Die Zeitlichkeit des Seins: Positionsbestimmungen der Dialogphilosophie 9783495491775, 9783495823835

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Die Zeitlichkeit des Seins: Positionsbestimmungen der Dialogphilosophie
 9783495491775, 9783495823835

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung:[srtn]Der Kern der Dialogphilosophie – Das angebliche Henne-Ei-Problem der Sprache
1.1. Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen
1.3. Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil
2. Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens
2.1. Hinführung zur Grammatik: Die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys
2.2. Hinführung zum Dialogischen Denken: Franz Rosenzweigs Problematisierung des abendländischen Denkens
2.3. Wie Sein sich in der Sprache niederschlägt – Die Wortarten und ihr Charakter
2.3.1. Das Adjektiv – Bezeichnung der reinen Eigenschaft
2.3.2. Die Kasus des Substantivs – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt
2.3.3. Das Verb und das Geschehen
2.4. Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus
2.4.1. Exkurs: Ferdinand Ebners Suche nach Wahrheit in der Beziehung zu Gott
2.5. Die Modi des Verbs – Gesprochene Sprache und die konkrete Zeitlichkeit des Seins
2.5.1. Indikativ: Die Wissenschaft als abgeschlossene Erzählung
2.5.2. Imperativ: Die Offenbarung des Seins in der Wechselrede
2.5.3.1. Die Numeri der Gemeinschaft (unter besonderer Berücksichtigung Wilhelm von Humboldts)
a) Das Verbreitungsgebiet des Dualis und seine grammatischen Funktionen
b) Die durch den Dualis markierte Beziehungsqualität und ihre Bedeutung für Gemeinschaften
3. Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik
3.1. Ich-Du offenbart und Ich-Es weiß: Die zwei Haltungen zur Welt
3.2. Was im Zwischen geschieht: Verantwortung als Bewährung
4. Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie bei Wilhelm von Humboldt
4.1. Was ist Sprache? – Vier Antworten
4.2. Der tägliche Ursprung der Sprache
4.3. Charakteristika der Sprache
4.4. Die Weltansichten der Einzelsprachen und das Interdependenz-Verhältnis zwischen Denken und Sprechen
4.5. Die dialogische Wende der Sprachphilosophie
a) Sprache ist eine Tätigkeit (energeia): Sie wird gesprochen und gehört!
b) Die Sprache vermittelt zwischen Subjekt und Objekt.
c) Der Typus der Sprache ist auf einen Schlag da.
d) Der Organismus der Sprache orientiert uns beim konkreten, situativen Sprechen am (noch unausgesprochenen) Ganzen.
5. Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie
5.1. Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit
5.1.1. Die Abstrahierung von der Zeit durch Platon und Aristoteles
5.1.2. Die Überführung des abstrakten Zeitbegriffs in den christlich-jüdischen Kontext
5.1.3. Die transzendentale Wendung der Zeitfrage bei Kant und die Geschichtszeit der Idealisten
5.1.4. Resümee: Zeit, ein Rätsel nach wie vor!
5.2. Die vier Kalendertypen der Menschheit – Rosenstock-Huessys historische ›Deutungsanstrengung‹
5.2.1. Der Stammeskalender oder Wenn (nur) die Vergangenheit Orientierung bieten soll
5.2.2. Der Reichskalender oder Wenn (nur) die ewige Wiederkehr Orientierung bieten soll
5.2.3. Der Kalender des Volkes oder Wenn (nur) Künftiges Orientierung bieten soll
5.2.4. Das Griechentum: Muße zur Freizeit
5.2.4. Kalender-Chaos im Jahre 0
5.3. Wie die Räume wieder für die Zeiten aufgebrochen werden: Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit
5.4. Orientierungsmaßstäbe für Räume und Zeiten
5.4.1. Der Grad des Ernstes als Orientierungsmaßstab im Raum:[srtn]›Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr‹
5.4.1.1. Das Reflexivum und der Stellenwert des Denkens
5.4.1.2. Das Activum und der Ursprung der Sprache
5.4.2. Orientierungsmaßstab in der Zeit: ›Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere?‹
5.4.2.1 Das Traject und der Sinn des Geschichtsunterrichts
5.4.2.2 Das Präject und das Rätsel der »Hohen Zeit«
5.5. Exkurs: Warum die Zeitinterpretation unsere Weltanschauung bestimmt: Der quantentheoretische Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit innerhalb der Physik
5.5.1. Das Problem der Quantentheorie: eine geschichtliche Skizze
5.5.2. Der letzte Physiker: Der Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit in der Quantenschleifen-Gravitation
5.6. Kaironomie und die Zeitlichkeit des Seins
5.6.1. Hinführendes zur Zeitigung der »Welt«
5.6.1.1. Zeitlichkeit und Zeitigung
5.6.1.2. Die Grenze zwischen BEWUSSTsein und BewusstSEIN
5.6.2. Die Zeitigung der »Welt«
5.6.2.1. Der Zeitigungsimperativ der »Welt« aus der Vergangenheit: »Vernimm!« (und »Spiel!«)
5.6.2.2. Zeitigungsimperativ der »Welt« um der Zukunft willen: »Zweifle!« (und »Leide!«)
5.6.2.3. Zeitigungsimperativ der »Welt« in der Gegenwart: »Stifte!« (und »Hinterlasse!«)
5.6.3. Wie der Tod uns zu Herren der Zeit macht:[srtn]die Möglichkeit einer Kaironomie
6. Hermann Levin Goldschmidt: Die Haltung der Dialogik
7. Ergebnisse
7.1. Was ist das »Dia-logische« an der »Dialogphilosophie«?
7.2. Die Anspruchstheorie der Wahrheit
7.3. Echte Kommunikation: Was ist das eigentlich?
7.4. Der tägliche Ursprung der Sprache
7.5. Die Relation von Wissen und Wirklichkeit
7.6. Selbstführung: Die Kunst der Kaironomie zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen
8. Exkurs: Das Ich als Faktum
8.1. Ein Panorama an Ich-Begriffen
8.2. Der dialogphilosophische Problemhorizont bei der Frage nach dem Ich
8.3. Der angesprochene Mensch
8.4. Ich als Seinsweise »Ich bin«
8.5. ›Ich‹-Sagen als Schibboleth der Menschheit
8.6. Ich als Faktum und Postfaktisches aus dem Ich
9. Ausblick: Was heißt Zukunft?
10. Literaturverzeichnis
10.1. Primärtexte zur Dialogphilosophie
10.2. Weitere benutzte Literatur
Personen- und Sachregister

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Helmut Dietz

Die Zeitlichkeit des Seins Positionsbestimmungen der Dialogphilosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823835

.

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Band 13

Herausgegeben von Karl-Heinz Brodbeck Stephan Grätzel Bernd Schuppener

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Helmut Dietz

Die Zeitlichkeit des Seins Positionsbestimmungen der Dialogphilosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

According to the philosophy of dialogue, neither »being« nor »time« can be comprehensively understood. This consensus forces us to realize that the elements of the world can not be deduced from »time« or »being«: Cognitively, the phenomena are not tangible. According to the philosophers of dialogue, they can be discussed exhaustively only in the light of their temporality. The study at hand analyzes this dimension of the temporality of being and is divided into two parts: The first part is devoted to the study of temporality in language and especially its manifestations in grammar. Based on the findings made here, the second part analyzes the temporality in social contexts.

The Author: Helmut Dietz studied philosophy, religious studies and history at the University of Rostock, the Free University of Berlin and the FernUniversität in Hagen.

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Der dialogphilosophische Konsens darüber, dass weder das Sein noch die Zeit umfassend begreifbar sei, zwingt zu der Einsicht, dass auch die Welt und ihre Elemente weder aus dem Sein, noch aus der Zeit ›ableitbar‹ sind: Die Phänomene sind kognitiv nicht greifbar. Erschöpfend thematisieren lassen sie sich nur im Lichte ihrer Zeitlichkeit, so die Dialogphilosophen. Die vorliegende Studie zur Dialogphilosophie geht dieser Dimension der Zeitlichkeit des Seins nach. Sie gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil widmet sich der Untersuchung der Zeitlichkeit in der Sprache, insbesondere ihrem Niederschlag in der Grammatik. Darauf aufbauend untersucht der zweite Teil die Zeitlichkeit im Sozialen.

Der Autor: Helmut Dietz studierte Philosophie, Religionswissenschaften und Geschichte an der Universität Rostock, der Freien Universität Berlin und der FernUniversität in Hagen.

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49177-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82383-5

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Dialogphilosophen, Bleistift auf Papier, 2019 © Brigitte Dietz

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie – Das angebliche Henne-Ei-Problem der Sprache . . . . . . 1.1 Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil . . . . 2 Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens 2.1 Hinführung zur Grammatik: Die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Hinführung zum Dialogischen Denken: Franz Rosenzweigs Problematisierung des abendländischen Denkens . 2.3 Wie Sein sich in der Sprache niederschlägt – Die Wortarten und ihr Charakter . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Adjektiv – Bezeichnung der reinen Eigenschaft 2.3.2 Die Kasus des Substantivs – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das Verb und das Geschehen . . . . . . . . . . . 2.4 Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Exkurs: Ferdinand Ebners Suche nach Wahrheit in der Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Modi des Verbs – Gesprochene Sprache und die konkrete Zeitlichkeit des Seins . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Indikativ: Die Wissenschaft als abgeschlossene Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Imperativ: Die Offenbarung des Seins in der Wechselrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2.1 Die Numeri der Gemeinschaft (unter besonderer Berücksichtigung Wilhelm von Humboldts) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ich-Du offenbart und Ich-Es weiß: Die zwei Haltungen zur Welt . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Was im Zwischen geschieht: Verantwortung als Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie bei Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Sprache? – Vier Antworten . . . . . . . . . . Der tägliche Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . Charakteristika der Sprache . . . . . . . . . . . . . . Die Weltansichten der Einzelsprachen und das Interdependenz-Verhältnis zwischen Denken und Sprechen Die dialogische Wende der Sprachphilosophie . . . . .

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie . . . . . . . . . . . 5.1 Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit . . . 5.1.1 Die Abstrahierung von der Zeit durch Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Überführung des abstrakten Zeitbegriffs in den christlich-jüdischen Kontext . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die transzendentale Wendung der Zeitfrage bei Kant und die Geschichtszeit der Idealisten . . . . . 5.1.4 Resümee: Zeit, ein Rätsel nach wie vor! . . . . . . 5.2 Die vier Kalendertypen der Menschheit – RosenstockHuessys historische ›Deutungsanstrengung‹ . . . . . . . 5.2.1. Der Stammeskalender oder Wenn (nur) die Vergangenheit Orientierung bieten soll . . . . . . 5.2.2 Der Reichskalender oder Wenn (nur) die ewige Wiederkehr Orientierung bieten soll . . . . . . . 5.2.3 Der Kalender des Volkes oder Wenn (nur) Künftiges Orientierung bieten soll . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Das Griechentum: Muße zur Freizeit . . . . . . . 5.2.5 Kalender-Chaos im Jahre 0 . . . . . . . . . . . . 5.3 Wie die Räume wieder für die Zeiten aufgebrochen werden: Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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149 149 149 157 161 167 170 176 178 182 184 191

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Inhaltsverzeichnis

5.4 Orientierungsmaßstäbe für Räume und Zeiten . . . . . 5.4.1 Der Grad des Ernstes als Orientierungsmaßstab im Raum: ›Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.1 Das Reflexivum und der Stellenwert des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1.2 Das Activum und der Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Orientierungsmaßstab in der Zeit: ›Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere?‹ . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 Das Traject und der Sinn des Geschichtsunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 5.4.2.2 Das Präject und das Rätsel der »Hohen Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Exkurs: Warum die Zeitinterpretation unsere Weltanschauung bestimmt: Der quantentheoretische Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit innerhalb der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1 Das Problem der Quantentheorie: Eine geschichtliche Skizze . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Der letzte Physiker: Der Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit in der Quantenschleifen-Gravitation . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Kaironomie und die Zeitlichkeit des Seins . . . . . . . . 5.6.1 Hinführendes zur Zeitigung der »Welt« . . . . . . 5.6.1.1 Zeitlichkeit und Zeitigung . . . . . . . . 5.6.1.2 Die Grenze zwischen BEWUSSTsein und BewusstSEIN . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2 Die Zeitigung der »Welt« . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.1 Der Zeitigungsimperativ der »Welt« aus der Vergangenheit: »Vernimm!« (und »Spiel!«) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2.2 Zeitigungsimperativ der »Welt« um der Zukunft willen: »Zweifle!« (und »Leide!«) . 5.6.2.3 Zeitigungsimperativ der »Welt« in der Gegenwart: »Stifte!« (und »Hinterlasse!«) . 5.6.3 Wie der Tod uns zu Herren der Zeit macht: die Möglichkeit einer Kaironomie . . . . . . . . .

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208 208 218

227 227 235

245 246

259 272 273 273 276 280

285 290 294 298

11 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Inhaltsverzeichnis

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Hermann Levin Goldschmidt: Die Haltung der Dialogik . .

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Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist das »Dia-logische« an der »Dialogphilosophie«? Die Anspruchstheorie der Wahrheit . . . . . . . . . . Echte Kommunikation: Was ist das eigentlich? . . . . . Der tägliche Ursprung der Sprache . . . . . . . . . . . Die Relation von Wissen und Wirklichkeit . . . . . . . Selbstführung: Die Kunst der Kaironomie zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen . . . . .

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8 Exkurs: Das Ich als Faktum . . . . . . . . . . . . 8.1 Ein Panorama an Ich-Begriffen . . . . . . . . . 8.2 Der dialogphilosophische Problemhorizont bei der Frage nach dem Ich . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der angesprochene Mensch . . . . . . . . . . . 8.4 Ich als Seinsweise »Ich bin« . . . . . . . . . . . 8.5 ›Ich‹-Sagen als Schibboleth der Menschheit . . . 8.6 Ich als Faktum und Postfaktisches aus dem Ich . .

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. 332

. . . . 344 . . . . 344 . . . . .

349 352 355 358 360

Ausblick: Was heißt Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Primärtexte zur Dialogphilosophie . . . . . . . . . . . . 10.2 Weitere benutzte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie – Das angebliche Henne-Ei-Problem der Sprache

Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein. Zwar mag diese Haltung für meinen akuten Gemütszustand eine tolle Sache sein, sie wird aber dann zum Problem, wenn meine Meinung mich zum Tyrannen ihrer Sache macht. Mich in die Ketten der Identifikation mit ihr legend – sie ist ja meine Meinung! – überhöht sie sich zur Weltanschauung und drängt mich, meinen Mitmenschen ihre Filterbrille auf die Nase zu setzen: auf dass Alles in ihrem Lichte, im Lichte meiner Meinung erscheine! Um einer Umwertung ihrer Werte vorzubeugen – denn das würde ihren sicheren Untergang bedeuten –, nimmt sie ihr Medium in den Dienst: Das Medium einer Weltanschauung sind ihre Weltanschauler. Weltanschauungen, Ismen, richten uns aus: sie diktieren unsere Prioritäten, Werte und Interessen. Sie ›orientieren‹ uns, indem sie uns für sich vereinnahmen. Voreingenommen werfen wir uns dann in den Kampf für sie, um den Markt der Weltanschauungen zu dominieren. Wie aber – so fragt die Dialogphilosophie angesichts der weltanschaulichen Totalitätsanmaßungen – ist unvoreingenommene Orientierung möglich? Den Dialogphilosophen fällt folgendes Muster auf: Alle Weltanschauungen leiten mehr oder weniger schlüssig »Seiendes« her, häufen es als Wissen an und beginnen sofort mit ihrem eigentlichen Geschäft: es nach außen zu vertreten. Diese mannigfaltigen, sich gegenseitig widersprechenden Weltanschauungen versuchen nun, mit missionarischem Eifer und ›wissenschaftlichem‹ Anspruch Menschen für sich einzunehmen. Im Namen der Wahrheit decken sie so ziemlich das gesamte denkbare Meinungsspektrum ab. Sei es tatsächliches »Wissen«, sei es »Wissen« um die Unmöglichkeit von »Wissen« überhaupt oder sei es auch nur »der Weg« zu einem Wissen, alle Ismen haben in ihrer Unterschiedlichkeit eines gemeinsam: Sie vergessen in

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

ihrem Eigendünkel, dass Sein mit Zeit irgendwie zusammenhängt. Weltanschauungen sind akut zeitvergesslich! Doch woher kommt diese Vergesslichkeit? Dem Anspruch auf logische Schlüssigkeit werden die meisten Ismen ja für gewöhnlich gerecht. Logische Schlüssigkeit kann also nicht hinreichend für die Berücksichtigung des Zusammenhangs von Sein und Zeit sein. Wir müssen deshalb grundsätzlich fragen: Was hat Wissen eigentlich mit Wahrheit zu tun? Ismen und Weltanschauungen vertreten ihr Wissen ja, als ob es wahr sei, als seien sie im Besitz der Wahrheit. Doch sind sie das wirklich? Warum ist Wissen dann so widersprüchlich? Kann man Wahrheit überhaupt ›besitzen‹ ? Anscheinend will jeder Philosoph, Wissenschaftler, Guru, Künstler, Politiker oder offizielle Vertreter einer Weltanschauung uns seine Wahrheit verkaufen. Ein seriöser Denker zeichnet sich heutzutage geradezu dadurch aus, dass er das Wörtchen »Wahrheit« gar nicht erst in den Mund nimmt: »Einem Wissenschaftler mit der Frage nach Wahrheit zu kommen ist fast so peinlich geworden, wie einen Priester nach Gott zu fragen«, 1 diagnostiziert Beck unserer Gegenwart. Das Schweigen der gegenwärtigen Philosophen-Zunft angesichts der Trumps, Johnsons und Gaulands dieser Welt 2 ist geradezu symptomatisch für eine kriselnde Wahrheitsproblematisierung innerhalb der Berufsphilosophie. Die Wahrheit zum Problem zu haben scheint momentan jedenfalls nicht en vogue zu sein. Die drei Pioniere der Dialogphilosophie – Eugen RosenstockHuessy (1888–1973), Franz Rosenzweig (1886–1929) und Ferdinand Ebner (1882–1931) – widmen sich aber genau dieser Frage. Spätestens als sich Rosenstock-Huessy 1912 gezwungen sah, einen bestimmten Satz aus seiner Habilitation zu streichen, wurde die Virulenz des Wahrheitsproblems greifbar. Der Satz, der das Ausgangsproblem der Dialogphilosophie zum Ausdruck bringt, lautet: »Die Sprache ist weiser als der, der sie spricht.« 3

1 2 3

Beck: Risikogesellschaft, 271. Vgl. Behrens: Denker in der Krise. Vos: Rosenstock-Biographie, 12.

14 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Diese Feststellung – Rosenstock-Huessy veröffentlichte sie trotzdem, er strich sie nur in den 20 Belegexemplaren, die er der Leipziger Juristischen Fakultät vorlegte – markiert bereits die Radikalität des neuen Ansatzes, der das dialogische Denken charakterisiert. Worin liegt die Radikalität? Was verändert sich mit dieser Feststellung? Rosenstock-Huessy entlarvt mit seinem Satz alle diejenigen, die folgende Frage als Henne-Ei-Problem behandeln und eben deshalb gar nicht erst stellen: Was war zuerst da: Die Sprache oder der Sprecher? Rosenstock-Huessys Feststellung, dass es sich hierbei durchaus nicht um ein Henne-Ei-Problem handelt – wovon die Wissenschaft aber unter der Hand ausgeht –, sondern dass die Henne (die Sprache) zeitlich und ontologisch vor dem Ei (dem Sprecher) ist, veranlasste die Streichung des Satzes aus seiner wissenschaftlichen Arbeit. Der Sprecher ist nämlich, so die unerbittliche Feststellung RosenstockHuessys, Hörer bevor er Sprecher ist, und an dritter Stelle erst Denker! Rosenstock-Huessys Satz kehrt das Verhältnis von Denken, Sprechen und Hören um. Wissenschaftlich benutzen wir die Sprache als Hilfsmittel. In der Wissenschaft wird erst gedacht, dann werden die Gedanken mitgeteilt, sodass man drittens den Hörern die Weisheit angedeihen lassen kann. Die Reihenfolge, von der der Otto-Normal-Wissenschaftler also offenbar ausgeht, ist folgender Dreischritt: • Erstens Denken, Zweitens Sprechen, Drittens Hören. Wären wir aber ehrlich zu uns, müssten wir zugeben, dass alles, worüber wir denken können, uns vorher immer irgendwie schon ›gekommen‹ sein muss: Denken ist tatsächlich immer ein Nach-Denken. Nun geschieht aber Sprache erst wirklich dort, wo sie gehört wird. Wie bereits Wilhelm von Humboldt hervorhebt, darf man das Sprechen vom Hören nicht abgetrennt denken, will man etwas über die Sprache sagen. Sprache wird nämlich gesprochen und gehört! Die tatsächliche Reihenfolge ist also folgender Zweischritt: • Erstens Sprache (Hören, Sprechen), Zweitens Denken. Diese Reihenfolge gilt selbstverständlich auch für die Wissenschaft. Stellt sie zum Beispiel eine Theorie auf, dann formuliert sie diese (sprechen), überprüft sie in einem Experiment (hören) und denkt anschließend darüber nach, warum es nicht geklappt hat (oder im Erfolgsfall: warum es funktioniert hat). Der theoretische Wissenschaftler hält sich also an folgende Reihenfolge:

15 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Theorie: Erstens Sprache (hier: erst Sprechen, dann Hören), Zweitens Denken. Geht der Wissenschaftler aber zum Beispiel in die Wildnis, um das Verhalten von Wildtieren zu studieren, steht er vor der Herausforderung, das tierische Verhalten möglichst zuerst authentisch zu beobachten (Hören) und anschließend angemessen zu beschreiben (Sprechen). Daraufhin muss er Vergleiche ziehen und sich Gedanken zum Beispiel darüber machen, wie diese Verhaltensweisen mit der »Stammesgeschichte« zusammenhängen könnten. Der Verhaltensbiologe hält sich also an folgende Reihenfolge: • Erfahrung: Erstens Sprache (hier: erst Hören, dann Sprechen), Zweitens Denken. 4 •

Der Satz: Die Sprache ist weiser als der, der sie spricht bringt also die Tatsache auf den Punkt, dass wir als Sprecher nicht Herrscher über die Sprache sind, sondern umgekehrt die Sprache uns das Sprechen erst ermöglicht. Wie der Verhaltensbiologe das tierische Verhalten anerkennen muss, bevor er es erkennen kann, sind wir als Sprecher und Hörer dazu gezwungen, die demütigende Tatsache anzuerkennen, dass wir nicht Herren im Haus der Sprache sind: eine echte kopernikanische Wende in der Sprachforschung! Es ist nicht vermessen wenn ich behaupte, dass sich alle Dialogphilosophen an dem Satz: Die Sprache ist weiser als der, der sie spricht direkt oder indirekt abarbeiten. Er bildet den Kern der Dialogphilosophie und hat weitreichende Konsequenzen, die unter anderem unser herkömmliches Verständnis von Grammatik radikal revolutionieren und Auswirkungen auf Erkenntnistheorie, Ontologie, Psychologie und weit hinein in den sozialen Bereich zeitigen! Analyse und Darstellung dieses revolutionären Grammatikverständnisses bilden den Großteil der dialogphilosophischen Erörterungen und sind auch das zentrale Thema des folgenden Beitrags. Im folgenden Einleitungskapitel erläutere ich dieses ›revolutionäre‹ Grammatikverständnis der Dialogphilosophen. Hier nehme ich zusammenfassend Ergebnisse des gesamten Beitrags vorweg, damit der Leser des Hauptteils bereits eine Ahnung davon bekommt, mit welchem Grammatikverständnis er zu rechnen hat. Im Folgenden versuche ich also, mit Hilfe der Grammatik herauszustellen, was wir 4

Vgl. Vos: Rosenstock-Biographie, 16 f.

16 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

uns unter unvoreingenommener Orientierung vorzustellen haben, wie so etwas überhaupt möglich ist und welche Anwendungsbereiche die Grammatik uns in Psychologie, Ontologie, Erkenntnistheorie und Soziologie erschließt.

1.1. Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen Dieses einleitende Kapitel ist angelegt als konkreter grammatischer Leitfaden zu unvoreingenommener Orientierung. Üblicherweise halten wir uns bei Orientierungsfragen im Erkenntnisbereich an die Logik. Wenn beispielsweise gilt: a ist der Fall und wenn a, dann b, dann gehen wir selbstverständlich davon aus, dass auch b der Fall ist. Setzen wir zum Beispiel in diese »Modus Ponens« genannte logische Figur folgenden philosophischen Klassiker: »Über das Ich wird in allgemeiner Form gesprochen.« »Wenn über das Ich in allgemeiner Form gesprochen wird, dann ist das besprochene Ich nicht etwas einzigartiges, sondern etwas allgemeines.« »Das besprochene Ich ist nicht etwas einzigartiges, sondern etwas allgemeines.« 5

Logisch! Oder? So einfach ist es aber nicht, denn die Logik hat eine Grammatik. In unserem Beispiel stehen die Sätze im Präsens, Indikativ und Singular. Die Logik ist also nicht nur logisch, sondern auch grammatisch! Neben der Logik muss demnach auch die Grammatik berücksichtigt werden. Andersherum ist aber auch die Grammatik nicht nur grammatisch, sondern auch logisch! In der Grammatik steckt eine ›Logik‹. Diese ›Logik‹ arbeitet die Dialogphilosophie heraus. Egal in welcher Weltanschauung man feststeckt, welcher Ideologie man anhängt, welche Meinungen man vertritt: Mit dem einleitenden Leitfaden der nächsten Seiten kann man sicher sein, anhand der Grammatik zu In Kap. 8 ist der Frage nach dem Ich ein ausgiebiger Exkurs gewidmet, der diesen Problemkontext vor dem Hintergrund sowohl der Logik als auch der Grammatik behandelt.

5

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

einer unvoreingenommenen Orientierung zurückfinden zu können. Zwar ist Ignoranz ein bewährtes weltanschauliches Mittel zur Herstellung eines ideologischen Zusammenhalts. Aber ernst genommen kann sich kein Weltanschauler der ›Logik‹ der Grammatik entziehen! Worin besteht nun aber die revolutio, das ›Zurückwälzen‹, im dialogphilosophischen Grammatikverständnis? In der Schule lernen wir, grammatische Formen zu unterscheiden, damit wir uns in der Muttersprache oder einer Fremdsprache ›korrekt‹ ausdrücken können. Wir lernen, Verben im Singular und Plural richtig zu konjugieren, Nomen und Adjektive zu deklinieren und die Modi – Indikativ, Imperativ und Konjunktiv – passend zu verwenden. Dieser Übung unterziehen wir uns in der selbstverständlichen Annahme, dass wir uns, wenn wir diese Grundregeln der Grammatik halbwegs korrekt anwenden, in unserer Muttersprache oder einer Fremdsprache genau und unmissverständlich deutlich machen können. Hierbei reicht es, die grammatischen Formen in der jeweiligen Sprache einfach auswendig zu lernen und anzuwenden. Konsequenterweise und pädagogisch sinnvoll ordnen unsere Schulgrammatiken die grammatischen Formen tabellarisch, zum Beispiel in Konjugations- und Deklinationstabellen. Die pädagogischen Grammatiker bannen damit die Oberflächen der sprachlichen Ausdrucksweisen in ihre Tabellen wie der Photograph die sichtbaren Oberflächen in Raum und Zeit auf seinen Kamerasensor. Unsere Schulgrammatiken folgen hierbei der für ihr Vorhaben evidenten Logik, dass der Andere mich versteht, wenn ich meinen sprachlichen Ausdruck für ihn hörbar oder sichtbar mit der korrekten Grammatikform versehe. Diese geniale Vorgehensweise erlaubt es uns zum Beispiel, mit relativ wenig Aufwand Fremdsprachen zu erlernen. Grammatik bedeutet in diesem herkömmlichen Verständnis also das tabellarische Abbilden der Oberflächen der verschiedenen Sprachen zum Zwecke der Kommunikation: um nichtsprachliche Phänomene sprachlich exakt abbilden zu können. Diesem Grammatikverständnis möchte ich mich hier ausdrücklich anschließen. Die Grammatik gibt uns dieses Sprachwerkzeug tatsächlich in die Hand. Aber nicht ausschließlich, denn es gibt darüber hinaus noch einen Grund, warum die Grammatik dazu taugt, Sprachoberflächlichkeiten abzubilden!

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Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

Dieser Grund wird freigelegt durch das angekündigte ›revolutionäre‹ Grammatikverständnis der Dialogphilosophen. Denn nicht nur Sprachoberflächen ordnen sich grammatisch, sondern auch Beziehungen: Jede Art des Sich-Beziehens-auf-Etwas erfolgt in einer Weise, die sich grammatisch darstellen lässt. Im Folgenden wird erörtert, inwiefern das revolutionäre Grammatikverständnis der Dialogphilosophen andere Grammatiktabellen hervorbringt als die Schulgrammatik. Ausgehend von den Modi des Verbs wird dargestellt, dass mit jedem der vier behandelten Modi jeweils andere grammatische Formen gleichursprünglich sind und miteinander einhergehen. Ich beginne hier die Darstellung mit den Modi und ordne diesen die korrespondierenden grammatischen Formen zu, da an den Modi der ontologische Status eines Phänomens unter direkter Berücksichtigung von Sein und Zeit am offensichtlichsten zum Ausdruck kommt. Grundsätzlich könnte man aber auch von jeder anderen grammatischen Form ausgehen. 6 Zu Beachten ist also, wie sich aus dem jeweiligen Modus zwingend ein Verhältnis zur Zeit, zum Menschen (Personalpronomen), zur Bezugsqualität zu etwas (Kasus) und zur Gemeinschaftsqualität (Numerus) ergibt: 1) Der Indikativ ist der Modus des Erzählens: Erzählt werden Dinge, die bereits geschehen sind (Dinge die noch nicht geschehen sind, können noch nicht erzählt werden). Alles, was im Indikativ steht – sei es die Erzählung von einer Reise, ›Eingebung‹, Erfahrung, von der Durchführung eines Experiments oder einem bloßen Hirngespinst – handelt von bereits Vergangenem. Jedes Buch, jeder wissenschaftliche Aufsatz, ja sogar jedes Gedicht bezieht sich auf einen vergangenen Sachverhalt oder Vorgang. Dadurch, dass der erzählte Sachverhalt bereits passé ist, haben wir eine gewisse Verfügungsgewalt über ihn. Wir können ihn in unserer Erzählung verklären, ausschmücken, durch Auslassungen schönen oder sogar korrekt wiedergeben. Wir greifen also auf den erzählten Inhalt in einem Besitzverhältnis zu: Es ist meine Erkenntnis, meine Erfahrung, mein Hirngespinst, meine Lüge, meine Rechtfertigung und meine Theorie! Gleichgültig, ob ich im Tempus des Präsens, Perfekts oder Futurs erzähle: Beim Erzählen ergießt sich ein vergangener Inhalt, den ein Ich hervorbringt, in der 6

Wie es aus anderen Gründen im Hauptteil dann geschieht.

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Gegenwart über den Zuhörer. Das adäquate Tempus wäre also eigentlich eine Vergangenheitsform, die aber glücklicherweise häufig aus stilistischen Gründen durch das Präsens ersetzt wird. Der Zuhörer einer Erzählung kann sich nun diesen Inhalt selbst zu eigen machen und nach Gusto oder Bedarf modifizieren. Es ist also einerlei, ob die Erzählung der Wirklichkeit oder dem Wahnsinn entspringt: ›Wahrheit‹ kann sie schon allein deshalb nicht für sich beanspruchen, weil sie, auch wenn sie in der Vergangenheit einmal ›wahr‹ gewesen sein sollte, diesem Anspruch von Neuem in der Gegenwart genügen müsste. Von dieser Tatsache sehen alle Weltanschauungen ab: Eine vergangene Wahrheit oder ein vergangener Wahn wird als gegenwärtig wahr behauptet. Da dies aber schon aus grammatischen Gründen gar nicht sein kann – denn wenn jemand behauptet, etwas sei wahr, dann muss er auch wissen, warum dies hier und jetzt (noch) wahr ist, was er aber nicht wissen kann, da er sich im Modus des Indikativs befindet – kapseln sich Weltanschauungen in Zeitblasen ab, in denen sich ihre Anhänger in kollektiver Gleichschaltung in Ruhe an den erkünstelten ›Wahrheiten‹ ergötzen können. Das unterscheidet Weltanschauungen von den Wissenschaften: Da Letztere – mit dem selben grammatischen Problem wie die Weltanschauungen konfrontiert – auf die Falsifikation ihrer Theorien setzen, bleiben sie für die Zeit offen (inwiefern die sogenannten ›sozialen‹ Wissenschaften wissenschaftlich sind oder nicht, wird im Hauptteil dieses Beitrags behandelt). Zusammengefasst lässt sich der Indikativ in folgende grammatische Tabelle mit gleichursprünglichen grammatischen Formen einordnen, welche ontologisch (unter Berücksichtigung der Zeit) folgendermaßen aussagekräftig sind: Indikativ

Tempus: Vergangenheitsform

Kasus: Genitiv

Numerus: (Kollektiv-) Plural

Personalpronomen: Ich

Zeit: Vergangenheit

Wahrheitswert: unbestimmt

Beziehungsverhältnis: Besitz

Gemeinschaftsqualität: kollektives Gemeinwesen

Erzählung folgt aus dem Einzelnen

2) Der Konjunktiv ist der Modus des Möglichen und damit dem Indikativ am nächsten verwandt: Wenn Weltanschauungen zum Beispiel im Namen der Wahrheit ihr Wissen der Vergangenheit (Indika20 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

tiv) in die Zukunft projizieren (meist, indem sie Zeitdiagnosen über die »Gegenwart« stellen, wie etwa: »Heutzutage ist dieses ›Wissen‹ fast ganz in Vergessenheit geraten, es ist aber notwendig, um in die Zukunft zu kommen …« o. ä.), geht es ihnen um die Zukunft. Im Großen und Ganzen behalten sie dabei die grammatische Verweisungstabelle des Indikativs bei und verschieben lediglich das Tempus vom Perfekt/Imperfekt zum Futur, von der Vergangenheit zum Hypothetischen bzw. Möglichen. Das Tempus des Futurums verwechseln sie nun mit der ontologischen Größe der Zukunft (lat. adventus). Adventus und Futurum sind aber nicht zwei Dimensionen der Zukunft. Während das Futurum im Modus des Möglichen steht und somit von der Zeit künstlich losgelöst wird, markiert der Modus des Kohortativs die Zeit der Zukunft. 7 Auch die Wissenschaft erhebt ihren Indikativ häufig zum Konjunktiv. Sei es für den Wetterbericht, die Folgen der aktuellen Klimaerwärmung oder die Entwicklungen der Mobilität: Immer geht es ihr um die Zukunft! Der Unterschied zur Weltanschauung besteht aber darin, dass die Wissenschaft sich ihrer hypothetischen Vorgehensweise wohl bewusst ist. Auf dieser grammatischen Gratwanderung entlarvt sich allerdings häufig auch der eine oder andere Wissenschaftler als Weltanschauler! Zusammengefasst lässt sich der Konjunktiv in folgende grammatische Tabelle mit gleichursprünglichen grammatischen Formen einordnen, die ontologisch (unter Berücksichtigung der Zeit) folgendermaßen aussagekräftig sind: Konjunktiv

Tempus: Futur

Kasus: Genitiv

Numerus: (Kollektiv-) Plural

Zeit: Möglichkeit/ zeitunabhängig

Wahrheitswert: unbestimmt

Beziehungs- Gemeinschaftsverhältnis: qualität: Besitz kollektives Gemeinwesen

Personalpronomen: Ich Erzählung des Möglichen folgt aus dem Einzelnen

3) Der Imperativ markiert eine wirklich andere grammatische Qualität. Im Imperativ steht die Gegenwart: Etwas geschieht und ist im Nu wieder vorbei, sodass ich nachträglich davon erzählen kann (IndikaDer Unterscheidung von Futurum und Adventus ist das ausführliche Ausblickskapitel 9: »Was heißt Zukunft?« gewidmet.

7

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

tiv). Der Imperativ steht zeitlich also vor dem Indikativ! Der Imperativ ist der Modus, auf den die Dialogphilosophen ihr Hauptaugenmerk richten. Rosenstock-Huessy hat folgende Entdeckung gemacht: In den 200 von ihm untersuchten Sprachen, stellt er fest, hat der Imperativ keine Endung. D. h. der Imperativ hat kein eigenes Subjekt! Etwas, das im Imperativ steht, ist notwendig: ich kann nicht darüber verfügen. Im Englischen wird hierfür häufig die Formel: »something is imperative« oder noch häufiger im sportlichen Alltag: »in your face!« verwendet. Ich werde dazu gezwungen, das im Imperativ Stehende anzuerkennen und anschließend darauf zu antworten. Das Notwendige ist wahr, ich muss es anerkennen, und es zwingt mich, durch das Antworten sein Subjekt zu werden. Ich kann gar nicht anders! Erst nach dem Anerkennen, antworte ich. Ich beginne nachzudenken: es zu erkennen und zu behandeln. Letzteres sind Handlungen, die erst im Indikativ stehen. Im Imperativ stehen Dinge, über die ich keine Verfügungsmacht besitze und die mir trotzdem geschehen. Sei es eine Katastrophe, die mich zur Flucht zwingt, ein Baby, das zur Welt kommt, eine Liebe, die mich überfällt: Ich muss sie anerkennen und darauf antworten. Das gilt übrigens nicht nur für Babys, sondern für alle Menschen. Weltanschauler kann man erkennen, Menschen muss man anerkennen! Nicht also im indikativen Erkennen, sondern im imperativen Anerkennen verbirgt sich ein Anspruch auf akute Wahrheit, der aber nach meinem Antworten schon wieder vorbei ist. Es handelt sich hier also tatsächlich um einen ›Anspruch‹ : ein ›Ansprechen‹ durch etwas im Imperativ, das gegenwärtig-akut wahr ist (wie ein solcher Anspruch durch die Zeit ›getragen‹ wird, wird beim nächsten Modus, dem Kohortativ, deutlich. 8). Da alles, was im Imperativ auf mich zukommt, für mich unverfügbar ist, handelt es sich nicht um ein Besitzverhältnis wie im Indikativ, sondern um eine Bezugsqualität, in der mich die Sache ›anspricht‹ : Die Beziehungsqualität ist also der Vokativ. Des Weiteren ist der Imperativ immer ›persönlich‹, er geht immer nur mich an. Angesichts des Imperativs bin ich ein einzelner Angesprochener, ein Du, und der Singular markiert diese Gemeinschaftsform.

Im meinem Ergebniskapitel 7.2 entwickle ich aus diesem Ansatz meine »Anspruchstheorie der Wahrheit«.

8

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Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

Zusammengefasst lässt sich der Imperativ in folgende grammatische Tabelle mit gleichursprünglichen grammatischen Formen einordnen, welche ontologisch (unter Berücksichtigung der Zeit) folgendermaßen aussagekräftig sind: Imperativ

Tempus: Präsens

Kasus: Vokativ

Numerus: Singular

Personalpronomen: Du

Zeit: Gegenwart

Wahrheitswert: wahr

Beziehungsverhältnis: unverfügbar

Gemeinschaftsqualität: singulär

Etwas ›überfällt‹ mich

4) Der für uns Deutsche, aber auch für andere Sprecher moderner Sprachen wohl am schwersten nachvollziehbare Modus (für die Dialogphilosophie trotzdem wahrscheinlich der wichtigste) ist der Kohortativ. Im Kohortativ wird der Anspruch des Imperativs durch die Zeit, und damit ein Stück weit von der Zukunft in die Gegenwart getragen. Wie ist das möglich? Wie im Hauptteil ausführlich dargelegt wird, steht im Kohortativ eine Aufforderung, die sich allerdings vom Imperativ unterscheidet. Während der Imperativ eine Aufforderung an mich richtet, der ich gehorchen muss, markiert der Kohortativ eine Aufforderung im Stile eines »Lasst uns … !«. Der Kohortativ drückt eine gemeinsame Aufforderung zu etwas Gemeinsamem aus. Im Unterschied zum Imperativ bin ich im Kohortativ also Auffordernder und Aufgeforderter zugleich. Etwas fordert mich zu etwas auf und ich fordere gleichzeitig mit diesem Etwas zu diesem Etwas auf. Einer Aufforderung im Kohortativ antworten wir also nicht nur, wie im Imperativ, sondern wir verantworten sie: Wir bewähren sie. Während die ungeplante Schwangerschaft im Imperativ uns zum Anerkennen und Antworten zwingt, muss die sachgemäße Antwort gefunden werden: Sachgemäß ist diese Antwort nur als Verantwortung, im Kohortativ. Ähnlich die Liebe: Sie überfällt uns im Imperativ, muss aber im Kohortativ (in welcher Form auch immer) bewährt werden. Wie im Imperativ ist der Sachverhalt im Kohortativ nicht in unserer Verfügungsgewalt. Erst anschließend, wenn alles vorbei ist, können wir davon im Indikativ erzählen und über den Inhalt verfügen. Dies alles findet in der Gemeinschaftsform einer unabgeschlossenen Zweisamkeit statt, die grammatisch vom Dual markiert wird. Während der Imperativ mich anspricht und als Singular markiert, fordere ich im Kohortativ gemeinsam mit Anderen Auffordernden 23 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

mich selbst und die Anderen auf. Die Gemeinschaftsform des Kohortativ ist also eine direkte Bezogenheit bei gleichzeitiger Unverfügbarkeit des Sachverhalts und damit Offenheit für die Zeit. Die Qualität einer solchen Beziehung zu etwas, bei der ich diesem Etwas weder etwas hinzufüge, noch es irgendwie verändere oder beeinflusse, markiert der Dativ. Zusammengefasst lässt sich der Kohortativ in folgende grammatische Tabelle mit gleichursprünglichen grammatischen Formen einordnen, welche ontologisch (unter Berücksichtigung der Zeit) folgendermaßen aussagekräftig sind: Kohortativ Tempus: Präsens

Kasus: Dativ

Zeit: Zukunft

Beziehungs- Gemeinschaftsqualität: verhältnis: unabgeschlossene unverfügbar Zweisamkeit

Wahrheitswert: unbedingt wahr

Numerus: Dual

Personalpronomen: Wir Gemeinsam zu Gemeinsamkeit

Schauen wir uns die vier dargestellten grammatischen Tabellen an, lässt sich ein grammatisches Verweisungsgeflecht feststellen, das sich in folgender, bereits auf den Hauptteil vorgreifenden und damit auf weitgehende Vollständigkeit zielenden Tabelle darstellen lässt: Seinsweise (Modi):

Imperativ

Kohortativ

Indikativ/ Konjunktiv

Anthropologisch (Pronomen):

Du

Wir

Ich

Bezugsqualität (Kasus):

Vokativ

Dativ

Genitiv

Ontologisch:

etw. erwahren

etw. bewähren

etw. verwahren

Gemeinschaftsform (Numerus):

Singular

Dual

Plural

Zeit:

Gegenwart

Zukunft

Vergangenheit/ Möglichkeit

Tätigkeit:

von etw. angesprochen werden

etw. beanspruchen

etw. besprechen

Erkenntnistheoretisch:

etw. anerkennen

etw. (be-)kennen

etw. erkennen

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Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen Konfrontationsqualität

Überraschung

Begegnung

Interesse 9

Ethisch:

auf etw. antworten

etw. verantworten

etw. beantworten

Beziehungsqualität:

etw. gestehen

etw. bestehen

jdn./etw. verstehen

Wertschätzungsqualität:

jdn./etw. (be-)achten

jdn./etw. hochachten

jdn./etw. verachten

Genera Verbi (psychologisch):

passiv

medium

aktiv

Einstellung/Haltung: jdm./etw. trauen

jdm./etw. vertrauen

jdm./etw. betrauen

Im Buberianischen Duktus:

Du-Du

Ich-Es

Ich-Du

Was können wir jetzt aus dieser Tabelle des ›revolutionären‹ Grammatikverständnisses der Dialogphilosophen herauslesen? 1) Dimensionen der grammatischen Formen: Wenn wir die Tabellenspalten von oben nach unten lesen, wird das Verweisungsgeflecht 10 der gleichursprünglichen Grammatikformen sichtbar. Spricht mich zum Beispiel etwas im Imperativ an, dann bin ich ein singuläres Du, 11 das passiv (also ohne eigenes Zutun) zum Anerkennen gezwungen wird. Die gleichursprünglichen grammatischen Formen markieren ihre verschiedenen Dimensionen: Liegt eine grammatische Situation vor, zum Beispiel die Seinsweise des Indikativs, dann schwingen gleichursprünglich immer die dazugehörigen Dimensionen mit, die mit den dazugehörigen grammatischen Formen markiert sind; im Falle des Indikativs zum Beispiel die Gemeinschaftsform des Plurals »Interesse« hat eine doppelte Bedeutung: Sofern es sich um ein Erkenntnis-Interesse handelt, ist es mit einer Übergriffsintention über die Sache verbunden: Eine Sache Erkennen-wollen bedeutet auch über sie in einem gewissen Grad Verfügen-wollen. Handelt es sich um ein ›Interesse‹, für das man jemanden einnehmen möchte, ist die Übergriffsintention klar sichtbar. Beide Bedeutungen implizieren ein ›strategisches‹ Vorgehen. Sich-für-einen-Menschen-interessieren ist dem jeweiligen Gegenüber also nur vordergründig angemessen, hintergründig führt dies – um mit Buber zu sprechen – zu einer »Vergegnung«. Menschen erkennt man nicht, sondern man ›anerkennt‹ sie. 10 Auch Schmid behandelt schon das grammatische Geflecht in Reihen, kommt im Einzelnen allerdings zu abweichenden Ergebnissen, vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 141. 11 Dieser paradoxe Satz »Ich bin ein Du« ergibt sich, da es sich auch bei diesem Text um eine Abhandlung handelt, die den Imperativ selbstverständlich nur im Indikativ beschreiben kann, und da dem Indikativ das Personalpronomen Ich zugeordnet ist. 9

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

und die Aktivität des Ichs (das Ich spinnt sich erzählend seine Welt zurecht, ist also aktiv). 2) Die Grammatik der Zeit: Lesen wir die Tabellenspalten von links nach rechts, entpuppt sich die Grammatik als »Methode« (von altgriechisch methodos: ›Nachgehen‹, ›Verfolgen‹) im wörtlichen Sinne: Während die Logik immer die Struktur von etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellt, also keine eigentliche »Methode« ist, geht die Grammatik »methodisch« mit dem zeitlichen Verlauf mit, dem das Phänomen ausgesetzt ist. Nehmen wir zum Beispiel die Spalte »Erkenntnistheorie«, dann wird deutlich, dass wir das gegenwärtige Phänomen zuerst anerkennen müssen. Danach haben wir die Wahl: Wollen wir das bereits Anerkannte verantworten, dann müssen wir es kennen. Wollen wir es aber nicht verantworten, dann können wir es nur erkennen. Dem Erkennen geht also zeitlich das Anerkennen voraus! Ontologisch wird etwas ›erwahrt‹, 12 bevor es entweder bewährt (Kohortativ) oder in einem Lexikon oder sonstigen Buch verwahrt (Indikativ) werden kann. Martin Heidegger, der diesem Problemkomplex fast sein gesamtes Werk widmet, kann die Zeitlichkeit des Seins nur in der Geschichte der Metaphysik beschreiben. Nur im Filter des Indikativs ist es ihm möglich, nachträglich die Zeitlichkeit des Seins sichtbar zu machen. Aber dann ist die Zeit schon vorbeigegangen. Heidegger fehlt die »Methode«, die ihm das Thematisieren der Zeitlichkeit des Seins in Echtzeit erlaubt. Die von den Dialogphilosophen entdeckte »Methode der Grammatik« ermöglicht das! Wie sieht nun die Grammatik der Weltanschauungen aus? Lesen wir beispielsweise die Spalte der anthropologischen Dimension von links nach rechts, dann sehen wir: Wir sind zuerst ein Du, bevor wir entweder ein Wir oder ein Ich sind. In der Konjugationstabelle kommt also eigentlich erst das Du, dann das Ich (nicht wie in der Schulgrammatik, die mit »Ich–Du–Er …« anfängt). Das entspricht ja auch dem Verlauf eines menschlichen Lebens. Das Erste, was wir bemerken, ist, dass wir etwas anderes sind als Anderes. Egal wo und wann sich unser Bewusstsein bildet: Der erste Bewusstseinsakt ist ein Angesprochen-Werden (als Du) und Anerkennen. Erst daHier benutze ich den schweizerischen Ausdruck »erwahren« als passenden Terminus für »wahr werden« in Bezug auf jemanden.

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Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

nach findet das reflektive Erkennen (im Ich) statt, zum Beispiel als Nachdenken oder Erkennen von Mustern o. Ä. Weltanschaulern hingegen ist eine Erkenntnis immer das Erste: die zentrale Erkenntnis ihrer Weltanschauung. Weltanschauungen sind also ich-zentriert: Sie gehen vom Ich aus und zielen auf das Ich. Sie sind vollständig im Kreislauf des Indikativ und Konjunktiv gefangen. Deshalb ist es so leicht, einen Weltanschauler vollständig zu beschreiben: Gleichgültig welchen Inhalt er propagiert, die Grammatik der weltanschaulichen Haltung sieht immer gleich aus! Menschen aber kann man nur anerkennen, weshalb es unmöglich ist, einen Menschen umfassend zu ergründen. Dem Weltanschauler ist zuerst sein Ich, bevor er seine Weltanschauung einem (scheinbaren) Du mit allerlei Tricks oktroyieren kann, um dann als scheinbares »Wir« (einem kollektiven »Ich + Ich + Ich … = ›Wir‹) seiner Weltanschauung eine postfaktische Realität zu verschaffen. Dieser Sachverhalt ist angesprochen, wenn ich oben schreibe, Weltanschauungen seien akut zeitvergesslich. Mit Hilfe der dialogphilosophischen Grammatiktabelle lässt sich die Zeit ernst nehmen. Die Logik kann nur Zeitschnipsel behandeln, die Grammatik kann mit der Zeit ›mitgehen‹, indem zum Beispiel konjugiert wird. Da ich meine Haltung und Stellung mit Hilfe der Grammatiktabelle zu jedem Zeitpunkt selbst überprüfen kann, ist für mich zu jeder Zeit und an jedem Ort eine unvoreingenommene Orientierung jenseits der vereinnahmenden Weltanschauungen möglich.

1.2. Philosophiegeschichtliche Anmerkungen zur Dialogphilosophie Rosenstock-Huessy muss mit seinen Beobachtungen über den formbildenden Niederschlag des menschlichen Seelenlebens in der Grammatik als Initiator der Dialogphilosophie gelten. Hierbei greift er auf wertvolle Vorarbeiten von Wilhelm von Humboldt zurück. Mit diesem grammatischen Niederschlag beschäftigt sich Kapitel 2. Rosenstock-Huessy teilte die Ideen 1916 seinem Freund Rosenzweig brieflich mit, 13 der wiederum den grammatischen Bezug des Denkens Diesen Brief publizierte Rosenstock-Huessy 1923 überarbeitet und ergänzt als Aufsatz »Angewandte Seelenkunde«. Vgl. Grätzel 2012, 13.

13

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

ausdrücklich in seinen Stern der Erlösung von 1921 einbezieht. Im selben Jahr publizierte auch Ebner, unabhängig von Rosenzweig, sein Werk Das Wort und die geistigen Realitäten – Pneumatologische Fragmente. 14 Durch ihn wurden das Primat und der Terminus des »Du« in die Dialogphilosophie eingeführt. Dieses »dialogisierende Verfahren« 15 – wie Rosenzweig das Neue Denken 1916 in einem Brief nennt – stieß wenig später mit Martin Bubers (1878–1965) Longseller Ich und Du von 1923 als »Dialogisches Denken« auf globale Resonanz. Ich und Du verhalf diesem sich an der Grammatik orientierenden Denken der Dialogphilosophen zu Weltruhm. Buber, an Jahren der älteste der Dialogphilosophen, muss aber bereits einer zweiten Generation der Dialogphilosophie zugerechnet werden, da er sich, wenn auch durchaus eigenständig, schon an dem Material seiner dialogphilosophisch bewegten Kollegen orientieren konnte. Mit seinem Dialogischen Denken überwindet Buber den kantischen Erfahrungsbegriff seines Frühwerks, ohne aber in vorkritische Naivitäten zurückzufallen: Zwar ist dem Menschen das Sein begrifflich weiterhin nicht umfassend zugänglich, aber er geht mit dem Sein doch täglich um. Der kantische transzendentale Erkenntnis-Maßstab hat also weiterhin Gültigkeit. Aber die Behandlung des Problems durch die Dialogphilosophen hätte Kant vermutlich überrascht: Das eigentlich unerreichbare Sein ereignet sich nämlich trotzdem für den Menschen. Der Mensch ist Teilnehmer am Sein, genauso wie er Teilnehmer an der Sprache ist. Die Dialogphilosophen beschreiben, wie sich der Seinszugriff für den Menschen als Teilhabenden am Sein vollzieht. Allerdings nimmt er nicht in der herkömmlichen Wissen-anhäufen-wollenden Erfahrung am Sein teil (im Genitiv), sondern nur im ›dankbaren‹ Sichöffnen (Dativ): in der Begegnung. In letzter Konsequenz ist die Frage nach dem Sein nämlich gar keine Erkenntnisfrage, sondern eine zeitlich-existenzielle, also eine persönliche Frage: Sein oder Nichtsein, Leben und Tod. Erkenntnis ist immer defizitär, weil sie den Erkennenden aus dem Seinsgeschehen künstlich herauslöst. Erkenntnis steht immer unter dem Vorbehalt der »ontologischen Differenz«. In der Grammatik finden die Dialogphilosophen den vermissten Die biographische Verbindung oder Nicht-Verbindung Ebners zu den anderen Dialogphilosophen kann in diesem Beitrag nicht erschöpfend thematisiert werden. 15 Vgl. Casper: Denken, 145. 14

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Die Grammatik zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen

Bezug zur Zeitlichkeit des Seins und stellen fest, dass das bisherige abendländische Denken einem logizistischen Vorurteil anhängt: Platons Unterscheidung zwischen werdehaft Seiendem (on gignomenon) und der eigentlich seienden Idee (ontos on) hat ihre Wurzeln in Parmenides’ Trennung von Schein (doxa) und ewig unveränderlichem Sein (on). Nur letzterem schreibt Parmenides konsequenterweise Wahrheit (aletheia) zu, die auf der Einheit von Denken und Sein beruht. 16 Die ganze Philosophiegeschichte hindurch, von Parmenides’ Identifikation von Sein und Denken bis zu Hegels Übersteigerung dieser Ansicht zum Selbstbewusstsein des absoluten Wissens selbst, orientierten sich die abendländischen Denker ausschließlich an der Logik, die eben nur bis zu dieser ontologischen Differenz zwischen Sein und Schein bzw. – ganz prominent bei Heidegger – zwischen Sein und Seiendem kommt. Diese Grenze kann kein Erkenntnissuchender überschreiten. Der Grenzgänger Wittgenstein resümiert deshalb selbstkritisch: »Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen.« 17

Da aber Wittgenstein’sche Bescheidenheit offenbar nicht jedermanns Sache ist, ist es kein Wunder, dass »Ismen-Anbeter« 18 jeder couleur ihre ›Beulen‹ zu fertigem, die ersten und letzten Dinge begründendem Wissen erklären und auf dem Markt der Weltanschauungen feilbieten. Philosophie ist durch ihre ausschließlich auf die Logik fixierte Methode nur zur Faktenfeststellung befähigt. Wie bereits erörtert, ist die Logik nämlich gar keine »Methode«, da sie mit dem Phänomen zeitlich nicht ›mitgehen‹ kann. Sie stellt die Wegpunkte (unsere ›Beulen‹) fest. Den Geschehnischarakter der Wirklichkeit wird die Logik niemals erfassen können. Sie kann höchstens von ihm abstrahieren. Kein Wunder also, dass die einseitige Fixierung auf Logik immer mit einer Ideologisierungstendenz einhergeht: ›Freunde der Wahrheit‹ tätigen so Aussagen und Feststellungen, ohne zu bemerken, dass sie eine Grammatik benutzen. Sie haben sich zwar mit dem einen genuinen Element der Sprache, der Logik, befasst, darüber aber vergessen, 16 17 18

Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 26. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen § 119. Ausdruck von Rosenstock-Huessy.

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

das andere genuine Element, die Grammatik, mit einzubeziehen. Wir werden im Verlaufe dieses Beitrags sehen, wie Aussagen, die im Indikativ stehen, sich zu Konjunktiven ›erheben‹ und wie dieses Wunschdenken sich anschließend als ›zukunftsträchtige‹ Erkenntnis (ein Widerspruch in sich!) verkaufen lässt. Sprache ist vor allem gesprochene und gehörte Sprache, und Seinsbezüge offenbaren sich dem Hörer in der Aktualität des Sprechens, d. h. in ihrem konkreten Zeitbezug. Das Wissen der IsmenAnhänger ist also nur scheinbar ewig. Denn auch im Wissen müssen wir zwischen Schein und Sein unterscheiden. Das kann aber erst die Sprache mit beiden Elementen, der Logik und Grammatik.

1.3. Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil Die drei Pioniere der Dialogphilosophie beginnen also ihre Suche nach »Wahrheit« von vorne. Sie stellen sich grundsätzlich die Frage: Wie hängen Sein und Sprache zusammen? Wie in diesem Beitrag ausgearbeitet wird, zeigt die Dialogphilosophie, dass alle Wissensformen unabhängig vom Inhalt sprachlich, und damit nicht nur logisch, sondern auch grammatisch sind. Der Wahrheitswert von Wissen ist somit orts- und zeitgebunden. Will uns jemand seine ewigen Weisheiten feilbieten, müssen wir diese grammatikalisch analysieren, um ihren tatsächlichen Wert erst zu ermessen. Andererseits sind Gurus und Ismen-Anbeter in Religion, Philosophie und Wissenschaft chronisch zeitvergesslich. Sie verwechseln ihr jeweiliges Wissen mit Wahrheit. Der Begriff »Weltanschauung«, mit dem sich einige Ismen schmücken, weist ja bereits auf ihren problematischen Charakter hin: Eine Weltanschauung kann Weltanschauung nur aufgrund ihres Vorurteils sein! Sie ist bloß eine von vielen Brillen, die sich der Weltanschauler aufsetzt und damit seine Weltansicht überhöht und totalisiert. Welche dieser ›Brillen‹ er sich aufsetzt und warum gerade diese, bleibt eine für den Weltanschauler unangenehme Frage, denn der Verdacht drängt sich auf, dass es sich hierbei um eine Geschmacksfrage handelt. Durch ihre Zeitvergessenheit sind mit der Zeit Phänomene vorprogrammiert, die wir seit Kurzem treffend postfaktisch nennen: Ein funktionierender Ismus hält seine Anbeter durch den emotionalen Effekt seiner Weltsicht zusammen, während der jeweilige Wahrheits30 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

gehalt Ismen-intern nicht mehr oder nur scheinbar problematisiert wird. »Gott hat eben nicht die Religion, sondern die Welt geschaffen.« 19 Doch wofür sind Religionen dann gut? Dass man sich von ihnen freidenke. 20 Das gilt auch für Weltanschauungen! Erklärtes Anliegen der Dialogphilosophen ist es, sich mit Hilfe der grammatischen Entdeckungen aus ihren jeweiligen Religionen, Weltanschauungen und Vorurteilen, die uns alle auf Schritt und Tritt in ihren Bann ziehen wollen, freizudenken und gegen sie zu immunisieren. Die Grammatik stößt sie immer wieder auf ihre zentrale Frage nach der Bewährung des Wahren. So werden wir im Laufe dieses Beitrags sehen, wie fruchtbar das Wissen der verschiedenen Ismen sein kann, wie unfruchtbar, weil vereinnahmend, jedoch für die Weltanschauler selbst! Um das Freidenken aus unseren Weltanschauungen geht es in diesem Beitrag. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und anhand der Dialogphilosophie »Wahrheit« neu problematisieren. Es geht im wörtlichen Sinne um eine »Provokation«: Heute, da das uralte Phänomen, dass uns gefühlte Wahrheiten wichtiger sind als ihr tatsächlicher Wahrheitsgehalt, einen passenden Namen hat, müssen wir aus dieser postfaktischen Wohlfühlfalle »hervorgerufen« werden. Das Freidenken aus unseren Weltanschauungen muss provoziert werden. Dieser Zweck heiligt auch die Polemik, 21 der die Dialogphilosophen immer wieder nachgeben. Man kann sich ihr kaum entziehen. Der praktische Nutzen ist jedoch, dass man anhand dieser Polemik herausfinden kann, wes Geistes Kind man selbst ist. Beleidigt, belustigt, betroffen oder gar gelangweilt: Es gibt einen handfesten Maßstab zur Selbstüberprüfung! Er lautet: Maßstab I: Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein. 22

Rosenzweig: Das Neue Denken, 442. Das deutet Rosenstock-Huessy an: Vgl. Der tägliche Ursprung der Sprache, 131. 21 Wer sich für eine Behandlung des Themas in ironisch-sarkastischer Weise begeistern kann, dem lege ich Rosenzweigs wunderbar polemisches »Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand« von 1921 ans Herz. 22 Dieser Maßstab ist von Hermann Levin Goldschmidts dialogischer Losung »Freiheit für den Widerspruch« inspiriert, vgl. unten Kapitel 6. 19 20

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Denn darum geht es letztlich: Die Wahrheit ist immer Wahrheit für jemanden. Behauptet jemand, im Besitz der Wahrheit zu sein (solche Leute gibt es ja), tut man gut daran, sie in das schützende Kuriositätenkabinett einer Speaker’s Corner auszulagern. Dort richtet niemand Schaden an. Die Suche nach Wahrheit jedoch wird immer ein persönliches Anliegen bleiben müssen. Ob als Zumutung, Herausforderung oder gar Bestätigung: Ließen wir uns von dieser Philosophie ansprechen und zum Antworten hinreißen, bewährte sich bereits die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Dialogphilosophen. Es wird weder irgend ein Ismus als Feindbild aufgebaut, noch eine alternative, ›bessere‹ Weltanschauung proklamiert. »Der Idealismus ist nämlich da nicht als solcher der Feind. Ein Antiidealismus, Irrationalismus, Realismus, Materialismus, Naturalismus oder wie er sich nennen möge, ist hier genauso gefährlich. Denn nicht das ist ja das Leiden des Verstandes, dass er das ›Geistige‹ als das hinter dem Wirklichen verborgene Wesen sucht, sondern dass er überhaupt etwas hinter dem Wirklichen sucht. Ob nun Real-ität oder Materie oder Natur – das sind alles Wesensbegriffe, die keine Spur besser sind als der Geist oder die Idee. […] Und so kann keiner von all diesen Ismus-Begriffen hier die Versöhnung zwischen Tun und Denken, auf die es ankommen würde, herbeiführen. Eben weil es Ismen sind, ganz einerlei ob Ideal- oder Real-Ismen.« 23

Jenseits der Weltanschauungen besteht die primäre Herausforderung in der Orientierung, mit dem gleichzeitigen Ziel der Unvoreingenommenheit. Es ist fast belustigend zuzuschauen, wie heutzutage vor dem Hintergrund des Wegbrechens fester Sozialstrukturen über Werte gestritten wird: Wer sich die ›besseren‹ Werte auf seine Fahne oder Website schreibt, hat gewonnen! Aber der zunehmenden Orientierungslosigkeit – die übrigens durchaus eine geschichtliche Notwendigkeit zu sein scheint – kann man doch nicht mit den Werten von Vorgestern begegnen! Nicht mit einer Wertedebatte, sondern mit Orientierungsstützen begegnet man der Orientierungslosigkeit: »Was wir brauchen, ist […] nicht nur ein Orientierungswissen, sondern auch ein Orientierungskönnen. […] Nicht der, der viel weiß, ist der, der Orientierungsfragen beantwortet, sondern der, der lebensformbezogen für

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Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 42.

32 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

sich schon die geheimnisvolle Grenze zwischen Wissen und Können überschritten hat.« 24

In wohlklingenden Werten manifestiert sich bloß klammheimlich und getarnt unsere überkommene Tradition, die ihr eigenes Scheitern maskiert. Deshalb funktionieren Werte so gut in der Werbung: Sie klingen ›gut‹ und sinnvoll, sind wohldurchdacht und der konkreten Realität enthoben. Werte sind nicht umsetzbare Ansprüche, deren hoher Stellenwert sich ausschließlich durch Berufung auf die eigenen Großeltern, Ahnen oder Founding Fathers herleitet. Da sie nicht umsetzbar sind, sind sie auch nicht überprüfbar: Deshalb eignen sie sich wunderbar dazu, vertreten zu werden. Ihr Vertreter verspricht sich davon rasche Anerkennung: je hehrer die Werte, desto mehr Personen stehen hinter ihnen und damit hinter ihm! Jenseits der Weltanschauungen besteht die Herausforderung sich unvoreingenommen orientieren zu können. 25 Hierzu muss zunächst, wie in der Schiffsnavigation auch, der eigene Standpunkt mittels ›Kreuzpeilungen‹ ermittelt werden. Weltanschauler ›kennen‹ ihren Standort bereits, ihre Peilungen scheinen zu stehen: Weltanschauler staunen anstatt zu navigieren. 26 Jenseits der Weltanschauungen müssen solche »Kreuzpeilungen« immer wieder neu durchgeführt werden, um wirkliche Orientierung zu ermöglichen. Wie solche ›Kreuzpeilungen‹ immer und überall durchführbar sind, ist Thema dieses Beitrags. Hierfür werden Phänomene beschrieben, Probleme formuliert und (Orientierungs-) Maßstäbe gesucht. Bei angestrebter Unvoreingenommenheit (wir werden sehen, Unvoreingenommenheit ist kein »Wert«, sondern eine anhand der Grammatik konkret beschreibbare Einstellung) soll nicht einfach wieder in ›angenehme‹, weil gefestigte Weltanschauungen zurückgefallen werden: Es geht um Orientierung jenseits der Ismen.

Mittelstraß: Leonardo-Welt, 305 f. Vgl. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 44 f. 26 Vgl. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 27 f. 24 25

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Jenseits von Weltanschauungen herrscht nicht Willkür. Im Gegenteil: Wir alle kennen wohl Beispiele dafür, wie willkürlich ein festgefahrenes, seit Generationen als ›wahr‹ empfundenes Weltbild sein kann. Jenseits der Weltanschauungen gibt es keine weltanschaulichen Spielregeln mehr. Andere Orientierungshilfen, die uns nicht für sich vereinnahmen können, müssen gefunden werden. Da die Wahrheit, sofern es sie überhaupt gibt, nicht umfassend zugänglich ist, müssen wir mit Orientierungshilfen vorlieb nehmen, die zwar auf Wahrheit zielen, deren Wahrheitsanspruch selbst aber eingeschränkt bleibt. Nur einem begründet-eingeschränkten Wahrheitsanspruch können wir gerecht werden. Die Orientierungshilfe kann also keine proklamierte Totalität sein oder ein immer anzustrebender ›Wert‹, sondern sie muss sich immer wieder erst selbst bewähren. Die Maßstäbe, die hier aufgestellt werden, haben den Charakter von Faustregeln (man könnte sie auch Heuristiken nennen), denn Faustregeln bieten uns jenseits der Weltanschauungen besonders pragmatische Maßstäbe, wie im Verlaufe dieses Beitrags ersichtlich wird. Für die dialogphilosophisch-unvoreingenommene Wahrheitssuche jenseits weltanschaulicher Erbauung oder Bestätigung kann folgender Maßstab angewendet werden: Maßstab II: Erst die Relation bekundet die Relevanz. 27 Die Relevanz (lat. re-levare = wieder in die Höhe heben) von etwas kann nur in Anbetracht des Zusammenhangs – in unserem Fall, da es um Sein geht: zu Zeit und Raum – festgestellt werden. Um zu wissen, warum etwas Bedeutung zukommt (sich etwas in die Höhe hebt), müssen wir wissen, was in der anderen Waagschale liegt. Sonst lässt sich die Relevanz nicht ermessen. Wir werden sehen, dass sich die zeit-räumliche Relation (lat. relatio von referre = zurücktragen, zurückbringen) zu Zeit und Raum durch Logik und Grammatik herstellen lässt. Im Folgenden wird ein Einblick (kein Überblick) in die grammatischen Beobachtungen der Dialogphilosophie geboten. Ich erlaube mir, hier einen ›systematischen‹ Ansatz zu verfolgen und die DialogAuch dieser Maßstab ist von Goldschmidt, der gewinnbringend zwischen Relationierung und Relativismus unterscheidet, inspiriert, vgl. Kapitel 6.

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Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

philosophie selbst zu thematisieren. 28 Dieser Ansatz des ›Zusammenlesens‹ der Zusammenhänge der einzelnen Denker und der thematischen Auslese bringt es mit sich, dass der vorliegende Beitrag die Denker nicht, wie sonst üblich, im Einzelnen vorstellen will, sondern die Dialogphilosophie insgesamt. Der Leser sei also vor der Gefahr der Nivellierung der einzelnen Denker gewarnt (und damit dagegen gefeit). Die Lektüre soll auch einen Anhaltspunkt für die Antwort auf die Frage ›Was ist Dialogphilosophie?‹ geben. Der grammatische Teil präsentiert einen weitgehenden Konsens der Dialogphilosophen und stellt den Kern der Dialogphilosophie dar. Die Lektüre der einzelnen Vertreter und ihrer Werke wird aber nicht ersetzt, auch nicht vorausgesetzt, sondern vielmehr ausdrücklich empfohlen. In Kapitel 2 werden die grundsätzlichen grammatischen Beobachtungen der Dialogphilosophie vorgestellt: Nach den Hinführungen zum Thema aus thematischer Perspektive (2.1) und aus der Perspektive einer Kritik des abendländischen Denkens (2.2) wird in 2.3 dargestellt, wie sich anhand der Wortarten das Sein grundsätzlich in die Sprache einprägt. In 2.4 folgen eine kurze Darstellung von Ebners grammatischen Beschreibungen zur Qualität der Ich-Du-Beziehung und des Primats des »Du« vor dem »Ich« sowie ein kurzer Exkurs zu Ebners Suche nach Wahrheit in Beziehung zu Gott. Mit 2.5 kommen wir dann zum Kern der Dialogphilosophie, der sich um den Fragenkomplex der Modi des Verbs dreht. Hierbei steht die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit im Vordergrund. Da Sprache, wie bereits ausgeführt wurde, vor allem gesprochen und gehört wird, ist für die Frage nach dem Seinszugriff in der Sprache weniger das Substantiv (Substanzwort) interessant, als vielmehr das Verb. Der Modus des Verbs (Indikativ, Imperativ, Konjunktiv etc.) bestimmt sozusagen den Wahrheitswert des Erscheinenden, dessen Zeitlichkeit berücksichtigt werden muss. Nicht die Natur unterscheidet zwischen Sein und Schein, sondern der Modus in der Sprache! Die Probleme und Feststellungen, die die Grammatik in den Modi des Verbs anzeigt, sind auch das Thema des Dialogphilosophen Im weiteren Verlauf werden wir aber auch feststellen, dass sich nicht jeder der »Dialogphilosophen« unter dem Label »Dialog« erfasst sieht, ja noch nicht einmal als »Philosoph« bezeichnet werden will. Um diese unter dem Vorbehalt der Generalisierung vorgenommene Klassifizierung als Dialogphilosophen aber doch vorsichtig zu rechtfertigen, habe ich in Kapitel 7 eine Hypothese über das »Dialogische« dieser Philosophen aufgestellt.

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Martin Buber. Wie in Kapitel 3 dargestellt wird, greift Buber die Probleme auf, die seine dialogphilosophischen Mitstreiter durch ihren Fokus auf die Grammatik bereits angesprochen haben. Buber fragt hierbei nach den konkreten anthropologischen Herausforderungen. Er beansprucht keine philosophische Geschlossenheit für sein Werk, sondern tritt mit einer dialogisch-pädagogischen Absicht auf. 29 Bubers pädagogisches Anliegen ist es, uns »auf die Zwiefalt menschlicher Verhaltensweisen aufmerksam zu machen und der ganz konkreten Verwirklichung zu dienen.« 30 Sein Anspruch ist, uns Folgendes nahezubringen: »Das ganze Leben, die Wirklichkeit erschließt sich als ein Angeredetwerden.« 31 Um dies zu bewerkstelligen, arbeitet Buber anhand von durch die Grammatik beschriebenen Beziehungsqualitäten eine Pädagogik der Verantwortung heraus, freilich ohne selbst auf die Grammatik zu sprechen zu kommen. Da sich der dialogisch-pädagogische Ansatz Bubers in einem poetisch-pädagogischen Schreibstil niederschlägt, mache ich mir in Kapitel 3 Bubers außergewöhnliche Errungenschaft zu Nutze und skizziere (zusammenfassend) seine Perspektive auf die durch die Grammatik aufgeworfenen Fragen. Ich erhoffe mir dadurch ein wechselseitig besseres Verständnis der (für uns ungewohnten) dialogphilosophischen Problemstellung: Die grammatische Analyse aus Kapitel 2 soll das ›Warum?‹ der Buber’schen Problematik skizzieren. Bubers Ansatz hingegen soll in seiner pädagogischen Absicht die weitreichenden anthropologischen Konsequenzen, die die Grammatik aufwirft, umreißen. Kapitel 4 widmet sich einem Exkurs zum Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, der schon knapp 100 Jahre vor den Dialogikern avant la lettre bis zum Kern der Dialogphilosophie vordringt. Humboldt ist meines Erachtens der unsichtbare Elefant im Raume der Dialogphilosophie: In den Primärtexten wird sein Name nur vereinzelt genannt, in der Sekundärliteratur wird er zumeist ignoriert oder seine Bedeutung heruntergespielt. Aber inhaltlich sind die Parallelen zur Dialogphilosophie zu auffällig um einfach übergangen zu werden. Die Dialogphilosophie bewegt sich ausschließlich in dem Rahmen,

29 30 31

Vgl. Casper: Denken, 260. Wehr: Buber-Biographie, 93. Wehr: Buber-Biographie, 93.

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Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

den Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie abgesteckt hat. Deshalb nehme ich die Gelegenheit wahr, an dieser Stelle die dialogische Wende in der Sprachphilosophie bei Wilhelm von Humboldt aus dialogphilosophischer Perspektive vorzustellen (selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Wie im Folgenden auffallen wird, sind Kernelemente aus dem Fundus Humboldt’scher Sprachforschung identisch mit zentralen Punkten der Grammatikforschung aus dialogphilosophischer Perspektive. Auch die Wende von der Sprachphilosophie zur Soziologie (wie sie im folgenden Beitrag aus dialogphilosophischer Perspektive in Kapitel 5 dargestellt wird), wird bei Humboldt bereits vollzogen. Des Weiteren ist meines Erachtens der bereits oben erwähnte, spezifisch dialogphilosophische Ansatz zur Lösung des Erkenntnisproblems im Rahmen der kantischen Transzendentalproblematik bei Humboldt schon angelegt, wenn nicht sogar, jedenfalls auf seinem Spezialgebiet der Sprachforschung, vollzogen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist: Die Dialogphilosophie ist eine Sprachphilosophie in der Tradition Wilhelm von Humboldts. In Kapitel 5 wird die Soziologie von Eugen Rosenstock-Huessy vorgestellt. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Anwendung der grammatischen Sachverhalte auf den Menschen als Generationenwesen. Denn wie auch Wilhelm von Humboldt schon feststellt, ist das sprachbegabte Wesen Mensch, durch den transgenerationalen Charakter der Sprache ein Geschlechtswesen. 32 Franz Rosenzweig dringt mit seinem Fokus auf die Grammatik bereits bis zur Zeitlichkeit des Seins vor: Alles, was erzählt wird (also im Indikativ steht), ist bereits vergangen und muss in der Gegenwart einmal (also im Imperativ) geschehen sein. Ebenso rechnet auch Buber mit ihr. Rosenstock-Huessys Monumentalwerk Im Kreuz der Wirklichkeit von 1956/57 kommt in der Frage nach der Zeitlichkeit des Seins jedoch noch ein großes Stück weiter. Ging es bei Rosenzweig und Buber um die Zeitlichkeit des Seins aus der Raumperspektive, so legt Rosenstock-Huessy seinen Fokus ganz auf die Zeit selbst: Menschen sind nicht nur dazu verdammt, mit dem Sein, das selbst ja letztlich ein Rätsel bleibt, irgendwie umzugehen, sondern auch mit der Zeit, die ebenfalls begrifflich nicht zu erfassen ist: Wer sich nämlich einen Zeitbegriff erarbeitet, weiß nachher nicht besser als vorher, was die

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Vgl. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 26.

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Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

Zeit ist, sondern der Vorgang des Erarbeitens selbst zwingt ihn bloß in einen Kalender. Was die Zeit ist, falls es so etwas überhaupt gibt, bleibt unbekannt. Nun stehen wir Leser vor dem Problem, dass wir es gewohnt sind, alles von der Raumperspektive her zu beschreiben: Die Zeit wird höchstens noch als vierte Dimension hinter dem dreidimensionalen Raum akzeptiert. Es wird sich aber im Verlaufe des Textes herausstellen, dass es sich umgekehrt verhält: Die Welt zeitigt sich dreidimensional im Raum. Um dieser Gewohnheit trotzdem gerecht zu werden, werde ich in Kapitel 5.2, nachdem in 5.1 ein kurzer Überblick über die Geschichte der Zeitproblematik skizziert wird, aus der Perspektive des Raumes beginnen, die Zeit zu thematisieren. Es wird schnell klar werden, wo die Grenze des Raumdenkens für das Zeitverständnis ist, nämlich in einer Vielzahl sich widersprechender Kalender: Ein Kalenderraum wird gegen alle anderen Kalender versiegelt, besteht innerhalb dieser Zeitblase mit ihrer Binnenzeit nach außen abgeschlossen und treibt in seiner Wahnzeit wie ein Floß auf der eigentlichen Währzeit (»Währ«-Zeit, weil sich Wahres dialogisch in der Zeit bewähren muss, um wahr zu sein). Eine Weltanschauung ist also zunächst eine gezeitigte Brille gegenüber den Räumen, in denen sie sich mit ihrer Eigenzeit etabliert. Aber ihre Räume gestaltet sie entsprechend der von den Weltanschaulern jeweils gewählten Uhr, die es ihnen ermöglicht, gemeinsam ihrem angebeteten Kalender gerecht zu werden. Wollen wir nicht in einer solchen Zeitblase einsam-gemeinsam gefangen bleiben, brauchen wir also auch hier Orientierung: Wir müssen es irgendwie schaffen, mit den unsere Lebenswirklichkeit ja durchaus prägenden Zeit-Räumen umzugehen und gleichzeitig offen für die Zeit selbst zu bleiben, wobei diese uns aber ein Geheimnis bleibt. Die Grenze des Raumdenkens darf also folgende Frage markieren: Beherrsche ich meinen Kalender oder beherrscht mein Kalender mich? Im Raumdenken trifft Letzteres zu, denn in meiner Weltanschauung (Raum) gibt es ja einen funktionierenden Zeitablauf. Führe ich mir aber die vier möglichen, sich widersprechenden Kalender vor Augen, verliert der Kalender seine totalitäre Wirkung auf mich: Ich werde orientierungslos! Dieser Orientierungslosigkeit den Zeiten und Räumen gegenüber soll Kapitel 5.3 Abhilfe schaffen: mit Hilfe des Kreuzes der 38 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

Wirklichkeit wird gezeigt, wie die Zeiten – es gibt drei: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – mit den Räumen – es gibt zwei: Innen und Außen – in Relation zueinander stehen. Das Bewusstwerden dieser Relation von Zeiten und Räumen im Kreuz der Wirklichkeit bildet den genauen Umschlagspunkt von Raumdenken in Zeitdenken: Die Räume werden als projizierte Zeiten identifiziert. Der Kalender verliert so seine Totalität und – um auf das Bild aus der Schiffsnavigation zurückzukommen – ermöglicht es uns, mit Hilfe des Kreuzes der Wirklichkeit – unseres ›Kompasses‹ – die zur Orientierung nötigen ›Kreuzpeilungen‹ durchzuführen. Aber das nächste Problem stellt sich sofort ein: Der Gegenwart, also der Zeit, in der wir eigentlich leben, kommt ein besonderer Stellenwert zu. Doch was kann ich meinem Ausgeliefert-sein an die Gegenwart entgegensetzen? Bin ich ihr einfach nur ausgeliefert oder gibt es einen Umgang mit ihr? Erst an dieser Stelle, an der jedem klar ist, dass und wie sich das Sein in der Gegenwart, dem Kairos, zeitigt, wird jedem Leser deutlich werden, dass es sich bei der Frage nach Orientierung um eine Frage nach Kaironomie handelt. Bevor diese ausgearbeitet wird, müssen neue Orientierungsmaßstäbe gefunden werden, mit denen wir Zeitpunktwesen, die wir zweifellos sind, nicht die Orientierung verlieren: In Kapitel 5.4 werden also zwei weitere Maßstäbe zur Orientierung in unseren Zeit-Räumen vorgestellt. Diese zwei Maßstäbe möchte ich, angelehnt an Rosenstock-Huessy, folgendermaßen formulieren: Maßstab III: Im Raum gilt: Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr. Maßstab IV: In der Zeit gilt: Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere? An diesen vier Koordinaten (Raum: Spiel und Ernst, Zeit: Feier und Ereignis) orientiert sich unser Leben in Raum und Zeit: im Raum ist der Mensch zwischen den Polen des Spiels und des Ernstes, in der Zeit zwischen den Polen des Feierns und des Ereignisses. Nachdem in 5.5 in einem Exkurs über den quantentheoretischen Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit innerhalb der Physik gezeigt wird, warum die jeweiligen Zeitinterpretationen un39 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Einleitung: Der Kern der Dialogphilosophie

sere Weltanschauungen bestimmen, kann in 5.6 beschrieben werden, in welchen Imperativen sich die »Welt« zeitigt. Erst das Wissen um das Kreuz der Wirklichkeit, die Orientierungsmaßstäbe und die genauen Zeitigungsvorgänge des Seins 33 erlauben es uns schließlich, eine Kunst der Kaironomie genauer (theoretisch) zu skizzieren. Kaironomie ist sozusagen der Sinn für die Zeitlichkeit des Seins, für die Zeitigungen im Lichte der Gegenwart, die ja die eigentliche Zeit ist, in der wir leben und von der unsere beiden anderen Zeiten – Vergangenheit und Zukunft – abhängen. In Kapitel 7.6 kann ich dann als eines der Ergebnisse dieser Arbeit beschreiben, was wir konkret in Form einer Kunst der Kaironomie tun können. Mit der Kaironomie haben wir letztendlich tatsächlich ein Mittel an der Hand, um (ein Stück weit) Herr der Zeiten (nicht Herr über die Zeiten!) zu werden. In Kapitel 6 wird die Dialogik von Hermann Levin Goldschmidt (1914–1998) im Horizont der Dialogphilosophie behandelt. Da die Dialogphilosophie letztlich eine Frage der offenen Haltung ist, schafft es Goldschmidt in genialer Weise, die Dialogphilosophie mit der Losung Freiheit für den Widerspruch insbesondere für die gegenwärtige Philosophie und Wissenschaft fruchtbar zu machen. Das Kapitel über Goldschmidt steht zu Recht am Schluss, da er mit seinem Ansatz der Tatsache gerecht wird, dass man bei der Frage nach unvoreingenommener Suche nach Wahrheit nur bis zur Beschreibung dieser Haltung der Unvoreingenommenheit kommt. Alles weitere, was also diese unvoreingenommene Wahrheit selbst denn sei, ist das, was in dieser Haltung geschieht. Es ist also gar nicht beschreibbar, denn es muss sich bewähren. 34 Anmerkung: Der Begriff »Welt« wird bis zum Kapitel 5.6 im herkömmlichen Verständnis verwendet. In 5.6 wird die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs eingeführt und von dort ab verwendet und auch ein Maßstab herausgearbeitet, wann »Welt« und Sein deckungsgleich, also eins sind. 34 Hier wird das Problem, das seit Thomas von Aquin als Problem der Glaubenswahrheit bzw. Offenbarungswahrheit und der Erkenntniswahrheit beschrieben wird, von der Dialogphilosophie in ein neues Licht gerückt: Während zwar auch bei Thomas die Erkenntniswahrheit in der praeambula fidei, also im ontologisch zu verstehenden Vorhof der Glaubenswahrheit bleibt (und ihr damit ein geringerer bzw. streng genommen kein Wahrheitswert zukommt), wird bei den Dialogphilosophen darüber hinaus noch das vereinnahmende Potenzial von Erkenntniswahrheiten berücksichtigt. Erkenntniswahrheiten, die im Indikativ stehen, können durch ihren vereinnahmenden und suggerierenden Charakter die Öffnung (in der dialogischen Haltung) gegen33

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Erläuterungen zur Vorgehensweise im Hauptteil

Das Ergebnis-Kapitel 7 behandelt unter anderem die Frage nach dem spezifisch »Dialogischen« und enthält eine Anspruchstheorie der Wahrheit, kommunikationstheoretische Schlussfolgerungen und Betrachtungen und darüber hinaus die Darstellung einer Kunst der Kaironomie zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen. In Kapitel 8 folgt ein Exkurs über die Frage nach dem Phänomen und über den Stellenwert des »Ichs« im Lichte der Dialogphilosophie. Kapitel 9 schließlich bietet einen Ausblick mit der Frage: »Was heißt Zukunft?« Schon das Inhaltsverzeichnis macht den Stellenwert der einzelnen Autoren für diesen Beitrag deutlich: Rosenstock-Huessy kommt hierbei zweifellos eine überragende Stellung unter den Dialogphilosophen zu. Seine grammatischen Beobachtungen brachten den Stein ins Rollen, und seine Soziologie rundete die Dialogphilosophie vorerst ab. Rosenzweigs Stern der Erlösung, vor allem die Stellen, in denen er über die Modi handelt, bildet zusammen mit Ebners Pneumatologie, der das »Du« in die Dialogphilosophie einbrachte, den harten Kern der Dialogphilosophie. Buber kommt mit seinem pädagogischen Ansatz eine Schlüsselrolle zu. Durch ihn erfuhr die Dialogphilosophie Klärung, Problematisierung und Verbreitung. Goldschmidts Dialogik schließlich zielt auf die Praxis des Dialogischen in Wissenschaft und Alltag. Allen Dialogphilosophen gemein ist, dass ihre Rezeptionsgeschichte erst (vielleicht mit Ausnahme von Buber) marginal begonnen hat. Auch vor diesem Hintergrund möchte der folgende Text seinen Beitrag leisten.

über der Offenbarungswahrheit, die im Imperativ steht, durchaus verhindern. Die Goldschmidt’sche Haltung der Dialogik markiert also die genaue Grenze zwischen praeambula fidei und eigentlicher (Glaubens-) Wahrheit: Letztendlich komme ich hinsichtlich der »Offenbarungswahrheit« in der Beschreibung niemals weiter als bis zur Beschreibung einer Haltung der Unvoreingenommenheit (Dialogik). Allerdings »erweitern« Erkenntnisse nicht die praeambula fidei im ontologischen Sinne, sodass sie sich der Offenbarungswahrheit annähern (wie könnte man das auch innerhalb der praeambula fidei wissen?), sondern sie vereinnahmen höchstens und können so durchaus eine Haltung der Unvoreingenommenheit (Dialogik) auch verunmöglichen. »Offenbarungen« offenbaren sich oder eben nicht.

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Teil I: In der Sprache

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2. Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

2.1. Hinführung zur Grammatik: Die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys Unsere Schulgrammatiken lehren uns, verschiedene grammatische Formen zu unterscheiden: Wir lernen, die Verbformen den Personalpronomen zuzuordnen und korrekt zu konjugieren, die Fälle nicht zu verwechseln und die Modi nicht zu vergessen. Dieser Anstrengung unterziehen wir uns in der selbstverständlichen Annahme, dass wir, wenn wir korrekt konjugieren und die Fälle und die Modi richtig gebrauchen, uns jedem verständlich machen können. Wollen wir also etwas auf Deutsch oder Französisch sagen, müssen wir bloß die Formen der Grammatik halbwegs korrekt hintereinanderbauen und jeder versteht uns. Aber warum funktionieren unsere Grammatiken eigentlich so einwandfrei? Wer hat denn entschieden, dass man diesen Satz so und jenen Satz anders formulieren muss? Warum ist die Grammatik ein so globales Phänomen, dass z. B. deutschsprachige Schüler den französischen Subjonctif einwandfrei verstehen und korrekt anwenden können, obwohl dieser im Deutschen als Grammatikform gar nicht vorkommt? Was steht hinter den grammatischen Formen? Dieser Frage wendet sich 1916 Eugen Rosenstock-Huessy in einem Brief an Franz Rosenzweig zu und stellt fest, dass sich die ›Schulgrammatik‹ vor allem damit beschäftigt, das Nebeneinander der sprachlichen Erscheinungswelt in ein (anscheinend) festgefügtes System zu ordnen: Die Schulgrammatik bannt die Oberflächen der sprachlichen Erscheinungen in ihre Konjugationstabellen wie ein Fotograf sein Bild auf den Sensor. Das ist sehr praktisch, denn es erlaubt uns zum Beispiel, mit relativ wenig Aufwand eine neue Sprache zu lernen. Aber Sprache ist nicht bloß ›fotogen‹ : Die grammatischen Erscheinungsformen haben auch eine Bedeutung, die wiederum auf 45 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

den Ursprung der Sprache hinweist. Wie in dieser Arbeit ersichtlich werden wird, lässt sich aus der Grammatik mehr ablesen als die bloße Korrektheit einer Formulierung. Rosenstock-Huessy macht folgende Entdeckung: »Während Logik und Erkenntnistheorie der Kern aller Geisteswissenschaften ist, während die Naturwissenschaft mit der Mathematik steht und fällt, ist Grammatik der Schlüssel, der das Schloß der Seele aufschließt.« 1 Die Schulgrammatik, die wir von den Griechen übernommen haben, bemüht sich redlich darum, das Nebeneinander der sprachlichen Erscheinungen zu ordnen. Ihr geht es um die Systematisierung – was ja aller Ehren wert ist! Darüber hinaus deutet die Grammatik aber auch auf die Sprachströme unserer Seele, moderner ausgedrückt: auf die Intentionen hin. 2 Das berücksichtigen unsere Schulgrammatiken aber nicht: »Die Sprachströme, die ursprünglich aufbrechen in der Seele, sind etwas anderes als ihre Verwertung im täglichen Leben der Menschen.« 3 Philosophen versuchen zumeist, der Seele in logischen Häppchen habhaft zu werden. Psychologen setzen das Ich als erste Person des Verbums. Das entnehmen sie so aus der griechischen Konjugationstabelle, die auch mit »Ich« anfängt. Psychologen scheinen also bereits grammatikhörig zu sein, verfallen aber dem Dogma der überkommenen griechischen Grammatik, die diese Reihenfolge festlegt. Die Seele philosophisch zu materialisieren und die Vernünftigkeit für ihr geheimstes Wunder zu erklären, ist ebenso pervers, wie das Ich als einzig feste Größe zu setzen. Beide Vorgehensweisen rühren von außenstehenden Dogmen her und werden deshalb der Seele nicht gerecht. 4 Wir müssen also aufpassen, dass wir – abgesehen davon, dass die Ordnung der Grammatik für sich ein sinnvolles Unterfangen ist – nicht der Systemsucht von ›Grammatisten‹ verfallen, wovor ähnlich auch schon Wilhelm von Humboldt warnt: »In Absicht der Form selbst aber steht nunmehr der von ihr wirklich gemachte Gebrauch demjenigen gegenüber, der sich aus ihrem blossen Begriff Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 19. Vgl. hierzu auch den »Organismus der Sprachen« bei Wilhelm von Humboldt (Kap. 4.1), der dem Vermögen und Bedürfnis des Menschen zu sprechen (also der Intention, etwas mitzuteilen) entspringt, aber gleichzeitig von der existierenden Sprachgemeinschaft stammt. 3 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 22. 4 Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 20 1 2

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Hinführung zur Grammatik: Die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys

ableiten lässt, was vor der einseitigen Systemsucht bewahrt, in die man nothwendig verfällt, wenn man die Gesetze der wirklich vorhandenen Sprachen nach blossen Begriffen bestimmen will.« 5

Nicht die der Übersicht halber von Grammatikern angelegte Ordnung der grammatischen Formen orientiert uns, sondern der von ihnen gemachte richtige Gebrauch: Die erste Feststellung eines Kindes ist ja, dass es nicht Welt, nicht Mutter oder Vater, nicht Gott, sondern etwas anderes ist. Das Erste, was dem Kind (und jedem Menschen) widerfährt, ist, dass es angeredet wird. Das Kind ist also zuerst ein Du, kein Ich! 6 Die Befehle und Urteile, die von außen kommen, geben uns Selbstbewusstsein: 7 »Etwas anderes oder etwas Besonderes zu sein ist das Grunderlebnis des Ich.« 8 Warum fängt dann aber unsere ›Schulgrammatik‹ mit »Ich« an und nicht mit »Du«? In der Seelenkunde fängt die Grammatik, die in der griechischen Konjugationstabelle mit »Ich« anfängt, mit »Du« an. Ich war Du, bevor ich Ich wurde! Die Schulgrammatik ist also ein Dogma, das zu falschen Rückschlüssen verleiten kann, die weit über den linguistischen Interessenbereich hinausgehen. Sie betreffen das Menschengeschlecht selbst. Die Grammatik ist, wie die Logik auch, 9 ein genuines Element der Sprache, das nicht logisch a priori deduzierbar ist. Die Grammatik ist ein geschichtlich gezeitigtes Gepräge der Sprache. 10 Logik und Grammatik lassen sich nicht stammbaumartig in ihrer (vermeintlichen) Entstehungsgeschichte darstellen, denn wo immer man beginnt, jede logische und jede grammatische Kategorie setzt bei ihrer Darstellung bereits alle anderen logischen und grammatischen Kategorien voraus. Eine stammbaumartige Darstellung ist daher nicht möglich. Deshalb werden wir in diesem Beitrag wie Rosenzweig die Grammatik in »Form der Tabelle« 11 darstellen. Humboldt: Ueber den Dualis, 144. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 20. 7 Anmerkung: Dieser Sachverhalt wird unten im Kontext des Imperativs evident werden, vgl. Kap. 2.5, Kap. 4.4 und den Exkurs in Kap. 7: »Das Ich als Faktum«. 8 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 21. 9 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 49 f. 10 Vgl. Casper: Denken, 110. 11 Die Tabelle rechnet bereits mit der Vollständigkeit aller dargestellten Elemente, während der Stammbaum die einzelnen Elemente sich auseinander entwickeln lässt. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 50. 5 6

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Die metaphysische Unverbindlichkeit der Logik wird heutzutage glücklicherweise weitgehend anerkannt. Die Logik wird in der zeitgenössischen Philosophie eigentlich nur noch genutzt, wofür sie gut ist: Sie schafft Transparenz in der Argumentation. 12 Diese Unverbindlichkeit führt in der zeitgenössischen Metaphysik allerdings zu merkwürdigen Sandkastengefechten unter Logikern, die eigentlich nur akademische Kopfakrobaten interessieren können: Heutzutage streitet man sich gerne über meta-metaphysische Fragen, also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Metaphysik selbst. 13 Die Sprache vermittelt uns das Sein aber nicht nur in ihrer logischen Struktur, sondern vor allem auch in ihrer Grammatik. Indem Sprache geschieht, gesprochen wird, 14 – ereignet sich Wirklichkeit: Es geschieht etwas zu einem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Also, »nicht die Worte sind die Sprache, sondern der Satz« 15. Erst in der gesprochenen Verbindung der Worte wird etwas ausgesagt. Unsere Frage ab Kapitel 2.3 an die Dialogphilosophie ist also, wie sich das Sein genau durch die Sprache darstellt und wie wir als sprachbegabte Wesen zwischen Schein und Sein unterscheiden können.

