagen ein gemeinsames Komitee aus europäischen und nationalen Abgeordneten vor, das demokratische Kontrolle über die Investitionsausgaben des zu schaffenden Europäischen Finanzministers und Europäischen Währungsfonds ausübt. So würde der Tatsache Rechnung getragen, dass sich diese Institutionen an der Schnittstelle zwischen supranationaler und zwischenstaatlicher Politik befinden und direkte Auswirkungen auf nationale Haushalte haben. Eine mit nationalen und Europaparlamentariern besetzte parlamentarische Vertretung könnte auch an der wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung mitwirken. Der erhoffte Ertrag eines derartigen Schritts wäre es nicht nur, europäische Zielvorgaben in einen demokratischeren Prozess zu setzen, um dem Übergewicht technokratischer Entscheidungen im derzeitigen Governance-Gefüge entgegenzuwirken. Über die Zeit könnte auf diese Weise gerade auch bei den nationalen Abgeordneten die Einsicht in die europäischen Zusammenhänge und Handlungsnotwendigkeiten gestärkt und das Verständnis von Entwicklungen in anderen Mitgliedstaaten vertieft werden. Sie würden überdies noch früher und intensiver in den Koordinierungspro-

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zess eingebunden werden, was die Anwendung der regelbasierten Koordinierung stärken könnte.

A usblick Eine Weiterentwicklung der institutionellen Strukturen der Eurozone ist angesichts der konstatierten Governance-Probleme notwendig. In einem ersten Schritt könnte auf informellem Wege der Einfluss des Europäischen Parlaments weiter ausgebaut werden, ebenso wie die Einbindung nationaler Parlamentarier. Das Europäische Parlament fordert seit Langem eine stärkere demokratische Legitimierung der Prozesse zur Koordinierung nationaler Haushalts- und Wirtschaftspolitiken. Durch interinstitutionelle Vereinbarungen könnten weitere Schritte implementiert werden, etwa die Einführung eines Eurozonen-Finanzministers mit Doppelhut als Eurogruppenvorsitzender und Vizepräsident der Europäischen Kommission. Um einen Finanzminister mit weitreichenden neuen Befugnissen auszustatten, würden indes Vertragsänderungen nötig sein (siehe dazu das Kapitel 7 von Franz C. Mayer). Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass ihm Eingriffsrechte in nationale politische Entscheidungen oder auch das Management eines Eurozonenbudgets übertragen würden. Diese Kompetenzübertragungen könnten in Form einer Änderung des bestehenden EU-Vertrags geschehen. Denkbar ist auch ein Eurozonenvertrag, der nur die Eurozonenstaaten betrifft und nur von diesen ratifiziert werden müsste.15 Der ESM, der auf Grundlage eines zwischenstaatlichen Vertrags eingerichtet wurde, könnte im Zuge dieser Vertragsänderungen in Richtung eines Europäischen Währungsfonds entwickelt werden. Er könnte, ähnlich wie der IWF, weitere Aufgaben wie die Garantie der Währungsstabilität, die Förderung wirtschaftlicher Zusammenarbeit sowie die Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung in den verschiedenen Mitgliedstaaten übernehmen. Als Zeitfenster für umfassendere Reformen bietet sich die Phase nach der Bundestagswahl 2017 an, ein Jahr, in dem auch Frankreich seinen Präsidenten und sein Parlament neu wählt. Konkrete Vorschläge sollten aber ab sofort ausgearbeitet werden. Das Brexit-Votum im britischen Referendum hat zu einer Vertrauenskrise an den Märkten geführt, die längst nicht nur Großbritannien und das Britische Pfund, sondern auch die Eurozone betrifft. Es ist nicht auszuschließen, dass ein erhöhter Druck auf die europäische Peripherie bestehen bleibt, was insbesondere angesichts der unsicheren politischen Bedingungen in einigen Mitgliedstaaten verstärkt werden könnte. Wenn die Marktteilnehmer den Zusammenhalt des Euro auf diese Weise testen, sollten die wichtigsten Regierungen der Eurozone ein starkes politisches Commitment zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Eurozone abgeben.

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Um breite Unterstützung in der Eurozone zu finden, müsste ein institutioneller Reformvorschlag sowohl die Bedenken derjenigen Staaten, die vor allem auf regelbasierte Koordinierung und geringe finanzielle Solidarität und Risikoteilung setzen, berücksichtigen als auch die Interessen derjenigen Mitglieder beachten, aus deren Sicht die Eurozone nur mit einer stärkeren Risikoteilung erfolgreich agieren kann. Die Übertragung von Eingriffsrechten auf Eurozonenebene setzt indes nicht nur eine Vertragsänderung, sondern auch eine Ratifizierung durch Referenden in einigen Mitgliedstaaten voraus. Überdies könnte sich in einigen Mitgliedstaaten die Frage nach der Kompatibilität mit der nationalen Verfassung stellen. Das Verhältnis zwischen Eurozonenstaaten und Nicht-Mitgliedern wird in der Zukunft nicht nur vom Integrationswillen der Eurozone abhängen, sondern auch davon, wie Großbritannien und andere Staaten ihr Verhältnis zur EU definieren. Im britischen Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmte eine knappe Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für den Austritt. Beim Redaktionsschluss dieses Buches ist unklar, ob dieser Weg tatsächlich beschritten wird. Deutlich wurde indes bereits in den ersten Reaktionen auf das Referendum, dass die EU und die Eurozone mit den negativen Folgen des Brexit-Votums, das sich auch in einem massiven Vertrauensverlust von Finanzmarktteilnehmern und Investoren niederschlägt, zu tun haben werden. Aus Sicht der Eurozone stärkt diese Situation die Notwendigkeit und erhöht die politische Chance, dass die Währungsunion eine Vertiefung tatsächlich in Angriff nehmen wird. Nur so kann sie krisenresilienter werden und bessere Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung schaffen. Sollte Großbritannien sich doch entscheiden, in der EU zu verbleiben, wird es trotzdem »am Rande« der Gemeinschaft bleiben und bei der Umsetzung der ausgehandelten Änderungen an seinem Mitgliedsstatus ein zunehmend lockeres Verhältnis zur EU haben. Diesem Beispiel könnten weitere Staaten folgen wollen. Die Zukunft der EU wird mit hoher Wahrscheinlichkeit differenzierter sein. Die Eurozone sollte sich nicht nur aus Gründen ökonomischer Effizienz, sondern auch hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimation als stärker integrierter und institutionalisierter Kern entwickeln.

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A nmerkungen 1 | Schwarzer, Daniela (2015): Die Europäische Währungsunion: Geschichte, Krise und Reform. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. 2 | De Galhau, François Villeroy/Weidmann, Jens (2016): Europa braucht mehr Investitionen, in: Süddeutsche Zeitung Online (03.06.2016); www.sueddeutsche. de/wirtschaft/euro-raum-europa-braucht-ein-gemeinsames-finanzministerium1.2852586; Schubert, Christian (2015): EZB fordert Finanzministerium für Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (13.06.2016); www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ wirtschaftspolitik/europaeische-zentralbank-will-ein-europaeisches-finanzministe rium-13772228.html; (2015): EZB-Präsident: Draghi unterstützt angeblich Forderung nach Eurofinanzminister, in: Spiegel Online (13.06.2016); www.spiegel.de/ wirtschaft/soziales/eurozone-ezb-chef-mario-draghi-fordert-angeblich-euro-finanz minister-a-1050274.html 3 | Enderlein, Henrik/Haas, Jörg (2015): Was würde ein Europäischer Finanzminister tun? Ein Vorschlag. Policy Paper 145, Jacques Delors Institute. 4 | EurActiv (2011): EU-Finanzministerium? Berlin ist skeptisch; www.euractiv.de/ section/prioritaten-der-eu-fur-2020/news/eu-finanzministerium-berlin-ist-skep tisch/ (aufgerufen am 15.5.2016). 5 | Klimm, Leo/Wernicke, Christian (2015): Refondons l’Europe, Interview mit Emmanuel Macron, in: Süddeutsche Zeitung (31.8.2015); http://international.sued deutsche.de/post/128026249890/refondons-leurope (aufgerufen am 13.6.2016). 6 | Coeuré, Benoît (2015): Lehren aus der Krise für die Zukunft des Euroraums. Rede bei der Semaine des Ambassadeurs; https://www.ecb.europa.eu/press/key/ date/2015/html/sp150827.de.html (aufgerufen am 13.6.2016). 7 | Europäische Kommission (2015): Der Bericht der fünf Präsidenten: Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden; https://ec.europa.eu/priorities/ publications/five-presidents-report-completing-europes-economic-and-monetaryunion_de (aufgerufen am 15.6.2016). 8 | Europäisches Parlament (2016): Entwurf eines Berichts über die Verbesserung der Funktionsweise der Europäischen Union durch Ausschöpfung des Potenzials des Vertrags von Lissabon, 2014/2249(INI); www.europarl.europa.eu/ (aufgerufen am 15.6.2016). 9  | Enderlein, Henrik/Haas, Jörg (2015). 10  | Hollande, siehe Meier, Albrecht (2015): Unions-Fraktionsvize Friedrich erteilt Hollandes Vorschlag Abfuhr, in: Tagesspiegel Online; www.tagesspiegel.de/poli tik/regierung-fuer-die-euro-zone-unions-fraktionsvize-friedrich-erteilt-hollandesvorschlag-abfuhr/12080312.html (aufgerufen am 14.6.2016); Schäuble, siehe Eur Activ (2014): Schäuble advocates separate eurozone parliament; www.euractiv.com/ section/future-eu/news/schauble-advocates-separate-eurozone-parliament/ (aufgerufen am 13.6.2016); Fossum, John Erik (2016): Democracy and Legitimacy in the EU: Challenges and Options. ARENA Working Paper 1/2016; https://www.sv.uio.

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Teil III: Reformvorschläge no/arena/english/research/publications/arena-working-papers/2016/wp-1-16.pdf (aufgerufen am 13.6.2016). 11 | Europäische Kommission (2012): A blueprint for a deep and genuine economic and monetary union: Launching a European Debate; http://ec.europa.eu/archives/ commission_2010-2014/president/news/archives/2012/11/pdf/blueprint_en.pdf (aufgerufen am 15.6.2016); Simon, Frédéric (2014): UK Conservatives balk at plans for eurozone parliament, in: EurActiv; www.euractiv.com/section/uk-europe/news/ uk-conservatives-balk-at-plans-for-eurozone-parliament/ (aufgerufen am 15.6.2016). 12 | Europäische Kommission (2012); Duff, Andrew (2016): The Protocol of Frankfurt: A new treaty for the eurozone; www.epc.eu/documents/uploads/pub_6229_ protocol_of_frankfurt.pdf (aufgerufen am 15.6.2016). 13 | Simon, Frédéric (2014). 14 | Enderlein, Henrik/Haas, Jörg (2015). 15 | Bogdandy, Armin von/Calliess, Christian et al. (2013): Auf bruch in die EuroUnion; http://glienickergruppe.eu/de/auf bruch-in-die-euro-union/ (aufgerufen am 18.7.2016)

10. Die soziale Dimension fortentwickeln Peter Becker

Die Eurokrise hat gezeigt, dass die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) weiterentwickelt werden muss, um dauerhaft bestehen zu bleiben. Bereits im Sommer 2015 hatten die fünf Präsidenten der EU-Institutionen einen Bericht zur Stärkung der WWU vorgelegt. Er schlug im Rahmen eines Drei-StufenModells die schrittweise Vertiefung zu einer Wirtschafts-, Finanz-, Fiskal- und bis 2025 schließlich zu einer Politischen Union vor. Am Beginn dieses Vertiefungsprozesses sollen dabei weitere Bemühungen stehen, die europäischen Volkswirtschaften in der Eurozone enger zusammenzuführen, das heißt, sie konvergenter zu gestalten. Demnach ist die Konvergenz der Volkswirtschaften in der Währungsunion eine Voraussetzung für ihre dauerhafte Stabilität. Je konvergenter sie sind, desto geringer sind die inhärenten Spannungen und in der Folge auch die Kosten, die notwendig sind, um Ungleichgewichte auszugleichen. Die Kehrseite von Konvergenz sind Instabilität und Ungleichgewichte. Dennoch wäre es nicht ausreichend und zu kurz gegriffen, in diesen Anstrengungen zu mehr Konvergenz die Lösung bei der Suche nach einer dauerhaft stabilen Währungsunion zu vermuten. Zumal eine ausreichende und nachhaltige Konvergenz angesichts der Unterschiedlichkeit der gewachsenen nationalen Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatsmodelle kaum zu erreichen sein wird. Spätestens Ende 2017 wollen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs deshalb erneut mit der Frage einer Vollendung der WWU befassen. Ohnehin werden im nächsten Jahr verschiedene Reform- und Überprüfungsprozesse der EU aufeinandertreffen: Die anstehende Reform des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU (MFR) wird eine Debatte über eine Anpassung und Neustrukturierung der Ausgabeprioritäten anstoßen. Implizit wird damit auch eine Neugewichtung der politischen Prioritäten der EU einhergehen; sozial- und beschäftigungspolitische Herausforderungen könnten in den Vordergrund gerückt werden. Diese Diskussion wiederum könnte verbunden werden mit einer Veränderung des Finanzierungssystems des europäischen Haushalts, also mit der Frage nach

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der Einführung einer EU-Steuer. Die hochrangige Gruppe Eigenmittel zur Überprüfung des EU-Eigenmittelsystems wird jedenfalls Ende 2016 ihren Abschlussbericht vorlegen und dabei auch auf diese Steuer eingehen. Für die Änderung der Ausgabenschwerpunkte und Förderpolitiken des EU-Budgets wäre der Konsens aller Mitgliedstaaten und EU-Organe erforderlich. Dies gilt auch für die Einführung einer EU-Steuer, für die eine Änderung des Lissaboner Vertrags nötig wäre. Artikel 16 des Fiskalpakts sieht vor, dass bis 2017 eine Bewertung des Fiskalvertrags erfolgen und die Übernahme der Vertragsinhalte in das europäische Primärrecht geprüft werden soll. Obwohl derzeit von diesem Abkommen und den in ihm festgeschriebenen Verpflichtungen zur Einführung nationaler Schuldenbremsen und dem kontinuierlichen Abbau öffentlicher Schulden kaum noch die Rede ist und der Pakt in den Brüsseler Debatten und Dokumenten keine Rolle mehr spielt, wird sich die Frage stellen, ob die EU (und insbesondere auch die Bundesregierung) den Pakt aufgeben will oder versuchen wird, ihn in den Lissaboner Vertrag zu integrieren. Das britische Referendum vom Juni 2016 über den Verbleib Großbritanniens in der EU wird eine Umgestaltung der europäischen Verträge erfordern, denn es muss mit London ein Austrittsvertrag ausgehandelt und zugleich muss der Lissaboner Vertrag angepasst werden. In jedem Fall nimmt also der Reform- und Anpassungsdruck auf die EU zu. Nach dem britischen Referendum wird sich nun ein kleines Fenster der Gelegenheit zur Vorbereitung einer umfassenden Reform der europäischen Verträge öffnen. Zur nachhaltigen Stabilisierung der WWU und deren Vertiefung zu einer Sozialunion wird eine Vertragsänderung ohnehin nicht zu vermeiden sein. Die unterschiedlichen Reformprozesse könnten dann zu einem umfangreichen europäischen Reformpaket zusammengeschnürt werden. Ein solches Paket wird notwendig sein, um alle Interessen bedienen und ausbalancieren zu können und um den erforderlichen Konsens für eine Reform der europäischen Verträge herzustellen. Das Jahr 2017 wird somit zu einem vorentscheidenden Jahr für die Weiterentwicklung der WWU und der europäischen Integration. Vor diesem Hintergrund müssen bereits jetzt die Grundlagen für diesen schwierigen und politisch heiklen Weg festgelegt und Vorbereitungen getroffen werden, um dann – nach den französischen Präsidentschaftswahlen (Mai/Juni) und den deutschen Bundestagswahlen (September) – den umfassenden Reformprozess zur Überarbeitung der europäischen Verträge aufnehmen zu können. Die EU und die Mitgliedstaaten müssen sich entscheiden, ob sie eine umfassende Reform der WWU und der Vertragsgrundlagen in Angriff nehmen wollen, oder ob sie das damit verbundene Risiko scheuen, im Zuge von nationalen Referenden zu scheitern.