2.2. Hinführung zum Dialogischen Denken: Franz Rosenzweigs Problematisierung des abendländischen Denkens Franz Rosenzweig, dem die erst 1924 publizierten Überlegungen Rosenstock-Huessys über die Grammatik bereits bei der Abfassung seines Stern der Erlösung (publiziert 1921) im ersten Entwurf vorlagen, 16 widmet sich der fundamentalen Kritik des abendländischen Denkens. Von Ionien bis Jena sei es an einer logizistischen Voreingenommenheit erkrankt: Getrieben vom Willen, das All in aller Klarheit des Denkens zu erfassen, streben Abendländer ein sich selbst Prominentes Beispiel hierfür ist die Einführung von Tetens: Philosophisches Argumentieren. München 2010. 13 Prominentes und lesenswertes Beispiel hierfür: Glock: Ontologie – Gibt’s das wirklich? Paderborn 2001. 14 Über die verschiedenen Dimensionen von Performativität, vor allem auch die über diesen Beitrag hinausgehenden Untersuchungen zur performativen Wirkung der Bilder des »Stern« und des »Kreuzes« vgl. Bauer: Performativität im SprachDenken. 15 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 50. 16 Vgl. Rosenzweig: Das Neue Denken, 441. 12

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Hinführung zum Dialogischen Denken: Franz Rosenzweig

durchsichtiges Denken des Alls an. Dass dies aber fatalerweise die logische Einheit der Welt voraussetzt, nehmen sie, so Rosenzweig, dabei nur allzu gern in Kauf: Als Vorurteil überführen sie diesen Monismus in ihre Weltanschauungen, die ihnen das Maß aller Dinge werden. In Die Elemente oder die Immerwährende Vorwelt, dem ersten Teil seines Sterns, unternimmt Rosenzweig in der Manier eines Advocatus Diaboli die ›Rettung der Philosophie‹ durch ihre »Adabsurdumführung«. 17 In einem Rundumschlag führt Rosenzweig vor, wie die kosmologische Antike, das theologische Mittelalter und die anthropologische Neuzeit versuchen, je nach Bedürfnis und Bedarf alles durch Metalogik auf die Welt, durch Metaphysik auf Gott und durch Metaethik auf den Menschen zurückzuführen, jeweils das eine auf das jeweils andere. »In Wahrheit sind aber diese drei letzten und ersten Gegenstände allen Philosophierens Zwiebeln, die man schälen kann, soviel man will, – man kommt immer wieder nur auf Zwiebelblätter und nicht auf etwas ›ganz andres‹. Nur das Denken gerät notwendig durch die verandernde [sic!] Kraft des Wörtchens ›ist‹ auf jene Irrwege. Die Erfahrung entdeckt im Menschen, so tief sie eindringen mag, immer wieder nur Menschliches, in der Welt nur Weltliches, in Gott nur Göttliches. Und nur in Gott Göttliches, nur in der Welt Weltliches, nur im Menschen Menschliches.« 18

Ein einsichtiges Beispiel ist Hegel, 19 der diesen Totalitätsfetischismus zu seiner letzten und höchsten Implikation treibt: dem Selbstbewusstsein des Wissens. Hegel entlarvt ungewollt die münchhausensche Anmaßung des Abendlandes: Das sich selbst denkende Denken denkt gleichzeitig alles und sich selbst als das Alles-Denkende. Das bedeutet aber: In diesem Denken »kann alles Alles sein.« 20 Die Vernunft der Abendländler weiß also von allem gleichviel: »Nämlich alles und nichts.« 21 Sie ist, mit anderen Worten, willkürlich. Dem so gestalteten abendländischen Denken fehlt Orientierung, weil es sich Rosenzweig: Das Neue Denken, 430. Rosenzweig: Das Neue Denken, 432. 19 Hegels Dialektik ist andererseits aber ein bereits vollzogener erster Schritt von der zweiwertigen Logik, für die es nur wahr oder falsch gibt, in Richtung der Logik der Dialogik: Die Dialektik fordert ein Drittes, welches Hegel durch die ›Aufhebung‹ erreicht, vgl. Grätzel: Versöhnung, 39. Auf die genaue Charakterisierung der Dialogik geht Kap. 6 ein. 20 Casper: Denken, 75. 21 Rosenzweig: Das Neue Denken, 433. 17 18

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nicht in Relation zu anderem setzt. Es steht vor dem Maßstabsproblem, das jeden Monismus herausfordert. Dem Maßstabsproblem möchte ich bereits hier besonderen Nachdruck verleihen, denn es wird im weiteren Verlauf dieses Beitrags zu einem Schlüsselproblem werden: Wenn mir mein Monismus den Maßstab vorgibt, was weiß ich dann eigentlich über das Gemessene? Kierkegaard hat sich mit diesem Maßstabsproblem prominent herumgeschlagen. So lässt er sein Pseudonym Anti-Climacus das Problem folgendermaßen umreißen: »Wie man nur gleichartige Größen addieren kann, so ist ein jedes Ding qualitativ das, womit es gemessen wird; und das, was qualitativ sein Maßstab ist, ist ethisch sein Ziel; und der Maßstab und das Ziel sind qualitativ das, was etwas ist, […] Ziel und Maßstab bleiben so – verurteilend bleiben sie dasselbe, wodurch offenbar gemacht wird, was es ist, was der Mensch nicht ist, das nämlich, was sein Ziel und Maßstab ist.« 22

Das Maßstabsproblem stellt sich also folgendermaßen: Der an etwas angesetzte Maßstab macht die Qualitäten eines Dinges in seinem Lichte sichtbar. Der Maßstab, den wir an ein Ding anlegen, bemisst also – in unseren Augen – seine Qualität. Das kann er nur, weil er sich selbst als qualitativen Gradmesser setzt. Der angesetzte Maßstab diktiert, wie etwas sein soll. Das Ding selbst ist nie der Maßstab, sondern soll diesem genügen: Der Maßstab setzt dem Ding also sein Ziel, weshalb Ziel und Maßstab dasselbe sind. Sind wir Menschen selbst die Erkenntnisobjekte, an die ein Maßstab angelegt wird, zeitigen sich deshalb auch zuweilen recht abstruse Ergebnisse. 23 Überlassen wir die Wahl des Maßstabs unserem Monismus – zum Beispiel weil wir uns nicht vorstellen können, dass die »Welt« unzusammenhängend sein könnte 24 – diktiert die Willkür unseres Bauchgefühls (der jeweilige Ismus) mit bestem Wissen und Gewissen unser Weltbild. Mit Heidegger’schem Spürsinn (und sechs Jahre vor Heideggers weltweit rezipiertem Sein und Zeit) attestiert Rosenzweig dem abendländischen Denken eine solche weltanschauliche Krankheit: Zeit spielt im abendländischen Streben nach ewigen Wahrheiten keine Rolle! Das Abendland liegt sich an der »Ewigkeit« wund und muss

22 23 24

Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 112. Siehe hierzu unten den Exkurs in Kap. 7: »Das Ich als Faktum«. Siehe hierzu Kap. 5.5.

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gewendet werden! 25 Deshalb auch der Titel des ersten Bands des Sterns der Erlösung: Die Elemente oder die Immerwährende Vorwelt. Rosenzweig führt vor, wie die Philosophiegeschichte dem Fetisch der logischen Einheit des Alls im Indikativ huldigt. Sie befüllt den Satz »alles ist« mit immer neuen Inhalten, sodass sie darüber die eigentlich interessante Frage nach Wahrheit vergisst. Aber wie kommt die Philosophie darauf? Rosenzweig bemerkt diesbezüglich spitzbübisch: »So staunt der Mensch. Er steht wohl stille – Staunen heißt: Stillestehn. Aber er bleibt nicht stehen. Der Fluss des Lebens nimmt ihn selbst mitsamt seinem Staunen auf den Rücken und trägt ihn weiter. Er braucht nur zu warten, nur weiterzuleben, so wird sich ihm die Starrheit seines Staunens lösen. Anders das Staunen der Philosophen. Der Philosoph kann es nicht erwarten. Sein Staunen ist kein andres als das Staunen des gemeinen Menschen. Aber nun lässt er’s nicht zu der Lösung der Starrheit kommen, die das Leben bringen wird. Sie dauert ihm zu lange. Er will die Lösung heute, am Tag, wo ihm die Erstarrung geschehen ist, und will sie hier, am Ort, wo er steht. Er bleibt bei seinem Stillstand stehen. Er schaltet diesen seinen Stillstand, dies Ereignis seines Staunens aus dem weiterfließenden Fluss seines Lebens aus. Er denkt nach. Und da er den natürlichen Löser aller Stauungen, alles aufgestauten Staunens, den Fortfluss des Lebens seitab geleitet hat, da er, statt weiter zu denken – was man nur kann, wenn man weiter lebt – anfängt ›nach‹ zu denken. So bleibt ihm nun nichts andres übrig als – an der Stelle, wo er steht – sich einzubohren in das ›Problem‹, in den aus dem Fluss des Lebens herausgenommenen ›Vorwurf‹ und ›Gegenstand‹ des Denkens.« 26

Staunend steht der abendländische Denker also neben sich und kann die Antwort nicht erwarten: Sie muss ihm an Ort und Stelle kommen. Der ›gesunde‹ Menschenverstand des philosophischen Laien lässt ihn mit der Zeit wieder in den ›Fluss des Lebens‹ treiben. Der Berufsphilosoph aber ist betriebsblind: Dadurch, dass er sein Staunen ›professionalisiert‹, bleibt er in diesem Stillstand gefangen. Sein Verstand ›erkrankt‹. »Die Antwort geht nun, da ihr in die Länge zu gehen keine Zeit gelassen wird, in die Tiefe; und aus der Tiefe, aus dem was unter dem Gegenstand steht, muss ihr die Antwort kommen. Was aber unter dem Gegenstand steht, ist die Sub-stanz. Nach ihr, nach dem ›Wesen‹, dem ›eigentlichen‹ 25 26

Vgl. hierfür die in Kap. 5.1 skizzierte Begriffsgeschichte von »Zeit«. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 27 f.

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Sein des Gegenstands fragt der Philosoph. […] Der künstlichen Zeitlosigkeit der ›Was-ist‹-Frage antwortet die gegenüber solcher Frage nun nicht mehr widernatürliche und doch an sich nur auf dem Grunde jener widernatürlichen Frage mögliche Antwort: ›das Wesen‹.« 27

Da der Philosoph eine voreingenommene Frage (in künstlicher Zeitlosigkeit) stellt, erhält er eine entsprechende Antwort: »Der gesunde Menschenverstand vertraut dem Wirklichen und seinem Wirken. Der Philosoph zieht sich misstrauisch vor dem fortwirkenden Wirklichen in den geschützten Zauberkreis seines Staunens zurück und versenkt sich in die Tiefe des Eigentlichen. Hier kann ihn nichts mehr aufstören.« 28

Wer also meint, Fragen schade ja niemandem, der sei hier eines Besseren belehrt: Eine falsch gestellte Frage kann entsprechende Antworten provozieren. Auch für unschuldiges Fragen gilt: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Wir müssen also, um dieser Gefahr vorzubeugen, von der immerwährenden Vorwelt zur die Zeit berücksichtigenden allzeiterneuerten Welt vordringen. Die Grammatik entzieht uns dem abendländischen Totalitätsdenken und dringt zur Zeitlichkeit des Seins vor. Dies ist das Thema des zweiten Bands des Sterns, dessen grammatische Beobachtungen Thema des folgenden Kapitels sind. Anders als der späte Heidegger möchte Rosenzweig nicht nur die »Geschichte der Metaphysik […] erinnern als eine solche, in der das Sein vergessen worden ist«. 29 Rosenzweigs Ernstnehmen der Grammatik nimmt uns mit auf Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt. 30 Phänomenologisch, also rein fragend hin- und zuschauend, sich jeder Voraussetzung enthaltend, unternimmt Rosenzweig den Neuanfang. Er orientiert sich erst einmal am gegenwärtigen Geschehen, an dem, was sich offenbart. Das Sein prägt so das Denken und nicht umgekehrt das Denken das Sein (wie es Rosenzweig der abendländischen Philosophie ja unterstellt). Es ist der ausschließliche Fokus auf das »Wesen« von etwas, der uns zeitvergessen macht, wie Kierkegaards Pseudonym Virgilius Haufniensis erklärt: »Wesen ist, was ist gewesen; ist gewesen ist ein

27 28 29 30

Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 28 f. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 29. Dober: Verwindung der Metaphysik, 213. So der Titel des zweiten Bandes des Stern der Erlösung.

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Wie Sein sich in der Sprache niederschlägt – Die Wortarten und ihr Charakter

tempus praeteritum von sein, ergo ist Wesen das aufgehobene Sein, das Sein, das gewesen ist. Dies ist eine logische Bewegung.« 31 Fragen wir immer bloß nach dem »Wesen« von etwas, wringen wir die Zeit aus dem Seienden wie Wasser aus einem nassen Lappen, bis die Zeit ganz in Vergessenheit gerät: Wir verbleiben also in der immerwährenden Vorwelt. Rosenzweig geht es nicht darum, feste Begriffe von Dingen zu entwickeln, sondern viel mehr darum, festgefahrene Begriffe in das Wie ihres Geschehens wieder hineinzulösen: Wie bei einem Historiker, dem sich ein Begriff in seiner Wirklichkeit (eigentlich seiner Verwirklichung) auflöst, liegt das Interesse von Rosenzweig nicht auf dem Substantiv (dem Substanzwort), sondern auf dem Verbum (dem Zeitwort): »Die Zeit nämlich wird ihm ganz wirklich. Nicht in ihr geschieht, was geschieht, sondern sie, sie selber geschieht.« 32 Das Sein, das dem Menschen systematisch nicht greifbar ist, ereignet sich so trotzdem vor seinen Augen: »kommt Zeit, kommt Rat«, fasst Rosenzweig »die ganze Weisheit der neuen Philosophie« als »›Methode‹ des gesunden Menschenverstands« etwas flapsig zusammen. 33

2.3. Wie Sein sich in der Sprache niederschlägt – Die Wortarten und ihr Charakter In diesem Kapitel wird beschrieben, wie sich etwas grammatikalisch in der Sprache manifestiert, wobei hier der zweite Teil – Die Bahn oder die Allzeiterneuerte Welt – in Rosenzweigs Stern der Erlösung dargestellt und interpretiert wird. Das Ziel dieses Teils ist es, ein Kriterium zu finden, um zwischen Sein und Schein unterscheiden zu können. Dieses werden wir in den Modi des Verbs, also im Indikativ, Imperativ, Konjunktiv und Kohortativ finden.

31 32 33

Kierkegaard: Der Begriff der Angst, 450 (Fußnote 1). Rosenzweig: Das Neue Denken, 437. Alle drei: Rosenzweig: Das Neue Denken, 437.

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2.3.1. Das Adjektiv – Bezeichnung der reinen Eigenschaft Indem ich spreche – und es ist völlig gleichgültig, was ich sage –, geschieht etwas. Jedes Wort wird, indem es ausgesprochen wird, in seinem Dasein bestätigt. Ich sage »Hund« oder ich sage »Haus« und bestätige damit erst einmal, dass überhaupt etwas gesagt wird. Hinter jedem hörbaren Wort, das gesprochen wird, schwingt also ein unhörbares »Ja«, das Ur-Ja, mit. 34 Mit dem Ur-Ja liefert uns die Sprache, wenn wir sprechen, eine Bestätigung des Sprechens selbst: unser erstes Gegebenes. 35 Wie drückt sich diese unhörbare Bestätigung aber hörbar aus? Während ich spreche, bestätigt mir das Ur-Ja in jedem Moment: »So ist es«, im nächsten Moment »So ist es« etc.: »Die Bejahung stellt ein So frei ins Unendliche hin.« 36 Das So beantwortet die Frage nach dem Wie in jedem einzelnen Moment neu, solange ich spreche. Das Wie fragt aber nach dem »Adjektiv und zwar nach einem Adjektiv in der grammatischen Form, wo es nur Adjektiv, nur Aussage und sonst nichts sein kann«. 37 Nur Aussage und sonst nichts ist das Adjektiv aber in Form des Prädikats: 38 »Prädikativum ist also die spezifische Gestalt des Adjektivs, und […] die zum Ur-Ja gehörige Wortform.« 39 An diesem Umschlagpunkt des unhörbaren Ur-Ja zum hörbaren Stammwort So wird Grammatik erstmals nach außen sichtbar. Denn das Stammwort So, das in jedem Moment ausgesprochen wird, verlangt den Zusammenschluss in einem Prädikativum, einem Satzteil. Hier befinden wir uns bereits im Bereich einer grammatischen Kategorie im herkömmlichen Sinne. Die Grammatik beginnt somit, wo sich ein bestätigtes Etwas (also ein Seiendes) irgendwie in der Sprache niederschlägt. Diesem sich Niederschlagen von Seiendem können wir an diesem Umschlagpunkt zuschauen. Vom Stammwort So kommen wir sofort auf die Wortart, der es angehört: auf das Adjektiv. »Es faßt das So schlechthin, ohne zunächst Rücksicht zu nehmen auf einen Träger, auf Beziehungen, auf Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 1, 38. Vgl. Fricke: Rosenzweigs Philosophie, 107 f. 36 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 50. 37 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 50 f. 38 Prädikat darf hier nicht mit Attribut o. ä. verwechselt werden. Es handelt sich hier um die grammatische Funktion, die das Verb im Satz hat. Bereits hier wird der zentrale Stellenwert des Verbums angedeutet, unten noch weiter ausgeführt. 39 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 51. 34 35

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Wie Sein sich in der Sprache niederschlägt – Die Wortarten und ihr Charakter

Ursprünge.« 40 Das Adjektiv bezeichnet die einfache, reine Eigenschaft, ohne das zu Grunde liegende Ding zu berücksichtigen. Jede Vergleichung, Steigerung, Verabsolutierung etc. wird erst möglich, wenn die Eigenschaft zur Eigenschaft eines Dings geworden ist. Die Eigenschaft selbst ist zunächst einfache Bejahung. »Für sich ist die Eigenschaft einzeln, unvergleichbar, einfache Bejahung, – ›Positiv‹.« 41

2.3.2. Die Kasus des Substantivs – Beziehung zwischen Subjekt und Objekt Aber die Eigenschaft weist auf ihren Träger, das Ding, hin: Dies. »Das Fürwort ist so viel mehr Vor- als Fürwort; es bezeichnet nicht das schon erkannte Ding, sondern das Ding, solange es nicht erkannt und benannt, bloß in seinen Eigenschaften wahrgenommen ist.« 42 Das Hinzeigen Dies drückt bloß aus, dass im Hier ein Etwas zu suchen (und nicht schon gefunden) sei. Hiermit ist der Raum als allgemeine Bedingung gesetzt. Erst der unbestimmte Artikel bestimmt dieses Was als einen Vertreter einer Gattung und der bestimmte zeigt schließlich an, dass dieser Prozess vollzogen sei: Das Ding ist als Einzelnes erkannt. 43 Ist das Ding aber wirklich als Einzelnes erkannt? Der Wirklichkeit der Eigenschaften war es ja bloß dunkle Abstraktion und nur als Vertreter einer Gattung erkannt. Um wirklich als Individuum, also Vertreter der Gattung, erkannt zu werden, muss es sich als Glied einer Mehrheit erst legitimieren: »Erst die Vielheit gibt allen ihren Gliedern das Recht, sich als Individuen, als Einzelheiten zu fühlen; sind sie es nicht an sich, wie das im Eigennamen bezeichnete singulare Individuum, so doch gegenüber der Vielheit.« 44

Erst als Individuum, als Vertreter dieser bestimmten Gattung ist es als Einzelnes erkannt (zum Sonderfall der Singularitätsqualität eines mit Eigennamen Bezeichneten kommen wir unten noch). »Das einzelne, durch den bestimmten Artikel festgelegte Ding kann nun also endlich mit Ruhe als Gegenstand bezeichnet werden. Es ›steht‹ jetzt 40 41 42 43 44

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 51 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 52. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 52. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 52 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. 2, 53.

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auf eigenen Füßen einem etwaigen Schöpfer ›gegen‹-über da, ein bestimmtes, bejahtes Ding im unendlichen Raum des Erkennens oder der Schöpfung.« 45

Diese Vergegenständlichung schlägt sich auch im Satz nieder: Der in sich ruhende Gegenstand, von dem nichts ausgeht (dazu müsste er sich ja selbst verneinen) bekommt seine Stelle im Satz, als Objekt. Nur als Objekt durchwandert das Ding die Fälle. Die Fälle drücken die verschiedenen Arten des Bezogenseins des Subjekts zum Objekt und des Objekts zum Subjekt aus. Den Gegenstand markiert normalerweise der Akkusativ. Ausnahme ist der Passivsatz, in dem das Objekt im Nominativ steht. Hierfür hat Rosenzweig zwei Erklärungen: Entweder ist (1.) der Nominativ im Passivsatz ein »verkappter Akkusativ« 46 oder (2.) das Subjekt des Satzes verhüllt seine Benennung noch in der Form des Objekts: D. h. der ›objektive‹ Rahmen, der das Objekt als Vertreter der Gattung markiert, wurde eigentlich schon gesprengt, indem das Ding einen Eigennamen bekommt und so eine eigene Gattung bildet (wie unten genauer dargestellt wird), aber noch verhüllt durch den Nominativ. 47 Der Genitiv markiert ein Besitzverhältnis sowohl zum Nominativ als auch zum Akkusativ: Beide gehen ein Stück weit in den Genitiv ein, sodass auch Subjekt und Objekt zusammentreten. Den SubjektObjekt-Bezug aber, in dem beide sie selbst bleiben, markiert der Dativ, die Form des Schenkens, Dankens, der Hingegebenheit und des Hinstrebens. 48 Auf diese Unterscheidung zwischen Genitiv und Dativ werden wir unten noch einige Male zurückkommen. Die genaue ontologische Bedeutung der Fälle wird in Kapitel 2.4 im Kontext mit Ferdinand Ebners Denken erörtert.

2.3.3. Das Verb und das Geschehen Oben wurde beschrieben, wie das stumme Ur-Ja hörbar die Eigenschaft So hervorbringt. »Aber im Ja steckt nicht bloß das So, sondern auch schon das Daß.« 49 Das Prädikat gibt ja die grammatische Funk45 46 47 48 49

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 53. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 53. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 53. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 53. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 54.

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tion des Verbs an, sodass es eine Eigenschaft des Subjekts oder Objekts beschreibt. »Die Kopula ›sein‹ steckt in jeder bejahten Eigenschaft […].« 50 Das Ur-Ja antwortet ja nicht nur auf die Frage nach dem Wie mit So, sondern bejaht gleichzeitig in jedem Moment des Sprechens das Ob, mit: Dass. In jedem Moment bringt das Ur-Ja zugleich ein So, aber auch ein Dass hervor. »Die Dinge sind ja in Bewegung; auch die Bewegung und mit ihr ihre überdingliche Voraussetzung, die Zeit, und die Umstände und Formen, in denen die Bewegung geschieht – diese alle sind in der Kopula ›sein‹ mit der ursprünglich allein bejahten Eigenschaft verbunden.« 51 Das unterscheidet die Dinge von den in sich ruhenden Gegenständen: Die Dinge sind in Bewegung und Bewegung geschieht. Diese Beschreibung des Zusammenhangs von Sprechen und Sein erinnert stark an Wilhelm von Humboldt. Auch Casper sieht eine mögliche Verwandtschaft zwischen Rosenzweigs »Ur-ja« und Humboldts Ansatz des Sprachgeschehens. 52 Humboldt misst dem Verb nämliche eine ähnliche Bedeutung bei wie Rosenzweig: »Jedes logische Urtheil kann, als der Ausspruch der Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung zweier Begriffe, als eine mathematische Gleichung angesehen werden. Diese ursprüngliche Form des Gedanken bekleidet die Sprache mit der ihrigen, indem sie die beiden Begriffe synthetisch verbindet, den einen, als die Eigenschaft des andren, vermöge des flectirten Verbum, das dadurch zum Mittelpunkt der Sprache wird, wirklich setzt.« 53

Urteile können als mathematische Gleichungen dargestellt werden und liegen tot nebeneinander. Nur das Verb in seiner grammatischen Funktion verbindet den tot daliegenden Stoff: »Das Verb macht damit aus der mathematischen Grundform des Urteils (Rom = Brennen) ein Drama mit handelnden Personen (Prosopopoee): ›Rom brennt‹.« 54 Das Verb unterscheidet sich von allen anderen Redeteilen dadurch, dass ihm der Akt des synthetischen Setzens als grammatische Funk-

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 54. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 54. 52 Vgl. Casper 2002, 111. 53 Humboldt: Ueber den grammatischen Bau der Chinesischen Sprache, 129. 54 Trabant: Über die Sprache, 258: »Dieser Gedanke Humboldts ist in der modernen Linguistik von der Dependenzgrammatik wiederentdeckt worden, die bei der Satzbeschreibung von der dramatischen Mittelpunktfunktion des Verbs ausgeht, das »Aktanten« synthetisch an sein »dramatisches« Potential bindet […].« 50 51

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tion zukommt: »Der Gedanke, wenn man sich so sinnlich ausdrücken könnte, verläßt durch das Verbum seine innre Wohnstätte und tritt in die Wirklichkeit über.« 55 Auch die Unterscheidung zwischen Kopula und Verb findet sich bereits bei Humboldt: Kopula und Verbum leisten nämlich die Verbindung und Trennung der Begriffe: Die Kopula auf dem Gebiete der Möglichkeit (sie zielt auf absolutes Sein) und das Verbum in bestimmten Momenten des wirklichen Seins. 56 Im Rosenzweig’schen »Ur-ja« steckt die Kopula sein, die das ob? mit daß! beantwortet und das so erzwingt, das dann vom Prädikat bezeichnet wird. Die Verbindung, die zwischen Adjektiv (siehe oben!) und Verb geschieht, hat ihren Niederschlag zum Beispiel in späten Stadien der Sprachentwicklung: im Partizip. »Die Tätigkeit wird hier als Eigenschaft gefaßt und nur durch die Kopula, also nur durch die allgemeine Bezeichnung als seiend, in ihrem Verhältnis zur Zeit, zu den bestimmten Dingen und zur Wirklichkeit überhaupt festgelegt.« 57 Das Partizip, das das vollentwickelte Verb schon voraussetzt, markiert also die Eigenschaft als seiend und setzt sie – in ihrem Verhältnis zur Zeit und zu den bestimmten Dingen – ganz allgemein in die Wirklichkeit. »Für das Verb selbst geschieht die einfache Bejahung, noch nicht seines Daß zwar, aber seines Was, in einer anderen grammatikalischen Form, dem Infinitiv.« 58 Der Infinitiv verweist völlig unkonkret auf einen Vorgang noch ohne Rücksicht auf die konkreten Dinge der Welt. Der Infinitiv markiert also ganz allgemein und unkonkret ein Verhältnis zur Zeit. Die Bewegung wird einfach in ihrer Tatsächlichkeit hingestellt und erscheint selbst als ein Seiendes, »gewissermaßen als Ding unter den Dingen.« 59

55 56 57 58 59

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 169. Vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 147 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 54. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 54. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 550.

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Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus

2.4. Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus Ferdinand Ebner ist es mit Hilfe der Fälle gelungen, die Qualität der Beziehung zwischen Ich und Du bzw. Ich und Es genau zu beschreiben. Diese Beziehungsqualitäten werden schon erste Hinweise auf ontologische Konsequenzen geben, die im Zusammenhang mit den Erörterungen zu den Modi des Verbs in Kapitel 2.5 manifest werden. Dass sich in den Flexionen und Beugungen (im Deutschen also Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus, Kasus, Stärkeflexion – bei Adjektiven – sowie Komparationsstufen) Beziehungsqualitäten ausdrücken, 60 wird bereits von Wilhelm von Humboldt beschrieben. 61 Denn, so Humboldt, der Geist verlange von der Sprache Transparenz hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Gegenstand (Logik) und Form (Grammatik). 62 Was kommt in den Fällen also genau zum Ausdruck? »Im Nominativ empfängt eine Person, in der Folge ein Ding den Namen. Namennennung im Anruf und in der Ansprache ist der Vokativ, die Nominalisierung der zweiten Person, die Substantivierung des Du. Im Genetiv kommt in erster Linie das Haben, aber auch das Moment des Erzeugens, im Dativ das Begehren, also Habenwollen, und Empfangen zum Ausdruck. Im Akkusativ wird der Bewegung, Tätigkeit ein Ziel gegeben, er bezeichnet gleichsam das eigentliche und ursprüngliche Objekt. Der Ablativ und wohl auch der Instrumentalis und Lokativ des Sanskrit scheinen nicht wie die anderen Fälle eine besondere tiefere Bedeutung zu haben.« 63

Im Nominativ empfängt also etwas seinen Namen, und zwar in der Anredeform, im Vokativ: »Das Personalpronomen der zweiten Person hat wesentlich den Sinn des Vokativs, insbesondere im ersten Fall, der ja nichts anderes ist als ein Vokativ.« 64 Ein Name wird auf das zu Benennende hinweisend vergeben und das bedeutet: »Das Ich

Wie das Beispiel der Chinesischen Sprachen beweist, welche die Gedankenverbindungen nicht nach grammatischen Kategorien bezeichnen, können die grammatische Beziehungen auch »unter der Hand«, also in einer Sprache nicht explizit sein. Vgl. Humboldt: Ueber den grammatischen Bau der Chinesischen Sprache, 126 und Kapitel 4.4. 61 Vgl. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 72. 62 Vgl. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 76. 63 Ebner: Pneumatologie, 128. 64 Ebner: Pneumatologie, 130. 60

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

im Nominativ ist innerlich dem Du erschlossen.« 65 Der Namensgebung wohnt eine besondere Kraft inne: »Es ist nichts anderes als eine geheime Ehrfurcht vor dem Geist der Sprache, was den Menschen abhält, einmal geschaffene Namen willkürlich außer Gebrauch und andere an ihre Stelle zu setzen. […] Jede neue Namengebung ist ein geistiges Wagnis.« 66 Die Bedeutung des Namens und der Benennung ist ein zentrales Charakteristikum für die Dialogphilosophie. Wir werden im weiteren Verlauf des Textes immer wieder darauf zurückkommen. Ein Alleinstellungsmerkmal der Dialogphilosophie ist auch, dass sie die Bedeutung des Namens herausarbeitet und ernsthaft miteinbezieht. Es handelt sich hier nicht um die Position des Nominalismus, welcher der Vorstellung anhängt, dass ein zunächst namenloser Gegenstand mit einem Namen versehen wird, wie Grätzel diese Position charakterisiert: »Demnach gibt es das Objekt schon vorsprachlich, der Name kommt nur hinzu oder wird dem Objekt wie ein Etikett ›aufgeklebt‹.« 67 Hierbei handelt es sich nicht um ein geistiges Wagnis! In Bezug auf den Nominalismus ist Wittgenstein absolut beizupflichten, wenn er hervorhebt, dass Namen ja austauschbar seien und wir ohnehin Benanntes hinweisend näher erklären müssten. 68 Die Funktion von Namen und der Akt der Benennung sind ein zentrales Moment der Dialogphilosophie. Wie im weiteren Verlauf noch herausgearbeitet wird, hängt damit nämlich einiges mit zusammen: • Namen identifizieren das Benannte. Erst durch die Benennung erscheinen benannte Gegenstände als solche: »Die Besonderheit als solche wird erst durch den Namen festgestellt.« 69 • Namen erzwingen vom Benannten eine Antwort. • Namen sind Verheißungen: Man muss seinem Namen gerecht werden. • Namen sind Brücken, sie vereinzeln und binden das einzelne Benannte in seinen Kontext: »die Bindung an sich, zum Anderen und zur Welt.« 70 65 66 67 68 69 70

Ebner: Pneumatologie, 134. Ebner: Pneumatologie, 130. Grätzel: Versöhnung, 67. Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 30 ff. Grätzel: Versöhnung, 67. Grätzel: Versöhnung, 68.

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Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus

Zur angesprochenen und mit Namen benannten Person wird das Ich also immer vom anderen Menschen aus und niemals aus sich selbst heraus. 71 »Wie könnte das Ich sich selber anrufen und ansprechen?« 72 Sich-selbst-heißen bedeutet bloß sich-selbst-zu-etwas-erklären: Man ist dann nicht derjenige, für den man sich erklärt, sondern man hat sich einen Künstlernamen zugelegt, der den ontologischen Wert eines Avatars hat. Im Selbstgespräch reden wir uns selbst zwar an, allerdings bloß als »Fiktion einer angesprochenen Person, zumindest einer, vor der man spricht.« 73 Wer im Ernst zu sich selbst spricht, ist wahnsinnig. Wer sich aus ›Selbstliebe‹ zum Du macht, macht sich eigentlich nicht zum »Du«, sondern in seiner Icheinsamkeit und Duverschlossenheit bloß zum Objekt. Das Ich kann sich nicht zum Du machen. 74 Aber warum kann das Ich sich nicht selbst zum Du machen? Das liegt an der Qualität dieser Beziehung zu sich selbst: Wenn das Ich sich nämlich auf sich selbst bezieht, fällt es vom Nominativ in den obliquen Kasus ab. Das Ich, das den obliquen Kasus bildet, ändert auch sein Verhältnis zu sich selbst: »Das Ich spricht sich nicht nur wie im Nominativ aus – und setzt sich dadurch, das Du gleichsam suchend, an- und hervorrufend, zu diesem in ein Verhältnis –; es bezieht sich vielmehr […] ›objektiv‹ auf sich selbst […].« 75 Das Ich bezieht sich auf sich selbst, aber nicht als Du, sondern als Objekt. Diese Verobjektivierung seiner selbst geschieht auf drei Arten: • Im Mich, dem Akkusativ als Ziel der Bewegung: »das Ich dreht die innere ›Bewegung‹ des ›Satzes‹, die ja auf das Verhältnis zum Du hingeht, einfach um und bezieht sich statt auf das Du auf sich selbst […].« 76 • Im Mir, dem Ausdruck des Habenwollens. • Im Mein, der Behauptung des Habens und des Auf-irgendetwas-ein-Recht-des-Besitzes-Habens. 77 Vgl. Ebner: Pneumatologie, 131. Ebner: Pneumatologie, 130. 73 Ebner: Pneumatologie, 130. 74 Vgl. Ebner: Pneumatologie, 131. 75 Ebner: Pneumatologie, 133. 76 Ebner: Pneumatologie, 133. 77 Neben der grammatischen Erklärung dieser Selbstbezogenheit mit dem obliquen Kasus stellt Ebner auch etymologische Überlegungen zur Tonalität der Sprache an, konkret hier zur Bedeutung des m-Lautes. Als ontologische Begründung scheint mir 71 72

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

»Das Ich im Mein-Mir-Mich, worin es sich selbst zum Objekt und Ziel wird, verschließt sich vor dem Du. […] Die Bildung des obliquen Kasus der ersten Person ist […] der wortgewordene Ausdruck der Icheinsamkeit der menschlichen Existenz.« 78

Kein Wunder also, dass dieses ›dialogische‹ Moment ein charakteristischer Wesenszug der Sprache ist. Als solchen hat ihn auch Wilhelm von Humboldt bereits ausgemacht: »Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurückkehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich. Ohne daher irgend auf die Mitteilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine notwendige Bedingung des Denkens des einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an andren versuchend geprüft hat.« 79

Denken in Icheinsamkeit ist also unmöglich: Der Mensch versteht sich selbst nur, indem er sich anderen verständlich zu machen versucht. Bringen wir diese beiden Ich-Beziehungen im Nominativ und obliquen Kasus in Relation zueinander, wird klar: »Das wirkliche Ich existiert dadurch, daß und worin es sich zum Du hinbewegt: nicht im sich selber gebärenden und wieder verschlingenden Gedanken in seiner Icheinsamkeit, in welchem es sich selber denkt; sondern subjektiv in der Liebe – in der seine innere Wirklichkeit des ›Ich will‹ Richtung und Sinn empfängt und von der das intelligible Ich der Ethiker nichts weiß –, objektiv aber nicht anders als im Wort, nicht dadurch, daß es sich denkt, sondern daß es sich ausspricht.« 80

diese Vorgehensweise etwas willkürlich, aber als tatsächliche Korrespondenz zwischen Grammatik und Etymologie in diesem Falle doch bemerkenswert zu sein. Ebners These: Die spezifische Wortwurzel des obliquen Kasus »me« (Mein-Mir-Mich) impliziere eine egoistische Tendenz, da beim »me«-Sprechen die Lippenbewegung des Saugens Habenwollen und Begehren anzeigen würden. Im Kasus rectus vollzieht die Lippenbewegung durch die Wurzel »D« (Du-Dir-Dich) die entgegengesetzte Lippenbewegung. Ebner legt nahe, dass sich von diesen jeweiligen Lippenbewegungen auf die Haltung des Sprechers schließen lasse; vgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 79 f. 78 Ebner: Pneumatologie. 134. 79 Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 48. 80 Ebner: Pneumatologie, 126.

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Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus

Indem das Ich sich also ausspricht, bewegt es sich aus seiner Icheinsamkeit und Dulosigkeit heraus zum Du hin »und wird in einem tieferen Sinne wirklich.« 81 Das Ich des Menschen ist also auf sein Verhältnis zum Du angelegt: 82 Der Nominativ wird durch den Vokativ provoziert, »aber erst durch das Ich realisiert.« 83 Das, im Rosenzweig’schen Sinne gesprochen, Offensein für den Imperativ der Offenbarung, um das es in Kapitel 2.5 geht, manifestiert sich im Menschen durch eine Du-Erschlossenheit seines Ichs im Nominativ. Die Du-Offenheit des in den obliquen Kasus abgefallenen Ichs ist abgeschnitten von der Welt und lässt nur, wie die folgenden Kapitel darlegen, Vergangenes wieder hervorholen.

2.4.1. Exkurs: Ferdinand Ebners Suche nach Wahrheit in der Beziehung zu Gott Der philosophische Laie und Autodidakt Ferdinand Ebner dringt ganz eigenständig und unabhängig von Franz Rosenzweig zur Dialogphilosophie vor. Er bringt seinen originellen Grundgedanken der Dialogphilosophie konzise auf den Punkt, sodass ich diesen längeren Abschnitt einleitend vollständig wiedergebe: »Vorausgesetzt, daß die menschliche Existenz in ihrem Kern überhaupt eine geistige, das heißt eine in ihrer natürlichen Behauptung im Ablauf des Weltgeschehens sich nicht erschöpfende Bedeutung hat; vorausgesetzt, daß man anders als im Sinne einer poetisch oder auch metaphysisch gemeinten oder gar nur aus ›sozialen‹ Gründen gebotenen Fiktion von etwas Geistigem im Menschen sprechen darf: so ist dieses wesentlich dadurch bestimmt, daß es vom Grund aus angelegt ist auf ein Verhältnis zu etwas Geistigem außer ihm, durch das es und in dem es existiert. Ein Ausdruck, und zwar eben der ›objektiv‹ faßbare und darum einer objektiven Erkenntnis zugängliche Ausdruck des Angelegtseins auf eine derartige Beziehung ist in der Tatsache zu finden, daß der Mensch ein sprechendes Wesen ist, daß er das ›Wort hat‹. Das Wort jedoch hat er nicht aus natürlichen und aber auch nicht aus sozialen Gründen. Sozietät im menschlichen Sinne ist nicht die Voraussetzung der Sprache, sondern hat selbst vielmehr diese, das in den Menschen gelegte Wort, zur Voraussetzung ihres Bestandes. Wenn wir nun, um ein Wort dafür zu haben, dieses Geistige im Menschen Ich nennen, außer ihm aber, zu dem

81 82 83

Ebner: Pneumatologie, 126. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 32. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 74.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

im Verhältnis das ›Ich‹ existiert, Du, so haben wir zu bedenken, daß dieses Ich und dieses Du uns eben durch das Wort und in ihm in seiner ›Innerlichkeit‹ gegeben sind; nicht jedoch als ›leere‹ Wörter, denen kein Bezughaben auf eine Realität innewohnte – als was sie freilich in ihrem abstrakten, substantivierten und substantialisierten Gebrauche bereits erscheinen –, vielmehr als Wort, das in der Konkretheit und Aktualität seines Ausgesprochenwerdens in der durch das Sprechen geschaffenen Situation seinen ›Inhalt‹ und Realitätsgehalt ›redupliziert‹. Das ist in Kürze der Grundgedanke.« 84

Die Ausgangslage, die Ebner hier unter theoretischem Vorbehalt formuliert, ist also folgende: • Etwas im Menschen, Ebner nennt es das Geistige, bezieht den Menschen auf etwas außer ihm, durch das es ist. Dieser Sachverhalt manifestiert sich im Menschen darin, dass er ein sprechendes Wesen ist. • Wir wissen nicht, warum der Mensch sprachmächtig ist, nur dass er es ist. Naturwissenschaftliche oder metaphysische Erklärungsversuche scheinen jedoch nicht umfassend genug zu sein. Wir wissen nur, dass der Mensch ›das Wort hat‹. • Die Bezogenheit des Menschen bringt zwei Pole hervor: Das Ich in seinem Inneren und das Du, 85 auf das sich das Ich im Äußeren bezieht. Wir wissen von der Existenz dieser Pole nur im konkreten Moment des Bezogenseins. Von einem Ich oder Du als metaphysischer Substanz oder gar anthropologischer Instanz wissen wir nichts. • Das gesprochene Wort, mit seinem Bedeutungsgehalt, schafft im Moment des Sprechens eine Situation der Performanz, in der Wortbedeutung und Wahrheit in eine konkrete Relation zueinander kommen: Der Wahrheitswert des Wortes selbst hängt nach wie vor vom Wahrheitsanspruch ab, den es mitbringt. Der Akt des Sprechens selbst aber bringt für die Dauer des Sprechens, die Existenz des Wortes selber in die Wirklichkeit. Inhalt und Realitätsgehalt reduplizieren sich. Grätzel erläutert diesen Sachverhalt folgendermaßen:

Ebner: Pneumatologie, 10 f. Ebner ist der Erste der Dialogphilosophen, der das »Du« einführt. Buber nahm es an zentraler Stelle auf, sodass es zum bedeutenden Terminus in der Dialogphilosophie wurde.

84 85

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Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus

»Die Errungenschaften des Dialogischen Denkens liegen zunächst in der Einführung des Du in das philosophische Denken. Das Du ist kein anderes oder zweites Ich, es ist das duale Gegenstück, ohne das kein Ich Ich sein kann. Außerdem geht das Du allem Ich voran. Seine Primordialität geht aus der Sprache hervor, das über das Hören realisiert wird. Der Andere ist nicht nur der Adressat meines Sprechens, er ist vor allem Ursprung meiner Sprache.« 86

Will der Mensch an diesen reduplizierenden Momenten, der Aktualität des Sprechens, teilnehmen, muss er sein konkretes Bezogensein auf das Du ernst nehmen. Schließt er sich nach außen ab, zum Beispiel indem er sein Ich durch ›Wissenschaft‹ oder ›Psychologie‹ oder aus anderen theoretischen Gründen zur existierenden Instanz seiner Individualität erklärt, bleibt er blind gegenüber dem konkreten Geschehnis des Sprechens. »Die Psychologie erforscht die ›Motive‹ des Denkens und Handelns und sucht aus ihnen die Persönlichkeit eines Menschen zu erklären.« 87 Sie geht also bereits von der Du-verschlossenen Icheinsamkeit aus und versucht die Logik des Ichs zu entschlüsseln. Sie vergisst den Stellenwert des Ichs selbst zu erfragen. Sie geht vom Ich als einer gegebenen Instanz der Persönlichkeit des Menschen aus. Das könnte jedoch ein Vorurteil sein! »Psyché ist die – Geistigkeit aber schon voraussetzende – Bezogenheit der ›Natur‹ und des Natürlichen auf sich selbst, pneûma das Geistige im Menschen in seiner Bezogenheit auf Gott.« 88

Das Du-verschlossene, und damit zeitunabhängige und einsame Ich setzt bereits das situationssensible Du-offene pneuma voraus. Abgekapselt von seinem Du leidet das Ich, denn es will sich selbst und seine Existenz. Die gibt es aber nur im Verhältnis zum Du. Das dulose Ich ist getrennt von der Realität und verfällt deshalb dem Wahnsinn. 89 Das Verhältnis des Ichs zum Du wird durch das Wort geschaffen, für das das Ich offen sein muss. »Das Wort ist das ›Vehikel‹ dieses Verhältnisses; also Bewegungsmittel, dasjenige, wodurch sich das Ich im Menschen zum Du hinbewegt.« 90

86 87 88 89 90

Grätzel: Versöhnung, 52. Ebner: Pneumatologie, 108. Ebner: Pneumatologie, 105. Vgl. Ebner: Pneumatologie. 112 f. Ebner: Pneumatologie. 173.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Das Wort trägt sich also zwischen Ich und Du zu. Ebner dringt hier bis zur Zeitlichkeit des Seins vor, auf das der Mensch durch die Sprache Zugriff hat. Das Wort ist etwas, »das also das Verhältnis des Ichs zum Du einerseits voraussetzt, andrerseits herstellt.« 91 Die Sprache ist also – Ebner rekurriert hier vermutlich direkt auf Humboldt – von Beginn an »ein synthetisches Verfahren und zwar ein solches im echtesten Verstande des Worts, wo die Synthesis etwas schafft, das in keinem der verbundenen Teile für sich liegt.« 92 Dieser Tatbestand, dass Sprache die Ich-Du-Beziehung einerseits schafft, andererseits aber auch voraussetzt, sagt zweierlei über das Verhältnis des Menschen zum Sein aus: 1) Wir bekommen ein Kriterium für Wahrheit: Sprache schafft die Ich-Du-Beziehung. Insofern ist sie Gabe. Sie schenkt die Ich-Du-Beziehung, die dem Menschen zuteil werden kann, aber für ihn unverfügbar, sprich: nicht kontrollierbar ist. Ihre Unverfügbarkeit ist das Zeichen dafür, dass in dieser Beziehung Wirkliches zur Sprache kommt: »Diese Unverfügbarkeit des Seins […] zeigt sich in seiner Gegebenheit im Gespräch, das als das sich zutragende Zwischen das Unverfügbare ist.« 93 Der Wahrheitswert eines Erlebnisinhalts hängt also weder vom konkret erlebten ›Widerstand der Materie‹ noch von einem logischen Beweis ab. Das Kriterium, an dem wir die Wahrheit des Erlebnisses erkennen können, ist folgendes: »Darin […], daß das Ich auf ein Verhältnis zum Du hin angelegt ist […], haben wir die Gewähr dafür, daß diese von uns erlebte Welt wirklich, nicht bloß geträumt und eine ›Projektion des Ichs‹ ist.« 94 Der Maßstab, der den Wahrheitswert eines Gedankens ausmacht, ist also, ob das Ich das Du verfehlt oder nicht. Hier findet sich eine Parallele zu Humboldts Genese einer Vorstellung, deren Objektivität auch durch eine Expropriation des Gedankens verbürgt wird. 95 »Wahrheit ist dasjenige, wodurch ein Gedanke Bestand und Wesent-

91 92 93 94 95

Ebner: Pneumatologie. 16. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 92. Casper: Denken, 210. Ebner: Pneumatologie. 169. Vgl. unten Kapitel 4.4.

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lichkeit hat, und es gibt keine Wahrheit eines wortgewordenen Gedankens, die absolut unabhängig von der Beziehung des Wortes zum Du bestünde, das es, ideell oder konkret, anspricht. ›Objektive‹ Wahrheit gibt es nur an der abstrakten Oberfläche des Seins – und des Denkens – und auch sie ist am Ende keine Wahrheit ›an sich‹.« 96 Glückt diese Beziehung zwischen Ich und Du, wird an der Wahrheit des Wortes auch die Wahrheit des Seins offenbar. 97 Aber hier stoßen wir an eine Grenze. Mit der Ich-Du-Beziehung sind wir vor Irrtümern des Denkens gefeit. Aber »Wahrheit« hat mindestens zwei Gegenteile: den Irrtum und die Lüge. Das Problem ist nun, dass im Wort nicht nur Wahrheit ist, sondern auch Lüge. »Zum Lügen gehört Vernunft, nicht nur Verstand; denn sonst könnte auch das Tier lügen. Auch die Lüge bedeutet einen Einsatz der Persönlichkeit, aber zugleich auch ihre innere Preisgebung. Sie ist nur möglich, weil der Mensch das ›Wort hat‹ und durch das Wort aber Vernunft und Persönlichkeit –, und sie ist der schwerste Mißbrauch des Wortes, die Aufhebung und Vernichtung seines Sinnes.« 98 2) An dieser Grenze kommen wir zum angekündigten zweiten Punkt: Wenn Sprache die Ich-Du-Beziehung nicht nur schafft, sondern auch voraussetzt, dann stellt sich die Frage nach dem, was die Sprache und damit die Ich-Du-Beziehung selbst sein lässt. Ohne die Ansprechbarkeit des Du und ohne die Möglichkeit sich auszusprechen, die mit dem Ich gegeben ist, gibt es kein Sprechen. 99 Ich und Du bedürfen einander und der Sprache. Die Sprache bedarf aber auch ihrer. Der Ursprung dieses Verhältnisses kann also weder beim Ich noch beim konkreten Du gesucht werden. Aber eben auch nicht in der Sprache, die ja selbst des Ichs und Dus bedarf. 100 Ebners Lösung: »[…] das Wort, im letzten Grunde seines DemMenschen-Gegebenseins verstanden, ist von Gott.« 101 Ebner ist von vornherein ein religiöser Denker: Der Mensch ist auf eine Beziehung zum Du, zum Geistigen außer ihm angelegt. Und so ist Gott schließlich »das wahre Du des Ichs im Menschen.« 102 Gott Ebner: Pneumatologie, 52. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 249. 98 Ebner: Pneumatologie, 166. 99 Vgl. Ebner: Pneumatologie, 17. 100 Vgl. Casper: Denken, 224. 101 Ebner: Pneumatologie, 20. 102 Ebner: Pneumatologie, 185. 96 97

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als das wahre Du des Menschen ist also nicht beweisbar und auch nicht objektiv erkennbar. Als Du kann es nur angesprochen werden und verlangt so ein persönliches Verhalten zu ihm. Man kann keinen Begriff vom Du bilden. Wird das gemacht, schließt sich das Ich bloß in seine Icheinsamkeit und Duverschlossenheit ein. Dass dieses dialogische Gottesverhältnis Theologen vor enorme Herausforderungen stellen muss, ist offensichtlich. Man könnte eine gewisse ›Objektivität‹ (nicht Substantialität) des Dus darin sehen, dass es eine geistige Realität ist, die außerhalb des Ichs existiert. Denn das Du ist ja keine bloße ›Projektion des Ichs‹. »Existiert es doch, sowohl im ontologischen als auch im ethischen Sinne, vor diesem und hat in seiner Göttlichkeit durch das Wort dieses geschaffen.« 103 Das Ich ist also etwas am Du Werdendes, das Du aber etwas Seiendes. Das Du wird nicht im Verhältnis zum Ich. Das Du ist. Das Ich wird am Du. »Gott ist die Konkretion des Du, wie der Mensch – nicht jedoch die Idee des Menschen bei den Philosophen und Ethikern – die des Ichs ist und sein soll in seinem Verhältnis zu Gott.« 104 Verlangt ist in dieser persönlichen Beziehung zu Gott dann nach Ebner eine moralische Verantwortlichkeit. 105 Was immer der Mensch spricht, auch im Selbstgespräch seiner Ich-Einsamkeit: Gott hört zu! Aber in dem Moment, in dem der Mensch zu Gott spricht, antwortet er auch. Wenn Gott spricht, macht er den Menschen auch darauf aufmerksam, wo sein eigentliches Leiden steckt. Das Selbstgespräch des Leidenden in Gedanken ist Irrereden und wahres Symptom der Geisteskrankheit, solange es nicht zum ›Dialog mit Gott‹ geworden ist. »Im Selbstgespräch verliert das Wort seinen Sinn und wird schließlich zum sinnlosen Irrereden. Im ›Dialog mit Gott‹ kommt es zu seinem letzten und tiefsten Sinn. Der Mensch braucht das Wort, um vor sich selber über sich und sein Denken klar zu werden – denn es ist das Licht unsres Lebens.« 106 Nach Ebner sieht das Verhältnis des Menschen zu Gott also folgendermaßen aus: Das Ich hat keine absolute Existenz, sondern existiert nur im Hinblick auf ein Du. Die Beziehung zwischen Ich und Du ist durch die Sprache gestiftet. Das macht Ich und Du zu Elementen der 103 104 105 106

Ebner: Pneumatologie, 197. Ebner: Pneumatologie, 197. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 188. Ebner: Pneumatologie, 49.

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Ferdinand Ebner: Die Ich-Du-Beziehung im Nominativ und Obliquen Kasus

Sprache, die wiederum notwendig für die Sprache selbst sind. Gott selbst stiftet dem Menschen die Sprache in der Aktualität ihres Ausgesprochenwerdens: »Gerade darin aber nun wiederum gewinne ich selbst ein Verhältnis zu dem sein lassenden verschwiegenen Ursprung von Sprache selbst; wie du selbst ein Verhältnis zu diesem Ursprung selbst gewinnst. Denn im Seinlassen, im Gewähren der Sprache, die mich selbst braucht, wie sie dich selbst braucht, zeigt sich der seinlassende Ursprung immer schon in einem Verhältnis zu uns beiden jeweils selbst; wie wir selbst uns als wir selbst zu ihm im Verhältnis erkennen. Dieses Verhältnis aber ist – Religion: Das Verhältnis, in dem ich als Sprechender allererst sein gelassen bin und das ich also als bewußt Seiender bewußt annehmen kann.« 107

Gott ist also letzten Endes, so Ebner, das Du, zu dem wir sprechen. Über und von Gott können wir nichts sagen, aber in der Aktualität unseres Sprechens sprechen wir zu Gott und glauben wir an Gott, an das Geheimnis, das uns sprechen lässt. Zwar sehen letztlich alle fünf dialogphilosophischen Autoren Gott als den seinsgewährenden Ursprung der Sprache an. Aber im Gegensatz zu den anderen, ist Ebners Denken von vornherein religiöses Denken und zielt auf diese Gottesbeziehung. Seine Darstellung, dass Lügen durch die Verantwortlichkeit vor Gott verhindert wird, scheint mir eine offensichtliche Schwäche des Ebner’schen Ansatzes zu sein. Einer seiner Nachfolger, Hermann Levin Goldschmidt, konnte die Gefahr der Lüge anders einhegen: Er räumt das Problem der Lüge dadurch aus dem Weg, dass er feststellt, dass zur Dialogik ohnehin immer nur vom eigenen Monolog her vorgestoßen werden kann. Denn zur Lüge gehört ja, dass der Lügner sich des Lügens wohl bewusst ist. 108 Andererseits stellt sich Ebners Unterscheidung zwischen Lüge und Irrtum, seine Einführung des Terminus »Du« und seine Beschreibungen der Beziehungsqualitäten mit den Fällen als äußerst fruchtbar und für die Weiterentwicklung der Dialogphilosophie notwendig heraus. Hierauf wird in Kapitel 7.3 bei der Frage nach dem Postfaktischen noch einmal zurückgekommen.

107 108

Casper: Denken, 225 f. Vgl. hierzu: Kap. 5, Kap. 6 und Kap. 7.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

2.5. Die Modi des Verbs – Gesprochene Sprache und die konkrete Zeitlichkeit des Seins Im Kapitel 2.3 wurde skizziert, wie sich Seiendes, aber in gleicher Weise auch Scheinendes, ganz allgemein in der Sprache abbildet, vom Ur-Ja bis in die Wortarten, in noch unkonkreter Abhängigkeit von Raum und Zeit. Nun ist die Sprache aber selbst ein Geschehen, sie wird ja gesprochen. Das Problem der Logiker besteht ja nicht darin, dass sie falsch lägen. Sie vergessen nur, dass die Logik selbst der Grammatik bedarf, und neigen dazu, ihre Kunst zum einzig wahren Dogma zu erheben: Für den Logiker heißt Denken »für niemanden denken und zu niemandem sprechen (wobei man für niemanden, wenn einem das lieblicher klingt, auch alle, die berühmte ›Allgemeinheit‹, setzen kann) […].« 109 Man nennt es Wissen. Logik strukturiert Wissen, das zeit- und raumunabhängig gelten soll. Aber ob der Logiker will oder nicht: Auch Logik ist eine Sprache mit Grammatik. Auch Logik wird letztlich gesprochen! Wir werden gleich sehen, dass sich Wissenschaften, Philosophie, Theologie etc. mit ihren Methoden keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erlauben können, aus grammatikalischen Gründen. Denn das Seiende erscheint uns in der Sprache in einer Seinsweise, im Modus. Wie wir gleich feststellen werden, berücksichtigen alle Wissensproduzenten gemeinhin nur einen Modus: den Indikativ (manchmal noch den Konjunktiv, wenn es ›um die Zukunft‹ geht). Sie unterschlagen den für die Seinsvermittlung eigentlich ausschlaggebenden Imperativ. Ein der Dialogphilosophie wesentlicher Charakterzug besteht im Ernstnehmen der Sprache als gesprochener Sprache in ihrer Zeit und an ihrem Ort. Neben dem Indikativ berücksichtigt sie dementsprechend auch die anderen Modi. Insbesondere Rosenstock-Huessy und Rosenzweig haben die Rolle der Modi vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Fragestellung untersucht: Rosenzweig vielleicht am Allgemeinsten vor dem Hintergrund der Frage nach der Vermittlung des Seins überhaupt, 110 Rosenstock-Huessy in seiner Seelenkunde als Wirkweisen der Seele. 111 109 110 111

Rosenzweig: Das Neue Denken, 440. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 27. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 22.

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Die Modi des Verbs

Wenn wir über die Modi reden, reden wir auch über verschiedene Situationen, in denen Sprache gesprochen wird. Wie Casper in Bezug auf Rosenzweig herausarbeitet, 112 sind wir sprechend insbesondere in drei Situationen: in der Erzählung, der Wechselrede und im Zwiegesang.

2.5.1. Indikativ: Die Wissenschaft als abgeschlossene Erzählung Festgestelltes, Vollendetes und überhaupt alles, was sich ereignet hat, wird erzählt. Ursachensatz und Erzählsatz ist der Indikativ. 113 Zwar spricht die Erzählung über Vergangenes, aber erzählt wird trotz allem gegenwärtig. Beim Erzählen geschieht also Zeit an einem Ort. Wie der bestimmte Artikel, wie wir gesehen haben, den genauen Raumpunkt festlegt (»Hier«), so legt der Indikativ das allgemeine Verhältnis zur Zeit fest. 114 Die Fragen nach den Ursachen, die die Welt uns stellt, beantworten Wissenschaften und Philosophien demnach im Indikativ. Der Erzählung muss ihrer Natur nach also eine möglichst objektiv darstellende Zeit zukommen: »Objektiv, gegenständlich, in dinghafter Ruhe, ›ewig still‹ – ›steht die Vergangenheit‹.« 115 Der Indikativ ist von Haus aus nicht Präsens. »Denn er erzählt ja Gewordenes, Gewesenes, Vorübergegangenes oder doch außerhalb des Sprechers im Weltraum Vergehendes.« 116 Dieses bereits-vergangen-Sein des Indikativs bindet die Bewegungen der Dinge in eine »ruhige Parallelbeziehung zur Gesamtheit des Geschehens« 117, wodurch dieser Bewegung selbst eine gewisse Handhabbarkeit, also Dinglichkeit, zukommt. Das Verb im Indikativ drängt von sich aus zu seiner ›objektivsten‹ Form: der dritten Person, denn der Indikativ »beschreibt und erzählt das Ruhende, das Gewesene, das Fertige und Vorhandene.« 118 Die Dritte-Person-Perspektive verleiht der wissenschaftlichen Erzählung die nötige Sachlichkeit. 119 112 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. Casper: Denken, 110 ff. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 48. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 55 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. 2, 56. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 25. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 55. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 24. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 55.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Philosophen zum Beispiel, die nach Sein und Dasein fragen, bändigen ihre eigentlich zeit- und ortsabhängigen Antworten gerne in den besonders objektiv und sachlich daherkommenden Indikativ. Es bleibt ihnen auch kaum etwas anderes übrig! Aber: »Die Einheit des in der gewöhnlichen erzählenden Rede Gesagten wird durch jeden neuen Satz, der in der Erzählung gesagt wird, überholt und so relativiert.« 120 Im Indikativ wird zwar auf die allgemeine Zeitlichkeit des Gesagten hingewiesen, diese selbst aber nicht konkretisiert. Erzählend vollziehen Philosophie und Wissenschaft also strenggenommen einen Kopfsprung in den Relativismus, wenn sie den konkreten Zeitraum nicht berücksichtigen, denn jede neue Aussage relativiert die vorhergegangene. Verfällt er nicht in Nihilismus, was vom Relativismus her ja nur konsequent wäre, neigt der wissenschaftliche Erzähler gern zur Schwärmerei: Der indikativen Bändigung des Geistesstroms entgegen steht nämlich der Konjunktiv. »Der Konjunktiv ist der schwellende Gesang, das Marschlied des Werdens und aller Werdenden.« 121 Im Geiste des Konjunktivs ›hebt etwas Neues an‹. Der Konjunktiv beantwortet die Frage nach meinem ›Talent‹, das also mir, nur mir und gerade mir gegeben ist. 122 Die ›Natur‹ aller Konjunktive ist das Futurum: 123 Dieses meist mit dem Künftigen, (dem »Advent«, dem Kommendem; Zukunft = »Adventus«) verwechselte sprachliche Phänomen steht unter dem Bann des Ichs und »seiner sich selbst gesetzgebenden Herrlichkeit.« 124 Problematisch wird es, wenn im Namen der Wahrheit das Futurum mit Zukunft verwechselt wird: Der Wunsch als Vater des Gedankens verlängert nämlich gern die Vergangenheit in die Zukunft, weil das so schön planbar ist (Futurum). 125 Aber von der Zukunft erleben wir vor allem die Kunft, 126 eine Qualitätsänderung, die »eine Überraschung und eine Verheißung« 127 in der Gegenwart umfasst. Auf die Bedeutung des Konjunktivs und die Unterscheidung zwischen Zukunft und Futurum wird im Verlaufe dieses Beitrags 120 121 122 123 124 125 126 127

Casper: Denken, 116. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 24. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 48. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 25. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 24. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit 1, 99. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, 325. Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch, 50.

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immer wieder zurückgekommen und im Ausblick: »Was heißt Zukunft?« (Kapitel 9) wird dieses Thema nochmals speziell in den Blick genommen.

2.5.2. Imperativ: Die Offenbarung des Seins in der Wechselrede Das Ich strebt im Indikativ nach abgeschlossenen Wissenshäppchen in der dritten Person. Es schließt sich so vor dem »Du« ab und kultiviert seine »Icheinsamkeit«! 128 Die Existenz des Ichs aber liegt »nicht in seinem Bezogensein auf sich selbst, sondern […] in seinem Verhältnis zum Du.« 129 Nicht die Icheinsamkeit ist ursprünglich ichhaft, sondern das Verhältnis zum Du. Kein Wunder also, dass auch Sprache sich ursprünglich zwischen Ich und Du zuträgt. 130 Der Ursprung der Sprache ist somit nicht in der Erzählung, sondern in der Wechselrede zu suchen: »Im wirklichen Gespräch geschieht eben etwas; ich weiß nicht vorher, was mir der andre sagen wird, weil ich nämlich auch noch nicht einmal weiß, was ich selber sagen werde; ja vielleicht noch nicht einmal, daß ich überhaupt etwas sagen werde; es könnte ja sein, daß der andre anfängt, ja es wird sogar im echten Gespräch meist so sein […].« 131 Der Denker weiß seine Gedanken bereits im Voraus und lässt diese den Hörern in Erzählform angedeihen. Ob diese zuhören oder einschlafen: Sprache erscheint hier bloß als mehr oder weniger mangelhaftes Kommunikationsmittel. Die Erzählung teilt durch ihre Performanz die Welt gewissermaßen in ›Inhalt‹, das Erzählte, und in ›Realitätsgehalt‹, das im Sprechakt hervorgebrachte Sein, auf. 132 Dieser Punkt spielt, wie wir unten sehen werden, eine entscheidende Rolle dabei, dass Sprache zwischen Sein und Schein scheidet. Im wirklichen Gespräch geschieht Sprache ganz ursprünglich. Auch der erzählte Inhalt muss ja einmal passiert sein, bevor er im Indikativ abgeschlossen wurde. Auch das Erzählte hatte seine Gegenwart, diese »Zeit im zeitlichsten Sinne«. 133 128 129 130 131 132 133

Ebner: Das Wort und die Geistigen Realitäten, 14. Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten, 14. Vgl. Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten, 16. Rosenzweig: Das Neue Denken, 440. Vgl. Ebner: Das Wort und die geistigen Realitäten, 11. Rosenzweig: Das Neue Denken, 444.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Gegenwart aber ist »Wende von Vergangenheit in Zukunft, Hereinreißung des Kommenden in das Heute und Hier« 134 und steht im Imperativ. Vom Indikativ kann man Vergangenes zum Wunsch erheben, in die Zukunft kommt man nicht. Wie in Kapitel 5.4 und vor allem im Ausblick: »Was heißt Zukunft?« (Kapitel 9) ausgeführt wird, kommt sie uns nämlich entgegen, und sie befiehlt! Wechselrede geschieht hier und jetzt und bestimmt fortlaufend Neues: »Sei!« Das Verb im Imperativ drückt das subjektive Erleben aus, nicht mehr das Geschehen wie im Indikativ: Der Erlebende ist mit dem Sein, das selbst begrifflich nicht umfassend erkennbar ist, direkt konfrontiert. Auch erzähltes Geschehen muss einmal erlebt worden sein. Was die Wissenschaft im Indikativ mit dem Akkusativ als Objekt kennzeichnet, ist im Imperativ der Akteur und steht als Subjekt im Nominativ. 135 In der Wechselrede erfährt das sich in Sprache niederschlagende Sein seine Zeitlichkeit, und hier liegt auch der eigentliche Ursprung von Sprache überhaupt. 136 »In der Rede zwischen Ich und Du entsteht Sprache als die immer neu sich ereignende Gabe des Seins.« 137 Der Imperativ ist der Modus der Verwandlung. Das lässt sich leicht nachvollziehen: Kindliche Menschen reden mit Vorliebe auch von sich selbst in der ›dritten‹ Person, aber nur dort, wo sie nicht durch einen Imperativ auf ihr Ich zurückgeworfen werden: »Erzählen wird ein Kind von sich: Hans ist Zug gefahren, Hans ist müde. Ein Befehl hingegen führt und zwingt zu Ja und Nein […]. Ja und Nein zu sagen, heißt Schöpfen und Widerstehen, Leiden und Leidenmachen.« 138 Die Ich-Persönlichkeit des Menschen wird also erst durch einen Imperativ erzwungen! 139 Wissen, das in logische Ganzheiten gestückelt im Indikativ vorliegt, kennt weder Mittelpunkt noch Anfang. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 25. Anmerkung: so Rosenzweig. Rosenstock-Huessy verweist andererseits auf die eigentliche Subjektlosigkeit des Imperativs (siehe unten!): der Sprecher des Imperativs ist nicht dessen Subjekt, sondern antwortet bereits auf einen Imperativ. Die ontologische Quelle des sprachlich Erscheinenden ist hier also nicht ein Sprecher, sondern der logos. Im Indikativ steht dann die bereits erfolgte subjektive Antwort eines Sprechers auf den Imperativ. Im Indikativ steht künstlich verobjektiviertes Subjektives. 136 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 126 f. 137 Casper: Denken, 112. 138 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 21. 139 Weiteres zu diesem Thema s. u. den Exkurs: »Das Ich als Faktum« in Kap. 8. 134 135

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Die Modi des Verbs

Erst das Ich mit seinem Eigennamen bringt die Begriffe Mittelpunkt und Anfang ins Spiel. 140 Denn das eigens benannte Ich fordert Orientierung in der Welt: »Der eigene Name fordert Namen auch außer sich.« 141 Zur vorläufigen Orientierung reicht es, wie Adam im Paradies das Vorliegende gattungsmäßig zu benennen. Aber das am eigenen Namen hängende Erleben fordert konkrete Begründung in der Welt, also Eigennamen außer mir: 142 »Solche Begründung muß, weil in der Welt, raum-zeitlich sein, gerade damit sie der absoluten Gewißheit des Erlebens, seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit zu haben, Grund geben kann. 143 Der Imperativ gebietet in Abhängigkeit der beiden Parameter Raum und Zeit zur Orientierung (Rosenzweig nennt diesen Prozess »Offenbarung«): »Es muß ein Wo, einen noch sichtbaren Ort in der Welt geben, von wo die Offenbarung ausstrahlt, und ein Wann, einen noch nachklingenden Augenblick, wo sie den Mund auftat.« 144 Die Eigennamen übernehmen hierbei die Funktion der Bürgschaft und Verklammerung mit der Zeit: »Die Eigennamen pflegen denn auch wirklich das erste Wort zu sein, in das sich die Spannung des Frage- und Antwortspiels löst. Sie sind ihnen wirklich die einzige Bürgschaft, dass das Morgen dem Heute verbunden sein wird und dass in dies Heute wirklich das Gestern […] mit einmünden wird.« 145

2.5.2.1. Eugen Rosenstock-Huessy: Der Imperativ – Eine Tat die ihren Täter sucht Rosenstock-Huessy macht eine philologische Entdeckung, die Rosenzweig und Ebner nicht mehr berücksichtigen konnten: 1963 stellt er fest, dass in den 200 von ihm untersuchten Sprachen der Imperativ mit seiner Wortwurzel zusammenfällt. Der Imperativ hat keine Endung! 146 Hier sind die 200 Sprachen nur konsequent, denn »ein Gebot präsentiert das Zeitwort in seiner nahezu nackten Gestalt.« 147 140 141 142 143 144 145 146 147

Siehe hierzu Kap. 9. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 127. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 127 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 128. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 128. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 35. Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72.

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Die Schulgrammatik stellt den Imperativ in eine Reihe mit den anderen Satzarten Indikativ und Konjunktiv. Auf diese Weise fälscht sie den eigentlichen Sprachvorgang aber erheblich: 148 Der Imperativ, der keine eigene Endung hat, hat nämlich auch kein eigenes Subjekt! Der Imperativ wird ja gesprochen, »um den ›Täter des Wortes‹ zu erzeugen.« 149 Die Schulgrammatik erklärt den Imperativ einfach zum »Privateigentum seines Sprechers«. 150 Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Sprecher verzichtet ja gerade auf seine Alleinherrschaft über den Sprachstrom. Rosenstock-Huessy spricht hier von der »Demut des Imperativ«. 151 Der Imperativ wird gesprochen, um sich sein Subjekt zu suchen: »Der Imperativ wird von keinem Ich gesprochen. […] Im Imperativ schwebt der Satz zwischen Sprecher und Hörer unentschieden in der Luft.« 152 Im Imperativ ist nämlich der gewöhnliche kausale Zusammenhang zwischen Agent und Akt umgedreht: »Somit ist der Imperativ eine Tat, die ihren Täter sucht«. 153 Für an die Schulgrammatik Gewöhnte ist dies ein ungewohnter Gedanke. Anhand eines Beispiels wird es aber ganz offensichtlich: »Alle wurden herausgefordert. Aber nur Herr Schmidt unterzog sich dem Geheiß, und so wurde er das Subjekt des bis dahin unvollständigen Satzes ›Lies!‹.« 154 Im Imperativ also sprechen weder der Befehlende noch der Gehorchende für sich. Die Menge, die »Lies!« vernimmt, vereinigt sich mit dem Sprecher, bis Herr Schmidt sie erlöst: »Ich habe gelesen«. Der Imperativ gehört nicht dem Sprecher. Erst wenn der Imperativ sich sein persönliches Subjekt geangelt hat, hört er auf, in der Luft zu hängen. »Es steht etwas im Raum«, sagen wir häufig, um damit etwas verlegen auszudrücken, dass gerade eine Handlung im Imperativ ohne Handelnden auftaucht. Erst wenn der Imperativ sein Subjekt gefunden hat, wird er zu einem vollen Satz ausgebaut. Echte Sprache bedarf also des Sprechers und des Hörers. 155 Der Sprecher ist für die Sprache genauso wichtig wie der Hörer, und der

148 149 150 151 152 153 154 155

Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 96. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 72. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 73. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 73. Wie auch Wilhelm von Humboldt feststellt, vgl. Kap. 4.

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Hörer kommt sogar vor dem Sprecher! 156 »Die Sprache darf niemanden ohne den Wandel aus Sprecher in Hörer, aus Hörer in Thema, aus Thema in Sprecher lassen.« 157 So ist das tragende Element der Grammatik Gemeinschaft. 158 Alles Erleben des Seienden steht also ursprünglich im Imperativ, bevor es im Indikativ erzählt werden kann. Das gilt auch für die Liebe: Liebe unterscheidet sich dadurch vom Flirt, dass sie beschwörend und befehlend auftritt: »›Und wenn ich ihn erwählte, so wars ohn alle Wahl‹. Weltvergessen ist sie nicht minder. ›Wenn ich dich nur habe, wenn Du mein nur bist‹. ›Was frage ich nach Himmel und Erde‹. Was bleibt hiernach dem Geiststrom, der die Liebessprache gebiert, anders als das Du, vom Lockruf bis zum verantwortlichen Gebot!« 159 Liebe ist nicht frei, sie befreit an dem konkreten Du. Liebe ist verbindlich. 160 »Gäbe es neben einer Philosophie der ›Weltanschauung‹ und neben einer Philosophie als ›Selbstbewußtsein‹ eine Philosophie des ›nächsten Du‹, so hätten die Philosophen schon längst aus dem Indikativ der Weltgesetze und den Konjunktiven der Willensfreiheit herausgefunden zur vollständigen Grammatik.« 161

2.5.3. Kohortativ: Erlösung im Zwiegesang – Die Grammatik der Gemeinschaft Rosenzweig kennt noch eine weitere grammatische Situation des Sprechens: den Zwiegesang. Der Zwiegesang ist die grammatische Form echter, lebendiger Gemeinschaft. Mit Zwiegesang ist die Situation gemeint, in der gemeinsam zum Singen angehoben wird. Der Zwiegesang – dieser in Gemeinsamkeit hervorbrechende Wille zum Singen – füllt die »unsanglichen Formen der Erzählung und des Wechselliedes an und wird zur Ballade des Sängers am Königshofe und zum Lied der Liebe.« 162 Es handelt sich also um eine spezifische, 156 Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 52. Auch Wilhelm von Humboldt ringt sich fast ein Jahrhundert zuvor bereits zu dieser Einsicht durch, vgl. Kap. 4.5. 157 Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 70. 158 Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 74 f. 159 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 24 f. 160 Vgl. hierzu auch Kap. 5.4. 161 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 25. 162 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 186.

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ursprüngliche grammatische Situation: »Statt als Erzählung, die vom Erzähler zur Sache strebt, statt als Zwiegespräch, das zwischen zweien hin und her geht, tritt die Grammatik diesmal auf als strophisch sich steigernder Gesang.« 163 In jedem Moment des Zwiegesangs wird also erneut zum gemeinsamen Singen angehoben. Während des Zwiegesangs steigert sich so der gemeinsame Wille zum Singen. Die Besonderheit des Zwiegesangs besteht darin, dass die Gemeinschaft vor dem Inhalt da ist und der Inhalt sekundär nur als Begründung der Gemeinschaft erscheint. Der strophisch sich steigernde Gesang steigert also durch den Inhalt die Bejahung der Gemeinschaft, völlig gleichgültig, welcher Inhalt nun tatsächlich gesungen wird. Ursprünglich »ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem Inhalt des Gesanges steht die Form dieser Gemeinsamkeit.« 164 Der Inhalt bestätigt nur diese Gemeinsamkeit: Der Leser möge sich an das Ur-Ja erinnern. Der Zwiegesang ist Ausdruck einer gemeinsamen Intention zur Gemeinschaft, noch bevor aller Inhalt dazukommt. Deshalb ist er keine Erzählung, denn der Indikativ markiert ja vollendete Inhalte. Der Zwiegesang ist eine Aufforderung, unterscheidet sich aber vom Imperativ. Denn die Aufforderung zum gemeinsamen Singen ist nicht einfach eine Aufforderung, der der Aufgeforderte nachzukommen hätte. Die Aufforderung des Zwiegesangs steht »unter dem Zeichen der Gemeinsamkeit«. 165 Der Imperativ steht, auch wenn man Rosenstock-Huessys Entdeckung der ›Demut des Imperativ‹ bedenkt (siehe oben), nicht unter dem Zeichen der Gemeinsamkeit. Die gemeinsame Intention zur Gemeinschaft drückt sich als Aufforderung »Lasst uns danken!« aus. Sie steht also im Kohortativ. Der Kohortativ wird im Deutschen mit »Lasst uns …« umschrieben. Mit einem Vergleich ist leicht zu erkennen, was gemeint ist: • Der Adhortativ wird im Deutschen ebenfalls mit »Lasst uns …« umschrieben, drückt aber eine Ermahnung aus, z. B.: »Lasst uns aufräumen!«. • Der Jussiv drückt einen Befehl aus, z. B.: »Man stelle sich das mal vor!« • Der Kohortativ drückt demgegenüber eine gemeinsame Intention zur Gemeinsamkeit selbst aus. In unserem Falle zur Ge163 164 165

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 186. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 186. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 187.

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meinschaft: »Lasst uns danken!« »Wem?« »Dem Gemeinschaftsstiftenden« (Dativ!); bei den Dialogphilosophen also zugleich Mensch, Welt und Gott. In jedem Moment der Dauer des Zwiegesangs wird gemeinsam zum Dank an den Gemeinschaftsstiftenden aufgefordert. Der gemeinsame Dank sucht sich erst seinen expliziten Inhalt. Vorstellbar ist hier jedes Lied, das mit entsprechender Intention gemeinsam gesungen wird, aber auch alles Gesprochene (zum Beispiel im Gebet) oder auch Geschwiegenes: Der explizite Inhalt ist sekundär! Entscheidend ist die gemeinsame Intention zur Gemeinschaft. Der Zwiegesang ist sozusagen die Form der Performance dieser Art der Vergemeinschaftung. Der im Kohortativ Auffordernde fordert zum Dank nur auf, um selbst in Gemeinschaft danken zu können. 166 Das Besondere des Zwiegesangs ist also, dass sich während seiner Dauer die Sprache für die Gültigkeit der gemeinsamen sich selbst bestätigenden Intention an einem bestimmten Ort durch die Zeit verbürgt. Im Zwiegesang verbinden sich die beteiligten Personen mit der Welt: »[…] der Auffordernde, indem er seine Seele und was in ihm ist, aufruft zu loben, ruft unmittelbar zugleich damit alle Welt auf […].« 167 Der Auffordernde fordert also nicht nur seine Gemeinschaft auf, er verbindet sich und alle anderen Aufgeforderten mit der Welt. Doch wie sieht diese Verbindung aus? Der Auffordernde ist verschieden von aller Welt: Als Auffordernder und Aufgeforderter zugleich steht er gleichzeitig im Nominativ und im Akkusativ. Dasselbe gilt auch für die Welt: 168 Denn auch die Welt selbst fordert im Kohortativ auf, wenn sie im Kohortativ aufgefordert wird. Sie ist Auffordernde und Aufgeforderte zugleich. Streng genommen haben wir im Zwiegesang also zwei Nominative und zwei Akkusative. 169 Die im Kohortativ des Zwiegesangs stehende Aufforderung wird in einer Verbindung von Mensch und Mensch, Mensch und Welt und dem (noch rätselhaften) Unverfügbaren – was die Dialogphilosophen

Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 186 f. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 187. 168 Ein Beispiel hierfür ist die Feststellung Grätzels, dass eine »All-Versöhnung« (Grätzel: Versöhnung, 193), ohne Versöhnung mit der Natur gar nicht möglich ist, vgl. Grätzel: Versöhnung, 248 ff. 169 Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 187. 166 167

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gerne unter »Gott« subsumieren – und umgekehrt erfüllt. Doch was verbindet sie für diese Zeit an diesem Ort? »Nur der, dem er dankt, der nicht Objekt für ihn ist und also an ihn gebunden, sondern ein ihm und allem, was für ihn Objekt werden kann, ›Jenseitiges‹, nur das ist der gleiche, dem alle Welt dankt; im gegen alles jenseitigen Dativ finden sich die Stimmen der diesseits getrennten Herzen. Der Dativ ist das Bindende, Zusammenfassende […].« 170

Es ist also, wie oben bereits deutlich wurde, der Dativ, der im Zwiegesang Gemeinschaft und Welt verbindet. Der Dativ ›verobjektiviert‹ sein Gegenüber nicht und versucht nicht – wie der Genitiv – es zu vereinnahmen, sondern verbindet die im Zwiegesang gemeinsam Aufgeforderten unter Respektierung der Anderheit des Anderen: Die Aufgeforderten danken, bestätigen damit Gegebenes und ihre Verbindung mit ihm. Doch mit dem Wir der Gemeinschaft ist auch schon ihre Grenze, ein Ihr, gesetzt. Rosenzweig legt hier insbesondere die Betonung auf den Ausschluss des Ihr aus dem Wir. 171 Doch wie genau sieht diese Gemeinschaft aus? Hierfür müssen wir die Numeri der Gemeinschaft in unsere Überlegungen miteinbeziehen. 2.5.3.1. Die Numeri der Gemeinschaft (unter besonderer Berücksichtigung Wilhelm von Humboldts) Um die verschiedenen Gemeinschaftsformen besser zu verdeutlichen, ist es meines Erachtens ratsam, auf Rosenstock-Huessys Unterscheidungen der drei gemeinschaftlichen Seelenzustände des Menschen, die sich in der Grammatik niederschlagen, zurückzugreifen: 172 • Plural – Schlagwort: »Drei, oder mehr, gleich eins«. »In der Arbeit, in unserem Kampf gegen die Natur, steht der Mensch wie ein Soldat auf Wache als Glied in einer Kette. Denn die Natur kennt keinen Schlaf, woraus folgt, daß unser Kampf gegen sie kein Ende kennt.« 173 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 187. Vgl. Guarnieri: Pronomen der Gemeinschaft, 302. 172 Es handelt sich hierbei um Überlegungen Rosenstock-Huessys, die auf das Jahr 1936 zurückgehen (The Multiformity of Man). Die Gemeinschaftsformen interpretiert Rosenstock-Huessy hier als »Aggregatzustände des Menschen« und verbindet diese zu einer Lehre der drei ökodynamischen Gesetze. Ich zitiere hier aus der deutschen Übersetzung Der unbezahlbare Mensch von 1955. 173 Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch, 82. 170 171

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Kollektiv – Schlagwort: »Alle gleich eins«. »In der Bildung, in allen vorläufigen und freiwilligen Gruppierungen harmonieren die Menschen fern von allen brutalen Forderungen der Natur, geleitet von dem spontanen Instinkt für ein Gemeinleben.« 174 Dual – Schlagwort: »Zwei gleich eins«. »In jeder Freundschaftsbeziehung, in jeder Beziehung persönlicher Zuneigung und Abneigung, der Eifersucht und Liebe, des Hasses und der Begierde ist ein Drittes bestimmend: die dialektische Polarität. ›Freund und Feind‹, ›du und ich‹, und das kleine Wort ›Beide‹ – sie alle verraten die Existenz des Dualismus.« 175

Nicht zufällig unterscheidet die Grammatik zwischen Dual und Plural, denn beide drücken verschiedene gemeinschaftliche Seelenzustände aus. Da Wilhelm von Humboldt, dessen Sprachphilosophie Thema in Kapitel 4 ist, ähnlich wie später Eugen Rosenstock-Huessy den Imperativ (siehe oben!), den Dualis zum Studienobjekt seiner umfassenden sprachenvergleichenden Analyse Ueber den Dualis auserwählt, und die grammatische Form des Dualis den Kern des dialogphilosophischen Motivs konzise charakterisiert, werde ich im Folgenden immer wieder direkt auf Humboldt, den Entdecker dieses Sachverhalts, rekurrieren. Wie die meisten modernen Sprachen unterscheidet auch das Deutsche nicht zwischen Dual und Plural. Welches Verbreitungsgebiet hat also der Dualis? Und welche spezifischen Funktionen markiert er? Diese Frage soll jetzt in Bezug auf Humboldt geklärt werden. Anschließend wird nach der Bedeutung dieser grammatischen Funktion, nach der Bezugsqualität, gefragt. a) Das Verbreitungsgebiet des Dualis und seine grammatischen Funktionen Der Dualis gehört den am weitesten verbreiteten Sprachstämmen an: dem Semitischen und dem Sanskritischen. Deshalb, so Humboldt, hat er ein riesiges Verbreitungsgebiet. Dies gilt allerdings vor allem für die Vergangenheit: Es fällt auf, dass die Anzahl der modernen Sprachen, die ihn in sich aufgenommen haben, sehr überschaubar ist. 176 174 175 176

Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch, 83. Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch, 83. Vgl. Humboldt: Ueber den Dualis, 155.

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Um einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Maßstäbe an ein Studium der Sprachen angelegt werden und welche globalen Zusammenhänge Humboldts und Rosenstock-Huessys Grammatikstudium thematisiert, möchte ich im Folgenden kurz die Auflistung der Sprachen zusammenfassen, in denen Humboldt Spuren des Dualis findet: 177 Konzentrieren wir uns auf die ›Alte Welt‹ – genauer: Asien, Afrika und Europa –, finden wir den Dual insbesondere in den Semitischen Sprachen und in denen, die durch das Sanskrit beeinflusst sind. In den Semitischen Sprachen kommt der Dualis insbesondere im Arabischen vor, das heute global gesprochen wird, im Aramäischen finden sich nur wenige Spuren. In den Europäischen Sprachen, so Humboldt, stammt der Dualis aus dem Sanskrit: Er kommt im Griechischen sowie in einigen germanischen, slawischen und litauischen Sprachen vor. Im Kymrischen, der Keltischen Sprache, die in Wales und in der Niederbretagne gesprochen wird, beschränkt sich der Dualis auf das doppelte Vorkommen der Gliedmaßen. Bemerkenswert sind zwei Dinge: Erstens, »dass der kunstreiche und vollendete Bau der Sanskrit Grammatik, ausser dem Sanskrit und Pali selbst, gänzlich nach Europa übergewandert ist, die übrigen, mit dem Sanskrit zusammenhängenden Asiatischen Sprachen aber viel weniger davon bewahrt haben.« Zweitens, dass sich in Europa der reichere grammatische Bau insbesondere »nur in abgestorbenen Sprachen« findet. Zusammengefasst findet Humboldt den Dualis (in der Alten Welt) in folgenden noch lebenden Sprachen: »im Maltesisch-Arabischen, im Litauischen, Lappländischen, und einigen Volksmundarten, bei dem Landvolk in einigen Districten des Königreichs Polen, auf den Faeröer Inseln, in Norwegen, und einigen Gegenden Schwedens und Deutschlands, doch hier ohne mehr vom Volke verstanden zu werden, bloss im Gebrauch als Plural«, in Afrika im Neu-Arabischen, und »in dem beschriebenen Theil von Asien in demselben und im Malabarischen.« In Amerika findet sich der Dualis selten, aber über den ganzen Kontinent verteilt an verschiedenen Punkten: »… im höchsten Norden in der Grönländischen Sprache, in sehr beschränkter Form in der Totonakischen« Sprache im heutigen Mexiko, in der Sprache der 177

Vgl. Humboldt: Ueber den Dualis, 151 ff.

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Chaymas und in der Tamanakischen Sprache. Des weiteren findet Humboldt Spuren des Dualis in dem im heutigen Bolivien, Chile, Peru und Ecuador verbreiteten Quechua, in den Araukanischen Sprachen in Chile und Argentinien, und schließlich bei den Cherokee in Georgia und Alabama, USA. Bezeichnend für den Dualis ist also, dass er zwar nur in relativ wenigen Sprachen vorkommt, diese sich aber über alle Erdteile hinweg verteilen. Dabei behandeln die verschiedenen Sprachen den Dualis durchaus unterschiedlich. Humboldt unterscheidet hier drei Klassen: • Der Dualis haftet im Pronomen: Diese Sprachen nehmen ihre Ansicht des Dualis von den sprechenden Personen (Ich und Du) und er beschränkt sich häufig auf das erste Pronomen plural: Wir (in den Sprachen der Philippinen und Südseeinseln, der Sprache der Chaymas und im Tamanakischen). • Abgeleitet aus der Erscheinung der paarweise natürlich vorkommenden Gegenstände: Augen, Ohren, Gliedmaße etc.: Der Dual geht hier vom Nomen aus (in der Totonakischen Sprache und im Quechua, soweit dieser überhaupt der Dualis zugeschrieben werden kann). • Der Dualis durchdringt die ganze Sprache, da er vom allgemeinen Begriff der Zweiheit her kommt (in der Sanskritischen Sprache, der Semitischen, Grönländischen, Araukanischen und in geringerer Vollständigkeit im Lappländischen). 178 Für uns interessant ist vor allem die letzte Klasse der Dual-Behandlung: Hier drängt sich nämlich die Vorstellung auf, der Dual sei bloß ein auf die Zahl Zwei beschränkter Plural (also eine unnötige grammatische Formenspielerei). Doch weit gefehlt: »Es kommt in dem Gebiete der Sprachen allerdings ein solcher beschränkter Plural vor, der, wenn er sich auf zwei Gegenstände bezieht, die Zweiheit bloss als kleine Zahl behandelt, allein dieser ist, auch in diesem Fall, auf keine Weise mit dem wahren Dualis zu verwechseln.« 179

Die Grammatik kennt also eine Unterscheidung zwischen Dual und dem auf die Zahl zwei beschränkten Plural. Für uns gilt es, beides nicht miteinander zu verwechseln. 178 179

Vgl. Humboldt: Ueber den Dualis, 156. Humboldt: Ueber den Dualis, 158.

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Auch umgekehrt ist der Dual nicht einfach nur ein Kollektivsingular für die Zahl Zwei: »Der so eben als irrig angeführten Vorstellung des Dualis, die sich auf den Begriff der blossen Zahl zwei, als einer der vielen in der Zahlreihe fortlaufenden beschränkt, steht diejenige entgegen, die sich auf den Begriff der Zweiheit gründet, und den Dualis wenigstens vorzugsweise der Gattung von Fällen zueignet, welche auf diesen Begriff zu kommen Veranlassung geben. Nach dieser Vorstellung ist der Dualis gleichsam ein Collectivsingularis der Zahl zwei, da der Pluralis nur gelegentlich, nicht aber seinem ursprünglichen Begriff nach, die Vielheit wieder zur Einheit zurückführt.« 180

Der Dual ist also weder ein auf ›zwei‹ beschränkter Plural, noch ein Kollektivsingular für die Zahl Zwei: »Der Dualis theilt daher, als Mehrheitsform, und als Bezeichnung eines geschlossenen Ganzen zugleich die Plural und Singular-Natur.« 181 Da dem Dualis gleichzeitig die Natur des Plurals (er ist eine Mehrheitsform) und des Singulars (er markiert ein geschlossenes Ganzes) zukommt, unterscheidet er sich, so Humboldt, wesentlich vom Plural und vom Singular: Er markiert eine dritte Bezugsqualität Das ist gar nicht so paradox, wie es zunächst klingt: Abermillionen von Dollars umsetzende Sitcoms sind ausschließlich aus dem Stoff des Dualis gestrickt: Ein Ehepaar geht ganz stereotyp seinen Freunden zunächst als eine Ganzheit auf den Wecker, dann taucht der eine plötzlich nicht mehr ohne den Partner auf o. ä. Sie erscheinen als Singular in einer Kollektiv-Blase. Andererseits ist diese Ganzheit keine ultimative Ganzheit im ontologischen Sinne. Zwar beziehen sich Ehepartner vornehmlich wechselseitig aufeinander, aber nicht ausschließlich, weshalb die Freunde ja die plötzliche Blasenbildung reklamieren. Die Ehe ist also keine abgeschlossene Blase (als die sie von außen häufig erst einmal wahrgenommen wird), sondern eine durchlässige Membran (wie sich nach einiger Zeit und einigem Drama auch für die Freunde der Ehepartner in der Sitcom herausstellt). Wenn die Produzenten der Sitcom entscheiden, dass das Ehepaar ein Kind bekommt, geht dieser Prozess meist wieder von vorne los: Der Dualis diktiert den Handlungsrahmen und den Schreibern die Handlung. Verstößt das Drehbuch gegen seine Gesetze (klassischerweise zum Beispiel, indem ein Protagonist um einer Pointe willen aus der Rolle fällt), wird das vom Zuschauer zu Recht gerügt! 180 181

Humboldt: Ueber den Dualis, 160. Humboldt: Ueber den Dualis, 160.

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Das macht den Dual also aus: Er bezeichnet eine durchlässige, nicht totale, sondern vorläufige Ganzheit. Das bewirkt aber, dass der Dual, im Gegensatz zu Singular und Plural, zu ›wandern‹ scheint: Das Ehepaar hat eine Geschichte! b) Die durch den Dualis markierte Beziehungsqualität und ihre Bedeutung für Gemeinschaften Im Wir steckt also nicht bloß »ein Bündel von Ichen gleicher Art und Uniform; das ist bereits praktische Verwertung des Wir durch den Verkehr.« 182 Wir ist keine bloße Mehrzahl von Dingen. Das Kollektiv reklamiert ein solch totes Wir für sich: Es zielt nicht auf eine Gemeinschaft der Einzelnen (Plural), sondern solch ein Kollektiv hat es auf die Gleichartigkeit mehrerer Lebewesen abgesehen, zum Beispiel die Partei auf ihre ›Basis‹ oder die Kirche auf ihr liebes ›Herdenvieh‹. Das lebendige Wir des Plurals ist aber etwas anderes: »Es steckt nicht einmal nur der Bund von Ich und Du darin, die sich gefunden haben. Sondern das ist gerade Sonderfunktion des alten Dual, der heute im Plural untergetaucht ist. Hingegen im echten Urplural der betenden Gemeinde, jeder glaubenserfüllten Gemeinschaft, jeder religiös lebendigen Urzelle, wird ein Stück Welt, also dritte Person, mit Stücken von Du und von Ich verschmolzen. Die Urgrammatik verschmilzt Gott, Mensch und Welt im dröhnenden Wir.« 183

Diese Verschmelzung findet in Form des Zwiegesangs 184 statt. Im Kohortativ geschieht etwas Besonderes, denn »Ein Stück Welt muß mit seiner Wunderkraft uns die Zunge lösen. Denn am Verwundern über die Welt erwacht ja Sprache in der Seele!« 185 Im Zwiegesang sprengt der Dual der Wechselrede deren Rahmen und beginnt zu wandern: Er gleitet »von einem Träger zum andern, nächsten weiter, von einem Nächsten zum nächsten Nächsten, und hat keine Ruhe, ehe sie nicht den ganzen Kreis der Schöpfung ausschritt. Aber nur scheinbar gibt sie [die Form des Dual, H. D.] so ihre Herrschaft an den Plural ab; in

Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 43. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 43. 184 Anmerkung: Auch Rosenzweig hat hier an die Gemeinde und Synagoge gedacht. »Weltliche« Gemeinschaftsbildung kann aber durchaus auch die Form des Zwiegesangs haben. Es scheint mir sogar wahrscheinlicher, dass sich eine durch den Dual geprägte Vergemeinschaftung in »weltlicher« Hinsicht vollziehen kann, als in einem ideologisch-basierten Kontext. 185 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 43. 182 183

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Wahrheit hinterläßt sie bei dieser Wanderung überall ihre Spuren, indem sie in dem Plural der Dinge allenthalben das Zeichen der Singularität setzt; wo einmal der Dual gehaftet hat, wo einer oder etwas zum Nächsten einer Seele geworden ist, da ist ein Stück Welt geworden, was es vorher nicht war: Seele.« 186 Das Wir also, das im Zwiegesang gemeint ist, ist ein vom Dual gesättigter Plural! Dieser Plural der Gemeinschaft besteht nur auf Zeit (bis der Dual weiterwandert). Das Wir des dualgesättigten Plurals (auf Zeit) unterscheidet dieses Pronomen vom unechten Wir des Kollektivs, das nur bloße Mehrzahl ist. Die Gemeinschaft ist also keine bloße Naturtatsache, sondern ein besonderer Ausweg des Menschen 187 aus einer von der Welt hervorgerufenen Zwangslage. Der Dual wandert aber weiter, bis er »die aus dem Dual entwickelte Allheit« 188 in einem finalen Wir erreicht: die Erlösung im ›Reich Gottes‹, das die Botschaft des Judentums umfasst. 189 Aber dieser finale Plural ist nicht einfach eine vermasste Kollektivität, sondern durch das »Signum singulärer Beziehungen« 190 charakterisiert. Dieser kurze Part über den Dual ist wohl der eindeutigste Bezug Rosenzweigs zu Wilhelm von Humboldt, 191 von dem er den Terminus der Wechselrede aus Über den Dualis übernahm. 192 Mit seiner Entdeckung der grammatischen Funktion des Dualis müssen wir Humboldt als historischen Wegbereiter der Dialogphilosophie ansehen, weshalb es sich lohnt, dies etwas ausführlicher zu beleuchten: Humboldt stellt nämlich fest, dass der Dualis bereits im Organismus der Sprache 193 angelegt ist: »Besonders entscheidend für die Sprache ist es, dass die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgendwo sonst, einnimmt. Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschen186 187 188 189 190 191 192 193

Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 190. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 40. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung 2, 192. Vgl. den Ausblick in Kapitel 9: »Was heißt Zukunft?« Fricke: Rosenzweigs Philosophie, 202 f. Vgl. Casper 2002, 139 f. Vgl. Heinze, 125. Vgl. unten Kapitel 4.

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geschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung.« 194

Humboldt entdeckt den Dualis als Grundlage aller geselligen Verbindung. Es ist nämlich zunächst ganz simpel: Wenn der Mensch spricht, spricht er immer mit anderen. Die duale Zweiheit ist grundsätzlich in der Sprache angelegt (der Leser erinnere sich an Ebners Ausführungen über die Bedingungen von »Icheinsamkeit«), sodass sich der Dualis als Charaktermerkmal der Sprache entpuppt: »Das Sprechen, man mag es nun in seiner inneren und tiefen Beziehung auf das Denken, oder in seiner äusseren und mehr sinnlichen auf die dadurch gestiftete Gemeinschaft zwischen Menschen und Menschen betrachten, setzt immer in seinem Wesen voraus, dass der Sprechende, sich gegenüber, einen Angeredeten von allen Andren unterscheidet.« 195

Der Sprechende unterscheidet sich immer vom Angeredeten, immer von einem Anderen. Das Entscheidende ist aber, dass diese sprachliche Zweiheit stets auf etwas Drittes zielt: »In dem unsichtbaren Organismus des Geistes, den Gesetzen des Denkens, der Classification seiner Kategorien aber wurzelt der Begriff der Zweiheit noch auf eine viel tiefere und ursprüng- | lichere Weise: in dem Satz und Gegensatz, dem Setzen und Aufheben, dem Seyn und dem Nicht-Seyn, dem Ich und der Welt. Auch wo sich die Begriffe drei- und mehrfach theilen, entspringt das dritte Glied aus einer ursprünglichen Dichotomie, oder wird im Denken gern auf die Grundlage einer solchen zurückgebracht. Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seyns ist Einheit.« 196

In diesem Dritten verbirgt sich der oder das Andere, sodass der Sprecher durch den Dualis zum Wanderer im obigen Sinne wird: Der Organismus der Sprache schickt seinen Sprecher also auf Wanderschaft. Der Sprecher – so er denn ernsthaft und wirklich spricht – kann gar nicht anders, als die Wanderbewegung des Dualis mitzuvollziehen, bis die Wanderschaft an ein Ende kommt: Dieses ist entweder vorläufig, dann stellt sich dem Sprecher etwas als Einheit dar, oder endgültig, dann sind wir am Ende der Geschichte angekommen. 197 Humboldt: Ueber den Dualis, 164. Humboldt: Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien, 173. 196 Humboldt: Ueber den Dualis, 164. 197 Dass Humboldt hier eine Einheit des Seins, also einen Monismus behauptet, ist (wie bei Rosenzweig auch) nur eine Vermutung und würde auch nicht dem Humboldt’schen transzendentalen Anspruch genügen. Entscheidend ist hierbei, dass dieser 194 195

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

Die jüdische Verheißung der Erlösung zum Beispiel (und deshalb nennt Rosenzweig diesen grammatischen Sachverhalt »Erlösung«) basiert auch auf der Tatsache des wandernden Duals, denn dieser bildet die Verheißung des ›Reichs Gottes‹ ab. Und tatsächlich lässt sich ja nicht bestreiten, dass der Verlauf der Geschichte im Großen und Ganzen nur in eine Richtung, auf ein Ziel zeigt: Die stetige Vergrößerung und Verbeiterung der gemeinschaftlichen Zusammenhänge mit dem Ziel des Wir alle. Diese grundlegende Tendenz der Geschichte hat ihren Grund in der Sprache: »Sprache kann trennen und verbinden, sie ist dabei aber immer auf dem Weg der Versöhnung und Vereinigung«, 198 so stellt Grätzel grundsätzlich fest. Ständig lösen sich kleinere soziale Strukturen in globalen Gemeinsamkeiten auf. Die Welt wird uns Erdenbewohnern immer gemeinsamer, bis diese ›Globalisierung‹ uns alle zu Zeitgenossen macht. Das Ende des Zweiten Weltkriegs kann wohl als bedeutender Schritt in der Geschichte der gemeinsamer werdenden Welt gelten und die Tatsache des Internets ist wohl ein Beweis globaler Zeitgenossenschaft. Die Zeit des dualgeschwängerten Plurals muss also abgewartet werden! Und solange das Wir auch ein Ihr impliziert, ist das ›Reich Gottes‹ noch nicht gekommen. Gleichwohl lösen die Verheißung des dualgeschwängerten Wir offenbar vorschnell Ambitionen und das unvermeidbare Wegbrechen lokaler Sozialstrukturen Ängste aus. Da manch einer das ›Reich Gottes‹ nicht erwarten kann, wird es auch gerne einfach mal ›herbeigeredet‹. Weltanschauungen bringen die Eigenheit mit sich, dass sie sich, sobald sie ›begründet‹ wurden, bereits in ihrer ersten ›Krise‹ befinden: Das Verlangen, die Welt im Plural zu überholen, ohne sie im Dual einzuholen, ist das typische Verhängnis der Ismen-Anbeter und Weltanschauler. Ungeduldig gründen sie ihre Institutionen, ihre Wirs, und bemerken nicht, dass sie in ihren artifiziellen Zeitblasen bloß bereits Gestorbenes über den Tod des ›Begründers‹ hinaus verlängern. Ihre Wirs bringen immer Ihrs hervor, deren geschichtliche Bedeutung sie aber zu ignorieren scheinen, indem sie die Ihrs einfach zu Gegnern erklären. Als Stellvertreterlein in Verteidigungsstellung vermutete Monismus nicht die Prämisse seines Konzepts ist: Die Wander-Bewegung des Dualis schließt nämlich sowohl die Möglichkeit eines Monismus, als auch eines Dualismus ein, aber auch die Möglichkeit eines Dritten, »unbekannten Unbekannten«: Der Dual erlaubt die Orientierung im Hier und Jetzt und benötigt kein statisches Weltbild, aus dem er abgeleitet werden müsste. 198 Grätzel: Versöhnung, 25.

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Die Modi des Verbs

und missionarische Eiferer sorgen ausgerechnet sie dafür, dass ihr angebetetes (Geheim-)Wissen gar nicht zur Bewährung kommen kann. Sie ringeln sich an den Grenzen ihres Wir lieber um sich selbst und beißen sich gegenseitig in den Schwanz, sind mit ihrem ›Lebenswissen‹ aber bereits tot! Warum ist dieses ›Wissen‹ tot? Weil Weltanschauler die Reihenfolge Erkennen – Anerkennen einfach umdrehen: Als Erstes kommt ihnen die ›Erkenntnis‹ : Der Inhalt der ihnen zugetragen wird. Anschließend erkennen sie diesen als ›wahr‹ an. Aber das ist nur ein Schein-Anerkennen, da ja nur ein ›Wissen‹ übernommen und für wahr erklärt wird. Man könnte hier fast von politischer Anerkennung sprechen. Damit meinen die Weltanschauler, in die Zukunft‹ zu kommen, obwohl sie nur einen Indikativ (Wissen) in einen Konjunktiv umgewertet haben: Ihr Aufbruch, die Zukunft zu ersteigen, erfolgt ausschließlich im Wunschdenken des Futurums! 199 Eigentlich verhält es sich nämlich umgekehrt: Der Imperativ, in dem ich angesprochen werde, zwingt mich zum Anerkennen. Am Anfang steht also nicht eine ›Erkenntnis‹, sondern ein Anerkennen. Völlig egal, was mich irgendein humorloser Guru Glauben machen will, seine ›Erkenntnisse‹ haben allein schon aus grammatischen Gründen mit ›Wahrheit‹ nichts zu tun: Sie kommen immer zu spät, denn sie stehen im Indikativ. Die Beziehungsqualität zwischen mir und dem mich zur Anerkennung zwingenden Anspruch wandelt sich im Anerkennen nicht vom Imperativ in den Indikativ, sondern in den Kohortativ. Das Anerkennungsverhältnis steht im Kohortativ, Dativ und Dual. Erkenne ich andererseits einen mir erzählten Inhalt an, der mir zum Beispiel als Information zugetragen wurde, 200 handelt es sich nicht um Anerkennung, sondern um Schein-Anerkennung (›Vertretung‹): Der Inhalt zwingt mich ja nicht dazu, ihn anzuerkennen (wie der Anspruch im Imperativ), sondern er ›liegt‹ oder ›passt‹ mir. Der Inhalt ist durch seinen Indikativ weder wahr noch falsch, aber aus Geschmacksgründen erkläre ich ihn für ›wahr‹ und entscheide mich, ihn zu ›vertreten‹. Vertreten kann ich aber nicht, was im Kohortativ steht (denn dieses gehört mir ja nicht), sondern was im Kon-

Vgl. hierzu den Ausblick in Kapitel 9: »Was heißt Zukunft?« Zu den einzelnen »Erkenntnisarten«, ihren Ansprüchen und ihrem Wert: siehe auch meine »Anspruchstheorie der Wahrheit« in Kap. 7.2. 199 200

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Die grammatischen Erkenntnisse des Dialogischen Denkens

junktiv steht: Als Vertreter erkläre ich für wahr, was eigentlich nur möglich ist. Ein anderes, vielleicht einsichtigeres Beispiel ist »Vertrauen«: Vertraue ich einfach einer Information oder einer Person, tue ich das aus Neigung, etwa weil mir der Inhalt der Information in den Kram passt oder ich die Person besonders sympathisch finde. Aber hierbei handelt es sich nicht um »Vertrauen« (es fühlt sich vielleicht so an), sondern um blindes Vertrauen! Auch zu sagen: »Ich habe Vertrauen in meinen Kollegen, dass er das schafft«, bedeutet nicht, dass mein Verhältnis zum Kollegen durch Vertrauen charakterisiert ist, sondern es bedeutet erst einmal nur, dass ich jemandem etwas zutraue. Die Einstellung des Zutrauens hat allerdings mehr mit Zumutung als mit Vertrauen zu tun! Zumutungen und Neigungen als Vertrauen zu verkaufen, ist eine billige Maskerade, die auffliegt, sobald man ihre grammatische Struktur berücksichtigt: Denn auch Vertrauen ist durch die grammatische Erlösungsstruktur des Kohortativs, Dativs und Duals charakterisiert. Wie Liebe und Freundschaft muss Vertrauen beschworen werden, bevor es sich bewährt. Handelt es sich nur um eine Ahnung des »Sowas-hat-der-ja-noch-immer-irgendwie-hingekriegt«, ist es eine Zumutung, handelt es sich um ein diffuses Bestätigungsgefühl, ist es blindes Vertrauen. Handelt es sich aber um ein Anerkennungsverhältnis im oben beschriebenen Sinne, ist es Vertrauensbewährung. Vertrauen lässt sich nämlich nicht erzwingen, sondern Vertrauen bezwingt! Entsprechend selten kommt es vor. Die grammatische Bewährungsstruktur mit Kohortativ, Dativ und Dual rechnet mit der Zeit und bezieht in ihrer Wanderschaft sogar die berühmten Talebschen »unbekannten Unbekannten« 201 mit ein: Nicht nur das, was ich nicht weiß (es ist ja unbekannt), über das ich aber Vermutungen o. ä. anstellen kann (es stellt sich mir zum Beispiel als kalkuliertes Risiko, als antizipierte, mögliche Katastrophe 202 dar), ›erwandert‹ der Dual, sondern auch das mir Unbekannte, dessen Dasein selbst mir unbekannt ist, die unbekannten Unbekannten eben, erwandert diese grammatische Struktur durch die Zeit. Hier kann man tatsächlich von einer Orientierung am Ganzen sprechen, wobei das ›Ganze‹ nicht bekannt sein kann bzw. nicht einmal eine Ganzheit, 201 202

Vgl. Taleb: Der schwarze Schwan, 328. Vgl. Beck: Risikogesellschaft, 29.

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Die Modi des Verbs

abgeschlossen oder nicht, vorausgesetzt wird (wie das etwa im Monismus explizit oder im ›Holismus‹ häufig implizit geschieht). Uns wird diese grammatische Struktur im weiteren Textverlauf noch öfter begegnen und auch fassbarer werden: Im Kontext mit Bubers Ansatz der Verantwortung in Kapitel 3.2, Rosenstock-Huessys dritter Zeitigung »Stifte!« in Kapitel 5.6.2.3 und schließlich in den beiden Ergebnissen: einmal in der Anspruchstheorie der Wahrheit in Kapitel 7.2 und zum Anderen in den Ausführungen zur Möglichkeit der Orientierung jenseits der Weltanschauungen durch Kaironomie in Kapitel 7.6.

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3. Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik

Martin Buber ist mit seiner inzwischen in zahllose Sprachen übersetzten und vielfach neu aufgelegten Schrift Ich und Du (1923) der wohl berühmteste Autor unter den Dialogphilosophen. Dabei stieß Buber, der an Jahren älteste von ihnen, erst unter dem Einfluss von Franz Rosenzweig und Ferdinand Ebner zur Dialogphilosophie. Vor seiner dialogischen Kehre kann Buber bereits ein recht umfassendes philosophisches Frühwerk vorweisen, in dem er schon das Verhältnis von Wirklichkeit, Geist und Natur problematisiert. Dem frühen Buber ist die Wirklichkeit, das ›In-der-Welt-Sein‹ des Lebens, eine durch Ekstase steigerungsfähige Größe, die selbst nicht objektivierbar ist (was Buber aber schließlich in die Sackgasse eines Relativismus führen musste). 1 Zu Beginn des Jahres 1922 hielt Buber auf Einladung von Franz Rosenzweig im Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main eine Vorlesung mit dem Titel »Religion als Gegenwart«, die ihn schließlich zu seiner Schrift Ich und Du führte. 2 In Ich und Du verhalf Buber dem sich an der Grammatik orientierenden Denken Rosenzweigs und Ebners zu Weltruhm. Diese Schrift ist stark durch beide Denker geprägt, und die Tragweite des Buber’schen Werks ist ohne ihre Berücksichtigung eigentlich nicht ermessbar: • Das Neue Denken Rosenzweigs, das »im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit« 3 besteht und »die ganze Weisheit der neuen Philosophie« als »›Methode‹ des gesunden Menschenverstands« 4 umfasst und sich auf die Wirklichkeit in ihrer Ursprünglichkeit einlässt. 1 2 3 4

Vgl. Casper: Denken, 19 ff. Vgl. Horwitz: Buber’s Way to »I and Thou«. Rosenzweig: Das Neue Denken, 440. Beide: Rosenzweig: Das Neue Denken, 437.

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Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik

Die Pneumatologie Ebners, der den Terminus das »Du« zum ersten Mal einführte und dessen Pneumatologische Fragmente Buber aus den Vorabdrucken in der Zeitschrift Der Brenner seit 1919 bekannt waren. Buber war in seinem Vorlesungszyklus also sensibilisiert: »das Stichwort ›Das Du‹ nimmt in der Abfolge der Vorlesungen und Diskussionen als erster ein Hörer in den Mund. Aber Buber war auf dieses Stichwort vorbereitet. Deshalb griff er es auf und machte es zum Kardinalwort bei der Suche nach jener Sinnmitte menschlichen Daseins […].« 5 Buber führt die grammatischen Feststellungen, die Rosenzweig insbesondere in den Modi des Verbs und Ebner in den Fällen des Nominativs und des Obliquen Kasus vorfanden, in genialer Weise zusammen. Die Sekundärliteratur ist sich weitgehend uneinig über den Stellenwert des Buber’schen Denkens innerhalb der Dialogphilosophie: Schmid argumentiert dafür, den Ausdruck »Dialog« nur für Buber zu verwenden und die anderen Denker wie Ebner, Rosenstock-Huessy oder Rosenzweig mit dem Terminus »grammatisches Denken« zu identifizieren, denn Buber komme »gewissermaßen auf halbem Wege […] zu stehen«. 6 Schmid scheint hier allerdings einen vulgären Dialogbegriff anzusetzen, sodass ich mich diesem ›differenzierenden Standpunkt‹ nicht anschließen kann, wie in Kapitel 7.1 über das »Dialogische« verdeutlicht wird. 7 Andere Interpreten sehen Bubers Schriften als eine Art »Prolegomena«, 8 denen nur eine »hinführende und vorbereitende Funktion« 9 zukomme, sodass Bubers Position eine »Mittelstellung zwischen der herkömmlichen Religionsphilosophie und Sprachdenken« 10 sei. •

Casper: Nachwort zu Ich und Du, 136 f. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 22. 7 Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 75. Andererseits kann man Schmids Weigerung, Bubers »Ich und Du« als das repräsentative Werk der »Dialogphilosophie« zu identifizierenl, zustimmen. Schmid wurde offenbar zu seiner Buberkritischen Position motiviert durch Rosenstock-Huessys Bezeichnung des Buberschen Denkens als »Halbheit« und dadurch, dass er selbsterklärt ausschließlich Bubers »Ich und Du« berücksichtigt (vgl. Schmid: Grammatik, 78). Festzuhalten ist, dass Buber von seinen Dialogphilosophischen Mitstreitern viel Kritik einstecken musste. Auch diese Kritik wird im vorliegenden Kapitel thematisiert und teilweise aufgearbeitet werden. 8 Stahmer: Speak that I may see thee, 267 f. 9 Rohrbach: Das SprachDenken Eugen Rosenstock-Huessys, 141. 10 Müller: Martin Buber, 603. 5 6

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Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik

Was meines Erachtens die Stellung Bubers so besonders macht: Er beansprucht keine philosophische Geschlossenheit für sein Werk, sondern tritt – worauf auch die angeführten Positionen der Sekundärliteratur hinweisen – mit einer dialogisch-pädagogischen Absicht auf. 11 Er möchte »auf die Zwiefalt menschlicher Verhaltensweisen aufmerksam […] machen und der ganz konkreten Verwirklichung […] dienen.« 12 Sein pädagogischer Anspruch ist es, uns Folgendes nahezubringen: dass sich das »ganze Leben, die Wirklichkeit […] als ein Angeredetwerden« 13 erschließt. Bubers dialogisch-pädagogischer Ansatz schlägt sich unter anderem in einem Schreibstil nieder, den ich – angelehnt an Pajević – ›poetischpädagogisch‹ nennen möchte. Bubers Schreibstil wurde mehrfach Gegenstand der Kritik von Seiten der Fachphilosophie. 14 Theunissen schreibt zum Beispiel von »dem abstoßenden Gewand der pseudopoetischen Sprache«. 15 Pajević andererseits kann diesen ›Stilvorwurf‹ gar nicht nachvollziehen: »Tatsächlich ist es ein weitverbreiteter Irrtum, dass verständliches, eingängiges Schreiben notwendigerweise philosophisch simplistisch sein muss.« 16 Nun bin ich mir allerdings nicht sicher, ob Pajević mit diesem Einwand gegen die Stilkritik nicht an der eigentlichen Kritik vorbeiargumentiert: Denn selbstverständlich kann man fragen, ob sein Schreibstil Buber nicht zu Ungenauigkeiten auf der inhaltlichen Ebene gezwungen hat. Ist sein Schreibstil nur um den Preis inhaltlicher Unschärfen zu haben? Wird Bubers Schreibstil der Komplexität des Themas gerecht? Diese Fragen sind meines Erachtens nicht ganz von der Hand zu weisen: Eine Fachsprache ist auf inhaltlicher Ebene um einiges präziser als Bubers ›poetisch-pädagogischer‹ Schreibstil. Auch geht es Buber meiner Meinung nach nicht darum, die zweifellos komplexen Sachverhalte vereinfacht darzustellen. Im Gegenteil: Bubers Texte fordern enorm viel vom Leser, insbesondere Interpretationsvermögen und -bereitschaft (und er darf vor allem nicht vorschnell der Illusion erliegen, den ›eingängigen‹ Text tatsächlich gebührend nachvollzogen zu ha-

11 12 13 14 15 16

Vgl. Casper: Denken, 260. Wehr: Buber-Biographie, 93. Wehr: Buber-Biographie, 93. Vgl. Pajević: Poetisches Denken, 244. Theunissen: Der Andere, 497. Pajević: Poetisches Denken, 244.

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ben). Es liegt also auf der Hand, dass die Fachphilosophie eine solche Lektüre missbilligt: Sie erschwert ihr ja nur die Arbeit. Aber Buber verfolgt mit seinem Still offenbar andere Ziele, wie auch Pajević betont: »Bei Buber gibt es sowohl eine konkrete Situationsbezogenheit als auch eine klare, deutlich strukturierte Sprache, die von wenigen Begrifflichkeiten abgesehen in der Alltagsdiktion gehalten ist.« 17 Bubers Intention, uns nahezubringen, dass sich die Wirklichkeit als Angeredetwerden erschließt, manifestiert sich also auch in seinem Schreibstil: Es handelt sich nicht um Effekthascherei, sondern seine Sprache erlaubt uns »einen Erkenntnisgewinn, dort, wo die Philosophie an ihre Grenzen stößt«. 18 Buber versucht mit seiner Sprache dem dialogphilosophischen Sprachverständnis gerecht zu werden. Auf der Basis dieses besonderen Sprachverständnisses der Dialogik, das seine Ursprünge unter anderem bei Herder und Humboldt hat, und auf dem Weg zu einer ›poetologischen Anthropologie‹ entwickelt Marko Pajević wiederum sein Poetisches Denken: »Unter poetischem Denken verstehe ich die transformierende Kraft im Wechselverhältnis von Sprachform und Lebensform, die wirkt, wenn ein Subjekt sich konstituiert im kreativen Sprechen, also auf dialogische Weise, welches zugleich die Weisen verändert, wie gefühlt, gedacht, verstanden wird, kurz: wie die Welt erscheint.« 19

Es geht Pajević hierbei um das Einbeziehen des poetischen Moments, welcher eine Verwandlung des Autors und des Lesers vollzieht, denn er verändert unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Erfahrung der Wirklichkeit und damit »verwandelt sich derart die Welt.« 20 Buber hat es auf einen solchen poetischen Moment abgesehen: Wo die akademische Fachsprache versucht sich zurückzuziehen, um möglichst nur Information zu übermitteln und sprachliche Wirkungen zurückzudrängen – was ihr nur unvollständig gelingen kann –, hat es Buber auf genau diese transformierende Kraft der Sprache abgesehen. Nicht nur inhaltlich ist Buber pädagogisch, sondern auch sti-

Pajević: Poetisches Denken, 244. Pajević: Poetisches Denken, 249. 19 Pajević: Poetisches Denken, 13. 20 Pajević: Poetisches Denken, 268. Der Autor führt diesen Transformationsprozess auf beeindruckende Weise anhand einer Interpretation des Gedichts Stimmen, von Paul Celan vor, vgl. Pajević: Poetisches Denken, 251–272. 17 18

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listisch: Insbesondere Ich und Du ist eine ›poetisch-pädagogische‹ Schrift, mit performativ-pädagogischem Effekt! Dieses pädagogische Verdienst Bubers möchte ich mir hier zu Nutze machen: Buber umreißt mit seiner genialen Sprache die weitreichenden anthropologischen Konsequenzen, die die Grammatik aufwirft. Die grammatischen Analysen seiner Vorgänger und Mitstreiter wiederum vermitteln das ›Warum?‹ der Buber’schen Problematik. Ich verspreche mir hier also eine wechselseitige Beleuchtung, die zum besseren Verständnis Rosenzweigs, Rosenstock-Huessys und Ebners einerseits und Martin Bubers andererseits führt.

3.1. Ich-Du offenbart und Ich-Es weiß: Die zwei Haltungen zur Welt »Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andre Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das des Grundworts Ich-Es. […] Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es.« 21

Aus der Grammatik wissen wir, dass Wissen im Indikativ vorliegt, auf das Sein aber im Imperativ zugegriffen wird, bzw. genauer: das Sein dem Menschen sich im Imperativ offenbart. In den zitierten Text-

21

Buber: Ich und Du, 3.

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stellen bringt uns Buber nahe, was dieser in der Grammatik herausgearbeitete Sachverhalt bedeutet. Es ist tatsächlich entscheidend, in welchem Modus wir uns zur Welt verhalten, dem »Ich-Es«-Modus oder dem »Ich-Du«-Modus: Mit einer feststellenden Haltung befinden wir uns im Modus »Ich-Es«. Wir häufen Wissen an. Wir greifen auf die Welt zu als etwas, von dem wir im Genitiv Besitz ergreifen könnten. Wissen selbst kann aber nicht beanspruchen, ›wahr‹ zu sein, denn wir machen bloß ›Erfahrungen‹ : »Der Erfahrende hat keinen Anteil an der Welt. Die Erfahrung ist ja ›in ihm‹ und nicht zwischen ihm und der Welt.« 22 Völlig gleichgültig, ob es sich um ›äußere‹ oder ›innere‹, ›offenbare‹ oder ›geheime‹ Erfahrungen handelt, die nur Eingeweihten vorbehalten sind, 23 der Mensch greift mit der besitzerstrebenden Haltung auf eine Weltinterpretation zu, die im Indikativ strukturiert ist. Erfahrend befährt der Mensch die Oberfläche der Dinge: »Er holt sich aus ihnen ein Wissen um ihre Beschaffenheit, eine Erfahrung. Er erfährt, was an den Dingen ist.« 24 Diese haben-wollende Einstellung im IchEs charakterisiert ein Ich in seiner Icheinsamkeit und Duverschlossenheit. Wie Ebner kennt auch Buber zwei Ichs, je nach Modus, in dem sich das Ich befindet. Im Ich-Es-Modus macht der Mensch ›Erfahrungen‹ (ganz im kantischen Sinne): »die immer schon vorentworfene und also eingeordnete Erkenntnis.« 25 Hier ist die Wirklichkeit scheinbar ganz abgetrennt vom Erkenntnissubjekt und auch die Wirklichkeit selbst ist fragmentiert. Aber der Mensch ist selbst auch Teilhabender am Sein. Im IchDu-Modus begegnet er der Welt. Er ist völlig offen für die ganze Welt: »Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, Es ist nur dadurch, daß es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht.

Buber: Ich und Du, 6. Esoteriker verlangen typischerweise erst die »Einweihung« in dieses Wissen, bevor sie Kritik überhaupt zulassen (oder damit sie erst gar nicht zugelassen werden muss). Angesichts der Grammatik muss diese Rechtfertigungstaktik allerdings aufgegeben werden. 24 Buber: Ich und Du, 5. 25 Casper: Denken, 25. 22 23

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Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik

Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.« 26

Wie wir bereits wissen, formt der Imperativ der Wechselrede zwischen Ich und Du eine Beziehung: Er sucht sich sein Subjekt. Mit einer rein offenen Haltung dem Anderen gegenüber befinden wir uns im »Ich-Du«-Modus. Wir werden so erst empfänglich für den Imperativ. »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie […].« 27 Im Ich-Du haben wir kein Etwas vor uns, von dem wir im Genitiv Besitz ergreifen könnten, denn es ist unmittelbares, vorurteilsloses Erleben. Keine einnehmende Interpretation steht zwischen Ich und Du. Bubers vornehmliches Interesse gilt dabei der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung, 28 erschöpft sich aber nicht in der rein mitmenschlichen Sphäre. Im Ich-Du-Modus sind wir offen gegenüber der Natur, dem Menschen, der Kunst und – wie vor allem auch Ebner betont – gegenüber Gott. Entscheidend hierfür ist: »Beziehung ist Gegenseitigkeit. […] Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.« 29 ›Seele‹ oder ›Dryade‹ oder auch ›Gattung‹, ›Art‹ wäre bereits eine voreingenommene Einordnung, die der unmittelbaren Beziehung, in diesem Fall zum Baum, im Weg stehen würde. Der Baum selber (wir könnten sagen der Baum mit seinem Eigennamen) begegnet uns in diesem Modus. Die Beziehung steht also unter dem Zeichen der Offenheit für den Imperativ: »Die Schöpfung offenbart ihre Gestaltigkeit in der Begegnung; sie schüttet sich nicht in wartende Sinne, sie hebt sich den fassenden entgegen.« 30 Aber der Mensch kann nicht ewig im Ich-Du-Modus verbleiben: »Das einzelne Du muß, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden.« 31 Aus dem Beziehungsmodus des Ich-Du muss also wieder ausgetreten werden in das Ich-Es. Das im Imperativ Erlebte wird in die Wissensform des Indikativs übertragen: »Echte Anschauung ist kurz bemessen; das Naturwesen, das sich mir eben erst im Geheimnis der Wechselwirkung erschloß, ist nun wieder be26 27 28 29 30 31

Buber: Ich und Du, 4 f. Buber: Ich und Du, 12. Vgl. Wehr: Buber-Biographie, 83. Buber: Ich und Du, 8. Buber: Ich und Du, 26. Buber: Ich und Du, 33.

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schreibbar, zerlegbar, einreihbar geworden, der Schnittpunkt vielfältiger Gesetzeskreise.« 32 Umgekehrt aber: »Das einzelne Es kann, durch Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden.« 33 Wir haben es hier mit einem Wechsel zwischen den beiden Modi des Imperativs und des Indikativs zu tun. Während wir den Ich-Du-Modus, der offen ist für das Sein im Imperativ, irgendwann verlassen müssen, kann das Wissen, das im Indikativ vorliegt, wieder in die Urbewährung der Grammatik hineingerissen werden. In der Haltung des Ich-Du kommt nicht nur vollkommen Neues, als Geheiß, 34 in die Welt des Menschen, sondern mit ihr kann auch bloß ›Gewusstes‹ sich bewähren, also seine zeit-räumliche Gültigkeit für die Dauer des Beziehungsvorgangs gewinnen. Gemeinsam mit Rosenstock-Huessy 35 und Rosenzweig machen einige Interpreten Buber diese sog. »Alternativik« zwischen Ich-Du und Ich-Es zum Vorwurf. So äußert Rosenzweig 1922 als Erster diese Kritik in einem Brief, noch vor dem Erscheinen von Ich und Du: »Sie geben dem Ich-Du im Ich-Es einen Krüppel zum Gegner. Daß dieser Krüppel die moderne Welt regiert, ändert nichts daran, daß es ein Krüppel ist.« 36 Auch Grätzel betont diesen Sachverhalt, indem er darauf hinweist, dass bei Buber die Vorrangigkeit des Du noch nicht verankert sei, und führt aus: »Das primäre Grundwort wäre deshalb nicht Bubers Ich-Du, sondern das Du-Ich. Das Ich emanzipiert sich erst aus dem Du, als das es angesprochen und benannt ist, und entwickelt dann erst eigenständige Beziehungen zu einem anderen Du.« 37

Während dem zweite Teil dieser Kritik – im Zitat – meines Erachtens zuzustimmen ist, scheint der erste Teil der Kritik Grätzels – gemeinsam mit der Kritik Rosenzweigs, Rosenstock-Huessys und Schmids – allerdings ihr Ziel zu verfehlen. Bei genauerer Betrachtung ist Bubers Alternativik nur vordergründig Alternativik: Der Mensch verhält sich zur Welt sowohl im Ich-Du als auch im Ich-Es. Bubers pädagogi32 33 34 35 36 37

Buber: Ich und Du, 17 f. Buber: Ich und Du, 33. Vgl. auch Kap. 5. Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 79 f. Rosenzweig: Briefe und Tagebücher, Den Haag 1979, 824. Grätzel: Versöhnung, 177.

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sches Anliegen ist es aber nicht nur, diese beiden Modi zu beschreiben, sondern auch, ihre Relation zueinander zu bestimmen, wodurch nach unserem Maßstab II ihre Relevanz herausgestellt wird. 38 Buber betont klar den ontologischen Primat des Ich-Du-Modus. Das wird schon in folgendem Satz deutlich: »Im Anfang ist die Beziehung […].« 39 Buber warnt auch: »Unsere Beziehungen zu den Wesen drohen unablässig sich zu verkapseln.« 40 Wie bei Rosenzweig der Imperativ dem Indikativ zeitlich vorausgeht – denn alles, was sich im Indikativ erzählen lässt, muss einmal geschehen sein – muss auch das Ich-Du dem Ich-Es vorausgehen. Im Ich-Es wird, grammatisch gesprochen, die Imperativform der Begegnung in die Wissensform des Indikativs übertragen: Aus Begegnung wird Inhalt. Was bei Buber vordergründig als Alternativik erscheint, entpuppt sich hintergründig als Relationierung. Auf der inhaltlichen Ebene ist Buber also auf der Höhe seiner dialogphilosophischen Mitstreiter. Andererseits ist Grätzels terminologischem Einwand zuzustimmen, dass das primäre Grundwort eigentlich kein Ich-Du, sondern ein Du-Ich ist, korrekt. Bubers Interesse gilt vor allem dem anthropologischen Stellenwert der Beziehung. Denn er stellt fest: Das Ich-Du verwandelt den Menschen im Zwischen. Wir wissen bereits: »Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden« 41 und »Der Mensch wird am Du zum Ich.« 42 Da das Ich vom Du hervorgebracht wird, 43 wie es bereits Ebner beschreibt (siehe oben!), überrascht es nicht, dass der Ich-Du-Modus das Ich auch weiter beeinflusst: »Es ist dies, daß der Mensch aus dem Moment der höchsten Begegnung nicht als der gleiche hervorgeht, als der er in ihn eingetreten ist. Der Moment der Begegnung ist nicht ein ›Erlebnis‹, das sich in der empfänglichen Seele erregt und selig rundet: es geschieht da etwas am Menschen. […] Der

Maßstab II: Erst die Relation bekundet die Relevanz. Buber: Ich und Du, 27. 40 Buber: Die Frage an den Einzelnen, 222. 41 Buber: Ich und Du, 11 f. 42 Buber: Ich und Du, 28. 43 Vgl. hierzu auch unten den Exkurs: »Das Ich als Faktum« in Kap. 8: Das Ich entsteht, indem es angesprochen wird, sprich: zum Antworten gezwungen wird. Strenggenommen entsteht das Ich nicht einmal und besteht anschließend einfach nur, sondern es wird in jeder Ich-Du-Beziehung erneuert, während es in der Ich-EsBeziehung eine blasenähnliche Selbstreferenz im obliquen Kasus ist. 38 39

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Ich-Du offenbart und Ich-Es weiß: Die zwei Haltungen zur Welt

Mensch, der aus dem Wesensakt der reinen Beziehung tritt, hat in seinem Wesen ein Mehr, ein Hinzugewachsenes, von dem er zuvor nicht wußte und dessen Ursprung er nicht rechtmäßig zu bezeichnen vermag. […] Die Wirklichkeit ist, daß wir empfangen, was wir zuvor nicht hatten, und es so empfangen, daß wir wissen: es ist uns gegeben worden. In der Sprache der Bibel: ›Die auf Gott harren, werden Kraft eintauschen.‹ In der Sprache Nietzsches […]: ›Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt.‹ Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen ›Inhalt‹, sondern eine […] Gegenwart als Kraft.« 44

Inhalte liegen im Ich-Es-Modus als Indikative vor und können verwendet, verändert, weitererzählt werden. Das bloße ›Einverleiben‹ von Wissen führt nicht zu einer wesentlichen Veränderung des Menschen. Das liegt daran, dass der Erkennende im Ich-Es-Modus von der Wirklichkeit distanziert ist: Er versucht, durch Wissen Herr über die Wirklichkeit zu werden. Dafür nimmt er eine künstliche Begrenzung der Welt in Kauf, der er sich gegenüberstellen kann, als ob sie objektiv wäre. Durch diese Gegenüberstellung nimmt sich der Mensch im IchEs-Modus aus der Schusslinie. Im Ich-Du-Modus begibt sich der Mensch gerade in diese Schusslinie hinein: An ihm selbst bewährt sich etwas, das im Imperativ aus dem Zwischen auf ihn zukommt. Bei dieser Offenheit kann man durchaus von einem ganzheitlichen Horizont sprechen: Man weiß nicht, was kommt, man weiß auch nicht, was das Ganze ist: Aber wie der geographische Horizont mit fortlaufender Bewegung ›wandert‹, ist der Mensch im Horizont des Ich-Du wandernd offen für das Ganze (freilich ohne zu wissen, was ›das Ganze‹ sei und ob es so etwas überhaupt gibt). Diese unmittelbare Beziehung vollzieht sich also zwischen konkretem Ich und konkretem Du. Im Zwischen werden die Gesprächspartner im Imperativ angesprochen und antworten auf ihn. Es geschieht Sprache. Das »Zwischen« ist also, insofern es sich vollzieht. Es ist die Sphäre, in der die Beziehung zeit-räumlich lokalisiert ist. Buber spricht von einer Urkategorie der menschlichen Wirklichkeit, 45 da im Zwischen das im Imperativ herangetragene Sein bejaht werden kann. 46 Das Zwischen hat also transzendentale Bedeutung: Hier geschieht der eigentliche Zugriff der Wirklichkeit. 44 45 46

Buber: Ich und Du, 105. Vgl. Wehr: Buber-Biographie, 94 f. Vgl. Casper: Denken, 289.

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Martin Bubers Pädagogik der Verantwortung und ihre Grammatik

Bis hierhin folgt Buber offensichtlich dem Rosenzweig’schen und Ebner’schen Denken: 1) Im Ich-Es-Modus haben wir es – mit Rosenzweig gesprochen – mit der ›Schöpfung‹ zu tun. Mit dieser müssen wir einen Umgang finden, deshalb beziehen wir uns auf sie (und auch auf uns selbst als Geschöpfe) im obliquen Kasus. 2) Im Ich-Du-Modus haben wir es – mit Rosenzweig gesprochen – mit ›Offenbarungen‹ zu tun. Für Offenbarungen müssen wir offen sein, d. h. wir müssen irgendwie die Vorurteile der Vergangenheit ablegen. 47 Offenbarungen stehen im Imperativ und ›heißen‹ uns, d. h. Nominativ und Vokativ stehen, wie Ebner es entdeckte, zusammen.

3.2. Was im Zwischen geschieht: Verantwortung als Bewährung Was geschieht genau zwischen Ich und Du? Warum und wie kann der Imperativ uns verwandeln? Von Rosenstock-Huessy wissen wir bereits: Der Imperativ sucht sich sein Subjekt. Buber gibt für diese Subjektlosigkeit konkrete Beispiele: Beim Innewerden geht es anders zu: Wenn mir in einer empfänglichen Stunde meines persönlichen Lebens ein Mensch begegnet, an dem mir etwas, was ich gar nicht gegenständlich zu erfassen vermag, ›etwas sagt‹ : »Das heißt keineswegs: mir sagt, wie dieser Mensch sei, was in ihm vorgehe und dergleichen. Sondern: mir etwas sagt, mir etwas zuspricht, mir etwas in mein eigenes Leben hineinspricht. Das kann etwas über diesen Menschen sein, zum Beispiel, daß er mich braucht. Es kann aber auch etwas über mich sein. Der Mensch selber in seinem Verhalten zu mir hat mit diesem Sagen nichts zu schaffen; er verhält sich nicht zu mir, er hat mich wohl gar nicht bemerkt. Nicht er sagt es mir, wie jener Einsame seinem Nachbarn auf der Bank schweigsam sein Geheimnis gestand: es sagt.« 48

Nicht der Befehl eines anderen Menschen kennzeichnet die Ich-DuBeziehung. Dem Befehl, der selbstverständlich auch im Imperativ Um dies zu gewährleisten, schlägt Goldschmidt seine Losung Freiheit für den Widerspruch vor, der ich mit unserem Maßstab I sekundiere: »Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein.« vgl. Kap. 6. 48 Buber: Zwiesprache, 151 f. 47

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steht, kann ich gehorchen, widersprechen und ihn überhören. Aber wenn mir ›etwas am anderen Menschen‹ etwas sagt, dann bin ich offen dafür, von diesem Etwas angesprochen zu werden. »Es steht etwas im Raume« oder »Es sagt mir etwas« sind die etwas verlegenen Ausdrücke unserer Alltagssprache dafür, dass mir eine Tat ohne Täter begegnet. Menschen, Tiere, Pflanzen oder Steine: etwas an ihnen kann mir was sagen. 49 Auch sagt es nur mir etwas: Ich persönlich bin angesprochen und merke auf und kann mich diesem Anspruch nicht entziehen: »Es wird also dem Aufmerkenden zugemutet, daß er der geschehenden Schöpfung standhalte. Sie geschieht als Rede, und nicht als eine über die Köpfe hinausbrausende, sondern als die eben an ihn gerichtete […].« 50 Auch wenn ich den Anspruch an mich überhören und ignorieren, mit Schweigen quittieren oder mich anderen gewohnten Dingen zuwenden kann: reagieren muss ich irgendwie, »obwohl wir beidemal eine durch keine Produktivität und durch keine Betäubung zu vergessende Wunde davontragen« 51 Oder wir gehen auf die Situation ein: Wir antworten. »Die Worte unserer Antwort sind in der wie die Anrede unübersetzbaren Sprache des Tuns und des Lassens gesprochen, – wobei das Tun sich wie ein Lassen und das Lassen wie ein Tun gebärden darf. Was wir so dem Wesen sagen, ist unser Eingehen auf die Situation, in die Situation, sie, die uns eben jetzt angetreten hat, deren Erscheinung wir nicht kannten und nicht kennen konnten, weil es ihresgleichen noch nicht gegeben hat. Wir werden nun mit ihr nicht fertig, darauf haben wir verzichten müssen, nie ist mit einer Situation, deren man inne ward, fertig zu werden, aber wir bewältigen sie in die Substanz des gelebten Lebens ein. So erst, dem Augenblick treu, erfahren wir ein Leben, das etwas anderes als eine Summe von Augenblicken ist. Dem Augenblick antworten wir, aber wir antworten zugleich für ihn, wir verantworten ihn.« 52

Gehen wir auf die Situation ernsthaft ein, antworten wir auf den Anspruch an uns. Da dieser Imperativ im Anspruch in mir seinen Täter gefunden hat, antworte ich aber auch für ihn: Ich verantworte ihn. Verantwortung ist der Moment, in dem sich eine Person auf ein Verhältnis zur Wahrheit einlässt. Nicht durch das Besitzergreifen von etwas, sondern durch das sich Einlassen auf Verantwortung hat der 49 50 51 52

Vgl. Buber: Zwiesprache, 153. Buber: Zwiesprache, 162. Buber: Zwiesprache, 163. Buber: Zwiesprache, 163.

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Mensch Geschichte bekommen. Löwen und Tiger haben, so Buber, vielleicht eine Biographie, aber keine ›Weltgeschichte‹, da dem Raubtier das sich Einlassen auf Verantwortung »sinnlos und grotesk erscheinen müßte«. 53 Verantwortung, die sich nach einem Dogma, einer Tradition oder einem Prinzip richtet, ist Schein-Verantwortung. »Der Begriff der Verantwortung ist aus dem Gebiet der Sonderethik, eines frei in der Luft schwebenden ›Sollens‹, in das des gelebten Lebens zurückzuholen. Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt.« 54 Der pedantische Prinzipienreiter, der gehorsame Messdiener, der schleimende Student oder der aalglatte Karrierist empfindet sich vielleicht als außerordentlich verantwortlich ob seiner Zukunft. Aber er ist keine verantwortliche Person, denn er hat die Verantwortung abgeschoben, wahlweise auf ein Prinzip des Handelns, auf die kirchliche Tradition, die berufsorientierte Studienordnung oder die BusinessGepflogenheiten. Sie alle sind also schein-verantwortlich. Buber entlarvt solche Schein-Verantwortlichkeiten geradezu als »Krieg gegen die dialogische Gewalt der Situation […]. Das Dogma ist, auch wo sein Herkunftsanspruch unbestritten bleibt, die erhabenste Form des Gefeitseins gegen die Offenbarung geworden. Die will kein Perfektum dulden, aber der Mensch mit den Künsten seines Sicherungswahns steift sie zur Perfektion ab.« 55 Doch wie können wir sicher sein, dass ich nicht bloß der Illusion von Verantwortung aufgesessen bin, sondern tatsächlich etwas verantworte? An was kann ich mich hierbei orientieren? Was ist der Maßstab für faktische Verantwortung, wie sieht deren Grammatik aus? Buber selbst schreibt nicht in grammatischen Kategorien. Aber er beschreibt Beziehungsqualitäten, die sich in der Grammatik ausdrücken lassen. Mit Rosenzweig gesprochen: Schöpfung im Indikativ kann die Verantwortung nicht sein, denn sie wird ja durch einen Imperativ initiiert. Offenbarung ist sie auch nicht, denn ich bin es ja, der auf und für das im Imperativ Stehende antwortet. Tatsächlich hat die Verantwortung die grammatische Struktur der Erlösung! 53 54 55

Buber: Die Frage an den Einzelnen, 252. Buber: Zwiesprache, 161. Buber: Zwiesprache, 165.

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Der Zwiegesang ist bei Rosenzweig ja durch den Kohortativ geprägt, der die gemeinsame Intention zur Gemeinsamkeit ausdrückt. Verantworte ich etwas, antworte ich auf eine Aufforderung in der Sprache des Tuns und Lassens: Für den Imperativ der Situation ist nur der Aufmerkende offen. Trifft der Imperativ aber auf einen bereits für den Imperativ ›Aufgemerkten‹, ist er ja kein Imperativ, sondern ein Kohortativ! Verantwortung steht im Zeichen einer gemeinsamen Intention. Denn der Verantwortliche antwortet auf und für; er erzwingt nicht. Verantwortung folgt einer Aufforderung, die gemeinsam ist. Die Verantwortung betrifft Gott, Welt und Mensch: »Wer aber die reale, die dialogische Verantwortung übt, braucht den Sprecher des Worts, dem er antwortet, nicht zu benennen – er kennt ihn in der Substanz des Wortes, das andringend, eindringend, den Tonfall einer Innerlichkeit annehmend, ihm das Herz des Herzens bewegt.« 56 Verantwortung ist charakterisiert durch eine gemeinsame Aufforderung von Gott, Welt und Mensch und deren Verbindung. Auch ist in der Verantwortung weder der Aufgeforderte, noch der Auffordernde – die ja im Kohortativ auch das jeweils Andere sind – Objekt. Wie sieht die Grammatik dieser Verbindung der Verantwortung also aus? Wie sind die jeweiligen Akteure Mensch, Welt und Gott in der Verantwortung aufeinander bezogen? Nun, wir wissen es bereits: Es ist der Dativ, der diese Verbindung der Verantwortung kennzeichnet, denn im Dativ beziehen wir uns auf anderes, indem wir es nicht ›verobjektivieren‹, wie im Genitiv, sondern das Andere als dieses Andere in seiner Anderheit respektieren. Bei Rosenzweig geht es um Dank: Im Dank beziehen wir uns auf den Anderen und respektieren dabei seine Anderheit. Im Zwiegesang wurde »Danke« gesagt und damit die Verbindung des Auffordernden mit dem Aufgeforderten bestätigt. Der Aufgeforderte/Auffordernde sagt »Danke«, weil er aufgefordert wurde. Der Aufgeforderte/Auffordernde sagt aber gleichzeitig auch »Bitte«, weil er auffordert! Verantwortung steht also grammatisch im Modus des Kohortativs. Dieser Modus ist weder der Ich-Es-Modus, in dem Ich und Es sich im Indikativ und Genitiv aufeinander beziehen, noch der Ich-

56

Buber: Zwiesprache, 164.

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Du-Modus, in dem das Du das Ich im Imperativ und Vokativ anspricht. Buber müsste diese Haltung der Verantwortung eigentlich »DuDu« 57 nennen: Denn der Auffordernde im Kohortativ, der sich im Dativ auf den Aufgeforderten bezieht, ist ein Du – der Aufgeforderte als zugleich Auffordernder aber auch! Es handelt sich hier also um ein »Du und Du«. Da Buber diesen Schritt selbst nicht vollzieht, sondern es seinen Interpreten überlässt, das »Ich-Du« vom »Du-Du« zu unterscheiden, ist Rosenstock-Huessys Feststellung, Bubers dialogisches Denken präsentiere sich in »cartesischer Maskerade«, 58 wohl zutreffend. Folgerichtig warnt Rosenstock-Huessy vor einer gnostischen Auslegung des »Ich-Du« als Präsenzmystik oder Ähnliches. 59 Bubers auffällige Ich-Fixierung im »Ich-Du« und »Ich-Es« 60 ist nur eine Maske, für deren Ablegen er uns nach »Ich und Du«, wie oben dargestellt wurde, einige Interpretationshinweise gegeben hat. Aus einer Ich-Du-Beziehung kommt der Mensch immer als ein anderer heraus: Verweigert er die Antwort, kommt er als ›Verwundeter‹ heraus. Antwortet er, kommt er als Verantwortlicher heraus. Buber unterscheidet also zwischen bloßem »Wissen einverleiben« und »antworten« und. »verantworten«: • Wissen einverleiben verändert nicht die Intention des Wissenwollenden. Eventuell möchte er noch mehr wissen oder sein Wissensdurst ist gesättigt. • Antworten: Ein Imperativ, der uns heimsucht, provoziert uns zum Antworten. Wir antworten auf ihn im authentischen IchDu-Modus, der die Intention des Menschen verändert. • Verantworten: Das Antworten unterscheidet sich vom Verantworten in seiner Grammatik: Buber skizziert es als »antworten für etwas«. Diese Art zu antworten steht nicht im Imperativ, sondern in der kohortativen Erlösungsstruktur. Aus dem IchDu des Antwortens wird so ein Du-Du des Verantwortens. Es besteht also ein entscheidender Unterschied zwischen Antworten und Verantworten, der aber nur deutlich wird, wenn die Goldschmidt nutzt den Terminus »Du und Du« in ähnlichem Zusammenhang: wenn von der Du-Begegnung aus die Wir-Begegnung bewältigt wird. Vgl. Goldschmidt: Selbstentfaltung und Selbstanalyse, 52 f. 58 Schmid: Grammatik statt Ontologie, 84. 59 Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 76. 60 Genauer formuliert handelt es sich ja eigentlich um ein »Du-Ich« und ein »Ich-Es«. 57

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Grammatik bei der Charakterisierung beider einbezogen wird. Wenn es also noch im Handbuch Verantwortung von 2017 heißt, die Buber’sche interpersonale Verantwortungslehre sei folgendermaßen zu charakterisieren: »Verantwortung als ›Antwort‹ des Menschen auf das ihm begegnende ›Du‹«, 61 dann ist dies nicht korrekt. Verantworten ist zwar auch ein Antworten, aber (genau betrachtet) nicht auf, sondern für etwas: »Ein neuerschaffenes Weltkonkretum ist uns in die Arme gelegt worden; wir verantworten es. Ein Hund hat dich angesehen, du verantwortest seinen Blick, ein Kind hat deine Hand ergriffen, du verantwortest seine Berührung, eine Menschenschar regt sich um dich, du verantwortest ihre Not.« 62

Bestes Beispiel ist die Liebe. Sie haftet dem Menschen nicht bloß an, »so daß sie das Du nur zum ›Inhalt‹, zum Gegenstand hätte«, 63 Liebe »ist zwischen Ich und Du«. 64 Wir erinnern uns: Liebe steht im Imperativ. Sie ist kein unverbindlicher Flirt, sondern beschwörend, befehlend. Gegenseitige Liebe aber verändert: »Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du […].« 65 Nicht Gefühle verwandeln, sondern das Kommende, das Du. Aber Gefühle folgen: »Auch Einrichtungen des sogenannten persönlichen Lebens können nicht aus dem freien Gefühl erneuert werden (wiewohl freilich nicht ohne es). Die Ehe etwa wird sich nie aus etwas andrem erneuern, als woraus allzeit die wahre Ehe entsteht: daß zwei Menschen einander das Du offenbaren. Daraus baut das Du, das keinem von beiden Ich ist, die Ehe auf. Dies ist das metaphysische und metapsychische Faktum der Liebe, das von den Liebesgefühlen nur begleitet wird.« 66 »Wer ›eine Ehe eingegangen ist‹, wer in die Ehe eingegangen ist, hat in der Intention des sacramentum damit Ernst gemacht, daß der Andre ist: daß ich am Seienden nicht rechtmäßig teilnehmen kann, ohne am Sein des Andern teilzunehmen; daß ich auf die lebenslange Anrede Gottes an mich nicht antworten kann, ohne für den Andern mitzuantworten; daß ich mich nicht

61 62 63 64 65 66

Kreß: Verantwortung in Religion und Kultur, 653 f. Buber: Zwiesprache, 163. Buber: Ich und Du, 15. Buber: Ich und Du, 15. Buber: Ich und Du, 15. Buber: Ich und Du, 43 f.

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verantworten kann ohne den Andern mit zu verantworten, als der mir anvertraut ist.« 67

Was für die Liebe gilt, dass sie zwar von Gefühlen begleitet wird, aber diese sie nicht ausmachen, gilt im Übrigen für das Gemeinschaftsleben insgesamt. Auch in der Gemeinde folgen Gefühle erst auf das Gemeinschaftsstiftende: »[…] die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und daß sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen. […] Lebendig gegenseitige Beziehung schließt Gefühle ein, aber sie stammt nicht von ihnen.« 68

Das wahre Gemeinschaftsleben hängt von den unmittelbaren Beziehungen zwischen konkretem Ich und konkretem Du ab. Es erneuert sich also im Dual, in der gegenseitigen Beziehung. Zum Gemeinschaftsstiftenden gehört aber auch die lebendige Mitte. Wie bei Rosenzweig und Rosenstock-Huessy verbindet sich also ein Stück Mensch, Welt und Gott in einem »Wir«. 69 Das Gemeinschaftsleben nach Buber deckt sich weitgehend mit den oben skizzierten Vorstellungen der anderen Dialogphilosophen: die Kraft der Gegenwart, die ja vor allem Inhalt kommt, besteht hier im Ich-Du, das zum Du-Du werden muss – zu der gemeinsamen Intention zur Gemeinsamkeit, die Verantwortung ist. Allerdings ist auch diese Ich-Du- bzw. Du-Du-Beziehung nur zeitweilig und muss in das Ich-Es zurückfallen. Dann kommt der Inhalt. Dieser muss sich aber immer wieder im Ich-Du bewähren, im Dual also. Die letzte Gemeinschaft, die Allheit des wandernden Duals, ist also auch hier, bei Buber, verheißen. »Es ist offenbar, daß für den in der Gemeinschaft lebenden Menschen der Boden der personhaften Wesensentscheidung von dem Faktum der sogeBuber: Die Frage an den Einzelnen, 232. Buber: Ich und Du, 43. 69 Schmid wirft Buber eine erkünstelte Gemeinschaftsbildung als unfruchtbare Konstruktion vor. Als Mangel führt er die fehlende Dimension der Zukunft an (vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 81). In unserer Interpretation, die Buber vor dem Hintergrund der Grammatik interpretiert und damit auf den kohortativen Charakter der Buber’schen Gemeinschaftsbildung verweist (was Schmid nicht berücksichtigen konnte, denn er interpretierte nur Rosenstock-Huessy und nicht Rosenzweig), erübrigt sich diese Kritik. 67 68

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Was im Zwischen geschieht: Verantwortung als Bewährung

nannten Kollektiventscheidungen dauernd bedroht ist. Ich erinnere an Kierkegaards Warnung: ›Menge gewährt entweder völlige Reuelosigkeit und Unverantwortlichkeit oder schwächt doch die Verantwortung für den Einzelnen dadurch, daß sie diese zur Größe eines Bruchs herabsetzt.‹ Aber ich muß es anders fassen: in praxi, im Augenblick des Vollzugs, nur zum Schein eines Bruchteils, danach aber, wenn du im wachen Traum nach Mitternacht vor den Thron geschleppt wirst und die verscherzte Berufung zum Einzelnen dich überfällt, ist die ganze Verantwortung erstanden.« 70

70

Buber: Die Frage an den Einzelnen, 242.

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4. Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie bei Wilhelm von Humboldt

Gefragt nach dem Einfluss der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts (1767–1835), hält sich die dialogphilosophische Sekundärliteratur, wenn sie ihn nicht einfach ignoriert oder schroff negiert, 1 auffällig bedeckt. Andererseits werden aber, der doch auffälligen inhaltlichen Parallelen wegen, immer wieder Bezüge zu Humboldts Denken, das bereits eine Kopernikanische Wende der Sprachphilosophie vollzieht, entdeckt: Insbesondere Rosenzweigs Denken ist mindestens indirekt beeinflusst, auch wenn er diesen Einfluss nirgends ausweist: 2 Vor allem aber Rosenzweigs Erlösungskonzept – das ja wie oben herausgearbeitet wurde ein Kerngedanke dessen ist, was wir unten mit Goldschmidt als »Dialogik« bezeichnen – scheint eine mehr oder weniger ›freie‹ Verarbeitung von Humboldts Über den Dualis zu sein. 3 Auch seinen Terminus der Wechselrede entlehnt er jener Humboldt’schen Schrift. 4 Unter den Autoren der Sekundärliteratur hebt, neben Pajević, 5 insbesondere Theunissen den Einfluss Humboldts auf die Dialogphilosophen hervor. So diagnostiziert Theunissen zunächst allgemein: »Gerade die Philosophie des Dialogs, die durch ihre Verachtung der Schulmetaphysik Traditionslosigkeit vortäuschen mag, nährt sich aus dem Sprachdenken Hamanns, Jakob Grimms und Wilhelm v. Humboldts, aus der Glaubensphilosophie Jacobis, der Sittenlehre Fichtes, den Einsichten der Romantik, den frühen Gedanken Hegels und aus Feuerbachs ›Philosophie der Zukunft‹« 6

1 2 3 4 5 6

Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 127 f. Vgl. Casper 2002, 144. Vgl. Casper 2002, 139 f. Vgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 125. Vgl. Pajević: Poetisches Denken. Theunissen: Der Andere, 5.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Aber auch unter diesen erklärt Theunissen Humboldt »in einem direkteren Sinne zum Wegbereiter der modernen Philosophie des Dialogs«: 7 Humboldt unterscheidet bereits wie später die Dialogphilosophen das Du als Angeredeten von allen Anderen, 8 charakterisiert das Sprechen als »ein gegenseitiges Wecken des Vermögens des Hörenden«, 9 welches »als solches ein Miteinandersprechen« ist. 10 Insbesondere aber sind die dialogphilosophischen Beschreibungen zur Rolle der Grammatik bei Humboldt entweder schon entdeckt, wie im Falle des Vokativs, oder schon angelegt. 11 Auch bei Rosenstock-Huessy finden sich nur vereinzelt Verweise auf Humboldt. Aber durch sein intensives Sprachstudium und die auffallenden inhaltlichen Parallelen muss man eine fundierte Humboldt-Kenntnis bei Rosenstock-Huessy vermuten. Die auffälligsten Parallelen finden sich wohl bei Ebner, der einerseits Humboldts Sprachauffassung zur Theologie der Sprache zu erweitern sucht, 12 andererseits aber entscheidende Humboldtsche Schriften nicht gekannt haben kann. 13 Trotzdem führt Ebner explizit sein dialogischees Denken besonders auf Humboldt zurück. 14 Der Einfluss Humboldts auf die Dialogiker ist für uns an dieser Stelle also nicht klar erkennbar. Dialogphilosophie ist Sprachphilosophie. Mit Rückgriff auf den zweideutigen Traditions-Begriff, wie ihn Jürgen Trabant in seiner Humboldt-Interpretation einführt – Traditionen, die zu Humboldt hinführen und von ihm aufgegriffen werden oder auch nicht und die Traditionen, die durch Humboldts Prägung hindurchgehen und später aufgegriffen werden, oder eben nicht 15 –, werde ich im Folgenden diese These erhärten: Wilhelm von Humboldt dringt avant la lettre bereits bis zum inhaltlichen Kern der Dialogphilosophie vor, deren Vollgehalt dann allerdings erst die Dialogphilosophen – jeder auf seine besondere Art und Weise – ausartikulieren. Durch diese inhaltTheunissen: Der Andere, 283. Vgl. Theunissen: Der Andere, 283. 9 Theunissen: Der Andere, 285. 10 Vgl. Theunissen: Der Andere, 428. 11 Vgl. Theunissen: Der Andere, 303. 12 Vgl. Berglar: Wilhelm von Humboldt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 13. 13 Vgl. Casper 2002, 197 f. 14 Vgl. Theunissen: Der Andere, 256. 15 Vgl. Trabant: Traditionen Humboldts, 9. 7 8

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

liche Nähe stehen die Dialogphilosophen in der Tradition Humboldts, völlig unabhängig davon, inwiefern, ob überhaupt, und wenn ja, wie stark sie sich von Humboldt direkt oder indirekt haben inspirieren lassen.

4.1. Was ist Sprache? – Vier Antworten Was ist Sprache? Wilhelm von Humboldt findet auf diese Frage mindestens vier Antworten, die alle keine finale Definition von »Sprache« liefern, sich aber gegenseitig ergänzend das Wesen der Sprache zu umkreisen versuchen. In der Einleitung zu seinem Werk über die Kawi-Sprachen, 16 für das er am Ende seines Lebens alle Register des sprachphilosophischen Methodenkoffers ziehen muss (und offenbar kann!) und den er in dieser Einleitung ausbreitet gibt er seine berühmteste, einflussreichste 17 und wohl auch eingängigste Charakterisierung vom »Wesen« der Sprache: Die Sprache als energeia »Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig machen.« 18

Vordergründig erscheint Humboldt die Sprache also etwas paradox als etwas Beständiges und gleichzeitig in jedem Augenblick aber Vorübergehendes. Bei genauerem Hinsehen ist das beständige Moment der Sprache aber abhängig vom unbeständigen: In Textform vorliegend ist die Sprache ja mindestens abhängig vom Gelesen- und Geschriebenwerden. Begriffe existieren nicht ohne den Laut: »Die vermeintlichen Begriffs-Schriften sind daher in Wirklichkeit verkappte Lautschriften.« 19 Dieser Sachverhalt ist in der heutigen GrammatoSein Hauptwerk zu den Kawi-Sprachen ist posthum erschienen. Dessen Einleitung ist unter dem Titel Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts weltberühmt geworden und bis jetzt der wohl einflussreichste Text aus der Feder Humboldts. 17 Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 248. 18 Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 36. 19 Trabant: Traditionen Humboldts, 81. 16

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Was ist Sprache? – Vier Antworten

logie weitgehend anerkannt. Der Sprache kommt also ein Geschehnischarakter zu: Sprache ist eine Tätigkeit, weshalb Humboldt sie, auf Aristoteles anspielend, als energeia und nicht ergon, Werk, charakterisiert. Allerdings sollte man, wie Böhler bestechend argumentiert, 20 dieser zugegebenermaßen eingängigen und auch am weitesten rezipierten Energeia-Charakterisierung der Sprache nicht zu viel Gewicht beimessen. Denn direkt hinter obigem Zitat führt Humboldt aus: »Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen.« 21 Humboldt meint mit energeia also insbesondere die Tätigkeit des Sprechens. 22 Die erste Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist somit: Allgemein gesprochen ist die Sprache eine Tätigkeit (energeia) und speziell: Sie wird gesprochen. Wie Böhler hervorhebt ist aber der Zusatz wegweisend, dass die Sprache die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes sei, »denn im Begriff der Arbeit liegt […] die vermittelnde Bewegung von Subjekt und Objekt; Arbeit heißt Ent-äußerung und Hingabe des Subjekts an die Objektwelt, was gleichzeitig auch ein Prozeß der Verinnerlichung und Subjektivierung dieser Objektwelt bedeutet.« 23 Sprache und Arbeit haben also die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt gemeinsam. Doch hier hört die Analogie auch schon auf, denn die sprachliche Vermittlung ist sehr viel umfassender als die der Arbeit: In der Arbeit ist das Objekt rein stofflicher Natur, während in der Sprache das Objekt sowohl als Gegenstand als auch als Lautkörper erscheint. 24 Die ›Arbeit des Geistes‹ besteht dann darin, den Gedanken adäquat zu artikulieren. ›Artikulation‹ : Das »die Funktion des Denkens! Teil- und Ganzes-Sein, Trennen und Zu-einem-Ganzen-Zusammensetzen.« 25 Die ›Arbeit des Geistes‹ ist ein beständiges Brückenschlagen zwischen Laut und Bedeutung.

Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 250. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 36. 22 Unten wird dargestellt, wie (auch) für Humboldt neben das Sprechen auch das Hören (meines Erachtens auch eine energeia im Humboldt’schen Sinne!) tritt. 23 Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 250. 24 Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 250. 25 Trabant: Traditionen Humboldts, 82. 20 21

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Die zweite Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Sprache ist also Humboldts Hinweis auf deren zwischen Subjekt und Objekt wechselseitig vermittelnden Charakter. Zu diesen beiden Punkten kommt noch eine dritte Perspektive hinzu: Humboldt spricht an einigen Stellen vom »Typus« der Sprache, zum Beispiel ganz zentral in der folgende Stelle: »Die Sprache muss zwar, meiner vollesten Ueberzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden; denn als Werk seines Verstandes in der Klarheit des Bewusstseyns ist sie durchaus unerklärbar. Es hilft nicht zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen. Die Sprache liesse sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als blossen sinnlichen Anstoss, sondern als articulirten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muss schon die Sprache ganz, und im Zusammenhange in ihm liegen. Es giebt nichts Einzelnes in | der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an. So natürlich die Annahme allmähliger Ausbildung der Sprachen ist, so konnte die Erfindung nur mit Einem Schlage geschehen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn.« 26

Welches Verhältnis hat also der Mensch zur Sprache? Eine bloße Erfindung des Verstandes kann die Sprache ja nicht sein, denn sie ist im ontologischen Sinne vorverständlich. Der Typus der Sprache muss also, so argumentiert Humboldt, bereits im sprachbegabten menschlichen Verstand angelegt sein. Was ist damit gemeint? Sprache ist ja, so Humboldt, »Arbeit des Geistes« und wird vor allem gesprochen. Der einzelnen Sprache muss also ein Hervorbringungsprinzip inneruhen, das ihrem Geschehnis-Charakter gerecht wird, das mit ihr gleichsam mitwächst und mitdegeneriert. Humboldt nennt dieses Prinzip die innere Sprachform 27 oder lieber noch: Typus. Letzteren Terminus benutzt er offensichtlich im umfassenden griechischen Sinn: typos, griechisch für Gestalt, Schlag, Gepräge, Muster, Gestaltungsprozess: »das geistige Modell oder ideelle Muster, das Werkzeug zu dessen Verwirklichung, die Kraftanwendung und das Produkt des Prozesses«. 28

26 27 28

Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 19 f. Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 82 ff. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 251.

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Was ist Sprache? – Vier Antworten

Der Typus der Sprache ist also nicht bloß der Anstoß, der die Sprache ins Rollen bringt, sondern umfasst auch alle Momente des Gestaltungsprozesses der Sprache: die wirkende generative Formkraft und die Eigenart des jeweiligen Sprachaufbaus. Dieser Typus mit all seinen Elementen ist auf einen Schlag im menschlichen Verstand da, sobald die Sprache erfunden ist. Wie und wann wird die Sprache aber erfunden? Es ist bezeichnend, dass Humboldt uns auf diese Frage keine Antwort gibt, denn das kann er ja selbst nicht wissen, höchstens vermuten! Er betont aber: Wenn der Mensch etwas wahrhaft sagt, sprich: Wenn er ernsthaft etwas zu sagen hat, also eine Intention hat, dann ist die Sprache bereits erfunden, und zwar als ganze Sprache und ihr Typus ist im menschlichen Verstand angelegt! Die Erfindung der Sprache erfolgt auf einmal und ganz, oder gar nicht. Das anschließende ›Ausdeklinieren‹ und ›Durchkonjugieren‹ dieser Intention, also das was wir als Sprachentwicklung historisch beobachten und beschreiben können, das findet selbstverständlich nach und nach statt: Jedes Sprachelement das dabei zum Vorschein kommt, erscheint nur als Teil des Ganzen. 29 Diese Aussage wird auch durch Humboldts Übersicht über die einzelnen Sprachen gestützt, denn bisher sei noch keine ›halbe‹ Sprache mit ›halber‹ Grammatik entdeckt worden: »Es ist eine bemerkenswerthe Erscheinung, dass man wohl noch keine Sprache jenseits der Gränzlinie vollständigerer grammatischer Gestaltung gefunden, keine in dem flutenden Werden ihrer Formen überrascht hat. Es muss, um diese Behauptung noch mehr geschichtlich zu prüfen, ein hauptsächliches Streben bei dem Studium der Mundarten wilder Nationen bleiben, den niedrigsten Stand der Sprachbildung zu bestimmen, um wenigstens die unterste Stufe auf der Organisationsleiter der Sprachen aus Erfahrung zu kennen. Meine bisherige aber hat mir bewiesen, dass auch die sogenannten rohen und barbarischen Mundarten schon Alles besitzen, was zu einem vollständigen Gebrauche gehört, und Formen sind, in welche sich, wie es die besten und vorzüglichsten erfahren haben, in dem Laufe der Zeit das ganze Gemüth hineinbilden könnte, um, vollkommener oder unvollkommener, jede Art von Ideen in ihnen auszuprägen.« 30

Die Entwicklung der Sprache nimmt ihren Weg durch die Zeit, nachdem sie auf einmal und als Ganze erfunden wurde. Wir können hier Aus diesem Grund sah sich Rosenzweig gezwungen, die grammatischen Phänomene tabellarisch darzustellen, vgl. Kap. 2.1. 30 Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12. 29

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

also als dritte Humboldtsche Antwort auf die eingangs gestellte Frage festhalten: Habe ich ernsthaft etwas zu sagen, dann sind bereits die Intention, die generativen Mittel und Kräfte diese auszudrücken und das Resultat in meinem Verstand ganz und auf einmal angelegt. Diese Momente umfasst der Typus der Sprache. Diese Intention kann ich dann nach und nach und vielleicht auch in immer neuen Anläufen artikulieren. Wir brauchen aber nicht erst den metamorphotischen Werkzeugcharakter, der im Typus angelegt ist, hervorheben, um vom soeben skizzierten Typus der Sprache nach dem »organon« der Sprache zu fragen: Denn am häufigsten und offenbar am liebsten 31 spricht Humboldt in diesem Zusammenhang vom »Organismus der Sprachen«, 32 unter Bewunderung der »vollständige[n] Bildung ihres organischen Baues« 33 und ihrem »feingewebten Organismus« 34 mit dem sie die »Natur alles Organischen« 35 teilt: »Der Organismus der Sprachen entspringt aus dem allgemeinen Vermögen und Bedürfniss des Menschen zu reden, und stammt von der ganzen Nation her; die Cultur einer einzelnen hängt von besondren Anlagen und Schicksalen ab, und beruht grossentheils auf nach und nach in der Nation aufstehenden Individuen. Der Organismus gehört zur Physiologie des intellectuellen Menschen, | die Ausbildung zur Reihe der geschichtlichen Entwickelungen.« 36

Hier ist nicht die Rede davon, dass die Sprache ein Organismus sei, »Organismus« also etwa verstanden im biologischen Sinne als Lebewesen oder im vorkantisch-vulgären Sinne (wie zum Beispiel bei der Rede vom »sozialen Organismus«) als Ausrede-Terminus zur Bezeichnung einer komplexen Entität, die bisher nur nicht verstanden wurde, o. Ä. Ein »Organismus« ist gar keine Entität, sondern wir sprechen immer vom Organismus von etwas Konkretem: Es handelt sich um eine Art Klammer-Begriff, der die noch unbekannten Unbekannten einer Sache mitumfasst, sodass wir sinnvoll nach dem Gan-

31 32 33 34 35 36

Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 252. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 16. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 14. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 11. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 16.

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Was ist Sprache? – Vier Antworten

zen dieser Sache fragen können: Der Organismus von etwas verweist immer auf das Andere, das noch Unbekannte dieser Sache. 37 Humboldt verwendet in dieser Textstelle den Terminus »Organismus der Sprachen« in fast synonymer Weise wie den Begriff Typus in der vorigen: Der Organismus der Sprachen entspringt aus der Fähigkeit und dem Bedürfnis der sie sprechenden Menschen zu reden. Wir nannten dies Intention: Hat jemand wirklich etwas zu sagen, wird der Organismus der Sprachen in Gang gesetzt. Er wird aber nicht durch die Intention hervorgebracht, sondern stammt von der ganzen Nation her: Humboldt meint mit »Nation«, keinen Nationalstaat und schon gar keinen enthnozentrisch konnotierte Verwendung als völkische Gemeinschaft oder Ähnliches. 38 Eine »Nation« ist für Humboldt vielmehr ein akuter sprachbedingter Sozialzustand der Menschen: ein in der Sprachentwicklung vorläufig höchster und letzter Sprachzustand, der durch die besonderen Anlagen und Schicksale der Sprachgemeinschaften (also eben nicht des Typus der Sprache!) entwickelt. 39 Entscheidend ist hierbei, dass Humboldt seinen OrganismusBegriff der Sprache immer in Hinblick auf eine sprachliche Ganzheit hin verwendet: »Unmittelbarer Aushauch eines organischen Wesens in dessen sinnlicher und geistiger Geltung, theilt sie darin die Natur alles Organischen, dass Jedes in ihr nur durch das Andre, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht. Ihr Wesen wiederholt sich auch immerfort, nur in engeren und weiteren Kreisen, in ihr selbst; schon in dem einfachen Satze liegt es, soweit es auf grammatischer Form beruht, in vollständiger Einheit, und da die Verknüpfung der einfachsten Begriffe das | ganze GeUm keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Man kann nach dem Organismus einer jeden Sache fragen: fragt man zum Beispiel nach dem Organismus des Autos – dies scheint mir ein gutes Beispiel zu sein, denn keiner würde umgekehrt behaupten: das Auto sei ein Organismus! – denkt man erst einmal an die Mechanik, Motor und Karosserie etc. Dann kommen aber auch die sozialen Aspekte hinzu. »Organismus« ist also nicht einfach das Gegenteil von »Mechanismus«, sondern Ersteres umfasst das Zweite und verweist aufs Weitere. Allerdings ist der Organismus der Sprache ein besonderer, denn der »Organismus des Autos« ist ja nur sinnvoll, wenn man von ihm spricht: Wenn er also an der Sprache teilhat. Der Organismus des Autos entpuppt sich auf diese Weise also letztlich als Spezialfall des Organismus der Sprache. 38 Humboldt wird offenbar bis in die Gegenwart immer wieder bis in abstruse Rassismen hinein missinterpretiert, wie Trabant schön herausarbeitet, vgl. Trabant: Traditionen Humboldts, 235 ff. 39 Vgl. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 32. 37

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

webe der Kategorien des Denkens anregt, da das Positive das Negative, der Theil das Ganze, die Einheit die Vielheit, die Wirkung die Ursach, die Wirklichkeit die Möglichkeit und Nothwendigkeit, das Bedingte das Unbedingte, eine Dimension des Raumes und der Zeit die andre, jeder Grad der Empfindung die ihn zunächst umgebenden fordert und herbeiführt […].« 40

Durch ihren Organismus ist die Sprache also immer auf ihr Ganzes angelegt. Im Unmittelbaren Geschehen ist die Sprache als Teil immer auf Anderes bezogen: Als Teil auf ihr Ganzes, als Einheit auf die Vielheit, die Wirkung auf die Ursache. Der Organismus der Sprachen verweist den Sprecher also immer auf das (noch unausgesprochene) nächste Andere der Sprache. »[…] so ist, sobald der Ausdruck der einfachsten Ideenverknüpfung mit Klarheit und Bestimmtheit gelungen ist, auch der Wortfülle nach, ein Ganzes der Sprache vorhanden. Jedes Ausgesprochene bildet das Unausgesprochene, oder bereitet es vor.« 41

Wie Böhler betont, werden wir mit dem Organismus-Begriff begriffsgeschichtlich zu zwei bewusstseinsgeschichtlichen Größen geführt, die Humboldt nachhaltig beeinflusst haben: • Zu Goethe und dessen naturwissenschaftlichem OrganismusBegriff (»In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe […].«) ließe sich wohl ein biographischer Zusammenhang nachweisen, etwa Goethes Hinweise auf die Gespräche mit den beiden Humboldt-Brüdern über seine eigenen morphologischen und osteologischen Studien. 42 • Zu Kant, der »die scharfe Trennung zwischen dem (zeitlichen) Beginnen und dem (transzendentalen) Entspringen macht und seinerseits nur die Frage nach dem transzendentalen Ursprung der Erkenntnis als philosophische Frage anerkennt […].« 43 Wir werden sehen: Humboldt (wie übrigens auch die Dialogphilosophen), scheinen dieser skeptischen Anspruchskonkretisierung Kants gerecht zu werden. Kant erweitert den griechischen Organon-Begriff (»Werkzeug«) erheblich, insbesondere im Hinblick auf das Ganze: »›Organ‹ heißt Teil eines Lebendigen, das sich selbst und die anderen Teile des Gesamtorganismus hervor40 41 42 43

Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12 f. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 13. Vgl. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 252 f. Trabant: Traditionen Humboldts, 31.

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bringt, der bloß mechanisch-kausal (als Maschine) nicht zu erklären ist, sondern als ›bildende Kraft‹ teleologisch, d. h. nach seiner Zweckmäßigkeit, zu verstehen ist (KdU: 65) […].« 44 Die Sprachen sind also durch ihren Organismus auf zwei Ganzheiten hin angelegt: Einmal auf der geistigen Ebene der Intention, welcher ein Sprachbildungs-Vermögen zukommt, das wohl bei allen Menschen gleich ist und andererseits auf die konkrete Ausbildung und Ausartikulierung einer Sprache, die sich bekanntlich erheblich voneinander unterscheiden. Die vierte Antwort auf unsere Frage liefert uns Humboldt also mit dem Verweis auf den Organismus der Sprachen: Sprechend orientiert der Organismus der Sprache den Sprecher immer am (noch unausgesprochenen) Ganzen. Die Sprache ist stets auf das und den Anderen hin angelegt: Wurde (wirklich) gesprochen, muss bereits Weiteres besprochen werden.

4.2. Der tägliche Ursprung der Sprache Mit dieser Feststellung stellt sich uns natürlich die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Rufen wir uns diesbezüglich bereits Festgestelltes in Erinnerung: 1) In allen Sprachen ist der vollständige grammatische Bau enthalten: Man hat noch »keine Sprache jenseits der Gränzlinie vollständigerer grammatischer Gestaltung gefunden, keine in dem flutenden Werden ihrer Formen überrascht […].« 45 2) Sprache entsteht auf einmal und als Ganze: »Es kann auch die Sprache nicht anders, als auf einmal entstehen, oder um es genauer zu auszudrücken, sie muss in jedem Augenblick ihres Daseyns dasjenige besitzen, was sie zu einem Ganzen macht.« 46 3) Am Anfang steht eine Intention, die sich sprachlich anschließend »nach und nach, aber so, dass ihr Organismus nicht zwar, als eine todte Masse, im Dunkel der Seele liegt, aber als Gesetz die Functionen der Denkkraft bedingt, und mithin das erste Wort schon 44 45 46

Trabant: Anhang zu Über die Sprache, 233. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12.

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die ganze Sprache antönt und voraussetzt« 47, immer konkreter artikuliert. Humboldt folgt Kant in seiner scharfen Trennung zwischen zeitlichem Beginnen und transzendentalem Entspringen. »Humboldt, der, von der Leibnizschen Philosophie kommend, im Rahmen der Kantischen Philosophie denkt, wendet daher die Frage des Sprachursprungs ins Transzendentale, d. h., es geht ihm nicht um die Diachronie, sondern um die immerwährende Genese der Sprache aus dem Vermögen des Menschen, die bei jedem Sprechen – von Anfang an und in alle Zukunft – am Werk sind.« 48

Fragten wir nach dem zeitlichen Beginn von Sprache, hätten wir unter Umständen bereits mit dieser Frage das Thema verfehlt. Auch Humboldt legt sich in diesem Punkt vehement fest: »Ueberhaupt ist, meiner innersten Ueberzeugung nach, alles Bestimmen einer Zeitfolge in der Bildung der wesentlichen Bestandtheile der Rede ein Unding.« 49 Ein geschichtliches Datum kann nicht als Sprachursprung genannt werden, aus zwei Gründen: • Die ›empirische‹ Geschichte der Sprache enthält derartig viele Ungenauigkeiten und willkürliches Raten – der Zeitpunkt des Sprachursprung müsste ja mindestens von Jemandem ›bezeugt‹ sein, um glaubwürdig zu sein; und selbst dann gäbe es noch Ungewissheiten –, sodass unser (und Kants) kritischer Anspruch nicht erfüllt werden würde. • Und das ist wohl der wichtigere Grund: Die so gestellte Frage würde den Charakteristika von Sprache (insbesondere Punkt 2 und 3 der obigen Liste) nicht gerecht werden. Die Ursprungsfrage in der zeitlichen Dimension zu stellen ist also irrelevant. Es geht uns und Humboldt um die Genese der Sprache aus dem Sprachvermögen des Menschen: »Es ist nämlich nichts anderes als die auf den Begriff gebrachte ›einfache Verstandeshandlung‹, die Humboldt […] als den Ursprung der Sprache bezeichnet.« 50 Über den zeitlichen Anfang kann man nichts sagen. Humboldt interessiert aber das Entspringen, die transzendentale Quelle der Sprache. Humboldt befindet sich also in diesem kantischen Referenzrahmen, 47 48 49 50

Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 20. Trabant: Traditionen Humboldts, 31. Humboldt: Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien, 175. Trabant: Über die Sprache, 265.

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im Gegensatz zur vorkantischen Philosophie, »die gerade nicht deutlich zwischen dem Anheben und dem Entspringen unterscheidet.« 51 Der Ursprung der Sprache ist nach Humboldt also nicht ein Zeitpunkt in der Geschichte, sondern wenn, dann ein täglicher: Immer, wenn es etwas zu sagen, ernsthaft zu sagen gibt (das ist die ›einfache‹ Verstandeshandlung) entsteht Sprache als Ganze und auf einmal. Die Sprache muss also als ein sich ewig erzeugender Stoff angesehen werden: »Denn die Sprache kann ja nicht als ein daliegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer Stoff, sondern muß als ein sich ewig erzeugender angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und gewissermaßen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben.« 52

Die Humboldtsche Position des täglichen Ursprungs der Sprache als Ganze und in jedem Augenblicke, teilt sich Humboldt insbesondere mit Herder. Für Herder hat der Mensch, im Gegensatz zum Tier, eine kognitive Dimension, die er »Besonnenheit« nennt. Diese ist ihm angeboren. 53 Nach Herder entsteht Sprache nun »aus dem Zusammenspiel zwischen der tönenden Welt und dem menschlichen Ohr, das der mit ›Besonnenheit‹ ausgerüstete Mensch auf die Welt richtet.« 54 Sowohl bei Herder, als auch bei Humboldt entsteht die Sprache als Ganze und das Hören spielt dabei eine entscheidende Rolle. Herder stellt das Erweckungserlebnis der Sprache auf legendäre Weise anhand eines vorüberlaufenden Schafes dar: Der Mensch – nicht wie die anderen Tiere von Instinkten getrieben – sondern mit »Besonnenheit« ausgestattet, möchte das Schaf kennenlernen: »Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket! sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck macht […] bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder, Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blökt, und nun erkennet sies wieder! ›Ha! du bist das Blökende!‹ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal, erkennet und nennet.« 55

51 52 53 54 55

Trabant: Traditionen Humboldts, 81. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 50. Vgl. Pajević: Poetisches Denken, 133. Trabant: Traditionen Humboldts, 102 f. Herder: Ursprung der Sprache, 33.

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Das Schaf wird also angeschaut und betastet, aber der Funke der Erkenntnis springt erst mit dem Ton über: durch das Blöken des Schafes. Darüber hinaus wird in diesem »akroamatischen Erkennen« das Schaf so belassen wie es ist: »Ich nehme es nicht, ich greife es nicht. Ich höre es.« 56 Im Sprachursprung ist also bereits eine Erkenntnis enthalten und tatsächlich ist nach Humboldt der Gedanke sprachlicher Natur: Die Sprache schafft ihn erst, wie im Folgenden dargelegt wird. Wie Herder wendet sich auch Humboldt »gegen die im 18. Jhd. vorherrschende sensualistische Sprachursprungstheorie, die eine allmähliche Herausbildung der Sprachfähigkeit annimmt und mit einer ›philosophischen‹ Konstruktion des sukzessiven Erwerbs grammatischer Strukturen verbindet […].« 57

4.3. Charakteristika der Sprache Was ist also das Wesen der Sprache? Führen wir uns nun unsere vier herausdestillierten Antworten nochmals vor Augen: (1.) Sprache ist eine Tätigkeit (energeia), sie wird vor allem gesprochen (und gehört). (2.) Vermittelt sie wechselseitig zwischen Subjekt und Objekt. (3.) Ihre geistige Anlage und generativen Mittel und Kräfte (Typus der Sprache) sind entweder auf einen Schlag da oder gar nicht, weshalb sie (4.) sich und ihren Sprecher, da es dem Organismus der Sprache entspricht, beim konkreten, situativen Sprechen am (noch unausgesprochenen) Ganzen orientiert. Was das Wesen der Sprache ist, wissen wir also nicht. Ob es das Wesen der Sprache überhaupt gibt, wissen wir auch nicht. Aber wir wissen mit diesen vier Antworten schon erstaunlich viel über den Charakter der Sprache. Und »Charakter« ist auch ein Schlüsselbegriff des Humboldt’schen Denkens: Humboldt fragt nach dem Charakter von Nationen, Epochen, Kunstwerken, historischen Epochen, Menschen und sogar der Menschheit im Ganzen. 58 Er grenzt den Terminus vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ab: Mit Charakter meint er nicht 56 57 58

Trabant: Traditionen Humboldts, 113. Trabant: Über die Sprache, 234. Vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 79.