10. Peter Becker — Die soziale Dimension for tentwickeln

D ie beständige und alte S uche nach der K onvergenz Seit den ersten Diskussionen über die Gründung einer Währungsunion hat die deutsche Europapolitik stets versucht, mit regelbasierten Ansätzen die für die dauerhafte Stabilität notwendige Konvergenz zu erreichen. Die Formulierung der Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags bei Schaffung der Währungsunion und die Verpflichtung zur dauerhaften Einhaltung der mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt verbundenen Kriterien sind die Ergebnisse dieses Ansatzes. Auch die neuen Instrumente, die Deutschland im Zuge der europäischen Krisenpolitik durchgesetzt hat, also der Euro-Plus-Pakt oder der Fiskalpakt, entsprechen dieser ordnungspolitischen Konvergenzidee. Allerdings ist noch immer ungeklärt, welche Form der Konvergenz die WWU benötigt, und wieviel davon. Bei dem Streben nach Konvergenz wird üblicherweise zwischen nominaler und realer Konvergenz unterschieden. Reale Konvergenz meint demnach die Annäherung der ökonomischen Leistungsfähigkeit von rückständigeren an produktivere Volkswirtschaften, wohingegen nominale Konvergenz die Annäherung an vorgegebene Zieldaten (etwa Zinssätze, Inflationsrate, Einkommensniveau) beschreibt. Formal hat die EU beide Formen der Konvergenz – nominal und real – als Zielvorgaben in ihr Vertragswerk aufgenommen. Seit der Gründung der Wirtschaftsgemeinschaft wird in den europäischen Verträgen das Ziel der realen Konvergenz proklamiert. In der Präambel des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) verpflichten sich die Mitgliedstaaten dazu, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten verringern. Darüber hinaus verfolgt die EU in Artikel 121 AEUV das Ziel, mit der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten eine »dauerhafte Konvergenz der Wirtschaftsleistungen« zu gewährleisten – also eine reale Konvergenz anzustreben. In Artikel 3 des EU-Vertrags verpflichtet sie sich weiterhin dazu, den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Die Rechtsgrundlage des Lissaboner Vertrags für die europäische Förderpolitik mithilfe der Struktur-, Investitionsund Kohäsionsfonds, Artikel 175 AEUV, verpflichtet die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu, das gemeinsame Ziel der Konvergenz auch bei ihren nationalen Wirtschaftspolitiken und der Binnenmarktgesetzgebung zu berücksichtigen. Die EU-Strukturfonds sollen die Mitgliedstaaten und ihre Regionen bei ihren Konvergenzanstrengungen unterstützen. Mit der Entscheidung zur Schaffung einer Währungsunion wurden mit den Konvergenzkriterien des MaastrichtVertrags neue Indikatoren der nominalen Konvergenz in das europäische Primärrecht aufgenommen. Dieser hohe Grad an dauerhafter nominaler Konvergenz ist nach Artikel 140 AEUV und dem Protokoll über die Konvergenzkriterien Grundlage für die Mitgliedschaft in der Eurozone.

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Konvergenz ist im Grundsatz ein dynamisches Konzept – auf der Zeitachse kann sich die reale Konvergenz innerhalb der WWU durchaus verändern.1 Ökonomisch ist eine Angleichung der Wohlstandsniveaus in den einzelnen Mitgliedstaaten keine unabdingbare Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion. Ebenso sind unterschiedliche Sozialschutzniveaus und Sozialstaatsmodelle keine Hinderungsgründe für die Mitgliedschaft in einer Währungsunion.2 Allerdings benötigt die WWU politische Stabilität, die ohne eine Perspektive der Annäherung der Lebensstandard-, Wohlstands- und Sozialschutzniveaus kaum zu erreichen sein dürfte. Insofern scheinen nominale Konvergenzmargen, also die Annäherung an zuvor fixierte Zielwerte, alleine nicht ausreichend. Vielmehr müssen Aufholprozesse sowohl innerstaatlich als auch innerhalb der EU möglich sein. Nicht ohne Grund waren die wichtigsten Schritte zum Ausbau und zur Vertiefung der ökonomischen Integration durch den Binnenmarkt und die Einführung der gemeinsamen Währung stets verbunden mit parallelen Schritten zur Stärkung der realen Konvergenz in der EU. Der steile Anstieg der europäischen Strukturfonds seit 1988 war das Ergebnis dieses Prozesses. Die ökonomisch starken Mitgliedstaaten im Zentrum sagten den schwächeren Staaten der Peripherie ihre finanzielle Hilfe über den europäischen Haushalt zu. Die unausgesprochene Gegenleistung für diese Transfers war die Unterordnung der Peripherie unter die Zwänge und Notwendigkeiten einer harten Gemeinschaftswährung und die Marktkräfte des Binnenmarkts.3 Die politische Bedeutung der realen Konvergenz für die Stabilität des Binnenmarkts und der WWU wird also von allen Mitgliedstaaten anerkannt. Weiterhin herrscht Konsens darüber, dass reale Konvergenz in der EU neben der ökonomischen auch die soziale Konvergenz mit einschließt. Die Zuspitzung der ökonomischen und sozialen Folgen der Krise hat den Druck verstärkt, die soziale Dimension in der EU und insbesondere der Eurozone deutlicher zu beachten. Gerade die jüngste Krise hat gezeigt (hier vor allem das Beispiel Griechenland), dass für die nachhaltige Stabilität der WWU nicht nur die ökonomischen Rahmendaten wichtig sind, sondern auch die sozialen Grundlagen vorhanden sein müssen. Reale Konvergenz umfasst insofern stets auch wohlfahrtsstaatliche Aspekte und somit eine sozial- und beschäftigungspolitische Angleichung. Extreme ökonomische und soziale Divergenzen könnten ansonsten sukzessive zu wachsenden politischen Differenzen führen; soziale Divergenzen haben stets auch politische Interessenunterschiede zur Folge. Eine reale Konvergenz des Wohlstandsniveaus hingegen führt implizit auch zu einer Konvergenz der Interessenlagen und erleichtert somit weitergehende integrationspolitische Entscheidungen. Eine sichtund erfahrbare Konvergenz stärkt darüber hinaus die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger der EU zu weiteren Integrationsschritten und fördert somit die Identifikation mit dem europäischen Wirtschafts- und Sozialmodell.

10. Peter Becker — Die soziale Dimension for tentwickeln

Konvergenz in der EU sollte also auch die reale Angleichung der Einkommen und Lebensbedingungen in Form steigender Einkommen beziehungsweise sinkender Einkommensunterschiede mit einbeziehen. Große und dauerhafte Einkommensunterschiede zwischen den Pro-Kopf-Einkommen beispielsweise in der Slowakei, Frankreich oder Griechenland könnten ansonsten den inneren Zusammenhalt der WWU gefährden; zu große sozial- und beschäftigungspolitische Divergenzen zum Risiko für eine dauerhaft politisch stabile WWU werden. Inzwischen wurden zusätzliche, weitreichende Steuerungs- und Monitoringinstrumente eingeführt, insbesondere ein Warnmechanismus zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte mit neuen nominalen Konvergenzindikatoren. Mit diesem neuen Verfahren werden seit 2011 die Abweichungen von bestimmten Indikatoren beziehungsweise Zielkorridoren gemessen und von der Kommission bewertet. Die Kommission hatte in ihrer Mitteilung zur Stärkung der sozialen Dimension der WWU vom 2. Oktober 2013 fünf sozial- und beschäftigungspolitische Indikatoren vorgeschlagen, um die soziale Lage im Rahmen des Europäischen Semesters besser überwachen zu können (1. die Arbeitslosenquote und ihre Entwicklung, 2. den Anteil der NEETs [der jungen Menschen, die weder in Arbeit noch in Ausbildung sind] und die Jugendarbeitslosenquote, 3. das verfügbare Bruttorealeinkommen der Haushalte, 4. die Armutsgefährdungsquote der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und 5. die Ungleichheit in den europäischen Gesellschaften). Heute sind diese Indikatoren Teil des Ungleichgewichteverfahrens und damit Elemente der Konvergenzanstrengungen. Zudem hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker darauf hingewiesen, dass bei künftigen Hilfsprogrammen der EU die sozialpolitischen Folgen der Reformprogramme in den Krisenstaaten zu beachten seien. Entscheidend für die Bewertung der erreichten ökonomischen und sozialen Konvergenz sind allerdings nicht die Indikatoren und die Vielzahl der inzwischen eingeführten Scoreboards zur Messung der Konvergenzfortschritte. Entscheidend sind vielmehr die Analyse und die daraus abgeleiteten Empfehlungen für die Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten. Die maßgebende Frage ist deshalb nicht die Frage nach den richtigen Konvergenzindikatoren, sondern die nach den Zielen der Konvergenzanstrengungen und deren Bewertung, Gewichtung und den daraus abgeleiteten politischen Schlussfolgerungen. Die gemeinsam vereinbarten sozial- und beschäftigungspolitischen Konvergenzziele der Mitgliedstaaten und der EU finden in der europäischen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie ihren Niederschlag, der sogenannten Europa-2020-Strategie.4 Mit dieser Strategie hatte sich die EU bereits im Frühjahr 2010 auf ambitionierte und weitreichende wirtschafts-, beschäftigungs-, sozial- und umweltpolitische Ziele verständigt. Neben ökonomischen

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Konvergenzzielen wurden auch quantifizierbare beschäftigungs- und sozialpolitische Zielwerte definiert: Die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen soll bis zum Jahr 2020 bei 75 Prozent liegen und die soziale Eingliederung durch die Verminderung der Armut gefördert werden. Angestrebt wird, die Zahl der Menschen in der EU, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um mindestens 20 Millionen Menschen zu verringern. Neben dem kontinuierlichen Monitoring der Implementierung wurde mit dem neu eingeführten »Europäischen Semester« ein zusätzliches komplexes Instrument geschaffen, mit dem die Europäische Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten gemeinsam ihre Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik enger koordinieren wollen. Inzwischen erfolgt die Bewertung und das Monitoring der Konvergenzprozesse im Rahmen dieses neuen Verfahrens durch die Europäische Kommission und den EU-Ministerrat. Das Europäische Semester steht nunmehr im Zentrum des Prozesses und ist die verbindende Klammer zwischen den europäischen und den mitgliedstaatlichen Instrumenten. Mit ihm versucht die Kommission in Kooperation mit den Mitgliedstaaten, die Schlussfolgerungen ihrer Beobachtungen und die Analysen der wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Prozesse in der EU, der Eurozone und in den Mitgliedstaaten in politische Empfehlungen umzusetzen. Die Implementierung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen wiederum ist Aufgabe der Mitgliedstaaten – im sogenannten Nationalen Semester. Um dieses komplizierte Verfahren effizienter und fokussierter zu machen, hat die Kommission mittlerweile technische Veränderungen am Europäischen Semester vorgenommen. Die »kleinen Stellschrauben« beinhalten die Straffung des Verfahrens, eine bessere Vergleichbarkeit der nationalen Maßnahmen und mehr Effizienz. Um die Transparenz und die demokratische Legitimation des Verfahrens zu stärken, werden die nationalen Parlamente zudem enger in den Prozess eingebunden. Dennoch kann das Europäische Semester die grundlegende Schwäche des Koordinierungsverfahrens nicht überwinden. Noch liegen die politischen Verantwortlichkeiten für die wichtigsten wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten. Der Binnenmarkt und die WWU zwingen allerdings zu einem immer engeren wirtschafts-, sozial-, beschäftigungs- und finanzpolitischen Zusammenwachsen in der EU und der Eurozone.

E lemente einer europäischen B eschäf tigungs und S ozialunion Zwar wurde der europäische Integrationsprozess seit der Gründung der ersten Gemeinschaft für Kohle und Stahl stets von ökonomischen Interessen und Impulsen angetrieben; und auch die großen Integrationsprojekte, der Binnen-

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markt und die WWU, haben ihre Wurzeln in diesen ökonomischen Triebkräften. Genauso alt ist jedoch die Forderung, Vertiefung und Ausbau der ökonomischen Integration sozialpolitisch zu flankieren und auszubalancieren. Das europäische Modell, so der Anspruch, müsse wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Kohäsion und Konvergenz verbinden. Das Kernproblem beim Ausbau einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik ist die fehlende Kongruenz der mitgliedstaatlichen Sozialstaatsmodelle. Ebenso wie die varieties of capitalism5 innerhalb der EU die Möglichkeiten für eine europäische Wirtschaftspolitik erschweren, so behindern auch die verschiedenen europäischen Wohlfahrtsstaatsmodelle die sozialpolitische Harmonisierung.6 So divergiert die Höhe der Sozialleistungen in den 28 EUMitgliedstaaten noch immer erheblich. Insbesondere die EU-Osterweiterung 2004/2007 mit der Aufnahme der rückständigeren Volkswirtschaften aus Mittel- und Osteuropa und die tiefen Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme der südeuropäischen Mitgliedstaaten als Folge der tiefen Wirtschaftsund Verschuldungskrise haben die Divergenz der Sozial- und Wohlfahrtsstaaten in der EU deutlich vergrößert. Die Unterschiede beim Lohnniveau sind seit Mitte der 1990er-Jahre größer geworden und auch die Regelungen zu den weiteren Lohnbestandteilen (zum Beispiel beim 13.  Monatsgehalt oder beim Schlechtwettergeld) weichen deutlich voneinander ab. So werden beispielsweise die Leistungen im Falle von Arbeitslosigkeit in nahezu allen Mitgliedstaaten über beitragsfinanzierte, lohngebundene Beitragssätze erbracht, jedoch in Luxemburg ausschließlich aus Steuereinnahmen finanziert. Auch die Höhe der Lohnersatzzahlungen, die Bezugsdauer oder die Mindestversicherungszeit bis zum Erreichen eines Leistungsanspruchs variieren deutlich. Die Bezugsdauer reicht von einem unbegrenzten Anspruch auf Lohnersatzleistungen in Belgien bis zur Begrenzung auf maximal 156 Tage wie in Malta oder Zypern. Bei der Höhe der Zahlungen wird in Malta ein Pauschalbetrag ohne Bezug zum letzten Arbeitseinkommen in Höhe von 7,72 Euro pro Tag gewährt, während in Luxemburg 80 Prozent des letzten Bruttolohnes ausgezahlt werden. Bei der Mindestversicherungszeit reicht die Spanne von mindestens zwei Jahren während der vorangegangenen drei Jahre in der Slowakei bis zu vier Monaten (122 Tage) Versicherungsmitgliedschaft während der letzten 2,5 Jahre in Frankreich. Ähnlich große Unterschiede bestehen bei den Rentensystemen oder auch bei den Leistungen im Pflege- oder Krankheitsfall sowie bei der sozialen Mindestsicherung.7 Eine Vereinheitlichung durch Europäisierung der 28 Sozialstandards bleibt deshalb schwierig. Eine umfassende sozialpolitische Legislativtätigkeit und damit einhergehende wirkliche Harmonisierung durch die europäische Gesetzgebung ist derzeit nur in den Bereichen Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen sowie bei der Gleichstellung und Antidiskriminierung möglich. Wo es um die klassischen Felder der sozialen Sicherheit, also um eine redis-

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tributive Sozialpolitik geht, ist der Gestaltungsspielraum der EU eher gering. Die politische Konsequenz daraus sollte sein, dass der Erwartungshorizont an die sozialpolitischen Möglichkeiten der EU nicht zu hoch gesteckt, sondern realistisch bleiben sollte. Bis auf Weiteres kann die europäische Sozialpolitik nicht die gleichen Aufgaben übernehmen, die die nationalen Politiken übernehmen (oder zumindest übernehmen sollten). In absehbarer Zeit wird die EU auch nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, um eigene soziale Sicherungssysteme auf bauen zu können. Ebenso wenig werden sich die Wirtschafts- und Sozialsysteme der 28 Mitgliedstaaten in naher Zukunft so weit annähern, dass auf diesem Feld eine umfassende europäische Harmonisierung und Regulierung möglich wäre. Eine europäische Sozialpolitik wird die nationalen Sozialstaaten also über einen längeren Zeitraum nicht ersetzen können. Aber sie sollte und kann versuchen, die bestehenden nationalen Sozialschutzsysteme aneinander anzunähern. Dafür sollte die EU einen gemeinsamen strukturellen Mindestsockel und eine in der Höhe unterschiedliche sozialpolitische Grundversorgung definieren. So kann sie die nationalen Politiken ergänzen. Es sollte das Ziel sein, einen europäischen Kanon rechtlich verbindlicher Rahmen- und Mindestbestimmungen festzulegen. In diesem Zusammenhang muss zum Beispiel das sozialpolitische Strukturproblem Griechenlands gelöst werden, bei dem das Rentensystem de facto die Aufgabe der fehlenden sozialen Mindestsicherung übernommen hat. Die Kommission hat am 8.  März  2016 erstmals ihre Überlegungen im Hinblick auf einen sozialpolitischen Mindestsockel innerhalb der EU – eine europäische Säule sozialer Rechte – zur Diskussion gestellt. Demnach ist die Sozialpolitik ein Kernelement des europäischen Wachstumsmodells und insofern auch ein zentraler Aspekt der wirtschaftspolitischen Agenda der EU. Die Kommission will ihre Initiative zunächst auf die Eurogruppe beschränken, aber für alle anderen Mitgliedstaaten offen bleiben. Mit der sozialpolitischen Säule für die Eurozone sollen gemeinsame Grundsätze für drei Politikfelder festgelegt werden: 1. Chancengleichheit und Zugang zum Arbeitsmarkt; 2. faire Arbeitsbedingungen, die für ein ausgewogenes und zuverlässiges Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten von Beschäftigten und Arbeitgebern sorgen sowie 3. angemessener und nachhaltiger Sozialschutz. Die drei Bereiche sind wiederum in 20 Unterpolitikfelder aufgeteilt. Mit ihrer Initiative will die Kommission die Sozialagenda und die sozialpolitische Legislativtätigkeit der EU an die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Trends anpassen und das europäische Sozialmodell insgesamt stärken. Angesichts

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der Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt und häufigeren Unterbrechungen von Erwerbsbiografien sollen europäische Schlüsselprinzipien und gemeinschaftliche soziale Rechte zusammengestellt werden, die ein gemeinsames sozialpolitisches Fundament und damit die Richtschnur für einen sozialpolitischen Konvergenzprozess bilden können. In einer Anlage zu ihrer Mitteilung legt die Kommission einen ersten Entwurf für eine solche europäische Säule vor, den sie in einer öffentlichen Konsultation bewerten und diskutieren lassen will. Diese öffentliche Online-Konsultation soll Ende 2016 abgeschlossen werden. Im Frühjahr 2017 will die Kommission ihren endgültigen Vorschlag für eine »europäische Säule sozialer Rechte« vorlegen. Von zentraler Bedeutung wird sein, welchen rechtlichen Status diese sozialpolitische Säule erhalten wird. Eine unverbindliche Handreichung mit Empfehlungen, wie der gemeinsame Bestand der sozialen Grundrechte und ein sozialpolitischer Mindestschutz aussehen sollte, wird nicht ausreichen. Eine europäische sozialpolitische Säule muss vielmehr einen europaweiten sozialpolitischen Mindestschutz definieren und dabei den Kanon fundamentaler sozialpolitischer Leistungen festlegen. Einheitliche Strukturen, die dem gemeinsamen Verständnis sozialer Sicherheit in der EU entspringen, sollten demzufolge die Sicherung gegenüber Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität), eine angemessene Grundsicherung des Lebensstandards (Arbeitslosigkeit, Rente) und ein angenähertes Angebot sozialer Dienste (Kinderbetreuung, Pflege) beinhalten. Weiterhin muss in der Vereinbarung die Entwicklung und Definition gemeinsamer Indikatoren für diese Sozialleistungen festgelegt werden. In der Konsequenz werden sich die Strukturen und Modelle der Sozialpolitiken der europäischen Wohlfahrtsstaaten einander annähern, ohne dabei eine Vollintegration oder umfassende Harmonisierung der nationalen Sozialsysteme vorzugeben. Dieser sozialpolitische Mindestschutz oder Sockel sollte rechtlich verbindlich werden, das heißt, eine solche Säule der sozialen Rechte muss dann für die Eurozone (und im günstigsten Fall für den gesamten Binnenmarkt) gelten und mit nationalen Ressourcen gewährleistet werden – nicht in gleicher Höhe, aber mit vergleichbaren Strukturen und einem gemeinsamen sozialen Leitbild. Eine sozialpolitische Differenzierung und ein Auseinanderdriften zwischen Mitgliedern in der Eurozone und der EU-28 – und damit verbundene potenzielle Wettbewerbsverzerrungen im gemeinsamen Binnenmarkt – sollten vermieden werden. Nur mit einem strukturellen Mindestsockel sozialer Sicherungssysteme in der gesamten EU sind die im Lissaboner Vertrag formulierten sozialen Ziele der EU und der selbst gesteckte normative Anspruch, wie er in der europäischen Grundrechtecharta seinen Ausdruck findet, tatsächlich einzulösen.