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Charakteristika der Sprache

die Gesinnung eines Menschen, oder den sprichwörtlich ›starken Charakter‹. »Bei der Frage nach dem Charakter einer Individualität, betreffe sie nun einen einzelnen Menschen, eine Nation oder eine Epoche, geht es um seine Verschiedenheit.« 59 Eine Humboldt’sche Charakterschilderung fängt also beim Äußeren bzw. bei den Äußerungen an. Hierbei orientiert er sich jedoch nicht an der Beschaffenheit der einzelnen Äußerungen, sondern an ihrem Zusammenspiel: Humboldt charakterisiert also zwar nach dem inneren Zusammenhang (nicht nach äußerlicher Zweckmäßigkeit) vom Äußeren und den Äußerungen ausgehend nach der inneren Beschaffenheit des Charakters hinzielend, ohne aber zu vermeinen – und das ist entscheidend! –, dass man von der äußeren Erscheinung (etwa der Physiognomie) auf das innere Wesen schließen könnte. 60 Es handelt sich hierbei nicht um eine Wissenschaft: Der so verstandene Anspruch der Charakterisierung hat keinen Anspruch auf Wahrheit und beansprucht auch nicht Fakt o.ä zu sein. Im Gegenteil: Das Charakterstudium schränkt seinen Anspruch vorsätzlich massiv ein! Kant zum Beispiel konnte damit offenbar nicht viel anfangen: In einem Brief an Schiller konnte er das Charakterstudium Humboldts methodisch von ›Schwärmerei‹ nicht unterscheiden, aus deren Ergebnissen man »schlechterdings nichts machen kann«. 61 Aber: »Was wir nicht wissenschaftlich erkennen können, ist deshalb nicht nichts, auch nicht für unser wahrheitssuchendes Denken.« 62 Humboldt selbst aber sah sich durchaus nicht im Gegensatz zu Kant, im Gegenteil: Er wendet sich mit seinem Charakterstudium ja gegen den unkritischen Erkenntnisoptimismus der vorkantischen Metaphysik: »In klarem Bewußtsein der Unerreichbarkeit ›wissenschaftlicher‹ Erkenntnis des Wirklichen, sieht Humboldt doch den möglichen Erfolg und zugleich den Reiz und den Nutzen einer keineswegs ›schwärmerischen‹ Erforschung der Kräfte der Natur, die unsere Kenntnisse zu erweitern und uns Genuß auf dem Wege solcher Erweiterungen zu verschaffen vermag.« 63 Humboldt geht hier neue Wege bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen von etwas. Er antwortet nicht mit einer Definition Borsche: Wilhelm von Humboldt, 83. Vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 85. 61 Brief Kants an Schiller, vom 30. März 1795. Zitiert nach Borsche: Wilhelm von Humboldt, 87. 62 Borsche: Wilhelm von Humboldt, 86. 63 Borsche: Wilhelm von Humboldt, 88. 59 60

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

der Form: »Die Sprache ist …«, er thematisiert nicht die Einheit, die ein allgemeiner Begriff setzt, sondern umgekehrt die Fülle der Erscheinungen in denen diese Einheit sich zu verbergen scheint. Humboldt hat es auf wissenschaftlich sauber abgeschlossene Definitionen gar nicht abgesehen. Er geht metaphysisch sozusagen einen anderen Weg: Stark verkürzt lässt dieser sich folgendermaßen darstellen: • Descartes leugnet die Verschiedenheit der Erscheinungen: Alle Dinge in Raum und Zeit sind ausgedehnt. Aber es gibt durchaus Gründe, diese Ordnung, die vermutlich auch bloß methodisch hinsichtlich unserer Erkenntnis aufgestellt wurde, umzudrehen: • Leibniz stellt diese Ordnung auf den Kopf und sieht die Verschiedenartigkeit der Dinge als von vornherein gegeben an: »Alles, was einer Monade ›widerfährt‹, ist vor aller Zeit mit ihr als ihr Wesen geschaffen worden, nichts tritt jemals von außen hinzu.« 64 Doch wenn die Zahl und das Schicksal der Monaden festliegen, kann die Wechselwirkung ob der »Fensterlosigkeit der Monaden« 65 nur Schein sein. • Kant eliminiert deshalb das Leibnizsche Problem einer Harmonie ohne Kommunikationsmöglichkeit, indem er Erkenntnis methodisch auf die Gegenstände der Erscheinung beschränkt. Damit schüttet Kant allerdings Humboldts ›Kind‹ mit dem Bade aus, nämlich die spezifischen Verschiedenheiten und inneren Kräfte, also: die Charakteristika. 66 Wiewohl Humboldt Kant generell zustimmt, er würde ihm sein Baby nicht anvertrauen: Zwar handelt es sich bei Humboldts Charakterstudien nicht um voll ausgereifte wissenschaftliche Erkenntnisse, aber deshalb lässt man ein Baby noch lange nicht über Bord gehen. Humboldt löst dieses Problem, indem er diesbezüglich andere Maßstäbe ansetzt: Seine Charakterstudien haben weder den Anspruch auf Beweisbarkeit, noch Vollständigkeit. Trotzdem erweisen sie sich aber als »kritisch reflektierte Form der Weltweisheit« 67 Die Charakterstudien sind also eine Form der gezielten An64 65 66 67

Borsche: Wilhelm von Humboldt, 92. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 93. Vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 98. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 86.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

spruchs-Einschränkung: Hinsichtlich auf eines der Ergebnisse dieses Beitrags könnten wir Humboldts Charakterstudien als mögliche Art und Weise ansehen, der unten in Kapitel 7.2 dargestellten Anspruchstheorie der Wahrheit zu genügen. Welchen Charakter schreibt Humboldt aber der Sprache zu? Dieser ist zunächst gar nicht allgemein zu fassen: »Wenn man den Charakter der Sprachen von ihrer äußeren Form, unter welcher allein eine bestimmte Sprache gedacht werden kann, absondert und beide einander gegenüberstellt, so besteht er in der Art der Verbindung des Gedanken mit den Lauten. Er ist, in diesem Sinne genommen, gleichsam der Geist, der sich in der Sprache einheimisch macht und sie, wie einen aus ihm herausgebildeten Körper beseelt. Er ist eine natürliche Folge der fortgesetzten Einwirkung der geistigen Eigentümlichkeit der Nation. […] Aus jeder Sprache läßt sich daher auf den Nationalcharakter zurückschließen.« 68

Der Charakter der Sprachen bildet sich erst durch den konkreten Sprachgebrauch. Dieser ist aber nicht statisch, sondern dynamisch: Er bildet sich beständig weiter aus. 69 Im Folgenden soll dieser Sachverhalt genauer herausgearbeitet werden:

4.4. Die Weltansichten der Einzelsprachen und das Interdependenz-Verhältnis zwischen Denken und Sprechen Welchen Zusammenhang sieht Humboldt zwischen Sprechen und Denken? Für diese Frage ist die folgende Textstelle einschlägig: »Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellektuelle Tätigkeit, durchaus geistig, durchaus innerlich und gewissermaßen spurlos vorübergehend, wird durch den Laut in der Rede äußerlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher eins und unzertrennlich voneinander. […] Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur.« 70

68 69 70

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 141. Vgl. Pajević: Poetisches Denken, 133. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 45 f.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Es geht diesmal nicht um den Organismus der Sprache, sondern Humboldt benutzt den Terminus »Organ« hier bezüglich des Gedankens: Die Sprache ist es nämlich, die den Gedanken auf das Ganze bezieht und umgekehrt das Ganze auf den Gedanken. In diesem Sinne ist sie das »Organ« des Gedankens. Darüber hinaus ist sie aber auch noch bildendes Organ: Die Sprache prägt den Charakter des Denkens und nicht umgekehrt das Denken die Sprache. Gleichwohl findet hier aber trotzdem auch, wie noch ausgeführt wird, auch eine Wechselwirkung statt. Von einer Identität von Denken und Sprechen kann bei Humboldt also gar keine Rede sein: Es herrscht vielmehr ein komplexes Interdependenzverhältnis zwischen Denken und Sprechen vor, das im Folgenden herausgearbeitet wird. Die Sprache veräußerlicht durch ihren Organismus (siehe oben!) den Gedanken, der als Bewußtseinszustand zunächst ja etwas subjektiv-innerliches ist. Die Sprache erscheint nämlich in einer Triple-Natur: Sie führt im Sprechen eine Synthese herbei zwischen subjektiv Innerem (Gedanken), Äußerem (Stimmwerkzeuge) und objektiv Äußerem (dem hörenden Anderen). Wir können also zunächst festhalten: Im Sprechen wird eine Synthese herbeigeführt, die eine Innerlichkeit und zwei Äußerlichkeiten aufeinander bezieht. Das liegt am Typus und am Organismus der Sprache, welche ja im menschlichen Verstande auch angelegt sind. Humboldt beschreibt den eben angedeuteten Sachverhalt dieser Synthese erstaunlich genau: »Subjektive Tätigkeit bildet im Denken ein Objekt. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden. Die Tätigkeit der Sinne muß sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reißt sich die Vorstellung los, wird, der subjektiven Kraft gegenüber, zum Objekt und kehrt, als solches auf neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objektivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden.« 71

In der Sprache wird das subjektive ›Denkobjekt‹ zunächst ausgesprochen und auf diese Weise in seine Objektivität entlassen, um vom Subjekt – hier ist offenbar der Sprecher selbst gemeint, es kann aber 71

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 47 f.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

auch ein anderes Subjekt sein – wieder gehört zu werden: Dieses kognitive Erzeugnis nennt Humboldt »Vorstellung«. Die Vorstellung ist also aus subjektiver Denkkraft Hervorgebrachtes in seine Objektivität Entlassenes und wieder Gehörtes. Sie ist zugleich objektiv, ohne jedoch der Subjektivität entzogen zu sein. Eine Vorstellung ist also ein sprachliches Erzeugnis, wobei die Sprache die Tätigkeit der Sinne mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbindet. Das bedeutet aber umgekehrt: Aller objektiven Wahrnehmung ist (gleichzeitig) Subjektivität beigemischt. »Da aller objektiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjektivität beigemischt ist, so kann man, schon unabhängig von der Sprache, jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich der Seele gegenüber auch wieder […] mit einem Zusatz von Selbstbedeutung zum Objekt macht und eine neue Eigentümlichkeit hinzubringt. In dieser, als eines Sprachlauts, herrscht notwendig in derselben Sprache eine durchgehende Analogie; und da auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjektivität einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigentümliche Weltansicht. Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten.« 72

Unter normalen Umständen müsste uns der Satz Aller objektiven Wahrnehmung ist Subjektivität beigemischt absurd erscheinen. Da wir aber über den Typus und Organismus der Sprache Bescheid wissen, erscheint uns dieser Satz hier nur folgerichtig! Objektivität in diesem Sinne ist eine steigerungsfähige Größe, die sich am Grad der subjektiven Beimischung bemisst: Je größer der Anteil subjektiver Beimischung – der Gedanke also bloße Vorstellung ist –, desto niedriger der Grad an Objektivität. Gesteigert wird Objektivität aber, und das ist eine eigentümliche Kraft der Sprache, dadurch, dass die selbe Vorstellung aus dem Mund eines Gesprächspartners tönt: »Die Sprache fordert, daß der Andere seinerseits wirklich materiell Sprache produziert, wirklich ein Sprecher wird. Die Sprache hebt den Schein […] in wirkliche wechselseitige Produktivität auf.« 73

72 73

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 53. Trabant: Traditionen Humboldts, 43.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Humboldt geht aber sogar noch weiter: Reden wir von einer Einzelsprache, also nicht vom Organismus oder Typus der Sprache, sondern von den Sprachen im Plural, dann wird deutlich, dass in einer Sprachgemeinschaft (»Nation«) dem Wort, also das in seine Objektivität Entlassene, eine Selbstbedeutung zukommt, die sich die ganze Nation teilt. Auf diese Weise bringt also die Nation das durch das vom Subjekt gerade erst in seine Objektivität entlassene Wort ebenfalls etwas hinein: Die Objektivität des Worts beinhaltet also zwei Elemente, 1. Es entfleucht dem Munde des sich-mitteilen-wollenden Subjekts und 2. transportiert es eine von der »Nation« geteilte Konnotation. Eine »Vorstellung« im Humboldt’schen Sinne (siehe oben!) beinhaltet also neben der Eigentümlichkeit des Subjekts auch eine »nationale« Eigentümlichkeit. Kurz gesagt: in jeder Einzelsprache liegt auch eine Weltansicht. Aber Humboldt geht in dieser Hinsicht sogar noch weiter: »Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten.« 74

Das Denken ist nicht bloß abhängig von der Sprache, sondern auch von der jeweiligen Einzelsprache. Das bedeutet einerseits, dass die Sprache das Denken ermöglicht, andererseits aber auch, dass die Sprache das Denken beschränkt: »Jede Sprache setzt dem Geiste derjenigen, welche sie sprechen, gewisse Grenzen, schließt, insofern sie eine gewisse Richtung gibt, andre aus.« 75 Die Einzelsprache prägt also das Bewusstsein, in ihr liegt die berühmt berüchtigte Humboldtsche »Weltansicht«: »Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.« 76

Die Verschiedenheit der Sprachen ist also auch eine Verschiedenheit der Weltansichten: Auf diese Weise ermöglichen und begrenzen die Sprachen gleichzeitig den Bewusstseinsgehalt ihres Sprechers. Aber während der Typus der Sprache immer gleich bleibt, begehen die Einzelsprachen ja ihre fortwährenden Entwicklungsgang: 74 75 76

Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 24. Humboldt: Zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, 13. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 27 f.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

Sprache wird gesprochen und vermittelt ständig zwischen Subjekt und Objekt hin und her, sie bezieht den Sprecher mit seinen geistigen und ideellen Prägungen auf die »Nation« und die »Nation« auf den Sprecher. Kurz: »Jedes neue Sprechen konfrontiert eine bestehende Weltansicht mit einer neuen Modifikation derselben.« 77 Ein bestehende Weltansicht unterliegt ständigem Wandel und zwar indem gesprochen wird: So hat sich zum Beispiel die Weltansicht der deutschen Sprache durch das Erscheinen von Goethes Werther verändert, aber auch durch Goebbels Sportpalastrede. »Weltansicht bedeutet also keineswegs das Zurückführen des Denkens auf die Nation anhand des Vehikels Sprache, auch nicht die Determiniertheit des einzelnen durch seine Sprache und Nation, denn in jedem Satz, den einer spricht, hat er die Möglichkeit, die Weltansicht seiner Sprache zu modifizieren. Noch weniger bedeutet die Weltansicht die Relativität der Wahrheit, da gerade sie nur dialogisch umkreist wird und jenseits einer statisch isolierten Weltansicht liegt […].« 78

Böhler räumt hier mit offenbar kursierenden Interpretationen über die Weltansichten von Humboldt auf: Humboldt versteht unter diesem Terminus eben nicht das Gefangensein in einem kognitiven Zustand durch eine Sprache, sodass einige Sprachen ›besser‹ seien als andere (was auch immer als ›besser‹ angesehen werden mag). Bei Weltanschauungen (wie sie in diesem Beitrag charakterisiert werden) kann dies durchaus der Fall sein, da sie den Weltanschauler in einer Blase zu konservieren suchen. Aber die Weltansichten Humboldts unterliegen einem ständigen Modifikationsprozess: Die Humboldt’schen Weltansichten sind also geradezu die Opponenten der blasenartigen Weltanschauungen. Erstere lassen aus den Letzteren die Luft heraus. Auch dem Fremdsprachen-Lernen kommt in dieser Hinsicht ein besondere Bedeutung zu: »So wie eine einzelne Sprache das Gepräge der Eigentümlichkeit der Nation an sich trägt; so ist es höchst wahrscheinlich, daß sich in dem Inbegriff aller Sprachen die Sprachfähigkeit, und insofern, derselbe davon abhängt, der Geist des Menschengeschlechts ausspricht.« 79

77 78 79

Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 238. Böhler: Nachwort zu Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache, 239. Humboldt: Zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, 12 f.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Angesichts der verschiedenen Weltansichten der Einzelsprachen, scheint Humboldt von einer Art Summierungsthese auszugehen. Die Prämisse ist: Je mehr Sprachen jemand beherrscht, desto mehr Weltansichten werden ihm auch zu Teil. Auf die Gesamtzahl der Sprachen extrapoliert bedeutet das: Die Gesamtheit der Einzelsprachen trägt (»höchst wahrscheinlich«!) den Geist der Gesamtheit der Menschheit in sich. Humboldt tendiert also zu der Ansicht, dass die Sprachen im allgemeinen zusammenhängen. Diese These der Monogenese hält er grundsätzlich für plausibel, auch wenn diese ebensowenig wie ihre Gegenthese, die von Schlegel 1808 wieder erneuerte Polygenese – die Möglichkeit mehrerer, unabhängig voneinander hervorgegangener Mundarten –, historisch nicht beweisbar ist. 80 Humboldt geht sogar noch weiter: »Die Sprache ist aber durchaus kein blosses Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht der Redenden, die Geselligkeit ist das unentbehrliche Hülfsmittel zu ihrer Entfaltung, aber bei weitem nicht der einzige Zweck, auf den sie hinarbeitet, der vielmehr seinen Endpunkt doch in dem Einzelnen findet, insofern der Einzelne von der Menschheit getrennt werden kann.« 81

Nicht nur eine »Nation«, also eine Sprachgemeinschaft spricht eine Sprache, sondern streng genommen spricht jeder Mensch seine eigene Sprache mit je eigener Weltansicht! Aber durch den Typus und Organismus der Sprache ist der Einzelne keine fensterlose Monade, sondern im Gegenteil: Solange er spricht, setzt sich die eigene Weltansicht der Infragestellung und damit der Überwindung aus, denn die Sprache vermittelt. In jeder Sprache ist also einerseits unvermeidlich Perspektivismus beigemischt, andererseits ist dieser dadurch (so paradox es klingen mag) bereits wieder überwunden. Doch wie kann die Sprache derart wirksam sein? Humboldt macht hier insbesondere zwei ›Techniken‹ der Sprache aus: »Man kann den Inbegriff aller Mittel, deren sich die Sprache zur Erreichung ihrer Zwecke bedient, ihre Technik nennen und diese Technik wieder in die phonetische und intellektuelle einteilen. Unter der ersteren verstehe ich die Wort- und Formenbildung, insofern sie bloß den Laut angeht oder durch ihn motiviert wird. Sie ist reicher, wenn die einzelnen Formen einen wei80 81

Vgl. Trabant: Traditionen Humboldts, 88. Humboldt. Ueber den Dualis, 162.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

teren und volltönenderen Umfang besitzen, sowie wenn sie für denselben Begriff oder dieselbe Beziehung sich bloß durch den Ausdruck unterscheidende Formen angibt. Die intellektuelle Technik begreift dagegen das in der Sprache zu Bezeichnende und zu Unterscheidende. Zu ihr gehört es also z. B., wenn eine Sprache Bezeichnung des Genus, des Dualis, der Tempora durch alle Möglichkeiten der Verbindung des Begriffes der Zeit mit dem des Verlaufes der Handlung usf. besitzt.« 82

Humboldt unterscheidet hier zwei ›Techniken‹ der Sprache: die phonetische Bildung von Worten und Formen einerseits und andererseits die Technik grammatische Formen zu unterscheiden. Letzteres bezeichnet er als intellektuelle Technik. Warum ist aber die Grammatik eine intellektuelle Technik der Sprache? Das liegt daran, dass die grammatischen Formen in einem direkten Verhältnis zur ursprünglich sprachbildenden Intention, den Typus der Sprache, steht: »Die grammatischen Verhältnisse insbesondre hängen durchaus von der Absicht ab, die man damit verbindet. Sie kleben weniger den Worten an, als sie von dem Hörenden und Sprechenden hineingedacht werden. […] Die Grammatik lässt sich in eine Sprache viel leichter hineindenken, als eine grosse Erweiterung und Verfeinerung der Wortbedeutungen; und so muss man nicht überrascht werden, wenn man in den Darstellungen ganz roher und ungebildeter Sprachen die Namen aller Formen der höchstgebildeten antrift [sic!].« 83

Mit Hilfe der grammatischen Formen wird also Missverständnissen die ursprüngliche Intention betreffend vorgebeugt: Jede Sprache, wie arm sie an grammatischen Formen auch sein sollte, kann mit Hilfe aller grammatischen Formen die Intention unmissverständlich darstellen. Doch wie ist es möglich, dass mit Hilfe der Grammatik in grammatisch formarmen Sprachen alles ausgedrückt werden kann, was in einer formreichen Sprache ausdrückbar ist? »Die Wörter, und ihre grammatischen Verhältnisse sind zwei in der Vorstellung durchaus verschiedne Dinge. Jene sind die eigentlichen Gegenstände in der Sprache, diese bloss die Verknüpfungen, aber die Rede ist nur durch beide zusammengenommen möglich. Die grammatischen Verhältnisse können, ohne selbst in der Sprache überall Zeichen zu haben, hinzuge82 83

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 81. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 54.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

dacht werden, und der Bau der Sprache kann von der Art seyn, dass Undeutlichkeit und Missverstand dabei dennoch, wenigstens bis auf einen gewissen Grad, vermieden werden. Insofern alsdann den grammatischen Verhältnissen doch ein bestimmter Ausdruck eigen ist, besitzt eine solche Sprache für den Gebrauch eine Grammatik ohne eigentlich grammatische Formen. Wenn eine Sprache z. B. die Casus durch Praepositionen bildet, die an das immer unverändert bleibende Wort gefügt werden, so ist keine grammatische Form vorhanden, sondern nur zwei Wörter, deren grammatisches Verhältniss hinzugedacht wird […].« 84

Humboldt unterscheidet in der Sprache zwei Ebenen: Einmal die Wortebene mit ihren Wortformen und einmal die grammatischen Verhältnisse, die durchaus unabhängig von der tatsächlichen, zum Beispiel Beugung eines Verbs, hinzugedacht werden können: Wir, die wir Deutsch sprechen, können also die Rolle eines Subjunktivs oder Duals nachvollziehen (›hinzudenken‹), obwohl wir beide grammatischen Formen nicht in unserem konkreten Sprechen nutzen. Die primäre Aufgabe und Rolle der Grammatik ist es also, die ursprüngliche Intention unmissverständlich darstellen zu können. Aber eine Sprache ohne die grammatischen Formen – etwa das Deutsche hinsichtlich des Subjunktivs, das Spanische hinsichtlich der Kasus oder beide hinsichtlich des Duals – können die grammatischen Verhältnisse nachvollzogen und dargestellt werde, zum Beispiel mit Hilfe von Präpositionen für die Kasus. »Darum, dass sich mit den Bezeichnungen fast jeder Sprache alle grammatischen Verhältnisse andeuten lassen, besitzt noch nicht auch jede grammatische Formen in demjenigen Sinne, in dem sie die hochgebildeten Sprachen kennen. Der zwar feine, aber doch sehr fühlbare Unterschied liegt in dem materiellen Erzeugniss und der formalen Einwirkung.« 85

In jeder Sprache lassen sich also alle grammatischen Verhältnisse andeuten, unabhängig davon, ob eine Sprache die jeweilige grammatische Form besitzt oder nicht. Dieser empirische Tatbestand entspricht im Übrigen der grundsätzlichen Darstellung über den Typus und den Organismus der Sprache, in der der ganzheitliche Charakter der Sprache – einer jeden Sprache, denn eine Einzelsprache mit halber Grammatik wurde noch nicht entdeckt – hervorgehoben wurde.

84 85

Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 58. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 55.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

Die grammatische Vielfalt, welche die Sprache darbietet, muss aber erst einmal ausgenutzt werden (wollen): »Auf der anderen Seite hängt die Art der syntaktischen Bildung ganzer Ideenreihen sehr genau […] mit der Bildung der grammatischen Formen [zusammen]. Denn Armut und Unbestimmtheit der Formen verbietet, den Gedanken in zu weitem Umfange der Rede schweifen zu lassen, und nötigt zu einem einfachen, sich an wenigen Ruhepunkten begnügenden Periodenbau. Allein auch da, wo ein Reichtum fein gesonderter und scharf bezeichneter grammatischer Formen vorhanden ist, muß doch, wenn die Redefügung zur Vollendung gedeihen soll, noch ein innerer, lebendiger Trieb nach längerer, sinnvoller verschlungner, mehr begeisterter Satzbildung hinzukommen.« 86

Die Bildung ganzer Ideenreihen hängt also eng mit der Bildung grammatischer Formen zusammen: Je differenzierter und genauer eine geistige Intention ausgedrückt werden will, desto mehr Register der grammatischen Formen müssen gezogen werden. Eine Sprache mit der mannigfaltigsten grammatischen Formenfülle nützt also nichts, wenn diese nicht von geistiger Notwendigkeit ›getragen‹ wird: »Solange der Geist eines Volks in lebendiger Eigentümlichkeit in sich und auf seine Sprache fortwirkt, erhält diese Verfeinerungen und Bereicherungen, die wiederum einen anregenden Einfluß auf den Geist ausüben. Es kann aber auch hier in der Folge der Zeit eine Epoche eintreten, wo die Sprache gleichsam den Geist überwächst und dieser in eigner Erschlaffung, nicht mehr selbstschöpferisch, mit ihren aus wahrhaft sinnvollem Gebrauch hervorgegangenen Wendungen und Formen ein immer mehr leeres Spiel treibt. Dies ist dann ein zweites Ermatten der Sprache, wenn man das Absterben ihres äußeren Bildungstriebes als das erste ansieht. Bei dem zweiten welkt die Blüte des Charakters, von diesem aber können Sprachen und Nationen wieder durch den Genius einzelner großer Männer geweckt und emporgerissen werden.« 87

Der grammatische Formenreichtum einer Sprache ist also hervorgebracht durch eine geistige Eigentümlichkeit der »Nation«: Je feiner und nuancierter der Bedarf an Ausdrucksmöglichkeiten ist, desto formenreicher wird die Sprache und, da die Sprache ja auf den Geist wieder zurück-wechselwirkt, desto begeisternder wirkt die Sprache auch auf den Geist der Nation. Erschlafft dieser schaffende Geist allerdings, setzt ein Prozess der sprachlichen Degeneration ein: Die 86 87

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 90. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 136 f.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

grammatischen Formen sind dann bloß formenreiches Beiwerk für die nunmehr banalen Ausdrücke des erschlafften Geists. Dieser fragt sich dann zu Recht, wozu man den überhaupt eine Unterscheidung zwischen Dativ und Genitiv benötigt und lässt diese irgendwann einfach weg. Das ist der natürliche Gang einer Sprache: Der alltägliche Gebrauch der Sprache führt zu ihrer Abnutzung und Degenerierung, die von großen Einzelnen jedoch ein Stück weit aufgehalten werden kann: »Geistvolle Schriftsteller geben den Wörtern diesen gesteigerten Gehalt und regsam empfängliche Nation nimmt ihn auf und pflanzt ihn fort. Dagegen nutzen sich Metaphern, welche den jugendlichen Sinn der Vorzeit, wie die Sprachen selbst die Spuren davon an sich tragen, wunderbar ergriffen zu haben scheinen, im täglichen Gebrauch so ab, daß sie kaum noch empfunden werden. In diesem gleichzeitigen Fortschritt und Rückgang üben die Sprachen den der fortschreitenden Entwicklung angemessenen Einfluß aus, der ihnen in der großen geistigen Ökonomie des Menschengeschlechts angewiesen ist.« 88

Die sprachliche Weiterentwicklung einer »Nation« hängt also von dem Grade ihrer geistvollen Schriftsteller ab. Andersherum üben die Sprachen aber auch einen Einfluss auf die geistige Entwicklung ihrer Sprecher aus. Wie unterscheiden sich dann die Einzelsprachen genau? Welche sind dann die Kriterien für ein vergleichendes Sprachstudium? In jeder Sprache kann man alles ausdrücken: Fehlen in einer Sprache zum Beispiel die Kasus, aber es soll der Unterschied der Beziehungsqualität zwischen Genitiv und Dativ dargestellt werden, kann das mit Hilfe von Präpositionen oder Umschreibungen in jeder Sprache ohne Abstriche geschehen. Aber umgekehrt hat die Sprache eine Begeisterungskraft auf ihren Sprecher: »Nicht, was in einer Sprache ausgedrückt zu werden vermag, sondern das, wozu sie aus eigner, innerer Kraft anfeuert und be- | geistert, entscheidet über ihre Vorzüge, oder Mängel. Ihr Massstab ist die Klarheit, Bestimmtheit und Regsamkeit der Ideen, die sie in der Nation weckt, welcher sie angehört, durch deren Geist sie gebildet ist, und auf die sie wiederum bildend zurückgewirkt hat.« 89

88 89

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 91. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 54.

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Die Weltansichten der Einzelsprachen

Eine Sprache, die ihren Sprecher täglich dazu bringt, zwischen Dativ und Genitiv zu unterscheiden, regt in dazu an, sich irgendwann über diesen Unterschied im Klaren zu werden. Eine Sprache die keine Kasus hat, kann dies nicht leisten. »Die Ideenentwicklung kann erst dann einen eigentlichen Schwung nehmen, wenn der Geist am blossen Hervorbringen des Gedankens Vergnügen gewinnt, und dies ist allemal von dem Interesse an der blossen Form desselben abhängig. Dies Interesse kann nicht durch eine Sprache geweckt werden, welche die Form nicht, als solche darzustellen gewohnt ist, und es kann, von selbst entstehend, auch an einer solchen Sprache kein Gefallen finden. Es wird also, wo es erwacht, die Sprache umformen, und wo die Sprache auf einem andren Wege solche Formen in sich aufgenommen hat, plötzlich durch sie angeregt werden. In Sprachen, welche diese Stufe nicht erreicht haben, schwankt der Gedanke nicht selten zwischen mehreren grammatischen Formen, und begnügt sich mit dem realen Resultat.« 90

Die Mannigfaltigkeit der verschiedenen grammatischen Formen, die in einer Sprache angelegt sind, sind also durchaus relevant für die Güte einer Sprache. Aber andererseits können alle grammatischen Formen in jeder Sprache berücksichtigt werden (wenn auch manchmal auf Umwegen). Im Endeffekt entscheidet also auch nicht – wie es ja erstmal naheliegen könnte – der grammatische Formenreichtum über die Güte einer Sprache, sondern es muss ein ganz anderes Kriterium angelegt werden: die Angemessenheit zur ursprünglichen Intention. »Hienge der Vorzug der Sprachen von der Vielheit, und der strengen Regelmässigkeit der Formen ab, von der Menge der Ausdrücke für ganz besondre Verschiedenheiten (wie in der Sprache der Abiponen das Pronomen der 3. Person verschieden ist, je nachdem der Mensch ab- oder anwesend, stehend, sitzend, liegend, oder herumgehend gedacht wird), so müsste man viele Sprachen der Wilden über die Sprachen der hochcultivirten Völker stellen, wie denn dies auch nicht selten, selbst in unsern Tagen, geschieht. Da aber der Vorzug der Sprachen vor einander vernünftiger Weise nur in ihrer Angemessenheit zur Ideenentwicklung gesucht werden kann, so verhält es sich damit gerade entgegengesetzt. Denn diese wird durch diese Vielfachheit der Formen vielmehr erschwert, und es ist ihr lästig, in so viele

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Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 59.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Wörter Nebenbestimmungen mit aufnehmen zu müssen, deren sie durchaus nicht in jedem Falle bedarf.« 91

Nicht also die Quantität der verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten durch ihre grammatischen Formen entscheidet über die Güte der Sprache, sondern ihre Angemessenheit ist der Bewertungs-Maßstab. »Soll nun die Sprache dem Denken gerecht seyn, so muss sie in ihrem Baue, soviel als möglich, seinem Organismus entsprechen. Sie ist sonst, da sie in Allem Symbol seyn soll, gerade ein unvollkommnes dessen, womit sie in der unmittelbarsten Verbindung steht. Indem auf der einen Seite die Masse ihrer Wörter den Umfang ihrer Welt vorstellt, so repraesentirt ihr grammatischer Bau ihre Ansicht von dem Organismus des Denkens. Die Sprache soll den Gedanken begleiten. Er muss also in stetiger Folge in ihr von einem Elemente zum andren übergehen können, und für Alles, dessen er für sich zum Zusammenhange bedarf, auch in ihr Zeichen antreffen. Sonst entstehen Lücken, wo sie ihn verlässt, statt ihn zu begleiten.« 92

Die Masse der Wörter einer Sprache stellt also den Umfang ihrer Welt dar. Der grammatische Bau einer Sprache repräsentiert ihre Ansicht von dem Organismus des Denkens. Der »Organismus des Denkens« wiederum ist »das von Kant abgesteckte Feld der apriorischen Formen der Anschauung und des Denkens. Sowohl von dieser ›inneren Welt‹ als auch von der ›äußeren Welt‹ geben die verschiedenen Sprachen in der Grammatik einerseits, im Wortschatz andererseits verschiedene ›Ansichten‹. Je abbildhafter (›symbolischer‹) die grammatischen Verfahren gegenüber der apriorischen inneren Welt sind, desto vollkommener sind sie. Es ist damit auch deutlich, weswegen es sinnlos ist, die Frage nach der ›Vollkommenheit‹ in Bezug auf den Wortschatz, d. h. in Bezug auf die ›äußere‹ Welt zu stellen: In der äußeren Welt gibt es nichts Apriorisches, das als Maßstab der Vollkommenheit gelten könnte, hier kommt es auf einen größtmöglichen ›Umfang‹ und einen größtmöglichen ›Reichtum‹ an.« 93

Der Maßstab, den man in Humboldtscher Manier sinnvoll beim Vergleichen von Sprachen anlegen kann, ist also kein objektiver, allgültiger, sondern ein ›mitwachsendes‹ und ›mitdegenerierendes‹ Kriterium, das situativ immer wieder die Angemessenheit bemessen muss. Der Maßstab muss also strenggenommen bei jeder Sprache ein anderer sein. Es gibt also mehrere angemessene Sprachen! Aus diesem 91 92 93

Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 70. Humboldt: Ueber das Entstehen der grammatischen Formen, 75. Trabant: Über die Sprache, 246 f.

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Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Grunde ist es nach Humboldt so fruchtbar, sich beim Vergleichen von Sprachen auf ein grammatisches Phänomen zu konzentrieren: Humboldt unternahm diesen Versuch im Hinblick auf den Dual in den verschiedenen Sprachen, wie oben in Kapitel 2.5.3.1 dargestellt wurde. Eugen Rosenstock-Huessy führte dies im Hinblick auf die Modi des Verbs, insbesondere den Imperativ, durch (wie in Kapitel 2.5.2.1 erläutert wurde).

4.5. Die dialogische Wende der Sprachphilosophie In den vier oben dargestellten Antworten auf die Frage Was ist Sprache? fällt ein pragmatisches 94 Charakteristikum auf, welches Humboldt in die Nähe der Dialogphilosophen rückt. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden anhand der oben herausgearbeiteten vier Charakteristika der Sprache näher skizziert werden: a) Sprache ist eine Tätigkeit (energeia): Sie wird gesprochen und gehört! Denkt man sich die Tätigkeit der Sprache, denkt man zuerst an das Sprechen. Und so wird klassischerweise (so wurde es auch oben dargestellt) dieser Satz erklärend ergänzt mit: »Sie wird vor allem gesprochen.« Aber schon wenn wir uns Humboldts Auffassung der Genese von Vorstellungen zu Gemüte führen, die ja zugleich objektiv ist, ohne jedoch der Subjektivität entzogen zu sein, so fällt auf: Eine Vorstellung ist erst vollständig, wenn sie auch gehört wurde. Eine Vorstellung hat nämlich einen Sprecher und einen Hörer, man könnte die Vorstellung sogar als gehörte Objektivität bezeichnen. Die energeia der Sprache kann nach Humboldt nicht nur das Sprechen sein, sondern genau so gut auch das Hören! Und tatsächlich hebt Humboldt das Ohr als einen Sinn hervor, der sich von allen anderen Sinnen grundsätzlich unterscheidet: »Wie der Gedanke das ganze Gemüt ergreift, so besitzt der Laut vorzugsweise eine eindringende, alle Nerven erschütternde Kraft. Dies ihn von allen übrigen sinnlichen Eindrücken Unterscheidende beruht sichtbar darauf, daß das Ohr (was bei den übrigen Sinnen nicht immer oder anders der Fall

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Vgl. Trabant: Traditionen Humboldts, 108.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

ist) den Eindruck einer Bewegung, ja bei dem der Stimme entschallenden Laut einer wirklichen Handlung empfängt, und diese Handlung hier aus dem Innern eines lebenden Geschöpfs, im artikulierten Laut eines denkenden, im unartikulierten eines empfindenden, hervorgeht.« 95

Die Besonderheit des Hörens gegenüber allen anderen Sinnen besteht laut Humboldt also darin, dass das Ohr den Eindruck einer Bewegung empfängt und durch diese nervenerschütternde Kraft zum Handeln (die Dialogphilosophen würden sagen: zum Antworten) zwingt. Denn: »Das Gehörte tut mehr, als bloß sich mitzuteilen; es schickt die Seele an, auch das noch nicht Gehörte leichter zu verstehen, macht längst Gehörtes, aber damals halb oder gar nicht Verstandenes, indem die Gleichartigkeit mit dem eben Vernommenen der seitdem schärfer gewordenen Kraft plötzlich einleuchtet, klar und schärft den Drang und das Vermögen, aus dem Gehörten immer mehr und schneller in das Gedächtnis hinüberzuziehen, immer weniger davon als bloßen Klang vorüberrauschen zu lassen.« 96

Das Hören ist mehr als bloßes Einlassen von inhaltsschwangerem Klang, wie die wenig tiefgründigen Sender-Empfänger-Kommunikationsmodelle in der Sprachwissenschaft zu suggerieren scheinen: Diese trennen Sprechen und Hören, sodass beide austauschbar sind. 97 Die Naivität dieser vulgären Sprachauffassung wird schon in einer Erinnerungssituation deutlich, in der dem Klang immer weniger Bedeutung beigemessen wird, während der impulsive Charakter der Sprache in der Dimension des Gehörten deutlich wird. Das Gehörte hat die eigentümliche Kraft, die Seele des Hörenden zu verändern: die Verständnisfähigkeit insgesamt, nicht nur für das konkret Gehörte, zu optimieren und den Drang nach Erinnerung zu entfachen. Diesen Einbezug des Hörers in die Phonologie nennt der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant akroamatische Phonologie. 98 Durch ihre Hörerzentriertheit, dürfen wir die Dialogphilosophie demnach auch als akroamatische Philosophie charakterisieren. Mit dem Einbezug des Hörens und der Frage nach dessen Stellenwert befindet sich Humboldt auf der Höhe seiner Zeit, denn die Gegenwart des Ohrs war dank Herders Entdeckung des Gehörs für die Sprachphilosophie »der wirklich charakteristisch neue Zug der 95 96 97 98

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 46. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 51. Vgl. Borsche: Wilhelm von Humboldt, 162. Trabant: Traditionen Humboldts, 91.

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Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

deutschen sprachphilosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts«. 99 Es ist eigentlich erstaunlich, dass Hegel das ›Hören‹, das in seiner Phänomenologie des Geistes spätestens beim Übergang von der Einbildungskraft zum Gedächtnis hätte auftreten müssen, einfach ignoriert. 100 Humboldts viel weniger bekannte Position relativiert Hegels somit ein Stück weit, wenn er grundsätzlich feststellt: »Das Wort muss […] Wesenheit, die Sprache Erweiterung in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen.« 101 Für ihn ist die Sprache das Organ des Gedankens und das bedeutet, dass für ihn Gedanken, Stimmwerkzeuge und Gehör zusammengehören. Dieses Humboldt’sche Motiv, dass Sprache in ihrer Präsenz, will sie wirklich Sprache sein, eine authentische Dreiecksbeziehung zwischen Wirklichkeit, Hörer und Sprecher schafft, stellt sich als Fundament der dialogischen Sprachforschung dar und wird zum Beispiel bei Rosenstock-Huessy explizit, wenn er Grade der Vollsprache unterscheidet (vgl. Kapitel 7.2), aber auch bei Rosenzweigs Erlösungskonzept, Bubers Verantwortungspädagogik und Ebners Pneumatologie. 102 Sprechen und Hören sind also die Tätigkeiten (energeia) der Sprache, womit wir zum zweiten Punkt übergeleitet haben. b) Die Sprache vermittelt zwischen Subjekt und Objekt. Oben wurde angedeutet, dass dieses vermittelnde Moment der Sprache, das Humboldt so betont, ihn bereits avant la lettre in die Nähe der Dialogik bringt. Wie sieht diese Vermittlung aber genau aus, welche wesentlich für die Sprache zu sein scheint?

Trabant: Traditionen Humboldts, 170. Vgl. Trabant: Traditionen Humboldts, 184. 101 Humboldt: Ueber den Dualis, 165. 102 Dieses fundamental-dialogische Motiv bei Humboldt scheint mir auch in der dialogischen Poetik Paul Celans, der sich unter anderem mit Buber, Levinas und Heidegger auseinandersetzte, wiederzukehren. Aber in besonderer Gestalt: In der Erscheinungsform des Gedichts manifestiert sich die Sprache als »aktualisierte, freigesetzte, gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen«, sodass das Gedicht seinem innersten Wesen nach Gegenwart und gleichzeitig werdendes Gespräch ist, auf dass sich das Wahre »dem ihm Zugewandten zeigen kann.« (Megrelishvili: Das Dichterische Wort als Ort der Begegnung, 22). 99

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»Die Sprache, obgleich auch beim einsamsten Denken unentbehrlich und obgleich im Sprechen durch jeden der Sprechenden allein aus ihm selbst herausgesponnen, kann dennoch nur an und vermittelst einer Zweiheit entstehen.« 103

Sprache entsteht also immer vermittelst einer Zweiheit. Das Denken in Icheinsamkeit, um hier einen Ausdruck Ebners zu verwenden, ist eigentlich unmöglich: »Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subjekt zurückkehrende Objektivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich. Ohne daher irgend auf die Mitteilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine notwendige Bedingung des Denkens des einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an andren versuchend geprüft hat.« 104

Durch die subjektbezogene Objektivität der Vorstellung, wie sie oben dargestellt wurde, wird klar, warum Sprache erstens eine notwendige Bedingung des Denkens ist und zweiten, warum die Gedanken – insbesondere wenn sie klar sind – immer, auch in der größten Isolation, auf einen Anderen bezogen sind: Der Mensch versteht sich selbst nur, indem er sich Anderen verständlich zu machen versucht. Der Andere ist also ein konstitutives Moment der Sprache. Strenggenommen hat ja jeder Mensch seine eigene Sprache und damit Weltansicht. Dem ›Zwischen‹ der Sprache, die auf den Anderen bezogen zwischen Sprecher und Hörer beim gegenwärtigen Sprechen und Hören wechselseitig vermittelt, kommt also ähnlich wie bei Buber auch für Humboldt eine ontologische Hebungsfunktion zu: Die eigenen Weltansichten werden sprechend stets in Frage gestellt, oder wie die Dialogphilosophen es ausdrücken: Der Dual ›wandert‹. Und tatsächlich stellt Humboldts berühmte sprachvergleichende Analyse Ueber den Dualis die Vereinigung des Getrennten in einer grammatischen Form und deren sozialphilosophischen Konsequenzen ins Zentrum seines Denkens. 105 Der Dualis ist die Grundlage aller geselligen Verbindung. Der Mensch spricht immer mit Anderen: Humboldt: Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien, 173. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 48. 105 Über die besondere Beziehungsqualität des »wandernden« Dual und deren sozialphilosophischen Konsequenzen, siehe oben die dialogphilosophischen Ausführung 103 104

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Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Der Dualis markiert also grammatisch die Vereinigung von eigentlich Getrenntem, und, da er als grammatische Form sprachimmanent ist, hebt er den vermittelnden Charakter, der der Sprache wesentlich ist, hervor. c) Der Typus der Sprache ist auf einen Schlag da. Auch dem Typus der Sprache kommt, wie bereits angedeutet wurde, ein pragmatisches Moment zu: »Es giebt nichts Einzelnes in | der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt sich nur als Theil eines Ganzen an.« 106 Zur Erinnerung: Der Typus der Sprache umfasst alle Gestaltungsmomente und -impulse der Sprache, von der Intention bis zu ihrer Ausdeklinierung und Durchkonjugierung, der historisch beobachtbaren Sprachentwicklung. Jedes in diesem Prozess zum Vorschein kommende Element der Sprache erscheint immer als Teil des Ganzen. Ein Element der Sprache ist also immer schon auf alle anderen Elemente – auch die noch nicht zur Sprache gekommenen – bezogen. Und dieses pragmatische Bezogensein der Sprachelemente aufeinander führt Humboldt unter der Bezeichnung des Urtypus der Sprache weiter aus: »Das Wort muss also Wesenheit, die Sprache Erweiterung in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen. Diesen Urtypus aller Sprachen druckt [sic!] das Pronomen durch die Unterscheidung der zweiten Person von der dritten aus. Ich und Er sind wirklich verschiedene Gegenstände, und mit ihnen ist eigentlich Alles erschöpft, denn sie heissen mit andren Worten Ich und Nicht-ich. Du aber ist ein dem Ich gegenübergestelltes Er. Indem Ich und Er auf innerer und äusserer Wahrnehmung beruhen, liegt in dem Du Spontaneität der Wahl. Es ist auch ein Nicht-ich, aber nicht, wie das Er, in der Sphäre aller Wesen, sondern in einer andren, in der eines durch Einwirkung gemeinsamen Handelns. In dem Er selbst liegt nun dadurch, außer dem Nicht-ich, auch ein | Nicht-du, und es ist nicht bloss einem von ihnen, sondern beiden entgegengesetzt.« 107

Während Humboldt also den Typus der Sprache als das alle Gestaltungsmomente der Sprache Umfassende charakterisiert, geht der Urtypus offenbar an die Wurzel dieses Phänomens: Die Sprache will gehört und erwidert werden! Das ist in der Sprache ursprünglich anüber den Dual, bei denen auch schon auf Humboldt’sches Denken zurückgegriffen wurde. 106 Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 20. 107 Humboldt: Ueber den Dualis, 165 f.

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gelegt und von den Pronomen ausgedrückt. Die Pronomen stehen nämlich in einer spezifischen Beziehungskonstellation zueinander: Ich und Er stehen in einer qualitativ anderen Beziehung als Ich und Du und Du und Er. Wird das Er dem Ich gegenübergestellt, sind alle Wahrnehmungsgegenstände erschöpft. Diesen Sachverhalt kennen wir bereits aus Bubers Ich-Es-Welt. Tritt dem Ich aber Du gegenüber, ist es zwar wie das Er auch ein Nicht-Ich, aber nicht nur: Es ist im Gegensatz zum Er kein Objekt der Erkenntnis die in der Sphäre des Wesens operiert, sondern im Du liegt ein Impuls zum gemeinsamen Handeln, also ein Zwang zur Anerkenntnis. Das Er ist also nicht bloß ein Nicht-Ich, sondern auch ein Nicht-Du: Es hat, wie die beiden anderen Pronomen auch, zwei Gegensätze. Ich ist für sich selbst nichts, denn es kann sich nur im Unterschied zu anderem bilden. Aus Es kann es sich nicht bilden, denn durch die bloße Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt wird weder das Objekt noch das Subjekt unterschieden: »Solange das Ich allein vom Nicht-Ich unterschieden wird, ist jenes nur die Kehrseite von diesem und nicht wirklich etwas anderes.« 108 Erst das Du bringt Bewegung und Vielfalt: Das Du wird erwählt, wodurch sich ein Freiheitsmoment des Subjekts manifestiert. Mit der Gegenüberstellung von Subjekten in der ersten und der zweiten Person verändert auch die dritte Person ihr Wesen: Es ist Nicht-Ich und Nicht-Du. Damit wird der Gegenstandscharakter der dritten Person erst vollendet: Das Er ist gemeinsamer Gegenstand von Ich und Du. Hier begegnen wir dem Ebnerschen Denken wieder: In Icheinsamkeit kann das Subjekt nur Er-Objekte nebeneinanderstellen – das Ich-Es grenzt, kommentiert Buber. Erst in der DuOffenheit wird der Ich-Es-Bezug konstituiert. »Humboldt bereit also die Dialogik vor, indem er aufzeigte, dass das Du keine Repräsentativfunktion hat, es steht für kein Objekt, sondern scheint nur im gemeinsamen Handeln auf.« 109 Nun ist es nach Humboldt aber kein Zufall, dass sich dieser Urtypus der Sprache in den Pronomen manifestiert. Die Pronomen sind nämlich, so Humboldt, am ursprünglichsten in jeder Sprache: »Eine eng grammatische Vorstellungsart der Vertretung des Nomen durch das Pronomen hat hier die tiefer aus der Sprache geschöpfte Ansicht verdrängt. Das erste ist natürlich die Persönlichkeit des Sprechenden selbst, der 108 109

Borsche: Wilhelm von Humboldt, 164. Pajević: Poetisches Denken, 194.

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in beständiger unmittelbarer Berührung mit der Natur steht und unmöglich unterlassen kann, auch in der Sprache ihr den Ausdruck seines Ichs gegenüberzustellen. Im Ich aber ist von selbst auch das Du gegeben, und durch einen neuen Gegensatz entsteht die dritte Person, die sich aber, da nun der Kreis der Fühlenden und Sprechenden verlassen wird, auch zur toten Sache erweitert. Die Person, namentlich das Ich steht, wenn man von jeder konkreten Eigenschaft absieht, in der äußeren Beziehung des Raumes und der inneren der Empfindung. Es schließen sich also an die Personenwörter Präpositionen und Interjektionen an. Denn die ersten sind Beziehungen des Raumes oder der als Ausdehnung betrachteten Zeit auf einen bestimmten, von ihrem Begriff nicht zu trennenden Punkt, die letzteren sind bloße Ausbrüche des Lebensgefühls. Es ist sogar wahrscheinlich, daß die wirklich einfachen Personenwörter ihren Ursprung selbst in einer Raum- oder Empfindungsbeziehung haben.« 110

Humboldt geht hier, ganz schulgrammatisch wie es seiner Stellung zum Idealismus gebührt, von der ersten Person aus: dem Sprecher, der allerdings in Berührung mit der Natur steht (weshalb er auch Hörer ist). Das Ich reicht in den Raum hinaus, wodurch ihm das Du gegeben ist. Diese Erlebnisebene wird – gemeinsam – auch auf die toten Dinge erweitert, wodurch die Beziehungsqualität der dritten Person hinzukommt. Die Beziehungsqualitäten des Urtypus der Sprache manifestieren sich also vor allem im Ursprünglichen der Sprache: den Pronomen. d) Der Organismus der Sprache orientiert uns beim konkreten, situativen Sprechen am (noch unausgesprochenen) Ganzen. Auch der Organismus der Sprache enthält ein pragmatisches Moment: Die Sprache ist einmal (auf der geistigen Ebene) auf die ursprüngliche Intention bezogen und andererseits auf ihre konkrete Ausartikulierung. Auf diese Weise orientiert uns die Sprache sowohl am ausgesprochenen, als auch am (noch unausgesprochenen) Ganzen: Sie ist auf das Andere hin angelegt. Im Wesen der Sprache gibt es also einen unabänderlichen Dualismus: »Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, 110

Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 102.

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Exkurs: Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. Er wird erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivität erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache.« 111

Zum Organismus der Sprache gehört es, dass Anrede Erwiderung erzwingt: Eine Intention will nicht nur sprachlich ausgedrückt, sondern auch gehört und dann erwidert werden! Die (subjektiv wieder gehörte) Objektivität der Vorstellung reicht dem Denken nicht aus: Es will sich nicht nur selbst auf die Objektivität des Gedankens beziehen, sondern diese Beziehungskonstellation und Qualität außer sich erleben. Diese Beziehungskonstellation außer ihm muss aber wieder qualitativ andersgeartet sein, da das Du ein anderes Ich ist und sich diese Konstellation in einem anderen Raum und einer anderen Zeit zuträgt. An dieser Stelle führt uns also der Organismus der Sprache wieder auf ein Thema, das wir im Kontext der Dialogphilosophie behandelt haben: Das Thema des wandernden Duals. »In dem unsichtbaren Organismus des Geistes, den Gesetzen des Denkens, der Classification seiner Kategorieen aber wurzelt der Begriff der Zweiheit noch auf eine viel tiefere und ursprüng- | lichere Weise: in dem Satz und Gegensatz, dem Setzen und Aufheben, dem Seyn und dem Nicht-Seyn, dem Ich und der Welt. Auch wo sich die Begriffe drei- und mehrfach theilen, entspringt das dritte Glied aus einer ursprünglichen Dichotomie, oder wird im Denken gern auf die Grundlage einer solchen zurückgebracht. Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seyns ist Einheit.« 112

Der Begriff der Zweiheit (im dualen Sinne, wie er im Organismus der Sprache angelegt ist) führt nicht in eine Zweisamkeit (also Einsamkeit zu zweit), sondern immer auf ein neues Drittes. Eine Beziehung im Zeichen des Duals findet also kein Ende, bis das Ganze der Sprache, das bereits Ausgesprochene und immer noch Unausgesprochene, durch- und ausgeschritten ist. Wir können also sagen: Findet die 111 112

Humboldt: Ueber den Dualis, 165. Humboldt: Ueber den Dualis, 164.

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Die dialogische Wende der Sprachphilosophie

Dualbeziehung ein Ende, ist Alles ausgesprochen, oder im Duktus von Rosenzweig: dann sind Gott Welt Mensch erlöst und die Geschichte kommt an ihr Ende. Abschließend können wir hier also festhalten: Mit dem Fokus auf den Organismus der Sprache, dringt Wilhelm von Humboldt bereits avant la lettre zum Kern der Dialogphilosophie vor, dessen Vollgehalt die Dialogphilosophen – jeder auf seine jeweilige Art und Weise – auszuartikulieren suchen. Wir dürfen hier also guten Gewissens unsere These als erhärtet ansehen: Die Dialogphilosophie steht in der Tradition Humboldts, unabhängig davon, inwiefern, ob überhaupt, und wenn ja, wie stark sie sich von Humboldt direkt oder indirekt hat inspirieren lassen. Die Dialogphilosophie ist eine Sprachphilosophie in der Tradition Wilhelm von Humboldts.

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Teil II: Im Sozialen

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5. Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

5.1. Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit 5.1.1. Die Abstrahierung von der Zeit durch Platon und Aristoteles Kurz ist das Leben, lang die Philosophie: Die Frage nach der Zeit gibt es mindestens schon so lange wie die Philosophie. Um sich dessen bewusst zu werden, genügt ein Blick in das Historische Wörterbuch der Philosophie: Lässt man die Philosophie zum Beispiel mit Anaximander in Milet (* um 610, † nach 547 v. Chr.) beginnen, dann war sie mit der Frage nach der arche?, dem ontologischen Ursprung der Welt, bereits in ihrem Anfang Zeitphilosophie. Anaximander verortet den Ursprung der Welt im apeiron, laut den Doxographen ein materiales Prinzip, ein Urstoff, »aus dem alles entstehe und in das alles vergehe.« 1 Dieses Entstehen und Vergehen hat seinen Grund, der auf »je andere Weise zeitlich verfaßt ist […] auf der Ursprungsebene das Grenzenlose (to apeiron), auf der des Entsprungenen das All der existierenden Dinge, die für ihre Ungerechtigkeit, das heißt: die Verdrängung der jeweils nicht existierenden, mit ihrem Untergang büßen müssen.« 2 Schon Anaximander also stellt die existierende Welt unter die Botmäßigkeit der Zeit, die zu einem Verdrängungsvorgang durch die nichtexistierenden Dinge führt. Von einem abstrakten Zeitbegriff sind wir hier noch weit entfernt. Das vorgriechische Denken verwendet noch keine abstrakten philosophischen Zeitbegriffe. So wird die Zeit häufig in konkreten Termini ausgedrückt, die Räumliches mit Zeitlichem verbinden: Im Akka-

1 2

Schirren: »apeiron«, 49 f. Theunissen: »Zeit«, 1194.

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

dischen zum Beispiel, einer der Amtssprachen in Mesopotamien, »heißt ›Vergangenheit‹ ›panu‹, wörtlich ›Vorderseite, Gesicht‹, ›Zukunft‹ dagegen ›warkitu‹, wörtlich ›Rückseite‹ ; im Ägyptischen wird das Vergangene als das ›vor‹, das Zukünftige als das ›hinter‹ einem liegende ausgedrückt […].« 3 Bevor sich die Menschheit die Frage nach der Zeit selbst bzw. nach dem »Wesen« der Zeit stellt, gibt es bereits ganz praktische Umgangsformen für das Zeitproblem: In den Frühformen der jüdischen Bibelexegese geht es darum, die in den prophetischen Texten angekündigten ›Zeichen der Zeit‹ zu erkennen und auf das erwartete Weltenende zu beziehen. Den Ägyptern zeigt sich die Zeit an der Regelhaftigkeit der kosmischen Prozesse. Die Auffassung der Zeit als lineare Zeit, die im Abendland die so wirkmächtige Idee der Weltgeschichte als Weltgericht zeitigte, geht wiederum auf den Zoroastrismus zurück. 4 Die frühen Kalender waren Festkalender. Sie messen also zunächst nicht die Zeit, sondern ordnen und erneuern sie, um sie in Gang zu halten. 5 Bereits hier erkennen wir verschiedene Zeitinterpretationen: die kosmisch-zyklische Wiederkehr, den linearen Zeitverlauf und die eschatologische Zeit mit Anfangs- und Endpunkt. Jede Kultur entwickelt ihre eigenen Umgangsformen mit der zyklischen und der linearen Zeit: Die Auffassung der linearen Zeit als Dauer zeitigt ihre Institutionen – zum Beispiel die Institutionen der Heilsgeschichte im Abendland – und die zyklische Zeit zeitigt sich insbesondere in Riten. 6 Je nachdem, worauf also der Schwerpunkt gelegt wird, zeitigt die Zeitinterpretation konkrete Lebenswirklichkeiten: Liegt der Fokus auf der Regelmäßigkeit der kosmischen Bewegungen, dann entsteht daraus eine völlig anders geartete Zeitkultur als wenn ich mich auf die Ausnahmen dieser Regelmäßigkeit, die ›Zeichen der Zeit‹ konzentriere. Bereits dieser skizzenhafte Überblick über die vorgriechische Zeitauffassung erhärtet die beiden Grundthesen von Eugen Rosenstock-Huessy, auf die diese einleitenden Worte hinführen sollen:

3 4 5 6

Assmann: »Zeit«, 1186. Vgl. Assmann: »Zeit«, 1186 ff. Vgl. Assmann: »Zeit«, 1186. Vgl. Assmann: »Zeit«, 1189.

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit

»Räume sind projizierte Zeiten« 7 und: »Des Menschen Natur ist seine Zeit. Wer diesen Satz annimmt, hat Kultur.« 8 Was besagen diese beiden Thesen? Um sie verständlicher zu machen, lassen sie sich folgendermaßen paraphrasieren: Sage du mir, was du unter »Zeit« verstehst und ich sage dir, was für einer Weltanschauung du anhängst. Unter diesem Motto stehen alle folgenden Ausführungen. Ausgehend von diesen Thesen wird unten ab Kapitel 5.2 die Rosenstock-Huessy’sche Zeitphilosophie erläutert. Aber die Geschichte der Zeitauffassungen zeitigt interessante Veränderungen. Erst die griechische Philosophie unterscheidet in einem abstrakten Zeitbegriff zwischen Sein und Zeit, sodass die Zeit ihres qualitativen Charakters beraubt wird. 9 Kein Wunder also, dass die frühen Griechen zunächst eher den Dichtern Weisheit zutrauen als den Philosophen. Sind doch zum Beispiel Epos, Lyrik und Tragödie wesentlich durch ihren Zeitbezug geprägt: Das Epos wird durch eine lang sich hinziehende Zeit konstituiert, während die Lyrik durch eine persönliche und geschichtliche Gegenwart ermöglicht wird. Die Tragödie schließlich treibt tragisches Geschehen auf seine unvermeidliche Katastrophe zu, in der sich die Zeit in einen alles entscheidenden Augenblick zusammenzieht. »Zugleich geschieht eine – meistens vom Chor, manchmal auch von den Handelnden geleistete – Ausweitung des gegenwärtig Geschehenden auf längst vergangene und zugleich zukunftsschwangere Ereignisse.« 10 Auch der hippokratische Aphorismus: »Kurz ist das Leben, lang ist die Kunst« kann als Zeitmotiv der Weltliteratur gelten, denn bis heute ist die endliche Lebenszeit wohl deren stärkste zeitliche Kategorie. 11 Die Weisheit der Dichter besteht also nicht zuletzt in ihrer besonderen Sensibilität für die Zeit, mit der sie ihre Handlungen sich zeitigen lassen. Auf diese Weise werden verschiedene qualitative Zeitaspekte erfasst: Dem homerischen Helden zum Beispiel zieht im

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 127. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 218. 9 Vgl. Assmann: »Zeit«, 1161. 10 Theunissen: »Zeit«, 1190. 11 Vgl. Weinrich: »Zeit«, 1255. 7 8

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

Warten die Zeit sich lange hin. Unter die Botmäßigkeit dieses als »Chronos« bezeichneten Zeitaspekts gerät der Mensch, das »Geschlecht von Tageswesen«, 12 bei den Tragikern. Andere Zeitaspekte wie Äon und Kairos werden erst mit Platon temporal umgedeutet: • »Aion ist ein Knabe, der spielt, die Brettsteine hin und her setzt: einem Knaben gehört die Königsherrschaft.« 13 Heraklit bezieht sich hier auf Homer, der »Aion« primär für die Lebenskraft des Menschen verwendet: Je mehr Kraft ein Leben hat, desto länger ist die ihm beschiedene Zeit (sodass die Grundbedeutung als ›Lebenszeit‹ in dieser homerischen Verwendung bereits angelegt ist). Heraklit interpretiert »Aion« hier offenbar als Freiheitsmoment des Menschen im Rahmen des Chronos: Ein Spiel folgt den vom Menschen festgelegten Regeln, wodurch der Mensch sich einen künstlichen Raum schafft, in dem (auf Zeit) nicht Chronos, sondern der Mensch König ist. Konsequenterweise wird von Euripides der »Aion« als Sohn des Chronos gesetzt: »Denn vieles gebiert Moira, die Göttin aller Erfüllung, von Aión, dem Sohn der Zeit.« 14 Hier wird offenbar auch ein paradoxes Moment menschlicher Freiheit angelegt: Einerseits beschränkt die Zeit den Menschen, andererseits ist es aber erst die Zeit, die dem Menschen eine Freiheit ermöglicht. Denn ohne zeitbegrenzte Freiheit sprächen wir nicht von Freiheit, sondern von Willkür. Wie noch deutlich werden wird: Die Freiheit zu planen verdanken wir der Abstraktion von dem überall lauernden Verderben: dem Bewusstsein vom Tod. • »Kairos« hat vermutlich seinen Ursprung bei Homer als »kairion« (nicht kairos!). Es handelt sich dabei um einen terminus technicus der Webkunst und er bezeichnet die Öffnung, durch die zwischen gehobenen und gesenkten Kettfäden der Schussfaden einzufädeln ist: Das richtige Timing ist hier Voraussetzung! Homer überträgt dieses zielsichere Handeln auf die Kriegskunst. 15

12 13 14 15

Euripides: Iphigenie. 376 f. Heraklit: DK 22 B 52. Euripides: Herakliden 898 ff. Vgl. Theunissen: »Zeit«, 1193.

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit

Hesiod spricht dann als Erster vom kairos, 16 zielt damit aber auf die Ordnung durch die »Maße des weithin rauschenden Meeres«. 17 Mit den ›Gezeiten‹ ist hier ein Zeitbezug hergestellt, deren Kenntnis und Nutzen die Gunst einer ausgezeichneten Stelle im Raum markiert. 18 Hesiod bezeichnet mit kairos also einen günstigen Raum-Punkt. Erst Pindar wertet den Kairos temporal zum günstigen Zeit-Punkt um. 19 Von der Zeit ist bisher also noch gar nicht die Rede! Chronos, Kairos, Aion und lineare Zeit, zyklische Zeit, eschatologische Zeit bilden konkrete Lebenswirklichkeiten ab, in denen Raum und Zeit gar nicht getrennt sind. Dies ändert sich aber, wenn wir von Pindar zu Platon springen: Mit Platon und Aristoteles wird zum ersten Mal ein konkreter, abstrakter Zeitbegriff entwickelt, an dem sich die gesamte Philosophiegeschichte bis in die Gegenwart orientiert und – mehr oder weniger kritisch – abarbeitet. Im Unterschied zu seinen frühgriechischen Vorgängern, die die Ewigkeit (Äon) als unbegrenzte Dauer begreifen, führt Platon in seinem Timaios ein neues Ewigkeitskonzept ein: Die Ewigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine zeitliche Abfolge ist. Platon bestimmt die Ewigkeit als zeitlose, permanente Gegenwart ohne ›früher‹ oder ›später‹. Damit aber nicht genug: Gemäß dem typisch platonischen Urbild-Abbild-Verhältnis definiert er die Zeit dann im Timaios als Abbild der zeitlosen Ewigkeit. 20 Die »Zeit« selbst ist von einem Demiurgen hervorgebracht, der mit ihr sogleich »die Bewegungen der Himmelskörper auf eine Weise ordnet, daß die Umlaufbahnen aufgrund ihrer Kontinuität und Periodizität die Zeitmessung ermöglichen […].« 21 Die Bewegung der Gestirne ist also nicht identisch mit der Zeit, sondern die Planeten sind die ›Werkzeuge der Zeit‹ (organa chronu), sodass Zeitmessung erst möglich wird.

16 17 18 19 20 21

Hesiod: Werke und Tage. 694. Hesiod: Werke und Tage 648. Vgl. Theunissen: »Zeit«, 1193. Vgl. Kerkhoff: »Kairos«, 667. Vgl. Platon: Timaios 37 c–39 e. Westermann: »Zeit«, 1197.

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

Bei der zeitlichen Veränderung spielt der Augenblick (exaiphnes) die entscheidende Rolle: Der Augenblick ist nach Platon ebenfalls ein zeitloser Moment. Sowohl Ewigkeit als auch Augenblick teilen sich also die Eigenschaft, dass sie etwas Zeitloses sind. »Mit der von Platon gleichermaßen als zeitlos gedachten Ewigkeit teilt das exaiphnes damit die Negierung zeitlicher Sukzession, während es sich von ihr insofern unterscheidet, als es nicht als Urbild der Z[eit] jenseits der Z[eit] steht, sondern als etwas Zeitloses selbst in der Z[eit] wirksam ist und – als ein Prinzip, das den Umschlag und damit jegliche Veränderung erst ermöglicht – gerade das Movens der Z[eit] ausmacht […].« 22 »Zeit« ist nach Platon also das Abbild der zeitlosen Gegenwärtigkeit der Ewigkeit, dessen Fortschreiten und Veränderlichkeit durch die Wirksamkeit der Umschlagsmomente der Augenblicke ermöglicht werden. Dieser Zeitbegriff war von großem Einfluss auf die Zeitauffassung seines bodenständigen Schülers Aristoteles. Dieser hält in seiner Physik 23 die Beobachtung fest, dass Zeit stets mit Veränderung einhergeht. Sowohl Zeit als auch Veränderung sind immer zugleich wahrnehmbar. Zwar seien sie nicht identisch, doch sei die Zeit »etwas an der Veränderung« 24 (tes kineseos ti). Die Veränderung ist also eine notwendige Bedingung für die Zeit, sodass Aristoteles die für die folgenden Jahrtausende wegweisende Definition aufstellt: »Denn eben das ist Zeit: die Zahl der Veränderung hinsichtlich des davor und danach«. 25 Die Zeit darf hier nicht als für das Messen bestimmte Größe missverstanden werden. Mit »Zahl« (arithmos) meint Aristoteles nicht dasjenige, womit wir zählen, sondern das Gezählte (arithmumenon) oder Zählbare (arithmeton) selbst. Die Zeit ist für Aristoteles also durch Veränderungsabschnitte, die gezählt werden, charakterisiert. Das bedeutet aber, dass es, wenn es die Zeit gibt, notwendigerweise etwas geben muss, das zählen kann: das Zählvermögen der Seele. Sowohl die Veränderung als auch die Seele sind nach Aristo22 23 24 25

Westermann: »Zeit«, 1198. Vgl. Aristoteles: Physik IV, 10–14. Aristoteles: Physik. IV, 10, 218 b 18. Aristoteles: Physik IV,11, 219 b 1 f.

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teles also notwendige Bedingungen der Zeit. Weder die Tatsache der Veränderung noch die Seele sind aber hinreichend: Die Zeit stellt das Zählbare an der Veränderung dar. Es handelt sich bei Aristoteles also weder um einen objektivistischen noch um einen subjektivistischen Zeitbegriff. Das Phänomen Zeit wird durch »Jetztpunkte« (ta nyn) eingegrenzt (nicht mit dem kairos zu verwechseln!), welche zugleich Endund Anfangspunkt sind und damit die Zeitdauer begrenzen. Die Jetztpunkte sind also einerseits Begrenzer an Anfang und Ende und andererseits Vermittler zwischen ›vergangen‹ und ›zukünftig‹ : Aristoteles stellt als Erster überhaupt eine Art Kontinuum der Zeit fest. 26 Dieses Kontinuum begründet ein Immersein der Zeit, wobei der letzte Gewährsmann des Immerseins für Aristoteles natürlich Gott ist. Das aristotelische Interdependenzverhältnis zwischen Zeit und Veränderung beeinflusste die Geistesgeschichte maßgeblich, insbesondere die Zeitmessungen in den modernen Naturwissenschaften. Schon Aristoteles hat hierbei ein grundlegendes Problem (scheinbar) gelöst: • Die Zeit misst einerseits die Veränderungen: fährt ein Fernfahrer beispielsweise 80 km/h, dann rechnet er damit, dass er zu dem Zeitpunkt, an dem er pausieren muss, in zwei Stunden, 160 km zurückgelegt haben wird. Hier misst die Zeit die noch mögliche Veränderung. • Andererseits aber misst die Veränderung umgekehrt auch die Zeit: Wird dem Fernfahrer nämlich angezeigt, dass sein Sprit nur für 80 km reicht, dann weiß er: Wenn er mit 80 km/h weiterfährt, muss er innerhalb der nächsten Stunde eine Tankstelle ansteuern. Hier bemisst sich die noch mögliche Fahrtzeit an der Veränderung (80 km/h). Einerlei also, ob wir in Kilometern pro Stunde oder in Stundenkilometern rechnen: Veränderung und Zeit bemessen sich gegenseitig. Dieses Henne-Ei-Problem lässt sich nur dadurch lösen, dass man eine gleichförmige Veränderung als Referenzgröße festlegt: Aristoteles verortet den Zeitmaßstab in den gleichförmigen Bewegungen des Universums 27, und noch die Räderuhren des 14. Jahrhunderts orien26 27

Vgl. Westermann: »Zeit«, 1199. Vgl. Aristoteles: Physik IV,14, 223 a 29–224 a 15.

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tieren sich an den Himmelsbewegungen. Kepler holt diesen Maßstab mit dem Fadenpendel schließlich auf die Erde, sodass die gemessene Zeit auf das Wirken von Naturgesetzen zurückgeführt werden kann. So wurden Pendeluhren autonome, d. h. der Erddrehung gleichrangige Zeitmesser und die Technikgeschichte brachte bis zur Atomuhr noch weitere mehr oder weniger exakte Zeitmesser hervor. 28 Mit Platon und Aristoteles war die Katze aus dem Sack: Die Rezeptionsgeschichte des abstrakten Zeitbegriffs wechselt von nun an zwischen diesen beiden Polen, bis in die gegenwärtige Physik hinein. 29 Leider ist hier nicht der Ort, genauer darzustellen, wie etwa die Stoiker wegweisend die Zeit von der Seele emanzipierten und als Intervall der immerwährenden kosmischen Veränderungen interpretierten. 30 Oder wie der Neuplatonist Plotin ganz platonisch die Zeit nur als Abbild der Ewigkeit begreifen konnte, und Aristoteles mit der wegweisenden Erkenntnis widerspricht: Die Zeit sei unabhängig von der Bewegungsgeschwindigkeit und es ist gleichgültig, ob sie schneller oder langsamer abläuft. 31 Insbesondere im Mittelalter waren weniger inhaltliche Gesichtspunkte der aristotelischen oder platonischen Zeitbegriffe ausschlaggebend für den Einbezug von antikem Gedankengut, als vielmehr die mangelhafte Übersetzungslage: Bevor im 12. Jahrhundert mit dem allgegenwärtigen Ibn Rušd (Averröes) die aristotelische Zeitdefinition über das andalusische Cordoba wieder ins Abendland gelangte, verfügte nur die Schule von Chartres über eine, wenn auch unvollständige Übersetzung von Platons Timaios ins Lateinische. Die Rezeption der aristotelischen und platonischen Philosophie spielte sich fast ausschließlich als arabisch-islamisch-jüdische Rezeptionsgeschichte im Orient, zum Beispiel in Gundischapur in Persien oder in Bagdad im heutigen Irak ab. 32 Deshalb beschäftigte man sich im Abendland zwischenzeitlich weniger philosophisch als pragmatisch mit dem Zeitproblem: Zum Beispiel mit der spezifischen Zeitlichkeit Vgl. Janich: »Zeit«, 1245 ff. Vgl. auch den Exkurs in Kap. 5.5, in dem es über die Problematisierung der physikalischen Zeitauffassung durch den physikalischen Diskurs selbst geht und welcher inhaltlich an dieses Unterkapitel anschließt. 30 Vgl. Westermann: »Zeit«, 1199. 31 Vgl. Westermann: »Zeit«, 1202. 32 Diesem Tatbestand hat das Abendland (teilweise durch Rückübersetzungen des Arabischen ins Griechische) die heutige Quellenlage zu antiken Texten zu verdanken. 28 29

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit

des prophetischen Wissens, dem Problem des göttlichen Vorauswissens oder mit der Berechnung des Zeitpunktes des Osterfestes. 33 Noch in der Neuzeit wird der alte Streit zwischen Aristoteles und Platon in neuer Starbesetzung geführt: Isaac Newton beschreibt in seinen Gleichungen, wie sich die Dinge in der Zeit bewegen, weshalb er ganz platonisch davon ausgeht, dass die Zeit (die Variable t) als Entität unabhängig von Veränderung oder Bewegung existiert. Als absolute mathematische Zeit ist sie selbst nicht wahrnehmbar, aber ihr gleichförmiges Ablaufen wird zwar ungenau, aber immerhin von den Uhren nachgezeichnet. Auf der anderen Seite ist Gottfried Wilhelm Leibniz’ Wutrede überliefert, in der er die traditionelle aristotelische These verteidigt, dass die Zeit nur eine Reihenfolge von Geschehnissen ist und selbst nicht existiert. Erst mit Einsteins Forderung, dass für jeden Beobachter, unabhängig von seiner Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung, die Vakuumlichtgeschwindigkeit den konstanten Wert c hat, findet eine Art Synthese beider Zeitauffassungen statt: »An die Stelle einer absoluten Gleichzeitigkeit tritt die Synchronisation von Uhren relativ zueinander bewegter Beobachter mit Hilfe von Lichtsignalen.« 34 Die ›wahre‹ Zeit existiere also tatsächlich als gekrümmte Raumzeit im Gravitationsfeld. Sie ist allerdings durch räumliche Veränderung bestimmt und hat keine vom Raum unabhängige Existenz. 35

5.1.2. Die Überführung des abstrakten Zeitbegriffs in den christlich-jüdischen Kontext Von besonderem Interesse für unser Thema ist die Überführung des Zeitbegriffs in das Christentum. Denn die christlichen Denker stehen als Monotheisten vor der Herausforderung, die Zeitauffassung der griechischen Antike, die die Zeit in endlosen Bewegungen des Kosmos verortete, mit der heilsgeschichtlichen sog. eschatologischen Zeit, die Anfang und Ende hat, zu vereinbaren.

Vgl. Porro: »Zeit«, 1210 f. Janich: »Zeit«, 1248. 35 Vgl. Rovelli: Die Ordnung der Zeit. 61 ff. Eine weitere Zeitinterpretation, die auch an diese Stelle erwähnt werden soll, ist die sog. »Planck-Zeit«, welche in dem Exkurs zur Zeitproblematik in der Quantentheorie in Kap. 5.5 behandelt wird. 33 34

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Zunächst soll folgende Frage skizziert werden: Wie manifestiert sich die Zeit in der Bibel? Wie im vorgriechischen jüdischen Denken wird im Alten Testament das Substantiv »Zeit« sehr viel konkreter mit »ʿ et« bezeichnet, was einen bestimmten Zeitpunkt angibt. Für »Zeitdauer« verwendet das Alte Testament dann vorzugsweise Wendungen für einen inhaltlich abgegrenzten Zeitabschnitt, z. B. »Tage« (in der griechischen Septuaginta wird letzteres mit »chronos« übersetzt und »ʿ et« meist mit kairos oder »Stunde«). Insbesondere vier die Zeit betreffende Sachverhalte sind im Alten Testament wichtig: 36 1) Gott setzt die rechte Zeit und der Mensch kann über sie nicht verfügen. Gleichzeitig ist die menschliche Zeit aber von Naturzyklen bestimmt, die Gott gesetzt hat: »Solange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« 37 Diese Naturzyklen gewähren dem Menschen also eine gewisse Berechenbarkeit seiner Umgebung. 2) Trotz dieser zyklischen Bestimmtheit betont das Alte Testament aber ein weitgehend lineares Zeitverständnis: Die Darstellung zielgerichteter Zeit- und Geschichtsabläufe hat den Glauben an den israelitischen Gott zur Voraussetzung, dessen Unheil und Heil ankündigendes Wort im geschichtlichen Zeitablauf zur Erfüllung kommt. Trotzdem wird im Rahmen linearer Zeitabläufe auch mit einem zyklisch eingreifenden Gott gerechnet. 3) Das für »Ewigkeit« gebrauchte hebräische Wort olam 38 bezeichnet die »fernste Zeit« (sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft). Der Wortstamm von olam kommt vom Verb alam, welches »verbergen« bedeutet: olam bezeichnet also ein Zeitalter, dessen Abschluss noch im Verborgenen liegt. olam ist nicht zeitloses Urbild der Zeit wie bei Platons unvergänglichem aion, sondern

Vgl. für Folgendes: Schmitt: »Zeit«, 1207. Gen. 8, 22. 38 Zum Beispiel bei 1. Mose 3,22: »Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!« Oder auch bezeichnend 5. Mose 15,17: »[…] so nimm einen Pfriem und stich ihn durch sein Ohr in die Tür: Dann ist er dein Sklave für immer.« Dieses immer (olam) bezeichnet hier offensichtlich keine »Ewigkeit«, sondern die Lebenszeit des Sklaven, dessen Ende ja noch im Verborgenen liegt. 36 37

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit

selbst Teil der Zeit. »Von/in Ewigkeit« bedeutet also »unabsehbare Dauer«. 39 4) Wegen der endgültigen Beendigung der Zeit Israels als Strafe für die Sünde des Volkes einerseits und der Erwartung des jenseits dieses Endes sich ereignenden neuen heilvollen Handelns Gottes gegenüber seinem Volk (die Erwartung eines ›neuen Exodus‹ und eines ›neuen Davids‹) andererseits spricht man auch von der eschatologischen Zeit 40 im Kontext der alttestamentarischen Schriftprophetie. Das Neue Testament setzt die alttestamentliche eschatologische Zeit voraus, zum Beispiel: »Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen: Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.« 41

Vom »Jetzt« und von der »kommenden Welt« kann nur im Kontext der eschatologischen Zeit gesprochen werden. Aber im Neuen Testament hat das eschatologische Zeitalter mit dem Kommen Jesu Christi bereits begonnen: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.« 42 So sind insbesondere drei Merkmale die eschatologische Zeit betreffend herauszustellen: 1) der erfüllte Kairos (»Die Zeit ist erfüllt«), 2) das angebrochene »eschatologische Zeitalter« ist aber erst im Verborgenen präsent, wie die Gleichnisse nahelegen. 43 Zum Beispiel: »Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.« 44

ʿ ôlāmʾ wird in der Septuaginta mit aion ins Griechische übersetzt, was im Lateinischen wiederum mit saeculum bezeichnet wird. Dies ist die eigentliche Bedeutung des deutschen Wortes »Welt«, das etymologisch auf das gotische »wer-alt« (»Menschalter«) zurück geht. Vgl. Kap. 5.6.2. 40 Vgl. Schmitt: »Zeit«, 1207 ff. 41 Mark 10, 29–30. 42 Mark. 1, 15. 43 Vgl. Schmitt: »Zeit«, 1207. 44 Mark. 4, 26–29. 39

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

3) Trotz ihrer Verborgenheit wird aber insbesondere bei Johannes der gegenwärtige Bezug zur eschatologischen Zeit in der Begegnung mit Christus betont: Die in der Zukunft erwartete eschatologische »Stunde« ereignet sich nämlich schon in der Begegnung mit dem fleischgewordenen Logos: 45 »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.« 46

Diese Herausforderung des abstrakten antiken Zeitbegriffs durch die christlich-jüdische eschatologische Zeitauffassung zeitigte in der Geistesgeschichte eine Vielzahl an denkbaren Lösungen. Für den spätantiken Augustinus von Hippo (* 13. 11. 354 in Tagaste; † 28. 8. 430 in Hippo Regius im heutigen Algerien), der sich im Jahre 387 taufen ließ, muss die Zeit Anfang und Ende haben. Wie bringt er diesen Sachverhalt aber mit den antiken Zeitauffassungen zusammen? Er argumentiert wegweisend: Anfang und Ende können nicht selbst in der Zeit sein, da es keine Zeit vor der Weltzeit geben kann (und natürlich, weil die Zeit von der Veränderung der Dinge abhängt, denn wenn nichts verginge, gäbe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige Zeit). 47 Also hat nach Augustinus Gott die Zeit mit der Welt aus dem Nichts geschaffen, wodurch die Zeit ontologisch abhängig ist vom ›ewigen‹ Gott, der vor der Zeit – im Sinne von »zeitlos« – ist. 48 Wie dieser ja eigentlich nur subjekt-relative Maßstab sich zur Zeitmessung einer anderen Einzelseele verhält, bleibt bei Augustinus allerdings ungeklärt. 49 Anicius Manlius Severinus Boethius (* um 480/485; † zwischen 524 und 526, entweder in Pavia oder in Calvenzano, heutige Provinz Bergamo) wiederum löst das Problem, indem er (eher neuplatonisch als christlich) argumentiert, dass alles zeitlich sich Ereignende im göttlichen Heilsplan vor der Zeit angelegt sein muss. Er interpretiert die göttliche Ewigkeit nicht als Omnitemporalität, sondern als Atemporalität: Während der menschliche Geist die Vergangenheit also nicht mehr und die Zukunft noch nicht besitzt, ruht der göttliche Vgl. Schmitt: »Zeit«, 1207. Joh. 1, 14. 47 Vgl. Augustinus Bekenntnisse XI, 14, 17. 48 Vgl. Augustinus Bekenntnisse XI, 13, 16: »omnia tempora tu fecisti et ante omnia tempora tu es, nec aliquo tempore non erat tempus.« 49 Vgl. Westermann: »Zeit«, 1205. 45 46

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit

Geist als stets Gegenwärtiges in sich selbst und hat die unendliche Dauerhaftigkeit der sukzessive sich vollziehenden Zeit als reine Gegenwart vor sich. 50

5.1.3. Die transzendentale Wendung der Zeitfrage bei Kant und die Geschichtszeit der Idealisten Immanuel Kant (* 1724 in Königsberg; † 1804 ebenda) schließlich zeigt in seiner transzendentalen Ästhetik, dass es sich bei der ursprünglichen Vorstellung der Zeit weder um einen empirischen noch um einen diskursiven Begriff handelt. Nach Kant handelt es sich sowohl beim Raum als auch bei der Zeit um zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori. Um das nachvollziehen zu können, müssen die kantischen Begriffe hier kurz geklärt werden: Die Anschauung wird durch die gewisse Art der Affizierung des menschlichen Geistes (mit allen seinen Teilen bewusst oder unbewusst, Kant nennt dies auch »Gemüt«) durch einen Gegenstand hervorgebracht. Durch die Fähigkeit der Rezeptivität gewinnt der Mensch die Vorstellungen, wie er von Gegenständen affiziert wird. Dies nennt Kant »Sinnlichkeit«. »Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, 51 und sie allein liefert uns Anschauungen*; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe*.« 52 Die Affizierung durch den Gegenstand bewirkt ferner Empfindungen und Kant differenziert: »Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch*. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung, heißt Erscheinung*.« 53 Und weiter: »In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie* derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form* der Erscheinung.« 54 Und schließlich: »Ich nenne alle Vorstellungen Vgl. Westermann: »Zeit«, 1205. Anmerkung: Im Original nicht kursiv, sondern gesperrt. Im folgenden mit * gekennzeichnet! 52 Kant: Kritik der reinen Vernunft A 19/B 33. 53 Kant: Kritik der reinen Vernunft A 20/B 34. 54 Kant: Kritik der reinen Vernunft A 20/B 34. 50 51

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rein* (im transzendentale Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird. […] Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« 55 Hiermit haben wir die nötigen Begrifflichkeiten also geklärt: Kant unterscheidet zwischen Vorstellungen a posteriori (»Empfindungen«) und Vorstellungen a priori (reine Form). Die Formen a priori bringen die Ordnung in die Mannigfaltigkeit der »Empfindungen« (a posteriori). Formen a priori sind also das, was übrig bleibt, wenn man von den Anschauungen die Empfindungen und die Verstandesbegriffe abzieht. Auf diese Art, wenn die Empfindungen und die Verstandesbegriffe von den Formen a priori isoliert wurden, kommen wir darauf, so Kants These und unsere Ausgangsfrage, »daß es zwei Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit […].« 56 Kant führt vier Argumente dafür auf, dass es sich bei Raum und Zeit weder um Empirie (jeweils Argument 1 und 2) noch um Verstandesbegriffe (jeweils Argument 3 und 4) handelt, sondern dass es sich um »reine Anschauungen« und damit um Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt handelt. Raum

Zeit

1. Raum und Zeit Der Fakt, dass ich Empfindungen sind nicht empirisch, außerhalb meiner selbst verorte, weil … setzt bereits eine Vorstellung des Raumes voraus. 57

»Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge.« 58

2. Raum und Zeit »Man kann sich niemals eine Vorsind nicht empirisch, stellung davon machen, daß kein weil … Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin ange | troffen werden.« 59

Man kann sich angesichts der Erscheinungen nicht vorstellen, ohne dass die Zeit a priori gegeben ist. 60

55 56 57 58 59 60

Kant: Kritik der reinen Vernunft A 20f/B 34 f. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 22/B36. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 23/B 38. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 30/B 46. Kant: Kritik der reinen Vernunft A24/ B 38. Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 31/B 46.

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Hinführung: Der Zeitbegriff auf dem Zahn der Zeit 3. Raum und Zeit sind keine Verstandesbegriffe, weil …

Die Zeit ist etwas Ungeteiltes: der Raum etwas Ungeteiltes ist (auch wenn man Einzelräume als »verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einanTeile von ihm abteilen kann). 61 der […].« 62

4. Raum und Zeit sind keine Verstandesbegriffe, weil …

»Der Raum wird als eine unendlich gegebene Größe vorgestellt.« 63

»Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch | Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei. Daher muß die ursprüngliche Vorstellung Zeit* als uneingeschränkt gegeben sein.« 64

Obwohl Raum und Zeit also nicht unabhängig vom wahrnehmenden Wesen sind, sind sie nicht Teil dessen, sie werden weder einfach zu den Dingen ›hinzugedacht‹, noch ›erscheinen‹ sie uns an den Dingen (etwa weil wir Dinge eben nebeneinander wahrnehmen). Raum und Zeit sind – und das macht diesen transzendentalen Ansatz radikal neu in der Rezeptionsgeschichte der Zeit – Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen und Erkenntnissen überhaupt. Welchen ontologischen Stellenwert kann Kant dann aber Raum und Zeit beimessen? Hinsichtlich des Raumes bemerkt Kant: »Wir behaupten also die empirische Realität* des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), ob zwar die transzendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.« 65

Der Raum ist selbst Nichts, nur im Falle der Erfahrung umfasst er das Nebeneinander der Gegenstände in sich. Der Raum ist also eine reine Form sinnlicher Anschauung und damit eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, sodass wir vielleicht besser täten, hier nicht von »Raum« zu sprechen, sondern von »Räumlichkeit«.

61 62 63 64 65

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 25/ B 39. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 31/B 47. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 25/B 39. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 32/B 47 f. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 28/B 44.

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Und ähnlich die Zeit: »Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität* der Zeit, d. i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. […] Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die | Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahiert, gar nichts ist, und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend noch inhärierend beigezählt werden kann.« 66

Wie der Räumlichkeit kommt also auch der Zeit empirische Realität und transzendentale Idealität zu: In Erfahrungssituationen kommt ihr objektive Gültigkeit zu, nach ihrem eigenen Dasein befragt, ist sie ein Nichts, da die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung entfallen. Da der Zeit also kein ontologischer Wahrheitswert zubemessen werden kann, wäre es auch hier weniger missverständlich, anstatt von »Zeit« von »Zeitlichkeit« zu sprechen. In diesem Sinne möchte ich übrigens auch den Titel dieses Beitrags Die Zeitlichkeit des Seins verstanden wissen: Zeitlichkeit wird hier nicht als Eigenschaft oder als Erfahrungswert von Seinserscheinungen o. Ä. propagiert – woher könnte ich das überhaupt wissen? –, sondern als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Seinszugriffen überhaupt, die sich wiederum (und das ist der fundamentale Unterschied zu Kant) in den grammatischen Strukturen der Zeitigungen genauer ablesen lassen. 67 Aber an diesem spezifisch kantischen Anspruch sollten sich die folgenden Ausführungen über die Zeitlichkeit des Seins messen lassen können. Aber warum spreche ich dann von der »Zeitlichkeit des Seins« und nicht umgekehrt von der »Seinshaftigkeit der Zeit« o. Ä.? Auch hierfür liefert uns Kant den Grund: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt.« 68 66 67 68

Kant: Kritik der reinen Vernunft A 35 f./B 52. Siehe hierfür Kapitel 2. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 34/B 50.

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Die Zeitlichkeit ist also die umfassendere Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungen als die Räumlichkeit, denn die Räumlichkeit bezieht sich nur auf äußere Dinge, während die Zeitlichkeit alle Erscheinungen, also auch nicht-räumliche innere Zustände umfasst. Dieser kantische Gedankengang liegt übrigens der Rosenstock-Huessy’schen Soziologie zu Grunde, wenn er – wie unten dargelegt wird – die Zeitdimension als fundamentaler als die Raumdimension ansieht. Wir werden sehen: Rosenstock-Huessy wendet diese Formel in die soziale Dimension (also weg von der ontologischen oder erkenntnistheoretischen) und formuliert so seine soziologische These: »Räume sind projizierte Zeiten«. Der Anspruch des Titels meines Beitrags Die Zeitlichkeit des Seins kann also in diesem Kontext näher erläutert werden: Wie kann ich, wenn die Zeitlichkeit doch nicht als Eigenschaft des Seins behauptet werden soll, von der »Zeitlichkeit des Seins« (im Genitiv) sprechen? Diese Formulierung ist aus folgendem Grund korrekt: In meinen Ausführungen kann nämlich mit Hilfe der Grammatik die bloße Erkenntnisebene des Indikativs zugunsten der ›pragmatischen‹ Ebene des Imperativs verlassen werden: 69 • Auf der indikativen Erkenntnisebene wird das Sein immer als ›Gegenüber‹ hingestellt und muss deshalb immer unter dem Vorbehalt der ontologischen Differenz stehen. • Auf der ›pragmatischen‹ Ebene des Imperativs ist der theoretische Vorbehalt der ontologischen Differenz jedoch nicht mehr am Platze, da es sich bei einem teilnehmenden Verhältnis zum Sein nicht mehr um bloße ›Erkenntnisfragen‹ handelt. 70 Hier müssen andere (einschränkende) Maßstäbe angesetzt werden. Die Zeitlichkeit ist auch hier weder ein postulierter Erfahrungswert noch eine hinzugetragene Eigenschaft, sondern die Bedingung der Möglichkeit zur Teilnahme am Sein, und äußert sich insbesondere in der Tatsache des eigenen Todes. Bei den Deutschen Idealisten wird ein völlig neuer Zeitbegriff gebildet: Die geschichtliche Zeit. In Georg Wilhelm Friedrich Hegels

An diesem Wechsel der Ebenen musste Heideggers Ansatz scheitern, wie in Kapitel 5.6.1.2 dargelegt wird. 70 Siehe hierfür Kapitel 5.6.2 69

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(* 1770 in Stuttgart; † 1831 in Berlin) Phänomenologie des Geistes wird die Zeit als Bewusstseinsphänomen im Durchgang durch die verschiedenen Bewusstseinshorizonte stufenweise immer konkreter begriffen: »Dabei wird nicht die Z[eit] im Allgemeinen, sondern die jeweils durch eine spezifische intentionale Struktur bestimmte Zeitform thematisiert.« 71 Vom einfachen ›Jetzt‹ der sinnlichen Gewissheit und der Dauer von Veränderungen in der Wahrnehmung sowie der Koordination verschiedener Bewegungen in der Zeit entwickelt Hegel ein qualitativ neues Zeitkonzept. Entscheidend für die geschichtliche Zeit ist deren intersubjektiver Horizont von Individuellem, was bei Hegel unter dem Terminus des Geistes firmiert. 72 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (* 1775 in Leonberg; † 1854 in Ragaz) schließlich entwickelt mit seinen Weltaltern in Abgrenzung von Hegel eine Geschichtszeit, die nicht begriffslogisch begründet und abgeschlossen werden kann. Er verbindet die leitende Annahme einer prinzipiell zeitlosen Vernunft mit einer ursprünglichen Zeit der Offenbarung: Aus der »im Ewigen verborgnen Zeit« 73 leitet sich die Zeit individueller Existenzen ab, die nicht »in der Zeit« 74 sind, sondern die »Zeit in sich selbst« 75 haben: »Kein Ding entsteht in der Zeit, sondern in jedem Ding entsteht die Zeit aufs Neue und unmittelbar aus Ewigkeit.« 76 Die eigentliche Zeit ist also die Zeit der Individuen und das Scheinbild einer abstrakten Zeit entsteht erst durch Vergleichung und Messung. »Anders als Hegel betont Schelling eine nicht begriffslogisch auflösbare Zeitlichkeit der Bewußtseinsprozesse. Im Kontext eines unvordenklichen Anfangs impliziert Bewußtseinskonstitution nicht nur, ›ein Vergangenes zu setzen‹ […].« 77 Dieses Schelling’sche Motiv der begrifflichen Nichtauflösbarkeit markiert tatsächlich einen Höhepunkt in der Begriffsgeschichte der Zeit, denn es führt zur Grenze des Wissens. Rosenstock-Huessy schließt hier kritisch an die Philosophiegeschichte an: »Dem Idealismus sind nur Wissensweisen bekannt. Dieselbe Vernunft ist dreimal

71 72 73 74 75 76 77

Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1236. Vgl. Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1236. Schelling: Weltalter, 77. Schelling: Weltalter, 78. Schelling: Weltalter, 78. Schelling: Weltalter. 78 f. Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1236.

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tätig, als Denkmaschine. – Ich widerspreche, als Erbe der Weltkrisis.« 78 Was meint Rosenstock-Huessy? Schelling ist so weit Recht zu geben, als »die Subjektivität der Zeit« 79 die eigentliche »Realität der Zeit« 80 ist. Dem würde auch Rosenstock-Huessy insofern zustimmen, als der Zeitbezug zwar immer ein persönlicher, nicht aber ein subjektivistischer sei. Auch dem Schelling’schen Befund, dass die Vorstellung einer Zeitreihe erst »durch Vergleichung und Messung verschiedner Zeiten entsteht« als das »Scheinbild einer abstrakten Zeit«, 81 ist erst einmal nicht zu widersprechen. Schelling kommt hier sozusagen zu einem Ende der Begriffsgeschichte der Zeit. Aber auch er krankt noch am idealistischen Wissensfetisch, wenn man sein Grundmotiv bedenkt: »Das Vergangene wird gewußt. Das Gegenwärtige wird erkannt. Das Zukünftige wird geahndet.« 82 Schelling wusste offenbar nicht, so Rosenstock-Huessy, dass das Wissen außerhalb der lebendigen Zeit ist. Wie sollte man auch ›wissen‹ können, was die Zeit ist? Ist doch das Wissen selbst völlig unabhängig von der Zeit! Nach Rosenstock-Huessy müsste Schellings Weltalterspruch nämlich folgendermaßen korrigiert werden: »Die Vergangenheit werde erzählt. Die Zukunft werde verheißen. Die Gegenwart werde erkämpft. Das Tote mag man wissen.« 83

5.1.4. Resümee: Zeit, ein Rätsel nach wie vor! Am Ende dieser kurzen Geschichte der Zeitauffassungen – das müssen wir uns wohl eingestehen – stehen wir nicht viel besser da als Augustinus: »Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß

So Rosenstock-Huessy in einem Brief an Georg Müller im Jahre 1955. In: Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 390. 79 Schelling: Weltalter, 78. 80 Schelling: Weltalter, 79. 81 Schelling: Weltalter, 79 82 Schelling: Weltalter, 3. 83 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 22. 78

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ich es nicht.« 84 Wenn wir über Zeit reden, reden wir eigentlich immer über Phänomene, von denen wir annehmen, sie seien Manifestationen von Zeit. Und anschließend beginnen wir, darüber zu philosophieren und zu spekulieren, was die Zeit denn schließlich sei. Die Menschheit hat viele Antworten und Umgangsweisen für das Zeitproblem gefunden: Wir können die Zeit auf eine Messgröße reduzieren, deren Zeittakt durch die kosmischen Himmelsbewegungen oder die Frequenz von Strahlungsübergängen der Elektronen freier Atome in Atomuhren vorgegeben wird. Wir können Zeit platonisch als illusionäres Abbild einer zeitlos vorgestellten Ewigkeit interpretieren oder ihren kosmischen Charakter betonen. Wir können ihren psychologischen Aspekt hervorheben: ›Die Zeit heilt alle Wunden‹ oder umgekehrt: Die Uhr ist die Mühle des Teufels, weil sie im Gleichtakt einfach abläuft. 85 Auch kann die Zeit eine ästhetische Wirkung auf uns haben. Versuchen wir einen abstrakten Begriff »Zeit« zu entwickeln, trennt sich die Zeit plötzlich vom Sein, sodass sie ihren qualitativen Charakter verliert. Wir können die Zeit auch als »soziales ›Medium der Handlungskoordination‹« 86 nutzen: Wir verplanen die Zeit, organisieren mit ihrer Hilfe und stehen vor der freizeitlichen Herausforderung, sie sinnvoll zu verbringen. Wir sind an Uhren gebunden, weil unsere ›subjektive‹ Zeit anders verläuft als die ›objektive‹ Zeit: Während wir die ›objektive‹ Zeit an Messgeräten ablesen können, kennen wir alle das Phänomen, dass uns sinnvoll erscheinende Tätigkeit Kurzweil beschert, die jedoch im Rückblick unserer Erinnerung wie eine Ziehharmonika langgezogen wird und uns lang erscheint. Umgekehrt scheint sich die Zeit in der Langeweile zu dehnen, während sie in der Erinnerung zusammenschrumpft, 87 wie man es von langwierigen Autofahrten kennt. Die Zeit kann verstreichen, einschlagen, sich periodisch wiederholen, besondere Anforderungen stellen und wir können sie totschlagen.

84 85 86 87

Augustinus: Bekenntnisse XI, 14, 12. Vgl. Lübbe: »Zeit«, 1249. Lübbe: »Zeit«, 1249. Vgl. Lübbe: »Zeit«, 1252.

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Keine der uns bekannten Zeitauffassungen kann Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben: Die Raumzeit kann nur in einigen Bereichen der Physik gelten, denn sie ist nur unabhängig von der Zählfähigkeit der Seele, weil einige Stoiker das so behaupteten (ohne es tatsächlich wissen zu können). Dem Erlebnis der subjektiven Zeit widerspricht spätestens der objektiv-zeitliche Verfall des Körpers, dessen ›Uhr‹ abläuft. Dem Versuch des abstrakten Erfassens von Zeit widerspricht der zeitlose Charakter des im Erfolgsfall sich einstellenden Zeitbegriffs. Und da keiner dieser Ansätze Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann, sind sie unschädlich, also zur Bildung von Weltanschauungen ungeeignet, sodass wir sie nutzen können. Diese Feststellung ist wohl die zentrale Neuheit in Eugen Rosenstock-Huessys Zeitphilosophie: In seinem dreibändigen Monumentalwerk Im Kreuz der Wirklichkeit setzt er bei diesem Sachverhalt an. Denn eines ist auffällig: Wollen wir die Zeit verstehen, bilden wir uns Begriffe und machen Beobachtungen. Begriffsbildung und Beobachten sind selbst zeitliche Vorgänge. Bilden wir uns einen Begriff der Zeit, wissen wir hinterher nicht besser als vorher, was die Zeit ist. Um die Zeit zu erfassen, tätigen wir etwas in der Zeit: Das Philosophieren über die Zeit um der Zeit willen bringt gar keine allgemeingültigen Zeitbegriff hervor, sondern diese Tätigkeit selbst zwingt uns in einen Umgang mit der Zeit: einen Kalender! Mit dieser Beobachtung als Ausgangspunkt, dringt Rosenstock-Huessy immer weiter bis zu einer Kaironomie vor, für die sich ein Sinn für die Zeitigungen beschreiben lässt, mit dessen Hilfe wir in eigenartiger Weise Herr der Zeiten werden (ohne den Anspruch, zu wissen was die Zeit selbst sei). Als Korrelat wird am Ende dieser Untersuchungen auch eine fünfstufige Skala der Lebendigkeit vorgestellt, wobei der Grad der Lebendigkeit daran bemessen wird, inwiefern das (Lebe-)Wesen ein eigenes Verhältnis zur Zeit hat oder nicht. Als Orientierungsmaßstab dient Rosenstock-Huessy das Kreuz der Wirklichkeit, dessen Bedeutung unten ausgeführt wird.

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5.2. Die vier Kalendertypen der Menschheit – Rosenstock-Huessys historische ›Deutungsanstrengung‹ Dieses Kapitel beinhaltet die von Rosenstock-Huessy entwickelte Kalenderkunde. Anschließend geht es um die Frage, wie wir uns von den zu Totalisierungen tendierenden Kalendern fernhalten können: Hierbei wird das Kreuz der Wirklichkeit erörtert (in Kapitel 5.3). Erst ab diesem Punkt, wenn alle Zeiten und Räume in Relation zueinander stehen, stellt sich die Frage nach der Zeit der Gegenwart und diesbezüglich nach einer Kunst der Kaironomie. Um diese Frage anzugehen, werden in Kapitel 5.4 Orientierungsmaßstäbe ausgearbeitet werden, mit deren Hilfe wir in 5.6 die grammatisch-logische Struktur der Zeitigungen der »Welt« beschreiben können, sodass wir uns bereits einer Kaironomie aus theoretischer Perspektive nähern. Die konkrete Kunst der Kaironomie, die sich anwenden lässt und uns tatsächlich ein Stück weit zu Herren der Zeiten macht, wird dann schließlich als Gesamtergebnis dieses Beitrags in Kapitel 7.6 vorgestellt. Bevor ich meine Analyse der Rosenstock-Huessy’schen Kalendertypen vorlege, muss eine einleitende Anmerkung gegeben werden: Für das, was nun in diesem Kapitel dargelegt wird, hat sich Rosenstock-Huessy, zu Recht, den diplomatisch klingenden Vorwurf der »geschichtsphilosophische[n] Deutungsanstrengung« 88 eingehandelt. Dieser Vorwurf impliziert so etwas wie historische Rosinenpickerei, um eine vorgebrachte These – nämlich die soziale Dimension der Kalender – darzulegen. Was im Folgenden beschrieben wird, hält den auch oben im Kontext mit Kant erarbeiteten und von den Dialogphilosophen in ihrer Grammatikanalyse angesetzten Ansprüchen nicht stand. Allerdings würde Rosenstock-Huessy, und darin besteht der Witz, diesen Vorwurf vermutlich sogar begrüßen! Denn es liegt ohnehin im Wesen der Geschichtsschreibung, dass sie diese Anforderungen nicht erfüllen kann. So stellt schon Wilhelm von Humboldt fest: »Außerdem, daß die Geschichte, wie jede wissenschaftliche Beschäftigung, vielen untergeordneten Zwecken dient, ist ihre Bearbeitung nicht weniger, als Philosophie und Dichtung, eine freie, in sich vollendete Kunst.« 89 88 89

Wolfes: E. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit, 2018. Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtsschreibers, 36.

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vier Kalendertypen der Menschheit

Wenn Humboldt Recht hat, darf die Geschichtsschreibung ohnehin keinen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren. Und tatsächlich setzt der Historiker Rosenstock-Huessy diesen kantischen Maßstab an die Geschichte selbst an und resümiert: »Niemand kann die Geschichte geschehen sehen. ›Geschichte‹ ist vielmehr geradezu umgekehrt nur das bereits sichtbar gewordene ›Geschehen‹.« 90 Kein Historiker beschäftigt sich mit transzendentalen Bedingungen von Erkenntnis überhaupt, das ist nicht sein Job. Kein Historiker kann für seine herausgearbeiteten historischen Fakten so etwas wie ›Wahrheit‹ beanspruchen. 91 Aus der Geschichte lernen zu wollen, ist falsch! Warum? Weil wir die geschichtlichen Fakten, welche die Geschichtswissenschaft herausarbeitet, immer im Lichte unserer aktuellen Dispositionen beurteilen: Wir können gar nicht anders als die Maßstäbe unserer akuten Weltanschauung anzulegen. Das bedeutet aber nicht, dass Geschichtsschreibung nicht trotzdem wertvoll wäre! Und Rosenstock-Huessy macht sich diesen Sachverhalt als Freiraum zu Nutze: Da ohnehin jeder Historiker ›Deutungsanstrengungen‹ betreibt, ist auch Rosenstock-Huessy so frei, seine eigene Deutungsanstrengung vorzulegen, um seine Kalendertheorie plausibel zu machen. Er kann in diesem seinem Freiraum schalten und walten wie er will, er kann pauschalisieren, polemisieren: Alles, was im Kapitel 5.2 dargelegt wird, steht also unter dem Vorbehalt und dem Schutz der Ironie. 92 Keiner kann sich also verletzt oder angegriffen fühlen (auf diese Weise polemisiert und pauschalisiert er auch gegen Philosophen – insbesondere in Gestalt der ›Idealisten‹ –, Wissenschaftler, Psychologen, Okkultisten etc.). Das Geniale dieser ironischen Brechung besteht darin, dass sich einerseits keiner angegriffen, andererseits aber jeder angesprochen fühlen kann (oder eben nicht). Ohne Zweifel verlangt Rosenstock-Huessy hier seinem Leser viel Verständnis und Wohlwollen ab – und das alles ohne Vorwarnung: Er legt mit seiner ›Deutungsanstrengung‹ einfach los! Aber indem er die kantische transzendentalphilosophische Feststellung Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 45. Vgl. hierzu meine Anspruchstheorie der Wahrheit in Kap. 7.2. 92 Der größte Witz, sozusagen ein Metawitz, besteht darin, dass er diesen Sachverhalt in diesem Kapitel anhand des griechischen poiema erläutert (und damit unter der Hand begründet, warum dieser an Kierkegaard erinnernde Ansatz der richtige für ihn ist). 90 91

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Das Zeitliche ist umfassender als das Räumliche 93 in den Anspruchsbereich der Soziologie überführt, ist er vom ontologischen Anspruch befreit und kann seine in die Soziologie eingeführte These Räume sind projizierte Zeiten erläutern, erhärten und plausibilisieren. Nur beweisen kann er sie so nicht! Diese Vorgehensweise ist aber nur konsequent, berücksichtigt man seine Ansicht von der Bedeutung der Geschichte: Denn warum sollte ich denn bitte jemals wieder ein Geschichtsbuch aufschlagen, wenn geschichtlichen Fakten kein Wahrheitsanspruch zukommt? Was ist der Sinn des Geschichtsunterrichts? – Der primäre Sinn besteht darin, so Rosenstock-Huessy, die erworbenen Eigenschaften als bloß und erst erworbene Eigenschaften anzuerkennen: »Denn erst dadurch erkennt er diese Eigenschaften als gefährdet und verfüglich an und wird so opferfähig für ihre Wiedergewinnung.« 94 Und dies wird im Folgenden bezüglich des Spezialfalls der Kalendertypen geschehen. Für alle diejenigen aber, die seine Ironie nicht verstehen, stellt er den Sachverhalt noch einmal explizit klar. Ganz zum Schluss, im dritten Band 95, schreibt er, keines der im Folgenden herausgearbeiteten Zeitworte (Stamm, Reich, Volk, Griechentum) gebe es in Reinform. Es handle sich nur um eine Typologisierung der Kalender, nicht um eine wissenschaftliche Klassifikation, und diese sei auch gar nicht beabsichtigt (denn das wäre kein adäquater Anspruch an die historische Disziplin, sondern eine Anmaßung). Durch die Verwandtschaft des Historikers mit dem Dichter also nimmt sich der Rechtshistoriker Rosenstock-Huessy die Freiheit, die sozialen Prämissen und Konsequenzen der Grammatik an den ›Figuren der Grammatik‹, den Menschen, historisch vorzuführen. Wir müssen das, was nun folgt, als historisches Charakterstudium im Sinne Humboldts 96 deuten, allerdings nicht wie bei diesem im Hinblick auf die Sprache, sondern im Hinblick auf den Umgang mit der Zeit im Sozialen: Um den Sachverhalt genauer zu charakterisieren, konzentriert sich Rosenstock-Huessy nicht auf die Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Zeit, sondern auf die Unterschiede. 93 94 95 96

Siehe hierzu Kap. 5.1.3. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 51. Vgl Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 189. Vgl. Kap. 4.3.

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Spätestens in Kapitel 5.6, das von Kaironomie und Zeitigungen handelt, ist Rosenstock-Huessy aber wieder mit aller Ernsthaftigkeit dabei, denn da geht es nicht mehr nur um Erkenntnisse, sondern um Leben und Tod. Die folgenden, unter dem Vorbehalt der Ironie stehenden Erläuterungen sind allerdings Voraussetzung für das Verständnis von Kapitel 5.6. Beginnen wir von vorn: »Da der moderne Leser von irgendwelcher Philosophie oder Wissenschaft herkommt, so pflegt er immer mit dem Raum anzufangen, z. B. nennen die Physiker die Zeit eine vierte Dimension des Raumes. Schlagender kann man nicht beweisen, daß die Weltmänner ihre Gedanken mit dem Raum anfangen. Das ist ein Anfang, der zu nichts Lebendigem je führen kann. Im Raum herrscht der Tod. Es ist Wahnsinn, dem Raum drei Dimensionen und die Zeit als vierte zuzuschreiben. Es ist eben umgekehrt: Die Zeit hat drei Dimensionen: Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Wo sie diese hat, da ist der Raum der Physik, der Außenraum die vierte Dimension dieser dreidimensionalen Zeit. Diese vierte Dimension des Außenraumes ist Todes Raum. In sie fällt das von der Zeit Abgestoßene und Zurückgelassene. Der Raum der Natur ist der Mülleimer der dreidimensionalen und damit der wirklichen Zeit. Bei allem bloß im Außenraum der Physik betroffenen Ding ist von Zeit abgesehen, und so ist es seines lebendigen Anteils an der Zeit bar! Das zeigt sich darin, daß es keinen Namen mehr hat.« 97

Einerseits leben wir unter der Botmäßigkeit des Chronos: Die Zeit schränkt unsere Freiheit ein, läuft ab und wir können nichts dagegen tun. Der Tod gehört zum Leben. Auch Rosenzweig beginnt seinen Stern der Erlösung mit »VOM TODE, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.« 98 Andererseits können wir mit der Zeit rechnen: In Kalendern organisiert, gibt uns die Zeit einen Freiraum, der in seinen engen Grenzen tatsächlich unserer Kontrolle unterliegt und in dem die Zeit abläuft. Wohl nirgendwo sonst wird die Zeitlichkeit des Seins ›greifbarer‹ als in Rosenstock-Huessys Abhandlung über den menschlichen Umgang mit der Zeit in Kalendern. Welche besondere Rolle der Tod hierbei spielt, wird im Ausgang dieser Untersuchung dargelegt. Im folgenden Kapitel werden zwei Thesen Rosenstock-Huessys – die mit Kants Feststellung korrespondieren, dass die Zeit umfassen97 98

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 319 f. Rosenzweig: Stern der Erlösung I, 7.

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der sei als der Raum 99 – über den Zusammenhang von Raum und Zeit erhärtet: • »Räume sind projizierte Zeiten.« 100 • »Des Menschen Natur ist seine Zeit. Wer diesen Satz annimmt, hat Kultur.« 101 Der Sinn eines Kalenders ist folgender: »immer soll die Zeit verhindert werden, nur verflossen zu sein. Verflossene Zeit ist vergebliche Zeit.« 102 Kalender sind also nicht bloß Timeplaner. Die Kalenderfunktion wird am Beispiel der Feiertage wohl am deutlichsten: Ein Feiertag »soll uns […] gerade nicht ›zerstreuen‹ wie der Zeitvertreib, sondern uns zu Zeitgenossen eines – vulgär gesprochen: ›nicht-totzukriegenden‹ – Ereignisses gewinnen.« 103 Feiertage dienen uns nicht zur Erbauung, sondern an ihnen wirkt ein vergangenes Ereignis nach. Heutzutage sind die Feiertage mehr oder weniger zur Privatsache geworden. 104 Ersatz bieten uns der Spielplan des Städtischen Theaters, die Formel 1 oder die durch Legislatur-Perioden strukturierte Politik. 105 Diese Zeitstrukturierungen bewirken immer, dass die Zeit nicht nur verflossen ist. Menschen leben spätestens seit dem Jahre 0 in einer Vielzahl an Kalendern gleichzeitig. Das unterscheidet unsere heutige Zeit von der Antike: den Antiken, muss man eigentlich sagen, denn die Antike brachte vier Kalendertypen hervor. Alle unsere heutigen Kalender stellen Mischungen und Spezialfälle daraus dar: • Unser Erster Kalender bringt nach wie vor den größten Gesprächsbedarf hervor: das Wetter! Die Bewohner der antiken Reiche Ägyptens, Mexikos oder Chinas zwangen sich jahrtausendelang dazu, ihre Befindlichkeit aus den fühllosen Sternen abzuleiten. Ihre Kalender waren die berechenbaren und wiederkehrenden Phänomene am Himmel. Unsere Gespräche über das Wetter sind die bescheidenen Überreste der ›Kalenderzeit‹ des Kults des Sonnen- und Sirius-Jahres. Die Bibel brach diesen asSiehe oben Kap. 5.1.3. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 127. 101 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 218. 102 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 62. 103 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 38. 104 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 43. 105 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 61 f. 99

100

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trologischen Zauber zum Beispiel mit Noahs Regenbogen: In der Bibel geschieht alles nur einmal. Jeder Regenbogen ist einmalig. Deshalb sind wir heute im Gegensatz zu den Reichsbewohnern nicht mehr in diesem Kalenderraum gefangen und können in ihn hinein oder nicht, ganz wie wir wollen. Der Zweite Kalender ist der Familienkalender und stammt aus den Stämmen: »Hier ist der Lebenslauf durch die Generationen das rhythmisierende, gemeinschaftsbildende Element.« 106 Der Tote im Stamm wird in einem Ahnenkult verehrt, weil er gelebt hat. 107 Unser Dritter Kalender ist der von den Griechen überkommene Kunst-, Kultur- und Sportkalender: Er synchronisiert uns zum Beispiel nach den Neuerscheinungen oder sportlichen Wettbewerben. 108 Der Vierte Kalender sind die Feiertage eines Volkes. Hier steht für den evangelisch getauften Juden Rosenstock-Huessy insbesondere das jüdische Volk Pate: »Ostern, Passah feiert den Auszug aus Ägypten. Purim, die Errettung aus Hamanns schrecklicher Hand, als Israel in fremdem Lande lebte. Die beiden äußersten Ecken der israelitischen Geschichte und die beiden entferntesten Geschichtsmomente, welche das ALTE TESTAMENT erzählt, haben hier den Rhythmus der Erfahrungsfeste des Volkes GOTTES bestimmt.« 109

Diese vier Kalendertypen aus der Antike beinhalten alle unsere heutigen Kalendervarianten. Reich, Stamm, Griechentum und Volk projizieren die Zeit auf vier grundlegende Weisen als Kalender in ihre Räume und verabsolutieren diesen. Gleichzeitig sind sich die jeweiligen Stammesangehörigen, Reichsbewohner oder Volksgenossen dessen unter Umständen gar nicht bewusst: Sie leben im Innenraum dieser Projektion, abgeschirmt vom eigentlich unerbittlichen Zahn der Zeit in einer selbstgeschaffenen Zeitblase. Historisch trugen diese Zeit-Räume (Reich, Stamm, Griechentum und Volk) die Menschen – von der Todesgefahr der eigentlichen Zeit schützend abgekoppelt – sozusagen als Zeitenfloß durch die Jahrtausende. Reich, Stamm, Grie106 107 108 109

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 284. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 302. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 284. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 285.

175 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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chentum, Volk sind also die uns möglichen Zeitenflöße. Alle unsere gebräuchlichen Kalender sind Kombinationen aus ihnen. Es lohnt sich, sie genauer unter die Lupe zu nehmen, wobei wir feststellen werden, dass das Griechentum ein Spezialfall ist.

5.2.1. Der Stammeskalender oder Wenn (nur) die Vergangenheit Orientierung bieten soll Stämme sind durch ihren Ahnenkult charakterisiert: Ein Toter wird begraben und dadurch wird ein historisches Datum geschaffen. »[…] ein Grab macht den Tod dem Leben dienstbar.« 110 Der Tod des Älteren tritt in das Leben des Jüngeren ein: »Sukzession, Nachfolge, ist im Begraben entdeckt worden.« 111 Der Name des Ahnen behält hierbei seine Gewalt über die Nachkommen: der Stammeskalender entsteht! Ein Stamm hat weder etwas mit einer ethnischen Kategorie zu tun, noch entsteht er aus einem Zusammenschluss mehrerer Familien: »Ein Stamm stammt […] aus der Aufsicht über das Nach-wieVor durch die Augen der Helden.« 112 Dieses ›Nach-wie-Vor‹ des Ahnengeistes des Stamms macht Familienbildung erst möglich: »Ein Stamm ist eine Einrichtung, aus der unausgesetzt Ehen hervorgehen.« 113 Die Autorität der Ahnen lebt im Stamm weiter. Dafür muss der Tote mit seinem Namen im Vokativ anrufbar bleiben. Degeneriert sein Name zum Begriff, ist seine Autorität für die Nachkommen dahin. Wessen Auge aber auf den Nachkommen ruht, dessen Kraft lebt nach wie vor weiter. »Dieses Nach-wie-Vor des Heldengeistes ist das Zeitenfloß des Stammes.« 114 Die Ahnengeister ziehen die Lebenden zur Verantwortung, nicht die Zeit. Die Stammesmitglieder werden so von der eigentlichen Zeit in einer sozialen Zeitblase abgekapselt. Um die Autorität der Ahnen aber durch die Zeit zu tragen, muss der Stamm feiern: »An diesen Stützen der Feiern orientierte sich der Alltag. Am Feiertag wird der Stamm erzeugt, und zwar gerade im

110 111 112 113 114

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 165. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 166. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 166. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 172. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 166.

176 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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Vivat, dem Toast, ohne den das Mahl ja nicht Tote und Lebende einte, um Familien zu stiften.« 115 Obwohl die Stammesmitglieder ein sehr geringes Geschichtsgedächtnis haben, das nicht mehr als sieben Generationen umfasst, halten die Stammesfeiern den Stamm dauerhaft, manchmal über Jahrtausende, zusammen: 116 »Obgleich er seinen lebenden Gliedern nur 150 oder 200 Jahre und ein paar tausend Quadratmeilen bewußt einprägt und erschließt, existiert er 6000 Jahre und länger; er vermag Asien und die 12000 Kilometer des Stillen Ozeans [bis nach Feuerland, H. D.] zu überqueren.« 117 Stämme sind also gewaltige Zeitenflöße, deren Raum- und Zeitgedächtnis hinter ihrer wirksamen Erfahrung zurückbleiben. »Es genügte, daß ihr Zeitmaß über jedes Einzelleben hinaus- und hinüberreichte.« 118 Das Entscheidende an der Geschichte, wie unten in Kapitel 5.4.2.1 noch genauer dargelegt wird, ist nicht, dass wir uns der genauen Geschichte bewusst sind, aus ihr lernen (obwohl das natürlich nicht schaden kann). Aber Geschichtswesen ist der Mensch nur, weil er vor seine Geburt zurückdenken und hinter seinen Tod vorstellen kann. Diese transgenerationale Struktur seines Bewusstseins, der Ahn-Enkel-Bund, macht den Menschen zum Geschichtswesen. Der Stamm ist ewig der Herkunft zugewandt: Sein Gesicht der Vergangenheit zugewandt, wandert der Stamm rückwärts in die Zukunft. Die Zukunft muss also den anklagenden Ahnen durch Opfer abgerungen werden: »Grab und Altar bilden die Zeitachse; Tanzplatz und Kriegspfad entfalten die innere und äußere Welt.« 119 Im Kriegspfad beweist sich der Stamm, dass er sich in einer andrängenden Welt zu behaupten vermag. 120 Der Ahn-Enkel-Bund ist dem Stamm durch die Totempfähle, Banner und Totenmähler Zeitbestimmung, nicht Ortsbestimmung. Man könnte den homo sapiens des Stammes diesbezüglich als homo migrans kennzeichnen: Der Stamm bewährt sich im Wandern: »Der weitestgewanderte Stamm ist der wahrste Stamm. Und kein Stamm, der nicht weit gewandert wäre. Dies zeigt, daß wir die Bewegung in das All dem Stamm ins Herz geschrieben finden. Er bewährt 115 116 117 118 119 120

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 172. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 175. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 14. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 14. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 114. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 55.

177 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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sich im Wandern.« 121 Diese Wanderer wollen vom Raum gerade nicht Besitz ergreifen. 122 Heutzutage sind (echte) Forscher solche Wanderer: »Johann Faust ist der in die Studierstube verlegte Wanderer. Und ohne Forschung verfällt das gelehrte Wissen dem faulen Zauber der Schulbücher, ohne Wandern die ungelehrte Erfahrung dem Aberglauben.« 123 Der Stamm muss wandern, denn »Der seßhafte Stamm verstieß gegen seine Zukunft.« 124 Da der Stamm nur seinem Herkommen zugewandt ist, ist er von der restlichen Welt abgeschnitten und muss räumlich flexibel sich Räume schaffen, in denen er ungestört seinen Ahnen huldigen kann. Deshalb muss er wandern. Der Stamm beweist uns, dass niemand etwas aus der Geschichte lernt. Der Stamm ist sich seiner Jahrtausende umfassenden Geschichte ja nicht einmal bewusst! Trotzdem haben Stämme aber Geschichte, »dank der Geschichte werden wir erst zu Menschen, werden wir erst der, dessen Wort gilt, dessen Gedanken Sinn haben, dessen Taten zählen.« 125 Geschichte ist nicht das, was wir aus ihr lernen, sondern Geschichte ist die Tatsache, dass wir mit unseren Ahnen und unseren Enkeln verbunden sind. Der Historiker, der aus der Geschichte lernt, ist kein geschichtlicheres Wesen als jeder andere Mensch. Denn auch der Historiker ist geschichtlich nur dadurch, dass er mit seinen Ahnen und Enkeln verbunden ist.

5.2.2. Der Reichskalender oder Wenn (nur) die ewige Wiederkehr Orientierung bieten soll Im Reich wird die Arbeitsteilung, die den umherziehenden Stämmen verboten war, hervorgebracht. »Das Reich schafft sich nämlich ein ungeheures Nach-wie-Vor, ein Zeitenfloß von Jahrtausenden, gegen das sich die fünf oder sechs Generationen des Stammesdenkens allerdings verkriechen müssen. Das Reich ersetzt die Hütten des Stammes durch die Häuser am Himmel, die Gräber durch Tempel, die Masken durch Gold und Edelsteine, die Tätowierung der lebenden Leiber durch die Inschriften der unwandelbaren Tempelwände.« 126 121 122 123 124 125 126

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 73. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 72. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 83. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 73. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 176. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 185.

178 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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Egal ob chinesisch, mexikanisch, babylonisch oder römisch: Alle Reiche gleichen einander in den Fragen des Ackerbaus und der Viehzucht, der Berufe, der Tempel und der Klassen. Denn alle antiken Reiche standen vor der gleichen Frage: Wie aus der Stammesverfassung herauskommen? »Alle Reiche sind Variationen der gleichen Antwort.« 127 Im Gegensatz zum Stamm haben die Reiche eine Eigentumsordnung. »Dem Reich entstammt der Grundbesitz.« 128 Reiche bringen den Himmel auf die Erde. Sie sind auf Astropolitik aufgebaut: »Die Astrologie hat es möglich gemacht, den Teil der Welt, der die Stämme am meisten schreckt, zum Nabel der Welt, zum Anziehungspunkt der Reiche, zu wandeln: die Sumpfniederungen der Flußtäler.« 129 Im Reich herrschen nicht die Toten, die Ahnen sind nicht allmächtig wie im Stamm. Die Toten werden vielmehr vor ein Gericht gestellt. Kein Erbe baut dem Kaiser sein Grab, der Pharao baut sich seine Pyramide selbst. Der Altar der Stämme weicht dem Tempel, der den kosmischen Mächten des Jahreslaufs am Himmel dient. »Die Ägypter stammen nicht ab. Die Ägypter wandeln mit den Gestirnen. Sie richten sich nach dem, was nie stirbt, was sich aber unausgesetzt bewegt, nach dem Firmament.« 130 Raum und Zeit sind völlig verschieden in Stamm und Reich: Der Stamm will sich an einem (oder wenigen) Feierplätzen im Wald versammeln, das Reich will Himmel auf Erden sein und teilt daher seine Gebiete wie den Himmel in zahllose Tempelbezirke auf. Das Reich will nicht die intime Augenbeziehung zu seinem Ahn (Stamm), sondern majestätisch sich in die langsame Wandelzeit der Gestirne hinüberführen. 131 Der Wandel der Gestirne wird im Reich also zur Verfassungsurkunde gemacht. »[…] dann, und nur dann sehen alle Reichsbewohner dieselbe Welt.« 132 Wie kann aber ein Reichsgründer aus dem bloßen Stamm austreten und zu einem gottgleichen Pharao werden? Die Machtergreifung des Pharaos geschah dadurch, dass er eine Bewegung machte, die 127 128 129 130 131 132

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 186. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 186. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 186. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 189. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 189. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 190.

179 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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die Gestirne selbst nicht machen können: Er fuhr von Süden nach Norden den Nil hinunter und verband die Gestirne, die Himmel, miteinander: »Drei Wochen braucht die Königsbarke, um auf der Hochflut der Schneeschmelze von Elefantine und dem ersten Katarakt bis zum Delta vorzustoßen. Diese Tat vollbrachte Pharao zuerst wohl alljährlich, dann alle zwei Jahre; ein ungeheurer Falke wurde auf die Königsbarke eingeschnitzt, und als Falke, als Horus machte der Herrscher seinen ›Fortschritt‹, seinen progress, wie das noch bei Elisabeth von England hieß, durch das unendliche Tal. In diesem progressus in infinitum also ergriff er Besitz von der noch nie dagewesenen Einheit eines Gebietes, das kein menschliches Auge je zusammengeschaut hatte, und das sich im Anwälzen der Wasserfluten alljährlich, am 20. Juli ungefähr, dramatisch über die trägen Sumpfniederungen mit ungeheurer Macht bildete.« 133

Die neue Ordnung des Reichs hat sich nicht nach und nach entwickelt. Sie musste auf einmal ins Leben gerufen werden: Sie konnte nur auf Anhieb gelingen: »Aber als Anspruch stand es vor den Bewohnern des Reichs vom ersten Tag an, an dem sie statt als Nachkommen als Bewohner, als Ägypter also, angerufen wurden.« 134 Die Artikulation dieses neuen Anspruchs hat dann aber ihre Zeit benötigt. 135 Der Pharao vereinigt also die Himmel: den Nordhimmel, »wo der große Bruder Seth herrscht, mit den Resten des Himmels.« 136 Die Bewegung von Süden nach Norden kann kein Stern vollbringen. Deshalb wird der Pharao selbst zum Stern. 137 Das Reich gründet sich also auf der Intention, die Gesetze des Himmels und der Erde zu synchronisieren und zu bewähren: 138 »Die Sehnsucht aber aller Reiche ist die bestimmte Orientierung im Raum. Die Himmelsrichtungen wurden Himmelsrechte und Himmelsgerechtigkeit, und daß man die Bauwerke orientierte, war der Ausfluß des Glaubens an das Weltgesetz. Die Genauigkeit der Orientierung aller Reichsbauten ist

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 190 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 188. 135 Das Motiv der Intention, die auf einmal und als Ganze da ist und erst nach und nach ausartikuliert werden muss, findet sich schon bei Wilhelm von Humboldt, insbesondere beim Typus der Sprache, vgl. oben Kap. 4. 136 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 191 137 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 191. 138 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 205. 133 134

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also soviel wie Gesetzesbefolgung; jede neue Sternbeobachtung aber soviel wie Gesetzesverbesserung.« 139

Die Orientierung der Himmelsrichtungen, die nicht einfach ein totes Geviert der Welt spiegeln, sondern von dem Pharao, dem lebenden Gott durchfahren werden wollen, war also gar keine astronomische, sondern eine astropolitische Tat. 140 Die Astropolitik dient einer ewigen zyklischen Wiederkehr: »Im Himmel gibt es Ereignisse, aber keine Geschichte, alles wiederholt sich ewig.« 141 Die Ägypter haben nicht versucht, die Dinge von der Erde in den Himmel zu projizieren. Das Ziel war vielmehr umgekehrt: »Man versuchte die Sternenschrift zu lesen und zu deuten, damit man wisse, was auf Erden zu tun sei. Die Sterne haben aus Kriegern Zivilisten gemacht, weil sie ansagten, was zu tun sei. Die Arbeitsteilung stammt von den Sternen, weil sie uns sagen, wann wir was tun sollen.« 142 Der Stamm verkörpert gewissermaßen eine erste Form der Freiheit: das Nicht-vor-dem-Tod-Davonlaufen. Das Naturgesetz des Sterbens wurde vom Stamm kurzerhand durch den Ahnenkult abgeschafft. Die Ägypter haben ein weiteres Naturgesetz abgeschafft und den Kosmos um ein weiteres Gesetz ergänzt: Sie wurden der Nilschwemme Herr: »Die große Flut ist ja an sich ein Entsetzen im wörtlichen Sinne: Alle müssen vor ihr fliehen. La grande peur ist die erste Antwort auf eine Wasserflut von solchen Ausmaßen. Horus verkehrt diesen Wasserfluch in Segen. Die Überschwemmung wird zum Segen dank des Pharaos organisatorischer Tat, die Anwohner des Nils über diese Monate der Flut zusammenzufassen.« 143 Wir müssen uns also davor hüten, die Ägypter als statisch anzusehen: Bewegung war ja ihr Geheimnis! »Sie umgingen das aus Tod und Leben gemischte Dasein durch die gegen den Tod errichteten Bahnen und Prozessionen ihrer Festungsbauten. Ihre Tempel waren Festungen, Firmamente des kreisenden Verlaufs. Die Ägypter rennen hinter dem Weltenlauf her […]« 144 139 140 141 142 143 144

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 207. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 192. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 193. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 214. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 198. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 216.

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5.2.3. Der Kalender des Volkes oder Wenn (nur) Künftiges Orientierung bieten soll »Wenn Abraham seinen erstgeborenen Sohn geopfert hätte, dann wäre nur ein Stamm mehr in Erscheinung getreten, der Stamm Abrahams, niemals aber das Volk GOTTES. Wenn Moses seinem Bruder das Goldene Kalb nachgesehen hätte, so wäre es zu einer schlechten Nachahmung ägyptischer Reichskunst gekommen.« 145

Die Geschichte Abrahams und die des Goldenen Kalbs markieren eine andere Herangehensweise als die Geisterverehrung der Stämme und die Steinvergötzung der Reiche. In beiden Geschichten wird ein anderer Schritt getan: »Die neue Liebe gilt der Zukunft. Kinder und Verheißungen deuten auf die Zukunft. Sie treten in Israel an die Stelle der Toten und der Tiere. An die Stelle der Sterndeuter tritt der Prophet und an die Stelle Pharaos der Messias, der kommende Herrscher, der vom Ende her die Gegenwart ausrichten wird.« 146 Der Messias ist mit der Zukunft verknüpft: Er ist kommend. Das absolut Einzigartige des Zeitenfloßes »Volk« ist der Sabbat: Er liegt nicht in den Sternen, sondern beim Gott Israels. »Am Sabbat tritt der Mensch aus der Welt aus, hinüber zum Schöpfer der Welt. […] Wir also wechseln unser Domizil, und wir verändern unseren Stand, von Welt zu GOTT, von Geschöpf zu Schöpfern.« 147 Im Gesetz der Stämme musste die Zukunft immer entschuldigt werden. Im Gesetz der Reiche muss die Erde sich gegenüber dem Himmel reinigen. Das Andere, das die Bibel einbringt, ist die Ruhe am Sabbat: »Es gibt Feiertage im Stamm und Feste in Ägypten. Aber es kann in beiden nicht die Ruhe geben, die der GOTT Israels fordert. Denn diese Rolle der Ruhe widerspricht allem, was die Sterne oder die Geister uns mitteilen. Die Geister ruhen nie. Nur deshalb können wir ja glauben, daß die Helden nicht gestorben sind. Die Sterne halten nie inne auf ihrer Bahn. Nur deshalb lehren sie uns ja, wie wir uns bewegen sollen.« 148 Der Gott Israels ist weder ein Geist der Toten noch einer der Götter des Reiches.

145 146 147 148

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 217. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 217 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 219. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 220.

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Aus den drei Namen Gottes, Elohim (»alle himmlischen Mächte«), Jahwe (»Ich bin jetzt«) und Schaddaij 149 (unsichere Bedeutung, nach Benno Jakob aber: »Der GOTT hier wie da« 150) wird der Unterschied zu den Stammes- und Reichsgöttern deutlich: »Alle im Raum erfolgenden Erscheinungsweisen wurden in ›Schaddaij‹ summiert. Alle in der Zeit geschehenden in ›Elohim‹. […] Schaddaij kehrte zur Natur der Raumwelt, dem Universum, zurück. Elohim aber erhebt die Geburtstage der Stämme im Tod der Helden in das Licht, in dem sie alle beheimatet bleiben müssen, um der Zukunft Jahwes willen.« 151 Jahwe (»Ich bin jetzt«) ist damit sozusagen der Zeitname aller Zeitnamen: »Denn Jahwe ist noch im Kommen, noch im Handeln, noch im Gebieten. […] Er besagt, daß alle Namen nur zu ihrer Zeit gelten.« 152 Jahwe wird in der jüdischen Vorstellung also noch erwartet: »Der Stamm sieht im Enkel noch die Züge des Ahnherrn, und deshalb darf sich jeder Enkel der Liebe seiner Stammesgenossen erfreuen, weil er als Enkel anerkannt wird. Im Reich sieht noch die kleinste Scholle Erde aus wie ein Teil der Milchstraße am Himmel, und deshalb wird des Ärmsten Gartenerde ihm zugeeignet als sein Sternenlos. Die Tochter Zion, die bräutliche Seele Israels, die Geliebte Jahwes, wird zur verlorenen Hure, zum verworfenen Weibsbild, wenn sie die Zukunft GOTTES nicht länger erwartet.« 153

Aus der Sicht Israels vergeuden die Sterne und Geister alle ihre und alle menschliche Kraft in der Wiederholung, »so bleibt nicht genug Kraft zur Weiterschöpfung zur Verfügung; tagtäglich muß die Sonne aufgehen und täglich in Ägypten auf ihren Himmelsweg gebracht werden; täglich muß der Ahne versöhnt und jede Abweichung gesühnt werden.« 154 In der Bibel kommt jede Geschichte aber nur einmal vor. »Noah erblickt den Regenbogen. Der ist unberechenbar. Deshalb wird der Regenbogen anstelle der Fixsterne das Bundes-Zeichen.« 155 Die Lutherbibel macht aus »Schaddaj« den »allmächtigen Gott«. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 222. Mit dieser Übersetzung lehnt sich Rosenstock-Huessy nach eigenem Bekunden frei an die Interpretation Benno Jakobs (»der überall im Raum Gegenwärtige«) an. 151 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 222. 152 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 222 f. 153 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 223. 154 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 223. 155 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 223. 149 150

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Durch den Sabbat wird die kosmische Ordnung der Ägypter einerseits unschädlich gemacht, andererseits geerbt: Die Arbeit an der Erde wird nach ägyptischem Vorbild für die Woche geboten. 156 Stamm, Reich und Volk sind also politische Zeitnamen: Sie »sind die Aspekte der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft eines Gruppenbewußtseins.« 157 Sowohl die Götter der Reiche als auch die Geister der Stämme und der Gott des Volkes werden angerufen, und in jeder Tat soll sich dieser Anruf bewähren. Aber dem Gott des Volkes »dient man nicht, indem man sich auf seine Stammesriten oder seine Landesgesetze beruft. Ihm dient man nur, wenn man seiner harrt und daher keine einzige der eigenen Wandlungen aus dem Geblüt oder aus den Sternen ableitet.« 158 Das einzige Ich im Stamm ist der Geist des Toten. Im Reich wird das Du vergöttlicht. »Im Volk GOTTES aber sprechen weder bloß akklamierende Chöre noch Pharaos Knechte. Hier kommt es zum Gespräch! […] Wo das steht, da wird wohl auch das Geheimnis der Sprache Israels, sein Wir, aufklingen.« 159 Das Wir des Volkes Gottes kommt aus der Erfahrung, dass Gott es aus Ägypten geführt hat: eine »weitere Form der sozialen Grammatik ist hier radikal verwirklicht worden.« 160

5.2.4. Das Griechentum: Muße zur Freizeit »Völker, Stämme, Reiche sind Zeit-Hauptwörter.« 161 Vergangenheit, Gegenwart 162 und Zukunft sind also bereits vergeben. Wie stehen die Griechen zu Zeit und Raum? Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 224. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 225. 158 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 226. 159 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 228. 160 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 227. 161 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 228. 162 Gemeint ist hier nicht die Gegenwart in unserem Sinne als Gegenwart der Offenbarung, sondern »Gegenwart« als in einem Kalender berechenbar gemachte zyklischen Wiederkehr. Die Gegenwart des Imperativs ist kalendarisch nicht organisierbar. Diese Auffassung von »Gegenwart« können wir unter Missbrauch eines HeideggerTerminus: »vulgäre« Gegenwartsauffassung nennen. 156 157

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Die Griechen stellen ohne Zweifel die vierte Großmacht der Zeitinterpretation dar: »Bis auf den heutigen Tag sind Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Spiele griechisch … Die Olympischen Spiele, Plato und Aristoteles, Mathematik und Physik und Astronomie, Tragödie und Komödie sind unentbehrliche Elemente der Erziehung geworden. Denn alle Erziehung schafft Zeit zum Ausweichen, sie erlaubt uns, zu spielen. Spielen heißt ausweichen.« 163

Die Griechen appellieren an die Muße, sie haben Zeit! Sie projizierten ein göttliches Sein in den Himmel: »Dies ist die Welt des Schönen, Wahren, Guten, die Welt der Ideale, der ewigen Neutralität.« 164 Diese göttliche Welt altert nicht, stirbt nie, ist nicht hässlich und kann nicht aus dem Rahmen fallen. »Griechentum« ist also auch ein Zeitwort, aber kein Zeit-Hauptwort! Den Griechen verdanken wir unsere Muße: »Der jüdische Sabbat gibt Ruhe. Aber die Muße erlaubt uns, das Theater zu besuchen, Bücher zu lesen, Liebschaften zu kultivieren, zu dichten, zu malen und ›Dein nicht zu achten, O Zeus‹. Denn der Mann der Muße hat keine Pflichten gegen GOTT oder Menschen zu erfüllen.« 165 Die Muße stiftet einen Freiraum der besonderen Art: Es ist der Raum des Vergleichenkönnens. Der Höhepunkt der Ilias, der nach dem gemeinsamen Mahl von Achilleus und Priamos erreicht wird, schildert diesen Vergleichsraum besonders deutlich: »Doch als sie das Verlangen nach Trank und Speise vertrieben hatten, Ja, da staunte der Dardanide Priamos über Achilleus, Wie groß und wie schön er war: den Göttern glich er von Angesicht. Aber über den Dardaniden Priamos staunte Achilleus, Als er sah sein edles Gesicht und seine Reden hörte. Aber als sie sich ergötzt hatten, aufeinander blickend, Da sagte als erster zu ihm der greise Priamos […].« 166

»Diese zwei aufs Äußerste Getriebenen vermögen einander anzuschauen: ›Hineinzuschauen‹ sagte Homer unter der Übermacht dieser ersten und erstmaligen Entdeckung.« 167 Dieses Wort »Hineinschauen« (eishoran) ist der Quellpunkt der griechischen Ideenlehre: 163 164 165 166 167

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 229. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 230. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 231. Homer: Ilias, 24 629–634. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 246.

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»Der griechische Idealismus ist eben nicht die abstrakte ›Ansicht‹ irgendeiner Wahrheit. Es ist das Hineinschauen in den Feind im Licht der Bewunderung […].« 168 Die Schicksale der beiden Protagonisten sind, wie sie sind: Priamos ist elend, Peleus darbt der Nachkommen, Achill muß früh sterben. »Aber sie können sich so darüber unterhalten, daß die Götter in diesem Zwischen-Raum und in dieser Zwischen-Zeit nichts zu sagen haben.« 169 Die Muße und die Ruhe, die Stamm, Reich und Volk fehlen, versetzen die homerischen Protagonisten in einen Freiraum: Sie können sich vergleichen. Der Akt des Vergleichens ist das zentrale Kennzeichen der griechisch-homerischen Geistesart: Achill kann reden, obwohl er sich den Göttern gegenüberstellt. Stamm, Reich und Volk erlauben dem Menschen nur, in panischer Angst aus der Gemeinschaft auszutreten. 170 Der homerische Freiraum ermöglicht den Vergleich: »Die Verglichenen individualisieren sich gegenseitig. Weil Peleus und Priamos verglichen werden, und indem sie verglichen werden, erwerben sie eine neue Eigenschaft, die den vor-homerischen Menschen abging: Sie erwerben die Eigenschaft des Humanen, des Menschlichen.« 171 Auch Platos Humanismus kommt ursprünglich von Homer, obwohl Plato Homer mit dem Vorwurf, er verhöhne die Götter, aus dem Plan seiner Akademie verbannte. »Aber das Humanum des Plato hat Homer geschaffen, das wechselseitige staunende Durchblicken und Durchschauen zweier Menschen, die entgegengesetzten Gemeinschaften angehören.« 172 Homer hat ein für allemal das griechische Problem entdeckt. In Griechenland setzt sich das Meer an die Stelle des ägyptischen Niltales: »So lebte jeder Grieche in zwei konzentrischen Kreisen, und der innere Kreis umfaßte nicht etwa ihn als einzelnen, sondern sein Vaterland; der äußere Kreis aber begann tief innerhalb der menschlichen Welt, bei der Kolonie zum Beispiel.« 173 Die Pluralität der griechischen

168 169 170 171 172 173

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 246. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 242. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 242. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 242 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 246. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 248.

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Ordnungen gibt den Anstoß zu einem außerpolitischen Pluralismus des Gedankenreichs. 174 Seit Homer untersteht der menschliche Geist nicht mehr diesem einen Gesetz, sondern an einem Ort zu einer Zeit diesem, und an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit jenem. Die Gesetze jeder einzelnen polis haben ihre Einzigartigkeit eingebüßt und damit ihren heiligen Charakter an die Künste abgegeben. »Der Gewinn für die ganze Welt war die Emanzipation der Poesie.« 175 Das Gedankenreich ist zeitunabhängig und ortsungebunden. 176 Deshalb kann die Welt der Gedanken auch das Vorher und Nachher umdrehen. 177 Was bringt die Poesie also Neues in die Welt? »Alle anderen Völker singen und dichten und erzählen. Aber nur die Griechen haben die Kluft zwischen heiliger und weltlicher Sprache grundsätzlich aufgehoben.« 178 Die Poesie bildet zwei Räume, einen Innen- und einen Außenraum: • »Die freie Wahl des Tons, in dem ich mich von einem Ereignis jeweils ergreifen lasse.« 179 Die Poesie bildet einen Kreis nach innen, der die Bewunderung herzhafter Vorgänge ermöglicht. • Die Poesie erweitert den Kreis der Beteiligten. Die unmittelbaren Akteure werden um einen zweiten Kreis ergänzt: das Publikum. Die Ilias zum Beispiel ist durch eben diese beiden Kreise charakterisiert: »Hektor ist […] nicht für den ersten Ring, die gegen die Trojaner wütend kämpfenden Griechen, sondern überhaupt nur für die zweite Ringbildung, die späten Hörer, denkbar. Hektor ist eine poetische Schöpfung. Hektors griechischer Name beweist, daß Homer ihn erfand. Man hat sogar in Hektor die Seele der ILIAS gefunden. Aber die Alten haben es besser verstanden, wenn sie sagten: ›Homer liebte Achilleus.‹ Denn weil er Achilleus liebte, mußte Homer die zweite für den unendlichen Kreis aller seiner Hörer

174 175 176 177 178 179

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 269. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 254. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 248. Siehe unten Kap. 5.4.1. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 253. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 254.

187 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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bestimmte Erzeugung des Achilles am Hektor sich vollziehen lassen: Im Feind erkennt sich der Held.« 180

Die Poesie bildet also ihren eigenen Zeitraum, indem sie nach außen einen Kreis, das Publikum und auch nach innen einen Kreis – die Bewunderung – schafft. Ganz unpoetisch ließe sich ja der Inhalt der Ilias und der Odyssee folgendermaßen zusammenfassen: »›Achill zürnt‹ oder ›Odysseus kehrt heim‹« 181 Die Poesie spannt die Zeit: Poetisch spannend ist eben nicht, dass wir den Ausgang zum Beispiel einer Detektivgeschichte nicht wissen. Im Gegenteil: »In der großen musischen Poesie steht der Ausgang von vornherein fest […].« 182 Poetische Spannung besteht nicht in irgendeiner Unwissenheit: »Es ist buchstäblich Spannung, weil es nämlich in der Kunst der Verlangsamung, der Retardierung besteht. Die Zeitlupe ist das Element der Poesie.« 183 Die Hörer Homers wissen schon vorher, dass Odysseus heimkehrt und Hektor fällt. Die Ilias beginnt ja gegen Ende des Krieges und bricht sogar noch vor dem Tod des Achilles ab. »Sie will eben nicht den Tod des Achilleus schildern. Sie hat etwas Besseres zu tun. Sie will den Achilleus unsterblich machen.« 184 Das Gefühl der freien Zeit gibt uns die Poesie. »Und dieses Gefühl war den Menschen vor Homer unbekannt.« 185 Die Zeit-Ökonomie der Poesie sieht also folgendermaßen aus: 1) Sie nimmt die Namen aus dem Stamm (Archaier, Troer, Priamos etc.), 2) sie erbt die Welterkenntnis aus den Reichen (Städte, Eisen, Hochstühle, Schiffe, Wagen etc.), 3) sie fügt diesen beiden Zeitelementen noch ihre Vergleichssprache hinzu, »in der die vielen Stämme und Städte ihren sakralen Zauber verlieren […].« 186 Bei aller Wissenschaft, Kunst, Philosophie: Welche Relevanz hat das Griechentum? In welcher Relation steht es zur wirklichen Welt, zur 180 181 182 183 184 185 186

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 271. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 273. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 273. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 274. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 274. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 275. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 243.

188 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

vier Kalendertypen der Menschheit

wirklichen Zeit? Die Wirklichkeit ist für den Menschen ja »auf Gedeih und Verderb gegründet. Die Schulen aber und die Kinos sind auf Gedeih allein gestellt. Sie liegen daher verlassen da, wenn es auf Leben und Tod geht.« 187 Die griechischen Kulturprodukte selbst erfüllen also den strengen Maßstab der Geschichte nicht, der da lautet: Erwähnenswert ist nur, was scheitern kann. Homer selbst allerdings ist ein großes Wagnis eingegangen, er hat diesen Freiraum des Griechentums ja geschaffen. Er war der Erste, er konnte noch scheitern. 188 Die Menschen in diesem Freiraum des Vergleichs aber sind Gefangene: Im Windschatten Homers frönen sie, abgespalten von der Welt, in ihrer eigenen Zeitblase der Zeitlosigkeit. Die allmähliche Anthropomorphisierung der Götter führte dazu, dass der Mensch (das Maß aller Dinge) auch zum Maß der Götter wurde: »Am Ende der griechischen Welt, in Alexandria, sah jeder Gott wie ein Menschentyp aus, und zwar wie immer derselbe.« 189 Gott wurde zum Begriff und das Göttliche angestrebt: »Damals war es so weit, daß Apollon mit der Sonne gleichgesetzt wurde: Kronos, der Ur-Gott, mit chronos, dem Begriff des Zeitablaufs.« 190 Götter sind aber eben keine Begriffe, sondern uns überwältigende Vorgänge: »Wir haben das Leben nur auf Kosten von Leben. Du oder ich: Das ist das Gesetz der geschaffenen Kreatur.« 191 Wenn die Götter zu Begriffen gerinnen, werden wir Menschen taub, denn wir können in unserer Icheinsamkeit niemanden anrufen (Vokativ) und nicht mehr in der Du-Offenheit benannt werden (Nominativ)! »In den griechischen Kunstwerken, in der Welt des griechischen Geistes, ist ein Rahmen errichtet, in dem sich eine zweite Natur hinter den Erscheinungen der geschichtlichen Mächte auftut.« 192

Es ist das vom Genius des Menschen Geschaffene: das poiema. Dieses Gedichtete wird von allen Griechen (auch den heutigen Griechen: den Humanisten) vergöttlicht. Entsprechend marginal ausgebildet ist auch der Zeitsinn der Griechen: 187 188 189 190 191 192

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 239. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 239. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 262. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 263. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 259. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 263.

189 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

»Er ist der Zeitsinn der Genies und der Blitze. Noch bei Thukydides ist die Zeit ganz kurz, zwei, drei Generationen lang. Alles Ältere ist in Nebel gehüllt. Nicht vor 600 v. Chr. weiß ein großer Geist wie Plato zurückzudringen, wenn er um 375 schreibt. Die Griechen hatten kein besseres Gedächtnis als die Indianer: ein paar Generationen, nie mehr.« 193

Haben die Griechen also Fortschritt gebracht? Was ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Griechentum und den anderen drei Zeiträumen? Setzen wir mit Rosenstock-Huessy für Fortschritt folgendes Kriterium an: Der Beweis für jeden Fortschritt liegt in der größeren Freiheit, welche folgt, dann können wir bezüglich des Griechentums nicht von Fortschritt sprechen. Denn das poiema suggeriert ja, dass wir die Freiheit bereits haben und sie uns nicht mehr erkämpfen müssen: »In der rauhen Wirklichkeit heißt es: ›Durch Opfer zu Fortschritten in die Freiheit.‹ Die Poesie aber, die ja nachschafft und wiedererstehen läßt, muß mit der freien Zeit anheben. Erst muß sie ihrem Publikum die Freiheit spannen, bevor wir uns von Fortschritten im Epos und von Opfern in den Tragödien werden erzählen lassen.« 194 Die Poesie projiziert ihre Freiheit also in einen zeit- und ortsunabhängigen Raum: »Nicht der Fortschritt zur Freiheit, sondern die Freiheit fortzuschreiten, ist das Thema oder die Erfahrung unserer Muße-Stunden!« 195 Bringen wir das Griechentum in Relation zu unseren anderen drei Zeit-Hauptwörtern, wird die jeweilige Relevanz deutlich: • Der »Stamm« findet durch Ehe und Ahnen eine neue Freiheit (Freiheit vom Tode). • Die Freiheit wächst im »Reich«, in dem die Krieger abrüsten können und jeder seinen Beruf haben darf (Freiheit durch Nutzbarmachung der determinierenden Naturgesetze). • Im »Volk« Israel werden die Seelen schließlich von Gespensterfurcht und Zauberei befreit. • Dank des Griechentums können wir freier denken, aber nicht freier handeln. 196

193 194 195 196

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 252. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 275. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 275. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 269.

190 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

vier Kalendertypen der Menschheit

Die Antike endet also mit dem Kunstwerk. Sie führt ihr Publikum nicht mehr zurück in Stamm, Reich oder Volk: eine neue Situation tritt ein. Unten werden wir sehen, dass das griechische Zeitverständnis bedingt durch seine Abstraktheit kein Thema der Zeitigung ist, um die es am Ende gehen wird.

5.2.4. Kalender-Chaos im Jahre 0 Fassen wir die spezifischen Leistungen der vier Zeitwörter nach Rosenstock-Huessy noch einmal zusammen: 1. Stamm schafft Familien: Mitglieder tragen Namen. 2. Reich schafft Klassen: Bewohner üben Berufe aus. 3. Volk schafft Bestimmung: Seelen kommen zur Sprache (»Harre, meine Seele, des Herrn!«). 4. Muße schafft Poesie: Menschen haben Zeit. 197 Mit dem Jahre 0 sind die vier Antiken zu Ende. Zu Christi Geburt erschienen die vier Satzungen so ineinander gefügt, dass derselbe Mensch aller vier zu seinem Dasein bedurfte. Das hatte zur Folge, dass die einzelnen Kalender sich nicht mehr absolut setzen können. Zuvor galt jeweils: »Die Wahrheit, die Maat des Horus, 198 die These der Griechen, die Offenbarung, die Klage und Rache gelten unbedingt oder gar nicht.« 199 Wurde die eigene Kalender-Wahrheit in jeder Satzung auf ihre jeweilige Art und Weise totalisiert, so ist das im Jahre 0 nicht mehr möglich, da alle vier parallel gelten und sich offen widersprechen. Im Jahre 0 hoben die vier Zeiten einander auf und die Menschen wurden orientierungslos. Trotzdem lagen die vier Kalender bis zu den Weltkriegen gewissermaßen hintereinander aufgefädelt vor: »Bis 1911 gab es den Zwilling Ägyptens, die chinesischen Kaiser. Es gab und gibt Stämme der Steinzeit, es gibt Akademiker und es gibt Israel. Alle diese gibt es

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 232. Maat = altägyptische Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, Personifizierung der bestehenden Weltordnung, Gemahlin von Thal. 199 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 277. 197 198

191 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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so, als ob die christliche Zeitrechnung noch nicht eingetreten sei.« 200 Erst die Zeit seit den Weltkriegen macht aus den Menschen innerhalb der Zyklen Ägyptens, der Jahre Roms (hier sind die Römer Ägypter), der Genealogie der Stämme und des idealen Denkens der Akademiker (also der modernen Griechen) Zeitgenossen. Erst seit den Weltkriegen ist ein Zustand globaler Gleichzeitigkeit eingetreten, der seit dem Jahre 0 mit dem Vorliegen der vier Zeitwörter für einen Menschen angelegt ist. Was macht nun das Neue Testament mit diesen vier Kalendern? Jesus tritt ja in einer Umbruchszeit auf, sein Leben ist zwischen zwei gleich wichtige Ereignisse eingebettet: die Regierung des Herodes und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. »Wäre er bis 70 am Leben geblieben – theoretisch ja durchaus möglich –, so hätte er seinen Beruf verfehlt gehabt. Denn es kam darauf an, im Augenblick, wo jedermann den Tod der Antike mit Händen greifen konnte, bereits einen neuen Zeitkörper geschaffen zu haben.« 201 Jesus wurde im ersten Augenblick geboren, in dem die viergliedrige antike Zeit aufgehoben wurde. Und er wurde im letzten Augenblick gekreuzigt, in dem das alte Israel einen Messias kreuzigen konnte. Die Geschichte kann allerdings, wie oben bereits festgestellt wurde, nie von einer Generation gemacht werden, 202 deshalb gab Jesu Kreuzestod den Aposteln noch Zeit, vor der Zerstörung des Tempels eine zweite Generation lang im neuen Rhythmus zu leben. 203 Was macht Jesus im Neuen Testament also anders bezüglich der antiken Kalender, sodass er nicht wieder in eine der Antiken zurückfällt? Jesus schneidet die Wege der Antiken ab: »Die drei Versuchungen in der Wüste […] luden Jesus ein, es doch auch so gut zu haben wie andere Sterbliche und einen der längst begangenen Pfade zur Ausnutzung seiner Gaben zu gehen.« 204 Jesus aber findet in den Antiken nichts für sich. »Er ist keinen der alten Wege weitergegangen. Er hat sie abgeschnitten, indem er ihnen absagte.« 205 »Jesus ist die Frucht der gesamten Antiken.« 206 200 201 202 203 204 205 206

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 278. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 294. Vgl. hierzu auch Kap. 5.6.3. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 294. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 281. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 281. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 282.

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vier Kalendertypen der Menschheit

Auf diese Weise setzt sich Jesus gewissermaßen an die Quelle der Zeiten, »in den Herzpunkt, aus dem heraus es immer wieder zur Bildung von Stämmen, von Reichen, von Humanisten und von dem wahren Israel kommen darf.« 207 So bringt er die vier getrennten Zeitsprachen (Stamm, Reich, Volk, Griechen) zurück aus ihrer Trennung zur Vollzahl der Zeiten. Noch heute, nach den Weltkriegen also, sind Raumgenossen selten Zeitgenossen. Die meisten Menschen sagen nicht, was sie meinen, sondern das, was unter den gegebenen Umständen von ihnen erwartet wird. Ihr jeweiliger Kalender diktiert ihnen, was sie sagen werden. »Es ist nämlich zu schwer, das zu sagen, was man auf dem Herzen hat.« 208 Das Anliegen des Menschengeschlechts, Geschichte zu haben, wird auch in Stamm, Reich, Volk und Griechentum ausgesprochen: »zusammenzuhängen und zu dauern.« 209 Im Neuen Testament aber wird die Ungleichzeitigkeit der menschlichen Herzen beseitigt. Jesus hatte die Berufung, Christus zu werden: »Jesus heißt: Der Raum schafft, Christus heißt: Ich schaffe Zeit.« 210 Im Neuen Testament beginnt die eschatologische Zeit, die ihrerseits die lineare Zeit, die zyklische Zeit, die abstrakte griechische Zeit und die Geschichtszeit beinhaltet, ja mit Jesu Geburt. Seit Jesu Geburt umringen uns die vier Kalender und wir können, da das christliche Jahr die antiken Kalender mit ihrer Wahrheitstotalisierung unschädlich macht, dieser vier Kalender gelassen gedenken: »Wir sind ihrer Herr geworden.« 211 Sie werden im christlichen Kalender ja mit einbezogen. Das christliche Jahr, bestehend aus Advent, Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und den Sonntagen nach Trinitatis, verdichtet das Kommen, Gehen und Auferstehen. 212 Jeder Mensch ist also Erbe aller Zeiten und ist frei von jedem aber auch für jeden einzelnen der vier Kalender. Doch diese Freiheit ist erst einmal eine bloß scheinbare Freiheit, denn sie wurde erkauft um den Preis der Orientierungslosigkeit. Die vier total gesetzten Kalender orientieren ja die Menschen in ihren 207 208 209 210 211 212

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 282. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 282. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 282. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 283. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 285. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 286.

193 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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Zeitblasen. Die Stammesangehörigen waren ihren Ahnen zugewandt, die Reichsbewohner der ewigen Wiederkehr, die Volksgenossen harrten des Kommens des Messias und die Griechen gaben ihre Mußestunden der Freizeit hin. Doch was ist der Maßstab unserer Orientierung, wenn wir jenseits dieser Kalender gewissermaßen zwischen allen Stühlen sitzen? Mit dieser Orientierungslosigkeit sehen wir uns auch heute, 2018 Jahre später, konfrontiert: »Auf den ersten Blick teilen wir unsere Mitmenschen ein in Verwandte, Nachbarn und Fremde, Kollegen und Nicht-Kollegen, Schicksalsgenossen und Nicht-Verbundene, Gebildete und Ungebildete. Mit den Verwandten teilen wir die Familienereignisse, mit den Schicksalsgenossen die Politik, mit den Kollegen die Arbeit, mit den Nachbarn das Wetter, mit den Gebildeten die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft. Mit keinem einzigen teilen wir unser ganzes Zeiten-Immer«. 213

Wir sind heutzutage einander nie gleichzeitig, wenn wir uns im Raum begegnen. »Jeder ist selbst immer weiter voran im eignen Erleiden und Sich-Ereignen, als ihn der andere sehen kann.« 214

5.3. Wie die Räume wieder für die Zeiten aufgebrochen werden: Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit Angesichts dieser Orientierungslosigkeit haben wir es nicht mit einem Problem der Philosophie, Theologie, Physik oder Wissenschaft o. ä. zu tun. Diese scheinen viel eher Teil des Fragenkomplexes zu sein. Das große Verdienst Rosenstock-Huessys ist es wahrscheinlich, gegen die kantische Vorstellung von Raum und Zeit als reine Anschauungsformen des Verstandes und gegen die Zeitabstraktion der klassischen Sprachphilosophie 215 bemerkt zu haben, dass wir hier vor einem soziologischen Problem stehen! Weltanschauler, Philosophen, Ismen-Anbeter und Wissenschaftler, sowohl religiös als auch weltlich, bedienen sich seit dem

213 214 215

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 286. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 292. Vgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 19.

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Jahre 0 aus dem vierfältigen Kalenderfundus und projizieren sich ihre selbst kombinierten Zeiträume. Diese sind also von menschlichen Gemeinschaften hervorgebracht worden, weshalb die Soziologie einen Weg finden muss, diese zu beschreiben. Es ist eigentlich erstaunlich, dass in der Soziologie der Stellenwert der Grammatik völlig verkannt wird. Reden wir vom Menschen, reden wir in gewisser Hinsicht von »Figuren der Grammatik.« 216 Nicht Logik und quantifizierende Methoden beschreiben den Menschen, denn der Forschungsgegenstand ›Mensch‹ ist niemals umfassend erkennbar. Die Soziologie ist »die Wissenschaft vom Menschen in der Mehrzahl, also von nicht auf einen Nenner gebrachten Menschen.« 217 Die Soziologie weiß also eigentlich, da sie Wissenschaft vom Menschen ist, »daß sie nicht vermag, große Teile ihres Beobachtungsmaterials kennenzulernen […].« 218 Setzt der Soziologe mit seinen Statistiken und Modellen nur auf quantifizierende Methoden, beschreibt er bloß einige Mechaniken gesellschaftlicher Entwicklung und muss sich eingestehen, dass er von seinem eigentlichen Forschungsgegenstand, dem Menschen, »noch immer weniger […] als der Laie, anstatt mehr« 219 weiß. Nimmt der Soziologe aber die Grammatik (und damit die Zeit) ernst, widersteht er der Versuchung, eine bloße »Lehre von Generalnennern, Wortmasken, Etiketten« 220 aufzustellen. Wie auch der Soziologe Ulrich Beck bemerkt, steht die Soziologie immer noch vor der enormen Herausforderung, für das gesellschaftliche Geschehen eine adäquate Methode zu finden. So stellen zum Beispiel hunderte soziologische Studien, in denen Bürger nach ihren Meinungen befragt wurden, einen Rückfall in nationalistische Orientierungen fest: »Und für das Denken der Befragten mag dies auch durchaus zutreffen – doch wie sieht es mit ihrem Handeln aus? Diese Studien konzentrieren sich auf weltanschauliche Orientierungen – und gehen gerade damit am Wesentlichen vorbei: Woran auch immer Menschen glauben, sie kommen nicht um das Paradox der Metamorphose herum, das die kosmopolitisierte Welt ist: Wenn sie ihre nationalistischen, religiösen und sonstigen Fundamentalismen verteidigen wollen, müssen sie handeln, nämlich planen

216 217 218 219 220

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 163. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 15. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 16. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 300. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 17.

195 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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und entscheiden – auf unvermeidlich kosmopolitische Weise. Und damit fördern sie, was sie zu bekämpfen glauben: die Metamorphose der Welt.« 221

Gesucht ist also eine soziologische Methode, die den Soziologen offen lässt für menschliche Eigenheiten. Er darf weder den Vorurteilen seiner Weltanschauung (Stichwort: Menschenbild, Weltbild) anhängen, noch vorschnell gesellschaftliche Vorgänge in mathematische Formeln pressen. Beides würde die Anmaßung implizieren, dass der Mensch entweder vollständig erkannt bzw. vollständig erkennbar ist und sich damit auf eine rein quantitative Größe reduzieren lässt. Lässt der Soziologe diese Anmaßung fallen, stehen ihm andererseits alle Türen offen: »Der Soziologie ist nämlich nur deshalb erlaubt, die Wahrheit zu sagen, weil sie zugibt, weder alle Menschen noch einen einzigen Menschen ganz zu kennen. Nur eine solche Wissenschaft ist unschädlich.« 222 Wiedebach bringt diese RosenstockHuessy’sche Relationierung des soziologischen Anspruchs auf den Punkt: Die Soziologie geht mit Geheimnissen um. »Ein Geheimnis ist kein Rätsel. Ein Rätsel verlangt nach Auflösung, ein Geheimnis nach Wahrung. Die Soziologie nach Rosenstock ist eine Wissenschaft, die das Geheimnis des Menschen wahrt, obwohl und indem sie die Rätsel in seinem Leben lösen hilft.« 223 Ähnlich und offenbar treffend betont auch Beck in seinem posthum erschienenen Werk: »Eine kosmopolitische Soziologie muss sich ganz auf eine unbekannte und unerkennbare Zukunft hin ausrichten, die in den temporalen Horizonten globaler Risiken gegenwärtig ist.« 224 Auch Beck hebt den Geschehnischarakter der Welt hervor und besscheinigt seinem Fach, der Soziologie, dass sie bisher mit inadäquaten Mitteln operiert. Diesem Mangel versucht er mit der Einführung des Terminus Verwandlung, der Metamorphose der Welt zu begegnen. Und tatsächlich erscheint dieser Ansatz erfolgversprechend: »Die Metamorphose ist keine Revolution, keine Reformation, nichts absichtlich Herbeigeführtes, nichts Zielorientiertes, weder Teil noch Folge einer ideologischen Auseinandersetzung (sei es zwischen Parteien oder Nationen). Sie entfaltet sich […] unterschwellig, im Schatten ungewollter, von 221 222 223 224

Beck: Die Metamorphose der Welt, 24. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 16. Wiedebach: Die Vier gegenüber der Drei, 223. Beck: Die Metamorphose der Welt, 74 f.

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(nationalem wie internationalem) Recht und wissenschaftlicher Wissensproduktion als ›natürlich‹ beziehungsweise ›unvermeidlich‹ konstruierter Nebenfolgen.« 225

Beck untersucht also den metamorphotischen Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt, indem er die ›Nebenfolgen‹, als die sich die zunächst risikoreichen unbekannten Unbekannten irgendwann einmal manifestieren, unter die Lupe nimmt. Allerdings kann Beck hier nur auf Daten aus der Vergangenheit zurückgreifen und muss – ähnlich wie Heidegger angesichts des Seinsgeschehens in der Geschichte – vor der von ihm tapfer formulierten Herausforderung resignieren. Der gegenwärtige metamorphotische Zustand der Welt wird nicht greifbar und heraus kommen nur entsprechende Gemeinplätze, wie zum Beispiel: »Die überraschende Tatsache ist, dass der Prozess der Integration keinem Masterplan folgte. Das Gegenteil ist der Fall: Das Ziel wurde bewusst offengehalten. Europäisierung funktioniert in einem besonderen Modus institutioneller Improvisation.« 226

So genial Becks Feststellungen auch sind, die Schwäche seines Ansatzes besteht darin, dass er ausdrücklich seinen Blick weg von den Menschen wendet: Deshalb kann er herzlich wenig darüber sagen, worin die ›Improvisation‹ genau besteht und welche Qualitäten diese Metamorphose hat. Darüberhinaus kann er auch nur von dem sprechen, was bereits geschah. Über das gegenwärtige Geschehen selbst kann er nur mutmaßen, wie wir soziologischen Laien auch. Beck benötigt zur Beschreibung der Metamorphose der Welt eigentlich einen metamorphotischen Maßstab. Gesucht ist also nach wie vor eine geeignete Methode im wörtlichen Sinne: methodos, ein »Nachgehen«, »Verfolgen« von etwas bzw. ein »Mitgehen« mit etwas. 227 Wie im Folgenden dargestellt wird, ist es Rosenstock-Huessy mit Hilfe der Grammatik gelungen, einen soziologischen Ansatz zu finden, der das akute Geschehen nicht nur mit einbezieht, sondern sogar zum Orientierungsmaßstab machen kann (Kaironomie). Auch scheint Beck den merkwürdigen Umstand seiner Zunft nicht ernst zu nehmen, dass »im Soziologen die Gesellschaft selbst ein stö225 226 227

Beck: Die Metamorphose der Welt, 162 f. Beck: Die Metamorphose der Welt, 200. Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 89.

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rendes Mitglied ihrer selbst vorfindet […].« 228 Der Soziologe ist nämlich selbst Teil der Gesellschaft und so darf er sich selbst auch nicht außen vor lassen. Was ist also die für die Soziologie geeignete Methode, wenn diese einerseits ihren Forschungsgegenstand nicht ganz kennen kann und andererseits der Soziologe selbst Teil von diesem ist? Rosenstock-Huessy schlägt hier die Methode des Anerkennens der Menschen vor: »Denn jedes Thema verlangt seine eigene Methode. Man kann die Äpfel in einem Korbe nicht dadurch zählen, daß man sie anspricht; man muß sie zählen. Die Menschen aber kann man nicht erkennen, indem man sie zählt; man muß sie anerkennen.« 229 Rein quantitative Verfahren führen soziologisch zu unbefriedigenden Ergebnissen. Legen wir das naturwissenschaftliche Erkenntnisideal mit vollem Ernst an den Menschen an, müssen wir eigentlich zugeben, dass wir über die Biochemie hinausgehend herzlich wenig über den Menschen aussagen können. Der Soziologe darf sich also nicht vorschnell festlegen. Er muss seinen Erkenntnismaßstab jenseits aller Ismen und Weltanschauungen finden. Sonst wird er sozialen Phänomenen nicht gerecht. Ismen und Weltanschauungen tun sich ja mitunter dadurch hervor, dass sie sich selbst als Teil des Sozialen vergessen. Sie meinen immer, sie stünden über ihren jeweiligen Gegnern. Den soziologischen Erkenntnismaßstab findet RosenstockHuessy schließlich im Kreuz der Wirklichkeit, welches insbesondere die Rolle des Imperativs ins Zentrum rückt. Vos führt es folgendermaßen ein: »Wir Menschen kommen nicht daran vorbei, in Räumen und Zeiten zu leben. […] Es bedeutet, daß man immer mit vier Wirklichkeiten zu tun hat: Jeder lebt in einem Raum – hat folglich ein Innen, zu dem er gehört und das er ordnen muß. Und jeder hat ein Außen, in dem der Andere wohnt, mit dem er zu rechnen hat. Jeder lebt außerdem in einer bestimmten Zeitepoche – folglich hat er eine Vergangenheit, ein Gestern, wodurch die Lebensweise geprägt ist, und er hat ein Morgen, eine Zukunft […].« 230

Das Kreuz aus räumlich innen und außen und zeitlich vergangen und künftig 231 bietet dem Soziologen die nötige zeit-räumliche Orientie228 229 230 231

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 19. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 20. Vos: Rosenstock-Huessy: Biographie, 71. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 56.

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Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit

rung, denn er fragt nach der Relevanz der beiden Räume (Innen, Außen) und Zeiten (vergangen, künftig) und damit nach den Relationen zwischen ihnen. Im Kreuz der Wirklichkeit ist der Soziologe weder aus der Gesellschaft ausgeschlossen, noch kann sich sein Forschungsgegenstand vorschnell zeit- und raumunabhängig verfestigen. Der Mensch projiziert sich ja seinen Raum nach seinem Kalender, gestaltet seine soziale Wirklichkeit (ein Stück weit) nach seiner Zeitinterpretation. Räumlich bewohnt er eine innere Welt (das ist die charakterliche Verbindung mit dem ideologischen Gehalt einer Weltanschauung) und eine äußere Welt (die Institution, die juristische Person der jeweiligen Weltanschauung). 232 Die beiden Raumdimensionen werden zumeist berücksichtigt. Aber der Raum ist ja, wie oben dargelegt wurde, abhängig vom Kalender. Und diese (verschiedenen) Kalender wollen auch berücksichtigt werden. Der Mensch orientiert sich nämlich zeitlich durch seine Vergangenheit und Zukunft. Um etwas über einen Menschen sagen zu können, muss man also immer mindestens viermal ansetzen. Das ist der soziologische Maßstab: »Ein vollständiger soziologischer Tatbestand muß seine Vollständigkeit darin zeigen, daß er mehrere Räume und mehrere Zeiten erfüllt, daß er in einem Innenraum und einer Außenwelt lebendig wirkt, in einer Vergangenheit wurzelt und in eine Zukunft hineinragt. Das Koordinatenkreuz der Wirklichkeit zerschneidet ein mehrräumliches-mehrzeitliches Geschehen. Wirklich ist nur, was in mehr als einem Raum und in mehr als einer Zeit bestimmt wird. Nur diese Wirklichkeit ist das Thema der Soziologie.« 233

In der Soziologie ist also alle Erkenntnis mehrstimmige Erkenntnis, oder gar keine Erkenntnis. Eine soziologische Erkenntnis steht immer in mindestens vier Widersprüchen, die nicht auflösbar sind. Mit soziologischer Erkenntnis ist nicht einfach eine Summierung der vier Blickwinkel gemeint. Ein soziales Phänomen muss immer aus einem dieser vier Blickwinkel beschrieben werden, und hierbei darf nicht vergessen werden, dass es noch mindestens drei

232 233

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 153. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 59.

199 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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weitere Perspektiven gibt, die zueinander zwar in Relation stehen, aber gegeneinander blind sind. 234 Nehmen wir zum Beispiel die Soziologie selbst. Wir sagten bereits, dass sie selbst Teil ihres Forschungsgegenstands ist. Wir müssen also auch die Soziologie als soziales Phänomen mit seiner sozialen Wirkmächtigkeit zu verstehen versuchen. »Gegeben sind uns der Raum als All; die Zeit als Augenblick. Also Zeit und Raum werden erfahren. Um sie aber zu erfahren, müssen wir den Raum unterteilen und die Zeit ausdehnen.« 235

Uns ist nämlich erst einmal nur Folgendes gegeben: Irgendwo (im Raum) geschieht (in der Zeit) etwas (Soziologie). In der Soziologie geschieht immer etwas für jemanden (nämlich uns): Der Soziologe unterteilt also den Raum in Innen und Außen.

Desweiteren ist das Geschehen zu einem Augenblick passiert: Im Augenblick steckt das Warum des Geschehens: Der Soziologe zieht den Augenblick in Vergangenheit und Zukunft auseinander.

Diese vier Elemente – Innen, Außen, Vergangenes und Künftiges – sind die Dimensionen, in denen sich uns ein soziales Geschehen darstellt. Dieses Koordinatenkreuz lässt sich niemals in eine abschließende Definition zusammenziehen. 236 Für die Soziologie ergeben sich also vier Betrachtungsweisen, die immer gleichzeitig bestehen. Alle sozialen Phänomene (in unserem Beispiel die Soziologie selbst) lassen sich durch folgende vier Blickwinkel (Kreuz der Wirklichkeit) beschreiben: 237 • Innen: Innerhalb der Soziologie entfalten sich Richtungen, Gegensätze, Unterschiede. Es bilden sich verschiedene soziologische Schulen. Die Soziologie muss sich reflektierend nach innen selbst bewusst werden 238 und unterliegt hierbei dem Gesetz der Reflexion: »Alle Reflexion bricht uns in Parteien auf.« 239 Diese

234 Inwiefern das unter Einbezug der vier Maßstäbe aus der Einleitung möglich ist, wird als Ergebnis in Kap. 7.6 beschrieben. 235 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 58. 236 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 56. 237 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 31. 238 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 59. 239 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 58.

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»Fragmentierung durch das Denken« 240 liegt in der Natur des Denkens, 241 wie auch Humboldt schon anmerkt: »Das Wesen des Denkens besteht im Reflektieren, d. h. im Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten.« 242 Oder explizit: »Das Wesen des Denkens besteht also darin Abschnitte in seinem eignen Gange zu machen […].« 243 Rosenstock-Huessy nennt diese Haltung der Selbstbezeugung das Reflexivum. 244 Außen: Die Gegner der Soziologie lassen das Wesen des Ganzen fragwürdig erscheinen. So treten herrschende, entstellende, gefährliche Züge übermächtig hervor. Das zwingt die Soziologen zusammen: Die Soziologie muss sich nach außen bewähren. 245 Rosenstock-Huessy nennt diese Haltung des Entgegentretens (nach außen) das Activum. 246 Es verhilft der Sache zur äußeren Vergegenständlichung. Künftig: Aus der Zukunft kündigt sich etwas an: »Eine neue Not bittet um Einlaß ins Vernehmen. Sie kann nur eingelassen werden, wenn Altes abgetan wird und Not zum Notwenden in neuen Trägern führt.« 247 Der neue Träger muss angesichts der Stimme der Not für die Soziologie antworten: Er muss sie verantworten, wie Buber sagen würde. Erst dieses Verantworten der Soziologie macht ihn ja zum Soziologen! Als Beispiel führt Rosenstock-Huessy Claude Henri de Saint-Simon an, laut Rosenstock-Huessy der »erste Soziologe«, 248 weil seine sog. »physikopolitische Laufbahn« 249 das eigene Leben zum Experiment machte. Nach Rosenstock-Huessy verlässt er also die bloße Erkenntnisdimension, denn bei ihm geht es um Leben und Tod.

Vgl. Sandtmann: Die Dialog-Vision von David Bohm, 37 ff. Dies gilt selbstverständlich auch für die von Manchem als positives Gegenbild zur »mangelhaften« Rationalität gepriesene »Intuition«: der Erkenntnisgehalt intuitiver Erkenntnis unterliegt nämlich genau denselben Kriterien wie rational generierte Erkenntnisse. Was sich unterscheidet, ist nur die Art und Weise, wie zu einer Erkenntnis gelangt wird. 242 Humboldt: Über Denken und Sprechen, 3. 243 Humboldt: Über Denken und Sprechen, 3. 244 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 31. 245 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 58 f. 246 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 31. 247 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 58. 248 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 43. 249 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 44. 240 241

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Rosenstock-Huessy nennt diese Haltung des Verantwortens Präjectivum. • Vergangen: »Soweit alle Not fortfährt, fahren wir dankbar fort, die alten Notwenden anzuwenden. Wir erkennen also an, daß jene Stunde noch währt. Wir sind Nachfolger, weil das Geschehen feststeht und solange es feststeht.« 250 Diese geduldige und erleidende Haltung gegen ein Überliefertes (»die Stimme der Schicksalsstunde« 251) nennt Rosenstock-Huessy Trajectivum. Die sozialen Erkenntnisverfahren gehen also immer nach innen, nach außen, nach vorwärts und nach rückwärts. Die Soziologie verfährt immer gleichzeitig in einer Mehrzahl an Erkenntnisverfahren und zwingt den Soziologen vorübergehend zur Teilnahme an der Wirklichkeit: Er muss seinen geschichtlichen Ort nennen. Das bindet ihn in die Zeit. Auf diese Weise werden die beiden blinden Flecken des Soziologen – erstens seine Mitgliedschaft und zweitens die Zeit-Abhängigkeit – durch das Kreuz der Wirklichkeit miteinbezogen. Der Raumbegriff gliedert sich in Innen und Außen, die Zeit in Vergangenheit und Zukunft. 252 Das Kreuz der Wirklichkeit ist also weder ein Gegenstand, noch eine mathematische Figur, »sondern im Kreuz der Wirklichkeit tritt jeder von uns kleinen Menschen unter die wirksame Wahrheit. Die wirksame Wahrheit aber wohnt nur dem Menschen im großen und ganzen inne. Erst im Kreuz der Gemeinschaft hat das, was dieses Buch sagt, Sinn.« 253

Der Soziologe darf also nicht so tun, als ob er der Welt bloß gegenüberstünde. Er muss selbst bewusst Teilnehmer sein und bemerkt hierbei schnell, dass er in einem Kontext steht. Sein Forschungsgegenstand ist lebendig. Diesem Sachverhalt muss er gerecht werden. »Alles Tote liegt in der Raumzeit der Physik. Aber um zu leben, schwingen wir durch Zeiträume. Und das Leben ist dem Tode überlegen.« 254 Wird der Soziologe also Teil seines lebendigen und sich wandelnden Forschungsobjekts, wandelt er sich selbst durch seine Arbeit. Das ist der Unterschied zum Physiker, der mit toten Dingen zu tun hat. 250 251 252 253 254

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 58. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 59. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 56 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 325. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 328.

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Der Soziologe selbst muss sich der transformierenden Kraft seines Interessengebiets aussetzen. Hierbei durchläuft er die vier Stationen in folgender Reihenfolge: 1) Er beginnt seine Forschungsarbeit als Präject: Er lässt sich von seinem Forschungsgegenstand ansprechen. Wenn dies gelingt, verantwortet er also Künftiges, die erste Station ist eine Zeit: die Zukunft (Wie wir uns erinnern, kommt auch bei Rosenzweig und Buber der Imperativ zeitlich vor dem Indikativ)! 2) Anschließend folgt der erste Raum: Als Subject versucht er, seinen Forschungsgegenstand differenziert zu erfassen. Er befindet sich also im Innenraum der Reflexion! 3) Hierauf folgt die zweite Zeit: Als Traject ist er nun selbst in die geschichtliche Nachfolge seines Forschungsgegenstandes involviert. 4) Schließlich verteidigt er seine Ergebnisse (die ja jetzt auch mit dem Soziologen selbst verbunden sind) als beschreibbares Object im zweiten Raum: nach Außen! 255 Der Soziologe durchläuft also das soziologische Phänomen (zum Beispiel eine Weltanschauung), das gleichzeitig vierfältig im Kreuz der Wirklichkeit ›vorliegt‹, hintereinander in einer festen Reihenfolge. Aus dieser Reihenfolge können wir Grundsätzliches ablesen. Die Kausalverhältnisse der Naturwissenschaften bestehen ja bekanntlich darin, dass die Ursache zeitlich vor der Wirkung liegt. Und das ist auch völlig korrekt. »In der Gesellschaft hingegen ist es so, daß das Spätere allerdings die Ursache für den früheren Akt darstellt. Wir gehen zur Vorbereitung auf die Schule. Weil wir heiraten werden, verloben wir uns. Wir üben Klavier, weil wir ein Stück vorspielen sollen. Es wird zwar willkürlich in den Logiken so dargestellt, als ob wir üben, damit wir vorspielen, uns verloben, damit wir heiraten, in die Armee eingezogen werden, damit wir Krieg führen können. Aber dies Spiel mit ›damit‹ ist leicht durchschaubar.« 256

Für die Naturwissenschaft, die es mit toten Dingen zu tun hat, ist auch die Zeit tot: Sie läuft gleichmäßig getaktet von hinten nach vorne, von Unendlichkeit in Unendlichkeit. Sie wird zum Beispiel im Raum-Zeit-Kontinuum als vierte Dimension hinter den Raum geklemmt. Deshalb kann der Physiker als Physiker auch nichts über 255 256

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 328. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 56.

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die Gesellschaft sagen. Sagt der Physiker aber etwas über die Gesellschaft, macht er es nicht als Physiker, sondern weil auch er Gesellschaftsmitglied ist. 257 Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus baut der Architekt ein Wohnzimmer, damit anschließend darin gewohnt wird. Aber eigentlich wird das Wohnzimmer gebaut, weil man darin Zeit verbringen möchte. Der eigentliche Grund liegt also in der Zukunft. Die Architektur ist nämlich eine Grenzgängerin zwischen Physik und Gesellschaft: »Der Geist ist […] final, vom Ende her bestimmt.« 258 Wir bauen das Wohnzimmer – ein Akt, der selbst der physikalischen Kausalzeit unterliegt –, um darin in Zukunft Zeit zu verbringen. Hier wird offensichtlich, inwiefern die physikalische Zeit eine Abstraktion der final bestimmten eigentlichen Zeit ist: Der Architekt baut ja das Haus, um in der Zukunft Geld zu verdienen (final), benutzt für den Hausbau selbst aber die physikalische Zeit mit den herkömmlichen Kausalverhältnissen, in denen die Ursache in der Gegenwart und die Wirkung in der Zukunft liegt. In allem, was mit Gesellschaft zu tun hat, sind die Kausalverhältnisse umgekehrt: Die Ursache liegt bei gesellschaftlichen Dingen in der Zukunft, die Wirkung in der Gegenwart. Erst sind wir Präject in der Zeit, dann Subject im Raum. Die Zeit verläuft also nicht von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft, sondern umgekehrt: Sie kommt uns aus der Zukunft entgegen. 259 Auch der Physiker gehört ja zur Gesellschaft: Zwar werden seine Atome im Denken kausal von Anfang an erklärt. Aber erst seine Intention Physik zu betreiben, lässt ihn das Experiment überhaupt durchführen, einen Raum (Versuchsaufbau) projizieren, in dem das Experiment durchgeführt werden kann. Die Wissenschaft der Physik ist also selbst ein Raum, in dem die Zeit tot ist. Das ist auch die passende Zeit für den physikalischen Raum, denn seine Forschungsgegenstände sind ebenfalls tot. Der Physiker selbst aber ist Mitglied der Gesellschaft. Er denkt also im Futurum (d. h. im Konjunktiv), obwohl sein Tun erst aus dem Adventus (im Imperativ) betrachtet Sinn ergibt. 260 Der Physiker ist nicht Teil seines Objekts: Weil er lebendig ist. »Sogar der

257 258 259 260

Vgl. hierzu auch den Exkurs in Kap. 5.5, in dem ein solcher Fall vorgestellt wird. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 97. Vgl. hierzu auch den Ausblick: »Was heißt Zukunft?« in Kap. 9. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 62.

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Naturforscher setzt also zwei Zeiten und zwei Räume voraus.« 261 Er ist seinem Objekt überlegen: Als Lebendiger dreht er im Experiment den toten Körper um, modifiziert Fallrichtungen etc. »Das Tote hat nämlich kein eigenes Verhalten zur Zeit. Es ist das die genaue Definition des Toten, daß es ewig still steht.« 262 Da das Tote keine eigenes Verhalten zur Zeit hat, ist es dem Physiker erlaubt, die Zeit einfach als vierte Dimension hinter den Raum zu klemmen. 263 Die Physik selbst aber ist als soziologischer Tatbestand im Kreuz der Wirklichkeit, dem Kreuzungspunkt von Zeiten und Räumen. 264 Auch wenn der Soziologe die ›Stationen‹ im Kreuz der Wirklichkeit nacheinander durchwandert, die Gegenwart selbst kommt nicht als ›Station‹ vor, vielmehr stehen soziale Phänomene in diesen vier Dimensionen gleichzeitig zu dem Augenblick, in dem sie stattfinden. Die vier Haltungen, die wir in unserer Reflexion eben noch säuberlich getrennt haben, treten also eigentlich gleichzeitig auf. 265 Um es mit anderen Worten zu sagen: Das Kreuz der Wirklichkeit markiert nicht nur die vier Dimensionen Innen, Außen, Vergangen und Künftig, sondern es ist selbst in das Geschehen mit eingebunden. Es markiert also noch die Gegenwart, den ›Quellpunkt‹ : Der ›Quellpunkt‹ im Kreuz der Wirklichkeit ist kein Punkt im geometrischen Sinne. Im Kreuz der Wirklichkeit tritt jeder von uns Menschen unter die wirksame Wahrheit, die nur dem Menschen im Großen und Ganzen innewohnt: »Unser Herz ist die Kreuzweiche.« 266 Mit »Herz« meint Rosenstock-Huessy offensichtlich den Ort des Aufquellens der ›wirksamen‹ Wahrheit. Die Mitte des Kreuzes der Wirklichkeit ist also der Ort des ›Imperativs‹. »Das Kreuz der Wirklichkeit ist in die Gemeinschaft eingesenkt und stempelt sie zu einem Haushalt von Kräften, die uns tragen. Deshalb steht kein Mensch im Mittelpunkt. Aber er durchwandelt ihn, durchschreitet ihn allerdings, jedesmal nämlich, wenn er sich wandelt. Das Kreuz erlaubt jeder Kraft, in ihr Gegenteil umzuschlagen.« 267

261 262 263 264 265 266 267

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 317. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 146. Vgl. hierzu auch Kap. 5.5. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 318. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 330. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 325. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 327.

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Der Soziologe, der seine ›Stationen‹ durchschreitet, geht also nicht gleich als Präject in sein Forschungsvorhaben, sondern er muss sich umgekehrt erst für sein Forschungsvorhaben präjedicieren lassen. Das kann er nur in der Ich-Du-Beziehung: Der Soziologe nimmt sich des Imperativs im ›Quellpunkt‹ des Kreuzes an, verantwortet ihn und wird so erst zum Präject. Und so lässt er sich durch die Transformationskraft des Imperativs, der den Quellpunkt des Kreuzes markiert, durch alle vier Stationen tragen. Nicht der philosophische Kopf also trägt die soziologische Erkenntnis, sondern sein Herz: In die Ich-Du-Beziehung muss der Soziologe sein ganzes Wesen einbringen. »Dies ist der Unterschied gegenüber aller Naturerkenntnis und aller Philosophie.« 268 Um es zusammenzufassen: Von der soziologischen ›Wahrheit‹ kennen wir 4 + 1 Elemente: den Eigennamen des Präjectivums (Zukunftsperspektive), die Artbestimmung durch die Reflexion des Subjects (dieser Innenraum ist der Ort für »Begriffe«), den geschichtlichen Ursprung, der den Soziologen zum Traject macht (Vergangenheitsperspektive), und den Ort im äußeren Raum. Das fünfte Element ist die Gegenwart, deren Imperativ die anderen beiden Zeiten und Räume hervorbringt. 269

5.4. Orientierungsmaßstäbe für Räume und Zeiten Wir befinden uns hier an einer Stelle, an der wir das erste Mal sinnvoll nach dem ›Quellpunkt‹ des Kreuzes der Wirklichkeit fragen können. Und erst dieser gegenwärtige ›Quellpunkt‹ lässt uns nach einer Kunst der Kaironomie fragen. Um auf eine Kaironomie zu kommen – wie sie Rosenstock-Huessy fordert und wie ich sie mit Hilfe unserer in der Einleitung dargelegten Maßstäbe zu liefern gedenke 270 – müssen wir zunächst jene Maßstäbe erarbeiten, die verhindern, dass wir in jeder Station des Kreuzes der Wirklichkeit die Orientierung zu verlieren. Wir stehen hier also an einem Punkt, an dem unser Maßstab II (die Relationen herstellen, um

268 269 270

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 31. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 28 f. Siehe hierzu Kap. 7.6.

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die Relevanz der eigenen Position bestimmen zu können) Verwendung finden kann. Da wir es hier mit zwei Räumen und zwei Zeiten zu tun haben, müssen wir unsere Maßstäbe klug wählen. Im folgenden Kapitel 5.4 wird dargestellt, wie und weshalb unsere beiden Maßstäbe III und IV, die in der Einleitung bereits formuliert wurden, diesbezüglich eine hinreichende Orientierung bieten. Anschließend können wir uns der Kaironomie selbst zuwenden, deren Grundprinzip in Kapitel 5.6 vor dem Hintergrund der Zeitigungen der »Welt« (dieser Begriff wird ab 5.6 in einer ursprünglichen Bedeutung erläutert und verwendet) skizziert wird. Anhand dieser Erörterungen können wir dann darstellen, was Kaironomie konkret bedeutet. Am Ende ist es trotz dieses dargestellten, etwas ungewöhnlichen Inhalts recht simpel: Indem ich unsere Maßstäbe aus der Einleitung mit den Zeitigungen aus Kapitel 5.6 in Zusammenhang bringe, wird die Möglichkeit einer Kaironomie sichtbar. Diese Kaironomie rechnet mit der Mangelhaftigkeit menschlicher Erkenntnis und funktioniert somit ohne ein festes Weltbild. Sie bietet Orientierung, ohne in eine Weltanschauung zurückfallen zu müssen. Hierfür ist allerdings noch Goldschmidts Entdeckung der Dialogik als Haltung nötig (Kapitel 6), sodass die eigentliche Kunst der Kaironomie, die auch das Hauptergebnis dieses Beitrags zur Dialogphilosophie bildet, erst zum Schluss, in Kapitel 7.6 vorgestellt werden kann. Im Folgenden werden also die beiden Maßstäbe vorgestellt: Maßstab III, der in den Räumen gilt: Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr. Maßstab IV, der für die Zeiten gilt: Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere?

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5.4.1. Der Grad des Ernstes als Orientierungsmaßstab im Raum: ›Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr‹ 5.4.1.1. Das Reflexivum und der Stellenwert des Denkens Der souveräne und selbständige Umgang mit unseren vier Kalendertypen stellt uns seit dem Jahre 0 vor Herausforderungen: Woher nehme ich die Orientierung, wenn die Zeiten nicht mehr festgeschrieben sind? Seit dem Jahre 0 fliehen Menschen vor der Orientierungslosigkeit in ihre privaten Zeitblasen, in Weltanschauungen und Ismen. Was ist ein Ismus anderes als die Flucht vor der Zeit in einen komfortablen, scheinbar sinnstiftenden Innenraum, der aus der eigentlichen, unberechenbaren und mit dem Tode rechnenden Zeit, der Währzeit, seinen eigenen Zeitbegriff, also eine Wahnzeit, macht? • Die Wahnzeit ist die tote Zeit im Binnenraum einer Weltanschauung. In der Physik etwa ist sie als vierte Dimension im Raum-Zeit-Kontinuum angebracht, denn die Physik handelt von toten Dingen. Auch im Wissen herrscht Wahnzeit, denn über Wissen verfügen wir. Wissen steht im Genitiv. • Die Währzeit ist die lebendige Zeit der Verantwortung. In ihr sind wir Präject und Traject. »Wo wir noch erzählen, wo wir noch streiten, wo wir noch verheißen, da leben wir noch.« 271 Bei diesen Tätigkeiten verfügen wir nicht über irgendein Wissen und sind trotzdem mit der Welt konfrontiert, im Imperativ und im Dativ. In der Währzeit hat das Lebendige immer ein eigenes Verhältnis zur Zeit. Ismen-Anbeter und Weltanschauler bewohnen von der Zeit abstrahierte, in Räume projizierte Binnenwelten, die sie von der Währzeit ausschließen. Derart abgeschottet von der Währzeit huldigen sie ihren Privat-Kalendern, die aus Kombinationen der vier Kalendertypen bestehen. Mit ihrem Zeitbegriff haben sie sich die Zeit scheinbar Untertan gemacht. Aber nur scheinbar: Ihre Zeitblase sieht sich einer ständigen Bedrohung von außen ausgesetzt. Sie müssen sich auch nach außen bewähren. Deshalb bilden sie Korporationen, 272 die ihren Innenraum auch nach außen abschließen.

271 272

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 17. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 153 f.

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In diesem Binnenraum können sie nun den Wahrheitsanspruch ihrer Privat-Kalender (ihre Kalenderkombination) wieder, wie bei Stamm, Reich und Volk, totalisieren. Innerhalb der Zeitblase funktioniert ihr Kalender, bis die Transformationskraft der Währzeit, vor der sich die Weltanschauler in ihre Zeitblase geflüchtet haben, die Luft rauslässt. Ismen und Weltanschauungen sprechen dann von einer Krise. Aus dieser Binnen-Perspektive macht zum Beispiel die Forderung nach einer ›Leitkultur‹ vordergründig ja durchaus Sinn, da Weltanschauler selbst nicht Kulturträger, sondern ›Kulturgetragene‹ sind. Sie ist ein Indikator orientierungsloser Verzweiflung: Anstatt zu zweifeln, d. h. mit weltanschaulichem Herkommen zu brechen und sich für Neues zu öffnen, 273 ver-zweifeln die Weltanschauler und tragen ihren Wahn nach außen. Wissenschaftliches Denken sollte aber Krisen erklären können. 274 Der Mensch projiziert sich seine Räume aus der Zeit. Das ist Kultur. Aber unsere Geistes- und Sozialwissenschaften, Philosophien, Weltanschauungen und Ismen treiben stattdessen wie private Zeitflöße nebeneinander her. Sie haben keine Kultur, sondern sie sind bloß abhängig von ihrem überkommenen Kult, denn sie verstehen diesen Projektionsmechanismus nicht. Wie können sie sich aber für die Währzeit selbst öffnen? In unserer Zeitrechnung müssen wir die antiken Kalender Stamm, Reich, Volk und Griechentum untereinander relationieren! 275 Dies ist die zentrale Orientierungsleistung der Kaironomie, die das »Achten auf den rechten Zeitpunkt« 276 ermöglicht. Wir müssen uns also fragen: Was ist die Wahnzeit und wie sensibilisiert man sich für die Währzeit? Wie der Soziologe die ›Stationen‹ im Kreuz der Wirklichkeit abfährt, ohne sich je von einer Station gefangen nehmen zu lassen, muss eine Kaironomie angesichts der mannigfaltigen Abwege in Ismen und Weltanschauungen Orientierung bieten. Im Reflexivum, also auch im Innenraum der Ismen und Weltanschauungen, finden sich die mannigfaltigsten Scheingestaltungen 273 274 275 276

Siehe unten: Kap. 5.6.2.2. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 155. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 482 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 488.