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Kurzfristiger und konkreter könnten – als Einstieg in eine europäische Sozialunion – die bestehenden Initiativen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in der EU, wie Jugend in Bewegung, die europäische Jugendgarantie oder die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen, zu einem eigenständigen Instrument zusammengefasst werden, das von der Europäischen Kommission direkt verwaltet und mit mehr Geld aus dem EU-Haushalt ausgestattet werden sollte. Dies würde bedeuten, dass ihre Planung und Umsetzung nicht mehr in die Programme des Europäischen Sozialfonds integriert würden, deren Durchführung bislang alleine bei den geförderten Regionen liegt. Ziel sollte es sein, diese Initiativen und die europäischen Programme und Projekte zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit zu bündeln und sichtbarer zu machen. Zugleich sollte über eine weitere Stärkung des Sozialen Dialogs nach Artikel 155 AEUV nachgedacht werden. Mit diesem Dialog versucht die EU, die Sozialpartner, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, in die Gestaltung der europäischen Sozialpolitik einzubinden. Ihnen werden weitreichende Anhörungsrechte eingeräumt und sie können aktiv in den europäischen Legislativprozess einbezogen werden. Die EU eröffnet den Verbänden sogar die Möglichkeit, sogenannte vertragliche Beziehungen oder Vereinbarungen abzuschließen, die über bloße gemeinsame Stellungnahmen hinausgehen. In Form von Rahmenabkommen dienen solche Vereinbarungen als Grundlage dafür, europäische Richtlinien zu erlassen, wie beispielsweise 1996 die Richtlinie zum Elternurlaub oder 1997 die Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit. Haben sich die Sozialpartner auf eine gemeinsame Vereinbarung verständigt, kann der Rat der EU nicht mehr inhaltlich über dieses Dossier verhandeln. Den Mitgliedstaaten bleibt nur mehr die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung der Vereinbarung. War der Soziale Dialog in den 1990er-Jahren noch ein Instrument, mit dem die Sozialpartner direkt in den europäischen Legislativprozess eingebunden wurden, so hat er diese Funktion im neuen Jahrtausend weitgehend verloren. Eine über die reine Beratung hinausgehende Mitwirkung und Vorbereitung europäischer Rechtsetzung durch die Abstimmung und Kompromisssuche der Sozialpartner war seither nicht mehr möglich. Sie scheiterte jedoch nicht an der mangelnden Kompromissbereitschaft der Verbände, sondern an der Ablehnung ihrer Verhandlungsergebnisse durch einzelne Mitgliedstaaten. Um den Sozialpartnern diese De-facto-Gesetzgebungsmöglichkeit wieder zu ermöglichen, sollte eine weitergehende Wiederbelebung des Dialogs angestrebt werden, auch wenn dies schwierig erscheint. Auf jeden Fall sollte die Einbindung der Sozialpartner über die jährlichen Sozialgipfel und deren beratende Rolle für die Kommission hinausgehen. Dies insbesondere, weil die EU mit dem Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) bereits über ein spezielles Beratungsorgan verfügt, in dem die Sozialpartner angemessen vertreten sind.

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B eschäf tigungspolitik und automatische S tabilisatoren in der E urozone In Währungsräumen werden Ungleichgewichte in der Regel durch Anpassungen auch auf den Arbeitsmärkten ausgeglichen. Deshalb legte die Europäische Kommission im Zuge der Krise und vor dem Hintergrund der untragbar hohen Arbeitslosigkeit im April 2012 ein breites Beschäftigungspaket vor, mit dem sie die Schaffung eines »wirklichen« EU-Arbeitsmarkts vorschlug. Ziel des Pakets war es, die erforderliche Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb der EU zu erhöhen und noch bestehende Hindernisse bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beseitigen. Allerdings sind die Handlungsinstrumente der Kommission in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik begrenzt, weshalb sie sich vornehmlich auf eine bessere Koordinierung und ein intensiviertes Monitoring der nationalen Politiken und Initiativen konzentrierte. Hinzu kommt, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitskräftemobilität im europäischen Binnenmarkt häufig als Förderung zur Abwanderung und brain drain kritisiert werden, die es zu verhindern gelte. Vor dem Hintergrund dieser begrenzten gemeinschaftlichen beschäftigungspolitischen Handlungsmöglichkeiten in der Eurozone sind die Möglichkeiten, eine notwendige automatische Stabilisierung der Eurozone durch einen zusammenwachsenden europäischen Arbeitsmarkt zu erreichen, noch gering. Die fortbestehenden Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften in der Eurozone verstärken den Druck, neue Strukturen und Mechanismen der Umverteilung zu schaffen, um die Kluft zwischen den wohlhabenden, leistungsfähigen Volkswirtschaften auf der einen und den ärmeren, weniger wettbewerbsfähigen auf der anderen Seite zu reduzieren. Die WWU sollte also mit einem Mechanismus ausgestattet werden, mit dem sie Geld in solche Regionen oder Staaten transferieren kann, deren Wirtschaftsleistung zyklisch vom Rest der Währungsunion nach unten abweicht. In Gebieten hingegen, in denen die Wirtschaft zu überhitzen droht, sollten Finanzmittel abfließen können. Ein präventives Stabilisierungsinstrument sollte insofern die inhärenten Ungleichgewichte und Ungleichzeitigkeiten in der WWU ausbalancieren können. Schon in der Gründungsphase der WWU war über die Notwendigkeit von Transfers und automatischen Stabilisatoren diskutiert worden. Inzwischen besteht grundsätzliche Einigkeit darüber, dass die Währungsunion einen Mechanismus automatischer Stabilisierung braucht, um die Ungleichgewichte zwischen den Volkswirtschaften ausgleichen zu können. Wie die früheren Überlegungen zu Transfermechanismen in der Währungsunion, so sind auch die heute unterbreiteten Vorschläge höchst umstritten. Zum einen wird bezweifelt, dass ein zusätzliches Finanzinstrument innerhalb der Eurozone stabilisierend wirken kann, sei es ein gesonderter Eurozonenhaushalt, sei es

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eine europäische Arbeitslosenversicherung. Zum anderen wird kritisiert, dass das Umverteilungsvolumen, das nötig sein würde, um die konjunkturellen Schwankungen in der Eurozone auszugleichen, nicht zu finanzieren sei.8 Als Schritt zu einer Fiskalunion wurden im Verlauf der EU-Krisenbewältigung unterschiedliche Funktionen und Formen für ein zusätzliches automatisches Solidaritäts- und Stabilisierungsinstrument der Eurozone diskutiert: 1. Fiskalkapazität in Verbindung mit Vertragspartnerschaften: Im Zuge einer präventiven Reformpolitik sollte mit projektgebundenen europäischen Finanzhilfen ein Anreiz zur Umsetzung der vereinbarten Strukturreformen in den Mitgliedstaaten der WWU gesetzt werden. 2. EU-Krisenmechanismus (rainy day funds): Im Krisenfall sollte bei asymmetrisch wirkenden regionalen Schocks der Fonds als Finanzinstrument zur Stabilisierung in der Eurozone eingesetzt werden; also die konditionierte Umverteilung von notwendigen Ressourcen in einem reinen Krisenfall. 3. Eurozonenbudget: Als dauerhaftes zwischenstaatliches Transferinstrument zur Abfederung konjunktureller Zyklen auf der Nachfrageseite sollte ein zusätzlicher Haushalt geschaffen werden, in den dem nationalen Konjunkturzyklus entsprechend eingezahlt beziehungsweise aus dem Transfers ausgezahlt würden. Ein solches Eurozonenbudget soll es ermöglichen, Unterschiede im Konjunkturverlauf auszugleichen und beispielsweise Investitionen während einer Abschwungphase wieder anzustoßen; ähnlich wie bei einem regionalen Finanzausgleich sollen also Gelder umverteilt werden. 4. Europäische Arbeitslosenversicherung: Als alternativer Transfermechanismus wurde eine europäische Arbeitslosenversicherung vorgeschlagen, um die entsprechenden sozialen Transfers von stärkeren zu ärmeren Mitgliedstaaten der Eurozone organisieren zu können.9 Je größer die Erfolge der europäischen Konvergenzanstrengungen sind, desto kleiner müssen die Stabilitäts- und Transferinstrumente sein. Die Erfahrungen mit den Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags haben gezeigt, dass die Konvergenzerfolge im Vorfeld der Einführung der gemeinsamen Währung am größten waren.10 Die Aussicht, Teil der Währungsunion zu werden und von den Vorteilen des gemeinsamen Währungsraums profitieren zu können, verstärkte die Reformbemühungen und -anstrengungen der Kandidaten und führte so zu einer erfolgreichen Annäherung. Die positiven Anreize durch die Aussicht, Mitglied in einer Stabilitäts- und Wachstumsgemeinschaft zu werden, führen also zu Konvergenzfortschritten. Mit abnehmenden Vorteilen und sinkenden Gewinnaussichten nahm allerdings auch das Interesse an Refor-

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men ab und die Konvergenz ging zurück. Aus diesen Erfahrungen lassen sich zwei Lehren ziehen: 1. Die Aussicht auf die Mitgliedschaft in einer vertieften Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit automatischen Stabilisatoren wird starke wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Anreize an die Beitrittskandidaten aussenden, die geeignet sind, deren Konvergenzanstrengungen zu verstärken. Dieses Konvergenzinteresse und die große Reformbereitschaft im Vorfeld einer Mitgliedschaft gilt es durch eindeutig definierte Konvergenz- beziehungsweise Eintrittsbedingungen zu nutzen. 2. Die Reformbereitschaft und die Anstrengungen werden nach der erfolgreichen Qualifikation potenziell nachlassen. Deshalb muss bereits vor Etablierung der automatischen Stabilisierung ein Verfahren geschaffen und rechtlich verbindlich verabschiedet werden, mit dem die Konvergenzprozesse nachhaltiger und die Annäherungen der Mitgliedstaaten verstetigt werden können. Zugleich sollte vorab eine Grenze bei den Stabilisierungsund Solidaritätsleistungen, also den Transfers, gezogen werden. Denkbar wäre hierfür die Einführung eines gemeinsamen Schuldenmanagementmechanismus zur Restrukturierung der staatlichen Verschuldung der einzelnen Mitgliedstaaten. Analysen und Berechnungen haben gezeigt, dass die Stabilisierungswirkung von Transfers zwischen den WWU-Mitgliedstaaten deutlich geringer ist als Transfers zwischen Gesellschaften (beziehungsweise Zahlungen direkt an Bürger_innen) in den betroffenen Krisenstaaten.11 Insofern spricht viel für die Einführung einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung nach US-amerikanischem Vorbild. Im Fall eines asymmetrischen ökonomischen Schocks und steigender Arbeitslosigkeit bei einem Mitglied der Eurozone würde dessen nationales Sozialsystem durch europäische Zusatzleistungen finanziell entlastet. Mitgliedstaaten mit niedriger Arbeitslosigkeit wiederum müssten mehr in dieses gemeinsame System einzahlen.12 Allerdings scheinen die Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung (beziehungsweise eine befristete und auf konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit im Krisenfall begrenzte Zusatzleistung der EU) angesichts der bestehenden Unterschiede zwischen den nationalen Systemen derzeit nur sehr schwer durchsetzbar. Wahrscheinlich würde diese Lösung die weitgehende Harmonisierung der nationalen Arbeitslosenversicherungen erfordern und einen starken moral hazard-Impuls aussenden (zum Beispiel bei der Abgrenzung von struktureller Arbeitslosigkeit). Als Konsequenz sollte der Stabilisierungs- und Transfermechanismus deshalb folgende Vorbedingungen, Voraussetzungen und Elemente beinhalten und zu einem Gesamtpaket zusammenbinden:

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• Transfers sollten nur auf Grundlage vorab definierter, relativ objektiver Kriterien sowie zeitlich befristet erfolgen. Die Finanzströme sollten auf einem neuen System basieren, über das Zahlungen zwischen Gesellschaften, also zwischen Bürgerinnen und Bürgern, möglich werden. • Der Mechanismus sollte von der Europäischen Kommission verwaltet und gemeinsam von allen WWU-Mitgliedern finanziert werden; im günstigsten Fall über eine neue EU-Steuer. • Parallel zu diesem Transfermechanismus sollte eine glaubhafte Begrenzung etabliert werden. Ein Rückgriff auf die no bail out-Zusicherung des Maastricht-Vertrags ist nicht mehr glaubhaft. Vielmehr muss nun die Möglichkeit für einen geordneten Schuldenrestrukturierungsmechanismus innerhalb der WWU geschaffen werden, mit klar definierten Umschuldungsregelungen im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Im Vorgriff einer europäischen Arbeitslosenversicherung wäre ein europäisches Kurzarbeitergeld denkbar. Derzeit werden in einigen EU-Mitgliedstaaten in verschiedenen Formen Leistungen bei Teilarbeitslosigkeit gezahlt, zum Beispiel bei Teilzeitarbeit oder saisonaler Arbeitslosigkeit. Kurzarbeitergeld, wie es in Deutschland bei wirtschaftlich unvermeidbarem Arbeitsausfall für mindestens ein Drittel der Beschäftigten eines Betriebs gezahlt wird, existiert in ähnlicher Form nur in Italien als Lohnausgleich bei einer Krise, der Umstrukturierung oder Umstellung des Unternehmens; in Luxemburg bei konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit; in Österreich als Kurzarbeitsunterstützung an Arbeitgeber; in Frankreich aus wirtschaftlichen, konjunkturellen oder technischen Gründen, um die Entlassung von Arbeitnehmern oder die Kürzung ihres Gehalts zu verhindern; in Portugal und in Spanien bei einer Reduzierung der Arbeitsstunden aus konjunkturellen, wirtschaftlichen und technologischen Gründen oder aufgrund von Naturkatastrophen. Insofern gibt es lediglich in einigen Mitgliedstaaten gleiche oder ähnliche Ansatzpunkte, in denen positive Erfahrungen vorliegen. Ein ergänzendes europäisches System könnte für die Mehrheit der WWU-Mitgliedstaaten neu geschaffen werden; die Anpassungen in den bestehenden Systemen wären begrenzt. Damit könnten auch die nicht vemeidbaren Vorbehalte und die Kritik reduziert werden, die regelmäßig bei der Notwendigkeit der Anpassung gewachsener nationaler Systeme anfallen. Die Kriterien für eine Auszahlung wären objektiv festzustellen und könnten vorab definiert werden, ebenso wie die Höhe und die Administration der Auszahlungen. Die Höhe des Kurzarbeitergeldes würde sich anteilig anhand der ausgefallenen Arbeitsstunden errechnen. Eine Auszahlung würde einer Prüfung und der Genehmigung durch die Europäische Kommission unterliegen und könnte für maximal sechs Monate gewährt werden – vorausgesetzt, der Beschäftigtenstand bliebe erhalten. Die nationalen Sozialpartner wären in

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die Entscheidung der Kommission über die Gewährung eines europäischen Kurzarbeitergelds einzubinden. Finanziert werden könnte dieses europäische Kurzarbeitergeld über Einnahmen aus einer EU-Unternehmenssteuer oder -abgabe, die auf einer harmonisierten Bemessungsgrundlage vereinbart werden müsste. Denkbar wäre auch eine Verbindung zum bestehenden EU-Globalisierungsfonds, mit dem derzeit Weiterbildungsmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer bezuschusst werden, die infolge der Schließung eines großen Unternehmens oder der Verlagerung einer Produktionsstätte ihren Arbeitsplatz verloren haben. Eine Förderung aus dem Globalisierungsfonds wird derzeit genehmigt, wenn es in einem Unternehmen innerhalb eines Bezugszeitraums von vier Monaten in mindestens 500 Fällen zur Entlassung von Arbeitskräften oder zur Aufgabe der Erwerbstätigkeit von Selbstständigen kommt.13 Der Fonds könnte als Instrument der Weiterbildung und Qualifizierung in den betroffenen Unternehmen und Branchen genutzt werden. Neben einer erhöhten Sichtbarkeit und direkten Erfahrbarkeit der europäischen Sozialunion hätte diese Europäisierung und Harmonisierung einer direkten sozialpolitischen Transferleistung auch das Potenzial, sich stabilisierend auf die WWU auszuwirken. Ein weiterer Vorteil wäre die Möglichkeit, die Auszahlung der EU-Gelder vorab an objektive Kriterien zu binden, die keiner politischen Einflussnahme oder do ut des-Geschäfte durch die Mitgliedstaaten unterliegen, und sie zeitlich zu befristen. Verbunden werden sollte eine solche europäische Transferleistung mit einer Stärkung des sozialen Dialogs auf europäischer wie auf nationaler Ebene.