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der menschlichen Phantasie. Sie sind nicht ernst, sondern Formen der menschlichen Erholung: Erholung vom Ernst des unberechenbaren Lebens. Deshalb sind sie aber »doch gerade ein Widerschein des Ernstes« 277 und damit eine »erste Inventur der Menschheit über ihre wirklichen Grundkräfte«. 278 Im Reflexivum spiegeln sich Jahrtausende menschlicher Raumgestaltung und »Was Jahrtausende ausgebildet haben, ist beweiskräftig und beachtlich.« 279 Was nicht ernst ist, ist Spiel. Der Maßstab für Spiel und Ernst ist hierbei ganz klar: »Wer spielen muß, der spielt nicht mehr.« 280 Gespielt wird unabhängig von Zeit und Ort: in einer Wahnzeit, auf deren Spielplatz. Im Spiel lässt sich mit Räumen und Zeiten beliebig schalten und walten, im Ernstfall nicht. 281 »Die ernsten Schritte des wirklichen Lebens sind keiner Wiederholung fähig«, 282 wie Rosenstock-Huessy offenbar in Anspielung auf Kierkegaard feststellt. Dieser lässt sein Pseudonym Constantin Constantius nämlich den spielerischen Rückbezug der Wiederholung mit der griechischen Erinnerung verbinden: »Wiederholung und Erinnerung stellen die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung; denn woran man sich als Gewesenes erinnert, das wird in rückwärtiger Richtung wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung Erinnerung in Richtung nach vorn ist.« 283

Erinnerung ist also eine Wiederholungsbewegung, nur rückwärts (auch Kierkegaard entdeckt hier eine Umkehrung des Zeitverlaufs im Reflexivum). Das Spiel aber, so Rosenstock-Huessy, ist charakterisiert durch das Paradoxon der wiederholenden Vorwegnahme: »Das Spiel hat […] das Janus-Antlitz, daß es nachträglich eine alte Erfahrung wiederholt – der Junge spielt Krieg wie seine Vorfahren im Ernst getan – und daß es in dem Kindesleben eine ernste Stufe spielend vorwegnimmt.« 284

277 278 279 280 281 282 283 284

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 63. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 64. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 64. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 64. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 65. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 113. Kierkegaard: Die Wiederholung, 329. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 64.

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Dieses Paradoxon hat das Spielen mit dem Denken gemeinsam: »Auch jeder Gedanke ist Nach-Denken und Voraus-Denken in einem.« 285 Das Denken findet also ebenfalls in der Frei-zeit und in einem Spielraum statt. »Die meisten ›zivilisierten‹ Lebensvorgänge liegen zwischen reinem Ernst und reinem Spiel, denn fast in alles, was wir tun, suchen wir ein bißchen frei bestimmte Zeit und vorausbestimmten Ort hineinzubringen.« 286 Der polare Gegensatz zum Spiel ist die Katastrophe: Sie ist reine, zeitlich bedingte Notwendigkeit. »Katastrophe und Kinderspiel sind also die Pole allen gemeinschaftlichen Lebens; weniger zugespitzt mag die Schulstunde der Weltgeschichte gegenübergestellt werden.« 287 Die Schulstunde zielt auf die Abschaffung der Zeit: »Jede Schulstunde ist halb vergangen, wenn sie beginnt, weil ihr Ende vorherbestimmt ist, und halb künftig, weil ihr Inhalt unbestimmt ist.« 288 Alles, was sich üben lässt, ist also Spiel: ein Spiegelbild der Wirklichkeit. Es ist Schein, nicht Sein! Durch Denken allein dringen wir nicht zur Wahrheit vor, denn Denken ist wie das Spiel: gleichzeitig zu früh und zu spät; niemals aber rechtzeitig! Nur weil sich alle Menschen ihrer selbst am meisten bewusst sind, wenn sie reflektieren (das Reflexivum geht ja mit Selbstbewusstsein einher), stellen sie sich die Welt auch so vor: 289 Generell neigt die Schulbildung dazu, Schein und Selbstbewusstsein zu scheiden und einander gegenüberzustellen. »In unserer Schulbildung nämlich wird nicht das Spiel vom Ernst unterschieden, sondern da wird von den Erscheinungen und vom Schein der Welt auf der einen Seite gesprochen; auf der anderen Seite aber, und in ganz anderem Zusammenhang, wird von der Reflexion und von dem inneren Selbstbewußtsein gehandelt. Die Schulen haben uns gelehrt, daß der äußere Schein und das innere Selbstbewußtsein himmelweit verschiedene Dinge seien.« 290

285 286 287 288 289 290

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 64. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 65. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 65. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 114. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 113. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 67.

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Vor dem Hintergrund des Kreuzes der Wirklichkeit wird dieser scheinbar so enorme Unterschied jedoch relationiert: Schein und Selbstbewußtsein sind beide Spiegelbilder derselben Sache: eine äußere Abspiegelung und eine innere. 291 Rosenstock-Huessy geht hier vorsichtiger zu Werke als andere Denker. Diese halten ihr eigenes Denken und Nachdenken über Gott und die Welt bereits für ernst, weil sie sich selbst viel zu ernst nehmen. »Gott, Mensch und Welt werden so zu Gegenständen, die das Denken zu beherrschen unternimmt.« 292 Die Abstraktion von Zeit und Raum im Spiel gestattet Spielern und Denkern Erholung vom Leben. Andererseits werden in einer solchen Abstraktion Veränderungen vorweggenommen. Darin besteht eben die Relevanz des Denkens: Das »Spiel reflektiert und studiert und dadurch gestattet es Erholung von jedem ernsteren Lebensvorgang, bis dieser selbst leichter wird. […] Die Reflexion, die wir als Nachdenken oder Vorbereitung, als Erholen oder Nachholen bezeichnen, vereinigt beides in einen Akt, denn die spielende Wiederholung macht die bloße Wiederholung des Ernstfalls unmöglich.« 293 Denken und Spiel werden hier also nicht verachtet, im Gegenteil: 294 Man muss nach der Stellung des Denkens in der Welt fragen. 295 Erst in der Relation wird die Relevanz des Denkens deutlich. Denn die Welt des Scheins ist ja selbst ein Erzeugnis der wirklichen Welt! 296 Denken ist also die fünfte (und bloß die fünfte) Form der Reflexion neben den anderen vieren: »In Kunst und Sport, Masse und Geselligkeit treten die Völker vor den Spiegel der Reflexion.« 297 All diese Tätigkeiten sind Teil des Reflexivums. Der Philosoph ist gefährdet, der Wertlosigkeit der reinen Anschauung 298 zu erliegen. Die Spiele, die so viel zahlreicher sind als der Ernst, betrügen uns. Als Anschauer ist man in einem künstlichen Raum und einer künstlichen Zeit, während man anschaut. 299 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 67 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 113. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 66. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 68. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 337. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 106. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 107. Vgl. oben das Kapitel 5.1.3 über Kants Zeitauffassung. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 110.

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Weltanschauler dünken sich im Privatbesitz ihres Denkens. 300 Sie vermeiden es, ihr Denken noch in Relation zur Welt zu setzen, weshalb sie dazu verdammt sind, sich ihre Spielplätze selbst zu bauen (Schulen, Kirchen, Stiftungen etc.). »Nicht der Inhalt meiner Gedanken, sondern die Zeit, die ich einem der vier Kreisrhythmen spende, zeigt, wes Geistes Kind ich bin.« 301 Aber auch der spielende Mensch bleibt mit der Welt des Ernstes noch verbunden: Deshalb lohnt es sich, einen Blick auf die Weltanschauler selbst zu werfen: Auf die Seele fokussierte Denker neigen für gewöhnlich dazu, ihren eigenen Platz als Urheber und Autoren in ihren Systemen nicht zu bedenken: »In Freuds Bezugssystem nämlich ist für Sigmund Freuds eigene Lebensleistung kein Platz.« 302 Schaut man sich jedoch die Biographie des Stifters der Psychoanalyse an, stellt sie sich als fast mustergültiges Beispiel soziologischer Wirksamkeit im Kreuz der Wirklichkeit dar, wie hier kurz skizziert wird: 303 • Präject, Freud als Du: Durch Jean Charcot (›C’est toujours la chose génitale‹) wurde Freud präjiciert. • Subject, Freud als Ich: Die weit ausladende Spannung seines Lebenswerkes, das vom Lustprinzip des Kindes bis zur Stiftung Israels durch Moses die gesamte menschliche Geschichte für sein Vorhaben absucht. • Traject, Freud als Wir: Nach dem Motto »ewig ist, wer sich wandeln kann« ist Freuds Tod überlebbar geworden, seit es Psychoanalytiker gibt. Freud ist ein Traject, ein Element der Kultur unserer Zeit. • Object, Freud als Es: »Wenn ich heute mir von Freud genügend imponieren lasse, um von seinem Leben die Gezeiten zu lernen, so ist er mir ein Zeitraumding, das vor mir dasteht zur soziologischen Analyse. […] Meine eigene Kritik, Analyse, Idee von Freud hängt also davon ab, daß er dereinst in die Zeit schöpferisch eingegriffen hat. Alle Kritik folgt dem Eintrag und Auftrag; sie ist immer nach-träglich.« 304 Freud liegt heute also vor und kann analysiert und kritisiert werden. 305

300 301 302 303 304 305

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 295. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 322. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 334. Für die Einführung der Termini Präject, Traject, Subject und Object s. o. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 339. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 336 ff.

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Auch »Rosenstock-Huessy« selbst kann in seiner soziologischen Wirksamkeit dargestellt werden, womit bewiesen wäre, dass er sich selbst in sein System einbezieht: • Präject: Die Sprache ist weiser als derjenige, der sie spricht. • Subject: Das weite Forschungsfeld, das Rosenstock-Huessy beackert hat. • Traject: Rosenstock-Huessy gemeinsam mit den in diesem Beitrag behandelten Dialogphilosophen. • Object: Rosenstock-Huessys Gesamtwerk, das wir untersuchen können. Der denkende und spielende Mensch bleibt also mit der Wirklichkeit des Ernstes verbunden. Der Denker denkt ja innerhalb der Welt und ist selbst beteiligt an ihr (vergisst diesen Zusammenhang aber, sobald er reiner Denker wird). 306 Wie hängt das Denken also mit der Wirklichkeit zusammen? In welcher Relation steht Denken zu Wahrheit? Rosenstock-Huessy macht hier eine wegweisende Entdeckung: Alles Denken trennt Form und Inhalt! »Wir beginnen im Spiel, wo wir im Ernste nie anfangen dürften, nämlich mit der fertigen Form, dem Gehäuse. Alles Spieldenken unterfängt sich, Form und Inhalt zu trennen, weil man das eben im Spiel kann.« 307 Es ist geradezu das Gesetz der Reflexion (und des Denkens), dass sie die Zeitrichtung vertauscht. 308 Rosenstock-Huessy betont dies an dutzenden Stellen in seinem Werk und warnt ganz prominent auf der letzten Seite: »Wie oft ist der Leser durch diese drei Bände hindurch gewarnt worden, daß die Reflexion die Reihenfolge umkehre; daß wir zwar reflektieren müßten, aber nicht vergessen dürften, was sich in ihr ändere.« 309 In Kunst, 310 Gedanken 311 und sogar im Mythos 312 sind die Daseins- und die Erkenntnisursache vertauscht und damit die Zeitrichtung: Unser Denken und Reflektieren will zeitlos sein und mit einem Streich tausend Verbindungen schlagen. Das Letzte, das Ziel, ist dem Denken das Erste! 313 Ja, wir können diese Umkehrung sogar 306 307 308 309 310 311 312 313

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 110. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 112. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 236. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 514. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 236. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 270. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 249. Vgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 52.

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an unseren leiblichen Organen beobachten, sobald wir nämlich zu sprechen beginnen: »Unsere Sinneswerkzeuge, mit denen wir sprechen, kehren im Sprechen ihre Richtung um und hören auf, Sinneswerkzeuge, Geschlechtsorgane, Muskeln, Atemzüge unseres Leibes zu sein.« 314 Inwiefern dreht sich hier das Zeitverhältnis um? Ganz einfach: Sobald wir zu sprechen beginnen, stellen wir die für unsere leiblichen Organe gültige physikalische Raumzeit unter die Botmäßigkeit unserer Währzeit. Die Reflexion funktioniert also wie ein Spiegel: »Die Welt der Gedanken dreht das Vorher und Nachher um. Was zuerst im Leben erfolgt, wird zuletzt im Denken wahrgenommen; was vom Denken als erstes wahrgenommen wird, ist zuletzt geworden.« 315 »Was zuerst im Leben, ist zuletzt im Denken und umgekehrt. Nun, die Renaissance der letzten 1 000 Jahre beweist diesen Satz. Wir haben uns der Antike in umgekehrter Reihenfolge wieder bemächtigt, des letzten zuerst und des ersten zuletzt.« 316 Diese Umkehrung ist übrigens, wie Wilhelm von Humboldt bereits betont, im »Typus der Sprache« eingeprägt: »Das lebhaft im Geiste Empfundene verschafft sich in den sprachbildenden Perioden der Nationen auch allemal Geltung in den entsprechenden Lauten. Wie daher zuerst innerlich das Gefühl der Notwendigkeit aufstieg, dem Worte, nach dem Bedürfnis der wechselnden Rede oder seiner dauernden Bedeutung, seiner Einfachheit unbeschadet, einen zwiefachen Ausdruck beizugeben, so entstand von innen hervor Flexion in den Sprachen. Wir aber können nur den entgegengesetzten Weg verfolgen, nur von den Lauten und ihrer Zergliederung in den inneren Sinn eindringen. Hier nun finden wir, wo diese Eigenschaft ausgebildet ist, in der Tat ein Doppeltes, eine Bezeichnung des Begriffs und eine Andeutung der Kategorie, in die er versetzt wird.« 317

Die Flexionen in den Sprachen entstanden einmal von innen, aus einer Intention heraus. In der (nachträglichen) Reflexion können wir aber nur den umgekehrten Weg gehen: von den Lauten und ihren Zergliederungen können wir in den inneren Sinn eindringen.

314 315 316 317

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 283. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 269. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 341. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 111.

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Die Reflexion kehrt also die »Reihenfolge […] zwischen Daseinsursache und Erkenntnisursache« 318 um. »Der Leser schlage irgendeinen Text auf, um sich zu vergewissern, daß die Reihenfolge unserer Gedanken und ihr Ursprung immer umgekehrt laufen.« 319 Rosenstock-Huessy legt großen Wert auf diese Entdeckung der Umkehrung von Daseins- und Erkenntnisursache, beweist sie doch, dass unser Erkennen zwar die Wirklichkeit zu synchronisieren sucht, eine Synchronisation aber schon aus strukturellen Gründen unmöglich ist! Um sich wahr zu gebärden, trennt das Denken spielerisch Form und Inhalt. 320 Das ist nämlich der eigentliche Mechanismus des Denkens: Da es nicht in der Zeit stattfindet, sondern in der Freizeit, projiziert das Denken dem Denker einen Raum: »Nehmen wir das äußerste Beispiel einer Schulstunde von Zehn bis Elf, in der wir Feuer und Flamme sind, aber doch um elf Uhr nach Hause gehen. Da treten ›Form‹ und ›Inhalt‹ auseinander. Die Form ist wiederholte Vergangenheit des Stundenplans. Der Inhalt beginnt eine noch nie dagewesene Zukunft. Form und Inhalt, beide bleiben aber notwendig, soll die Schulstunde überhaupt noch Stunde heißen. Uns enthüllt sich mithin der logische Gegensatz ›Form‹ und ›Inhalt‹ als Janus-Gesicht der Zeit. Die Form der Stunde ist gesetzlich und bekannt, ihr Inhalt ist neu und unerhört. Form und Inhalt sind keine logischen Gegensätze. Sie spalten die Zeit. Form und Inhalt sind vom Raumdenken erfundene Begriffe für eine Zeiterfahrung.« 321

Um einen Inhalt sich ereignen zu lassen, muss er also in einen ihn schützenden Raum (Form) mit geeigneter Eigenzeit projiziert werden. Denken und Nachdenken verhalten sich wie die Hälfte zum Ganzen. 322 Das Denken allein lässt uns nicht zur Wahrheit vordringen. Wahrheit ist durch ihre Zeitgebundenheit schlicht anders strukturiert als Denken. Gibt man dem verführerischen Impuls nach und setzt das Denken an die erste Stelle, setzt man das Selbstbewusstsein gleich mit voraus als eigentliche Wirklichkeit. 323 Denn das Selbstbewusstsein ist der Innenraum der Reflexion. Auf diese Weise totali-

318 319 320 321 322 323

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 249. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 257. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 47. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 500. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 434. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 126.

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siert man aber bloß die Wahnzeit des den Inhalt schützenden Raumes: Man hat sich eine Weltanschauung erschaffen! Die Relevanz des Denkens (des Reflexivums) wird nur in der Relation zu den Zeiten und Räumen deutlich. Dem Subject geht nämlich das Präject – also das Absehen vom eigenen Subjekt – noch voraus! »Subjekt« und »Objekt« sind zeitlose philosophische Termini. Eigentlich bezeichnen sie aber, wie das Kreuz der Wirklichkeit deutlich macht, bloße Eigenschaften. Denker neigen dazu, sie zu zeitlosen Hauptwörtern zu überhöhen. Das ist aber nicht zulässig! Zu beachten ist also: Der »menschliche Geist schafft nach«. 324 Und hierin wird seine Relevanz (neben dem Erholungseffekt durch Gewissheit in Spielräumen von den Ungewissheiten in der Wirklichkeit) deutlich. Nehmen wir wieder die Schulstunde als Beispiel: »Sie liege von zehn bis elf Uhr. Ihre Form steht also von vornherein fest. Denn um zehn Uhr ist ihre Beendigung um elf Uhr bereits bekannt. Da wir nur das erkennen, was schon geschehen ist, so wird die elfte Stunde als schon geschehen behandelt. Der Stundenplan macht also diese Stunde zu einem Element der Vergangenheit; und an der Vergangenheit läßt sich nichts ändern. […] Aber in jeder Schulstunde haben Lehrer und Schüler die Wahl. Der Insasse dieser langweiligen Stunde höre oder sage etwas zum allerersten Mal. Dann kann das, was er sagt, so unerhört sein, daß ein neues Leben von diesem Augenblick datiert.« 325

Durch die Trennung von Form und Inhalt, die in Wirklichkeit niemals getrennt sind, kann in dieser wiederholenden Vorwegnahme im schützenden Raum einer Schulstunde ein Imperativ zwischen die Menschen treten: einen Menschen also präjicieren. Hier liegt die Relevanz des Spiels bzw. des Denkens: »Der Schulstil stellt eine Wahrheit außerhalb des Augenblicks dar, in dem sie mit vollem Einsatz bezeugt wird.« 326 In der Schule wird Ernstes wiederholt und auswendig gelernt, für den Ernstfall: »Das Schulbuch schreibt wiederholbar, weil die Wissenschaft nur alles bereitstellt, ohne die Stunde zu kennen. Und damit ist das Geheimnis aller wissenschaftlichen Sprechweise am Tage. Die Wissenschaft wiederholt.« 327

324 325 326 327

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 270. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 499. Rosenstock-Huessy: Orientierung im 3. Jahrtausend, 31. Rosenstock-Huessy: Orientierung im 3. Jahrtausend, 31 f.

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Die Herausforderung für uns besteht also darin, unser Leben auf dem Spielplatz, auf dem wir uns zweifellos die meiste Zeit befinden, richtig einzuordnen. Dafür ist unser Maßstab III gut: Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr. Dieser Maßstab dient dem Menschen, um auf der Position des Reflexivums nicht die Orientierung seines Zusammenhangs mit den anderen drei Positionen (für die der Mensch als Reflexivum aber blind ist) zu verlieren, sich also in die rechte Relation zur Wirklichkeit zu rücken und nicht der Versuchung der Selbstüberschätzung nachzugeben. Denn nur dann, in dieser Anspruchseinschränkung, wird die Relevanz des Reflexivums deutlich: »Zeit zu gewinnen ist des Geistes Beitrag an die Welt.« 328 5.4.1.2. Das Activum und der Ursprung der Sprache Sprachwissenschaftler neigen dazu, hinter jedem Gesprochenen sogleich ein Denken zu wähnen: »Der moderne Sprachforscher springt hier vorschnell vom Sprechen direkt auf das Denken über, ehe er den dazwischen liegenden Vorgang beobachtet, der sich im Hören uns aufdrängt.« 329 Welche Vorgänge bleiben dem Sprachwissenschaftler nach Rosenstock-Huessy durch seinen Kurzschluss aber verborgen? »Herakleitos erhebt den Logos als die Einheit von Hören und Sprechen über den Hörer und den Sprecher. Sprache ist für ihn ein sozialer Vorgang, der den einen zum Aussprechen, den anderen zum Miteintreten auf den Ausspruch zwingt.« 330 Die Sprache selbst ist also, um mit Rosenstock-Huessy zu sprechen, weder sprecher- noch hörerzentriert: Sie ist die Einheit von Sprecher und Hörer. 331 In diesem speziellen Sinne gilt also: »Logos ist Gespräch.« 332 Beide, Sprecher und Hörer unterliegen ursprünglich dem Sprachzwang des Logos. Beide unterliegen dem Zwang anzuerkennen, »daß Sprecher und Hörer wie ein Mensch dem Anruf des Logos entsprechen müssen.« 333

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 440. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 149. 330 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 149. 331 Das ist ein Charaktermerkmal der Sprache, wie Wilhelm von Humboldt feststellt, vgl. Kap. 4.5. Der Zusatz der Dialogphilosophie besteht in der Präzisierung: Der Mensch ist zuerst Hörer, bevor er Sprecher wird. Siehe hierzu auch Kap. 1. 332 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 149. 333 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 149. 328 329

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Die Sprachwissenschaftler begehen also den Fehler, dass sie den logisch-grammatischen Sprachschnipsel, der ›objektiv‹ zur philologischen Untersuchung vorliegt, mit der eigentlichen Sprache verwechseln. Sie untersuchen ja bloße Sprachentwicklungen. Sprachentwicklungen sind aber Abkühlungsprozesse der Sprache. 334 Auf den Ursprung der Sprache kommen sie so nicht! Denken ist nicht vor dem Sprechen im Sinne des Ansprechens, sondern danach. Der Soziologe ist im Anfang ja nicht das Subject. Dem Kreuz der Wirklichkeit entnehmen wir, dass er zuerst Präject ist. Das Präject wird angesprochen, danach kommt das Subject, das nach ausdifferenzierender Reflexion als Traject in die geschichtliche Nachfolge seines Gegenstands selbst tritt. Erst hier, als vierte Station, trägt es als Activum sein Object nach außen. Dieses Object, der vorliegende begrifflich abgekühlte, logisch-grammatische Sprachschnipsel, ist der Untersuchungsgegenstand der Philologen. Verwechselt der Sprachwissenschaftler den vorliegenden Untersuchungsgegenstand mit Sprache, verkennt er deren eigentliche Macht. Wie der Soziologe muss auch der Philologe im Kreuz der Wirklichkeit Teilnehmender seines Forschungsobjekts werden: Will er Wahres sagen, muss er zum Sprecher werden. Und »Sprechen heißt, uns selbst in Räume und Zeiten übers Kreuz schlagen.« 335 Auch dem Philologen wird die Relevanz seines Forschungsgegenstands nur in dessen Relation zu Zeit und Raum sichtbar. Er muss also zum Ursprung der Sprache vordringen: sich präjicieren lassen. Denn die Sprachen selbst, die uns vorliegen und deren Grammatik wir studieren können, sind bereits erstarrte grammatische Strukturen. Und abgekühlt sind Sprachen nicht Sprache des Ernstes, sondern des Spiels: Sie sind zum bloßen Mittel der Kommunikation degeneriert. »Wer die Muttersprache autonom machen will, entwirklicht sie. Der Raum, der für sie ausgespart wird, wird zum Spielplatz. Auf jedem Spielplatz wird eine eigene Sprache gesprochen. Diese Sprache spiegelt den Schein wider, in den bei unseren Spielen das wirkliche Leben auseinanderbricht.« 336

Muttersprachen liegen uns ja bereits vor: Sie sind degenerierte Sprache. Man kann sie unabhängig von Zeit und Raum lehren und lernen. Schon Wilhelm von Humboldt macht diesen Wesenszug der Spra334 335 336

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 149. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 315. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 172.

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chen aus: Solange die Sprache vom Geist getragen wird, erhält sie Verfeinerungen und Bereicherungen, welche andersherum wieder eine begeisternde Wirkung auf ihre Sprecher haben. Wird die Sprache aber nicht (mehr) vom Geist getragen, tritt sie in einen Degenerierungsprozess ein. 337 Der alltägliche Gebrauch einer Sprache, der den vollen grammatischen Gehalt gar nicht benötigt, nutzt die Sprache ab. Die grammatische Vielfalt einer Sprache muss erst einmal ausgenutzt werden wollen! 338 Sprache ist weder der bloße gemeinsame Nenner der Pluralität der einzelnen Sprachen, noch deren einfache Summe. Die Frage ist, wie und wann die einzelne Sprache, die ja auf ihrem jeweiligen Spielplatz benutzt wird, an der Wahrheit wieder teilnimmt. »An der allgemeinen Wahrheit hat die einzelne Sprache nur teil, wenn sie als Sprache von einzelnen Partnern eines gemeinsamen Gesprächs verstanden wird.« 339 Die erste Erkenntnis ist also, ganz nach unserem Maßstab II (Erst die Relation bekundet die Relevanz): Die einzelne Sprache muss wieder in den Kontext ihrer Entstehung gebracht werden, denn Sprache entsteht dort, wo sich etwas präjizieren lässt: ein Name genannt wird! Die toten Wörter und Begriffe müssen wieder das werden, was sie einmal waren: Namen. »Der Begriff kommt hinterher, wenn der Name schon verliehen ist.« 340 Damit die Begriffe sich wieder mit der Macht der Namen erfüllen, müssen sie auf die vier Bahnen des Kreuzes der Wirklichkeit gebracht werden. Der Philologe selbst muß Präject, Subject, Traject und Object werden. 341 Heutzutage gelten das Fragen und die Logik als ursprünglicher Sprachakt. Das ist ja auch nicht verwunderlich, denn das Fragen steht für gewöhnlich am Anfang eines Gesprächs. Daraus schließt sich schnell: Fragen und Logik seien der Ursprung der Sprache überhaupt. Aber: »Kinder fragen, nicht weil sie etwas wissen wollen, sondern um am Gespräch teilzunehmen!« 342 Kinder wollen nicht etwas an und für sich wissen. Sie wollen, ähnlich wie am Gesang einer singenden 337 338 339 340 341 342

Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 136 f. Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 90 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 171. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 207. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 30. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 210.

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Gruppe, an der Unterhaltung der sprechenden Gruppe teilhaben. Betrachtet man das Fragen und die Logik als den Ursprung der Sprache, wird einem die Bedeutung des Fragens und der Logik niemals klar werden: »Fragen und abstrakte Logik sind […] beide nie ursprünglich, sondern sie sind Zubringer-Wege.« 343 Das Fragen führt nämlich genau dahin, wofür Kinder es benutzen: Fragen bringen sie in »das Reich des Miteinander-Sprechens und des namentlich MiteinanderLebens als bloße Hilfsmittel nachträglich hinein.« 344 Fragen selbst sind also nicht der Ursprung, sondern der Weg zu diesem Ursprung. »Die Frage ist nicht das, was sie heute scheint: eine rationale, logische Anfrage von zwei Gleichberechtigten. Vielmehr enthüllt die Frage die banale, immer wieder unbeachtete Wahrheit, daß an sich nur Mitglieder einer Gruppe miteinander sprechen. […] Wer fragt, erkennt an, daß der Gefragte innen, er aber außen ist.« 345

Sprachen kommen nämlich – wie im Kapitel 2 über die Grammatik bereits angedeutet wurde – als Gelübde zur Welt. Allein dort, wo Gelübde ›gelobt‹/abgelegt werden, ist der sprachschöpferische Bereich. ›Gelobt‹ werden Gelübde aber beim Übergang vom Präject zum Subject: »Sprechen ist mehr als Rede! Sprechen heißt verkörpern, heißt den Anfang einer Verkörperung herbeiführen. Und wer etwas verspricht, beginnt zu ver-körpern.« 346 Sprache ist also nicht bloß zur Mitteilung da, wie auch Wilhelm von Humboldt betont. 347 Das ist für uns Heutige ein ungewohnter Gedanke, da uns seit Aristoteles die Sprache als Werkzeug gilt, mit dem das Individuum etwas mitteilt. »Aber die Sprache ist ein Mittel, dem Sprecher selbst erst etwas anzutun. […] er überschwingt sich über sein unter seiner Haut gefangenes Selbst, er sprengt seinen Zustand als Selbst, als Individuum, er entselbstet sich.« 348 Die Sprache tut dem Sprecher selbst etwas an: Sie sprengt seinen Zustand als Individuum auf. Es handelt sich hier im wörtlichen Sinne um den Akt der Begeisterung: Der Geist ist nicht das Individuelle, sondern das Gemeinsame! Die Begeisterung ist der Akt, kraft dessen wir aus der Haut fahren: »Alle Begeisterung eint körperlich Getrenntes. Sie macht 343 344 345 346 347 348

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 211. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 211. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 210. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 154. Siehe hierzu Kap. 4. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 151.

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Mitglieder.« 349 Die Begeisterung ist der Ursprung der Sprache, 350 und die Wege der Begeisterung gerinnen durch Abkühlung zu den einzelnen Sprachen der Völker. In dieser Einschätzung schließt sich Rosenstock-Huessy Wilhelm von Humboldt 351 an: »Sprechen wir eine dieser Sprachen, so sind wir Erben der Begeisterung.« 352 In der Begeisterung erliegt der Mensch dem Geist. Das beweisen die Sprachen der Völker, weil jedes Volk – wie Humboldt herausarbeitet – seiner Sprache erliegt und diese durch die Jahrtausende trägt. Sprechen ist nichts Technisches, sondern Sprechen transformiert. Wird der Sprachstrom als Werkzeug für Propaganda, Werbung, Lüge, Klatsch oder Verrat verkauft, wird die Sprache prostituiert. 353 Die Sprache ist nicht unser Werkzeug, sondern wir sind das ihre: Der Geist »umschafft« 354 uns! »Das Feuer der Begeisterung bemächtigt sich der Menschen und kerbt die Namen in sie, kraft derer sie sich gegenseitig als Verwandte erkennen.« 355 Denken heißt, wie bereits beschrieben wurde, sich dem Geist als Subjekt zu unterwerfen. 356 Der Geist verschafft uns auf seinem Spielplatz Zeit und macht uns außerdem zu Zeitgenossen: Er macht uns in unserem Raum gleichzeitig. Das ist sein Verdienst. 357 Aber: »Bloßer Geist ist machtlos. Er schaut, aber er schafft nicht. Der Künstler bildet Werke, der Geist schreibt Bücher; aber Kunstwerke und Bücher führen an sich nur zu Museen und Bibliotheken.« 358 Die Sprache übt eine Transformationskraft auf uns aus: Sie macht aus einem namenlosen Geschöpf einen Namensträger. Sprache benennt! »Steigert sich nun gar der bei der Geburt empfangene Name durch einen Eid, einen Schwur, ein Gelübde, dann muß sich sein Träger fortan so betragen, als sei ihm etwas auferlegt; nämlich die Treue zu seinem Wort.« 359 Der eigene Name wirkt wie ein Imperativ. Grammatisch gesprochen ist es der Vokativ – die Form der Anrede –,

349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 150. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 152 f. Vgl. Kap. 4.2. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 150. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 152. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 18. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 18. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 44. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 41. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 202. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 155.

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der das Gespräch provoziert, wie wir von Ebner wissen. 360 Unsere Schulgrammatik verdeckt diese Tatsache: Sie führt den Vokativ als Anredefall wie einen fünften Kasus. Er ist aber gar kein Fall. Er dekliniert nicht das Objekt durch seine Bezüge hindurch, »sondern er ist das ursprüngliche Geheiß. […] Alle Namen, die im Laufe einer Konversation erwähnt werden, stehen in einem Falle. Ihr Gebrauch setzt voraus, daß wir uns zueinander umgedreht haben und konversieren. Aber den Vokativ gebrauche ich einen Sprachakt vorher. […] Vokative schaffen die Voraussetzung für gegenseitige Mitteilung; hingegen Nominative und andere Fälle sind innerhalb der Mitteilung am Platz. Der Vokativ provoziert das Gespräch.« 361

Mit der Herausstellung des Vokativs und seiner Schlüsselrolle folgt Rosenstock-Huessy offenbar Wilhelm von Humboldt: »Der Vocativus tritt gänzlich aus der Reihe der übrigen Casus heraus. Indem diese zur objectiven, aus dem Subject hinausgestellten Rede dienen, | verbindet er durch eine Handlung des Willens, oder durch eine Empfindung unmittelbar das Subject mit dem Gegenstand, er kann zugleich in den meisten Fällen als der Casus der zweiten Pronominalperson betrachtet werden.« 362

Die Herausforderung im Activum ist es also, die toten Begriffe (die ja abgekühlte Namen sind) wieder zu Namen zu verflüssigen: auf dass sie wieder heißen! Begriffe gibt es auf Spielplätzen, Namen sind der Ernstfall. Begriffe sind Worte und Worte sind Namen gewesen. Nur als Namen hatten die Begriffe ursprünglich Sinn. Von diesem Sinn zehren sie noch. »Wir alle wechseln zwischen Namenspotenz und Begriffsimpotenz, je nachdem wir erleben oder bloß leben.« 363 Hat der Forscher es nicht mit einem sowieso toten physikalischen Objekt zu tun, sondern zum Beispiel mit einem Physiker, der ja lebt, muss er die Namenspotenz seines begrifflich erstarrten Forschungsobjekts wieder erlebbar machen. Der Begriff muss wieder lebendig werden. Nicht der Kausalgrund, den der Physiker seinen Experimenten zu Grunde legt, sondern die Sehnsucht versetzt den Naturforscher in den Stand, die nächste Entdeckung zu machen. 364 Siehe auch: Kap. 2.4. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 163. 362 Humboldt: Ueber die Verwandtschaft der Ortsadverbien, 182. 363 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 159. 364 Vgl. auch den Exkurs in Kap. 5.5: Vergleichbare Auffassungen scheinen auch innerhalb des physikalischen Diskurses vertreten zu werden. 360 361

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Der Naturforscher selbst ist ja Mensch und Menschen sind weder nur Objekte der Zoologie noch Subjekte philosophischer Freiheit. Der Mensch ist, wie »Fjodor M. Dostojewski nicht müde wird, es zu zeigen, kein ›Stift‹, keine bekannte Größe, sondern er ist eine ständige, unvorhergesehene, unausdenkliche Überraschung.« 365 Der Mensch hat kein a priori: Man darf nie wähnen, man könne über ihn von vornherein Bescheid wissen, oder ihn auch nur ›a priori‹ als Individuum setzen. Auch das psychologische Experimentieren an seiner Natur bringt nichts. 366 »Ich erkenne ein Lebewesen nämlich nur dadurch an, daß ich es so benenne, wie es heißen will und heißen soll. Einem Stern ist es gleichgültig, wie ich ihn nenne. Anerkennung gibt es daher nur dem sprechenden Lebewesen gegenüber.« 367 Im Namen des Lebewesens stecken die Überraschung und die Verheißungen. 368 Der Name ist der Imperativ, und der Namensträger muss diesen seinen Imperativ ver-antworten. Der Eigenname ist das Zeichen dieser Anerkennung. 369 »Namen sind der Ursprung der Sprache.« 370 Namen bedürfen weder der Definition noch der Konjugation. Im Vokativ gibt der Tonfall an, ob befohlen, verboten, gefragt oder gebeten wird. Der Name ist im Vokativ, im Anruf, Haupt- und Zeitwort in einem. »Tatsächlich sind die Namen plus Tonfall bereits eine richtige Sprache!« 371 Es gibt also eine Universalsprache der Menschen: Es ist die Sprache der Namen. 372 Namen gelten immer und überall. In ihnen und dem Tonfall des Vokativs ist alles, was Grammatik und Logik hergeben, enthalten. Die Formen der Grammatik und der Logik machen bloß den Tonfall des Vokativs überflüssig: »Der Syllogismus wälzt eine Satzkette um, um den Tonfall zu ersetzen.« 373 Grammatik und Logik befreien uns vom Tonfall, und wir können mit ihrer Hilfe alles monoton ausdrücken, denn der Nachteil des Tonfalls ist, dass er missverstanden werden kann. Die Arbeitsteilung zwischen Grammatik 365 366 367 368 369 370 371 372 373

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 249. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 252. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 182. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 183. Weiteres hierzu: Kap. 5.6. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 177. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 187. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 183 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 209.

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und Logik ist folgende: Die Grammatik schützt den Namen vor dem Missverstehen des Tonfalls und die Logik differenziert die Bedeutung aus im Sinne der Transparenz. Im Kreuz der Wirklichkeit muss man die Lebewesen wieder benennen, wie sie heißen wollen und heißen sollen. Nur so wird man Teilnehmer: »Jeder weitere Name setzt mich in eine weitere Gruppe: Name, Vorname, Volksname, Berufsname, Doktorgrad gruppieren mich. Damit mir der Name erteilt werde, muß ich dieses Ganzen Teil werden. Namen zu erteilen, schafft erst die Teilnehmerschaft.« 374 Der Mensch ist erst ein Du und dann ein Ich: 375 »Der sogenannte ›Mensch‹, von dem so oft die Rede ist, kommt also erst hinterher zustande, nachdem ihm schon kraft seines Namens sein Platz in der Gesellschaft eingeräumt wird.« 376 Namen gelten immer und überall: Sie sind vollzeitig (im Gegensatz zu Begriffen, die zeitleer sind). So erschafft die Sprache, die ja ursprünglich Namen nennt, ein ›Nach-wie-Vor‹ und ein ›Hier-undDa‹ : ein ›Zeitraumfloß‹. »Der abstrakte Wahnsinn der Schulgrammatik erklärt die letzte grammatische Schöpfung: den Aussagesatz ›Dies sind …‹ für den Anfang der Sprache.« 377 Dabei verhält es sich genau umgekehrt: Der Aussagesatz ist das Object der Sprache, von dem ich hinterher im Indikativ erzählen kann. Er ist also das Ende, nicht der Anfang. Am Anfang der Sprache steht das Geheiß: der Name. Dass philosophisch eingestellte Menschen in ihren Systemen von der umgedrehten Sprache ausgehen – also nicht von der Erzeugung, sondern vom rationalen Verbrauch der Sprache – haben sie vom Strafrecht übernommen: Die rechthaberischen Parteien im Streitgespräch müssen jedes Wort so verwenden, dass es im Grenzfall des äußersten Misstrauens durch den Gegner nicht bestritten werden kann. Aus dem griechischen Strafrecht stammt auch der Ursachenbegriff: »Der griechische Geist überträgt die Logik des ungerührten Anwalts auf die Logik der Dinge, auf die Natur der Tatsachen.« 378 Beweise sind

374 375 376 377 378

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 185. Siehe unten! Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 186. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 167. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 205.

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aber nur vor Gericht gültig. Vor Gericht wird nicht gesprochen, sondern geredet: »Denn alles Sprechen wirbt; Reden aber will statt dessen nur überzeugen.« 379 Die Naturwissenschaft ahmt diese Verdrehung zwischen Erkenntis-Ursache und Seins-Ursache nach. 380 Das funktioniert innerhalb der Naturwissenschaften auch, da sie Theorien aufstellen, die ihrer empirischen Falsifizierung harren. Die Naturwissenschaft korrigiert sich durch die Zeit also selbst: Sie ist in ihrem künstlichen Raum offen für die Zeit. Wird diese naturwissenschaftliche Methode aber in den Geisteswissenschaften angewandt, wird es gefährlich! Auf Gebieten, auf denen Experimente nicht durchführbar sind, sind Falsifizierungen nicht möglich: Die Geisteswissenschaft verharrt dann in ihrer Theorie, die sie immer weiter spinnt und schließlich totalisiert. Sie wird zur Ideologie, nennt sich dann – je nach Geschmack – einen »Ismus« oder eine »Weltanschauung« und bietet seine bzw. ihre Lehre als Object den Ismen-Anbetern und Weltanschaulern zur Übernahme feil. Diesen stellt sich gar nicht mehr die Frage nach der Relevanz des angepriesenen Produkts! Sie werden Gefangene der Wahnzeit ihrer angebeteten Theorie. Das Ziel des Menschen ist es ja nicht, Philosoph zu werden, sondern es ist das Ziel des Philosophen, trotz seines Denken wirklicher Mensch zu bleiben! 381 Die Gesellschaft ist bloß der rationalisierte, organisierte Abkühlungszustand des Alltags. Dieser ist zwar für unsere Erholung und auch für den Zeitgewinn (siehe oben) notwendig. Werden die Gesellschaft oder die Kultur an sich aber totalisiert – die Wertedebatten und Vorschläge für eine ›Leitkultur‹ scheinen ja auf dieses Streben nach einem Ismus unserer Kultur hinzuweisen –, dann bilden diese durchorganisierten Spielplätze künstlich erzeugte Zeitblasen. Je besser organisiert, desto länger bläht sie sich auf und umso größer das ›Rückschlagpotential‹ : Das Platzen von Zeitblasen kann – wie bei Finanzblasen – existenzbedrohende Folgen zeitigen. Eine Weltanschauung (oder ein Ismus) zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie mit unserem Maßstab II nichts anfangen kann: Anstatt die Relevanz ihres Objects in der Relation zu ihrem Kontext zu bestim379 380 381

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 203. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 170. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 253.

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men, bläst sie ihre Zeitblase bloß zum einzig gültigen Wertmaßstab auf. Die Weltanschauung fragt nicht mehr, ob sie selbst Spielplatz oder Ernst ist, deshalb sind Wertedebatten auch so langweilig: Anstatt sich den Forderungen der Zeit zu stellen, werden moralische Forderungen der Vergangenheit in ›Werte‹ transformiert und auf dem Banner – oder der Homepage – wie eine Monstranz durch die Zeiten getragen. In der Vollzahl der Zeiten ist es aber schlicht nicht möglich, auf vergangene Werte fixiert, rückwärts die Zukunft zu beschreiten: Das Kreuz der Wirklichkeit fragt stets nach der Relation zu Zeit und Raum, Hier und Jetzt. Seine Bahnen öffnen den Akteur für alle Zeiten, sodass der Imperativ des Logos, die »Nennkraft«, wirken kann: »In jedem Überfall des Logos auf je einen Sprecher und je einen Hörer oder auch auf Millionen, geschieht dieselbe Verlebendigung: Wer angesprochen wird, den reißt der Sprecher damit auf die Seite seiner eigenen Lebendigkeit als zeitenströmendes Traject und Präject; wovon beide reden, das objektivieren sie mit vereinten Kräften in ihr gemeinsames Object. Sprecher und Hörer bilden das einheitliche Subject für diesen Gegenstand ihrer Unterhaltung. Es wiederholt sich hier in jedem Falle das Wunder, daß wir die Außenwelt nie als Individuen wahrnehmen können, sondern immer nur vom vereinheitlichten Gesellschaftsraum eines Innen aus.« 382

5.4.2. Orientierungsmaßstab in der Zeit: ›Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere?‹ 5.4.2.1 Das Traject und der Sinn des Geschichtsunterrichts Schelling geht, wie bereits dargestellt wurde, 383 von folgender Faustregel gegenüber den Zeiten aus: »Das Vergangene wird gewußt. Das Gegenwärtige wird erkannt. Das Zukünftige wird geahndet.« 384 Laut Rosenstock-Huessy verstand Schelling allerdings nicht, dass das Gewusste außerhalb unserer lebendigen Zeit ist. »Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit sind ja alle drei lebendig. ›Ich selbst bin Überlieferung‹ und bin umkämpft und fruchtbar. Aber was von mir sicher gewußt werden kann, das ist schon tot. Totes ist schädlich, wenn es nicht ins

382 383 384

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 214. Vgl. Kap. 5.1. Schelling: Weltalter, 3.

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Leben zurückgeholt wird.« 385 Wirkliche Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit bin ich also selbst als Ver-antwortender, Präject und Traject. Wissen ist bloß tot: Es ist aus der Zeit in den bloßen Raum gefallen und deshalb außerhalb der Zeit. 386 »Leben heißt, den Raum verkleinern und unterteilen, die Zeit verlängern und verbinden.« 387 Wissen sollte also nicht bloß als Fetisch dienen, wie das im Deutschen Idealismus der Fall zu sein scheint, sondern muss im Kreuz der Wirklichkeit wieder lebendig werden. Schellings Weltalter-Spruch wird von Rosenstock-Huessy also folgendermaßen sekundiert: »Die Vergangenheit werde erzählt. Die Zukunft werde verheißen. Die Gegenwart werde erkämpft. Das Tote mag man wissen.« 388

Das Tote zeitigt sich niemals! Deshalb stehen am Ende dieser Untersuchungen in Kapitel 5.6 auch nur drei Zeitigungskomplexe der »Welt«: aus der Vergangenheit, um der Zukunft willen und in der Gegenwart. Bevor die Zeitigungen der »Welt« aber beschrieben werden können, müssen wir nach Orientierungsmaßstäben für die Zeit fragen: »Im Spiel versetzen wir uns subjectiv willentlich in Spielräume; im Ernst werden wir in Lebensräume hineingerissen, wie z. B. in den Krieg. Man denke an Norweger oder Belgier als Objecte der Weltkriege. Den Feiern, die wir begehen, entsteigen wir mit den Eigenschaften, die jene Feiertage ausbilden, trajectiv. Die Ereignisse ergehen an uns mit ihrem unerhörten Geheiß präjectiv, und wer sich in ihnen bewährt, gibt seinen Namen der rollenden Zeit an künftigen Feiern.« 389

Wir können also als Maßstab festlegen: Der Unterschied zwischen Feier und Ereignis ist das zeitliche Pendant zum räumlichen Gegensatzpaar Spiel und Ernst. Wie der Ernst und das Spiel die Koordinaten im Raum sind, sind Feier und Ereignis die zeitlichen Koordinaten.

385 386 387 388 389

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 17. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 19. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 19. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 22. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 24.

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Jedes Ding hat seine Zeit, aber nur eine! 390 Und je sichtbarer ein Ereignis geworden ist, desto vergangener ist es. »Das ist der Sinn des Wortes ›Inkarnation‹, daß es genau dieses Gesetz formuliert. Das noch nicht Sichtbare muß dem Sichtbaren immer um einen Schritt voraus bleiben; sonst passiert nichts ersten Ranges.« 391 Nicht durch die Theorie, also das Auge, machen wir Erfahrungen ersten Ranges: »Erscheint etwas auf der Bildfläche, ob als Foto, Kino, Fresko, so können wir es nicht erfahren; am Bild werden wir zu Nachfahren.« 392 Und wir müssen auch Nachfahren werden! Kalender, die vergangenheitsorientiert unsere Zeit verplanen, sind notwendig. Allerdings dürfen sie nicht die Intensität erlangen, dass die Nachfahren vergessen, auch Vorfahren zu werden. 393 Wir müssen uns davor hüten, auf unseren sich immer als vollständig gebärdenden, aber zeitleeren Geist hereinzufallen. 394 Wir leben seit dem Jahre 0 in der Vollzahl der Zeiten. Wir können zwischen Erbe- und Ahnsein wählen, das ist die Einzigartigkeit unserer befreiten Lage heute. Die »Antiken«, wie sie oben beschrieben wurden, konnten das so nicht. »Aber wir sterblichen, raumverfallenen Körper sind eben nur dadurch frei, daß wir Zukunft und Vergangenheit in uns waaghalten.« 395 Das bereits sichtbar gewordene Geschehen ist die Geschichte. »Der Unterschied von Gegenwart und Vergangenheit […] bezeichnet geradezu den Übergang aus der Erstmaligkeit, die noch unsichtbar ist, in die Ausbreitung, die schon ansehbar und ansehnlich geworden ist!« 396 In der Gegenwart liegt die Erstmaligkeit, die selbst noch unsichtbar ist. Die Gegenwart ist die Zeit des Imperativs: die Zeit der Tat, die noch ihren Täter sucht. 397 Findet die Tat ihren Täter, breitet sie sich aus und manifestiert sich als Erzählung. Dies ist das Gesetz der Zeitigung der Geschichte: »Niemand kann die Geschichte geschehen sehen. ›Geschichte‹ ist vielmehr geradezu umgekehrt nur das be-

390 391 392 393 394 395 396 397

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 125. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 35. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 35. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 37. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 34. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 61. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 45. Vgl. Kap. 2.5.2.1.

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reits sichtbar gewordene ›Geschehen‹.« 398 Die Gegenwart breitet sich aus und wird darüber ansehnlich, weil sie vergangen ist und im Geschichtsunterricht im Indikativ erzählt wird. Grätzel entwickelt zu diesem Punkt eine interessante Theorie der Geschichte, die ich hier kurz skizzieren möchte: »Geschichte ist eine Grundkategorie, die von menschlichen Handlungen ausgeht und von den unterschiedlichen Sprach-Handlungen der daraus entstehenden Dynamik verstanden werden muss.« 399

Geschichte besteht also aus Geschichten von Handlungen. In Rückgriff auf Wilhelm Schapp – In Geschichten verstrickt – und Heinrich Barth bietet Grätzel nun ein dialogphilosophisches Geschichts-Verständnis an. Mit Barth hält er die erste Prämisse fest: »Jede Handlung ist ein fiendum (was geschehen soll), das als fieri (was geschieht) zum factum (was geschehen ist) wird. Jede Handlung ist ein existentielles Geschehen und steht deshalb im Zusammenhang von ›fiendumfieri-factum‹. Barth wollte damit zum Ausdruck bringen, dass durch grammatische Unterschiede zwischen fiendum (Gerundivum), fieri (Deponens) und factum (Perfekt) völlig unterschiedliche Zeiträume realisiert werden. Fiendum ist Aufbruch und Verheißung, fieri ist das Geschehen selber und factum ist die Erinnerung oder Retrospektive. Fiendum ist damit Zukunft, fieri Gegenwart und factum ist Vergangenheit.« 400

Mit Schapp hält er die zweite Prämisse fest: »Nichts findet außerhalb von Geschichten statt.« 401 Diese beiden Prämissen umreißen nun den genauen den dreidimensionalen Geschichtsraum, den auch der Historiker durchmessen muss: 1) Das geschichtliche Ereignis: die Handlung als Tat (fieri). 402 2) Die geschichtliche Absicht: die Handlung als Intention (fiendum). 403 3) Die geschichtliche Wirkung: Handlung als Erzählung (factum). 404 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 45. Grätzel: Versöhnung, 98. 400 Grätzel: Versöhnung, 71. 401 Grätzel: Versöhnung, 98. 402 Vgl. Grätzel: Versöhnung, 86. 403 Vgl. Grätzel: Versöhnung, 94. 404 Vgl. Grätzel: Versöhnung, 97, angemerkt sei hier, dass Grätzel an dieser Stelle eine andere Terminologie verwendet. 398 399

230 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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»Jede Geschichte hat eine Handlung und jede Handlung fügt sich zu einer Geschichte. Als Geschichte greift die Handlung über das bloße Geschehen hinaus in die Vor-Geschichte, aber auch in die Nach-Geschichte des aktuell Geschehenen. Dieses Hinausgreifen kann damit verstanden werden in einen Vorgriff auf Kommendes und einen Rückgriff auf bereits Geschehenes. Durch die Handlung ist also die Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft nicht nur verbunden, vielmehr sind diese Zeitdimensionen in der Handlung eingefangen und in gewisser Weise gegenwärtig.« 405

Historiker stehen also vor dem Problem, dass die guten Werke von gestern niemals die guten Werke von morgen sind. Letztere entspringen ihrer Erstmaligkeit der Gegenwart, Erstere ihrer vergangenen Erstmaligkeit. 406 Für was haben wir dann aber den Geschichtsunterricht? Oben wurde es bereist angedeutet: Der primäre Sinn des Geschichtsunterrichts ist es, die Kraft in den Trajecten hervorzurufen, die erworbenen Eigenschaften als bloß und erst erworbene Eigenschaften anzuerkennen: »Denn erst dadurch erkennt er [der Mensch, HD] diese Eigenschaften als gefährdet und verfüglich an und wird so opferfähig für ihre Wiedergewinnung.« 407 Das Wiederhervorrufen einer Vergangenheit im Geschichtsunterricht bedeutet also nicht das Hervorrufen unserer eigenen Sittlichkeit o. Ä. 408 Ein derartiges ›Geschichtsbewusstsein‹, das ja immer wieder gefordert wird, würde uns bloß an eine veraltete Sittlichkeit ketten. Auch sind die historischen Fakten 409 keine Erkenntnisse im transzendentalen Sinne und können keinen Wahrheitsanspruch für sich erheben. Im Geschichtsunterricht geht es darum, die Erstmaligkeit eines vergangenen Ereignisses zu entdecken – Rosenzweig spricht diesbezüglich von der Offenbarung »als augenblicksentsprungenes Geschehen, als ereignetes Ereignis« 410 –, denn die Geschichtsstudenten müssen ja selbst Vorfahren werden!

Grätzel: Versöhnung, 100. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 46. 407 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 51. 408 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 52. 409 Vgl. Kap. 7.2 410 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung II, 92. Für die vielschillernde Deutungskaskade, die dieser fundamentale Rosenzweig’sche Begriff des ereigneten Ereignisses anschiebt, sei auf Eberhard Gruber verwiesen, der ihn auf der Kontrastfolie des berühmten Heideggermotivs des »Was sich entzieht, west an …« analysiert. Gruber: Wesen und Walten, 180–203. 405 406

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Mit dem Anerkennen unserer Vergangenheit sind wir inmitten der schöpferischen Zeit. Physiker sind immer inmitten bereits verflossener Zeit. Es ist aber nicht ihre Vergangenheit! Die Welt hat keine Geschichte. Der Inhalt der »Weltgeschichte« ist die Geschichte des Uns-mit-der-Welt-Herumschlagens, »wodurch sie endlich zu einer einzigen Welt für uns alle geworden ist.« 411 Feiern unterscheiden sich also grundlegend vom Geschichtsunterricht. Beide haben die eigene Vergangenheit zum Thema, aber nur einer echten Feier entsteigen wir als Traject. Aus dem Stammeskalender wissen wir: »Die Geister ziehen die Lebenden zur Verantwortung«. 412 Es geht hier um die Aufrechterhaltung einer Friedensordnung: Die Nachkommen müssen als Glieder eines Leibes – der »Welt«, ein Begriff, der ab Kapitel 5.6 in seiner ursprünglichen Weise verwendet wird – untereinander Frieden halten. »Ehehütten, Kriegspfade, Sühnealtäre werden dem Stammesfrieden zuliebe errichtet. Damit es aber mit allen dreien auch noch nach Jahrtausenden seine Richtigkeit behalte, muß der Stamm feiern.« 413 Feiern erhält den gemeinsamen Alltag: »An den Feiern setzte sich die allen gemeinsame Zeit und der allen gemeinsame Raum durch.« 414 Der Feiertag prägt also den Alltag, und nicht umgekehrt: Der Feiertag dient nicht zur Erholung vom Alltag. Der Geschichtsunterricht wiederum spielt sich rein auf der Erkenntnisebene ab und führt zur Anerkennung der Zeitlichkeit innerhalb der Geschichte. Drei Wege bahnt sich nämlich die Feier in unseren Alltag: »Einer zur einzelnen ›Ehe‹ in das Innere der Familien, der zweite auf den Kriegspfad gegen jede Schmälerung des Heldengeistes von außen, der dritte auf den Sühnepfad der Opfer gegen alle Brüche und Zusammenbrüche des Stammesleibes im Verlauf der Zeit.« 415 Es sind also drei Weisen, in denen der Mensch den Feiern als Traject entsteigt: 1) In der Ehehütte: Stammesfeiern sind hier Demonstrationen des Rechten, des ›Echten‹ bzw. dessen, was ein Stamm eben so als

411 412 413 414 415

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 390. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 171. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 171. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 183. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 171.

232 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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›wirklich‹ und ›recht‹ gelten lässt. Im Adjektiv »echt« hat sich der umfassende Sinn des Wortes »Ehe« erhalten, die die immer wiederkehrende Ordnung innerhalb des Stammesleibs erhält. Dieser Feier entsteigt das Traject also als Ehepartner im umfassenden Sinne: als Verantwortlicher der rechten, der ›echten‹ Ordnung (Stämme sind also nicht Zusammenschlüsse von Familien, wie in Anlehnung an Aristoteles immer behauptet wird, sondern bringen Familien erst hervor). 416 2) Auf den Kriegspfaden: Heute manifestiert sich diese Trajicierung vor allem in der Forschung (wenn man »Forschung« nicht mit »Wissen-schaft« verwechselt): Stämme sind der Welt nicht mächtig. »Reiche sind friedlich, weil sie sich mit Himmel und Erde ausgesöhnt haben. Stämme sind kriegerisch, weil ihre Sühnen nie die weite Welt einschließen können.« 417 Stämme sind auf der Suche und wandern, wobei sie sich den äußeren Gefahren des Raumes ohne Besitzstreben stellen. Ähnlich der Forscher, dessen ›Wandern‹ sicherlich einen höheren Organisationsgrad aufweist und vermutlich eher im Innen stattfindet als im Außen: »Die naturwissenschaftlichen Verfahren bauen zwar auf Erfahrung. Aber was ist ihre Erfahrung? Ihre Erfahrung ist bestandene Kriegsgefahr; ihre Erfahrung ist selbst die Frucht eines geschichtlichen Zusammenpralls, eines Kriegspfades und eines gesellschaftlichen Auftrages. Es gibt keine geistlose ›Empirie‹«. 418 Der Wissenanhäufende versucht, reflektierend die Natur zu bezwingen – er bezieht sich auf sie im Indikativ und bezieht sich auf ihre Gegenstände als Plural. »Den Forscher bezwingt die neue Wahrheit gegen seinen Willen. Sie überwältigt ihn.« 419 Der Forscher ›wandert‹ auf dem Weg des Duals. Der Einzelne entsteigt dem ›Fest‹ trajectiv als »Krieger« oder »Forscher«, um den »Stammesgeist« oder das gesellschaftliche Herkommen zu bewähren. 3) Vor den Sühnealtären: »Ein Stamm besteht, wo ein lebendes Geschlecht seine Namen zwischen Vorfahren und Nachkommen bestimmt. Wo das geschieht, bilden sich Herkommen und Sühne, Krieg und Frieden. Herkommen und Friede herrschen, wo die Namen etwas 416 417 418 419

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 171. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 54. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 56. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit, III, 252.

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besagen. Krieg und Sühne werden nötig, wo sie versagen. Krieg und Versöhnung machen aus Feinden Freunde, aus Friedensbrechern Nachkommen.« 420 Auf dem Kriegspfad lässt sich der Stammesgeist nicht vollkommen bewähren. »Denn die Gesellschaftsordnung steht fest, und alle Änderung gilt als schuldhaft und sühnepflichtig.« 421 Durch Opfer müssen die Änderungen gesühnt werden, sonst löst sich der Stamm als Zeitfloß auf. »Jeder Geist muß täglich versühnt, geheilt werden. Seit 450 Jahren hat z. B. der akademische Geist ungezählte Opfer gefordert. Der Leser muß uns nicht für besser als die Wilden halten.« 422 Wie das Spiel im räumlichen Bereich dem Ernst nachfolgt im Sinne von »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, so geht im zeitlichen Bereich die Feier der Arbeit voraus: »Feier soll also das Spiel heißen, das dem Ernst voraufgeht.« 423 Deshalb waren die ersten Kalender Festkalender, denn »Feiertage proklamieren das Wunder, daß ein Leben nicht vom Tode ereilt worden ist.« 424 Wir feiern ein nicht-totzukriegendes Ereignis und eine echte Party lässt tausend Jahre als ein Tag und einen Tag als ein Jahrhundert gelten. Der Alltag orientiert sich so am Feiertag: »Am Feiertag wird der Stamm erzeugt, und zwar gerade im Vivat, dem Toast, ohne den das Mahl ja nicht Tote und Lebende einte, um Familien zu stiften.« 425 »›Die Feiertage erschaffen den Alltag‹ […].« 426 Dieses Gesetz gilt für alle Gemeinschaften, gleichgültig, ob religiös oder weltlich: »Es gilt auch für die Bolschewiki. Ihr Abfall vom Sonntagsgottesdienst ist ihr erregendes Moment. Weil sie nicht am Sonntag früh zur Eucharistie gehen, deshalb bleibt ihnen nichts übrig, als sich am Wochentag kraft GOTT-losigkeit, kraft Revolution als geheilt von der Erbsünde zu erweisen.« 427 Entscheidend ist also, dass als Traject vergangene Ereignisse gefeiert werden: »Die Kalender, die uns anleiten, erfüllen uns mit den alten, 420 421 422 423 424 425 426 427

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 37 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 184. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 44. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 123. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 42. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 172. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 420. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 420.

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den schon ererbten Eigenschaften der Spezies ›Mensch‹ ; Ereignisse hingegen offenbaren unsere neue Eigenart.« 428 Das Traject feiert, auf dass sich etwas wieder ereigne und darin besteht die Bewährung unserer Festkalender: Sie machen unsere Vergangenheit für die Zukunft anschlussfähig. Denn für den Lebenden gilt: »Vergangenheit besiegt Vergänglichkeit. Denn wer seine Vergangenheit ehrt, hat Zukunft.« 429 5.4.2.2 Das Präject und das Rätsel der »Hohen Zeit« Wir sind aber nicht nur Trajecte, sondern auch Präjecte. Feiertage heißen uns, aber auf andere Weise als Hoch-Zeiten: »Und das ist eine Hohe Zeit, in der eine neue Scham erspart wird.« 430 Während Stämme feiern, auf dass sich etwas wieder ereigne, ereignen sich Hohe Zeiten, sodass ich feiere. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden erörtert werden. Um auf eine Kaironomie zu kommen, müssen wir die Vollzahl der Zeiten berücksichtigen und deshalb nach dem Kairos fragen. Die ›griechische‹ Auffassung als reine Gunst des Augenblicks muss hier erweitert werden zur Gunst der geschichtsbewussten Stunde. Dies ist das Ziel dieses Unterkapitels, das wohl das außergewöhnlichste Thema der Dialogphilosophie, die Hohen Zeiten, darstellen will. Beginnen wir also von vorn: »Die Experimentatoren an unserem lebenden Leichnam, die sich ironischerweise Psychologen nennen, verwechseln ihn mit der Uhrzeit.« 431 Wie schon die kurze Skizze zur Geschichte des Zeitbegriffs nahelegt, 432 bewältigt der abstrakte Zeitbegriff nicht die Herausforderung seiner eigenen Zeit. Es handelt sich vielmehr um eine Abstraktion der eigenen Zeit, vom Kairos: dem Zeitsinn. »Die gelehrten Untersuchungen über Zeit, die mir bekannt sind, untersuchen getötete Zeitquanten. Lebende könnten nicht mit der Uhr gemessen werden.« 433 Die geometrisch projizierte Zeit – auch 428 429 430 431 432 433

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 25. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 62. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 492. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 134. Vgl. Kap. 5.1. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 136.

235 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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Kant beschreibt die Zeit analog zur Geometrie 434 – ist totgeschlagene Zeit. In ihr gibt es keinen Kairos mehr: »Dann wird es sinnlos, zu sagen, es sei höchste Zeit, oder etwas sei unzeitgemäß.« 435 Aber gerade die Gegenwart, die der Kairos betrifft, ist völlig anderer Natur als Vergangenheit und Zukunft: Die Gegenwart ist höchste Zeit! »Die Gunst des Augenblicks, der Stunde, des Tages wird immer da verscherzt, wo der Kairos nicht als ruhevolle Gegenwart aus dem Wasserfall des Zeitablaufs emportaucht.« 436 Wer »Jetzt« ausruft, behauptet Gott, Welt und Mensch in Einem: »Denn die Welt geht uns nun als Vergangenheit an, GOTT als Gegenwart, die eigene Person als Zukunft.« 437 Der Sinn für das Jetzt ist zeitschöpferisch: Er fühlt einen ungeschaffenen Rhythmus voraus und hebt ihn aus dem Nichts empor. Auf das Selbst wird hierbei, ob des Imperativs, selbstverständlich verzichtet. 438 Nur der Sinn für die Weichenstellung zwischen lebendem Geschlecht und den Geschlechtern vor und nach dem Einzelnen trifft das anthropologische Anliegen. »Wenn Soziologie von den Völkern redet, so ist sie so lange komisch, wie sie die Lebenden ohne die Toten, die Toten ohne die Ungeborenen beschreiben will. Da das Wort ›erben‹ mit seinen Ableitungen Erblichkeit, Erbfolge von den Biologen oder den Monarchisten monopolisiert wird, so schlage ich das Wort zeitigen vor, um wenigstens den Aufgabenkreis herauszuheben, an dem die Aufklärer mit ihrem erbfolgelosen Verstand vorbeigehen.« 439 Wir müssen also das Rätsel der Hohen Zeit in Bezug auf den

434 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft A 33/B 49 f.: Weil die Zeit eine »Form des innern Sinnes« ist, aber »innere Anschauung« keine Gestalt gibt, muss sie durch Analogien erörtert werden: »und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht […]. Hieraus erhellet auch, daß die Vorstellung der Zeit selbst Anschauung sei, weil alle ihre Verhältnisse sich an einer äußern Anschauung ausdrücken lassen.« Aus diesem Grunde habe ich oben in Kap. 5.1.3 vorgeschlagen, bei Kant nicht von »Zeit«, sondern von »Zeitlichkeit« zu sprechen, da die Zeit selbst nicht thematisiert werden kann, aber genau die Bedeutung von »Zeitlichkeit« hat, die in diesem Beitrag angelegt wird. 435 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 137. 436 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 138. 437 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 138. 438 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 139 f. Vgl. auch Kap. 8: »Das Ich als Faktum«. 439 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 145.

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Alltag ergründen. 440 Was meint Rosenstock-Huessy mit »Hoher Zeit«? Gehen wir es systematisch an: Ein Beispiel für eine »Hohe Zeit« ist die Hochzeit. Sie ist die äußere Gestalt des Zeitpunkts der Liebe im Gegensatz zur Ehe, die den Liebesbund verkörpert. Was ist Liebe? Die Grammatik der Liebe ist vor dem Hintergrund der Darstellungen über die Grammatik in Kapitel 2 schnell skizziert: • Die Liebe überkommt im Imperativ: Im Gegensatz zum bloßen Flirt, tritt sie beschwörend und befehlend auf. Liebe ist also nicht frei, sondern sie befreit, indem sie bindet: Liebe ist verbindlich. • Liebe will nicht besitzen, sondern sich beziehen: Die Liebesbeziehung steht also nicht im Genitiv, sondern im Dativ. Liebe verbindet die Liebenden unter der Respektierung der Anderheit des Anderen. • Sie befreit, indem sie bindet: Sie bindet bei Erwiderung im Kohortativ, in der gemeinsamen Intention zur Gemeinsamkeit. Das ist ihre Bewährung dann im Liebesbund. • Der Numerus des Liebesbunds ist der Dual bzw. der dualgeschwängerte Plural (niemals jedoch ein Kollektiv o. ä.). Die Grammatik beschreibt so die Charakteristika der Liebe: Sie steht im Imperativ, anerkennt den Anderen als Anderen in seinem Geheimnis, befreit, indem sie bindet und steht im Dual. Sie steht also in engem Zusammenhang mit der Zeit. Levinas beschreibt diesen Sachverhalt eindrücklich folgendermaßen: »Nur dadurch, daß wir das aufzeigen, wodurch der Eros sich vom Besitzen und vom Können unterscheidet, können wir eine Kommunikation im Eros zugeben. Er ist weder ein Kampf noch ein Verschmelzen noch ein Erkennen. Man muß seine außergewöhnliche Stellung unter den Verhältnissen anerkennen. Er ist das Verhältnis zur Anderheit, zum Geheimnis, das heißt zur Zukunft, zu dem, was in einer Welt, in der alles da ist, niemals da ist, zu dem, was nicht dasein kann, wenn alles da ist. Nicht zu einem Sein, das nicht da ist, sondern gerade zur Dimension der Anderheit. Da, wo alle Möglichkeiten unmöglich sind, da, wo man nicht mehr können kann, ist das Subjekt noch Subjekt durch den Eros. Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich.« 441

440 441

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 479. Levinas: Die Zeit und der Andere, 59.

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In der Liebe haben wir es mit einem konkreten Zeitbezug zu tun: Das Liebesverhältnis zum Anderen ist also, und darin ist Levinas auch aus dialogphilosophischer Perspektive Recht zu geben, eine Beziehung zu einem Geheimnis: »Die Zukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen.« 442 Wie unten noch deutlich werden wird, hat die Liebe dieses Charakteristikum mit dem Tod gemeinsam: »Dieses Futurum |futur| des Todes bestimmt für uns die Zukunft |l’avenir|, die Zukunft in dem Maße, als sie nicht gegenwärtig ist.« 443 Nur das Futurum des Todes entspricht auch dem Adventus! 444 Der Tod ist reine Zukunft, weil er die einzige Möglichkeit ist. 445 Nur in der Haltung zum Tode gilt: le futur = l’avenir. Aber die Liebe kann dem Tod ein Schnippchen schlagen: »Das Verhältnis zum anderen ist die Abwesenheit des anderen; nicht bloße und einfache Abwesenheit, nicht Abwesenheit des reinen Nichts, sondern Abwesenheit in einem Horizont der Zukunft, eine Abwesenheit, die die Zeit ist. Ein Horizont, in dem sich inmitten des transzendierenden Ereignisses ein persönliches Leben konstituieren kann […].« 446

Angesichts ihrer Grammatik und der Tatsache, dass die Liebe dem Tod – der reine Zukunft ist 447 – ein Schnippchen schlagen kann, macht es also Sinn, dass Rosenstock-Huessy im Kontext der Hohen Zeiten die Liebe thematisiert. Wir kennen ihre Grammatik, aber wie sieht die Bewährung der Liebe aus? Aus Nietzsches »Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen« 448 sekundiert Rosenstock-Huessy: »›Lieben heißt, jemandem eine Scham ersparen.‹« 449 Liebe und Scham hängen also unmittelbar miteinander zusammen: Der Mensch fängt an sich zu schämen in dem Moment, in dem er selbständig wird. 450 Nicht die Sexualität ist die Wurzel der Scham, Levinas: Die Zeit und der Andere, 48. Levinas: Die Zeit und der Andere, 52. 444 Zum Unterschied zwischen Adventus und Futurum, siehe: Kap. 9. 445 Vgl. Levinas: Die Zeit und der Andere, 52. 446 Levinas: Die Zeit und der Andere, 61. 447 Vgl. Levinas: Die Zeit und der Andere, 61. 448 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 274. 449 Rosenstock-Huessy führt diesen Satz fälschlich als Nietzsche-Zitat ein: Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 353. 450 Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 231. 442 443

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sondern die Originalität. Die Scham begleitet den Menschen durch sein ganzes Leben: »Der Schamlose aber ist schon bei Lebzeiten tot. Er lebt in seinem Geschlecht, seiner Geltung, seiner Weltanschauung und seinen Prinzipien.« 451 Unverschämt ist es, sein Leben auf althergebrachte Sitten und Denkmuster zu gründen und sich auf diese Weise seiner Selbständigkeit und Originalität zu entledigen. Im Augenblick des Schämens treten uns Lebenspol und Todespol auseinander: 452 »Originell kann nur der Übergang aus geheim in offenbar wirken. Das aber ist Leben aus Sterben.« 453 Scham geht also mit der aktiven Öffnung für den eigenen Tod einher. Die Öffnung zum Tode kennzeichnet wiederum die Ernsthaftigkeit echter Selbständigkeit. Dieser Zusammenhang bringt uns auf einen Maßstab, der die Scham mit Wirklichkeit in Verbindung bringt: »Nur schamhaft Gesprochenes oder Geschriebenes bringt Frucht, denn nur dies ist im Zusammenhang des Lebendigen in diesem Augenblick stockend aufgebrochen.« 454 Beschämend ist nur Ernstes! Ein Indiz für Rosenstock-Huessys These, dass Räume projizierte Zeiten sind: Nur was schamhaft gesprochen wird, also zeitlich passiert, manifestiert sich als ernst gemeinter Inhalt im Raum. Gemeinschaften spekulieren auf die Scham ihrer Mitglieder: »Feigheit vor dem Feinde wird mit dem Tode bestraft. Das Strafrecht hat hier eine seiner Wurzeln. Wer einen bestimmten Grad von Schamhaftigkeit nicht hat, fällt aus der Gemeinschaft heraus.« 455 Scham hält die Gemeinschaft nämlich zusammen: »Scham ist der Todesschmerz der Gemeinschaft in uns und verhindert unsere vorzeitige Verselbständigung.« 456 Die Scham ist also das Mittel des Gemeinwesens, seine Mitglieder durch den Kollektivplural im Zaume zu halten: Ohne Scham würden der Gemeinschaft mit der Zeit ihre Mitglieder abhanden kommen. In dem Moment, in dem der Mensch selbständig wird, setzt Scham ein und hält ihn trotz seiner Selbständigkeit doch noch ein Stück weit in der Gemeinschaft.

451 452 453 454 455 456

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 232. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 231. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 232. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 237. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 236. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 236.

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Der Seele erste Tat ist aus der Verkrampfung gegen das Sterben, in der die Gemeinschaft mittels Scham- und Ehrgefühl alle Mitglieder festkettet, herauszuspringen: nicht weil man zu feige ist, sondern weil man zu sehr liebt. »Diese Selbstüberwindung ist es, durch die in den Menschen göttliche Kraft fährt. Kraft ihrer vermag er nämlich Neues zu schaffen. Aus Bereichen, die von der Gemeinschaft gemieden werden wie der Tod, erneuert der Selbstüberwinder die Wirklichkeit. Und damit erst wird die Wirklichkeit vollständig.« 457

Die Scham des Selbständigen hält ihn in der Gemeinschaft. Der Selbständige aber – der Liebende ist immer selbständig – bedeutet hingegen immer öffentliches Ärgernis. 458 Der wirkliche Mensch spielt nicht schamhaft auf seinen althergebrachten Spielplätzen. Er überwindet sich selbst und zieht so den Tod der gemeinschaftlichen Schande vor, 459 weil er zu sehr liebt: »Die Sittlichkeitsapostel ereifern sich ja über nichts anderes als über die Liebe.« 460 Denn es ist der Liebende, der aus dem Wahn der kollektiven Einheit heraus will: »Wer sich sehnt, wer der Ergänzung bedarf, tut das, weil er entzweigesprungen ist. Er ist halb geworden: dubitare, zweifeln […], beschreiben dies Inzwei-Stücke-Springen des Menschen, der seine andere Hälfte suchen muß. Der Erwachsene, der liebesfähig, zukunftsfähig, heiratsfähig werden soll, kann es nur werden, wenn er zu zweifeln vermag. Dabei wird die Zeit ihm als ein Ringkampf zwischen seiner Gewesenheit und seinem Werdebild bewußt.« 461

Der Liebende ist also zunächst Freier: Zum ersten Mal ganz im Einklang mit sich selbst – er sucht ja Bestätigung für seine Liebe aus allen Teilen seines Wesens –, begibt sich der Freier auf eine Wanderschaft, zu lieben und nicht zu besitzen: »Und in einem mächtigen Zusammenklang erschließt sich ihm nun auch die Welt. Er eignet sie sich nun erst recht von innen an. Die Welt wird seine Welt. Die wirkliche Welt des Wanderers ist die freiwillig von ihm bejahte Welt.« 462

457 458 459 460 461 462

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 238. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 339. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 236. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 339. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 141.

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Die Sehnsucht nach Ergänzung führt also in die Welt hinaus und sucht Weggefährten: »Verbrüderung, Brüderlichkeit wäre daher der zutreffende Ausdruck für die eigentümliche Kraft des Freiers, die Welt von innen her zusammenzustimmen.« 463 Rosenstock-Huessys Losung ›Lieben heißt, jemandem eine Scham ersparen‹ ist also wörtlich gemeint: Liebe beschwört den Geliebten, sodass dieser sich aus der abstrakten und sittenstrengen Gemeinschaft in den Dual des Liebesbundes begibt. Im Liebesbund gibt es keine Scham, die Originalität des Anderen wird ja geliebt: Die eingangs skizzierte Grammatik der Liebe manifestiert sich in der sozialen Lebenswirklichkeit am sichtbarsten also im Jemandem-eineScham-ersparen. Die Beschwörung des Liebesbunds in seiner Gegenseitigkeit im Kohortativ bewährt ihn durch die Zeit. 464 Und wie beschwören die Liebenden und Geliebten ihren Liebesbund? Indem sie sich gegenseitig beim rechten Namen nennen: »Nennen bedeutet immer lieben.« 465 Im Liebesbund, in dieser Hoch-Zeit, entsteht also etwas Neues: eine neue Sprache. Der Name weist immer über mein Kennen hinaus: »Werde ich geliebt, so erfahre ich mich als beides zugleich, als schon bekannt und noch unbekannt, weil ja alle Liebe wachsen soll. Ich erkenne mich als vollständig und doch unvollständig.« 466 Und wer nicht liebt, der definiert. »Den Grat zwischen materialistischem Fetisch und idealistischem Götzen (Idee), zwischen dem geistigen Tod der Masse und dem des Intellektuellen wandelt jede Seele, die ihrer Liebe vertraut und deshalb das Kind beim rechten Namen nennt.« 467 »Freiheit, Freite, Freundschaft, Frieden gehen im Deutschen alle auf den in ›Freitag‹ steckenden Namen der Freya, der Göttin der Liebe, zurück. ›Frei‹ ist liebesfähig, ›Freund‹ ist liebend, der ›Freier‹ macht lieben, ›Friede‹ ist der von einer Liebe einverleibte Raum. Daher kann man nur auf Freiersfüßen mündig werden.« 468

Die Begeisterung gerinnt schließlich zu den Sprachen der Völker, deren Erben wir sind. »Sprachen sind Erbschaften, in denen die Hochzeiten des Menschengeschlechts ausgesprochen bleiben.« 469 463 464 465 466 467 468 469

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 142. Vgl. Kap. 2.5.3. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 133. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 25. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 24. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 31. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 150.

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Die ›Hochzeit‹ ist die äußere Gestalt als Zeitpunkt der Liebe. »Die Hochzeit ist heute verengt zum Heiratstag zweier Liebenden. Aber Hochzeiten sind öffentliche Angelegenheiten.« 470 ›Hochzeit‹ ist also nicht auf den Liebesbund zwischen Mann und Frau reduziert, sondern meint hier jede »hohe Zeit«. »Hohe Zeiten« sind die Zeitpunkte, in denen sich die Liebe nach außen darstellt, indem sie zur Teilnahme anregt, wie es eben auch heutzutage noch auf Hochzeiten geschieht. 471 Die Hohe Zeit unterscheidet sich vom Alltag: Die Hohe Zeit ereignet sich, sodass gefeiert wird. Die alltägliche Gesellschaft geriert sich als mechanische Organisation. Der Liebesbund ist durch die Polarität des Dual geprägt, in ihm offenbaren sich die gemeinschaftsbildenden Kräfte, der wandernde Dual. Die Gesellschaft des Alltags ist also eine Phase im Ablauf der gemeinschaftsbildenden Kräfte: Sie ist der abgekühlte Zustand des Alltags und muss durch Hohe Zeiten immer wieder eingeschmolzen werden: »Nicht irgendeine bessere Organisation heilt die Erstarrung, sondern nur die Freiheit des noch nicht Organisierten, welches in den Alltag mit mehr als Organisation, mit organischer Zeugungskraft nämlich, einbricht.« 472 In diesen Hohen Zeiten steckt also die Energie zu immer neuer Epochenbildung. Organisieren wir unser Organisiertes immer nur weiter, verwalten wir bloß Vergangenes in seiner Erstarrtheit durch die Zeit: »Und der Breiklumpen eines ›-Is-mus‹, einer ›Weltanschauung‹, ist alles, was [wir] von den Jahrzehnten der Jugend, den Jahrhunderten der Geschichte auf der Schulter mit [uns] nehmen.« 473 So durch seine großartige Herkunft angespannt, setzt er den hohen Maßstab der Jahrtausende seiner Ahnen für seine Liebe an, sodass er nicht zu billig heiratet: »Wer Homer und die Bibel zu Ahnen hat, würde unter seinem Stande heiraten, wählte er etwas so Kurzatmiges wie den Pazifismus oder Vegetarismus für seine künftige Liebe.« 474 Die höchsten Zeiten seiner Ahnen sind der Maßstab des Jüng-

470 471 472 473 474

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 270. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 270. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 272. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 494. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 494.

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lings. Das wird erst im Wahn des Ismus klar. Im Rückblick auf den eigenen Wahn stellen sich die Weltanschauungen und Ismen also als Katalysatoren dar, zur Erhöhung der Zeit bis es höchste Zeit wird. Aber wehe dem, der niemals seine Weltanschauung hinter sich lassen kann! In der Hohen Zeit sind Nennen und Lieben ein und dasselbe. Dies erfordert die unerbittliche gegenseitige Hingabe. Begriffe hingegen sind unverbindliche Vorbenennungen: »Wer nicht so heiratet, daß seine Kinder eine noch nie dagewesene Verkörperung der Menschenrasse darstellen, der verharrt im Inzest. Denn er überantwortet ja seine Liebe und die Früchte seiner Liebe einem schon vorher dagewesenen Namen.« 475 In der Hohen Zeit verkörpert sich also immer etwas noch nie Dagewesenes, das über das eigene Leben hinausgeht und benannt werden will. 476 Die Hohe Zeit markiert den »Anfang eines neuen Sprachbundes« 477. Heute haben wir die Gewalt über die Zeiten verloren. »Über die Räume aber haben wir alle Gewalt und mehr, als uns gut ist. So beginnt denn das Dritte Jahrtausend genau dort, wo das Zweite endet: Mit dem Gefühl des Endes der Zeiten – ›A la recherche du temps perdu‹ findet sich der moderne Romanleser.« 478 Im Dritten Jahrtausend muss die Zeit vollzählig werden: 479 »Jede Zeit muß auf ihren Raum bezogen werden, um dessentwillen sie eine bestimmte Zeit wird.« 480 Heutzutage befinden sich alle Religionen und Länder zum ersten Mal in einem einzigen gemeinsamen Zeitraum. 481 Wir wissen jetzt, dass des Menschen Heimat nicht die Räume, sondern die Zeiten sind. Neben aller Autonomie, Ökonomie, Metanomik, Bionomik und Theononomie brauchen wir also auch die Kaironomie, das »Achten auf den rechten Zeitpunkt.« 482

475 476 477 478 479 480 481 482

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 364. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 478. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 508. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 338. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 342. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 486. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 486. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 488.

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

Sieht ein Autor ein ›neues Zeitalter‹ heraufziehen oder fordert sogar dessen Anbruch, drängt sich immer der meistens berechtigte Verdacht auf, jemand wolle einem etwas verkaufen. Zeitdiagnostisch kann man wohl nicht höher greifen – und deshalb nicht krasser danebenliegen – als mit der Proklamation eines neuen Zeitalters. Trotzdem behaupte ich, dass das nächste Zeitalter ein Zeitalter der Kaironomie sein wird. Warum kann ich das behaupten? Weil alle Zeitalter, die mit der Gegenwart des Kairos nicht rechnen können oder wollen, bloß Spielarten des jahrtausendealten gegenwärtigen Zeitalters der verschiedenen Weltanschauungen sind. Der Verstand und das natürliche Denken können »Heute« nicht denken. »Ich aber bleibe der Gefangene des Worts zu seiner Zeit und Stunde.« 483 Auch wenn die Menschheit, die mit ihrer wissenschaftlich-technisch eingerichteten ›Leonardo-Welt‹ die eigentlich nicht totzukriegende ›Natur‹ unter ihrer Kontrolle glaubt, 484 bis zu ihrer Selbstzerstörung weiter rationalisiert: Spätestens der letzte Atemzug unseres Geschlechts wird eine Antwort auf die Forderung des Augenblicks sein. Das wäre aber ein Paradebeispiel schlechten Timings! Es ist also wünschenswert, dass die Menschheit vorher ihre Rationalität zur Raison bringt. Hierbei kann die im Folgenden vorgestellte Orientierungsleistung der Kaironomie wertvolle Dienste zeitigen. Das Zeitalter der Kaironomie wird kommen. Ich kann nur nicht sagen, wann genau. Es wird das nächste Zeitalter sein, da es das erste post-wahnzeitliche Zeitalter ist. Wir dürfen nämlich angesichts der Zeiten nicht die Orientierung darüber verlieren, in welcher Zeit wir uns befinden. Wir müssen die Zeiten, aus denen wir unsere Räume projizieren, in Relation zueinander bringen: Hierbei spielt, wie bereits erörtert wurde, der Imperativ der Gegenwart die erste Geige. Es geht um Orientierung und Relevanzbemessung in den Zeiten und Räumen, für die wir offen bleiben müssen. Als Standortbestimmung dient unser Maßstab IV: Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere? Als Frage verweist dieser Maßstab von dem aktuellen Standpunkt (Traject oder Präject) auf die jeweils andere Zeit, obwohl wir als Traject akut blind für das Präject und umgekehrt sind. Die Maßstäbe sind ein einfacher Weg dafür, die berühmten unbekannten Unbekannten miteinzubeziehen. 483 484

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 489. Vgl. Mittelstraß: Leonardo-Welt, 171 f.

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5.5. Exkurs: Warum die Zeitinterpretation unsere Weltanschauung bestimmt: Der quantentheoretische Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit innerhalb der Physik »Der liebe Gott würfelt nicht«: Als Albert Einstein sich 1927 auf dem Solvay-Kongress mit physikalisch zwingenden Argumente konfrontiert sah, weigerte er sich auch nur einen Jota von diesem spinozistisch anmutenden Grundsatz abzuweichen. 485 Die Ironie der Geschichte: Einstein selbst verhalf mit seiner kühnen Lichtquantenhypothese im Jahre 1905 ausgerechnet der Theorie zum Durchbruch, die von nun an seine Weltanschauung zu erschüttern drohte: der Quantentheorie. Noch entschiedener lehnte offenbar Max Planck die Quantentheorie ab, obwohl er sie doch erst aus der Taufe hob: Der historische Beginn der Quantenphysik datiert auf das Jahr 1900, als Max Planck erkannte, »dass elektromagnetische Strahlung – und damit auch Licht – immer in gleichen Portionen […] emittiert und/oder absorbiert wird.« 486 Einstein gelang es mit seiner Lichtquantenhypothese – für die er auf Plancks Quantenhypothese zurückgriff –, die experimentellen Befunde des äußeren photoelektischen Effekts zu erklären: Strahlungsenergie werde portionsweise, also in Form von Photonen transportiert. Einsteins erfolgreiche Anwendung der Planck’schen Quantenhypothese führte schließlich zur Einführung einer neuen, bahnbrechenden Naturkonstanten: »des Planck’schen Wirkungsquantums h.« 487 Einsteins erfolgreiche Anwendung der Lichtquantenhypothese verlieh Plancks Quantenhypothese einen ›realen‹ Charakter, was Planck offensichtlich nicht goutierte: Im Antrag aus dem Jahre 1913, seinen Freund zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin zu machen, findet sich folgende Einschätzung Einsteins durch Planck: »Daß Einstein in seinen Spekulationen gelegentlich auch einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie zum Beispiel in seiner Lichtquantenhypothese, wird man ihm nicht allzusehr anrechnen dürfen. Denn ohne 485 486 487

Vgl. Busche: Nachwort zu Quantentheorie und Philosophie, 122. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 44. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 276.

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einmal ein Risiko zu wagen, läßt sich auch in der exaktesten Wissenschaft keine wirkliche Neuerung einführen.« 488

Beide Wissenschaftler begründeten eine revolutionäre neue Richtung der Physik und beide lehnten sie zeitlebens mit Vehemenz ab. Beide erhielten für ihre Arbeiten zur Quantentheorie den Nobelpreis für Physik (Planck 1919, Einstein 1922).

5.5.1. Das Problem der Quantentheorie: eine geschichtliche Skizze Was ist geschehen? »Albert Einstein und jene Kollegen, die seine Meinung teilten, hatten keine Probleme, die Quantenphysik zu verstehen, sie konnten sie nur nicht akzeptieren.« 489 Es deutet alles daraufhin, dass weder Planck, noch Einstein – später auch Erwin Schrödinger, der mit seiner Gleichung eine konsistente Deutung der Quantenphysik überhaupt erst ermöglichte 490 – ihre Weltanschauung bedroht sahen. Das scheinen die beide Initiatoren der Quantenphysik selbst so gesehen zu haben. So formuliert Planck im Rückblick: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und die Zitiert nach: Sexl, Schmidt: Raum – Zeit – Relativität, 183. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 168. 490 Später versuchte Schrödinger die Quantenphysik mit seinem berühmten Katzengedankenexperiment ad absurdum zu führen: »Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Lauf der einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais eine Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die ψ-Funktion [das ist Schrödingers Wellengleichung für die stationären Wellen in der Umgebung eines Atomkerns, siehe unten!] des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.« Heute werden solche fachausdrücklichen »Katzen-Zustände« im Mikrobereich experimentell untersucht, vgl. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 211. 488 489

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heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.« 491

Einstein drückt sich diesbezüglich in einem Brief 1944 an seinen Freund Max Born etwas expliziter aus: »In unserer wissenschaftlichen Erwartung haben wir uns zu Antipoden entwickelt. Du glaubst an den würfelnden Gott und ich an volle Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objektiv Seiendem, das ich auf wild spekulativem Wege zu erhaschen suche. Ich glaube fest, aber ich hoffe, dass einer einen mehr realistischen Weg bezw. eine mehr greifbare Unterlage finden wird, als es mir gegeben ist. Der große anfängliche Erfolg der Quantentheorie kann mich doch nicht zum Glauben an das fundamentale Würfelspiel bringen, wenn ich auch wohl weiß, dass die jüngeren Kollegen dies als Folge der Verkalkung auslegen.« 492

Um was für eine Weltanschauung handelt es sich dabei aber eigentlich? Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen werden, indem die quantenphysikalische Überwindung der physikalischen Abstrahierung von der Zeit – die in Kap. 5.1.1 herausgearbeitet wurde – dargestellt wird. Denn die physikalische Abstrahierung von der Zeit zu einer Variable t oder in eine Raumzeit wird auch innerhalb des Diskurses der Physik problematisiert: In der Quantentheorie ergeben sich ganz konkrete Probleme für das abstrakte Zeitgerüst der klassischen Physik. Wie in diesem Exkurs gezeigt wird, bekommt Rosenstock-Huessys Auffassung über den Umgang mit der Zeit unerwarteten Flankenschutz: In Theorie der Quantenschleifen-Graviation, auch LoopTheory genannt, die als aussichtsreichster Konkurrenz-Ansatz zur bekannteren Stringtheory gilt, um die Einsteinsche Gravitation mit der Quantentheorie zu vereinheitlichen, findet nichts weniger als ein Paradigmenwechsel über die Zeitauffassung innerhalb der Physik statt. Die Theorie der Quantenschleifen-Gravitation bestimmt die Einsteinsche Raumzeit nicht als Hintergrund, sondern als auf mikroskopischer Ebene erst entstehende. Sie ist also etwas Dynamisches. Diese sogenannte Hintergrundunabhängigkeit der Quantengravitation ist ein Ansatz zur Problematisierung der Zeit, der dem dialogphilosophischen Ansatz verblüffend ähnelt.

Planck: Wissenschaftliche SelbstBiographie, 22. Zitiert nach Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 51 f. 491 492

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Bevor wir auf diesen Ansatz zurückkommen, wird im Folgenden anhand eines geschichtlichen Abrisses das konkrete Problem der Quantentheorie skizziert: Der Ausgangspunkt der Quantentheorie hat mit einem Phänomen zu tun, das auf den ersten Blick gar nicht zum zentralen Bereich der Atomphysik zu gehören scheint: »Irgendein Stück Materie, das erhitzt wird, beginnt zu glühen, es wird rot- oder schließlich weißglühend bei hohen Temperaturen. Die Farbe hängt nicht sehr stark von der Oberfläche des Materials ab, und für einen schwarzen Körper hängt sie sogar allein von der Temperatur ab.« 493 Die Strahlung, die durch einen solchen schwarzen Körper ausgesandt wird, ist also ein geeignetes Objekt physikalischer Untersuchungen und sollte eigentlich zu einfachen Erklärungen führen. Doch alle herkömmlichen Erklärungen brachten ernsthafte Schwierigkeiten mit sich: »Das klassische Gesetz für das Strahlungsspektrum schwarzer Körperer [sic!] macht die empirisch falsche Vorhersage, dass ein schwarzer Körper bei Erhitzung für hohe Frequenzen Strahlung mit unbegrenzt anwachsender Intensität aussenden müsste (›Ultraviolett-Katastrophe‹), was der Beobachtung widerspricht.« 494 Als Max Planck 1895 versuchte, das Problem von der Strahlung auf die Ebene des strahlenden Atoms zu verschieben, ergab sich eine Vereinfachung der Interpretation der empirischen Tatsachen, wobei das grundlegende Problem aber bestehen blieb. Planck gelang es, die Messungen des Spektrums der Wärmestrahlung in einfachen mathematischen Formeln darzustellen: Das Planck’sche Gesetz der Wärmestrahlung. Diese Formel konnte er leicht in eine Aussage über das strahlende Atom übersetzen, wobei ihm auffiel, dass das strahlende Atom seine Energie nicht stetig ändern, sondern nur in einzelnen Energiequanten aufnehmen kann, als könnte es, »nur in bestimmten Zuständen oder […] in diskreten Energiestufen existieren.« 495 Planck löst dieses Problem mit seiner Quantenhypothese, die besagt, dass ein schwarzer Körper die Strahlungsenergie nur portionsweise, also in Form von Quanten, freisetzt. Die Veröffentlichung der

493 494 495

Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 3. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 276. Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 4.

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Planck’schen Quantenhypothese 1900 begründete die neue Quantenphysik. Diese ließ sich allerdings nicht ohne weiteres mit den Vorstellungen der klassischen Strahlungslehre versöhnen. Albert Einstein schließlich fand bald darauf Probleme, auf die sich die Planck’sche Hypothese anwenden ließ. Die diesbezüglichen Experimente zeigten, »daß die Energie der ausgesandten Elektronen nicht von der Intensität des Lichtes abhängt, sondern nur von der Farbe oder, genauer gesagt, von der Frequenz oder der Wellenlänge des Lichtes.« 496 Diese Tatsache ließ sich nicht mit der früheren Strahlungstheorie deuten, aber Einstein konnte zeigen, »daß man dieses Verhalten der festen Körper verstehen konnte, indem man die Planck’sche Quantentheorie auf die elastischen Schwingungen der Atome im festen Körper anwandte.« 497 Einstein erklärt den äußeren photoelektrischen Effekt durch die Annahme, dass die Strahlungsenergie nur portionsweise, also in Form von Photonen, transportiert werden kann. »Treffen nun Energiebündel einheitlicher Größe auf Elektronen, so geben sie diesen jedesmal die gleiche Energiemenge und damit die gleiche Geschwindigkeit mit. Intensiveres Licht bedeutet lediglich, daß mehr Lichtquanten pro Fläche auftreffen, aber die Energie der Quanten ändert sich nicht.« 498 Mit dieser sog. Lichtquantenhypothese verhilft Einstein der von ihm auch später noch als »Quantenspringerei« 499 abgelehnten Quantentheorie zum Durchbruch. »Dies führt zur Einführung einer neuen Naturkonstanten, des Planck’schen Wirkungsquantums h.« 500 Diese bis dato unbekannte Konstante zerstörte das bis dahin gültige Bild der elektromagnetischen Strahlung: »Bei gegebener Wellenlänge konnte Energie immer nur in ganzzahligen Vielfachen des Produkts dieser Konstante mit der Frequenz der Strahlung ausgesandt oder absorbiert werden.« 501 Die Entdeckung des Planck’schen Wirkungsquantums führt zur Quantelung vieler physikalischer Größen, die dann nur noch ›diskrete‹, d. h. bestimmte Werte annehmen können: Licht zum Beispiel wird gequantelt, indem es von einem Atom aufgenommen oder abge-

Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 6. Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 6. 498 Röthlein: Schrödingers Katze, 22. 499 Vgl. Busche: Nachwort zu Quantentheorie und Philosophie, 122. 500 Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 276. 501 Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 160. 496 497

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geben wird. Das jeweilige Energiepaket ›Photon‹ kann dann nur in »Quanten bestimmter Größe auftreten.« 502

Wir werden sehen: Dies hat auch Auswirkungen auf das Verständnis des abstrakten physikalischen Zeitverständnisses (auf die sog. PlanckZeit kommen wir unten noch zu sprechen). Das zentrale Problem ist, dass Licht sich einerseits als Welle verhalten kann, gleichzeitig aber auch als Teilchen bestehen muss. Dieser Widerspruch durchzieht die Physik bis heute und die zahlreichen Quantentheorien stellen Versuche dar, diesen Dualismus – von dem wir heute wissen, dass er nicht nur für Licht, sondern für alle Teilchen im mikroskopischen Bereich gilt 503 – richtig zu deuten. Bereits 1897 entdeckte Joseph John Thomson das Elektron, sodass sich die Frage nach dem Aufbau des Atoms stellte: »Experimentell war sichergestellt, dass Atome im Grundzustand elektrisch neutral und (meist) kugelförmig sind. J. J. Thomson entwarf daher ein Atommodell, wonach die Atome positiv geladene Kügelchen sind, in denen die negativ geladenen Elektronen stecken. Positive und negative Ladung sollten einander gerade kompensieren, sodass das ganze Atom neutral wäre. Dieses Thomson’sche Modell wird manchmal sehr anschaulich als ›Rosinenkuchen-Modell‹ bezeichnet.« 504

Thomsons Rosinenkuchen-Modell konnte zwar die Stabilität der Atome darstellen, aber hatte Probleme das empirisch hinlänglich bekannte Linienspektrum des Wasserstoffs zu erklären. 1911 leitete Ernest Rutherford aus seinen Experimenten über den Durchgang von α-Strahlen durch Materie sein Atommodell ab: »Das Atom besteht aus einem Atomkern, der positiv elektrisch geladen ist und fast die ganze Masse des Atoms enthält, und aus Elektronen, die um den Atomkern kreisen, ähnlich wie die Planeten um die Sonne. Die chemische Bindung zwischen Atomen verschiedener Elemente wird erklärt als eine Wechselwirkung zwischen den äußeren Elektronen der benachbarten Atome.« 505

Röthlein: Schrödingers Katze, 20. Vgl. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 168. 504 Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 172. 505 Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 7 f. 502 503

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Der Atomkern hat also unmittelbar erst mal nichts mit der chemischen Bindung zu tun. Er bestimmt das chemische Verhalten des Atoms nur indirekt durch seine elektrische Ladung. Doch wie kommt diese enorme Stabilität des Atomkerns zustande? Nach dem Rutherfordschen Atommodell müssten die den positiv geladenen Kern umkreisenden negativ geladenen Elektronen Strahlungsenergie abgeben. Die Atome würden dann aber instabil (was aber nicht der Fall ist). Dieses Paradox kann das Rutherfordsche Atommodell nicht erklären. Eine Erklärung lieferte 1913 Niels Bohr, indem er das Planck’sche Wirkungsquantum auf das Rutherford’sche Atommodell anwandte: »Wenn das Atom seine Energie nur um diskrete Energiebeträge ändern kann, so muß das bedeuten, daß das Atom nur in diskreten stationären Zuständen existieren kann, deren energieärmster eben der ›normale‹ Zustand des Atoms ist. Deshalb wird das Atom nach irgendeiner Art von Wechselwirkung schließlich immer wieder in diesen Normalzustand zurückfallen.« 506 Bohr postuliert also ein ›Springen‹ der Elektronen bei Aufnahme bzw. Abgabe von Strahlungsquanten auf Bahnen, auf denen sie strahlungsfrei kreisen. Wenn die Elektronen auf ihren Bahnen hin- und her wechseln, nehmen sie entweder Energie auf (wenn sie von innen nach außen springen) oder sie geben Energie ab (wenn sie von außen nach innen springen). »Die Differenz zwischen den Energieniveaus der einzelnen Bahnen solle dann gerade jeweils einem Energiequant entsprechen. Ein Atom, oder genauer gesagt, seine Elektronen, können also nur Licht ganz bestimmter Frequenz aufnehmen und abgeben.« 507 Das Modell erklärt also viele Beobachtungsdaten und bildet darüber hinaus auch den theoretischen Hintergrund des heutigen Periodensystems der Elemente, »steht aber in einem ungelösten Widerspruch zur Elektrodynamik.« 508 Auch bleibt die strahlungsfreie Kreisbewegung der Elektronen unverstanden, »überhaupt wird fraglich, ob Teilchen sich noch auf klassischen Bahnen bewegen«. 509 »Das Bohr’sche Atommodell, in dem Elektronen wie Planeten auf bestimmten Bahnen um den Atomkern kreisen, ist eigentlich absurd! Das Wasserstoffatom wäre ein Scheibchen und keine Kugel, die ganze Konstruktion wäre fragil, dass sie die Festigkeit der Materie niemals erklären könnte. 506 507 508 509

Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 8. Röthlein: Schrödingers Katze, 24. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 276. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 277.

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Aber es ist das letzte mechanistische Atommodell, das man noch ›verstehen‹ kann. Also bleibt es in der allgemeinen Vorstellung weiterhin als Atommodell schlechthin gültig.« 510

Louis de Broglie zeigte 1924, »daß eine Materiewelle in derselben Weise einer Bewegung des Elektrons korrespondieren konnte, wie die Lichtwelle der Bewegung eines Lichtquants korrespondiert.« 511 Nach dem Bohrschen Atommodell dürfen Elektronen den Atomkern nur auf Bahnen umkreisen, deren Bahndrehimpuls ein ganzzahliges Vielfaches vom Planck’schen Wirkungsquantum h ist. Das bedeutet aber andererseits auch, dass die Umlaufbahn des Elektrons ein ganzzahliges Vielfaches der Wellenlänge des Elektrons sein muss. Wellen haben demnach also nicht nur Teilchencharakter, sondern Teilchen haben auch Wellencharakter. De Broglie schlägt also vor, »(gebundene) Elektronen und andere Teilchen als stehende Wellen mit diskreten Frequenzen zu verstehen.« 512 Noch im Jahre 1925 war die Vorstellung von einer Materiewelle eine nebulöse Vorstellung. Das änderte sich, als Erwin Schrödinger daranging, eine mathematische Wellenfunktion zu formulieren, die sowohl das Teilchen- als auch das Wellenverhalten der Elektronen beschreiben konnte. Hierbei musste er feststellen, »daß es sich doch nicht um reale Wellen im Raum handelte, sondern um eine komplizierte Form von Schwingungen in einem imaginären mathematischen Raum. Jedes einzelne Teilchen wird durch eine Wellengleichung im

Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 172. 511 Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 13. 512 Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 277. Es handelte sich hierbei um eine ähnliche Theorie, wie sie später David Bohm im Jahre 1952, offenbar in Unkenntnis der Theorie de Broglies, formulierte: In der Bohmschen Mechanik bewegen sich Teilchen auf Bahnen, die durch die Wellenfunktion »geführt« werden. Diese deterministische Quantentheorie wird als »De-Broglie-Bohm-Theorie« bezeichnet. Bohm glaubte also offenbar, dass hinter dem merkwürdigen Verhalten der gequantelten Teilchen doch eine geheime Art der Verbundenheit »in einem tieferen Realitätsbereich« steckt. Bezeichnenderweise beschäftigte sich David Bohm neben seinen Arbeiten im Bereich der QuantenPhysik auch mit der Entwicklung eines Dialog-Verständnisses. Angesichts der »Quantenspringerei«, derer er in seinem deterministischen Denkansatz Herr werden will, ist es vielleicht gar nicht verwunderlich, dass Bohm auf die Gefahr der Fragmentierungstendenz von Reflexionsakten aufmerksam wurde, die er in seinem Dialog-Verständnis darlegt. Vgl. Sandtmann: Die DialogVision von David Bohm. Denkmustern auf den Grund gehen. Heidelberg 2018. 510

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dreidimensionalen Phasenraum dargestellt. So benötigen zwei Teilchen sechs Dimensionen, drei Teilchen neun und so weiter.« 513 Schrödinger gelang es, ein Atommodell zu formulieren, welches nicht mehr auf der Vorstellung basierte, dass die Elektronen auf einzelnen Schalen den Atomkern umrundeten, wie beim Bohrschen Modell. In Schrödingers Atommodell befindet sich der Atomkern »im Mittelpunkt eines Feldes stehender Wellen.« 514 »Stehende Wellen«, Das kennen wir im Alltag von Saiteninstrumenten: Zupft man eine Saite in der Mitte, beginnt sie zu schwingen, so dass der Bauch der Welle in der Mitte ist. »Drückt man die Saite in der Mitte nieder, erzwingt man dort einen Wellenknoten und erzeugt die nächsthöhere Oberschwingung […]. Es gibt sogar noch weitere Oberschwingungen. Die aber immer unwahrscheinlicher und schwächer werden, wenn man die Grundschwingung angeregt hat.« 515 Analog dazu kann man sich auch Schrödingers Elektronenwellen im Atom vorstellen, mit dem grundlegenden Unterschied, dass die Ladungswolken, die den Atomkern umgeben, nicht zweidimensional, sondern dreidimensional schwingen. »Die Grundschwingung hat die Form einer Kugel um das Zentrum, die nächste Oberschwingung ist keulenförmig mit je zwei gegenüberliegenden Keulen, die nächste besitzt vier Keulen, weitere Oberschwingungen haben schwierigere Muster.« 516 Max Born schließlich gelang eine neue Deutung von Schrödingers Gleichung: Die Stärke der Welle an einem Punkt im Raum ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen an diesem Punkt anzutreffen. »Wo genau sich also beispielsweise ein Elektron in einem bestimmten Augenblick befindet, wird man nie mit Sicherheit sagen können, aber die Wellenfunktion erlaubt es, die Wahrscheinlichkeit dafür zu berechnen, es bei einem Experiment an einem bestimmten Ort anzutreffen.« 517 Die präzise mathematische Formulierung der Quantentheorie ging also einerseits auf Bohrs Korrespondenzprinzip zurück (wobei der Begriff der Elektrobahnen aufgegeben werden musste bzw. nur im

513 514 515 516 517

Röthlein: Schrödingers Katze, 49. Röthlein: Schrödingers Katze, 49. Röthlein: Schrödingers Katze, 50. Röthlein: Schrödingers Katze, 50. Röthlein: Schrödingers Katze, 51.

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Grenzfall großer Bahnen angenähert aufrechterhalten konnte). »So ergab sich von selbst die Idee, daß man die mechanischen Gesetze nicht niederschreiben solle in Form von Gleichungen für die Orte und Geschwindigkeiten der Elektronen, sondern von Gleichungen für die Frequenzen und Amplituden […].« 518 Andererseits ging die Formulierung der Quantentheorie auf de Broglies Vorstellung der Materiewellen zurück, welche Schrödinger als Wellengleichung für die stationären Wellen in der Umgebung eines Atomkerns aufschrieb. »Es gelang ihm, im Frühjahr 1926 die Energiewerte der stationären Zustände des Wasserstoffatoms als Eigenwerte seiner Wellengleichung abzuleiten, und er konnte allgemeine Vorschriften dafür angeben, wie man gegebene klassische Bewegungsgleichungen in entsprechende Wellengleichungen – allerdings in einem abstrakten mathematischen Raum, nämlich in einem mehrdimensionalen Konfigurationsraum – übersetzen kann.« 519 Mit Born wurden die elektromagnetischen Lichtwellen nicht als wirkliche Wellen, sondern als Wahrscheinlichkeitkeitswellen interpretiert, »deren Intensität an jedem Punkt bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Lichtquant von einem Atom an dieser Stelle absorbiert oder eventuell emittiert werden kann.« 520 Die Wahrscheinlichkeitswelle war ein völlig neuartiger Begriff in der Physik. Sie bedeutet so etwas wie eine Tendenz zu einem bestimmten Geschehen. Heisenberg bringt diese Qualität mit dem aristotelischen Potentia-Begriff in Verbindung: »Sie führte eine merkwürdige Art von physikalischer Realität ein, die etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit steht.« 521 Damit aber nicht genug der Merkwürdigkeiten! Denn auch die Quantenmechanik hat ein ganz konkretes Maßstabs-Problem: In der klassischen Physik lässt sich die Welt beschreiben, wenn man für jedes Objekt für einen Augenblick Ort und Geschwindigkeit v ermittelt »Nach Newtons Trägheitsgesetz sind damit die weiteren Bewegungen und auf diese Weise der Fortgang des Universums genau festgelegt.« 522 Wir kennen dies als Kausalgesetz von Ursache und

518 519 520 521 522

Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 15. Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 15 f. Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 17. Heisenberg: Die Geschichte der Quantentheorie, 18. Röthlein: Schrödingers Katze, 52.

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Wirkung. Auf der mikoskopischen Ebene der Quanten verhält sich dies aber anders. Vergegenwärtigen wir uns hierfür Heisenbergs Gedankenexperiment, das schließlich zur Entdeckung seiner berühmten ›Unschärferelation‹ führte: »Angenommen, ich will den Ort und die Geschwindigkeit eines Elektrons ganz genau messen. Ich beschließe, dazu ein sehr gut auflösbares Mikroskop zu verwenden. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß ich das Elektron mit einem Lichtstrahl beleuchte, damit ich es sehen kann. Im Grunde genügt dazu natürlich schon ein einzelnes Lichtquant. Da das Elektron aber extrem klein ist, muß die Wellenlänge des Lichts, mit dem ich es betrachten will, noch erheblich kleiner sein; dies ist ein festes Gesetz in der Optik. […] Trifft nun bei der Messung das energiereiche Photon auf das Elektron, so vermittelt es wegen seiner hohen Energie diesem einen Rückstoß. Das Elektron wird quasi weggeschubst, sein genauer Ort ist nicht mehr feststellbar. Je höher die Energie des Photons, desto stärker der Rückstoß. Die Messung bedeutet also einen Eingriff in das System, der eine genaue Messung verhindert.« 523

Heisenberg leitete nun ab, dass diese ›Unbestimmtheit von Ort und Geschwindigkeit‹ bei jeder Messung zueinander reziprok sind und miteinander multipliziert einen Betrag ergeben, der größer als das Planck’sche Wirkungsquantum h ist. Diese Formel der Messungenauigkeit ist als Heisenbergs Unschärferelation in die Geschichte eingegangen. Sie bedeutet nichts weniger als eine Abkehr von der Kausalität im mikroskopischen Bereich der Quanten: »Im atomaren Maßstab gilt also nicht mehr Ursache und Wirkung, sondern Zufall und Wahrscheinlichkeit.« 524 Mit dieser Wahrscheinlichkeit hat es allerdings eine besondere Bewandtnis: Ein Vorgang im atomaren Bereich wird durch eine Wahrscheinlichkeitswelle beschrieben. Es ist also nicht feststellbar wo genau sich zum Beispiel ein Elektron befindet, sondern nur die Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ist festgelegt. Wie es dann tatsächlich ›geschieht‹ ist also abhängig von der jeweiligen Beobachtung. Heisenberg hält diesbezüglich fest: Die Beobachtung selbst ändert die Wahrscheinlichkeitsfunktion sprunghaft.

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Röthlein: Schrödingers Katze, 52 f. Röthlein: Schrödingers Katze, 53.

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»Sie wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat. Da sich durch die Beobachtung unsere Kenntnis des Systems unstetig geändert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig geändert, und wir sprechen daher von einem ›Quantensprung‹. […] Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, daß sich das Wort ›geschieht‹ nur auf die Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen.« 525

Die Quantenphysik stellt bei einer Messung also »die Eigenschaften des gemessenen Objekts nicht fest, sondern überhaupt erst her!« 526 Diese kühne quantenphysikalische Behauptung impliziert eine weitere tiefergehende Behauptung: »dass kein direkter Zugang zur Realität (zum ›Gegebenen‹) jenseits der physikalisch konstruierten Wirklichkeit möglich ist, dass Wirklichkeit nicht als ›Abbild‹ einer so gedachten Realität verstanden werden kann, dass sie vielmehr eine Konstruktion ist, die allerdings auf dem Wege des Experimentes nach Widersprüchen zur Realität (zum ›Gegebenen‹) abgetastet werden kann.« 527

Die Quantenphysik ist also ein eigenartiges Konstrukt: Einerseits ist ihre Sprache – ihre Mathematik – wie bei der klassischen Physik widerspruchsfrei. Andererseits unterscheidet sie sich grundsätzlich von der klassischen Physik, indem sie keine Größen beschreibt, die unmittelbar gemessen werden können. Das Ergebnis einer Messung muss auch in der Quantenphysik widerspruchsfrei sein (das hält die Kopenhagener Deutung so fest). Andererseits lässt sie sich nicht auf mathematische Berechnungen reduzieren. »Sie bedarf einer Interpretation, weil die zu berechnenden Größen keinen physikalischen Messgrößen entsprechen. Diese Interpretation kann immer sowohl auf Basis (diskreter) Teilchen als auch auf Basis (kontinuierlicher) Wellen ausgeführt werden […].« 528 »Damit sind in der Praxis alle Probleme überwunden, aber die Quantenphysik wird dadurch zu einer unabgeschlossenen Theorie, weil sie der klassischen Physik bedarf, ohne die sie nicht ausgeführt werden kann. (Bis heuHeisenberg: Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, 56. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 238. 527 Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 238 f. 528 Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 19. 525 526

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te wird daher um eine andere Interpretation gerungen, aber ohne durchschlagenden Erfolg.) Aufgabe der Physik ist es, Theorien zu schaffen, die von keinem Experiment falsifiziert werden – und das ist der Quantenphysik (freilich unter Einbeziehung der klassischen Physik) in niemals übertroffener Weise gelungen. Es gibt also eigentlich keinen Bedarf, die Theorie zu ändern, außer einem subjektiven Unbehagen mancher Physiker.« 529

Nach und nach entwickelten sich anschließend akzeptierte Quantentheorien für alle der sog. vier physikalischen Grundkräfte (Elektromagnetismus, schwache Wechselwirkung, starke Wechselwirkung), mit Ausnahme aber der Gravitation: »Die bisher nicht geglückte Vereinigung von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenphysik ist die wohl größte verbliebene Lücke der gegenwärtigen Physik […].« 530 An dieser Stelle, nachdem hoffentlich aus dem skizzierten Geschichtsverlauf der Quantentheorie deren Grundproblematik begreifbar wurde, kommen wir wieder auf unser eigentliches Thema zurück: die Zeitinterpretationen. Die Herausforderung einer allgemein akzeptierten Quantengraviationstheorie besteht darin, »dass die Graviation nach der Allgemeine [sic!] Relativitätstheorie […] nicht eine Kraft in Raum und Zeit, sondern die Krümmung von Raum und Zeit selbst ist. Eine Quantisierung der Gravitation könnte also eine Quantisierung von Raum und Zeit beinhalten, und es ist nicht klar, was das bedeuten würde.« 531 Prinzipiell gibt es vier mögliche Ansätze, um die Quantenmechanik mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen: a) b)

c)

Die Allgemeine Relativitätstheorie wird quantisiert. Die Quantenfeldtheorie – seit 1927 ist man davon abgekommen, von »Teilchen« auszugehen und geht stattdessen von (im Allgemeinen gekoppelten) Wellenfeldern aus, um die Äquivalenz von Wellen- und Teilchenbild auszudrücken – wird »allgemein relativiert«. Eine Theorie ist der Grenzfall der anderen.

Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 210. 530 Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 277. 531 Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 281. 529

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d)

Sowohl die Allgemeine Relativitätstheorie, als auch die Quantenfeldtheorie sind Grenzfälle einer grundsätzlich neuen Theorie.

Während die Möglichkeit b insbesondere in der Stringtheory landet, mündet die Möglichkeit a unter anderem in der QuantenschleifenGravitation: 532 • »Die Grundidee der Stringtheorie ist es, nicht Teilchen, sondern kleine vibrierende eindimensional ausgedehnte Saiten oder Fäden (›Strings‹) als die fundamentalsten Objekte anzunehmen. Ein entscheidender Vorteil besteht darin, dass Strings nicht punktförmig miteinander wechselwirken, so dass bestimmte unendliche Größen vermieden werden können, die bereits in der konventionellen [Quantenfeldtheorie], aber erst recht bei der gesuchten Vereinheitlichung mit der Gravitation große Probleme verursachen. 1995 schlägt Edward Witten eine umfassendere Theorie, die sogenannte M-Theorie, vor, zu welcher die bisherigen Stringtheorien Approximationen sind.« 533 • Der wichtigste Konkurrent zur String-Theorie ist die Quantenschleifen-Gravitation: Aufbauend auf der neuen Variablenwahl des indischen Physikers Abhay Ashtekar im Jahre 1986, entwickeln die Physiker Lee Smolin und Carlo Rovelli die Quantenschleifen-Graviation. »Eine wesentliche Annahme der Quantenschleifen-Graviation ist die sogenannte Hintergrundunabhängigkeit, wonach die Raumzeit kein bloßer Hintergrund, sondern auf mikroskopischer Ebene selbst etwas Dynamisches ist. Raumzeit wird also nicht vorausgesetzt, sondern entsteht in gewisser Weise erst. Im Gegensatz dazu ist die Stringtheorie nicht (manifest) hintergrundunabhängig, da sie mit einer gegebenen Raumzeit arbeitet.« 534 Zusammen mit Alain Connes stellt Carlo Rovelli darüber hinaus die Hypothese auf, dass der Zeitpfeil lediglich ein thermodynamischer Prozess sei. Hiermit hoffen sie, der Zeitproblematik der Allgemeinen Relativitätstheorie beizukommen. Insgesamt gibt es einige Merkmale der Quantenphysik, die sie von den herkömmlichen Wissenschaften unterscheidet. Wir verdanken 532 533 534

Vgl. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 281 f. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 286 f. Friebe et. al.: Philosophie der Quantenphysik, 286.

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es Erich Hamberger und Herbert Pietschmann, diese Merkmale der Quantenphysik in ihrer großen und lesenswerten Studie Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft herauszuarbeiten und mit denen der Dialogphilosophie zu vergleichen: Die Parallelen sind verblüffend! Hier eine skizzierte Auswahl der, wie ich finde, drei wichtigsten: • Das Rechnen mit und die konsequente Erhaltung von Komplementarität (Quantenphysik) und Widerspruch (Dialogphilosophie). 535 • Der Fokus auf das ›Ganze‹, welcher bei beiden Ansätzen durch eine systemische Unabgeschlossenheit herbeigeführt wird, die eine epistemologische ›Offenheit‹ generiert. 536 • Der auffällige historische Parallelismus der Entwicklung beider Ansätze. 537 Eine weitere Gemeinsamkeit, so scheint mir, ist der Umgang mit der Zeitlichkeit. In mindestens einer Interpretation der Quantentheorie, der Loop-Theory, findet ein der Dialogphilosophie vergleichbarer Umgang mit Zeitlichkeit statt. Dieser Umgang ist das Thema des nächsten Abschnitts:

5.5.2. Der letzte Physiker: Der Paradigmenwechsel im Umgang mit der Zeitlichkeit in der Quantenschleifen-Gravitation Die Quantentheorie hat drei grundlegende Entdeckungen gemacht, die das physikalische abstrakte Zeit-Verständnis umstülpen: • Die Granularität (auch der Zeit): Für alle Phänomene gibt es eine kleinste Größenordnung. Kombiniert man die charakteristischen Konstanten der Relativität (Lichtgeschwindigkeit), der Gravitation (Newton-Konstante) und der gequantelten beobachtbaren Größen (Plancks Wirkungsquantum) erhält man auf der sog. Planck-Skala, welche die kleinste Größenordnung eines Gravitationsfelds angibt; unter anderem auch das kleinstmögliche Zeit535 Vgl. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 232. 536 Vgl. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 242 und 210. 537 Vgl. Hamberger/Pietschmann: Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft, 171.

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intervall, für das die Gesetze der Physik gerade noch gültig sind: die sogenannte Planck-Zeit, die Dauer von 10-44 Sekunden. Es existiert kein kleineres Zeitintervall: Es gibt die Zeitspanne nach dem Urknall an, während dessen die bekannten physikalischen Gesetze keine Gültigkeit haben. Unterhalb dieser Größenordnung gibt es keine sinnvolle Vorstellung von Zeit. Deshalb bedarf es für Aussagen während dieser Zeitspanne einer Quantentheorie der Gravitation. Stellen wir uns vor, es wäre möglich, diesen Zeitintervall mit einer präzisen Uhr zu messen (was aus technischen Gründen nicht möglich ist), würden wir feststellen, dass die Zeit in dieser Größenordnung nicht gleichförmig fliest, sondern springt, von einem Wert zum Nächsten. Wie kommt dann aber die Vorstellung der zeitlichen Kontinuität zustande? Rovellis Antwort auf diese Frage lautet: »Kontinuität ist nur eine mathematische Technik, um besonders feinkörnige Dinge anzunähern. Die Welt ist auf feinste Weise diskret, aber kein Kontinuum. Der liebe Gott hat die Welt nicht mit durchgezogenen Linien gezeichnet, sondern wie der Pointilist Seurat mit leichter Hand mit Pünktchen getüpfelt.« 538 Die Quantensuperposition von Zeiten: Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, wo zum Beispiel ein Elektron erscheinen wird. Diesen Indeterminismus nennt man Superposition. Für die Zeit gilt hier: »Die Raumzeit ist ein physikalisches Objekt wie ein Elektron. Sie schwingt ebenfalls. Auch sie kann sich in einer Superposition unterschiedlicher Konfigurationen befinden. Den Aufbau der sich ausdehnenden Zeit müssen wir uns […] zum Beispiel als eine unscharfe Überlagerung verschiedener Raumzeiten vorstellen.« 539 Für unsere Zeiten bedeutet dies, dass sie diffus verteilt sein können: »Ein Ereignis kann gleichzeitig vor und nach einem anderen stattfinden.« 540 Die relationalen Aspekte der physikalischen Variablen: Das Geschehen ist in manchen Augenblicken auf unvorhersehbare Weise determiniert. Diese Unbestimmtheit verschwindet, wenn sich etwas, zum Beispiel ein Elektron, materialisiert, indem es mit





538 539 540

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 74. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 76. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 77.

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etwas anderem wechselwirkt. Sei es, dass es auf einem Bildschirm aufschlägt oder mit einem Photon kollidiert o. Ä.: Immer nimmt es einen konkreten Ort ein. »Aber dieses Sich-Konkretisieren des Elektrons hat einen seltsamen Aspekt: Das Elektron ist nur bezogen auf die physikalischen Objekte konkret, mit denen es wechselwirkt. […] Die Konkretheit besteht nur relativ zu einem physikalischen System.« 541 Jede physikalische Größe ist also nicht nur abhängig von den Massen und dem Gravitionsfeld, sondern es muss auch die Tatsache bedacht werden, dass auf der Ebene der Quantenmechanik jede Größe keine festgelegten Werte hat, solange sie sich nicht durch Wechselwirkung konkretisiert. Für die Zeitauffassung hat sich die »Zeit in einem Beziehungsgeflecht aufgelöst […].« 542 Angesichts dieser Verschiebung auf die Ebene der gequantelten Größen hat die abstrakte physikalische Zeitinterpretation gar keine fundamentale Funktion zur Beschreibung der Phänomene mehr: Sie ist obsolet geworden. Aus diesem Grund gibt es auf dem Forschungsfeld der Quantengravitation Vertreter – speziell die von Vertretern der Stringtheory kritisierten Verfechter der Schleifenquanten-Graviation –, die die Geschehnisse bzw. den Wandel der Welt nur mit Hilfe untereinander ausreichend synchronisierter Variablen beschreiben. Dies hat den Vorteil, dass sie keine der Variablen als die Zeit bezeichnen müssen. »Die Theorie beschreibt nicht, wie sich die Dinge in der Zeit entwickeln, sie beschreibt vielmehr, wie sich die Dinge jeweils in Bezug zueinander verändern, wie die Ereignisse der Welt jeweils in Beziehung zu den anderen stattfinden.« 543 Die gequantelten Größen sind also nicht in der Zeit, wie es für Newton noch für physikalische Größen feststeht. Die Zeit ist auch nicht linear, aber auch nicht in einer krümmbaren Ebene festgelegt, wie es bei Einsteins Raumzeit der Fall ist. Nein, diese Theorie – die nebenbei bemerkt keinen Konsens der Quantentheoretiker bildet – behauptet nur folgendes: Die Teilchen »wechselwirken unablässig miteinander, ja ihre Existenz ist nur fasslich in Begriffen unablässiger

541 542 543

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 77. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 78. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 101.

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Wechselwirkungen. Dieses Wechselwirken ist das Geschehen der Welt: Es ist die minimale elementare Form der Zeit […].« 544 Vergegenwärtigen wir uns die in Kapitel 5.1.1 dargestellten Wandlungen des abstrakten Zeitbegriffs in der Wissenschaftsgeschichte, dann können wir festhalten: Platon definierte die Zeit als Abbild einer zeitlosen Ewigkeit und Newton konkretisierte dieses Weltbild für die Wissenschaften, indem er zwischen der mathematischen (›eigentlichen‹) Zeit und der empirischen Zeit unterschied. Aristoteles wandte sich gegen seinen Lehrer, indem er festhielt, dass die Zeit erstens eine Zahl der Veränderung und zweitens abhängig von einem Zähler, also etwas ›Seelischem‹ sei. Leibniz wandte sich mit diesem Argument gegen Newton. Einstein schließlich gelang eine Synthese beider Jahrtausendauffassungen über die Zeit, indem er nicht eine absolute Gleichzeitigkeit unterstellt, sondern die Uhren relativ zueinander stehender/bewegter Beobachter synchronisiert. Mit der Entdeckung der Planck-Zeit stellen wir nun fest, dass die physikalische Abstrahierung von der Zeit, die einmal eingeführt wurde, um Phänomene wie Sukzession oder Dauer messbar zu machen, ihrer ursprünglichen Aufgabe nicht mehr gerecht wird: Die PlanckZeit hat schlicht zu wenig mit dem zu tun, was wir uns unter »Zeit« vorstellen. Deshalb gehen jetzt einige Vertreter der Quantenmechanik dazu über, die abstrakte, postulierte Zeit als Variable einfach wegzulassen, denn offenbar kann man das Geschehen und den Wandel der Welt auch durch Beziehungen der physikalischen Größen untereinander darstellen. Es handelt sich hier also um ein (vorläufiges) Ende der Jahrtausende währenden Geschichte des abstrakten Zeitbegriffs in der Physik. Es geht der Theorie der Quantenschleifengravitation – und das ist eine fundamentale Neuerung – um den Versuch, die Zeit nicht als Variable zur Erklärung physikalischer Phänomene (die sich eben nicht anders erklären ließen) zu benutzen, sondern die Zeitlichkeit selbst in der Konkretheit ihrer Manifestationen anzuerkennen und darzustellen. Einer der Vordenker der Quantenschleifengravitation, Carlo Rovelli, hat sich im Anschluss damit beschäftigt, was die Zeit denn dann sei, 544

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 104.

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wenn sie zur Erklärung physikalischer Ereignisse nicht mehr als Variable herangezogen werden muss. In seinem lesenswerten Büchlein Die Ordnung der Zeit stellt er zu diesem Zweck eine konstruktivistische Zeittheorie auf: Diese entfällt auf zwei Teile: Erstens die Dekonstruktion der physikalischen Abstrahierung von der Zeit bis zu ihrer Eliminierung als Variable aus physikalischen Gleichungen und Zweitens eine konstruktivistische Theorie der Zeitwahrnehmung für den menschlichen kognitiven Apparat. Der dekonstruktive Teil dieser Theorie wurde bereits skizziert: Mit der Planck-Zeit hat die t-Variable offenbar keinen Sinn mehr für physikalische Beschreibungen, wenn sich die Geschehnisse der Welt noch besser in Bezugssystemen darstellen lassen. Sie kann also abgeschafft werden. Wie kommt aber der Mensch dazu wie selbstverständlich von der Zeit auszugehen, wenn es sie doch gar nicht gibt? Rovelli äußert hierzu zwei zusammenhängende Vermutungen: 1) Die thermodynamische Zeit: In einem isolierten System variieren alle variierbaren Variablen, nur die Gesamtenergie bleibt gleich. Wenn die Zeit also – ganz aristotelisch gesprochen – etwas an der Veränderung (hier die Variation) ist, dann gibt es eine enge Beziehung zwischen Zeit und Energie. Wissen, was die Energie eines Systems ist, ist also gleich wie zu wissen, wie die Zeit abläuft, »weil die Gleichungen der zeitlichen Entwicklung durch die Energiefunktion bestimmt werden. Andererseits bleibt Energie über die Zeit erhalten, kann also auch dann nicht variieren, wenn das Übrige variiert. In seiner thermischen Bewegung durchläuft ein System alle Konfigurationen, welche die gleiche Energie haben, aber eben nur diese.« 545 Die Gesamtheit dieser Konfigurationen gehorcht – und das ist die herkömmliche Ansicht – folgender Logik: Zeit → Energie → Gleichgewichtszustand. Entscheidend ist hierbei, dass wir diesen Gleichgewichtszustand nicht in allen seinen Facetten und Einzelheiten kennen. Den Zustand einer Wasserflasche in unserem Kühlschrank können wir zum Beispiel mit einigen wenigen Va-

545

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 114.

263 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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riablen beschreiben, aber die Gesamtheit ihrer Konfigurationen sind uns trotzdem nicht bekannt. »Die Energie ist das, was die Entwicklung in der Zeit regiert. Und das im Gleichgewicht befindliche System mischt die Konfigurationen gleicher Energie.« 546 Kühle ich in meinem Kühlschrank also eine Flasche Wasser, so befindet sich diese nach dem Abkühlungsprozess, also nach einiger Zeit, in einem Gleichgewicht. Die Zeit ist hierbei als etwas Objektives und Absolutes zu betrachten. Nun könnte man diese Logik aber, so Rovelli, auch einfach umdrehen: Wir beobachten den Zustand eines geschlossenen Systems, also eine Neumischung von Variablen, bei der eine Energiemenge erhalten bleibt. Dieser Zustand bringt dann eine Zeit hervor: Gleichgewichtszustand → Energie → Zeit. (z. B. wenn die Dauer der Zeit beim Abkühlungsprozess von der Energie abhängt). Aus der Tatsache dieses Wechselverhältnisses – in der Philosophie Bisubjunktion genannt – folgert Rovelli Folgendes: »Eine Zeit wird schlicht von einer Unschärfe bestimmt. Boltzmann erkannte, dass sich das Verhalten der Wärme in Begriffen einer Unschärfe erschließt: aus der Tatsache, dass in einem Glas Wasser ein Meer aus mikroskopischen Variablen existiert, die wir nicht sehen. Die Anzahl der möglichen mikroskopischen Konfigurationen des Wassers bestimmt die Entropie. Aber tatsächlich auch noch mehr: Die Unschärfe selbst bestimmt eine besondere Variable, die Zeit. In dieser grundlegend relativistischen Physik 547, in der keine Variable a priori die Rolle der Zeit spielt, können wir die Beziehung zwischen makroskopischem Zustand und Entwicklung in der Zeit umkehren: Nicht die Entwicklung in der Zeit bestimmt den Zustand, sondern der Zustand, die Unschärfe, bestimmt eine Zeit.« 548 Wenn die Zeit der Physik sich durch die Unschärfe bestimmt, dann speist sich die physikalische Zeit schlicht aus unserer Un-

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 114. Anmerkung: Nach der Lektüre dieses Buches erscheint es fragwürdig, dieser Physik das Attribut »relativistisch« zuzuschreiben. Mir scheint das Attribut »relational« korrekt. 548 Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 115. 546 547

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2)

549 550 551

kenntnis über die Welt. Die Variable t entspringt also schlicht der Unschärfe zwischen der Empirie auf der einen Seite und dem Anspruch des physikalischen Weltbildes andererseits, dass sich die ganze Welt objektiv und rational erklären lassen muss. Dieses Muss ist mit Rovelli zu einem Könnte geworden. Mit anderen Worten: Die Zeit in der Physik ist die (Rest-)Unkenntnis über die Welt, die als Variable in den Gleichungen über die Welt berücksichtigt werden muss, damit diese Gleichungen überhaupt funktionieren. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik: Wie ist in einem außerzeitlichen Universum aber die Idee von einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgekommen? Nach Rovelli könnte hier der irreversible Prozess der Entropie eine Rolle spielen: In einem geschlossenen System kann die Anzahl der Konfigurationen eines Zustands (Entropie) im Verlaufe der Zeit nur zunehmen. Nicht die Energie treibt die Welt an (sie bleibt ja erhalten), sondern die geringe Entropie: »Das energiereichere (›heiße‹) Photon hat weniger Entropie als die dafür abgestrahlten energieärmeren, weil die Anzahl der Konfigurationen eines einzelnen (warmen) Photons niedriger ist als die der Konfigurationen des knappen Dutzends kalter Photonen.« 549 In diesem Prozess also bleibt die Energie gleich, nur die Entropie nimmt zu, und zwar unumkehrbar! Rovellis These die Zeit betreffend lautet nun: »Die gesamte Geschichte des Universums ist diese bald schleppende, bald sprunghafte kosmische Zunahme der Entropie.« 550 Wir finden also, weil die Entropie in der Vergangenheit niedriger war, Spuren aus der Vergangenheit vor. »Eben die Präsenz einer Fülle von Spuren aus der Vergangenheit erzeugt das vertraute Gefühl, dass die Vergangenheit festgelegt sei. Dass entsprechende Spuren aus der Zukunft fehlen, weckt die Empfindung, dass sie offen ist.« 551 Hinzu kommt allerdings noch ein entscheidender Gesichtspunkt: Wir menschlichen Wesen haben nämlich einen Standpunkt in der Welt. Wir wechselwirken nicht mit der gesamten Welt, sondern nur mit einem winzigen Teil von ihr: »Betrachten wir das Universum von innen, in unserer Wechselwirkung mit Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 133. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 135. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 138.

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einem winzigen Anteil der zahllosen Variablen des Kosmos: Wir sehen von ihm ein unscharfes Bild. Diese Unschärfe beinhaltet, dass die Dynamik des Universums, mit dem wir interagieren, von der Entropie beherrscht wird, welche den Wert der Unschärfe misst. Was sie misst, betrifft eher uns als den Kosmos.« 552 Unsere Entropie, die den Zustand der Welt von unserem Standpunkt aus misst, misst nur einen winzigen Teil des Kosmos. Sie sagt ontologisch gesehen also über den Kosmos vermutlich weniger aus als über uns selbst! Das entspricht offenbar auch der Natur der Gesetze der Grundlagenphysik, welche »nicht in Begriffen von ›Ursachen‹, sondern von ›Gesetzmäßigkeiten‹ formuliert, die, bezogen auf Vergangenheit und Zukunft, symmetrisch sind.« 553 In der Physik, insbesondere in der relationalen Physik, ist die im Alltag als asymmetrisch empfundene Zeit symmetrisch. In ihr ist keine Zeitabhängigkeit vorgesehen. Wie ist zunehmende Entropie dann aber überhaupt möglich, deren Wachstum wir nach Rovelli als Ablauf der Zeit empfinden? Ganz einfach, so mutmaßt Rovelli: »Vielleicht lag der Kosmos gar nicht in einer besonderen Konfiguration vor. Vielleicht sind wir es, die einem besonderen physikalischen System angehören, relativ zu dem dieser ursprüngliche Zustand besonders war.« 554 Im grenzenlosen Universum sind allerlei physikalische Systeme möglich, die auch untereinander miteinander wechselwirken könnten. »Wegen des endlosen Spiels der Wahrscheinlichkeiten und der großen Anzahlen wird es unter allen fast sicher irgendein System geben, das mit dem Rest des Universums genau mit jenen Variablen wechselwirkt, die zufällig einen besonderen Wert in der Vergangenheit haben.« 555 Rovellis Argument sieht also folgendermaßen aus: 1. Wenn eine Untermenge des Universums speziell ist, dann ist für sie die Entropie des Universums in der Vergangenheit gering und es gilt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: die Zunahme der Entropie durch die Zeit. 552 553 554 555

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 128. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 140. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 124. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 124.

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2.

Wir sind eine Untermenge des Universums, also gilt für uns die Entropie.

3.

»Vielleicht ist der Fluss der Zeit also kein Merkmal des Universums: Die Drehung des Sternenhimmels ergibt sich aus der besonderen Perspektive von jenem Winkel der Welt, dem wir angehören.« 556

Interessant bei Rovellis Abschaffung der Zeit ist meines Erachtens folgendes: Er schafft nicht irgendeine Zeit ab, sondern eine eschatologische Zeit, eine Zeit mit Anfang und Ende. Denn wenn die Zeitwahrnehmung durch die Zunahme der Entropie angeregt ist, dann müssen wir wohl auch mit einem Zustand geringster Entropie (Anfang) und einem Zustand maximalster Entropie (Ende) rechnen. Die Zeit also, die ohnehin ja offenbar nur eine illusorische ist, hat Anfang und Ende. Diese Theorie ist – das betont auch Rovelli selbst – reine Spekulation. Sie ist eine das Zeitempfinden, also etwas Soziales, betreffende Spekulation. Das bedeutet aber: Sie kann nicht falsifiziert werden. Man kann diese Zeittheorie glauben oder nicht, eines steht fest: Rovelli hat nicht die Zeit selbst, sondern die Abstrahierung von der Zeit, die physikalische Zeit, abgeschafft. Die Einsteinsche Raumzeit könnten wir als das makroskopische Ende der abstrakten Zeitaufassung der Physik bezeichnen, die Planck-Zeit als das mikroskopische. Die Menge der möglichen Variationen der Zeitinterpretation zwischen diesen beiden Polen bildet die Weltanschauung der Physik. Von nun an thematisiert Rovelli aber die Zeitlichkeit der physikalischen Phänomene selbst, ohne eine totale Zeitauffassung behaupten zu müssen. Die Physik behauptete stets die Abhängigkeit der Zeit vom Raum, gemäß der Regel: Zeiten sind projizierte Räume. Rovelli hat diese Illusion entlarvt und deshalb diese Projektion abgeschafft. Nebenbei – gleichsam als Korrelat – hat er damit auch die physikalische Weltanschauung abgeschafft. Mit Rovelli dürfen wir sagen: Die Zeit, das ist das Unbekannte. Mit dieser Feststellung ist Rovelli ganz auf der Linie der Dialogphilosophie. Die Zeit selbst aber abschaffen zu wollen ist natürlich naiv, denn wie könnte man das Unbekannte abschaffen? Vor dem Hintergrund der 556

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 125.

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Dialogphilosophie drängt sich hierbei aber eine Erklärung auf: Die Zeit, das Unbekannte (und Unverfügbare), manifestiert sich in der Zeitlichkeit der Dinge. Dinge zeitigen sich. Diesem Sachverhalt trägt meines Erachtens die Theorie der Quantenschleifengravitation Rechnung, freilich ohne dass es den Erfindern aufgefallen zu sein scheint. Rovellis Spekulation über die Zeit selbst andererseits – dass es sie gar nicht gebe und dass sich der Mensch durch die zunehmende Entropie zu seiner Zeitillusionierung hinreißen ließ – hat allerdings selbst das Potential eine Weltanschauung zu werden. Obwohl Rovelli die physikalistische Weltanschauung überwindet, indem er die totalisierte Abstrahierung der Zeit in der Physik enttotalisiert, kreiert er eine neue Weltanschauung, die nur eine Variation seiner alten Weltanschauung ist. Das ist unbefriedigend und auch nicht schlüssig. Denn Rovelli hat diese Zeittheorie nicht als Physiker, sondern als sozialwissenschaftlicher Laie aufgestellt. Aber nach der Lektüre dieses Buches wissen wir, dass in sozialen Dingen andere Gesetze herrschen als in der Physik. Wie konnte es dazu kommen? Rovelli hat sich offenbar selbst vergessen: Zwar redet er im Zusammenhang mit seiner Theorie über sich und thematisiert auch den Subjektivismus, die seiner Theorie anzuhängen scheint. Auch betont er die hypothetische Natur seiner Theorie – offenbar ohne aber zu wissen, dass Hypothesen in sozialen Kontexten ernsthafte Konsequenzen haben können, da sie nicht falsifizierbar sind. Aber er macht einen entscheidenden Fehler: Er redet von sich nur in seiner Rolle als Physiker, und meint offenbar, dass er sich damit hinreichend selbst bedacht hat. Es ist aber nicht plausibel, dass die zunehmende Entropie dem Menschen das Gefühl von Zeit gab. Plausibel wäre die Behauptung, dass die zunehmende Entropie dem Menschen ein Gefühl für die physikalische Abstraktion der Zeit gibt. Rovelli hat eine Frage der Soziologie mit den Mitteln der physikalischer Reflexion zu beantworten versucht. Deshalb entgeht ihm, dass die Zeiten nicht nur nicht projizierte Räume sind – was er ja als Irrtum entlarvt –, sondern dass Räume andersherum projizierte Zeiten sind. 557 Was die Zeit selbst aber ist, ob es sie gibt und wie sie sich 557 Wir könnten dieses Gesetz, dass Räume projizierte Zeiten sind und nicht umgekehrt Zeiten projizierte Räume als soziales Wirkungsquantum bezeichnen.

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auswirkt, diese Frage muss auch für Rovelli ein Rätsel bleiben: Die Zeit ist, soweit ist Rovelli Recht zu geben, das Unbekannte. Aber das bleibt sie auch! Was aber die Abschaffung der Totalisierung der physikalischen Abstrahierung von der Zeit anbelangt, gibt es vor dem Hintergrund der Dialogphilosophie einige interessante Gesichtspunkte: 1) Auch diese Zeit scheint mir eine eschatologische zu sein, mit einer besonderen Wendung: Wenn die Zeit die Unschärfe bzw. die Unkenntnis der Physiker über die Welt ausdrückt, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass mit der Abschaffung der Zeit diese Unschärfe verschwindet. Ohne Unschärfe aber und ohne Unkenntnis über die Welt – wenn also alles bekannt ist – ist auch die Wissenschaft der Physik obsolet geworden – oder ist nur noch in Anwendungsbereichen sinnvoll. In diesem Sinne dürften wir Rovelli also, da er ja meint nicht die physikalische Zeitabstrahierung, sondern die Zeit selbst abgeschafft zu haben, ironisch als den letzten Physiker bezeichnen. 2) Aber Rovelli schafft die Zeit selbst ja nicht ab! Er schafft die Totalisierung der Abstrahierung von der Zeit ab. Die physikalischen Prozesse spielen sich bei ihm nicht mehr innerhalb der Zeit ab, sondern deren Zeitlichkeit wird direkt thematisiert (ohne dass ein immergültiger und vermutlich nicht möglicher Zeitbegriff vorherrschen muss). Dieses Abschaffen der Verabsolutierung der abstrakten Zeit öffnet die Physik für die Zeit selbst, die aber, da ja unbekannt, immer unverfügbar bleiben muss. 3) Vor dem Hintergrund der Dialogphilosophie könnte man konstatieren, dass Rovelli mit seinem neuen Umgang mit der Zeit den Binnenkalender der Physik aufgebrochen hat. Hierbei handelt es sich um die soziologische Dimension der Physik: Die Zeitlichkeit ist ja nach Kant eine umfassendere Bedingung der Möglichkeit für Physik überhaupt als die Räumlichkeit. Die Physik selbst ist ja kein physikalisches Phänomen, sondern ein soziales: Auch Physiker sind Teil ihres sozialen Kontexts. Nach der Enttotalisierung der physikalischen Zeitabstrahierung für die Physik selbst, können die Physiker nach wie vor ihre Zeit-Variable nach bedarf nutzen, sind aber nicht mehr abhängig von der Behauptung, dass es sich hierbei um die Zeit handle. Sie interpretieren also nicht mehr die Phänomene in Abhängigkeit ihrer in den physikalischen Raum hineinprojizierten Zeitauffas269 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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sung, sondern rechnen von nun an mit der Zeitlichkeit der Dinge selbst! Wie plausibel ist nun diese Theorie? Grundsätzlich darf die Tatsache als absolut glaubhaft gelten »dass die Zeitstruktur der Welt von dem naiven Bild abweicht, das wir uns von ihr machen.« 558 Auch die Aspekte der Zeit, die in physikalischen Experimenten zum Vorschein treten, sind anzuerkennen: »die Beschleunigung des Zeitablaufs in der Höhe und seine Verlangsamung bei höherer Geschwindigkeit, die Nichtexistenz von Gegenwart, die Beziehung zwischen Zeit und Gravitationsfeld, die Tatsache, dass die Beziehungen zwischen verschiedenen Zeiten dynamisch sind, dass die Grundgleichungen keine Richtung der Zeit kennen, die Beziehung zwischen Entropie und der Richtung der Zeit und dass zwischen Entropie und Unschärfe eine Beziehung besteht.« 559 Die Theorie der Erfindung der Zeit jedoch auf Anregung der zunehmenden Entropie durch den Menschen ist zwar eine spannende, aber alles andere als glaubhafte Theorie. Hier übertritt Rovelli sein Fachgebiet der Physik, ähnlich wie ich mit diesem Exkurs zur Physik mein Fachgebiet überschreite: Der Physiker Rovelli stellt hier eine soziologische These mit physikalischen Methoden auf! Plausibel wäre aber folgende Behauptung: Die Projizierung der Zeit in einen physikalischen Raum, als Ablauf und zur Zeitmessung, ist auf Anregung der zunehmenden Entropie erfunden worden. Diese Hypothese ist aber nicht falsifizierbar. Die t-Variable und die Raumzeit sagen vermutlich mehr über uns aus, als über die physikalischen Phänomene: Die physikalischen Phänomene sind eben nur vor dem Hintergrund von Zeit und Raum vorstellbar. Darüber hinaus ist es so einfach, in einen Raum Kausalität hineinzuprojizieren; wir machen das ja tagtäglich, wir können gar nicht anders! Dies ist im Übrigen auch der Grund, warum das Motto: Sag mir, was du unter Zeit verstehst und ich sage dir, was für einer Weltanschauung du anhängst zutrifft. Wir können jetzt nämlich nicht nur feststellen, dass unsere jeweilige Zeitinterpretation unsere Weltanschauung hervorbringt. An dieser Stelle wissen wir auch end558 559

Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 164. Rovelli: Die Ordnung der Zeit, 163.

270 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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lich Warum das geschieht: Wenn die Zeit das Unbekannte ist und unser Zeitverständnis notwendig dafür ist, dass unsere Gleichungen funktionieren, dann ist die Zeitinterpretation eine Interpretation von Unbekanntem. Je nach Bedarf drückt die Variable t, die Raumzeit, die eschatologische Zeit, die zirkuläre Zeit, die Planck-Zeit etc. eine Interpretation des Unbekannten aus, um unsere Gleichung, unser Weltbild passend zu machen: Es muss funktionieren! Das bedeutet aber: Alles was unsere Gleichung ausdrückt; alles was wir als Weltbild setzen, gilt nur in Abhängigkeit der konkreten Interpretation des Unbekannten. Wird die jeweilige Zeitinterpretation totalisiert, wird die konkrete Interpretation des Unbekannten, das das jeweilige Weltbild passend macht, totalisiert: Eine Weltanschauung wurde geboren! Um es nochmal zu wiederholen: Über den Ursprung der Zeit selbst wissen wir nichts (wir wissen ja nicht einmal was die Zeit ist und ob es sie überhaupt gibt). Wir wissen nur soviel: Mit dem Ursprung der Sprache war uns die Zeitlichkeit bewusst. Die Zeit selbst aber, das ist das Unbekannte. Den Beweis für diese Lesart gibt uns Rovelli sogar persönlich: Es ist unmöglich, dass er sich eines Tages zufällig hinsetzte, das Schreibprogramm seines Computers öffnete, und Buchstaben einzutippen begann, welche dazu führten, dass er einige Zeit später den Text ausdrucken konnte, in dem er die Zeit abschafft. Nein: Rovelli war präjiciert: Er wollte ein Buch schreiben, in dem er die Zeit abschafft. Daraufhin setzt er sich hin, schreibt es auf seinem Computer nieder: Er ist ein Subject. Spätestens jetzt bemerkt er, auf wessen Riesen Schultern er steht, wenn er über die Geschichte des Zeitbegriffs nachdenkt: So ist er ein Traject. Als er sein Buch Die Ordnung der Zeit endlich in den Druck gibt, ist seine ursprüngliche Intention Object geworden: Er kann seine Untersuchungsergebnisse, sein Buch und sich selbst – er ist ja als Autor untrennbar mit seinem Buch verbunden –, auf Vorträgen präsentieren. Auch für Rovelli kommt die Zeit eben aus der Zukunft in die Gegenwart entgegen und fließt in die Vergangenheit. Die Frage nach dem Ursprung, der Existenz und dem Wesen der Zeit unbeantwortet lassen zu können hat aber den entscheidenden Vorteil des Unvoreingenommenseinkönnens: Die Theorie der Schleifenquantengravitation scheint mir ein eindrückliches Beispiel dafür zu sein, wie eine Weltanschauung ihren 271 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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selbstgesetzten Kalender aufbricht und sich aus dessen Herrschaft befreit. Nicht die Zeit zur Variable abstrahieren und dafür nutzen, um unpassende Gleichungen passend zu machen, sondern die Zeitlichkeit der Welt-Phänomene selbst ernstnehmen. Das bedeutet vor allem: Sich seine eigene Unwissenheit eingestehen und die Zeit als das anerkennen was sie nach wie vor ist: ein Rätsel. Auch die Physik geht mit der Schleifenquantengravitation offenbar den Weg der Dialogphilosophie: Da sie sich keinen hinreichenden Begriff der Zeit bilden kann, sie die Zeit aber ernst nehmen will, konzentriert sie sich von nun an auf die konkreten Manifestationen der Zeit. Die Zeit wird also nicht mehr als eine Absolutheit propagiert, sondern soll in ihrer Konkretheit veranschaulicht werden. Die wohl älteste Wissenschaft der Welt könnte so die erste sein, die sich aus dem Zwangskorsett ihrer eigenen Zeitprojizierung wieder befreit. Ein wahrer Fortschritt zur Freiheit!

5.6. Kaironomie und die Zeitlichkeit des Seins Alles, was bis hierhin beschrieben wurde, wird im Folgenden herangezogen, um die von Rosenstock-Huessy geforderte Kaironomie zu skizzieren. An dieser Stelle im Text wissen wir Bescheid über • den Unterschied zwischen Wahn- und Währzeit: von Ismen und Weltanschauungen konstruierte Zeitblasen sind Wahnzeiten. In der Währzeit ist der Mensch offen für seinen Imperativ in der Gegenwart; • die Bewährungsstruktur im Kohortativ, Dativ und Dual; • die Macht der Kalender über das Menschengeschlecht: Zeitbegriffe und Zeitauffassungen wirken wie Kalender; • die Möglichkeit, die Kalender für die Zeit aufzubrechen durch eine Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit: die Kalender durch Relationierung ihrer Totalisierung berauben und damit für uns unschädlich machen; • die beiden Maßstäbe und in Raum und Zeit zu orientieren: Maßstab III: Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr. Maßstab IV: Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere?

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Mit diesem Rüstzeug im Gepäck widmen wir uns nun der eigentlichen Innovation Rosenstock-Huessys: der Beschreibung der Zeitigungen. Mit Hilfe dieser Beschreibungen können wir dann zu einer konkreten Kunst der Kaironomie, wie sie Rosenstock-Huessy fordert, vordringen. Im folgenden Kapitel wird dargelegt, was nach Rosenstock-Huessy bei einer solchen Kaironomie über Zeitlichkeit und Zeitigung berücksichtigt werden muss. Die Kaironomie selbst arbeitet er nicht aus, liefert uns aber, wie im folgenden Kapitel dargestellt wird, theoretische Eckpunkte dafür. Die Kaironomie, wie ich sie dann präsentieren werde (ich schließe hiermit ausdrücklich nicht aus, dass es noch andere Kaironomien geben kann), ist ein Ergebnis der Zusammenschau aller Dialogphilosophen (inklusive Goldschmidt in Kapitel 6). Im Ergebnis-Kapitel 7.6 werde ich also nochmals alles zur Ausarbeitung der von mir vorgeschlagenen Kaironomie Notwendige aufgreifen und zu einer handfesten, konkreten Kunst der Kaironomie zusammenführen, indem ich unsere vier Maßstäbe aus der Einleitung mit den Zeitigungsimperativen, die im Folgenden dargelegt werden, in Zusammenhang bringe.

5.6.1. Hinführendes zur Zeitigung der »Welt« 5.6.1.1. Zeitlichkeit und Zeitigung Husserl analysiert das Zeitbewusstsein des intentionalen Ichs als einen durch Retention und Protention gedehnten und dabei seinerseits übergänglichen »Jetztpunkt«. 560 Die im »Jetztpunkt« stattfindende »Urimpression« ist die Phase der größten Präsenz eines im Bewusstsein Gegebenen. 561 Die Urimpression ist der ursprünglichste Modus der intentionalen Einheit aus Retention und Protention und ist darüber hinaus die Phase der Urbegegnung des Bewusstseins mit Bewusstem. 562 Dieser »Jetztpunkt« dehnt sich – man erinnere sich zum Vergleich an die aristotelische Vermittlerfunktion der »Jetztpunkte« –

560 561 562

Vgl. Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1238. Vgl. Held: »Urimpression«, 364. Vgl. Held: »Urimpression«, 363.

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zwischen Vergangenheit und Zukunft und zu einem Zeitkontinuum 563 – dem intentionalen Ich – aus in: 564 • »Retention«, auch »primäre Erinnerung« 565 genannt, in der sich das intentionale Ich auf dasjenige Bewusste bezieht, das gerade aus der Präsenzsphäre in die Vergangenheit übergeht (nicht zu verwechseln mit dem Akt der Vergegenwärtigung von Vergangenem oder dem durch ein Zeichen vermittelten Verweisungsbewusstsein, die in der Retention erst fundiert sind). 566 Und in • »Protention«: der intentionale Bezug des Ichs auf das Bewusste, dessen Eintritt in die Bewusstseinsgegenwart unmittelbar bevorsteht. Protention unterscheidet sich von der Retention insbesondere dadurch, dass sie im Gegensatz zum retentionalen Entgleitenlassen als unthematisches Vorgreifen auf Kommendes in der passiven Schöpfung des intentionalen Lebens die erste Gestalt von Aktivität darstellt. 567 Heidegger bestimmt das menschliche Dasein als »dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«. 568 Bereits die Seinsweise des Menschen, das »Dasein«, drückt den Bezug des Menschen auf sein eigenes Seinsverhältnis aus, wobei zur Seinsweise des Menschen auch seine Endlichkeit und damit ›Zeitlichkeit‹ gehört. Und tatsächlich ist nach Heidegger das Dasein »die Zeit selbst, nicht in der Zeit«. 569 Warum ist es die Zeit selbst? Von Kant kommend, der der Zeit (bzw. der Zeitlichkeit) ja empirische Realität und transzendentale Idealität zuschreibt, könnte man für diese These folgendermaßen argumentieren: In Erfahrungssituationen kommt der Zeit objektive Gültigkeit zu, nach ihrem eigenen Dasein befragt, ist sie aber ein Nichts, da die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung entfallen. 570 Das gilt dann auch in der Selbstanwendungsstruktur der Selbstreflexion des Menschen. Die Zeit ist dem Menschen weder hinzugedacht, noch am Menschen erfahren, 563 564 565 566 567 568 569 570

Vgl. Kap. 5.1.1. Vgl. Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1238. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 33. Vgl. Held: »Retention«, 932. Vgl. Held: »Protention«, 1529. Heidegger: Sein und Zeit, 12. Heidegger: Der Begriff der Zeit, 19. Vgl. Kap. 5.1.3.

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sondern die Bedingung der Möglichkeit dieser Selbstreflexion überhaupt: Damit ist der Mensch – dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht – wenn er ist, die Zeit selbst. Heidegger geht aber einen anderen Weg, indem er mit Hilfe der Sorgestruktur die Intentionalitätkonzeption von Husserl ergänzt, kommt er nämlich auf ein konkreteres Ergebnis: Schon in seinen frühen Vorlesungen greift Heidegger als Bezeichnung für das philosophische Suchen und Reflektieren auf den christlichen Topos der ›Sorge‹ zurück. 571 Kierkegaard charakterisiert die Sorge bereits im Lichte der Zeitlichkeit: »Alle irdische und weltliche Sorge geht im Grunde auf den morgenden Tag« 572, und diese Sorge sei »Selbstplagerei«. 573 Als Christ erfülle man »den Tag heute mit dem Ewigen« 574, während die ›Heiden‹ weder im Heute noch im Morgen richtig lebten und somit »Selbstplager« 575 seien. Heidegger nimmt Kierkegaards Sorgebegriff auf, um Husserls Auffassung von Intentionalität – die laut Heidegger nur ein bloßes »Sichrichten-auf« 576 meint – zu ergänzen. Sorge ist dem frühen Heidegger zunächst folgendes: »1. Eine bestimmte Sorge hat die Eigentümlichkeit, das, um welches sie geht, zu erschließen und in das Dasein zu bringen; 2. das Erschlossene dergestalt, wie es da ist, konkret zu explizieren; 3. das explizit Ausgebildete in einer bestimmten Weise zu behalten; 4. dem Behaltenen sich zu verschreiben, d. h. bestimmte Grundsätze daraus für das Besorgte anderer Sorgen normativ zu machen; 5. das Sichverlieren: das, was in der Sorge steht, so unbedingt anzusetzen, daß von ihm aus jegliche Sorge grundsätzlich motiviert ist.« 577

Husserls Intentionalität als ein Sichrichten-auf ist also nur ein Moment der Sorge, die den formalen Charakter des Sich-selbst-vorwegschon-sein-bei Etwas habe. Diese Struktur der Sorge charakterisiert das menschliche Dasein als zeitlich verfasst: Es ist nicht in der Zeit, sondern im Besorgen ist es selbst die Zeit. In Sein und Zeit hält Heidegger dann schließlich fest: »Die ursprüngliche Einheit der Sor571 572 573 574 575 576 577

Vgl. Kranz: »Sorge«, 1086 f. Kierkegaard: Christliche Reden, 75; Kierkegaard: Christliche Reden, 74; Kierkegaard:Christliche Reden, 78 f.; Kierkegaard: Christliche Reden, 83. Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 420. Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung, 61.

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gestruktur liegt in der Zeitlichkeit«. 578 Und da die Sorge ein »ontologischer Strukturbegriff« 579 ist, entpuppt sich die Zeitlichkeit selbst als der Sinn der Sorge und damit der Sinn des Daseins. Die Konsequenz ist: Immer, wenn es um das Seinsverständnis oder die Seinsauslegung geht, muss, ob der »Zeitlichkeit als Sein des seinsverstehende Daseins« 580 die Thematisierung des Seins im Horizont der Zeit geschehen – ein Schluss, der auch aus der Dialogphilosophie heraus erhärtet wird. 5.6.1.2. Die Grenze zwischen BEWUSSTsein und BewusstSEIN Nicht nur bei Rosenstock-Huessy, sondern auch bei Rosenzweig und Ebner wird der Moment der Zeitigung des Seins herausgearbeitet: Die Grammatik der Wortformen, der Wechselrede und des Zwiegesangs drücken die Zeitigung des Seins in ihren jeweiligen grammatischen Strukturen aus. 581 Auf der Erkenntnisebene können wir nur von der Zeitlichkeit im transzendentalphilosophischen Sinne sprechen. Das Sein kann aber gar nicht anders als sich zeitigend offenbaren: Es kann also kein Begriff des Seins selbst oder Ähnliches proklamiert werden. Die Zeitigungen stehen grammatisch im Imperativ – sind also aus der Perspektive einer Ontologie der Logik vorzeitlich! Varianten der Zeitlichkeit des Seins sind das einzige Charakteristikum, das wir über das Sein wissen können: Die Zeitigung ist der Moment, in dem für uns Sein und Zeit zusammenrücken. Im (echten) Dialog 582 sind Sein und Zeit eins für uns. 583 Hiermit wird aber weder ein Begriff des Seins noch der Zeit proklamiert, noch wird behauptet, dass es so etwas wie das Sein oder die Zeit gibt. Das können wir gar nicht wissen: Seit Parmenides, dessen Wahrheitsbegriff auf der Einheit zwischen Sein und Denken beruht, trennt die abendländische Philosophie den Schein vom unveränderlichen und eigentlich seienden Sein. Platon führt diese Differenz als Unterscheidung zwischen werdehaft Seiendem (on gignomenon) und der eigentlich seienden Idee (ontos on) fort, sodass diese Zweiteilung auch die aristotelische Metaphysik 578 579 580 581 582 583

Heidegger: Sein und Zeit, 327. Heidegger: Sein und Zeit, 57 Heidegger: Sein und Zeit, 17 Vgl. Casper: Dialogisches Denken, 110. Vgl. Kap. 7.1. Vgl. Casper: Dialogisches Denken, 152.

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einerseits in Ontologie und andererseits – mit der Frage nach dem das Seiende ordnenden höheren Sein – in Ontotheologie aufteilt. »Die vollste Ausprägung von allgemeiner Ontologie und philosophischer Theologie in einer Wissenschaft erreichte die Scholastik, wo etwa Thomas von Aquin die Vereinigung von Ontologie und theologia naturalis als ›praeambulum fidei‹ der christlichen Philosophie bzw. Theologie anstrebt.« 584 Martin Heidegger, der sich vornahm »das griechisch Gedachte noch griechischer zu denken«, 585 gibt dieser die abendländische Bewusstseinsgeschichte charakterisierenden Zweiteilung als ontologischer Differenz zwischen Sein und Seiendem ein schärferes Profil. Eines der großen Verdienste seines fundamentalontologischen Entwurfs ist es, mit der Einführung dieses Terminus Verwechslungen zwischen Sein und Seiendem vorzubeugen. Hierbei steht die wegweisende Feststellung im Raum, dass das Sein des Seienden nicht selbst ein Seiendes ist, die Suche nach dem Sein aber nur immer Seiendes zu Tage fördert, das Sein aber trotzdem als kontextueller Hintergrund die Voraussetzung dafür ist, dass Seiendes überhaupt ist. Da traditionelle Metaphysiker insbesondere damit beschäftigt waren, Seiendes in seinem Wesen zu erforschen, diagnostiziert Heidegger dem Abendland Seinsvergessenheit. Das Sein schließt also als Verständnishorizont des Seienden den praktischen Umgang und aber auch das Unverstandene und Unbekannte mit ein, wird aber selbst nicht thematisiert. In diesem Beitrag wird die Heideggersche ontologische Differenz beibehalten, denn wenn es um Erkenntnisfragen geht, markiert sie die genaue Grenze von Erkenntnis: Das Sein tritt als Verständnishorizont, der sowohl praktischen Umgang als auch das Unverstandene mit einschließt, mit allem in der Welt erscheinenden Seienden gemeinsam auf. »Sein ist jeweils das Sein eines Seienden« 586, jedenfalls tritt es immer so auf, wenn es erkannt wird, denn eigentlich gilt: »Das Sein des Seienden ›ist‹ nicht selbst ein Seiendes.« 587 Seiendes tritt also immer in seinem Kontext, seinem nicht konkret werdenden Sein, auf und in unser Bewusstsein ein. 584 585 586 587

Schmid: Grammatik statt Ontologie, 26. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, 134. Heidegger: Sein und Zeit, 9. Heidegger: Sein und Zeit, 6.

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So weit, so gut! Solange wir auf Erkenntnis abzielen, also Ontologie betreiben, bleibt die ontologische Differenz auch für uns bestehen: Die Reflexion hat es immer mit der ontologischen Differenz zu tun. Aber wir befinden uns hier bereits an einer Stelle im Text, an der wir wissen, dass Reflexion immer im Nachhinein stattfindet. Wir balancieren hier auf der Grenze zwischen BEWUSSTsein und BewusstSEIN: Ersterem geht es um Wissen und Erkenntnis, Letzterem um Leben und Tod: In der Kaironomie macht es keinen Sinn mehr, methodisch zwischen Seiendem und seinem Sein zu unterscheiden, denn wir – wir sind ja als BewusstSEIN selbst Seiende: Daseiende – sind aus psychologischen Gründen – in der dialogischen Haltung – offen für das Seinsgeschehen selbst. Hier geht es nicht darum das Sein umfassend zu verstehen (dann würden wir nur in den sog. hermeneutischen Zirkel geraten), sondern im BewusstSEIN gehen wir gar nicht mehr von der methodisch gesetzten Denknotwendigkeit ›Sein‹ aus! Die ontologische Differenz wird im Imperativ hervorgebracht, manifestiert sich aber erst im Indikativ der Reflexion. Solange wir uns als BEWUSSTsein im Modus des Indikativs (und das ist eben der Modus unserer Erkenntnisse) befinden, müssen wir die ontologische Differenz unbedingt berücksichtigen! Aus diesem Grunde muss aber auch von Heideggers ontologischer Differenz im Kontext gegenwärtiger Zeitigungen (Imperativ) abgesehen werden: Sie wäre bloß im wörtlichen Sinne ein aus der Vergangenheit mitgebrachtes Vor-Urteil. Heidegger problematisiert zwar die Begrenzung metaphysischer Vorgehensweise sehr klar und hebt selbst hervor: »Allein die Frage nach dem Wesen des Seins stirbt ab, wenn sie die Sprache der Metaphysik nicht aufgibt, weil das metaphysische Vorstellen es verwehrt, die Frage nach dem Wesen des Seins zu denken.« 588 Nichtsdestoweniger bleibt er dem Seinsdenken und dem metaphysischen Jargon im Endeffekt verpflichtet. Ähnliches gilt für die Heidegger folgenden Existenzialisten. Sie kritisieren zwar völlig zu Recht, dass das Sein der Seinsphilosophie nicht zeitgesättigt sei und damit eine bloße Erfindung, 589 haben aber nicht wirklich etwas anzubieten, um diesem Problem zu begegnen. »Die Philosophie besiegt die Welt, die sie berechnet. Sie verrechnet sich nur, wo sie den Philosophen auf den Jar588 589

Heidegger: Zur Seinsfrage, 26. Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 65 f.

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gon: ›das Wahre‹, ›das Gute‹, ›das Schöne‹, ›das Göttliche‹, ›das Seiende‹ zurückschraubt.« 590 Heidegger formuliert zwar das genaue Problem und Anliegen: 591 »ein anderes ist es, über Seiendes erzählend zu berichten, ein anderes, Seiendes in seinem Sein zu fassen. Für die letztgenannte Aufgabe fehlen nicht nur meist die Worte, sondern vor allem die ›Grammatik‹.« 592 Aber er kommt, obwohl er sich in dieser Textstelle selbst den Hinweis auf das Problem des erzählenden Modus und die Grammatik im Allgemeinen liefert, aus dem erzählenden Modus des Indikativs nicht heraus. Die weitgehende Nichtberücksichtigung der Grammatik lässt Heidegger an seine selbsteingestandenen Grenzen stoßen. Als Beispiel darf folgende Textstelle gelten, in der Heidegger zwar auf die Bedeutung des Hörens hinweist, aber das Hören durch seinen ausschließlich indikativen Ansatz missversteht: »Das Hören auf … ist das existanziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt. Das Dasein hört, weil es versteht. Als verstehendes In-der-Welt-sein mit den Anderen ist es dem Mitdasein und ihm selbst ›hörig‹ und in dieser Hörigkeit zugehörig. Das Aufeinander-hören, in dem sich das Mitsein ausbildet, hat die möglichen Weisen des Folgens, Mitgehens, die privaten Modi des Nicht-Hörens, des Widersetzens, des Trotzens, der Abkehr.« 593

Durch seine Erkenntnisperspektive kann sich Heidegger unter Hören offenbar nichts anderes als Hörigkeit im Sinne vom ›Folgen‹ und ›Mitgehen‹ vorstellen, da er das Mitdasein nur aus der Perspektive des Indikativs, Genitivs und Plurals als Bündel von Ichen konstruieren kann. Selbstverständlich ist auch die Hörigkeit ein nicht zu leugnender Aspekt des Hörens. Hören kann aber nicht auf Hörigkeit reduziert werden. Die Dialogphilosophie, die als Sprachphilosophie insbesondere den Wert der Modi des Verbs entdeckt, kommt in dieser Frage weiter, indem sie in dieser Frage des Hörens den Begegnungsmodus des Kohortativs, mit seinen gleichursprünglichen grammatischen PhänomeRosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 231. Überhaupt springen einem die zahlreichen Parallelen zwischen der Heideggerschen Fundamentalontologie und der Dialogphilosophie förmlich an! Vgl. hierzu auch: Casper 2002, 83, 174, 333 f. Und 344, und vor allem Schmid: 2011, 64 ff. 592 Heidegger: Sein und Zeit, 39. 593 Heidegger: Sein und Zeit, 163. 590 591

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nen des Dativs und Duals in einem einzigartigen »Wir« berücksichtigen kann. Wir werden im Folgenden sehen, dass es in einer der Zeitigungen der »Welt«, in dem Moment nämlich, in dem das BEWUSSTsein in BewusstSEIN umschlägt, Sein und Seiendes deckungsgleich sind, also Heideggers ontologische Differenz aufgelöst ist: in der Zeitigung der Gegenwart.

5.6.2. Die Zeitigung der »Welt« Um Rosenstock-Huessys Überlegungen und Beschreibungen nachvollziehen zu können, müssen wir drei Punkte klarstellen: 1) Es gibt für die folgende Darstellung eine Voraussetzung, die wir Rosenstock-Huessy zugestehen müssen: »daß jedes Menschenkind es mit der Zeit notgedrungen in drei Richtungen zu tun bekommt: aus der Vergangenheit, um der Zukunft willen und in der Gegenwart.« 594 Es sind dies die drei in der Begriffsgeschichte der Zeit mal als subjektive Dimensionen (Kant) 595 oder als Ekstasen der Zeitlichkeit (Heidegger) interpretierten, bei Macchiavelli im Kampf zwischen »Virtus« und »Fortuna« immer wieder auftauchenden, den Menschen betreffenden zeitlichen Phänomene. Niemand würde ernsthaft bestreiten, dass wir von diesen drei Phänomenen als zeitlichen Phänomenen sprechen. Ich denke, diese aus der Erfahrung erhärtete theoretische Vorannahme können wir Rosenstock-Huessy als Prämisse ohne Weiteres zugestehen, denn wie sonst als in diesen drei Richtungen könnte der Mensch es mit der Zeit zu tun bekommen? Inwiefern die abstrakte Zeit eine – hilfreiche und sinnvolle – Erfindung der Menschheit ist und ihr damit kein Zeitigungsimperativ zukommen kann, dürfte an dieser Stelle bereits klar geworden sein (darauf wird im Folgenden aber nochmals hingewiesen). 2) Diese drei zeitlichen Phänomene – Rosenstock-Huessy nennt sie auch Gezeiten 596 – betreffen den Menschen, der gemäß dem Kreuz der Wirklichkeit in zwei Räumen und zwei Zeiten lebt, 594 595 596

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 63. Vgl. Beuthan/Sandbothe: »Zeit«, 1234. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87.

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3)

597 598 599 600

also in einer Vierfalt: in seinem Innen und Außen, Vergangenen und Künftigen: »Leben wird angeeignet oder eingemeindet oder verkörpert oder begriffen […], indem es einen Träger nach außen zu seinem Begriff, nach rückwärts auf seinen Ursprung, nach vorwärts zu seiner Bestimmung fortreißt, nach innen auf seine ewige Geltung hin in Mitleidenschaft zieht.« 597 Das bedeutet, dass jede Zeit den Menschen auf eine vierfache Reise durch das Kreuz der Wirklichkeit zwingt. Von der »Welt« sprechen Philosophen normalerweise als von einer »in sich sinnvoll gegliederten Ganzheit, einer intern strukturierten Vielfalt und ihrer Komplexität […], die von anderen Bereichen abgegrenzt werden kann […].« 598 Was ein bisschen wie eine monistische Ausrede zur Letztbegründung von Weltanschauungen und metaphysischen Philosophien klingt, dient tatsächlich häufig genau dem Zweck, als vorgestellte Totalität alles Seienden zu erscheinen. Etymologisch 599 geht das deutsche »Welt« aber auf das gotische »wer-alt« zurück, was »Menschensaat« bzw. »Menschenalter« bedeutet. So dient »Welt« wiederum zur Übersetzung von »Saeculum«, welches als Übersetzung des griechischen aion dient und auch alttestamentlich als ›ôlām‹ auftaucht. Erst mit den Übersetzungen von Descartes wird »Welt« auf das lateinische mundus zielend, welches wiederum das griechische kosmos übersetzt, umgewertet. »Kosmos«, seit dem 5. Jahrhundert vor Christus gebräuchlich, dient zunächst zur Bezeichnung sozialer Ordnungen, 600 bevor es als Begriff für das Ganze des Alls verwendet wird. Spricht die Naturwissenschaft also von »Welt«, meint sie eigentlich »Weltall« oder »Universum«, und nicht »Welt«. Wenn Husserl zum Beispiel schreibt, »daß alle Konstitution jeder Art und Stufe von Seiendem eine Zeitigung ist, die jedem eigenartigen Sinn von Seiendem im konstitutiven System seine Zeitform erteilt«, so unterscheidet er nicht zwischen physikalischen Objekten und idealen Sinngegenständen, die sich im Be-

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87. Rentsch: »Welt«, 407. Vgl. Rentsch: »Welt«, 407. Vgl. Gatzemeier: »Kosmos«, 1167.

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wusstsein zeitigen. 601 Nicht nur das »Universum«, mit dessen Hilfe sich vorausberechnen lässt, zu welchem Zeitpunkt zum Beispiel ein Meteorit – ein Seiendes – auf die Erde fällt, zeitigt sich also. Das wäre nur eine aus einer abstrakten Zeit abgeleitete scheinbare Zeitigung, die wie der Kalender des Reichs eine organisierte Gegenwart proklamiert. Es ist aber die »Welt«, also das »Menschenalter« – man könnte auch sagen: die »Generation« – die sich zeitigt. 602 Wie wir sehen werden, kann sich ein Physiker, der ja selbst auch Mensch ist, mit Hilfe seines Geistes den Begriff »Universum« nur bilden, weil er vom Tode bedroht ist und so Teil seiner Generation wird. Der einzelne Mensch, ob er will oder nicht, ist Teil seiner Generation. Nun ist der Mensch aber zuerst Hörer und dann Sprecher. Das bedeutet: Die »Welt« zeitigt sich dem Menschen. Die »Welt« (und damit auch der Einzelmensch) ist jedoch mehraltrig: Sie geht den Menschen an aus der Vergangenheit, um der Zukunft willen und in der Gegenwart. Jedes dieser »Alter« zeitigt sich dem einzelnen Menschen auf unterschiedliche Weise. Das sind die drei »Alter«, in denen sich die »Welt« im Menschen zeitigt. Und diese Zeitigungen stehen im Imperativ. Es liegt also nahe, die drei Gesichter der »Welt« mit tatsächlichen Menschenaltern zu benennen. Wenn Rosenstock-Huessy in diesem Kontext von »Kind« bzw. »Künstler«, »Erwachsener« bzw. »Kämpfer« und »Greis« bzw. »Priester« redet, müssen wir Leser im Hinterkopf behalten, dass es sich hier um Namen von »Menschenaltern« im »Generations«-Zusammenhang handelt und nicht um Einzelpersonen. Jedem Einzelmenschen werden alle drei genannten Zeitigungsnamen auf einmal aufgezwungen, denn alle Einzelmenschen sind Teil ihrer Generation, deshalb handelt es sich um transzendentale Zeitigungsnamen. In diesem Sinne dürfen wir tatsächlich sagen: »Jeder Mensch ein Künstler«, »Jeder Mensch ein Kämpfer« und »Jeder Mensch ein Priester«; und zwar alles zur gleichen Zeit. Bei diesen Namen handelt es sich um Haltungen bzw. Einstellungen, in die jeder Mensch – vielleicht mehr oder weniger intensiv und eventuell mit unterschiedlichen Schwerpunkten – durch die Zeitigung der »Welt« gezwungen 601 602

Vgl. Becker: Sinn und Zeitlichkeit, 55 f. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 95.

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wird, weil er als Teil einer Generation sterblich ist. Ich rede hier von »Zwang«, weil angesichts des Todes keine andere Wahl bleibt, als auf die Imperative zu antworten. 603 Jedem Einzelmenschen zeitigt sich die »Welt« also in drei Gezeiten, wobei die einzelnen Gezeiten den Menschen jeweils gemäß dem Kreuz der Wirklichkeit in vier Ämter, d. h. in vier unterschiedliche Imperative zwingen. Die »Welt« zwingt den einzelnen Menschen – gleichzeitig, da sich die »Welt« im Menschen mit allen ihren drei »Menschenaltern« zugleich, also als »Generation« zeitigt – in drei Kreuze der Wirklichkeit: 1) »Spiel!«: »Kinder und Künstler sind in erster Linie empfänglich für alles schon aus der Zeit Angetroffene. Sie vernehmen den Reichtum des Daseins.« 604 Die »Welt« zeitigt sich dem »Kind« aus der Vergangenheit der »Welt«, von der es lernt. Es spielt sich also im Schutz von Schule und Universität in die Vergangenheit hinein. 2) »Leide!«: »Mann und Kämpfer unterscheiden und behaupten sich gegen die Stimmen in ihrer besonderen und eigenen Zeit. Sie verstehen ihre Konflikte und Gegensätze.« 605 Der »Erwachsene« kämpft sich aus dieser Vergangenheit wieder heraus, um der Zukunft willen! 3) »Stifte!«: »Greise und Priester binden und lösen, d. h. sie stiften und hinterlassen in die Zukunft hinein. Sie überliefern die unerläßlichen Friedensbedingungen.« 606 Im »Greis« überbrückt die »Welt« die »Kinder« der Vergangenheit und die »Erwachsenen«. Er verbindet also »Spiel!« mit »Leide!«. Im »Greis« zeitigt sich die »Welt« in der Gegenwart. Bei der »Welt« handelt es sich also nicht um ›objektive‹ Wahrheit oder »Wahres« o. Ä. Es ist offensichtlich, dass sowohl die »Welt« der »Kinder« als auch die »Welt« der »Erwachsenen« keinen objektiven Wahrheitsanspruch an den Tag legt. Trotzdem müssen wir dem Verhältnis

603 604 605 606

Vgl. hierzu auch Kap. 3.2 über Buber’sche Verantwortung. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 64. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 64. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 64.

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von Sein und »Welt« nachgehen, und wir werden sehen, dass sich die »Welt« im »Stifte!« mit dem Sein deckt, sodass wir im »Stifte!« direkt mit der Zeitlichkeit des Seins konfrontiert sind. Nur durch das »Stifte!« kann man den Zeitigungen der »Künstler« und »Erwachsenen« Wahrheit zuschreiben, denn sie finden in Relation zum »Stifte!« statt. Im »Stifte!« könnte man mit Heideggers ontologischer Differenz sagen, deckt sich das Sein mit Seiendem. An dieser Stelle sei noch einmal auf Schmids Grammatik statt Ontologie hingewiesen. Darin verfolgt er einen anderen Interpretationsansatz: Er konzentriert sich ausschließlich auf die grammatische Darstellung, ohne die soziologischen »Zeitigungen« selbst zu thematisieren. Deshalb kann Schmid als gelungene Ergänzung zu diesem Beitrag gelesen werden. Auch er kommt nämlich – Ingrid Ritzkowski folgend 607 – zu einem Ergebnis, an dem eine viergliedrige Ganzheitserfassung einer dreigliedrigen gegenübersteht: das 4 � 3-Modell zwischen Orientierung im Erlebnis (4er-Reihe gemäß dem Kreuz der Wirklichkeit) und Wirklichkeit (3er-Reihe gemäß den drei skizzierten Zeitigungen). Diese grammatischen Reihen lassen sich folgendermaßen darstellen: 608 Vorwärts

Innen

Rückwärts

Außen(

Pronomen)

Du (Präject)

Ich (Subject)

Wir (Traject)

Es (Object)

Seinsweise (Modi)

Imperativ & Kohortativ

Konjunktiv

Indikativ

Unbestimmte Seinsweise, vergleichbar mit »Virtualität« 609

Zeit

Gegenwart (aus der Zukunft kommend)

Futurum (»vulgäres« 610 Zukunftsverständnis)

Vergangenheit

außerzeitlich

Ritzkowski: Rosenstock-Huessys Konzeption einer Grammatik der Gesellschaft«, vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 106. 608 Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 148. Meine Darstellung berücksichtigt die in diesem Beitrag verwendete Nomenklatur, weicht also inhaltlich (Tempora) und bezüglich der Nomenklatur von Schmids Darstellung ein wenig ab. Auch spielt der Kohortativ bei Schmid – wie bei Rosenstock-Huessy – explizit keine Rolle. 609 Vgl. Kap. 7.6. 610 Vgl. Kap. 9. 607

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Die Zeitigungen der »Welt«, die grammatisch immer in einer der vertikalen 3er-Reihen strukturiert ist, werden also immer zur Orientierung im Kreuz der Wirklichkeit ›durchkonjugiert‹. Ich denke, der Zusammenhang zwischen dreidimensionaler Wirklichkeit (»Zeitigungen«) und vierdimensionaler Orientierung innerhalb jeder Zeitigung (Kreuz der Wirklichkeit), 611 also diese 3 � 4-Umwendungsbewegungen, werden im Folgenden evident werden, wenn die drei Kreuze der Wirklichkeit im Einzelnen skizziert wurden. Diese Zusammenhänge führen uns anschließend zu einem Verständnis davon, was mit »Zeitgeist« 612 gemeint sein könnte, also wie Denken und Erleben »unter den Aspekt seiner Gegenwartsbezüge« 613 zu erfassen sind, und welche Rolle die Kunst der Kaironomie dabei spielen kann. 5.6.2.1. Der Zeitigungsimperativ der »Welt« aus der Vergangenheit: »Vernimm!« (und »Spiel!«) »Empfänglich gegen den Geist, plastisch, ist der jugendliche Mensch, und wer kindlich bleibt, bleibt eben damit zeitlebens empfänglich. ›Vernimm!‹ ist das Grundgebot des wachsenden Lebens, vom ersten Vernehmen des eigenen Namens durch das bewußtlose Baby an.« 614

Die Zeitspanne zwischen Zucht und Zeugung setzt den Säugling einem ungeheuren Kraftfeld aus, das im Folgenden in allen Einzelheiten erläutert wird. Dieses Kraftfeld steht im Zeichen des Imperativs »Vernimm!«. »Vernimm!« 615 zeitigt sich wiederum in vier Variationen, die je anders lauten:

Vgl. Schmid: Grammatik statt Ontologie, 165 ff. Rosenstock-Huessy nennt dieses Schlüsselkapitel in seinem Kreuz der Wirklichkeit, das hier behandelt wird, »Zeitgeist«. 613 Konersmann: »Zeitgeist«, 1266. 614 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 64. 615 Zu beachten ist, dass Rosenstock-Huessy für die einzelnen Zeitigungen konkrete Imperative wie zum Beispiel »heiße!« oder »lies!« verwendet. Wir werden gleich sehen, dass es sich hier nur um veranschaulichende Bezeichnungen handelt, die nicht mit den tatsächlichen Imperativen verwechselt werden sollten. »lies!« ist so bloß ein einsichtiges Beispiel für einen Imperativ, der sich dadurch auszeichnet, dass er – im Gegensatz zu »heiße!« zum Beispiel – für alle Adressaten gilt. Bücher zum Beispiel sind an alle Leser gerichtet, aber nur einige Leser fühlen sich tatsächlich persönlich 611 612

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Die erste Variation des »Vernimm!« an den Einzelnen ist der Eigenname: »Vornehmlich vernimmt jeder gehorchende oder vernehmende Mensch aus allen Anreden, daß er seinen eigenen Namen tragen soll. Dieser Name wirkt als Klammer um alle Geheiße, Imperative, Aufforderungen, Gebote, Lehren und Verheißungen, die ihm Eltern, Lehrer oder die Straße zurufen.« 616

Mit »Eigenname« ist hier nicht gemeint: »Dein Name ist Helmut, komm klar damit!«, vielmehr ist der Eigenname ein »Ich heiße dich!«. Völlig egal wie er also lautet, der Eigenname ist Ausdruck dafür, dass das Kind »in der Luft liegende«-Zeitstimmen als an sich persönlich gerichtete gelten lässt. Der Eigenname erzwingt im Kind einen Prozess der Anerkennung. Nur persönliche Imperative, die dem Kind nicht gleichgültig sind, formen seine Einzigartigkeit. 617 »Das Bezwingende der Sprache ist, daß ihr Empfänger nie im Zweifel bleibt, daß sich das Wort an ihn richte.« 618 Aber das Kind muss erst einmal lernen, empfangsfähig zu werden. Dies kann es nur lernen, wenn es tatsächlich als einzelnes angesprochen wird: »Dieses Kind muß sich auserwählt wissen durch die liebende Anrede. Es muß nie zu fürchten haben, als Schaf der Herde bloß mitzulaufen, sondern die Ehre seines Namens werde ihm geschenkt.« 619 Der dem Baby verliehene konkrete Eigenname ist erst einmal ein Geschenk: »Es wird anerkannt als eine kommende Person.« 620 Der Eigenname ist eigentlich eine Verheißung, da das Baby bereits als Person anerkannt wird, bevor es Person ist und diese Anerkennung, die sich im Eigennamen manifestiert, zwingt es dann zur Personwerdung. Ich rede deshalb hier von »Zwang«, 621 denn wie bei durch das Buch angesprochen. Mit »heiße!« bin tatsächlich nur ich persönlich adressiert und nur ich kann mich angesprochen fühlen. 616 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. 617 Siehe unten! 618 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. 619 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. 620 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. 621 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: es handelt sich hier nicht um eine alttestamentarische Brutalo-Pädagogik, sondern um das Verhältnis von »Welt« und Einzelnem. »Kind«, »Erwachsener« etc. sind transzendentale Zeitigungsnamen! Pädagogik selbst wird hier gar nicht besprochen, höchstens die weltanschaulichen Verankerungen einiger Pädagogiken. Transzendental sind diese Zeitigungsnamen, weil sie keine lineare Entwicklung des Menschenlebens kennzeichnen, sondern jeden Menschen jeder Zeit gleichzeitig prägen und herausfordern: täglich, ein Leben lang!

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allem, was man geschenkt bekommt, kann man sich auch den Namen nicht aussuchen. Der Eigenname klammert alle an das Baby gerichteten konkreten Geheiße und Aufforderungen ein: »Der Eigenname wirkt als Imperativ.« 622 Andererseits hat die dem Baby erwiesene Ehre des Eigennamens ihren Preis: den Gehorsam. Der Eigenname und alles, was mit ihm an Geheißen verbunden ist, wird dem Baby, ob es will oder nicht, zum Maßstab: »Der Imperativ der ersten Lebensstufe: ›Heiße!‹ ist also doppelpolig. Er bedeutet: Empfange Deinen Namen als Deinen Charakter indelebilis eingebrannt. Wegen Deiner Zukunft aber vernimm auch die Geheiße und befolge sie, welche an Deinen, wirklich Deinen Namen, Deine Adresse unzweideutig sich richten wegen unserer Geschichte. Dein Name verheißt Dir Deine eigene Zukunft, unsere Geheiße aber binden Dich an unsere Vergangenheit.« 623

Der zweite Imperativ: »Lies!« folgt in der Schule. Dort tritt das Kind in die Uniform: es ist nur noch einer unter vielen Schülern, und der Namensdruck auf das Kind allein lässt nach. In der Schule heißt es: »›Alle‹ lernen lesen.« 624 Von außen tritt nun ein nicht mehr persönlicher Imperativ an das Kind heran, aber Lernen ist immer noch das Resultat eines von außen kommenden Geheißes: es liest jetzt dasselbe Buch wie alle Klassenkameraden. Das Buch richtet sich zwar an alle, das Kind aber darf hier entdecken, dass dieses Buch sich trotzdem ausschließlich an es als Einzelnes richtet: »Jeder Leser kennt Bücher, die ihm durchaus nicht wie irgendein Buch vorgekommen sind, sondern wo er aufschreien wollte: ›Aber dies ist ja nur für mich bestimmt!‹« 625 Das Kind wird hier also nicht mehr primär von Personen geprägt, die es ansprechen. Zwar nötigt auch das »Lies!« das Kind zum Gehorsam, aber es nimmt Dinge und nicht mehr Personen zur Kenntnis. »Während Personen das Kind richten und heißen, unterrichten und unterweisen die Dinge. Das ist ein erheblicher Unterschied.« 626

622 623 624 625 626

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 66. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 66. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 66. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 67.

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Ein Ding erzwingt nicht unmittelbaren Gehorsam, sondern ermuntert gerade zum Zögern und Abwarten. Das Kind lernt Personen wie Dinge und Bücher wie Personen zu behandeln: »Auslese und Auswahl der Befehle werden nun so eingeübt, daß sich das Kind der Mündigkeit nähert.« 627 Mit der Mündigkeit wird das Kind in der dritten Variation des Imperativs angesprochen: die »Welt« zeitigt sich ihm als »Diene!«: »Wer dient, ist erwachsener als der bloß Geheißene oder der erst Lernende. Denn schon lassen sich sein Wille und andere, richtige oder falsche Willen in seinem Inneren unterscheidbar hören. Aber er ist nun ein Freiwilliger, der mit seinem Gehorsam freiwillig dient, obwohl er nicht unter allen Umständen, nicht unter jedem Arbeitgeber dienen würde. Einem ungerechten Herrn würde er kündigen oder entlaufen.« 628

Der Jugendliche wechselt die ihm befehlenden Personen und Dinge nach eigenem Bedarf aus. So sind alle »Poren des empfangenden Kindes dem Zeitgeiste geöffnet worden: Hat es Namen, Geheißen, Verheißungen gehorcht, hat es Epen und Daten und Kenntnisse gelernt, hat es Geboten und Pflichten gedient, so beginnt dies junge Gefäß des Geistes zu schäumen, zu klingen und überzufließen. Es beginnt zu singen.« 629

Dementsprechend zeitigt sich der vierte Imperativ als »Singe!« und damit, so Rosenstock-Huessy, eine durch Anspruch und Gehorsam geprägte Originalität: »Im Gesang wird jeder ›originell‹« 630 In der Originalität werden die ersten drei Imperative »Heiße!«, »Lies!« und »Diene!« zum eigentlichen Imperativ »Vernimm!« zusammengeschmolzen. Dem Menschen kommt hier seine Einzigartigkeit zu! Aber trotz ihrer vier Variationen handelt es sich bei »Vernimm!« um nur eine Stufe der Zeitigung, denn die »ganze Kindheit wird durch Namenszwang bezeichnet.« 631 Erst mit der Originalität erlangt der Mensch tatsächlich seinen Eigennamen, der ihm als Baby zur Verheißung ›geschenkt‹ wurde. Der Eigenname steht also im Zeichen der Einzigartigkeit des Menschen.

627 628 629 630 631

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 67. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 67. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 67. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 68. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 68.