A nmerkungen 1 | auf dem Brinke, Anna/Enderlein, Henrik et al. (2015): What Kind of Convergence Does the Euro Area Need? Gütersloh/Berlin: Bertelsmann-Stiftung und Jacques Delors-Institut. 2 | Dauderstädt in diesem Band und Dauderstädt, Michael (2014): Konvergenz in der Krise. Europas gefährdete Integration. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. 3 | Streeck, Wolfgang/Elsässer, Lea (2016): Monetary Disunion: ›The Domestic Politics of Euroland‹, in: Journal of European Public Policy, Vol. 23, No. 1, S. 1-24. 4 | Becker, Peter (2011): Integration ohne Plan – Die neue EU-Wachstumsstrategie ›Europa 2020‹, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 1, S. 67-91. 5 | Hall, Peter A./Soskice, David (2001): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press. 6 | Vgl. Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge; Hacker, Björn (2014): Konfliktfeld Soziales Europa. Vier Herausforderungen und Chancen zur Gestaltung des Europäischen Sozialmodells. Berlin:

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Teil III: Reformvorschläge Friedrich-Ebert-Stiftung; Platzer, Hans-Wolfgang (2015): Sozialpolitische Integration als Grundbaustein der EU, in: von Alemann, Ulrich et al. (Hg.): Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen. Wiesbaden: Springer VS, S. 25-41. 7 | Einen differenzierten Einblick in die Unterschiedlichkeit der nationalen Strukturen bieten zwei Datenbanken: der »Sozialkompass Europa«, eine Datenbank des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abruf bar unter: www.sozialkompass. eu und das »Gegenseitige Informationssystem für soziale Sicherheit (MISSOC)« des Europäischen Netzwerkes für Sozialpolitik (ESPN) der EU-Kommission, abrufbar unter: www.MISSOC.org. 8 | Hishow, Ognian (2014): Divergenz statt Konvergenz in der Wirtschafts- und Währungsunion? Ein währungstheoretisch begründetes Plädoyer für eine andere Währungsunion. Berlin: SWP-Studien 2014/S07. 9 | Dullien, Sebastian (2008): Eine Arbeitslosenversicherung für die Eurozone. Ein Vorschlag zur Stabilisierung divergierender Wirtschaftsentwicklungen in der Europäischen Währungsunion. Berlin: SWP-Studien 2008/S01. 10  | auf dem Brinke, Anna/Enderlein, Henrik et al. (2015). 11 | Bargain, Olivier/Dolls, Mathias et al. (2012): Fiscal Union in Europe? Redistributive and Stabilising Effects of a European Tax-benefit System and Fiscal Equalisation Mechanism. Working Paper 12/22, Oxford: Oxford University Centre for Business Taxation. 12 | Vgl. Claes, Grégory/Darvas, Zsolt et al. (2014): Benefits and Drawbacks of European Unemployment Insurance. Brüssel: Bruegel Policy Brief 2014/06; Vetter, Stefan (2014): Stabilisierung, Solidarität oder Umverteilung? Braucht die Eurozone eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung – und wenn ja, wofür? Frankfurt a.M.: Deutsche Bank Research. 13  |  In kleinen Mitgliedstaaten mit kleineren Arbeitsmärkten sind darüber hinaus Gruppenanträge von kleinen und mittleren Unternehmen möglich.

11. Plan B – Rückbau der Integration?

Möglichkeiten, Risiken und Kosten

Armin Steinbach

E inleitung Auch Proeuropäer dürfen den Blick auf die Realitäten nicht verlieren. Eine nüchterne Bestandsaufnahme konstatiert Desintegrationstendenzen an verschiedenen Enden des europäischen Integrationsgeflechts. Ihre Ursprünge liegen in den multiplen Krisenherden der EU. Bis 2015 dominierte die Wirtschafts- und Finanzkrise – wiederkehrende Finanznöte einzelner Krisenstaaten haben eine Reihe konventioneller und unkonventioneller Kriseninstrumente zum Einsatz gebracht. Im Rückblick kann die Wirtschafts- und Finanzkrise zu den eher gelungenen Beispielen einer Krisenbewältigung gezählt werden. Die installierten Rettungsinstrumente haben ihren Zweck der Überbrückungsfinanzierung letztlich erfüllt. Inzwischen konnten einige Länder, wie Irland und Zypern, die zur Überwindung der Krise gespannten Rettungsschirme schon wieder erfolgreich verlassen.1 Der »Dauerkrisenherd« Griechenland brodelt indes weiter. Der Beständigkeit des griechischen Finanzierungsproblems ist es zuzuschreiben, dass das Bestehen des Euro-Währungsraums schon lange nicht mehr als sakrosankt gilt. Seit geraumer Zeit wird der »Grexit« über nahezu alle politischen Lager hinweg als ein mögliches Szenario gesehen. Die Diskussion über den Grexit steht stellvertretend für Überlegungen, Ländern mit finanziellen Problemen (zumindest vorübergehend) ein Ausscheiden aus der Währungszone zu ermöglichen. Betrachtet man die Währungsunion in diesem Sinne als einen Klub, dessen Mitgliedschaft reversibel ist, stellen sich Fragen nach den ökonomischen Kosten eines temporären Ausscheidens, der rechtlichen Machbarkeit eines solchen Schrittes sowie dessen politische Folgewirkungen. Der Bestand der EU ist auch von anderer Seite in Bedrängnis geraten. Geschürt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber den Vorteilen einer EUMitgliedschaft und vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem in den letzten Jahren krisengeschüttelten Europa ist das Ende der britischen Mit-

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gliedschaft mit dem Referendum zum »Brexit« in absehbare Nähe gerückt. Dabei ist der Brexit in diesem Sinne nur das womöglich konkreteste Beispiel nationaler Europaverdrossenheit. Auch in anderen Ländern sind europaskeptische Töne längst zum politischen Sprachgebrauch geworden – das niederländische Referendum zu einem Handelsabkommen mit der Ukraine legt dafür beredtes Zeugnis ab. Auf dem Spiel steht mithin nicht allein die Währungsgemeinschaft, sondern mit ihr auch die Irreversibilität der EU-Mitgliedschaft als solche. Analytisch wirft das die Frage auf, mit welchen Konsequenzen ein Austritt aus der EU in ökonomischer und politischer Sicht einherginge – das Beispiel des Brexit bietet Anschauungsmaterial. Während die Wirtschafts- und Finanzkrise zumindest teilweise noch auf endogene Konstruktionsfehler der Währungsunion zurückgeführt werden kann, ist die Flüchtlingskrise für die EU ein exogener Schock gewesen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten haben einen beispiellosen Flüchtlingsstrom in Gang gesetzt, der der EU die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit vor Augen geführt hat. Schnell erwies sich das europäische Dublin-Regelwerk zum Umgang mit Asylanträgen als der Situation nicht gewachsen; nationale Egoismen statt konzertierte Aktionen auf europäischer Ebene waren die Folge. Auf dem Höhepunkt der Migrations- und Flüchtlingskrise kam es zu einer temporären Aussetzung des Schengen-Abkommens und damit zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU. Vor dem Hintergrund dieser multiplen Krisenphänomene und der mit ihr einhergehenden Desintegrationstendenzen will die folgende Analyse einen Überblick über die Kosten-Nutzen-Potenziale bestimmter institutioneller Rückabwicklungstendenzen bieten – sozusagen der »Plan B« zu dem in anderen Kapiteln dieses Buches skizzierten »Plan A«. Indem man sich von der Vorstellung eines nur in eine Richtung verlaufenden Integrationsprozesses löst, sollen hier ökonomische und politische Risiken eines Rückbaus der Währungsunion an den Beispielen des nach wie vor virulenten Grexit, eines Ausscheidens Großbritanniens aus der EU (Brexit) und einer Auflösung des Schengener Abkommens mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen beschrieben werden.

A ustritt aus dem E uro – das B eispiel G re xit Der Grexit wird schon seit geraumer Zeit diskutiert, wobei seine politischen wie ökonomischen Folgen kontrovers beurteilt werden. Zuletzt hat dieses Szenario an Aktualität eingebüßt, weil trotz langwieriger Verhandlungen zwischen Griechenland und den Geldgebern (zumindest bislang) immer eine Einigung erzielt werden konnte. Dennoch bleibt ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone angesichts der nach wie vor unterschiedlich bewerteten

11. Armin Steinbach — Plan B – Rückbau der Integration?

Schuldentragfähigkeit, den Fragezeichen im Hinblick auf die dauerhafte Einbindung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und das Risiko politischer Willfährigkeit weiterhin ein ernst zu nehmendes Szenario. Die Kosten eines Grexit werden – wie könnte es in Ermangelung eines vergleichbaren Falles anders sein – unterschiedlich eingeschätzt. Aufgrund der mit großer Unsicherheit behafteten quantitativen Auswirkungen sind dabei vor allem die qualitativ relevanten Konsequenzen in den Blick zu nehmen. Ökonomisch gesehen hätte ein wie auch immer gearteter Austritt (befristet oder definitiv) für das betroffene Land zunächst den Vorteil, dass die preisliche Anpassung ohne Mitgliedschaft in einer Währungsunion schneller vonstattenginge. Die zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit notwendige Preisanpassung könnte durch Abwertung der neuen Währung schneller erfolgen als dies im Rahmen einer Währungsunion vor allem durch interne Abwertung (zum Beispiel Lohnsenkung) und schmerzhafte Strukturreformen der Fall wäre. Berechnungen zufolge würde die Absenkung zu einem sofortigen BIP-Anstieg von 17 Prozent führen und ebenso positive Effekte auf die Arbeitslosigkeit und die Staatsfinanzen haben.2 Diesem vermeintlichen Vorteil stünden allerdings massive Nachteile gegenüber. Die Auslandsschulden würden stark ansteigen und damit die Schuldentragfähigkeit noch stärker als bisher infrage stellen. In Euro notierte Anleihen würden nicht mehr bedient werden können; sowohl private als auch öffentliche Gläubiger wären von dem Schuldenschnitt betroffen. Das betroffene Land würde den Zugang zu den Finanzmärkten verlieren; ein wirtschaftlicher Kollaps mit den entsprechenden Folgen für Arbeitslosigkeit und soziale Unwuchten wäre zwangsläufig. Um diese Folgen abzudämpfen, müsste die EU massive (humanitäre) Hilfe leisten. Wie die Erfahrung vergangener Schuldenrestrukturierungen zeigt, kann der erschwerte Zugang zum internationalen Kapitalmarkt zu einem wirtschaftlichen Kollaps der Krisenländer führen. Teilweise sind die Auswirkungen mit Verweis auf die Einführung einer Parallelwährung als beherrschbar angesehen worden, insbesondere wenn eine solche Währung nur schrittweise abgewertet würde. Das wäre allenfalls denkbar, wenn es strikte Kapitalverkehrskontrollen gäbe, die die einsetzende massive Kapitalflucht einzudämmen vermögen. Zusätzlich müsste die EZB wahrscheinlich Stützungskäufe der neuen Parallelwährung unternehmen. Diese Schritte sind mit großen Risiken behaftet und in ihrer Wirkung zweifelhaft. Wahrscheinlich ist zudem, dass der Euro die schwache neue Währung verdrängen und zum eigentlichen Zahlungsmittel werden würde.3 Es ist schwer abzuschätzen, in welchem Umfang Deutschland und andere Kreditgeber finanziell haften müssten und welche konkreten Garantien ausgelöst würden.4 Grundsätzlich ist Deutschland als exportstarke Nation wie kein anderes Land in der EU ein Nutznießer des Euro. Jede Verkleine-

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rung des Währungsraums verringert zugleich die Vorteile einer Einheitswährung auf dem europäischen Absatzmarkt. Zu den Kosten der sukzessiv gewährten Finanzhilfen lässt sich Folgendes sagen: Wahrscheinlich ist, dass die Rettungspakete vom Mai 2010 und Februar 2012 wertlos würden. Zudem wären die gewährten Kredite aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in Gefahr. Und schließlich müssen die Target-Salden berücksichtigt werden, die im EZB-System aufgelaufen sind. Je konkreter die Gefahr eines Austritts, umso stärker würde sich der Anstieg der Salden beschleunigen. Bei einem Austritt würden diese Verluste dann tatsächlich realisiert, und zwar auch bei der Deutschen Bundesbank. Die deutsche Wirtschaft wäre ebenso negativ betroffen, weil Unternehmen und Banken auf Forderungen gegenüber Schuldnern aus dem Krisenland sitzen blieben. Die Nachteile für das nationale wirtschaftliche Klima sind nicht absehbar, wären zumindest aber bedeutsam. Eine seriöse Quantifizierung der insgesamt entstehenden Schäden erscheint kaum möglich. Am wenigsten vorhersehbar ist der potenzielle Ansteckungseffekt auf andere Krisenländer. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Umfang auf den Kapitalmärkten auf das Ausscheiden eines weiteren Euromitglieds spekuliert würde. Mangels etablierter Verfahren zum Ausscheiden eines Euromitglieds dürfte der tatsächliche Verlauf in hohem Maße irrationale und unvorhersehbare Züge annehmen, was – befeuert durch die politischen Auseinandersetzungen über das Tragen der Folgekosten und der Schuldenabschreibung – die Handlungsfähigkeit der EU als Ganzes gefährden könnte. Flankiert wäre dies von politischen Schuldzuweisungen, bei denen Deutschland als der Hauptkreditgeber voraussichtlich stark unter Druck geriete. Die Schätzungen der ökonomischen Schäden eines Grexit gehen weit auseinander. Die Prognosekraft quantitativer Analysen ist folglich mit Vorsicht zu genießen. Den größten Einflussfaktor dürften die Ansteckungskanäle zu anderen Ländern bilden. Insoweit veranschaulichen die verschiedenen Szenarien eines Grexit die Bandbreite möglicher volkswirtschaftlicher Schäden. Unterschieden werden kann je nach Folgewirkung zwischen einem einfachen Grexit und dem »GPSI-Exit-Szenario«, in welchem Griechenland, Italien, Portugal und Spanien sequenziell und gemeinsam die Eurozone verlassen würden.5 Für sich genommen ist das Grexit-Szenario sowohl für Europa als auch für die Weltwirtschaft mit nur geringen Wachstumseffekten verbunden. Die gesamten BIP-Verluste in den 42 Ländern, die mehr als 90 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung ausmachen, würden sich bis 2020 auf 674 Milliarden Euro belaufen. Die Auswirkungen in diesem auf Griechenland beschränkten Währungsaustritt unterscheiden sich allerdings stark: In Griechenland würden sich die kumulierten BIP-Verluste bis 2020 auf 94  Prozent der Wirtschaftsleistung des Jahres 2013 belaufen, in Deutschland und den USA hingegen nur auf 2,9 respektive 0,9 Prozent. Verhältnismäßig stark betroffen wären Frank-

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reich, Portugal und Bulgarien, deren kumulierte BIP-Verluste auf jeweils etwa acht Prozent geschätzt werden. Den Kontrast bildet das GPSI-Exit-Szenario und zeichnet potenzielle Ansteckungseffekte nach: Der Austritt aller vier Krisenländer würde zu einer weltweiten Rezession führen. In Frankreich würde sich die starke Kreditvergabe der heimischen Banken besonders nachteilig auswirken. Dort würden die kumulierten Wachstumseinbußen einen Wert von 154 Prozent der Wirtschaftsleistung des Jahres 2013 erreichen. In Italien läge der kumulierte BIP-Verlust mit rund 75 Prozent des BIP des Jahres 2013 etwas über dem entsprechenden Wert Deutschlands (69 Prozent). Für die USA ergäbe sich ein Wert von knapp 25 Prozent und für China von rund 49 Prozent. Derartige Berechnungen beruhen auf zahlreichen Annahmen und liegen damit im spekulativen Bereich. Dennoch zeigen sie: Nur ein klinisch isolierter Grexit würde signifikante Schäden von anderen Ländern der Eurozone abwenden. Aufgrund der bestehenden wirtschaftlichen und finanzmarktbasierten Verflechtungen dürfte eine Isolierung Griechenlands in der Realität allerdings kaum möglich sein.6 Ungeachtet der ökonomischen Konsequenzen ist der Austritt eines Landes auch aus rechtlicher Perspektive alles andere als eindeutig,7 da die europäischen Verträge dafür keine ausdrückliche Rechtsgrundlage vorsehen. Von maßgeblicher Bedeutung ist insoweit die Verordnung (EG) 974/98 über die Einführung des Euro, wonach der Euro in Griechenland zum festgelegten Umrechnungskurs an die Stelle der Drachme getreten ist. Damit einher ging auch der Verlust der unbeschränkten Währungshoheit. Erforderlich ist mithin eine Rechtsänderung dahingehend, dass die Verordnung 974/98 auf Griechenland keine Anwendung mehr findet. Für eine solche Änderung könnte allenfalls Artikel 140 Abs. 3 AEUV über Einstimmigkeit und ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments als Rechtsgrundlage für die »Austrittsverordnung« eines Landes dienen.8 Doch die Diskussion macht nicht beim temporären Austritt eines Landes halt – lagerübergreifend ist die Forderung nach einer Auflösung des Euro, einer Rückkehr zu nationalen Währungen und flexiblen Kursen längst salonfähig geworden. Argumentativ kann man sich der Debatte aus unterschiedlicher Richtung nähern: So sieht Wolfgang Streeck9 das Grundübel im »marktexpandierenden Rationalisierungsprojekt« der gemeinsamen Währung. Der Weg zur politischen Union bedeutet für ihn den direkten Weg in den »unitarisch-jakobinischen« Einheitsstaat. Er sieht in der Stärkung des Nationalen zugleich die Aufwertung des Staatsvolks als Legitimationsträger. Ökonomisch korrespondiert das bei Streeck (und anderen, etwa Martin Höpner10) mit einem Rückbau der Währungsunion. Die Argumentationskette ist eingängig: In einem sehr heterogenen Wirtschaftsraum könne einheitliche Wirtschaftspolitik den national unterschiedlichen »Spielarten des Kapitalismus« nicht gerecht werden. Das Heil wird in flexiblen Wechselkursen, zurückgewonnener

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Anpassungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gesucht (vergleiche auch den Beitrag von Hacker/Koch in diesem Band). Als historisches Vorbild mag hier die Prä-Euro-Epoche des Europäischen Währungssystems (EWS) dienen, als eine Konvergenz von Inflation, Zinsen und Währungen um weitestgehend unverbindliche Leitmarken herum angestrebt und durch Marktinterventionen gesichert wurde. Was bei den einen noch die Skepsis über die Adäquatheit von Einheitslösungen für wirtschaftlich und politisch vielfältige Staaten zu sein scheint, ist bei der Alternative für Deutschland (AfD) – indoktriniert durch ihren einstigen Gründungsvater Bernd Lucke – ein weitergehendes Plädoyer für Wettbewerbsorientierung und die Dämonisierung jeder Form von finanziellen (und sei es vorübergehenden) Transfers. Dogmatischer Dreh- und Angelpunkt ist dabei die ordoliberale Schule mit ihrem Plädoyer für Verantwortung und Haftung sowie der Gedanke dezentralen Wettbewerbs auf Staatenebene. Sowohl den notorisch um das vermeintliche Wohl des Steuerzahlers bemühten Transfergegnern als auch den von der unsozialen Eurokonstruktion enttäuschten Befürwortern einer Rückabwicklung sind zwei Argumente entgegenzuhalten: Die Gewissheit über die ökonomischen Errungenschaften der Währungsunion sowie die Ungewissheit über die Risiken einer Rückabwicklung. Schließlich waren es gerade die Markenzeichen der Einheitswährung – die Größenvorteile des Währungsraums mit einem gemeinsamen Binnenmarkt, der Abbau von Transaktionskosten im grenzüberschreitenden Handel und das hohe Maß an Transparenz – von der alle Euroländer (nicht nur das Exportland Deutschland) bis heute profitiert haben. Diesen Vorteilen steht das Risiko ökonomischer Instabilität gegenüber. Die Rückkehr zu nationalen Währungen wird vermutlich nicht nur wie im Fall des Grexit mit Verwerfungen bei der Einführung alter beziehungsweise neuer Währungen einhergehen, sondern mittelfristig den im Euroraum stillgelegten Krisenherd der Devisenmarktspekulationen neu entfachen – schon in den 1990er-Jahren traten die Schwächen des lockeren Währungsverbundes EWS offen zutage. Gerade die Wiedereröffnung des Devisenmarktkanals dürfte die Anfälligkeit wankender Ex-Euroländer eher befeuern, statt ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Die Risiken einer Rückabwicklung der Währungszone sind jedenfalls nicht absehbar, ihre Potenziale ungewiss. Der in den vorherigen Kapiteln beschriebene »Plan A« ist eher in der Lage, die unbestritten bestehenden Probleme asymmetrischer makroökonomischer Entwicklungen zu lösen (vergleiche die Kapitel von Jeromin Zettelmeyer und Daniela Schwarzer in diesem Band).

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A ustritt aus der EU – das B eispiel B re xit Schlagworte wie die eines »Europas der mehreren Geschwindigkeiten« oder der »variablen Geometrie« sind in Mode gekommen. Sie spiegeln nicht allein Überlegungen wider, die Integration vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalunion vom Status quo aus gesehen zwischen einigen »willigen« Staaten zu vertiefen. Spätestens seit dem Referendum zum Brexit wird damit inzwischen auch ein Rückbau des bereits erreichten Integrationsniveaus verbunden. Dabei steht der bevorstehende britische Austritt aus der EU nur stellvertretend für ein auseinanderstrebendes Europa, in dem die Krisen die Zentrifugalkräfte gestärkt haben – das betrifft längst nicht mehr nur Austritte krisengeschüttelter Länder. Neben dem prominenten Beispiel Großbritanniens ist im Zuge der Finanzkrise das Wiedererstarken nationalpopulistischer Strömungen in einer Reihe von Ländern zu beobachten. Konkret werden etwa Irland, die Niederlande oder Zypern als Nachfolger eines möglichen Brexit genannt.11

Ökonomische Folgen eines Brexit Stellvertretend für potenzielle Aspiranten eines EU-Austritts sollen hier die ökonomischen Auswirkungen eines Brexit skizziert werden. Jede quantitative Prognose über ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU muss mit Unsicherheiten behaftet sein, insbesondere weil es um die Vorausschau der Auswirkungen auf die internationalen Handelsverflechtungen geht.12 Tatsache ist, dass Großbritannien mit der EU wirtschaftlich eng verflochten ist. Mehr als 50 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU-Mitgliedstaaten. Auch die Importe Großbritanniens stammen zu über 50 Prozent aus der EU. In qualitativer Sicht scheint somit zumindest die Aussage gesichert, dass die Integration in den Handel sowohl mit der EU als auch mit der Weltwirtschaft zurückgehen wird. Ob der Brexit für Großbritannien aufgrund möglicher Einspareffekte einen positiven Saldo erbringt, wird unterschiedlich beurteilt. Die abnehmende Integration Großbritanniens in die Weltwirtschaft dürfte sich auf das britische Wirtschaftswachstum dämpfend auswirken. Auf der anderen Seite stehen solchen Wohlfahrtsverlusten Einsparungen in Form der nicht mehr zu leistenden Beiträge zum EU-Haushalt gegenüber. Konkret gibt es eine Reihe von Analysen, in denen die wirtschaftlichen Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft untersucht werden und die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine Studie des Brüssel-kritischen Think Tanks Open Europe etwa kommt zu der Einschätzung, dass die Spannbreite zwischen einem Zuwachs des britischen Wirtschaftswachstums bis 2030 um 1,6 Prozent im günstigsten Fall und einer Einbuße von 2,2  Prozent im ungünstigsten Fall liegt. Andere Schätzungen taxieren die Bandbreite zwischen einem Plus um 0,6 Prozent beim BIP und einem Minus von 0,8 Prozent.13

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Ausgangspunkt jeder quantitativen Analyse in Gestalt von Simulationsberechnungen ist die Belastbarkeit der zu treffenden Annahmen. Im Falle des Austritts eines Landes aus der EU können insoweit Szenarien entwickelt werden, die sich danach unterscheiden, in welchem Umfang die Handelsbeziehungen mit der EU aufrechterhalten bleiben. Das bezieht sich zum einen auf den Status der EU-Grundfreiheiten als Grundlage für den barrierefreien Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Personen. Relevant ist im Verhältnis zu Drittstaaten aber auch die Frage, ob und in welchem Umfang die Handelsverträge der EU ungültig oder modifiziert werden. Damit sind somit auch die Handelsbeziehungen zur Weltwirtschaft insgesamt betroffen. Unterschieden werden können drei Szenarien:14 Ein erstes Szenario wäre ein Austritt Großbritanniens, der das Land in eine mit Norwegen oder der Schweiz vergleichbare Stellung bringt (sanfter Ausstieg), in der Handelsbeziehungen ohne Zölle, wohl aber mit nicht-tarifären Handelshemmnissen bestehen. In einem zweiten Szenario kommt es zu einem Schutzzollniveau gegenüber der EU vergleichbar mit dem Großbritanniens gegenüber den USA. Und in einem dritten Szenario käme es zu einer Isolierung des Landes mit der Folge, dass zusätzlich zu dem zweiten Szenario auch alle Vorteile aus den existierenden Handelsabkommen verloren gingen. Nach Berechnungen des ifo-Instituts schneidet Großbritannien in allen drei Szenarien mit einem negativen Saldo ab, auch bei Berücksichtigung der Einsparung der Milliardenzahlungen an die EU. Selbst bei einem sanften Ausstieg (erstes Szenario) liegen die Nettoverluste bei 0,1 Prozent des BIP. Die Verluste steigen bei stärkerer wirtschaftlicher Isolation und unter Berücksichtigung dynamischer Effekte an, etwa bei nachlassender Produktivitätsentwicklung infolge eines geringeren Wettbewerbsdrucks. Im dritten Szenario könnte das britische reale BIP je Einwohner im Jahr 2030 um bis zu 14 Prozent unter dem Vergleichswert eines Verbleibs in der EU liegen.15 Zu beachten ist weiterhin, dass die einzelnen Wirtschaftsbranchen in unterschiedlichem Ausmaß betroffen wären. Als besonders gravierend werden die Folgen für handelsintensive Branchen, insbesondere für die Sektoren Chemie, Maschinenbau und die Automobilbranche beurteilt, weil ihre Wertschöpfungsketten grenzüberschreitend integriert sind. Darüber hinaus sind in dynamischer Perspektive nachteilige Konsequenzen darin zu sehen, dass sich eine Absenkung der grenzüberschreitenden Handelsaktivitäten negativ auf die Produktivitätsentwicklung eines Landes auswirkt, weil sie den Druck von Unternehmen nimmt, über Investitionen und Innovationen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Auch auf die EU wirkt ein Brexit ökonomisch nachteilig, wenngleich in geringerem Maße als auf Großbritannien. Für Deutschland werden die Auswirkungen der sinkenden Handelstransaktionen im Jahr 2030 auf ein um 0,1 bis 0,3  Prozent niedrigeres reales BIP je Einwohner geschätzt. Auch hier ist das Ausmaß je nach sektoraler Betroffenheit der Wertschöpfungskette unter-

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schiedlich. Für die gesamte EU-27 wird bei einem sanften Austrittsszenario ein Rückgang des realen BIP je Einwohner infolge geringerer Handelsaktivitäten mit Großbritannien zwischen 0,1 Prozent und knapp 0,4 Prozent bei einer Isolierung Großbritanniens gerechnet.16 All das sind Berechnungen, die sich je nach Studie und den zugrunde liegenden Annahmen unterscheiden. Quantitativ nicht erfasst werden in diesen Studien jedoch weitere signifikante Größen, die aber sowohl ökonomische als auch politische Folgen haben dürften. Bedeutsame Kanäle für mögliche Folgeschäden sind etwa Unsicherheiten in Bezug auf Zukunft. Vor allem für wirtschaftliche Akteure münden diese in ein hohes Maß an Planungsunsicherheit, die in erheblichem Umfang Investitionsrisiken stiftet. Schon die ersten Reaktionen auf das Referendum auf den Finanzmärkten haben die Verunsicherung der Wirtschaftsakteure deutlich werden lassen. Ungewissheit über den Status des austretenden Landes, seine zukünftigen Beziehungen zur EU, die rechtlichen Grundlagen der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen sowie das Ausmaß der Beschränkungen der Handelsverträge mit Nicht-EU-Staaten – all das würde über einen Zeitraum von möglicherweise mehreren Jahren das Investitionsklima vor allem in Großbritannien nachhaltig beschädigen.

Rechtlicher Rahmen eines Brexit Was sehen die Regeln der Europäischen Verträge für den Austritt vor? Die Ausgestaltung des Austrittsverfahrens in Artikel 50 EUV macht eines deutlich: Mit einem schnellen Austritt ist nicht zu rechnen. Zudem dürfte eine Reihe politischer Hindernisse den Weg schwierig gestalten. Zuerst muss dem Europäischen Rat eine Austrittserklärung übermittelt werden. Dafür sind ein förmlicher Parlamentsbeschluss und die Ausfertigung durch die Queen erforderlich. Anschließend muss der Europäische Rat »Leitlinien« zum Austritt beschließen, die als Grundlage für ein Austrittsabkommen zwischen der EU und Großbritannien dienen. Das Pikante hierbei ist, dass Großbritannien zwar nicht mit am Tisch sitzt, um über die Leitlinien zu verhandeln, wohl aber alle anderen EU-Staaten diesen Leitlinien im Konsens zustimmen müssen.17 Und hier liegt die nächste Hürde: Regierungen, die ebenfalls mit einem Austritt liebäugeln, dürften für günstige Austrittskonditionen für Großbritannien eintreten. Andere Länder hingegen haben ihre harte Linie bereits angekündigt. Fraglich ist auch, welchen Inhalt die Leitlinien haben müssen – der Vertrag macht hierzu keine Vorgaben. Die EU dürfte ein Interesse an ergebnisoffenen Leitlinien haben, um sich Bewegungsspielraum in den Verhandlungen zu sichern. Klar ist: Es entsteht eine Gemengelage. Schon die Aushandlung der Verhandlungsleitlinien im Europäischen Rat könnte Zwietracht unter den Mitgliedstaaten säen.

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Allen Beteiligten liegt zudem die sunset clause im Nacken, die besagt, dass der Austritt automatisch wirksam wird, wenn es innerhalb von zwei Jahren nicht zum Abschluss eines Abkommens kommt. Die Gefahr eines »braccidents« mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft ist akut, wenn sich die Beteiligten nicht einig werden. Zwar kann diese Frist verlängert werden, dafür sind allerdings ein einstimmiger Ratsbeschluss und das Einvernehmen Großbritanniens erforderlich. Sind die Leitlinien einmal beschlossen, handelt der Rat schließlich einen bilateralen Austrittsvertrag mit Großbritannien aus, der vom Rat nur mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wird, das heißt, es müssen 20 der 27 übrigen europäischen Regierungen im Rat zustimmen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum im Europäischen Rat schon bei der Aushandlung der Leitlinien mit taktischen Spielchen und Vetopositionen zu rechnen sein wird. Kann ein Land bei dem finalen Abkommen überstimmt werden, wird es die Leitlinien für die Verhandlungen so konkret wie möglich gestalten wollen.

Politische Umsetzung eines Brexit Wie hoch die wirtschaftlichen Kosten eines EU-Austritts tatsächlich sind, hängt maßgeblich vom Verhandlungsergebnis ab. Sicher ist, dass es nicht den einen Exit eines EU-Landes gibt. Denkbar sind vielfältige Arrangements eines solchen Austritts, in denen eine Anbindung an das europäische Integrationsobjekt sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Sicht gewahrt werden kann. Hier steht der EU ein schwieriger Balanceakt bevor. Da die Aufrechterhaltung des Binnenmarktes für die kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften von großer Bedeutung ist, will sie einerseits ein so wichtiges Land wie Großbritannien weiter an sich binden. Andererseits wären zu günstige Bedingungen eine Steilvorlage für die anderen Austrittsaspiranten, einen ähnlich guten Deal erreichen zu wollen. Verschiedene Modelle wären denkbar: Zum einen bietet sich eine Anlehnung an die Assoziierungsabkommen mit der Schweiz, Island, Liechtenstein oder Norwegen an. Unter der Voraussetzung, dass die anderen EWR-Staaten mitziehen, erscheint zum anderen auch ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) möglich. Es ist im Interesse aller Beteiligten, dass der nahezu allseits akzeptierte historische und ökonomische Kern des Integrationsprojekts – der Binnenmarkt – in der einen oder anderen Form weiterverfolgt wird. Da eine Beteiligung am Binnenmarkt Mitentscheidungsmöglichkeiten bei den entsprechenden Regulierungen voraussetzt, wäre eine assoziierte Mitgliedschaft mit selektiver Beteiligung an Entscheidungen des Ministerrats eine mögliche Lösung. Damit wäre das Land immer noch privilegiert gegenüber den bestehenden Verbindungen

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mit der Schweiz oder Norwegen. Diese könnten ihrerseits als Referenzpunkt dienen, um einen EU-Austritt bei gleichzeitig möglichst wirtschaftsliberaler Anbindung Großbritanniens an die EU zu gewährleisten. Politisch dürfte deshalb ein »sanfter Ausstieg« die wahrscheinlichste Option sein. Dieser könnte in der Vereinbarung eines assoziierten Status liegen, der dem Umstand Rechnung trägt, dass Großbritannien ein langjähriges Mitglied der EU gewesen ist und bis dato den acquis communautaire übernommen hat. Beim Minimum einer sanften Ausstiegsform ist davon auszugehen, dass neben einer Einbindung in die europäische Zollunion auch die weitestgehende (wenngleich auf britischer Seite mit Vorbehalten versehene) Geltung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten vereinbart wird. Ein derartiger »Binnenmarkt light« wäre ein Mittel, um die wirtschaftlichen Konsequenzen eines EU-Austritts abzufedern. Austrittsverhandlungen werden von beiden Seiten mit dem Ziel geführt, die oben beschriebenen wirtschaftlichen Kollateralschäden einzudämmen. Um Dominoeffekte zu vermeiden steht die EU allerdings unter Druck, das Signal an potenzielle Nachahmer zu senden, dass austretenden EU-Mitgliedern keine übermäßigen Konzessionen gemacht werden. Unzweifelhaft dürfte das britische Beispiel Veranschaulichung dafür bieten, dass die Heterogenität des Integrationswillens innerhalb der EU weiter zunimmt. Mit ihr wird sich auch die differenzierte Integration innerhalb der EU verstetigen. Auch andere EUskeptische Regierungen werden sich der Rückbesinnung auf die nationale Idee anschließen. Sie könnten versuchen, in Bereichen von nationaler Bedeutung einen Rückzug aus der EU anzustreben. Insofern wird die differenzierte Integration die Regel sein, nicht die Ausnahme. Bei den auf Grundlage von Artikel 50 EUV stattfindenden Austrittsverhandlungen dürfte auf die britische Position mäßigend wirken, dass der Austritt aus der EU mit dem Verlust an Einflussmöglichkeiten einhergeht. Das hat zuallererst Folgen für Großbritannien, weil die Geschicke der EU gänzlich aus der Hand gegeben werden. Beachtet man zudem, dass sämtliche wirtschaftspolitische Entscheidungen der EU auch in Zukunft externe Effekte auf Großbritannien haben werden, ist ein Stimmenverlust im Europäischen Rat von nachteiliger Wirkung für das Land. Im Hinblick auf die damit einhergehenden sich ändernden Kräfteverhältnisse in den EU-Institutionen gilt: Mit dem Wegfall eines liberalen Schwergewichts in der gegenwärtigen Ratskonstellation käme es zu einer Aufwertung protektionistischer Interessen innerhalb der EU. Zuletzt bleiben die potenziellen politischen Ansteckungseffekte eine zentrale Ungewissheit. Geht Großbritannien einen Weg der wirtschaftspolitischen und politischen Unabhängigkeit, könnte dies die politischen Fliehkräfte in einem ohnehin fragilen europäischen Verbund noch einmal verstärken. Nationalpopulistische Strömungen würden Auftrieb bekommen und andere Staaten könnten zu Nachahmern werden, zumindest aber eine stärkere Unabhängig-

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keit von der EU einfordern. Für den Brexit gilt unter dem Strich: Selbst wenn eine starke Isolation für keine der beiden Seiten erstrebenswert erscheint, wird er nicht nur zu ökonomischen Verlusten führen (sowohl in Großbritannien als auch in der EU), sondern auch erhebliche, kaum prognostizierbare politische Risiken mit sich bringen. Tritt ein Land aus der EU aus, ist damit auch die Grundlage für eine noch stärkere Ausdifferenzierung der Verflechtungen der EU mit Nicht-EU-Mitgliedern verbunden. Denn zwischen den Nicht-EU-Ländern müsste es eine klare Abstufung geben. Dass »Ex-EU-Länder« durch die jahrzehntelange Übernahme des acquis communautaire der EU näher stehen als andere assoziierte Nicht-EU-Mitgliedstaaten, muss sich sowohl im Grad der wirtschaftlichen Verbindung als auch in der institutionellen Verschränkung niederschlagen.

D ie R ück abwicklung des S chengen -A bkommens Abseits der ökonomischen Krisenanfälligkeit haben zuletzt die Flüchtlingsströme nach Europa ein weiteres Problem der EU zutage gefördert. Appelle an die »europäische Solidarität« bei der Flüchtlingsverteilung und fairen Lastenaufteilung verhallten angesichts der Taubheit nationaler Egoismen und Alleingänge. Rechtspopulistische Parteien haben Aufwind und untergraben die Bereitschaft vieler EU-Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen. Mit der Flüchtlingskrise ist das bestehende Dublin-Regelwerk aus den Angeln gehoben worden, was zu einer unkontrollierbaren Bewegung von Flüchtlingsströmen geführt hat. Infolgedessen haben einige Staaten nationale Grenzkontrollen wiedereingeführt und damit das Abkommen von Schengen infrage gestellt. Obwohl vorübergehende, zeitlich klar befristete Grenzkontrollen mit dem Schengen-Abkommen vereinbar sind, wurde angesichts des Unvermögens der EU, zu einem einheitlichen Kurs bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu gelangen, die Diskussion befördert, ob ein größerer nationalstaatlicher Spielraum bei der Steuerung von Flüchtlingsströmen und damit auch bei der Wahrnehmung der nationalstaatlichen Grenzkontrollen wünschenswert wäre. Verfolgt man den Gedanken größerer nationaler Souveränität bei der Grenzkontrolle konsequent weiter, hieße das, den Fortbestand des SchengenAbkommens in Frage zu stellen. Das 1995 in Kraft getretene Schengen-Abkommen umfasst heute 26 Staaten. In dem Abkommen ist die Aufhebung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums vorgesehen. Im Schengen-Regelwerk wurden darüber hinaus die Vereinheitlichung von Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen sowie die Regelung der Visavergabe für den gesamten Schengen-Raum festgelegt.

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Was kostet eine Schengen-Aufkündigung? Es existiert eine Reihe empirischer Studien, die den ökonomischen Effekt des Schengen-Abkommens analysieren. Dane Davis und Thomas Gift18 untersuchen die Auswirkungen auf den bilateralen Handel für den Zeitraum von 1980 bis 2011 und schätzen, dass die Zugehörigkeit zu Schengen den bilateralen Handel um 10 bis 15  Prozent erhöht hat. Umgekehrt werden für einen Zerfall des Schengen-Raums erhebliche Friktionen prognostiziert. Nach den Berechnungen von Vincent Aussilloux und Boris Le Hir würden Grenzkontrollen den zwischenstaatlichen Handel zwischen den Schengen-Ländern um 10 bis 20 Prozent verringern.19 Die vielleicht umfassendste Kostenanalyse hat Prognos vorgelegt.20 Berechnungen der Kosten einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen müssen zunächst Aussagen zu Art und Umfang der entstehenden Kosten treffen. Konkret bedeutet die Wiedereinführung von Grenzkontrollen, dass Reisedokumente und gegebenenfalls auch Fahrzeuge von Personen beim Überschreiten einer Grenze überprüft werden. Die Folge wären längere Wartezeiten für LkwFahrer, Berufspendler und Touristen. Dezentrale Produktionsprozesse, die auf passgenaue Zulieferung von Vorleistungen auf bauen, würden ebenso erschwert wie Wertschöpfungsketten, die auf Zulieferungen aus verschiedenen EU-Staaten angewiesen sind. Damit wird die Struktur der Wertschöpfungsketten beeinflusst und mittelbar auch Standortentscheidungen von Unternehmen genauso wie preisliche Wettbewerbsfähigkeiten. Ausgangspunkt ökonomischer Kostenberechnungen ist die Behinderung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs. Auf der betriebswirtschaftlichen Ebene hätte das höhere Transaktions- und Personalkosten zur Folge, Just-intime-Produktionen könnten erschwert und größere Lagerbestände erforderlich werden. Volkswirtschaftlich relevant würden steigende Importkosten aufgrund höheren zeitlichen Aufwands für den Grenzübergang, der in Zolläquivalenten ausgedrückt werden kann.21 Aussilloux/Le Hir veranschlagen die Steigerung des erhöhten Warenwerts auf drei  Prozent, während andere Studien von Zolläquivalenten zwischen 1,4 und 1,7  Prozent ausgehen.22 Wie auch bei den Quantifizierungen ökonomischer Nachteile der Euro- oder EUAustritte sind die Prognosen sehr stark annahmegetrieben und hängen maßgeblich von der Häufigkeit und Effizienz der Grenzkontrollen sowie von der Anpassungsfähigkeit der Unternehmenslogistik ab. Laut Prognos können die ökonomischen Kosten wie folgt angesetzt werden: In einem konservativen Szenario (Grenzkontrollen im Schengen-Raum erhöhen die Importpreise im innereuropäischen Handel um ein Prozent) würde Deutschlands Wirtschaft bis 2025 durchschnittlich um 0,03 Prozentpunkte pro Jahr weniger wachsen verglichen mit einem Szenario offener Grenzen. Das wären über den Zeitraum von zehn Jahren kumuliert Kosten in Höhe

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von 77  Milliarden Euro. In einem verschärften Szenario (Grenzkontrollen im Schengen-Raum erhöhen die Importpreise im innereuropäischen Handel um 3 Prozent) würde sich der BIP-Verlust für Deutschland im Schnitt auf 0,08 Prozent belaufen, was bis 2025 in der Summe Wachstumseinbußen von 235 Milliarden Euro entspräche. Die Einbußen der anderen westeuropäischen Länder bewegen sich in ähnlichen Größenordnungen. Im Schnitt würden die jährlichen Verluste bei 0,04 beziehungsweise 0,12  Prozent im Vergleich zur BIP-Entwicklung bei offenen Grenzen liegen. Die ökonomischen Kosten einer Schengen-Auflösung erscheinen demnach auf den ersten Blick zumindest nicht horrend. Volkswirtschaftlich relevant, bislang jedoch unberücksichtigt, sind allerdings Kosten, die aus den Einschränkungen des täglichen Pendelverkehrs resultieren. Man könnte diese auf Seiten der Arbeitnehmer_innen oder Arbeitgeber_innen als Zeitverluste bewerten, die ansonsten für produktivere Zwecke eingesetzt werden könnten.

Politische Auswirkungen des Schengen-Zerfalls Bedeutsamer als die ökonomischen Auswirkungen dürften indes die politischen Konsequenzen einer Aufkündigung des Schengen-Abkommens sein. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zunächst Sicherheitsaspekte: Sicherheitsrelevante Informationen, die bislang im ganzen Schengen-Raum über ein Informationssystem abgewickelt werden, müssten zukünftig auf bilateraler Ebene ausgetauscht werden. Die Bekämpfung der Schleuser- und Rauschgiftkriminalität sowie des organisierten Verbrechens und internationalen Terrorismus würde erschwert. Zudem würde auch die justizielle Zusammenarbeit der Länder von einer Abkehr vom Schengen-Abkommen betroffen sein. Ähnlich wie bei den oben diskutierten Ausstiegsszenarien dürfte die eigentliche Brisanz einer Aufkündigung des Schengen-Abkommens in seiner politischen Aussagekraft liegen. Der Rückbau der europäischen Integration in einem ihrer Kernbereiche – der nationalstaatlichen Grenzkontrolle – wäre in der europäischen Integrationsgeschichte eine Zäsur. Sie käme dem Eingeständnis gleich, dass die Mitgliedstaaten in der EU nicht in der Lage oder willens sind, ihre nationalen Egoismen zugunsten koordinierter Ansätze auf EU-Ebene zu überwinden. Nachdem die Wirtschafts- und Finanzkrise in ihren Schüben und den wiederkehrenden Rettungspaketen und Finanzhilfen trotz offen ausgetragener Kontroversen am Ende stets zu einer Einigung geführt hat, wäre eine Wiedereinführung der Nationalstaatlichkeit bei den Grenzkontrollen ein Signal dafür, dass die EU auf bestimmten Gebieten nicht einigungsfähig ist. Dass eine Aussetzung des Schengen-Abkommens eine negative Vorbildwirkung für andere Bereiche des Integrationsprozesses entfalten könnte, ist naheliegend.

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F a zit Der hier beschriebene »Plan B« bedeutet, dass der europäische Integrationsprozess andere Wege geht, als aus politischer und ökonomischer Sicht wünschenswert. Er skizziert Pfade, die aus einer fortgesetzten Dynamik der Desintegration resultieren. Ihren Grundstein haben sie in den verschiedenen Krisenphänomenen der letzten Jahre, die den Bestand des ehemals unantastbaren acquis communautaire infrage stellen. Konkret geht es um die Stabilität der Währungsunion im Sinne ihrer Mitgliedschaft und die Frage, ob sie als Klubgemeinschaft mit flexiblen Ein- und Austritten das Ausscheiden eines Mitglieds ermöglichen sollte. In der Praxis dürfte dies realistischerweise nur Griechenland betreffen. Ökonomisch sind die Risiken eines Austritts nicht zu überschauen. Schon die Folgenanalyse für das betroffene Land fällt trotz einer vermeintlich rasch gewonnenen Wettbewerbsfähigkeit aufgrund des unvermeidlichen Zahlungsverlusts und des Einbruchs der Wirtschaft fatal aus. Verheerend weil unkontrollierbar dürften die Ansteckungseffekte für andere Länder sein. Auch für die übrigen Euroländer wären die Kosten enorm. Die Auflösung des Währungsraums ginge noch ein Schritt weiter. Die vordergründigen Vorteile (bessere Anpassungsfähigkeit nationaler Ökonomien, Wiedergewinn an Wettbewerbsfähigkeit, größere Legitimation nationalstaatlicher Regulierung) dürften sich in der Praxis durch die Krisenanfälligkeit eines solchen »Europäische Bretton-Woods« als hinfällig erweisen, wie die Erfahrungen mit dem Prä-Euro-Währungssystem EWS gezeigt haben. Bildlich gesprochen dürfte die Rückabwicklung der Währungsunion dem Versuch entsprechen, Zahnpasta zurück in die Tube drücken zu wollen. Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird – ökonomisch betrachtet – wohl deutlich geringere negative Konsequenzen nach sich ziehen als der unkontrollierte Ausstieg eines Landes aus der Währungszone. Gleichwohl zeigen die ersten Reaktionen auf das Brexit-Referendum die Verunsicherung der Marktteilnehmer angesichts einer voraussichtlich langen Phase regulatorischer Ungewissheit. Die Szenarien eines Brexit zeigen insofern zwar in jedem potenziellen Szenario Negativeffekte, allerdings fallen diese in Natur und Umfang deutlich geringer aus als im Falle eines Währungsaustritts. Und auch die Aufhebung des Schengen-Regelwerks mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen verursacht zwar Kosten, allerdings bleiben auch diese im Rahmen. Während Desintegration im Bereich der Währungsunion somit erheblich größere ökonomische Nachteile haben dürfte als ein Austritt aus der EU oder die Aufhebung des Schengen-Abkommens, sind die politischen Folgewirkungen aller drei Entwicklungen in jeder Hinsicht von negativer Signalwirkung. Ein Grexit wäre der Beweis dafür, dass die Governance der Eurozone sowohl in fiskalpolitischer als auch in geldpolitischer Sicht gescheitert ist. Austritte aus der EU könnten Vorbildcharakter für jene Länder haben, in denen die antieuro-

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päischen Kräfte wie in Großbritannien an Zulauf gewinnen. Genauso würde die Aufhebung des Schengen-Abkommens einen der Grundpfeiler und mit ihm eine der Tabuzonen des europäischen Integrationsverständnisses infrage stellen. All das sind pessimistische, keine anzustrebenden Entwicklungspfade – mit dem Brexit-Referendum haben wir bereits einen von ihnen eingeschlagen.

A nmerkungen 1 | Häberle, Peter (2015): Fünf Krisen im EU-Europa – Weltweite Implikationen, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungstheorie für Europa, in: Archiv des Völkerrechts, Band 53, Heft 4, S. 409-423. 2 | Rudolf, Markus (2012): Die Kosten eines Euro-Zerfalls für Europa sind hoch; https://www.whu.edu/fakultaet-forschung/finance-accounting-group/finanzwirtschaft/aktuelles/aktuelles-einzelansicht/article/die-kosten-eines-euro-zerfalls-fuereuropa-sind-hoch (aufgerufen am 14.7.2016). 3 | Fratzscher, Marcel/Fuest, Clemens et al. (2013): Ein Plädoyer für den Euro, in: Süddeutsche Zeitung (1.6.2013); www.sueddeutsche.de/wirtschaft/plaedoyer-fuerden-euro-top-oekonomen-attackieren-alternative-fuer-deutschland-1.1685686 (aufgerufen am 3.7.2016). 4 | ifo Institut (2015): Möglicher Verlust des deutschen Staates bei einem Staatskonkurs Griechenlands (6.1.2015); https://www.cesifo-group.de/ifoHome/presse/Presse mitteilungen/Pressemitteilungen-Archiv/2015/Q1/press_20150106_Griechenland/ main/0/text_files/file0/document/GRexit_Haftung_Deutschlands.pdf (aufgerufen am 3.7.2016). 5 | Bertelsmann Stiftung (2012): Wirtschaftliche Folgen eines Euro-Austritts der südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Policy Brief No. 2012/06, 2012. 6 | Bertelsmann Stiftung (2012). 7 | Herrmann, Christoph (2015): Auf der Suche nach dem Ariadnefaden: von den rechtlichen Schwierigkeiten von Grexit und Graccident. VerfBlog (16.3.2015); http:// verfassungsblog.de/auf-der-suche-nach-dem-ariadnefaden-von-den-rechtlichenschwierigkeiten-von-grexit-und-graccident/ (aufgerufen am 3.7.2016). 8 | Herrmann, Christoph (2015). 9 | Streeck, Wolfgang (2012): Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesung 2012 10  | Höpner, Martin (2015): Man hätte den Euro niemals einführen dürfen. ZeitOnline (7.8.2015); www.zeit.de/wirtschaft/2015-08/euro-waehrungsunion-kriseeuropa (aufgerufen am 3.7.2016). 11 | Global Counsel (2015): Brexit: the impact on the UK and the EU (Juni 2015); https://www.global-counsel.co.uk/sites/default/files/special-reports/downloads/ Global %20Counsel_Impact_of_Brexit.pdf (aufgerufen am 5.7.2016).

11. Armin Steinbach — Plan B – Rückbau der Integration? 12 | Vergleiche etwa Bertelsmann Stiftung (2015): Brexit – Mögliche wirtschaftliche Folgen eines britischen EU-Austritts. Policy Brief No 2015/05; https://www. bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/policy-brief-201505-brbrexit-moegliche-wirtschaftliche-folgen-eines-britischen-eu-austrit-1/ (aufgerufen am 5.7.2016). 13 | Persson, Mats et al. (2015): What if …? The Consequences, challenges & opportunities facing Britain outside EU. Open Europe Report 3/2015, London et al.; http://openeurope.org.uk/intelligence/britain-and-the-eu/what-if-there-were-abrexit/ (aufgerufen am 5.7.2016). 14 | Bertelsmann Stiftung (2015). 15 | Bertelsmann Stiftung (2015). 16  | Bertelsmann Stiftung (2015). 17  | Thiele, Alexander (2016): Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines ›Brexit‹, in: Europarecht, Heft 3, 2016. 18  | Davis, Dane/Gift, Thomas (2014): The Positive Effects of the Schengen Agreement on European Trade, in: World Economy 37 (11), S. 1541-1557. 19 | Aussilloux, Vincent/Le Hir, Boris (2016): The Economic Cost of Rolling Back Schengen. Analytical Note, No. 39, Paris: France Stratégie; www.strategie.gouv. fr/sites/strategie.gouv.fr/files/atoms/files/the_economic_cost_of_rolling_back_ schengen_0.pdf (aufgerufen am 6.7.2016). 20 | Prognos (2016): Abkehr vom Schengen-Abkommen. Kurzstudie (15.2.2016); www.prognos.com/uploads/tx_atwpubdb/20160215_Prognos_Kurzstudie_-_Ab kehr_vom_Schengen-Abkommen__002_.pdf (aufgerufen am 6.7.2016). 21  | Aussilloux/Le Hir (2016); Prognos (2016). 22 | Prognos (2016).

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12. Zukunftsszenarien für die Eurozone und Fazit Alexander Schellinger, Philipp Steinberg

Der Austritt Großbritanniens aus der EU erschüttert die Gemeinschaft in ihren Grundfesten. Sie ist schon in den vergangenen Jahren durch die Euround Flüchtlingskrise sowie den Krieg in der Ukraine massiv unter Druck geraten. In diesem Buch befassen wir uns mit der Zukunft der Eurozone und damit auch der EU. Wir wollen die Debatte beleben und haben Vorschläge gemacht, welche Reformen notwendig wären, um die Defizite zu beseitigen. Uns geht es vor allem darum, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Eurozone zu verdeutlichen. Nur wenn ein Verständnis für die Zusammenhänge vorhanden ist, besteht überhaupt die Chance weiterzukommen: in der Analyse und in der politischen Umsetzung.

Z ukunf tsszenarien Es lassen sich drei grundlegende Szenarien unterscheiden, entlang derer sich die Eurozone weiterentwickeln könnte.

Szenario 1: inkrementelle Veränderungen Das ist das wahrscheinlichste Szenario: Es wird allenfalls kleinere, schrittweise (inkrementelle) Veränderungen der Architektur der Eurozone (und der EU) geben. Selbst nach dem Brexit-Referendum entsteht in diesem Szenario kein Möglichkeitsfenster, um zu grundlegenden Reformen zu kommen. Die Heterogenität der Interessenlagen in Europa und eine weitverbreitete Europaskepsis machen Vertragsänderungen unmöglich. Daher können die größeren Reformen in Richtung einer »Fiskalunion«, wie sie in diesem Buch diskutiert werden, nicht umgesetzt werden. Christian Beck analysiert in Kapitel 2 die Interessengegensätze zwischen den großen Mitgliedstaaten, aber insbesondere auch zwischen der europäi-

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schen und der nationalen Ebene. Die Situation in Deutschland, wie Mark Schieritz (Kapitel 5) sowie Björn Hacker und Cédric M. Koch (Kapitel 6) ausführen, zeigt ebenfalls, dass die deutsche Europaposition strukturell mit wirtschaftspolitischen Überzeugungen und Interessen verknüpft ist. Aufgrund der speziellen ordnungspolitischen Umstände sowie der spezifischen Akteurskonstellation gibt es keinerlei echtes Momentum, um strukturelle Änderungen der Eurozone, wie sie in diesem Band insbesondere von Peter Becker (Kapitel 10), Henrik Enderlein (Kapitel 3), Daniela Schwarzer (Kapitel 9) und Jeromin Zettelmeyer (Kapitel 8) vorgeschlagen wurden, durchzusetzen. Dennoch sind auch in diesem Szenario Weichenstellungen möglich, die Teile der in diesem Band vorgeschlagenen Reformen teilweise umsetzen oder zumindest vorbereiten – darauf gehen wir in diesem Abschnitt ein. Der wahrscheinliche kleinste gemeinsame Nenner im Rahmen dieses Szenarios ist: Die Eurozonenländer verständigen sich darauf, dass die Eurozone und die EU ihr Wohlstandsversprechen wieder einlösen und eine neue wirtschaftliche Dynamik entwickeln müssen. Die Kapitel von Henrik Enderlein und Michael Dauderstädt zeigen eindrücklich, welche Gefahren mit einer anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Divergenz verbunden sind, die in Südeuropa zu einer neuen »sozialen Katastrophe« (siehe Kapitel 4) geführt hat. Die Eurozone muss also ihr Wohlstandsversprechen neu begründen und mit konkreten Schritten unterlegen. Ein gerechter Wohlstand, der wirtschaftliches Wachstum mit Solidarität verbindet, ist die Basis für politische Stabilität und einen europäischen Zusammenhalt. Im Rahmen dieses Szenarios der inkrementellen Veränderung ist in erster Linie die Weiterentwicklung des Binnenmarkts wahrscheinlich, insbesondere des digitalen Binnenmarkts, der Dienstleistungsfreiheit und von Produktmarktreformen. Die Widerstände sind auch hier – gerade bei Dienstleistungen und Produktmärkten – groß. Der Vorteil ist jedoch, dass man sich hier auf die erprobte Gemeinschaftsmethode – also die Gesetzgebung durch Europäisches Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission – und realistische Mehrheitserfordernisse (qualifizierte Mehrheit) stützen könnte und keine Vertragsänderungen notwendig wären. Gerade im Bereich der Produktmärkte und der Weiterentwicklung des Binnenmarktes für Dienstleistungen besteht noch großes Potenzial, um wirtschaftliche Dynamik zu ermöglichen. Außerdem könnte die Investitionsfähigkeit, auf bauend auf dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen, weiter gestärkt werden. Denkbar wäre, dass ein zentrales Investitionsregelwerk aufgestellt wird, das neue Wachstumsimpulse mit entschlosseneren Modernisierungsinvestitionen verbindet: und zwar bei den transeuropäischen Verkehrs- und Energienetzen, beim Auf bau eines europäischen Gigabyte-Netzes, bei der Ausbildung im Hinblick auf eine digitale Ökonomie und bei der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit sowie bei Risikokapital und Gründungsfinanzierung.

12. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Zukunf tsszenarien für die Eurozone

Denkbar wäre es auch, den Stabilitäts- und Wachstumspakt weiter zu reformieren, ohne allerdings die grundlegenden Parameter des geltenden Pakts zu ändern. Diese Parameter sind in einem Protokoll im Vertrag über die Arbeitsweise der EU niedergelegt und haben damit Primärrechtscharakter. Um diese zu ändern, bedürfe es wiederum Einstimmigkeit. Das von Jeromin Zettelmeyer vorgeschlagene Schuldenrestrukturierungsinstrument, das er als eine notwendige Begleitmaßnahme betrachtet, kann jedoch aufgrund der notwendigen Einstimmigkeit nur schwer eingeführt werden. Allerdings sind auch hier Ausgestaltungen möglich, welche unterhalb der Ebene von Vertragsänderungen erfolgen.1 Bereits heute werden alle neuen Staatsanleihen mit sogenannten Collective Action Clauses versehen, welche es ermöglichen, Schuldenrestrukturierungen und damit das Erleiden von Verlusten – wenn eine bestimmte qualifizierte Mehrheit erreicht wird – auf alle Gläubiger verpflichtend auszudehnen. Die Einführung eines Eurozonenbudgets mit neuen Haushaltsmitteln lässt sich nicht ohne Vertragsänderung bewerkstelligen. Denkbar wäre im Rahmen dieses Szenarios allerdings eine Umschichtung bestehender Mittel. Dies wäre grundsätzlich ohne Vertragsänderung möglich. Eine Umschichtung von zur Verfügung stehenden Mitteln zwischen (bestehenden) Haushaltslinien innerhalb der Rubriken und über die verschiedenen Jahre des Mehrjährigen Finanzrahmens gehört zur EU-Haushaltstechnik. Voraussetzung ist, dass Spielräume bestehen und die Obergrenze nicht überschritten wird. Darüber hinaus wäre es – ebenfalls ohne Vertragsänderung – auch möglich, eine neue Haushaltslinie als Grundstein eine Fiskalpolitik zu schaffen. Fraglich wäre dann allerdings, wie diese neue Haushaltslinie befüllt werden könnte: Sofern hierzu bestehende Eigenmittel der EU genutzt würden, würden mangels spezifischer Eigenmittel für die Eurozone im Ergebnis faktisch auch Nicht-Euro-Mitgliedstaaten die neue Haushaltslinie befüllen, was politisch schwer darstellbar sein dürfte. Nicht ausgeschlossen erschiene zudem ein Mechanismus, wonach die Euromitgliedstaaten auf ihnen bereits zugewiesene (und nicht verausgabte) Mittel aus anderen Haushaltslinien verzichten, um damit die neue Haushaltslinie zu befüllen, auch das allerdings nur im Rahmen der bestehenden Haushaltsmittel. Indem der Eigenmittelbeschluss geändert wird, könnten ebenfalls neue Eigenmittel für die Finanzierung eines Eurozonenbudgets eingeführt werden. Dies wäre jedoch mit hohen verfahrensrechtlichen Hürden verbunden, die einer Vertragsänderung zumindest nahe kommen. Denn hierfür wäre eine einstimmige Beschlussfassung im Rat notwendig und alle Euromitgliedstaaten müssten nach den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften zustimmen. Eigenmittel der EU, welche nur von den Eurozonenländern erhoben bzw. eingezahlt würden und auch nur für die Zwecke der Eurozone genutzt würden, wären darüber hinaus ein Novum.

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Für die Einführung eines zusätzlichen neuen Eurozonenbudgets reichen die bestehenden Rechtsgrundlagen in den europäischen Verträgen nicht aus. Weder die Zuständigkeiten der EU im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik noch die Binnenmarktharmonisierungskompetenz dürften diesen Fall erfassen. Auch der Rückgriff auf die Kompetenzergänzungsklausel ist rechtlich für eine derart weitgehende haushaltsrechtliche Maßnahme kaum vertretbar. Ein rechtlich sicherer Weg, um eine Fiskalkapazität in Form eines Eurozonenbudgets zu schaffen, ist daher, eine neue Kompetenzgrundlage einzuführen, ähnlich den Regelungen zu den Strukturfonds. Intergouvernemental könnte ein Fonds eingerichtet werden, der sich aus Beiträgen der teilnehmenden Staaten speist (analog den Strukturen des Europäischen Stabilitätsmechanismus). Dies setzt aber einen völkerrechtlichen Vertrag der teilnehmenden (Euro-)Staaten voraus und würde damit faktisch einer Vertragsänderung entsprechen. Auch wenn das Szenario der inkrementellen Veränderung als am wahrscheinlichsten gelten kann, ist es mit erheblichen Risiken verbunden. Es ist unsicher, ob es einen schleichenden Auflösungsprozess verhindern kann, und zudem werden vermutlich keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen, um auf eine erneute krisenhafte Entwicklung zu reagieren. Große Unterschiede in den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in der Eurozone sowie die Flüchtlingskrise erfordern Lösungen, welche die Handlungsfähigkeit auf Ebene der Eurozone stärken. Doch die Gemeinschaft ist in diesem Szenario zu schwach, um einen wirkungsvollen Beitrag leisten zu können, während das Europa der nationalen Regierungen sich gegenseitig blockiert (siehe Kapitel 2 von Christian Beck). Die Krisenpolitik der vergangenen Jahre hat in der Wahrnehmung vieler den Norden gegen den Süden, Griechen gegen Deutsche gestellt. Die Flüchtlingskrise hat eine neue Kluft zwischen West- und Osteuropa entstehen lassen. Das Vertrauen, das die meisten Menschen in Europa, aber auch die nationalen Regierungen ihren Partnern über Jahrzehnte entgegengebracht haben, scheint heute weitgehend aufgebraucht zu sein. Vor diesem Hintergrund gerät die europäische Einigung immer stärker unter den Druck von Rechtspopulisten, die fast überall in Europa deutlichen Zulauf haben, wie zuletzt das Referendum in Großbritannien bestätigte. Wie und ob die Probleme der Eurozone mit inkrementellen Reformen schnell und wirkungsvoll genug gelöst werden und die Geister des Rechtspopulismus wieder eingefangen werden können, ist fraglich. Denn die neuen politischen Kräfte erhöhen den Druck auf die etablierten Parteien, indem sie nationale Lösungen vorschlagen und ein Ende der Währungsunion und des Binnenmarkts fordern. Damit befördern sie die Renationalisierung der politischen Debatte. Für die etablierten Kräfte wird es dadurch immer schwieriger, für gemeinsame Lösungen einzutreten. Bleibt die Handlungsfähigkeit der Eurozone so gering wie bisher und treten unerwartete Krisen auf – wie der Austritt eines Mit-

12. Alexander Schellinger, Philipp Steinberg — Zukunf tsszenarien für die Eurozone

gliedslands oder ein erneuter Ausbruch der Flüchtlings- oder Währungskrise –, besteht die Gefahr, dass eine schrittweise, inkrementelle Veränderung nicht zu einer langsamen Verbesserung führt, sondern wie ein Beschleuniger in einem großen Auflösungsprozess wirkt. Auch in diesem Szenario gilt jedoch: Es gibt Möglichkeiten, Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Einige haben wir dargestellt.

Szenario 2: weitgehende Reformen in Richtung Fiskalunion Dieses Szenario könnte Elemente des Szenarios der inkrementellen Verbesserung beinhalten, setzt aber zudem weitergehende Reformen um, die landläufig unter der Überschrift »Fiskalunion« diskutiert werden. Es geht von einer Reformbedürftigkeit in der Eurozone aus, welche nicht mehr nur inkrementell behandelt werden kann, sondern vielmehr auch Schritte zu einer stärkeren fiskalischen Integration notwendig machen. Gerade die fehlenden makroökonomischen Steuerungsmöglichkeiten auf Ebene der Eurozone werden hier angeführt (siehe Kapitel von Henrik Enderlein und Jeromin Zettelmeyer). Mögliche Lösungen wären ein Eurozonenbudget, eine mutigere Reform des wirtschaftspolitischen Regelwerks, Schuldenrestrukturierungsregime und Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Kohäsion (siehe Kapitel 10 von Peter Becker), die daneben teilweise noch (wie das europäische Kurzarbeitergeld) ökonomisch stabilisierend wirken könnten. Ebenfalls umgesetzt würden institutionelle Veränderungen wie die Einführung eines Finanzministers (siehe Kapitel von Daniela Schwarzer). Dieses umfassende Reformszenario wird von vielen als wenig wahrscheinlich angesehen, weil es Vertragsänderungen erforderlich macht und eine weitere Integration aufgrund der zu beobachtenden Desintegrationstendenzen unmöglich erscheint. Referenden wären vor diesem Hintergrund nicht vertretbar und zum Scheitern verurteilt, wie das Brexit-Referendum gerade eindrucksvoll bewiesen hat. Diese Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Wie immer gilt aber auch hier: Wenn man sich nur dem scheinbar realpolitisch Machbaren beugt und nicht das politisch und ökonomisch Sinnvolle diskutiert, besteht auch keinerlei Chance, dass es zu notwendigen Veränderungen kommt. Das umfassende Reformszenario scheint nur dann durchführbar, wenn es gelingt zu zeigen, dass dabei die Bürgerinnen und Bürger der Eurozone im Mittelpunkt stehen und nicht abstrakte Institutionendebatten, und dass es dabei nicht um eine »Vertiefung«, sondern um eine »Verbesserung« geht. Das kann gelingen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Eurozonen-BIP 2016 immer noch nur marginal über dem Stand von 2008 liegt, die Arbeitslosigkeit mit nahezu elf Prozent inakzeptabel hoch ist (und damit rund vier Prozentpunkte höher als 2008) und das Wachstum in der Eurozone – mit Ausnahme weniger Mit-

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gliedstaaten wie Deutschland – mit rund 1,5 Prozent 2016 zwar wieder zulegen konnte, aber immer noch zu gering ist. Hinzu kommt, dass die soziale Ungleichheit in fast allen Mitgliedstaaten (inklusive Deutschland) in den letzten Jahren zugenommen hat (siehe das Kapitel von Michael Dauderstädt), was nicht nur sozial problematisch ist, sondern auch wirtschaftspolitisch. Das Reformszenario wird nur dann eintreten, wenn der Mehrwert für den Einzelnen sichtbar ist und sich so eine durchsetzungsfähige politische Koalition in Deutschland und mit Akteuren aus anderen Mitgliedstaaten bilden kann. In Deutschland lässt sich dieses Szenario nur dann vermitteln, wenn keine weiteren institutionalisierten Transfers eingeführt werden, im Rahmen derer Mittel dauerhaft von Deutschland und einigen anderen Staaten weg umverteilt werden. Die Vorschläge in diesem Buch nehmen für sich in Anspruch, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Genauso wichtig ist es allerdings auch anzuerkennen, dass Deutschland sich nicht auf Dauer von den Entwicklungen in den anderen Eurostaaten und der Gemeinschaft insgesamt abkoppeln kann.

Szenario 3: Rückbau der Eurozone Die Problemlösungskompetenz der Eurozone wird von vielen als unzureichend betrachtet. Daher wird von linken wie rechten Akteuren auch ein Rückbauszenario ins Spiel gebracht (siehe die Kapitel von Armin Steinbach sowie von Björn Hacker und Cédric M. Koch). Die Probleme werden hier ähnlich wie in den beiden anderen Szenarien benannt. Zugleich wird dem Verlust makroökonomischer Steuerungsinstrumente auf nationaler Ebene durch die Einführung der Währungsunion größere Bedeutung zugemessen. Der Eurozone wird ganz grundsätzlich eine Problemlösungskompetenz abgesprochen. Wenn die Probleme – aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen – nicht durch notwendige Maßnahmen auf Ebene der Eurozone behoben werden können, ist die Konsequenz zu ziehen und ein Rückbau vorzunehmen. Wie dieser genau aussehen soll, wird unterschiedlich definiert. Durch einen Rückbau soll die wirtschaftliche und politische Handlungsfähigkeit wiedererlangt werden. Entgegengehalten wird diesem Szenario, dass das Versprechen, in die Idylle der nationalen Souveränität zurückkehren zu können, in der globalisierten Welt eine Illusion sei. Nationale Alleingänge und nationale Autonomie seien in einer zunehmend globalisierten Welt unmöglich. Währungsabwertungen – ein zentrales Argument für die Befürworter des Rückbaus von links und rechts – können allenfalls kurzfristig Entlastung schaffen (vgl. Kapitel 11). Wer in diese Sackgasse geht, gewinnt demnach langfristig keine Souveränität, sondern verliert sie aller Wahrscheinlichkeit nach. Wir glauben, dass diese Argumente zutreffen. Unser Anliegen ist es deswegen, mit diesem Sammelband europa-

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skeptischen Positionen eine Alternative entgegenzusetzen und Lösungen für eine internationalisierte und globalisierte Welt anzubieten. Die Szenarien 1 und 2 ergänzen sich: Eine stärkere fiskalische Integration kann auch nach Maßnahmen zur inkrementellen Verbesserung stattfinden. Dies wäre nicht mehr möglich, wenn die Befürworter von Szenario 3 die Oberhand gewinnen.

F a zit Am Ende bleibt die Frage: Warum wollen wir die Eurozone als integralen Bestandteil der EU weiterentwickeln? Die europäische Integration ist kein Selbstzweck. Die funktionale Notwendigkeit für weitere Integrationsschritte mag in einigen Punkten auf der Hand liegen. Man kann damit zum Beispiel erklären, warum die Währungsunion nur mit einer Bankenunion oder einem Europäischen Stabilitätsmechanismus funktionieren kann. Man kann damit aber nicht erklären, warum die europäische Integration grundsätzlich notwendig ist. Auch normative Ziele, wie postnationale Utopien (im positiven Wortsinn gemeint), geben keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage. Schon gar nicht in einer Zeit, in der der Nationalstaat für viele der mit großem Abstand wichtigste politische Bezugsrahmen bleibt und sogar an Bedeutung gewinnt. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum der europäischen Integration kann nur eine politische sein. Aufgrund der beiden Weltkriege und des darauf folgenden Kalten Krieges standen friedenspolitische Motive immer wieder im Mittelpunkt. Aber diese Überzeugungen verblassen von Generation zu Generation. Und sie bleiben schwach, auch wenn die aktuellen Entwicklungen zum Beispiel in der Ukraine und Russland zeigen, dass sie alles andere als »historisch« sind. Die mit Abstand größten und bedeutendsten Veränderungsprozesse unserer Zeit sind jedoch wirtschaftlicher Natur. In der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise traten diese Kräfte zutage. Die Krise, ausgelöst von den globalen Finanzmärkten, wirkte über alle Grenzen hinweg, in alle Lebensbereiche hinein. Zu keinem anderen Zeitpunkt in der jüngsten Vergangenheit war die willenlose, unbändige Macht fehlgeleiteter Märkte spürbarer als in diesen Jahren. Zahlreiche rechtliche, politische und soziale Korrekturmechanismen, die über viele Jahrzehnte mühsam aufgebaut wurden, haben versagt oder waren im Vorfeld abgeschafft worden. Noch heute ächzen die Sozialstaaten in vielen Krisenländern unter den Folgen. Die große Aufgabe der Politik, aber auch der wirtschaftlichen und sozialen Akteure ist es, nationale Wirtschaftsmodelle unter dem, aber eben auch gegen den internationalen Druck der Kapitalmärkte weiterzuentwickeln.2 Eine Antwort auf die Frage »Warum Europa?« kann nur in Bezug auf diese größte Herausforderung unserer Zeit, die gerne so schnell

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mit »Globalisierung« umschrieben wird, gegeben werden. Die Rolle der EU und insbesondere der Eurozone ist in diesem Prozess bisher alles andere als eindeutig. Sie ist in ihrer gegenwärtigen Form sowohl Agent als auch Moderator der kapitalistischen Entwicklung nach dem Modell der liberalen Marktwirtschaft. Sie unterläuft und befördert zugleich Institutionen der sozialen Marktwirtschaft. Sie hat vor allem durch die Krisenpolitik in den südeuropäischen Ländern soziale Produktionssysteme massiv eingeschränkt und sie hat über Jahre hinweg (zum Beispiel über das Binnenmarktrecht) nationale Systeme nachhaltig verändert, auch, aber nicht nur zum Besseren. Der neue politische Rahmen der Eurozone hat es aber auch erlaubt, dass nationale Wirtschaftsmodelle nicht nur ihre Besonderheiten bewahren, sondern auch weiterentwickeln konnten, und für einen positiven Wachstumsimpuls gesorgt. Dass spezifische Wirtschaftsmodelle fortbestehen können, zeigt nicht zuletzt der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland. Es gehört zur Ironie des Kapitalismus, dass durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise das lange totgesagte »Deutsche Modell« sich mit fast erschreckender Stärke aus der Krise zurückgemeldet hat.3 Ironisch ist es deshalb, weil bei globalen Finanzmärkten, die einen ungeheuren Konvergenzdruck auf alle wirtschaftlichen Akteure entfalten, diese Form der Marktwirtschaft zu beweisen scheint, dass Kapitalismus nicht gleich Kapitalismus ist. Die tief greifenden Veränderungen des kapitalistischen Systems seit den 1970er-Jahren4 konnten dieses Modell in einigen wesentlichen Grundzügen nicht erodieren, auch wenn sich die »Deutschland AG« inzwischen aufgelöst hat. Im Gegenteil, dieses System konnte sich nicht nur gegen, sondern auch mit dieser kapitalistischen Dynamik erfolgreich weiterentwickeln. Das alles ist von großer politischer Bedeutung. Denn viele der Institutionen, die dieses Modell ausmachen, eröffnen neue Räume für eine progressive Wirtschaftspolitik. Eine Wirtschaftspolitik, die weit über die nachfrage-/angebotstheoretische Dichotomie hinaus, gegen exzessiv liberalisierte Arbeitsmärkte und hohe Lohnspreizung nach angelsächsischem Vorbild (auch in Zeiten der Digitalisierung) und für demokratische Mitbestimmung, gewerkschaftliche Organisation, berufliche Ausbildungssysteme etc. nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Gründe findet. Die »koordinierte Marktwirtschaft« – wie sie bei den Vertretern des Varieties of Capitalism5 heißt – wird meist von nationalen Institutionen wie zum Beispiel dem Finanzierungssystem, der Sozialpartnerschaft, den Kooperationsnetzwerken zwischen Unternehmen und dem Ausbildungssystem geprägt. Der globale Erfolg dieses sozialen Produktionssystems beruht auf den komparativen Vorteilen dieser nationalen Institutionen, aber eben auch auf der fortlaufenden politischen Einbettung, die die europäische Integration und die Eurozone im Besonderen erst ermöglichen. Die Eurozone und die EU sind längst Teil dieses Modells geworden, und zwar nicht nur als äußerer (exogener) Druckfaktor oder als ein großer Absatzmarkt. Die europäische Dimension ist

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ein originärer Bestandteil des Finanzierungssystems, der Unternehmenskooperation, der Wertschöpfung etc. In zentralen Bereichen ist die Einbettung des europäischen Marktes und der Währungsunion längst fortgeschritten, auch wenn zum Beispiel europäische Formen der Mitbestimmung in Unternehmen oder die Sozialpartnerschaft auf europäischer Ebene vergleichsweise unbedeutend sind. Diese Europäisierung wirtschaftlicher und sozialer Institutionen ist nur schwer rückgängig zu machen. Sie ist genauso sehr eine Chance wie sie auch eine Gefahr dafür darstellt, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch in Zukunft auf einem sozial gerechten und produktiven Weg fortgeführt werden kann. Dass aus den unterschiedlichen Produktionsmodellen in der Eurozone jedoch auch unterschiedliche nationale Interessen resultieren können, die in einer direkten Konfrontation stehen, ist nirgendwo besser zu beobachten als in der Eurozone: mit den koordinierten und exportorientierten Modellen des Nordens und den nachfrageorientierten Wirtschaften des Südens.6 Die Währungsunion erhöht die gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihren Mitgliedern, sie reduziert aber nicht die teilweise systemisch bedingten Interessengegensätze. Nicht jede historisch gewachsene Institution ist jedoch wirtschaftlich effizient und nicht jeder Interessengegensatz ist unüberbrückbar. Die Europäer können von der Vielfalt ihrer Wirtschaften (die im Vergleich zum Rest der Welt übrigens gar nicht so unterschiedlich sind) nur dann wirklich profitieren, wenn Unterschiede wahrgenommen werden, wenn die Vorteile anderer Modelle adaptiert und in das eigene System integriert werden – das gilt für alle Länder gleichermaßen. Das bedeutet einerseits, dass die nationale Vielfalt in den Produktionssystemen der Mitgliedstaaten der EU und insbesondere der Eurozone in Zukunft besser geschützt und gefördert werden muss. Dazu gehören soziale Mindeststandards und eine Fiskalunion, die der Eurozone und den Mitgliedstaaten einen größeren wirtschaftlichen Spielraum für die Schaffung von Wachstum und Beschäftigung verschafft. Dies erfordert andererseits einen europäisch koordinierten Reformprozess in den Mitgliedstaaten, der notwendige Strukturreformen – insbesondere in der öffentlichen Verwaltung, bei der Effektivierung des Steuersystems und der Steuerverwaltung, der Reform der Produktmärkte und der Verbesserung der Bedingungen für private Investitionen – beinhaltet. Dies ist eine politische Aufgabe, deren konkrete Inhalte national festgelegt werden, deren Rahmen aber nur auf Ebene der Gemeinschaft gefunden werden kann. Nur dann ist ein »soziales Europa« langfristig möglich und nur dann hat die Eurozone eine Zukunft.

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A nmerkungen 1 | Siehe Zettelmeyer, Jeromin (2016): A Sovereign Debt Restructuring Mechanism for the Euro Area?, in: Rehn, Olli/Zettelmeyer, Jeromin (Hg.): Global Fiscal Systems: From Crisis to Sustainability, World Economic Forum, Mai, S. 24-29. 2 | Abelshauser, Werner (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck. 3 | Unger, Brigitte (2015): The German Model: Seen by its neighbours. London: SE Publishing. 4 | Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012. Berlin: Suhrkamp. 5 | Hall, Peter A./Soskice, David (2001) (Hg.): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press. 6 | Iversen, Torben/Soskice, David et al. (2016): The Eurozone and Political Economic Institutions, in: Annual Review of Political Science 19, S. 163-185.

Autorinnen und Autoren

Christian Beck, geboren 1981, ist seit 2014 Büroleiter des Europaabgeordneten Sven Giegold. Der Diplom-Politikwissenschaftler studierte in Berlin und Delhi. Er war Bundesvorstand der Jungen Europäischen Föderalisten und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Europa von Bündnis 90/Die Grünen Berlin. Zuvor arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Dr. Peter Becker, geboren 1963, forscht seit 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU/Europe der Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit in Berlin. Zuvor war er stellvertretender Leiter des Europareferats in der Thüringischen Staatskanzlei in Erfurt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Politik. Er studierte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politikwissenschaft und Neuere Geschichte und wurde an der Universität Trier promoviert. Dr. Michael Dauderstädt, geboren 1947, ist Geschäftsführer des J.H.W. DietzVerlages und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, für die er seit 1980 in verschiedenen Funktionen tätig war. Er studierte Mathematik, Ökonomie und Entwicklungspolitik in Aachen, Paris und Berlin. Prof. Dr. Henrik Enderlein, geboren 1974, ist Direktor des Jacques Delors Instituts – Berlin sowie Vizerektor und Professor für politische Ökonomie an der Hertie School of Governance. Er studierte in Paris und New York, promovierte am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und arbeitete als Ökonom bei der Europäischen Zentralbank. Er war Gastprofessor an der Harvard University sowie der Duke University. Er ist Mitglied des unabhängigen Beirats beim Stabilitätsrat.

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Die Zukunf t der Eurozone

Prof. Dr. Björn Hacker, geboren 1980, ist seit 2014 Professor für Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Er promovierte zum Europäischen Sozialmodell und arbeitete fünf Jahre für die FriedrichEbert-Stiftung. Cédric M. Koch, geboren 1991, arbeitet seit 2015 am Fachbereich Wirtschaftsund Rechtswissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Er studierte Internationale Politische Ökonomie und arbeitet als Berater für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Prof. Dr. Franz C. Mayer, geboren 1968, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht, Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld. 2008/2009 war er Bevollmächtigter des Deutschen Bundestages im Lissabon-Verfahren und 2010/2011 in den Verfahren um die Griechenland-Hilfe und den »Euro-Rettungsschirm« vor dem BVerfG. Zudem ist er Mitglied der »Glienicker Gruppe« und dient als Sachverständiger in parlamentarischen Anhörungen zur Eurokrise. Dr. Alexander Schellinger, geboren 1985, ist seit September 2016 Persönlicher Referent des Vorsitzenden des Vorstands der Techniker Krankenkasse in Hamburg. Zuvor arbeitete er als Referent für europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin und im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Er hat Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University in New York und der London School of Economics studiert und wurde an der Universität Bremen promoviert. Mark Schieritz, geboren 1974, ist wirtschaftspolitischer Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Er studierte an der Universität Freiburg und der London School of Economics und wurde für seine Berichterstattung über die Eurokrise mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Dr. Daniela Schwarzer, geboren 1973, ist Direktorin des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Zuvor war sie als Forschungsdirektorin im Vorstand des German Marshall Funds. Sie ist Senior Research Professor an der SAIS, Johns Hopkins University und war zuvor bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und der Financial Times Deutschland beschäftigt. Dr. Dr. Armin Steinbach, geboren 1978, Jurist und Ökonom, ist Associate Member am Nuffield College (Oxford University), Senior Research Fellow am MaxPlanck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn und Jean Monnet Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Zuvor war er Legal Officer bei der

Autorinnen und Autoren

Welthandelsorganisation (WTO) in Genf, Rechtsanwalt für die Kanzlei Cleary Gottlieb Steen & Hamilton in Brüssel und Referent im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Dr. Philipp Steinberg, geboren 1974, ist seit September 2016 Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Zuvor war er Leiter des Ministerbüros sowie der Unterabteilung Politische Planung. Nach seiner Promotion in europäischem Wirtschaftsrecht arbeitete er als Anwalt in einer Großkanzlei und begann seine Tätigkeit im öffentlichen Dienst im Bundesministerium der Finanzen in der Europaabteilung. Er studierte Rechts- und Steuerwissenschaften sowie politische Ökonomie in Berlin, Münster und Paris. Dr. Jeromin Zettelmeyer, geboren 1964, ist Senior Fellow am Peterson Institute for International Economics und war zuvor Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Nach seiner Promotion am Massachusetts Institute of Technology im Jahre 1990 arbeitete er beim Internationalen Währungsfonds, hauptsächlich in der Forschungsabteilung. Von 2008 bis Anfang 2014 war er Forschungsleiter und stellvertretender Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederauf bau und Entwicklung.

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Zeitdiagnosen bei transcript Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft

September 2016, 256 S., kart., ca. 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: ca. 17,99 € Nach Jahrzehnten scheinbarer Stabilität stolpert Europa in jüngster Zeit von Krise zu Krise. Hier zeigen sich die Folgen einer einseitigen Geschichtsaufarbeitung, die nach dem Mauerfall postfaschistische und postsozialistische Narrative zu einer westlich-kapitalistischen Erfolgsgeschichte verband, während die koloniale Vergangenheit unbeachtet blieb. Fatima El-Tayeb zeigt die Auswirkungen dieses Prozesses anhand des Beispiels deutscher Identität: Immer wieder werden rassifizierte Gruppen – insbesondere Schwarze, Roma und Muslime – als »undeutsch« produziert, als Gruppen, die nicht nur nicht zur nationalen Gemeinschaft gehören, sondern diese durch ihre Anwesenheit gefährden. Ein postmigrantisches Deutschland braucht daher nicht nur neue Zukunftsvisionen, sondern auch neue Vergangenheitsnarrative.

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Edition Politik bei transcript Wolfgang Fach

Regieren: Die Geschichte einer Zumutung

September 2016, 168 S., kart., ca. 22,99 €, ISBN 978-3-8376-3606-2 E-Book: ca. 20,99 € »Szenen einer missvergnügten Ehe« – dieses bürgerliche Trauerspiel wird derzeit auf den politischen Bühnen westlicher Demokratien gegeben. Es führt vor, wie weit sich Regierende und Regierte auseinander gelebt haben. Von heute auf morgen passiert so etwas nicht. Der Band lässt die wechselvolle Geschichte des Regierens Revue passieren und zeigt, wie angespannt das Verhältnis seit jeher gewesen ist. Dass Kanzler Könige und Bürger Bauern abgelöst haben, hat daran nichts geändert. Andererseits hält diese Mesalliance erstaunlich viel aus – selbst nach blutigen Konflikten arrangiert man sich wieder und findet ein neues Gleichgewicht der Frustration. Die Hoffnung, es gehe trotz allem stetig aufwärts, muss derzeit wieder einmal begraben werden.

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