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Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit

Neben »Vernimm!« steht die Kindheit aber gleichzeitig auch unter dem Gebot »Spiel!«. Dank der Spiele bleibt die Jugendzeit nämlich unbestimmt. »Ohne zu spielen würde der Hastige, der Wunderknabe, der Ehrgeizling selbstwillig in die ausgedachte, nur in ihm oder seinen Erziehern vorausbestimmte Bahn stürzen.« 632 Mit »Vernimm!« arbeitet sich das Kind sozusagen in die Vergangenheit des Menschengeschlechts ein: es wird geheißen, zu lernen, was das Menschengeschlecht hervorgebracht hat. Das dem »Vernimm!« beigesellte »Spiel!« macht diesen Vorgang für den Jugendlichen unschädlich. Würde er »Lies!« oder »Diene!« mit vollem Ernst des Lebens gehorchen, würde er bloß einem für die Erziehung ausgedachten Imperativ folgen und wäre für seinen Imperativ zu seiner »Hohen Zeit« taub. Man hätte sich einen Karrieremacher oder Fachidioten herangezogen. So aber spielt sich das Kind gewissermaßen in die Vergangenheit des Menschengeschlechts hinein. Das »Kind« beginnt seine Laufbahn im Kreuz der Wirklichkeit also spielerisch nach rückwärts: • »Heiße!« zwingt das Kind rückwärts in die Vergangenheit: der Eigenname zieht das Kind herab zu den Vorstellungen, Bräuchen, Spielregeln Loyalitäten und Anhänglichkeiten seiner »Welt«. • »Lies!« erzwingt das Aufsuchen der Welt in spontaner Neugier nach außen in die Natur. • »Diene!« führt zum Greifen hinter die überlieferte Welt, vorwärts in eine unartikulierte Zukunft. • Durch das »Sing!« gibt sich das Kind spielerisch seiner Originalität nach innen hin, im entspannten Warten auf das endliche Stichwort zum eigenen Ernstwerden, zum »Erwachsenenalter«. »Die Kinder-Kreuze der Wirklichkeit verlaufen mithin als ein Reigen von rückwärts nach außen, nach vorwärts, nach einwärts. Indem die Jugend von rückwärts her berufen wird und sich nach innen in sich hineinspielt […] stellt sich ihre relative Weltlosigkeit und Geborgenheit heraus.« 633

Die Episode der Jugend, die durch den Imperativ »Vernimm!« geprägt war, zeitigt ihr Ende »mit der Stunde […], in der das Kind nicht mehr als Ganzes sich fühlt, sondern auf seine Halbheit, seine Zerstücktheit 632 633

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 69. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 89.

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geworfen wird. Es wird mißverstanden und zweideutig, unsicher und verzweifelt. Nur Mann, nur Weib soll es werden.« 634 5.6.2.2. Zeitigungsimperativ der »Welt« um der Zukunft willen: »Zweifle!« (und »Leide!«) In die Geschlechter gespalten, befindet sich der Mensch in der entgegengesetzten sprachlichen Lage wie das Kind: »Das Kind deucht sich selbst ungeteilt und vollständig. Deshalb hält es auch das All für ein unzerspaltenes harmonisches Etwas.« 635 Als ungeteiltes Ganzes kann das Kind sich in die Vergangenheit des Menschengeschlechts einspielen, denn ihm erscheint auch die abgelaufene Zeit als Einheit. Aufklärer und Humanisten von heute sind in diesem Sinne kindlich, denn auch sie gehen ja »von einem guten, lieben, einen Zeitall aus. […] Die Kinder und die Geschichtsforscher der Neuzeit sind beide Mythologen, weil Kinder unfähig sind und die Historiker sich weigern, die Kategorien ›Zukunft‹ und ›Gegenwart‹ auch den abgelaufenen Jahrhunderten einzuschreiben.« 636

Der »Erwachsene« wiederum ist dem Einheitswahn der Mythen entwachsen. Halbiert in ein Geschlecht bedarf er der Ergänzung. Sehnsucht ist die Voraussetzung für Liebesfähigkeit: »Er ist halb geworden: dubitare, zweifeln […] beschreiben dies In-zweiStücke-Springen des Menschen, der seine andere Hälfte suchen muß. […] Dabei wird die Zeit ihm als ein Ringkampf zwischen seiner Gewesenheit und seinem Werdebild bewußt.« 637

Hat das Kind sich – an seine Einheit und die der Welt glaubend – in die Vergangenheit gespielt, kommt der Mensch an den Punkt des Zweifels und beginnt, sich aus der Vergangenheit wieder heraus zu kämpfen. In der Vergangenheit erkennt der Erwachsene die Anfänge seiner Zukunft an. Seine Zerrissenheit nötigt dem Erwachsenen die Laufbahn durch das Kreuz der Wirklichkeit auf, die im Innern beginnt – mit den folgenden vier Imperativen:

634 635 636 637

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 69 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 70. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 70 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71.

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638 639 640 641 642 643 644 645 646

»Zweifle!«: Der Erwachsene ist dazu genötigt, selbst nachzudenken und mit dem Namenszauber seiner Kindheit zu brechen. Er wird ungläubig. 638 Die Fähigkeit zum Zweifeln ist auch das Kriterium für Handlungsfreiheit: »Es bildet die Ehre der Tat, daß sie nicht ein Spiel des Zufalls, sondern die Handlung eines freien, mündigen Zweiflers sei. Er hätte sie auch lassen können!« 639 »Denn im ›Zweifel‹ pocht die Wahrheit an meine Tür und bittet bei mir um Einlaß, weil sie obdachlos geworden ist.« 640 Der Zweifel nagt am Kämpfer im Innern. »Forsche!«: Der Erwachsene muss selbst urteilen und sich von den Vorurteilen anderer Zeiten und Personen, die er als Kind und Jugendlicher noch aufgesogen hat, reinigen. 641 Jede Tat muss angezweifelt und dadurch hin und her gewendet worden sein, damit sie nicht bloß ein durch den Menschen geströmter Zufall ist. 642 »Im ›Urteil‹ reinige ich mich von fremden Zusätzen.« 643 Der Kritiker kritisiert immer Bestehendes. So ist die zweite Station des Kämpfers im Kreuz der Wirklichkeit das Vergangene: der Forscher durchwandert seine Vergangenheit, geht also von Innen nach rückwärts. »Protestiere!«: Der Erwachsene muss den dringlichsten Punkt bestimmen, an dem seine Kritik laut zu werden habe. Auf diesen Punkt muss er sich öffentlich festlegen. 644 Es ist der Moment der öffentlichen Entscheidung: der Erwachsene »legt nämlich sein eigenes Wesen auf jene Waagschale, für die er sich entschieden hat.« 645 »Im ›Protest‹ erkläre ich die so gereinigte Wahrheit für den bei mir eingelobten, auf mich angewiesenen Gottesgast.« 646 Mit dem merkwürdigen Ausdruck »Gottesgast« verdeutlicht Rosenstock-Huessy offenbar, dass das »Forschungsergebnis«, das aus der Vergangenheit nach außen getragen wurde, ein dialogisch-verantwortetes Ergebnis (Dual, Kohortativ, Dativ), also

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75.

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nicht selbst hervorgebracht ist. Dementsprechend muss es auch als Gabe bzw. Geschenk betrachtet werden. Deshalb der Protest! Der Protest trägt die Kritik nach außen. »Harre!«: Auch wenn es Dulden und Leiden einschließt, muss der Erwachsene warten, bis sich sein Protest durchsetzt. An diesem Punkt seines Protests muss er den Eintritt in die Welt verlangen, damit er seine Zeitgenossen dazu zwingt, als der aufgenommen zu werden, der er wirklich ist. 647 Hier stellt sich also die Frage, wann eine rechte Tat wirkt. »Dreihundert Jahre dauerte es, bis Christi Kreuz die Cäsaren aus Rom vertrieb. Wie spät wurde Winston Churchill Premierminister von England! Wir können nie wissen, wie lange die geschehene Tat braucht, um Geschichte zu werden; aber wir dürfen wissen, daß sie immer Tatsachen schafft.« 648 »Im ›Leiden‹ bewähre ich die erst erkannte, dann erklärte Wahrheit, weil nur dadurch der von mir beherbergte Gottesgast der übrigen Gesellschaft mitteilbar wird. Indem ich nämlich zu meiner Wahrheit stehe. Indem ich meine Pflicht als ihr Gastfreund bewähre, kann sie zu einer währenden Wahrheit werden.« 649 Durch das »Harre!« verhält sich der Kämpfer der Zukunft, der vierten Station des Kreuzes der Wirklichkeit, gegenüber.



Mit dem einsetzenden Verzweiflungskampf des Erwachsenseins wird die Zeit ganz anders wahrgenommen: sie wird plötzlich unaufschiebbar! »Denn sie erzwingt sich von ihm, aus seiner Verspieltheit in die überlieferten ›Zeitvertreibe‹ aufzutauchen in die nur heute, nur jetzt ihn auffordernde Stunde.« 650 Das Erwachsenenalter stellt den Menschen also vor eine enorme Leidprobe. Wie das »Spiel!« die Kinder vor der vorzeitigen Berufung schützt, bewahrt das »Leiden unter den Folgen der eigenen Tat […] den Menschen davor, selber Schicksal zu spielen.« 651 In diesem Prozess der Verzweiflung geschieht also Folgendes: »Die wahrgenommene Wahrheit wird für wahr erklärt und als wahr

647 648 649 650 651

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 71. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 74. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72.

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bewährt. Damit werden aus den Kindern der Zeit […] die Träger der Geschichte […].« 652 Kinder und Jugendliche müssen also erst lernen, einen Namen zu tragen, Erwachsene machen sich einen Namen. Unser Name wird zum Prägestempel für unsere Wahrheit (falls wir nicht Sein mit Schein verwechseln und als Falschmünzer bloß die geistigen Höhenund Tiefflüge unserer Vorfahren zum Beispiel durch die Überschätzung unseres Denkens in einem Kritizismus nivellieren). Unsere Wahrheit hat also genau den Anspruch, den unser Name trägt. Anspruch ist Geheißenheit: unser »Zweifle!«, »Forsche!«, »Protestiere!« und »Harre!« spricht uns an, legt also den genauen Anspruch fest, der an die ›Wahrheit‹ des Erwachsenen angelegt wird: ohne diesen Anspruch, der im Vergleich zum totalen Wahrheitsanspruch immer eingeschränkt und konkret in Raum und Zeit verortet ist, keine Wahrheit! 653 »Die Vorwärtsrichtung des Kreuzes der Wirklichkeit folgt also auf der Kämpferstufe aus zuerst innen (1.), dann vorwärts (2.), hernach auswärts (3.) und zuletzt als passiv Erharrtes, den Vergangenheitsmächten abgedrungenes Ergebnis (4.).« 654

Die »Kämpfer« unterscheiden sich also von »Kindern« grundsätzlich, denn sie bringen etwas hervor: »Die Kämpfenden sind daher der Nennkraft mächtig, weil sie sich den Gegnern ihres Sprachgebrauchs stellen, ihres Angriffs, ihres Widerstandes, ihres Unwillens gewärtig. So wird reine Gegenwart.« 655 Erst am Ende dieses Verzweiflungsprozesses, durch den sich der Erwachsene durchgekämpft hat, bekommt es der Mensch mit der Gegenwart zu tun: der »Kämpfer« wird dann »Priester«. Das Modell, das uns Rosenstock-Huessy hier vorstellt, ist also folgendes: Kindheit und Jugend ist geheißen, sich spielend in die Vergangenheit ihrer Generation hineinzubegeben. Die Erwachsenenwelt zeitigt sich als leidvoller Kampf aus diesem Schein der Vergangenheit wieder heraus. Im Greisenalter schließlich bekommt man es mit der Gegenwart der Welt zu tun. Hier ist der Punkt, an dem das Bewusstsein vom BEWUSSTsein ins BewusstSEIN umschlägt. In der Gegen-

652 653 654 655

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75. Siehe hierzu auch: Kap. 7.2. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 91. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 75.

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wart zeitigt sich die »Welt«, ob ihrer Gegenwärtigkeit, als das, was wir sonst Sein nennen. 5.6.2.3. Zeitigungsimperativ der »Welt« in der Gegenwart: »Stifte!« (und »Hinterlasse!«) Rosenstock-Huessy nennt das Lebensalter des Greises »Priester« (von griech. presbyteros: Älterer). Es geht hierbei nicht um irgendein Kirchenamt, sondern um die besondere Funktion eines »Ältesten». Die Greise sind nämlich weder die Träger der Spiele noch des Ernstes, sondern schalten sozusagen zwischen beiden hin und her. »Der Priester in uns öffnet das Tor in die Zukunft jenseits des eigenen Todes und in die Vergangenheit jenseits der eigenen Geburt.« 656 Dank des »Ältesten« kann aus Spiel Feier, und kann aus Ausnahme Gesetz werden. Der ›Priester in uns‹ verbindet uns mit unserer persönlichen Zeit, mit der ganzen Zeit unseres Menschengeschlechts, wodurch wir Teil der Geschichte sind: er lässt uns über die Geburt hinaus in die Vergangenheit Nachfolger sein und über den Tod hinaus ein Vermächtnis hinterlassen. »Zwischen den Brückenschlägern, den Pontifices hin zur Gesetzestreue und hin zum Stiftervertrauen stehen die Lehrer des Volkes, die Erzähler und die Propheten, die Seher.« 657

Die Zeiten beisammenzuhalten, den Zwischenraum unserer Zeit, das Intervall unserer Existenz mit dem Anfang der Geschichte (Vergangenheit) und dem Ende aller Zeiten (Zukunft) zu verbinden, ist der Anspruch der Gegenwart, in der die »Welt« sich im Greisenalter zeitigt. Gemäß dem Kreuz der Wirklichkeit haben wir es auf vierfache Weise mit der Gegenwart zu tun, die die »Welt« mit den Imperativen »Amtiere!«, »Lehre!«, »Verheiße!« und »Stifte!« 658 zeitigt. Wie durchlaufen wir als »Greis« das Kreuz der Wirklichkeit? • »Amtiere!«: »Der regierende, herrscherliche Mensch befiehlt, weil die Zukunft uns von außen bedrängt.« 659 In diesem Bedrängen zeitigt sich die »Welt« dem »Ältesten« als ein Amt: er beginnt seine Laufbahn des Kreuzes der Wirklichkeit nach außen.

656 657 658 659

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 77. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 78. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 80. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87.

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»Lehre!«: »Der ›religiöse‹ Mensch lehrt, weil die Entstehung jeder Art und Eigenart ihn an den Ursprung des Seins zurückruft und bindet, zurückbindet (= re-ligare, Re-ligion).« 660 Die Zeitigung im Imperativ »Lehre!« wendet den Greis also Vergangenem zu. »Verheiße!«: »Der prophetische Mensch beruft, verheißt, beschwört, gelobt, weil aus ihm die Bestimmung unserer ganzen Zukunft zum Ausdruck kommt.« 661 Er heißt Künftiges. »Stifte!«: Der »schöpferische Mensch stiftet: stiften – was heißt denn das? Stiften heißt Same werden für künftige Früchte.« 662 Mit diesem Samenkorn strebt er also zum Innersten im Kreuz der Wirklichkeit, damit die Zeit dieses so umwandeln kann, dass er aus gerade dieser Zeit als ihre ›Mutation‹ hervorgehen kann.

»Der Herrscher prägt die Zeit, den Stifter prägt sie, nein ›prägen‹ ist nicht genug. Denn er, der Stifter wird zum Kind dieser Zeit und nur in ihm gewinnt eine Zeit ihre Unsterblichkeit, weil er die Abart verkörpert, in die sich gerade diese Zeit hinein wandeln muß, um vor ihren Kolleginnen, d. h. vor den anderen Zeiten zu bestehen.« 663

Als Herrscher sind wir Menschen ansehnlich, als Stifter aber unansehnlich, da wir im Stiften die ›reine‹ Potenz haben, also alles für die Zukunft offen halten. 664 Erst im Priester setzt sich das Kreuz der Wirklichkeit also rein durch. Das liegt daran, dass »dieses Lebensalter […] über die Zufälle des leiblichen Alters oder der natürlichen Jugend von vornherein herausgehoben [wird]. Für den Priester macht ›neu‹ oder ›alt‹ keinen Unterschied, sollte keinen machen. So kann es hier zu dem Gleichgewicht im auswärts, einwärts, vorwärts, rückwärts kommen.« 665 Das hebt die Zeitigungen des »Ältesten« über die Spielereien des »Kindes« und das Ankämpfen des »Erwachsenen« hinaus: Nur in diesem Lebensalter ist der Mensch mit der Zeitlichkeit des Seins direkt verbunden: Im »Stifte!«, »Verheiße!«, »Lehre!« und »Amtiere!« stiftet sich das Sein neue Zeiten. Ging es bei Rosenzweig und Ebner 660 661 662 663 664 665

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 88. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 88 f.

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noch um das seinlassende Geheimnis, das sie Gott genannt haben, so gibt es bei Rosenstock-Huessy hier eine Wende um 180 Grad: im »Stifte!« geht es um das zeitlassende Geheimnis. 666 Dem Kind zeitigt die »Welt« sich aus ihrer Vergangenheit – der kindliche Sänger weiß nur um die Vorzeit, er operiert im Indikativ. Dem Erwachsenen zeitigt sich die »Welt« um der Zukunft willen: er kämpft sich aus der Vergangenheit des Indikativs hervor, trägt seinen Protest nach außen und harrt (was könnte er sonst tun angesichts der Zukunft?) auf das Kommende – er operiert im Konjunktiv. Erst der ›Priester in uns‹ bringt »unsere eigene Zeit unter die Herrschaft der wirklichen, der unzerteilten Zeit, die Zeit der Äonen, der Äonen, die durch meinen und Deinen kurzen Äon weder angefangen noch beendet werden dürfen. Priester, Könige, Doktoren und Seher enteignen uns daher unserer eigenen Zeit.« 667 Eignen wir uns als Kinder und Jugendliche also die Zeit an, die wir vorfinden, kämpfen uns als Erwachsene aus dieser, unserer Zeit wieder hinaus, bis wir schließlich im Lebensalter der Ältesten vom Imperativ »Stifte!« über unser Besitzverhältnis zur Zeit desillusioniert werden. Hier findet eine wahre Expropriation der Zeit statt, wie Ebner vermutlich sagen würde. 668 Und deshalb zeitigt sich nur dem »Ältesten« die »Welt« in der Gegenwart: im Imperativ als »Sei!«. Diesen Zeitigungen kommt ein ontologischer Stellenwert zu, weshalb wir hier von der Zeitlichkeit des Seins sprechen. Aber das »Sei!«, das in »Stifte!« steckt, ist ein besonderes, denn es wird ja sowohl von der »Welt« als auch vom »Stifter« und – da es gegenwärtig passiert – auch von ›Gott‹, dem zeitlassenden Geheimnis, gemeinsam gesprochen: im vierfältigen »Stifte!« finden wir die grammatische Erlösungsstruktur aus Rosenzweigs »Zwiegesang« wieder. Es ist ja erst die gemeinsame Intention zur Gemeinsamkeit, die den Stifter zum Stifter macht! Mensch, Welt und Gott beziehen sich im Stifter im Dativ gegenseitig aufeinander. Der Stifter kann ja erst Zeitenlasser sein, wenn zur Stiftung von allen dreien, Gott – Welt – Mensch, gemeinsam aufgerufen wird. Sonst handelte es sich ja nicht um eine Expropriation der Zeit im Stifter. Der scheinbare 666 Unten werden wir sehen, dass sich Grade der Lebendigkeit an der Qualität ihres Zeitbezugs bemessen lassen. 667 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 79. 668 Vgl. Kap. 7.5.

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Stifter kann nur eine kurze Zeitblase schaffen, die innerhalb des Äons der »Welt« bestünde (aber nicht mit diesem verbunden wäre). Genauer noch als in der Ver-antwortung Bubers, zeigt sich in »Stifte!«, »Verheiße!«, »Lehre!« und »Amtiere!« wie im Kohortativ Zeiträume geschaffen werden. Weder Rosenstock-Huessy noch Buber weisen auf Rosenzweigs Erlösungsstruktur hin. Dass aber auch Rosenstock-Huessy eine solche Erlösungsstruktur hier anerkennt, wird in folgender Textstelle deutlich, in der es um das Scharnier zwischen dem »Harre!« und dem »Amtiere!« geht: »Denn zum Lohn für das unserem Protest auferlegte Harren (II, 4) wird dem wirklichen Lebendigen das Amt zuteil. […] Im Harren endet jeder Protest gegen die Zukunft. Im Amt antwortet die Welt und gewährt dem Protest Einlaß, ein Stück Zukunft wird also eingelassen durch jede Ernennung zu einem Amt, falls sich der Ernannte vorher einen selbständigen Namen gemacht hat.« 669

Erst und nur wenn die »Welt« antwortet, gibt es gegenseitige Verantwortung zwischen Welt und Mensch, und so wird – wie bei Rosenzweig – ein Stück Zukunft vorweggenommen. Auch RosenstockHuessys Hinweis auf die ›betende Gemeinde‹ als echten »Urplural« 670 kann von uns als indirekter Hinweis auf die einschlägige Textstelle bei Rosenzweig über den Kohortativ gewertet werden. Der ›Priester in uns‹ ist also nicht ein Anhängsel des Dichters oder Denkers in uns, sondern umgekehrt: »Die Jugend kann in den Künsten, das Alter in den Wissenschaften hinterher nur deshalb Fürsprecher erhalten, weil und solange es ursprünglich und erst einmal Pontifices gibt, die der stummen Kreatur Mensch die Kraft zur Zwiesprache mit der Vorzeit und der Nachzeit verleihen.« 671

Die »Ältesten« heißen, belehren, regieren die »Kinder« und den Kindern wird auch ›vermacht‹. Den Kindern »öffnet sich die Kultur durch die Befehle und Geheiße, Lehren und Vermächtnisse der Ältesten.« 672 Die Kinder werden also durch die äußere Gestalt des Ältesten, des Amtsträgers mit ihrem erblichen Namen in die Vergangenheit 669 670 671 672

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 91. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 43. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 80. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 89.

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der Kultur gezwungen und entwickeln ein eigenes Verhältnis zur »Welt«: sie enden innen mit ihrer eigenen Originalität. Spätestens hier im Innen macht sich Zweifel breit und die Kinder werden unbeherrschbare Erwachsene. Deshalb beginnt das »Erwachsenen«-Kreuz der Wirklichkeit innen und durchläuft die Stationen bis zum vorwärts durch: um der Zukunft willen harren sie. Und im »Amtiere!« antwortet ihnen die »Welt«, wenn sie nur recht geharrt haben. »Zeiten-Immer ist eine untragbare Wortmißgeburt. Aber mit Christi Geburt fängt ja die christliche Zeitrechnung an. Sie zählt so gut nach rückwärts wie nach vorwärts. In dieser Kraft aber, abwechselnd unser Haupt vorwärts und rückwärts zu richten, besteht unsere Freiheit, allen drei Lebensaltern zugleich anzugehören. Wir müssen beides: Manchmal sagen wir: Danke!, und manchmal sagen wir Bitte! […] Wer in dieser Zeitrechnung lebt, der geht der Zukunft und der Vergangenheit gleichzeitig entgegen.« 673

Die Vollzahl der Zeiten, auf die Rosenstock-Huessy abziehlt, ist mit diesen 3 � 4 Zeitigungen erfüllt. Jedem Menschen, der nicht in seinem Privatkalender gefangen ist, stehen diese Zeitigungen offen. Und doch lässt sich hier konstatieren: zwar sind wir Menschen gleichzeitig in der Vollzahl der Zeiten, aber die Zeitigungen folgen trotzdem einer logischen Reihenfolge: »Die Ältesten – nicht weniger dürfen wir behaupten – sind die ersten Sprecher des Menschengeschlechts zu allen Zeiten bis zum Jüngsten Tag.« 674 Es ist also der Priester in uns, der auffordert (»bitte« sagt) und aufgefordert ist (»danke« sagt). »Bitte« und »Danke« sind die zwei Pole des Kohortativs! Erst im Stifter, der vor seine Geburt und hinter seinen Tod zurückreicht, gewinnt die Zeit ihre Unsterblichkeit. 675

5.6.3. Wie der Tod uns zu Herren der Zeit macht: die Möglichkeit einer Kaironomie Wir können an dieser Stelle also festhalten, da wir es in unserem Leben mit der Zeit zu tun bekommen – mindestens in den Richtungen aus der Vergangenheit, um der Zukunft willen und in der Gegenwart – steht folgende Reihenfolge der Gebote der Zeitigung fest: 673 674 675

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 95. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 80. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 87.

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Heiße! Lerne! Diene! Singe! Zweifle! Forsche! Protestiere! Harre! Amtiere! Lehre! Verheiße! Stifte!

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

l k j i h g f e d c b a

(vergangen) (außen) (vorwärts) (innen) (innen) (rückwärts) (außen) (vorwärts) (außen) (vergangen) (vorwärts) (innen)

»[…] als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Nach der Uhr und dem Augenschein zähle ich hier diese Gebote von des Kindes Geburt bis zu des Greises Tod auf, als ob sich 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 8, 9, 10, 11, 12 folgten, aber gegen den Augenschein ergibt sich 11 aus 12, 10 aus 11, 9 aus 10, 8 aus 9, 7 aus 8, 6 aus 7 und so weiter bis zum Anfang zurück.« 676

Legen wir unsere Uhr, die die physische Zeit misst, in unserem Einzelleben als Maßstab an, zeitigt sich die »Welt« in der Reihenfolge der Gebote von 1 bis 12. Logisch-deduktiv folgen die Zeitigungen aber umgekehrt aus einander, wie im Folgenden erläutert wird: b folgt aus a, c aus b usw. Hinzu kommt aber der Sachverhalt, dass der Mensch vom Tode bedroht ist. Erst angesichts des Todes ist er dazu gezwungen, zum Stifter zu werden. Wäre der Mensch unsterblich, müsste er auch nichts hinterlassen (und wäre nebenbei bemerkt auch nicht lebendig). Daraus folgt also: »Kein Kind bräuchte zu gehorchen, zu lesen, zu dienen oder zu spielen, kein Mann zu zweifeln oder zu protestieren, wäre es nicht deshalb, weil der sterbende Mensch zum Stifter bestimmt ist. Weil wir sterben müssen, sollen uns Name, Autorität, letzter Wille, Einsetzung, Vermächtnis überleben. […] Wer recht gelebt hat, stirbt nicht umsonst, sondern hat die Welt so verändert, daß sie nicht mehr hinter seinen Namen zurückfallen kann. Wer daher auf einen letzten Willen hört, wer ihn ›erbt‹, erwirbt damit eine von dem Stifter für die Nachlebenden erworbene Eigenschaft.« 677

676 677

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 80. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 80 f.

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Die Tatsache, dass wir um unseren Tod wissen, führt dazu, dass »Stifte!« in Wahrheit nicht an letzter Stelle, sondern an erster Stelle steht. Wir Menschen sind nicht nur nach unserer physischen Uhr gestellt, die unerbittlich von der Vergangenheit in die Zukunft zählt, sondern wir haben auch Geist. Wie oben dargelegt wurde, ist die physische Uhr eine Vorstellung, die aus der eigentlichen Zeit abstrahiert wurde. Unser Geist ist ja final organisiert. Die wahre Reihenfolge der Zeitigungen lautet also: »Stifte!«, deshalb: »Verheiße!«, deshalb: »Lehre!«, deshalb: »Amtiere!«, deshalb: »Harre!«, deshalb: »Protestiere!«, deshalb: »Forsche!«, deshalb: »Zweifle!«, deshalb: »Singe!«, deshalb: »Diene!«, deshalb: »Lerne!« und deshalb: »Heiße!« Was haben wir davon? »Damit werden wir den Zeiten in der unerwartetsten Weise Herr. Wir müssen sie nämlich umkehren. Weil wir sterben müssen, verlangt es uns über Geburt wie Tod hinaus. Im ›letzten Willen‹ reift der Ertrag dieses Verlangens. Er führt zur Stiftung. Er wird ja nur dadurch erfolgreich, daß sein Tod Folgen hat, die ihn, den Stifter, nicht ausradieren, sondern die ihn bestätigen und bewähren. Mit dem Erb-lasser fängt die Geschichte des Geistes an.« 678

Totalisieren und reduzieren wir die Zeit nur auf ihre Interpretation als Naturtatsache, wie es in der Ideengeschichte seit Platon und Aristoteles ja fast ausschließlich gehandhabt wird, 679 dann verkennen wir eine wesentliche zeitliche Dimension: • Als Menschen im physikalischen Kontext sind wir selbstverständlich der physischen Uhr von der Wiege über die Trage bis zur Bahre unerbittlich unterworfen. • Weil wir Menschen aber Geist haben, der final strukturiert ist, und weil wir um unseren Tod wissen, läuft unsere eigentliche Zeit vom Ende her rückwärts: »[…] alle Geburtsstunden des Geistes in uns hinein als Priester, Gelehrte, Künstler stammen vom Ende unserer Bestimmung her.« 680 • Diese Zeit, man könnte sie Geschichtszeit nennen, ist die eigentliche Zeit, weil die natürliche Zeit von dieser erst eine Ableitung ist. Die oben skizzenhaft dargestellte Begriffsgeschichte der

678 679 680

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 81. Vgl. Kap. 5.1. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 82.

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»Zeit« (Kapitel 5.1) beweist, wieviel Geist in der Entwicklung des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs steckt! • Trotzdem sind wir aber von der Wiege bis zur Bahre mehraltrig: mit dem ersten Geheißenwerden (der ersten Zeitigung) zeitigt sich die »Welt« in allen drei Zeiten. Wir sind angesichts der Zeitigungen der Gegenwart, von der Wiege bis zur Bahre gleichzeitig dreialtrig: »Kinder« bzw. »Künstler«, »Erwachsene« bzw. »Kämpfer«, »Greise« bzw. »Priester«. Nur eine kindische Pädagogik mit wahnzeitlich-weltanschaulichem Rückgrat kann die Entdeckung der deduktiven Logik in den Zeitigungen zu einem Entwicklungsziel in ihrer Wahnzeit erklären und dieses zur Ideologie (Menschenbild) totalisieren. Das führt dann dazu, dass sie vermeinen, ihre Biographie in Siebenjahres-Stiefeln dem ersehnten Ziel entgegen eilen zu müssen, obwohl sie aber eigentlich nur mit viel Anlauf einen Kopfsprung hinter Kant vollzieht. 681 Das bedeutet aber, dass nicht einzelne Menschen Träger der Geschichte sind, sondern »Träger der Geschichte sind immer drei oder vier Generationen zusammen.« 682 Warum? »Weil wir vernehmen müssen, wie wir heißen, bevor wir auch nur sagen können, was wir wollen. Und weil wir nichts Vernünftiges wollen könnten, wenn wir nicht in die Zeit hinter unseren Tod hinein uns vernehmlich machen könnten. Die Nennkraft erzwingt sich den Zeitleib von mindestens drei bis vier Generationen als Träger der wichtigen und endgültigen Ereignisse.« 683

Wir müssen geheißen werden, sodass die »Welt« sich zeitigen kann. Diese Tatsache wird gemeinhin geleugnet. Die Aufklärung zwischen 1750 bis 1945 684 erhob x-beliebige Leute zu selbständigen Erwählern ihrer Lebensgeschichte. Aber das kann gar nicht sein! Denn jeder Mensch reicht mit seinen drei Lebensaltern in seine Vorzeit und in seine Nachzeit mindestens genauso weit hinein wie in seine ›eigene Ob in Siebenjahres- oder Siebenmeilenstiefeln gerechnet, ist gleichgültig. Denn in der totgeschlagenen und zurechtinterpretierten Zeit ist es egal, ob wir in Stundenkilometern oder Kilometern pro Stunde rechnen, also ob die Zeit am Raum oder der Raum an der Zeit abgemessen wird. Vgl. Kap. 5.1. 682 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 83. 683 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 83. 684 Anmerkung: Hier sind wir wieder bei Rosenstock-Huessys historischer »Deutungsanstrengung«, zum erkenntnistheoretischen Wert dieser Aussage vgl. Kap. 5.2. 681

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Der Mensch in Wahn- und Währzeit – Eugen Rosenstock-Huessys Soziologie

Zeit‹. »Die Sünden der Väter werden nämlich heimgesucht an den Kindern bis ins dritte und vierte 685 Geschlecht.« 686 Der Logos – Rosenstock-Huessy identifiziert ihn als »Nennkraft« – zwingt uns also, diese Zeit-Gänze, die sich trotz Geburt und Tod in jeder einzelnen Generation durchsetzt, zu bedenken. Nur wenn wir die notwendige Abhängigkeit unseres abstrakten, geometrisch projizierten Zeitbegriffs – der im Räumlichen totgeschlagenen Zeit – von der eigentlichen Zeit des Menschen – der Geschichtszeit – bedenken, können wir einen Sinn für die Zeitigung der »Welt« haben und sogar bis zur Zeitlichkeit des Seins, dem kairos, selbst vordringen: für die Weichenstellung zwischen lebendem Geschlecht und den Geschlechtern vor und nach uns. Nur die Zeitigung, das Kairotische, trifft das anthropologische Anliegen. Der Tod ist das entscheidende Element der Lebendigkeit. Tod gehört zum Leben. Wer vorschnell seinen Tod in der Wahnzeit seiner Weltanschauung leugnet, wird niemals einen Sinn für die Zeitlichkeit des Seins haben können und projiziert sich auf seinen Spielplatz, anstatt zu leben, denn er ist nicht in der Lage die Zeitigung der Gegenwart zu berücksichtigen. Das Wissen um unseren Tod eröffnet uns die Möglichkeit einer Kunst der Kaironomie. Wer den Tod aber verdrängt oder sich ernsthaft gebärdend irgendeine Form der Unsterblichkeit propagiert, dem bleibt die Möglichkeit zur Kaironomie verwehrt. Das liegt daran, dass ein Leben ohne Tod so tut, als könnte man das Leben üben: die Lebenswirklichkeit wird so auf den Spielplatz der jeweiligen Weltanschauung projiziert. Was aber ist es genau am Tode, das mich den Zeiten öffnet? Ich kann ja nicht wissen, was nach dem Tod kommt. Ich kann noch nicht einmal wissen, dass nach dem Tod nichts kommt. Eigentlich wissen wir nicht, was der Tod ist. Mein Verderben droht, aber ich kann es nicht begreifen.

685 Dies ist eine Anspielung auf das 2. mosaische Gebot: »Du sollst dich nicht vor den anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.« 686 Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 83.

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Rosenstock-Huessys Soziologie im Kreuz der Wirklichkeit

Das Entscheidende am Tode ist, dass »das Ich angesichts des Todes absolut ohne Initiative« 687 ist. Wir wissen zwar nicht, was der Tod ist, aber wir wissen, dass er kommt und dass wir nichts dagegen tun können. Es ist das tägliche dem Tode Ausgeliefertsein, das uns auf etwas bezieht, das wir nicht unter Kontrolle haben können. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Lebenkönnen Sterbenmüssen bedeutet. 688 Levinas interpretiert diesen Sachverhalt meines Erachtens richtig, wenn er herausstellt: »[…] das Unbekannte des Todes bedeutet, daß die Beziehung zum Tod sich nicht im Licht vollziehen kann; daß das Subjekt in Beziehung ist zu dem, was nicht von ihm kommt. Wir könnten auch sagen, daß es in Beziehung mit dem Geheimnis steht.« 689 Der täglich lauernde Tod öffnet mich dem Geheimnis des Lebens und zwingt mich dazu, es als Geheimnis anzuerkennen: »Den Tod besiegen ist kein Problem des ewigen Lebens. Den Tod besiegen heißt, mit der Anderheit des Ereignisses ein Verhältnis unterhalten, das doch noch persönlich sein soll.« 690 Mein Tod ist mir Beweis dafür, dass Beziehungen in der Qualität des Dativs und des Imperativs existieren und durch einen persönlichen Zeitbezug gekennzeichnet sind: meinen Zeitbezug. Ich kann gar nicht anders, als den Tod anzuerkennen oder zu verdrängen, wie auch Rosenzweig betont: »Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen. Auch Gesundheit nicht. Aber der Gesunde hat die Kraft, jenen Weg bis zum Grab hin lebendig zu schreiten. Der Kranke ruft den Tod herbei und lässt sich halbtot vor Todesangst von ihm auf den Rücken nehmen.« 691 Das täglich lauernde Verderben zwingt den Sterblichen in die Zeit: je anerkannter die Tatsache des eigenen Todes, desto intensiver ist der Zeitbezug. Lebendigkeit zeichnet sich geradezu dadurch aus, dass sie einen eigenen Bezug zur Zeit hat. Und in diesem Faktum gründet sich die Möglichkeit einer Kaironomie. 692 Je nach Intensität 687 688

Levinas: Die Zeit und der Andere, 53. Vgl. Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand,

78. Levinas: Die Zeit und der Andere, 43. Levinas: Die Zeit und der Andere, 53. 691 Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, 79. 692 Im Ergebnis-Kapitel 7.6 wird dargelegt, was wir konkret als Kunst der Kaironomie, deren theoretische Grundlagen in diesem Kapitel gelegt wurden, machen können. Zuvor muss allerdings Goldschmidts Dialogik erörtert werden. 689 690

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und Qualität des eigenen Zeitbezugs bemisst sich der Grad unserer Lebendigkeit. Rosenstock-Huessy zählt folgende fünf Haltungen zur Zeitlichkeit auf, die dementsprechend verschiedene Lebendigkeitsgrade implizieren: • Tod – Menschen sind (noch) nicht tot: »Das Tote hat nämlich kein eigenes Verhalten zur Zeit. Es ist das die genaue Definition des Toten, daß es ewig still steht. […] Genau das tut ja der Physiker im Experiment, daß er als der Lebendige den toten Körper umdreht, seine Fallrichtung modifiziert, seine Bewegung unterbricht oder was immer er dazu tut, damit der Tod nicht unbeschränkt herrsche.« 693 • Schlaf – Der Mensch schläft auch nicht nur: »Der Schlafende steht in einem sehr bestimmten Verhältnis zur Zeit; das unterscheidet ihn von dem abgestorbenen Material. Er schläft nicht immer; er kann aufwachen. Aber er kann nicht wie der wache Physiker die Richtung eigenmächtig ändern […].« 694 • Gesundheit/Vernunft – Der Mensch ist auch nicht (nur) einfach gesund: denn was heißt »gesund«? Hier gibt es drei Ebenen: 1. »Auf der Ebene des Organischen wird das Leben gesund genannt, dessen Rhythmen, Metabolismus usw. keine Kreislaufstörungen aufweist.« 695 2. Der mechanisch Gesunde ist wie die toten Dinge einfach ›unzerstört‹, ganz und unzerbrochen. 3. Den wachen Physiker bezeichnen wir nicht mehr als gesund, sondern als ›vernünftig‹, um zu sagen: »dieses Lebewesen funktioniert auf der wachen Stufe in der angemessenen Weise.« 696 Aber der Mensch ist nicht nur vernünftig. Dieser Lebendigkeitsgrad entspricht der Zeitigung »Forsche!« und »Protestiere!« Aber der Mensch beutet ja nicht nur vorhergehende Zeiten aus (im Indikativ). Der Grund dafür, dass der Mensch vernünftig und nicht ver-rückt ist, liegt darin, dass er sowohl »Kämpfer« als auch »Kind« ist: »Die wachen Menschen müssen deshalb vernünftig sein, wenn sie nicht verrückt werden wollen, weil auch das wache Wesen noch vernehmen muß, was vor ihm gesagt und gestaltet worden ist. ›Vernimm!‹, ist das Gebot aller Gebote, ge693 694 695 696

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 146 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 147. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 147. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 147.

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697 698 699 700 701 702

gen das auch der Rationalist sich nicht wehren kann, obwohl er seinen eigenen Verstand damit zum a posteriori erklärt.« 697 Descartes war vermutlich zufrieden damit, sich gegen vorhergehende Irrtümer freizukämpfen. Aber dies ist eben noch nicht das Menschliche des Menschen. Hier befindet er sich auf der Ebene von Weltanschauungen und Theorien mit ihren Privatzeiten. Der Physiker, der nicht wie Max Planck oder Faraday weiß, dass seine eigene Lebenszeit und die Jahrhunderte der Physik mit seiner toten Raumzeit nicht zu messen sind, ist mindestens halbtot: »Der bewußte Mensch bildet sich eine Ansicht und nach ihr handelt er. Das ist die bekannte Zwillingsstufe des Selbstbewußten, die er als Theorie und Praxis uns entgegenhält. Auge und Hand sind die Werkzeuge des Menschen als Tier, als des wachen Individuums mit hoher Intelligenz.« 698 Genie und Liebe sind mehr als bloße Vernunft: »Wir dringen über den wachen Menschen hinaus, wenn wir uns auf den schamhaften besinnen.« 699 Hier tragen Genie und Liebe und nicht Intelligenz und Ansicht. »Genie und Liebe schaffen Rhythmen des Lebens, denn Hochzeiten und Freundschaftsbündnisse vervielfältigen das Leben, und sie bewähren sich an ihrer Fruchtbarkeit, nicht ihrem Erfolg.« 700 Obwohl also diese Lebendigkeitsstufe des Genies eigene Rhythmen schafft, ist sie durch ihre Schamhaftigkeit immer noch in die Zeitlichkeit des gesellschaftlichen Herkommens gebunden. Denn »Lieben heißt, jemandem eine Scham ersparen.« 701 Jedes Genie ist leidenschaftlich und damit dem schamhaften Leben angehörig. »Die Liebe bringt zwar Leben hervor, aber in der Art, wie es schon angetroffen wurde. Sie pflanzt sich ja so fort.« 702 In der Haltung des Stifters ist der Mensch am lebendigsten: »Die Veränderung des Menschengeschlechts wird durch Opfer herbeigeführt, welche die Aufgabe und das In-den-Tod-Gehen bisherigen Lebens erfordern. Wer in den Tod geht, überbietet also dann die Liebesstufe, wenn er auf die eigene Liebe verzichtet,

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 147. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 148. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 149. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 149. Siehe oben! Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 149.

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damit andere besser lieben dürfen. Er stiftet Leben, zu dem es sonst nie käme.« 703 Als Stifter sind wir am lebendigsten, denn wir schaffen neue Zeiten.

703

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 149.

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6. Hermann Levin Goldschmidt: Die Haltung der Dialogik

In einem Geniestreich bringt Hermann Levin Goldschmidt die hinter dem dialogischen Denken stehende Dialogik auf eine wegweisende Losung: »Freiheit für den Widerspruch«. Auf ihre moralische Dimension reduziert 1 im Sinne von »Sei schön tolerant!«, wäre sie im dialogischen Sinne unbrauchbar. Als erkenntnistheoretische persönliche Einstellung ereignet sie sich aber. Goldschmidts Dialogik markiert eben diese Haltung der Offenheit, deren grammatische Struktur in Kapitel 2 charakterisiert wurde: sie ist das Offensein gegenüber dem Imperativ der Offenbarung (Rosenzweig), die im Ich-Du Modus (Buber), wo Nominativ und Vokativ zusammenfallen (Ebner), stattfindet. Auch die Kaironomie, deren theoretische Eckdaten im Kontext von Rosenstock-Huessys Soziologie ausgearbeitet wurden, beruht auf diesem Offenbleiben für den Widerspruch: nur mit dieser Haltung ist man angesichts der verführerischen Ismen, Weltanschauungen und anderer Sackgassen aufgeschlossen für die Zeitlichkeit des Seins. Indem Goldschmidts Dialogik konsequent den Widerspruch erhält, unterscheidet sie sich wesentlich von der Dialektik: »Ebenfalls schon der entscheidende Schritt über die Monologik hinaus, an deren stelle die Dialektik nicht länger mit nur einer einzigen Wahrheit auftrumpft, offen wie die Dialogik, wagt es auch die Dialektik, eine widerspruchsvolle Vielfalt gegenteiliger Wahrheitsansprüche gelten zu lassen, anderseits aber mit er Dialogik trotzdem nicht mit Schritt haltend, insofern der Dialektiker niemals davon ablassen will, die Vielfalt der Wahrheitsansprüche und jede Vielfalt überhaupt auf nur eine Schnur zu reihen, von deren letzten Einheit aus seine Dialektik diejenigen Widersprüche doch nicht anerkennt, die fortan jeder Vereinheitlichung spotten […].« 2

1 2

Wie es bei vielen Interpreten geschieht. Einige Beispiele in: Goetschel 1994. Goldschmidt: Dialogik, 145.

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Zwar vollzieht die Dialektik schon einen entscheidenden Schritt hin zur Dialogik, indem sie ein Drittes fordert und somit die zweiwertige Logik von wahr und falsch sprengt. 3 Aber die Dialektik geniert sich nicht, über den Widerspruch verfügen zu wollen. Darin ist sie nicht konsequent: »Die Dialektik reflektiert nur die Dialogik, sie ist keine eigenständige Macht, sondern die logische Durchdringung von Dialogen.« 4 Die Dialektik bleibt der Versuch, im Modus der Erkenntnis der widersprüchlichen Umgebung Herr zu werden. In verstaubten Schreibstuben mag die Dialektik wohl eine angemessene und fruchtbare Vorgehensweise sein. Aber bereits im philosophischen Seminar erlebt sie ihre Ohnmacht, wenn sie entweder eine Meinung totalisiert – sie kommt zum Stehen gekommen, da diese Meinung alle andere Positionen Schachmatt gesetzt hat –, oder wenn sie zu einem endlosen Regress führt. Dialektik führt immer ›nur‹ zur Aufhebung, oder sie bleibt stehen. Sie kommt niemals zum Anerkennen bestehender Widersprüche, wie die Dialogik. Mit der Formel Freiheit für den Widerspruch bietet uns Goldschmidt ein Kriterium zur Selbstüberprüfung an, das den Dialogiker vor der Versuchung der Totalitätsanmaßung im abendländischen Denken schützt. Die dialogische Haltung verbürgt den gebührenden Anspruch an ein Wissen. Sie kann als Kriterium zur Selbstüberprüfung dienen und mir in jedem Moment Aufschluss darüber geben, ob ich gerade im Ich-Es-Modus oder im Ich-Du-Modus operiere. Diesen Maßstab habe ich in der Einleitung als Maßstab I folgendermaßen formuliert: Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein. Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, befinde ich mich im Ich-Es-Modus. Duldet sie ihn nicht nur, sondern sucht geradezu nach dem Widerspruch, befinde ich mich im Ich-Du-Modus, der zu einem Du und Du führt, wie bereits ausgeführt wurde. 5 Goldschmidts Formel gibt uns einen konkreten Anhaltspunkt, um festzustellen, in welchem Modus ich mich befinde. Seine Faustregel dient der Orientierung jenseits der Weltanschauungen. Sie ist also wegweisend im dialogischen Horizont.

3 4 5

Vgl. Grätzel: Versöhnung, 39. Grätzel: Versöhnung, 40. Vgl. Kap. 3.

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Häufig wähnen und gebärden wir uns bereits dialogisch, befinden uns aber eigentlich nur in Situationen, die ähnlich aussehen. Der Maßstab zur Selbstüberprüfung wirkt hier im positiven Sinne desillusionierend: die Dialogik unterscheidet sich nämlich grundlegend von anderen sogenannten ›Offenheiten‹. Insbesondere zehn solcher Formen der Offenheit gebärden sich besonders dialogisch. Legt man hier unseren dialogischen Maßstab an, entlarven sie sich schnell als bloße Schein-Offenheiten. Diese Versuchungen der Dialogik werden zum Teil weltanschaulich gepriesen. Es folgt eine Liste der zehn wichtigsten sich dialogisch gebärdenden Monologe: • Die Konvergenz, das »absehbare Zusammentreffen«: Ihr Ziel ist zwar die gegenseitige Annäherung von einander widersprechenden Wegen, aber sie nimmt letztlich das Ziel im Streben nach einer abschließenden Synthese vorweg. »Scheinbar versöhnlich, insofern sie ein Gegenüber, das ihr widerspricht, gelten läßt, und hierin der Dialogik verwandt, ist sie anderseits unversöhnlich und ein Abklatsch der Dialektik, von der Dialogik abgrundtief geschieden. Eher wird hier noch die Monologik fortgesetzt, als daß bereits Dialogik bewährt würde.« 6 • Die Konkurrenz, das »Sich-einander-widersprechen-Lassen mit dem Ziel des Wettbewerbs«: Sie setzt sich weder mit der anderen Seite ineins, noch will sie etwas anderes als den Konkurrenten überflügeln. »Nur eines verhindert sie und nur, um den Wettbewerb tatsächlich offenzuhalten: die Übersteigerung des einen oder anderen Vorsprungs der Konkurrenten zum Monopol und dessen Verewigung. Gerade so wehrt auch die Dialogik den Monolog ab, sobald die Monologik ihn zu übersteigern und zu verewigen trachtet. Aber die Konkurrenz nimmt die Widersprüche zwischen ihren Wettläufern dabei nicht wirklich ernst. Gespräche jedoch sind kein Wettbewerb, Begegnungen kein Wettlauf und das Ringen um die gegenseitige Überflügelung keine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Widerspruch. Was die Konkurrenz an Freiheit einräumt, das räumt sie nur dank ihrer Ziellosigkeit ein […].« 7 • Die Koexistenz, das »Nebeneinanderstehen von vorläufig Unvereinbarem«, darf nicht mit Frieden verwechselt werden. Sie ist 6 7

Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 202. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 203.

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höchstens die Konsequenz aus der Unmöglichkeit des Friedens und räumt das gemeinsame Dasein von Verschiedenem ja nur ein, weil ihr für den vollständigen eigenen Sieg der Augenblick noch nicht gekommen ist. Die Koexistenz verschafft den Kontrahenten eine Atempause für eine bessere Inangriffnahme der restlosen Beseitigung ihres Gegenübers. »In dieser Gestalt der Koexistenz ist auf alle Forderungen der Dialogik eingegangen, ohne von der eigenen Herrschsucht abzugehen.« 8 Die Toleranz, die »Duldsamkeit«, ist entweder nur vorübergehende Duldsamkeit, die den eigenen finalen Sieg hinausschiebt, oder sonst der Verzicht auf jede letzte Zielsetzung überhaupt. »Bloß für die Offenheit als solche ›entschieden‹ zu sein und deswegen alles zu dulden, genügt nicht.« 9 Die Kooperation, die »Offenheit um der Zusammenarbeit willen«, kommt der Dialogik wohl am nächsten, unterscheidet sich aber in einem wichtigen Detail: Sie ist nur Ausdruck des guten Willens, ohne dem vollen Ernst und der ganzen Schwere der Bewährung verpflichtet zu sein. »Kooperation ist also zwar auch Dialogik, sie aber noch nicht entschieden genug.« 10 Die Kollaboration, die »Zusammenarbeit durch Selbstpreisgabe«, ist der grundfalsche Abweg aus der Kooperation. »Mag die Selbstpreisgabe des Kollaborateurs aufrichtig oder vorgetäuscht sein, um sich dort von einer starken Hand führen zu lassen oder hier das Gegenüber doch noch und hinterrücks in die eigene Hand zu bekommen. Beide Male wird das verspielt, was sich dank der Zusammenarbeit sonst fruchtbar einstellt: das gesteigerte Selbstbewußtsein, die befriedigende Selbstbewährung und die zunehmende Selbstvollendung sowohl des einen wie des anderen Mitarbeiters der Zusammenarbeit.« 11 Die Koordination, die »Beiordnung«, ist weniger voreingenommen als die Konvergenz, stärker bindend als die Konkurrenz, keine bloße List wie die Koexistenz und entschiedener als die Toleranz, und vor allem ist sie keine Selbstpreisgabe wie in der Kollaboration. Im Gegensatz zur Dialogik ist sie aber völlig un-

Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 204. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 205. 10 Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 205. 11 Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 206. 8 9

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geschichtlich, in einem unguten Sinne viel zu sachlich und damit schwunglos. 12 Die Korrelation, die »Wechselseitigkeit«, hat größeren Schwung als die Koordination und verlangt ein betroffenes Mitgehen, die gegenseitige Ergänzung unterstreichend. »Doch es bleibt dieser Korrelation gleichgültig, ob das eine oder andere Gegenüber, die sich wechselseitig ergänzen, einander ebenbürtig sind oder nicht.« 13 Die Kommunikation bedarf eines Gegenübers, um sich mitteilen zu können. Sie sucht also die Begegnung. Ihr ist aber Gleichgültigkeit vorzuwerfen: »Wie die Korrelation ist ihre ›Mitteilung‹ an der Zahl, dem Wesen, gegenseitigen Verhältnis und der Art und Weise der Zusammenarbeit ihrer Teilnehmer gar nicht oder lediglich am Rand interessiert.« 14 Dass sie des Anderen bedarf, ist der Kommunikation bereits alles. Die Komplementarität, die »Vervollständigung durch sich Ausschließendes«, zum Beispiel indem sie Raum und Zeit miteinander gelten lässt: Sie verlangt wie die Kooperation weniger ihre Unterscheidung von, als Vertiefung durch die Dialogik. »Die Komplementarität ist und bleibt Wissenschaft, die Dialogik zur Wissenschaft Zielsetzung hinzu. Das Wissen der Dialogik, ganz gewiß auch Forschung nach dem Maßstab der Wissenschaft, stellt dabei vor Möglichkeiten, die erst noch wahrzunehmen sind: durch die eigene Tat! So verankert die Komplementarität die Dialogik in einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, mit der als solcher aber nur erst die Schwelle zur Dialogik gesetzt ist.« 15

Die Mannigfaltigkeit dieser sich dialogisch gebärdenden und Dialogik dennoch verfehlenden ›Offenheiten‹, die sich die Menschheit immer wieder und in den verschiedensten Kontexten zum Ziel setzt, dürfen als Hinweis darauf interpretiert werden, dass ein grundsätzliches Verlangen nach Dialogik besteht. Für gewöhnlich meint man, wo ein Widerspruch laut wird, sei etwas falsch, anstatt zu begreifen, dass dort, wo kein Widerspruch vorliegt, etwas falsch sein muss. »Das widerspruchslos einheitliche 12 13 14 15

Vgl. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 206. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 206 f. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 207. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 208.

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Ganze soll dem Ganzen widerspruchsvoller Vielfalt gegenüber den Vorzug verdienen, obgleich die Vielfalt ein ebenso vollständiges und sehr viel freiheitlicheres Ganzes erschließt.« 16 Trotz der vordergründigen Ähnlichkeit ist Dialogik nicht mit den erkenntnistheoretischen Sackgassen des Konstruktivismus 17 und Relativismus 18 zu verwechseln! Im Gegensatz zu diesen relationiert Dialogik das auftretende Seiende unvoreingenommen, aber nicht willkürlich. Der Dialogiker weiß um die oben dargestellte Variabilität der zeit-räumlichen Gültigkeit des Seins. Deshalb sucht er den Widerspruch, denn was in einer Situation zu Recht als wahr gelten kann, dem könnte in einer nächsten Situation zu Recht widersprochen werden. 19 Eine ›Wahrheit‹ fällt mit der Zeit also wieder ins Meinungshafte zurück und muss sich von Situation zu Situation immer wieder von Neuem bewähren. Je länger etwas als wahr gilt, desto besser – sprich: der Wahrheit ähnlicher – ist es, wusste schon Aristoteles. 20 Um wirkliches Wissen anzustreben, muss ich meine Meinung aber als Meinung behandeln und widersprechende Ansichten regelrecht suchen, um meine Meinung zu ›verbessern‹. Denn »Ich habe eine Meinung« bedeutet das Eingeständnis des eigenen Nichtwissens. Nur diese Haltung schützt vor postfaktischen Hirngespinsten. Meinungsaustausch zielt auf Meinungsbildung, nicht auf Rechthaben! Eine Meinung vertreten zu wollen, ist bloß ein weitverbreiteter mentaler Kurzschluss! Dialogik entlarvt ideologische Prinzipientreue als bloße Vertreter-Mentalität: denn der Ismen-Anbeter antwortet immer schon final auf Fragen, die er gar nicht durchdringen kann. Aber auch Dialogiker verfangen sich leicht in der Ismen-Falle. 21 Einer der großen Verdienste Goldschmidts besteht wohl darin, Dialogiker auf die Versuchung des Rückfalls in Dialogismen aufmerksam gemacht zu haben. Denn auch aus der Dialogik wird schnell ein Ismus. Immer dann nämlich, wenn sich Dialogik nicht in eigener Verantwortung bewährt, sondern erzwungen – sprich: methodisiert – werden soll, fällt man in einen Dialogismus zurück. Dialogismen treten in vierfaltiger Ausprägung auf: Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 22. Wie etwa Herzka missinterpretiert 2013, 88. 18 Diesen Einwand entkräftet bereits Goldschmidt persönlich. 19 Dieser Grundgedanke Goldschmidts inspirierte meinen Maßstab für die Orientierung jenseits der Ismen: Erst die Relation bekundet die Relevanz. 20 Vgl. Aristoteles EN 1098 b 10. 21 Vgl. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 198. 16 17

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die jede Eindeutigkeit bekämpfende »Widerspruchs-Überschätzung«, die sich zum Gewissen über den Anderen aufspielen möchte; die »Du-Überschätzung«, die sich in der eigentlich bloß verantwortungslosen »Demut der Abhängigkeit« 22 von einem Du ergeht; das die notwendige Ebenbürtigkeit der Gesprächspartner vermissen lassende Dauergespräch mit Allem und Jedem: der »Pandialogismus«; 23 die gelehrsame Ausflucht der »Pluralogik«: mit diesem Wort bezeichnet Goldschmidt die gleichzeitige Auseinandersetzung mit einer Mehrzahl von Widersprüchen. Damit entzieht man sich aber bloß der Verantwortung für den jeweils in Frage stehenden Widerspruch. 24

Diese vier Dialogismen sind Ausflüchte vor der Verantwortung im Namen der Verantwortung. Man kann sich mit folgender Gewissheit vor ihnen schützen: »Zur Dialogik kann nur von dem eigenen Monolog aus durchgebrochen werden. Dies allein: sich selber zu richten, trägt Frucht.« 25 Nur aus eigenem Willen und eigener Einsicht dringt man zur Dialogik vor. Alle Versuche, sie bei Anderen zu erzwingen, sind zum Scheitern verurteilt.

22 23 24 25

Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 199. Vgl. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 199 f. Vgl. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 200 f. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 199.

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7. Ergebnisse

7.1. Was ist das »Dia-logische« an der »Dialogphilosophie«? Der inflationäre Gebrauch von »Dialog« seit dem 20. Jahrhundert ist Anlass genug für eine kurze Klärung des spezifisch »Dialogischen« in der Dialogphilosophie. Es fällt auf, dass auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive keineswegs Einigkeit über den Begriff »Dialog« besteht. Von Platons Dialog-Verständnis des ›Denkens als Gespräch mit sich selbst‹ und Aristoteles Einführung der ›Sokratischen Dialoge‹ Platons als Literaturgattung, bis zur Eindeutschung des Begriffs nach 1760 aus dem Französischen mit seinem erweiterten Wortgebrauch: als Bezeichnung für »Gespräch«, »Verständigung«, sowie für die Textsorte und die Wechselrede im Drama, zeitigte der Dialog-Begriff mannigfaltigste Bedeutungen. Leider kann dies nicht Thema dieses Beitrags sein. Im 20. Jahrhundert aber erfährt der Dialogbegriff eine Erweiterung als theoretischer Gegenstand in der ›Dialogforschung‹, als präskriptives Gesprächsmodell in Schreib- und Lesevorgängen sowie für die angestrebte Verständigung zwischen verschiedenen Wissensbereichen. 1 In diese Zeit des schwammigen Wortgebrauchs von »Dialog« fällt also der Beginn der sog. Dialogphilosophie. Doch was bedeutet ihr »Dialog«? In seinen publizierten Werken benutzt Rosenzweig den Begriff »Dialog« nur zur Kennzeichnung der Textsorte. Bereits 1916 charakterisiert er aber in einem Brief an Rosenstock-Huessy sein sich schon abzeichnendes »Neues Denken« als dialogisierendes Verfahren: Vor dem Hintergrund der auffälligen Totalitätsanmaßungen, die er bei sich selbst und seinen Historiker-Kollegen feststellte, geht es ihm darum, »nicht nur mit dem eigenen Kopf zu denken, sondern mit 1

Vgl. Fries: Dialog: Begriff und Geschichte einer Gattung, 37 ff.

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Was ist das »Dia-logische« an der »Dialogphilosophie«?

›den Köpfen aller Beteiligten … Ich würde mir sonst selber nichts glauben.‹« 2 Aber reicht diese Bezeichnung, die er nicht in veröffentlichten Werken benutzte, aus, um von »Dialogphilosophie« zu sprechen? Wohl eher nicht! Fragen wir also nach dem »Logos« in seinem Werk. Dialog ist ja im wörtlichen Sinne das, durch das der Logos hindurchgeht. Erstaunlicherweise scheint Rosenzweig dem »Logos« aber nicht wirklich viel abgewinnen zu können: »Die Einheit des Logos begründet die Einheit der Welt als einer Allheit.« 3 Der Logos habe das Abendland zu dem Vorurteil der Einheit des Denkens mit der Allheit der Welt verführt. Er wirft der abendländischen Philosophie geradezu vor, dass sie diese »Allherrschaft des Logos aufrechtzuerhalten bestrebt sei« 4 und damit dem Leben die Lebendigkeit abspreche, »um sie dem Denken zuzusprechen.« 5 Konsequenterweise übersetzt Rosenzweig »Logos« mit »Sprachvernunft«. 6 Logos ist also das, was dem Menschen das begriffliche Denken ermöglicht. Ebner ist in seiner »Pneumatologie« diesbezüglich etwas differenzierter: er entlarvt die Übersetzungen von »Logos« mit ›weltschöpferische Vernunft‹, ›Weltgeist‹, ›Vernunft an sich‹ o. ä. als problematisch, also nicht wie Rosenzweig den Logos selbst. Die Übersetzungen sind es also, die zu leichtsinnig-phantastisch-philosophischen Spekulationen verführten. »Der Logos des Johannesevangeliums ist in pneumatologischem Sinne [aber] ganz richtig mit Wort, verbum, übersetzt.« 7 Andererseits weiß Ebner: »Im Wort ist die Wahrheit, aber auch die Lüge.« 8 Der Logos selbst ist also kein Garant für Wahrheit: die Gewähr für die Wirklichkeit des Welterlebnisses liege erst darin, dass das Ich auf das Du hin angelegt ist. Es ist im Worte ja etwas, was geglaubt werden muss. Wir haben es hier mit einem Ausbrechen der Sprache, mit der »Wortwerdung« 9 zu tun, deren Ursprung wir nicht kennen. Das Woher der Sprache im Gespräch, das uns ja erst sein lässt und somit nicht von uns selbst verursacht 2 3 4 5 6 7 8 9

Casper: Denken, 145. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, I, 18. Pajević: Poetisches Denken, 201. Pajević: Poetisches Denken, 201. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, I, 45. Ebner: Pneumatologie, 85. Ebner: Pneumatologie, 166. Ebner: Pneumatologie, 49.

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Ergebnisse

sein kann, bleibt uns ein Geheimnis. 10 Die Aktualität des Sprechens (von Mensch zu Mensch, aber auch als bloßes Selbstgespräch) weist also über das Menschliche hinaus auf die Göttlichkeit, und das bedeutet: die Unverfügbarkeit des Logos für die Menschen. 11 Aber Ebner distanziert sich hier entschieden von Platons Auffassung des Dialogs, der das ›Denken als Gespräch mit sich selbst‹ als dialogisch charakterisiert. Ebner widerspricht Platon, denn »Im Selbstgespräch verliert das Wort seinen Sinn und wird schließlich zum sinnlosen Irrereden. Im ›Dialog mit Gott‹ kommt es zu seinem letzten und tiefsten Sinn.« 12

Ebner verwendet den Ausdruck »Dialog« hier in einer Weise, an die später Buber anschließt: Dialog ist dasjenige Gespräch, das sich zwischen Ich und Du in offen dankbarer Haltung und verbindlichem Verantworten des Kommenden vollzieht. Das ist ja im Ebner’schen Glauben an das Wort bereits angelegt. Der Logos selbst verbürgt also noch keine Wahrheit, denn in ihm steckt auch Lüge. Nur in den Momenten seiner Manifestation bewährt er sich und verbürgt Wahrheit an einem Ort zu einer Zeit. Buber schließlich unterscheidet konsequent und explizit zwischen drei Arten von Dialogen: • dem echten Dialog, in dem jeder der Teilnehmer den oder die Anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass sich lebendige Gegenseitigkeit zwischen ihm und ihnen stifte; • dem technischen Dialog, der lediglich von der Notwendigkeit der sachlichen Verständigung eingegeben ist; • dem dialogisch verkleideten Monolog, in dem zwei oder mehrere im Raum zusammengekommene Menschen auf wunderlich verschlungenen Umwegen jeder mit sich selbst redet und sich noch der Pein des Aufsichangewiesenseins entrückt dünkt. 13 »Dialog« ist bei Buber nicht einfach eine Textgattung, eine auf »Austausch« bedachte Verständigungsform oder eine Form des Lesens oder Schreibens. Dialog ist diejenige Haltung, die den Logos bewährt:

10 11 12 13

Vgl. Casper: Denken, 224. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 228. Ebner: Pneumatologie, 49. Vgl. Buber: Zwiesprache, 166.

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Was ist das »Dia-logische« an der »Dialogphilosophie«?

»Dialogisches Leben ist nicht eins, in dem man viel mit Menschen zu tun hat, sondern eins, in dem man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun hat. Monologisch lebend ist nicht der Einsame zu nennen, sondern wer nicht fähig ist, die Gesellschaft, in der er sich schicksalmäßig bewegt, wesensmäßig zu verwirklichen.« 14

Hier wird also eine spezielle Auffassung von »Dialog« sichtbar, die bei allen Dialogphilosophen angelegt ist, aber nicht immer so benannt wird: • Buber: Dialog ist die Ich-Du-Beziehung, aus der der Mensch auf und für etwas im Imperativ antwortet und das als Verantwortlicher bewährt. • Rosenzweig: Dialog ist der Moment der Wechselrede, in dem sie zum Zwiegesang gesteigert, also eine gemeinsame Intention im Kohortativ bewährt wird. • Rosenstock-Huessy: Dialog ist der Moment in dem »Welt« und Sein sich gegenwärtig als eins zeitigen und so ein neuer ZeitRaum gestiftet wird. Da das auffälligste äußere Merkmal des »Neuen Denkens« bei Rosenzweig eine spezielle Form der Intersubjektivität ist, hat er es beiläufig einmal als das dialogisierende Verfahren charakterisiert. Es mag also durchaus der Fall sein, dass der Impuls zur Verwendung dieses Terminus ursprünglich vom intersubjektiven Merkmal (dialogisierendes Verfahren) des Dialogischen motiviert wurde. Ebner berücksichtigt aber bereits die volle Bedeutungsmannigfaltigkeit und nutzt das Wort »Dialog« in seiner Bedeutung im Hinblick auf den Logos. Buber konkretisiert die Bedeutung dieses Terminus, sodass Goldschmidt die Dialogik als primäres Charakteristikum des Dialogischen entdeckt. Lässt sich aber im Rückblick, jetzt da wir verstehen, was das Dialogische ist, auch der Logos selbst noch genauer charakterisieren? »Sprachvernunft« ist ja zu eng, »Wort« allerdings etwas unspezifisch. Welche Übersetzung von »Logos« wird also dem Phänomen des Dialogischen gerecht? Logos muss ja dasjenige sein, für das der Mensch im dia-logos offen ist. Es muss etwas im Zwischen sein, das uns anredet und über das der Mensch nicht verfügen kann: es muss im Imperativ stehen. Es ist dasjenige, was den Menschen transformiert, was Buber die Kraft

14

Buber: Zwiesprache, 167.

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Ergebnisse

des Gegenwärtigen nannte. Logos ist etwas, auf das und für das man antworten kann. Der Logos muss im Zwischen ein gemeinsamer sein, der – wie wir gesehen haben – aus dem Ich und Du ein Du und Du hervorbringt. Doch was redet die Menschen im Zwiegespräch gemeinsam an? Es ist die »Nennkraft«, so Rosenstock-Huessys Vorschlag zur Übersetzung von Logos: »Jeder von uns glaubt naiv an diese Gotteskraft in ihm selbst. Jeder erklärt dies zur Sache und ernennt Den oder Die zum Freund. Der Logos ist also die Nennkraft, mit der wir zwischen den Leichen der Welt als Lebendige hindurchgehen, indem wir alle Lebendigen Namen an uns ziehen, und indem wir zusammen mit ihnen von allem weniger Lebendigen uns abziehen.« 15

Meine These ist also, dass im Sinne der Dialogphilosophie der Logos ganz wörtlich durch den Dialog hindurchgeht, der Logos selbst aber als Nennkraft sowohl Sein als auch Schein hervorbringt. »Wahrheit«, also authentischer Seinszugriff durch den Menschen, verbürgt erst das Zusammenkommen von Logos mit dem »Dialogischen«. Die Sprache scheidet Sein vom Schein. Der sprachbegabte Mensch unterscheidet Sein vom Schein. Unterscheiden kann er es im »Zwischen«, da er hier für die grammatischen Strukturen in actu offen ist. Das Zusammenkommen von Logos mit dem Dialogischen findet also in dem den echten Dialog charakterisierenden »Zwischen« an einem bestimmten Zeitpunkt statt. Durch seine Haltung der Freiheit für den Widerspruch ist der Dialogiker, der seine Zeit und seinen Ort nennt, offen dafür. Das bedeutet aber, dass es sich hier um ein ganz konkretes Moment des authentischen Seinszugriffs handelt, das im Folgenden expliziert wird:

7.2. Die Anspruchstheorie der Wahrheit Auch den Dialogphilosophen ist das Sein selbst für den Menschen begrifflich nicht umfassend begreifbar. Trotzdem haben wir alltäglichen Umgang mit ihm: Menschen nehmen am Sein teil, ob sie wollen oder nicht, ob bewusst oder unbewusst. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Dialogphilosophie vier Variablen des Seins aus 15

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit, I, 214 f.

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Die Anspruchstheorie der Wahrheit

der Sprache herausarbeitet. Diese Variablen deuten insbesondere auf die Zeitlichkeit des Seins hin, mit der wir alltäglich konfrontiert sind: • Das Erscheinende entspricht, ganz herkömmlich, logisch schlüssigen Prinzipien: von dem Erlebnis der Erscheinung des Seins lässt sich im Nachhinein im Indikativ erzählen (das Eingeständnis des immer-schon-zu-spät-Kommens ist die Anspruchs-Einschränkung des Indikativs). • Das im Imperativ Erscheinende wird im Moment des Erscheinens situativ bejaht (hinter jedem hörbaren Wort steht das unhörbare Ur-Ja, welches das Dass von etwas so charakterisiert). • Das Erscheinende ist zeitlich an die Aktualität des Sprechens und • räumlich in den Kontext des Ausgesprochenwerdens (Ich-Du) gebunden. Nun stehen wir aber vor dem Problem, dass der Schein zunächst dieselben Merkmale aufweist wie das Sein. Der Schein scheint ja Sein zu sein. Er gebärdet sich als Sein in eben jenen vier Variablen. »Schein und Wirklichkeit sind in der Natur nicht zu unterscheiden«, schreibt Rosenstock-Huessy 1963. Im Logos steckt Wahrheit und Lüge, schreibt Ebner! Das Christentum hat nun, so betont Rosenstock-Huessy, den Logos aus der Natur herausgelöst: »›Das Wort war bei Gott‹, soll rufen: Das Wort ist nicht ein Teil der Natur.« 16 Aus diesem Grund kann er 1964 schreiben: »Sprechen legt der sinnlichen Welt eine Bedeutung bei, die dem Augenschein widerspricht.« 17 Können wir Menschen als sprachbegabte Wesen also zwischen Sein und Schein unterscheiden? Wie sonst als durch die Sprache sollte der Mensch auf das Sein zugreifen? Hierzu müssen wir allerdings sechs Grade der Sprache unterscheiden: 1) Erster Grad: Spiel mit poetischer Lizenz: Der Satz verklärt sein Spiel. 18 2) Zweiter Grad: Der Satz ist akademisch abstrakt: »Deshalb zielt er auf eine Möglichkeit, nicht auf die Wirklichkeit. Er ist unverbindlich.« 19 3) Dritter Grad: Lüge oder Gerücht: Der Satz war gelogen, um aus seiner sozialen Wirksamkeit Profit zu erlangen. 16 17 18 19

Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 57. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 57. Vgl. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 59. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 60.

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Ergebnisse

4) 5)

Vierter Grad: Der Satz ist pure Einbildung. Fünfter Grad: Der Satz bleibt unwirksam, sprach aber die Wahrheit. Sechster Grad: Täter, Sprecher, Hörer waren in voller Übereinstimmung. Das ist der höchste Grad des Ernstes und der Wirklichkeit. 20

6)

Alle diese sechs Sprechweisen sind Grade der Vollsprache. »Der erste, zweite und dritte Grad […] haben alle schon Sinn, sie sind nicht unsinnig. Aber sie haben doch nur deshalb etwas Sinn, weil der sechste Grad den vollen Sinn enthüllt.« 21 Die ersten Sprechweisen geschehen also in Abhängigkeit von der sechsten: »Die Lüge, der Scherz, die Illusion sind gleich drei Refraktionen des vollen Lichts. Bei der Lüge wird der Hörer, bei der Illusion wird das Thema, beim Scherz wird der Sprecher um seine Macht verkürzt.« 22 Bei ihnen ist also weder der Ursprung von Sprache noch so etwas wie ›Wahrheit‹ zu suchen. Nur die sechste Sprechweise verbürgt einen authentischen Zugriff auf das Sein: »Der Satz ist voll Macht gesprochen worden. Der Satz ist voll Macht gehört worden. Und die volle Macht [des Satzinhalts] hat dem Satz entsprochen.« 23 Der Maßstab für die verschiedenen Sprachtypen ist also die Ernsthaftigkeit bei Hörer, Sprecher und Täter. Dieser sechste Grad der Sprache entspricht dem, was sich bei Rosenzweig im Zwiegesang, bei Buber in der Ver-antwortung und bei Rosenstock-Huessy im »Stifte!« zeitigt: Täter, Sprecher und Hörer sind in Übereinstimmung und rufen im Kohortativ und Dual zum Satzinhalt auf, auf den sie sich im Dativ beziehen. Es handelt sich hier aber nicht um eine Korrespondenztheorie, in der sich subjektive Meinungen einfach mit den Tatsachen der objektiven Welt decken. Denn wer legt denn bitte die objektiven Tatsachen in der Welt zum Abgleich fest? Wer verbürgt die Wahrheit der Übereinstimmungsrelation? Wer verantwortet meine subjektiven Hirngespinste? Zwar ist hier die Rede von Übereinstimmung, aber es handelt sich auch nicht einfach um eine Konsenstheorie, in der sich alle (ver20 21 22 23

Vgl. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 60. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 59. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 61. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 61.

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Die Anspruchstheorie der Wahrheit

nünftigen) Gesprächspartner über etwas einig sind. Ein nur intersubjektiver Konsens verbürgt noch lang keine Wahrheit, auch wenn die Diskursteilnehmer ›vernünftig‹ sind. Wenn Letzteres der Fall wäre – wer auch immer den Diskursteilnehmenden ihre ›Vernunft‹ bescheinigt –, wäre nur eine vernünftige Aussage verbürgt und keine wahre: Denn es müsste die Relation von Vernunft zu Wahrheit geklärt werden (wobei sich Konsenstheoretiker sicherlich darüber einig sind, dass Vernunft sich mit Wahrheit deckt). Die Dialogphilosophie impliziert vielmehr eine Anspruchstheorie der Wahrheit! Diese möchte ich hier kurz skizzieren: Eine gehaltvolle Aussage ist durch ein Analogieprinzip charakterisiert, das aber selbst deduktiv nicht schlüssig ist. Die Aussage kann also wahr oder falsch sein. Dieses Analogieprinzip lautet: »Verhalten sich Gegenstände X in Bezug auf den Aspekt Z* genauso wie Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z, trifft auf Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z S zu und entspricht der Sachverhalt S* hinsichtlich des Aspekts Z* dem Sachverhalt S, so trifft auf Gegenstände X S* zu.« 24

Im Einzelfall kann dieses Analogieprinzip also zutreffend oder nicht zutreffend sein. Es handelt sich um den Nukleus der Korrespondenztheorie: Diese behauptet eine solche Analogie, wenn die subjektiven Meinungen analog zu der objektiven Außenwelt strukturiert sind, sodass die Gegenstände de dicto mit den betreffenden Gegenständen de re übereinstimmen. Nur ist damit noch wenig gesagt, denn nur weil es eine Korrespondenz zu geben scheint, ist meine Meinung noch lange nicht wahr. Entscheidend sind also zwei Sachverhalte: Erstens, kann das Analogieprinzip zutreffen oder nicht und zweitens legt das Warum dieser Korrespondenz den Wahrheitswert fest! Das Warum beinhaltet nämlich einen Wahrheitsanspruch, auf den es ankommt: Die Frage nach dem Angesprochenwerden, nach dem Geheißenwerden, ist ja das große Thema der Dialogphilosophie. Welcher Anspruch ist es, der die Wahrheit dieses Analogieprinzips zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und für eine bestimmte Person und für einen bestimmten Sachverhalt verbürgt? Es ist der Anspruch des Du!

24

Tetens: Philosophisches Argumentieren, S. 173.

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Ergebnisse

Der Mensch wird am Du zum Ich. Nur was im Imperativ mich anspricht, ist für diesen Moment an diesem Ort für den Angesprochenen wahr. Aber wir haben auch gesehen, der Mensch wird im IchDu selbst zum Du, wenn er ver-antwortet. Verantwortung (Buber) ist durch die gemeinsame Intention zur Gemeinsamkeit im Kohortativ, durch die Beziehungsqualität des Dativs und die Gemeinschaftsform des Duals charakterisiert. In diesem »Stifte!« zeitigt Welt Mensch und sein- bzw. zeitlassendes Geheimnis (nennen wir es der Einfachheit halber: »Gott«), den zeit-, orts- und personengebundenen Wahrheitsanspruch von etwas, nämlich von dem, was ver-antwortet wird. In der Verantwortung und im »Stifte!« bin ich auf authentische Weise Teil des Seins (durch Kohortativ und Dativ füge ich dem Sein ja nichts hinzu, sondern ich anerkenne es): durch mich wird ein ZeitRaum projiziert. Das Sein schafft durch seine Zeitlichkeit also einen Raum. Dies alles steckt in der Übereinstimmung von Täter, Sprecher und Hörer. Es müsste ja eine Mindestanforderung an Wahres sein, dass es seinen Anspruch erfüllt. Ob in Metaphysik, Psychologie, Naturwissenschaft oder Comedy und Satire: mit jeder Aussage, mit jedem Lebensstil und in jeder Lebensart, mit jeder Tätigkeit ist implizit immer ein Anspruch verbunden. Jede ›Erkenntnis‹, die daherkommt oder hochgehalten wird, tritt mit einem spezifischen Anspruch auf: als Beispiel seien hier vier Erkenntnisarten 25 mit ihren Ansprüchen dargestellt: • Wissen reklamiert die Wahrheit eines objektiven Tatbestands inklusive Begründungsstruktur für sich, indem es diesen als Bewusstseinszustand zu synchronisieren versucht. Dass dieser Wahrheitsanspruch durch Synchronisation ob der umgekehrten Kausalstruktur des Reflexivums allerdings keine Wahrheit verbürgt, haben wir in Kapitel 5.4 herausgearbeitet. Mein einziges wirkliches ›Wissen‹ ist dann tatsächlich: »Ich weiß, dass ich nicht weiß«. 26 Vgl. für Folgendes auch Mittelstraß: Leonardo-Welt, 228 ff. Nicht »nichts«, also ohne »s«, denn wüsste ich nichts, hätte ich mein Nichtwissen bereits totalisiert. Außerdem handelt es sich bei diesem berühmten Satz offenbar um einen Übersetzungsfehler: auch Sokrates sagt: »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« Die Totalisierung des Nichtwissens wäre auch völlig unsokratisch, da sie das aporetische Moment, das Sokrates’ Philosophie ausmacht, aushebeln würde; vgl. Dietz: Sokrates, 94 f.

25 26

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Die Anspruchstheorie der Wahrheit







27

Gewissheit verbürgt einen subjektiven Tatbestand: hier verbirgt sich der Anspruch in der Überzeugung, dass etwas wahr sei oder wie Wittgenstein formuliert: »Die Gewißheit ist gleichsam ein Ton, in dem man den Tatbestand festhält, aber man schließt nicht aus dem Ton darauf, daß er berechtigt ist.« 27 In der Gewissheit tritt der Wahrheitsanspruch als unbegründeter auf: Gewissheiten gebärden sich als Wissen, obwohl sie keines sind. Die Meinung hält subjektiv vorläufig etwas für wahr, da ihr die (vollständige) Begründung noch fehlt. Eine Meinung tritt mit dem Anspruch der Plausibilität und der Einsicht eigener Unvollkommenheit auf. Ernstgenommen ist die Meinung also immer an die Intention gekoppelt, die Begründungen für das Gemeinte einzuholen und zu suchen und die Meinung so mit Hilfe zunehmender Plausibilität zu verbessern. Ob der glücklicherweise geltenden Meinungsfreiheit aber eine Meinung vertreten zu wollen, ist nur eine allzumenschliche Perversion des Anspruchs einer Meinung. Dem Anspruch meiner Meinung werde ich nur gerecht, wenn ich ihre Widersprüche aktiv suche. Über die Meinungen, Gewissheiten und das Wissen anderer Leute informiert uns für gewöhnlich eine Information: die Information beansprucht nur die Übermittlung ihres Inhalts, mehr nicht. In ihr werden alle drei Erkenntnisarten in der gleichen Form dargestellt: in Form von Fakten. Fakten wiederum beanspruchen nicht, wahr zu sein, sondern auf Fakten kann man sich einigen in der Form: »Ja, Person A vertrat damals diese Meinung«, oder: »Person T rannte zeitlebens mit der Gewissheit herum, dass die menschenbedingte Klimaerwärmung eine Erfindung der Chinesen sei«. Andererseits ist die globale Klimaerwärmung selbst ein Fakt. Über einen Fakt ist man sich einig, weil dieser allen Beteiligten evident ist (im Englischen ist ja auch häufig die Rede von evidence, wenn etwas vor Gericht bewiesen werden soll). Das bedeutet, dass positiv gesehen der Einigungsprozess selbst wegen der Evidenz zumeist hinter dem Fakt verborgen ist, negativ gesehen aber – wenn der Sachverhalt also nicht allen evident ist – tritt der Einigungsprozess als ausbleibender klar zum Vorschein (von »alternativen Fakten« zu reden ist in diesem Sinne also offensichtlicher Blödsinn, da dieser Terminus ja bedeutet, dass der Einigungsprozess ausbleibt: Wittgenstein: Über Gewißheit/On Certainty, 6.

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Ergebnisse

»alternative Fakten« sind dergestalt vielleicht ein rhetorisch genialer Kniff, aber sachlich eigentlich keine Fakten, sondern Behauptungen). Auf Fakten einigt man sich, während Vorstellungen bestätigt werden wollen. Der Konsens über einen Fakt hat also eine andere Qualität als der Konsens in den Vorstellungen: der Konsens in den Vorstellungen führt zu einer Gleichschaltung der Vorstellenden (Stichwort: »Linientreue«) während bei der Einigung auf einen Fakt der eigene Standpunkt nicht einfach aufgegeben wird, sondern im Gegenteil gerade beibehalten wird: man ist sich über diesen Fakt einig, über andere kann man sich nicht einigen. Dennoch tarnen sich Vorstellungen gerne als Informationen »[…] wie einzelne notariell beglaubigte Fakten […].« 28 Den Anspruch des Informationsinhalts selbst transportiert die Information also höchstens indirekt mit, sodass hier leicht Missverständnisse entstehen. So sind also alle Erkenntnisarten (auch die hier nicht aufgezählten) mit einem spezifischen Anspruch verbunden, und die Mindestanforderung von Wahrem muss es sein, dass der Erkenntnisinhalt seinem Anspruch genügt. Doch was verbürgt den Wahrheitsanspruch hinsichtlich der Zeiten und Räume? Das kann sich nur im Moment des Anspruchs (also im Moment des Ansprechens durch das Du) zeigen: das Du legt im Ansprechen in der Zeit den Raum fest! Konkrete Räume und konkrete Zeiten sind die Koordinaten des Angesprochen-worden-seins, des Anspruchs. Nur an der Relation – das bedeutet nicht »Relativierung« – können die Relevanz bemessen und der Wahrheitsgehalt ermittelt werden. Der Mensch als Ver-antwortender, als »Stifter« (und das ist seine einzige Möglichkeit, selbst ein Du zu sein) muss seine Zeit nennen. Die Dialogphilosophie impliziert also eine bestimmte Anspruchstheorie. Entscheidend ist nicht die Korrespondenz von etwas, sondern der Grund, warum das der Korrespondenztheorie zu Grunde liegende Analogieprinzip in diesem einen Fall zutrifft. Und der Grund liegt im Anspruch des Du. Der Anspruch des Du liegt dem Ver-antworten zu Grunde. Trifft das Analogieprinzip aber zu, ist es noch lange nicht im 28

Kierkegaard: Der Begriff der Angst, 504.

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Echte Kommunikation: Was ist das eigentlich?

objektiven Sinne o. Ä. wahr, denn es ist nur für jemanden wahr, nämlich für diejenigen, die es verantworten. Wahrem kommt also ein performatives Moment zu – Wahres ist nicht, denn es unterliegt der Zeitlichkeit des Seins: Wahres bewährt sich! Nur wenn der Anspruch des Du, der im Imperativ der Gegenwart steht, also im Kohortativ, Dativ und Dual bewährt wird, kann man sich der Wahrheit des als ›wahr‹ Daherkommenden sicher sein: im Kohortativ, Dativ und Dual wird der Anspruch des Du durch die Zeit getragen. Für die Freunde formalisierter Sprache könnte eine quasiformale Reformulierung der Anspruchstheorie der Wahrheit in der Dialogphilosophie also folgendermaßen lauten: Wahr ist etwas genau dann, wenn der Anspruch des Du im Kohortativ Zeit (-Punkt und -Dauer) und Ort (»Ich-Du« bzw. »Du-Du«) 29 nennt und so die Gültigkeit der gegenwärtigen Beziehung zwischen Sein und Bewusstsein in der Qualität des Dativs und Duals in folgender Analogiestruktur durch die Zeit verbürgt: »Verhalten sich Gegenstände X in Bezug auf den Aspekt Z* genauso wie Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z, trifft auf Gegenstände Y in Bezug auf den Aspekt Z S zu und entspricht der Sachverhalt S* hinsichtlich des Aspekts Z* dem Sachverhalt S, so trifft auf Gegenstände X S* zu.« 30

7.3. Echte Kommunikation: Was ist das eigentlich? Sprechend unterscheiden wir Menschen also zwischen Sein und Schein! Entscheidend ist die Ernsthaftigkeit, die hinter dem ausgesprochenen Satz steht. Auf die Ebene der Kommunikation gehoben: Wahr ist der Satz, bei dem die Intentionen des Hörers und des Sprechers in voller Ernsthaftigkeit mit dem Satzinhalt übereinstimmen. Das zu ermessen, ist nicht willkürlich, denn der Sprecher ist niemals bloß Sprecher, sondern vor allem auch Hörer seines Satzes. 31 Es kommt also nicht nur auf die konkret benutzten Worte an, sondern vor allem auf die hinter den Worten liegende Intention des Hörers. Die Frage ist: Mit welcher Intention geht der Hörer ins Gespräch? Der Sprecher versucht ja nur, in immer neuen Anläufen, mit seinen Worten seine Intention so gut wie möglich verständlich zu machen. 29 30 31

Was auch den konkreten Personenkreis festlegt, für den dieses Wahre sich bewährt. Tetens: Philosophisches Argumentieren, S. 173. Vgl. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 51 f.

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Ergebnisse

Andererseits ist Ernsthaftigkeit noch kein hinreichendes Wahrheitskriterium. Berücksichtigen wir die oben im Kapitel über die Anspruchstheorie dargelegten vier dialogischen Variablen des Seins: im dialogischen Sinne wahr sind die mit logischer Schlüssigkeit, situativ geschehenden (während der Wechselrede) und in aller Ernsthaftigkeit bejahten (dass) und charakterisierten (so), besprochenen, konkreten (dies) Sachverhalte. Im Sprechen liegt also tatsächlich die Kraft, »zwischen Schein und Wirklichkeit in den Reden der Menschen zu unterscheiden«. 32 Wahrheit berücksichtigt die konkrete Projektion des Phänomens (Logik), dessen Zeitlichkeit (Grammatik) – und damit Ort – und dessen Intention (Verantwortung). Genau dieser Punkt markiert die enorme Relevanz der Dialogphilosophie auch für zeitgenössische Verständigungstheorien. Zum Beispiel: Mit der Fragestellung »Was ist (echte) Kommunikation?« schlägt Julian Nida-Rümelin in einem erhellenden Vortrag das folgende sprecher-zentrierte Kommunikationsmodell vor: Der Sprecher S teilt mit dem Zeichen (der Äußerung) x dem Hörer (dem Adressaten) H mit, dass p der Fall ist, genau dann, wenn 1 S gibt H mit x einen Grund für p 2 S hält x für einen Grund für p (Regel der Wahrhaftigkeit) 3 S erwartet, dass H glaubt, dass (2) (Regel des Vertrauens) 4 S erwartet, dass H wg (1) x für einen guten Grund für p hält (Regel der Verlässlichkeit) 33 Der Sprecher in diesem Modell muss also ein ernsthaft-begründetes Anliegen wahrhaftig – sprich: aufrichtig – kommunizieren wollen, in der Erwartung, dass der Hörer sich dieses Anliegen zu eigen macht. Wie wir gesehen haben, sind Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit (1. und 2.) mit der dialogischen Intention identisch. Trotzdem handelt es sich um einen völlig anderen Ansatz: in der Dialogphilosophie erübrigt sich die Erwartungshaltung (3. und 4.) an den Hörer. Aus der Perspektive der Dialogphilosophie sitzt dieses Modell nämlich einem Denkfehler auf: nicht die Sprecherintention ist entscheidend, sondern die Hörerintention. Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit charakterisieren die Hörerintention. Aber nicht der Sprecher verantwortet ja (wie bei Nida-Rümelin gefordert), sondern der Hörer: 32 33

Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 59. Vgl. Nida-Rümelin: Vortrag zur Philosophie der Verständigung, Min. 30 ff.

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Echte Kommunikation: Was ist das eigentlich?

er antwortet auf und für Gesprochenes! Dass Nida-Rümelin spricht, ist ja bereits sein zweiter Schritt, und dass seine Zuhörer zuhören, ist deren erster. Echte Kommunikation besteht während dieses Vortrags dank seiner Zuhörer, die mit dieser dialogischen Intention seinen Vortrag besuchen und nicht, weil Nida-Rümelin mit ernster Miene vorträgt. Er selbst ist sich ja, sprechend, bereits sein erster Zuhörer gewesen. Und aus diesem Sachverhalt lässt sich »echte« Kommunikation genau charakterisieren: der konkrete Maßstab für »echte« Kommunikation ist also derselbe wie der Maßstab für das gesprochene Wort: »Denn erst das Wort ist gesprochen, auf das sein eigener Sprecher selber zu hören bereit und imstande ist.« 34 Der Sprecher hat, bevor er spricht, bereits gehört (zum Beispiel in der Vorbereitung). Echte Kommunikation bemisst sich also daran, ob der Sprecher bereit und im Stande ist, ernsthaft auf sich selbst zu hören. Element 1 und 2 aus Nida-Rümelins Kommunikationsmodell könnten ja als Regel der Vernunft bezeichnet werden: »Vernünftig wird, wer sein eigenes Wort vernimmt und das dauert ein Leben lang!« 35 Das von Nida-Rümelin vorgestellte Modell hängt sich durch seine Sprecherzentriertheit im Endeffekt als bloß moralische Forderung selbst auf. Die Verantwortung für echte Kommunikation wird moralisch dem Sprecher in die Schuhe geschoben. Das ist aber eine vorschnelle Auffassung von Verantwortung, denn die Verkehrung der Sprechreihenfolge muss notwendigerweise zu ideologischer Vereinnahmung führen. 36 Um diese Gefahr einzudämmen, stellt Nida-Rümelin vier Regeln statt zwei auf: seine vier Regeln für echte Kommunikation entpuppen sich nämlich als eigentlich zwei Regeln: Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit einmal als moralische Forderung an den Sprecher und einmal als Erwartung an den Hörer. Aber echte Kommunikation ist keine moralische Forderung an den Sprecher, sondern eine Fähigkeit des Hörers. Höre ich Nida-Rümelins Vortrag mit dieser Intention zu, dann ist das die hinreichende Bedingung dafür, dass zwischen mir und Nida-Rümelin echte Kommunikation geschieht (auch wenn das zur gleichen Zeit für meinen träumenden Sitznachbarn vielleicht nicht gilt). Echte Kommunikation ist also auf überraschende Weise un34 35 36

Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 51. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 52. Vgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 31.

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abhängig vom Inhalt: das postfaktische Geschwätz der Trumps und Gaulands dieser Welt ist selbst ja nicht das Problem. Was Dummschwätzer ausmacht, ist, dass sie unfähig oder nicht willens sind, sich selbst mit dialogischer Intention zuzuhören! Das eigentliche Problem aber ist die fehlende Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit ihrer Hörer. Erst dieser Mangel macht Dummschwätzer zu Populisten. Der Mangel an echter Kommunikation besteht nicht wegen ›moralischer Vergehen‹ seitens der Volkstribune, sondern wegen der fehlenden dialogischen Intention ihrer Adressaten: des »Volks«. Wertvoll ist hier auch der Hinweis Ebners, dass die Wahrheit zwei Gegenteile kennt: Irrtum und Lüge. • Beim Irrtum wird der Inhalt, der im Indikativ steht, vom Hörer nicht von seinem Realitätsgehalt, der während des Sprechens im Imperativ steht, getrennt: der Indikativ scheint dem Hörer Imperativ zu sein. • Bei der Lüge gebärdet sich der Indikativ als Imperativ: der Lügner stellt ihn vorsätzlich so dar. In beiden Fällen bezieht sich der Hörer auf den Inhalt im Genitiv, im haben-wollenden Ich-Es-Modus. Das Problem von Lüge und Irrtum ist aber, dass beide zwar nicht wahr sind, sich aber auf Zeit in einem bestimmten Zeit-Raum zu bewähren scheinen. Heute nennen wir eine solche Zeitblase treffend postfaktische Welten. 37 Was bei Irrtum und Lüge also nicht berücksichtigt wird, ist die dialogische Intention. Angesichts der Gefahr des Postfaktischen wirkt das Dialogische präventiv. Ein interviewender Journalist – konfrontiert mit einer Unwahrheit der Volkstribune – müsste irgendwie versuchen, dem TVZuschauer die tatsächliche Intention hinter der falschen Aussage gleichzeitig mit der Aussage selbst zu präsentieren. Denn entscheidend für die Wirksamkeit einer Lüge ist nicht der Sprecher, sondern der Hörer. Die Lüge wird unschädlich, sobald die hinter ihr stehende Intention evident ist. Dieser Vorgehensweise, in der der im Interview vermittelnde Journalist versucht, die eigentliche Intention transparent zu machen, und die Trump-Beraterin mit verschiedensten Taktiken genau diese zu verschleiern versucht, können wir zur Zeit jeden Tag auf CNN zuschauen.

37

Vgl. Kap. 8.

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Der tägliche Ursprung der Sprache

7.4. Der tägliche Ursprung der Sprache Die dialogische Intention mit ihrer Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit 38 treibt uns immer weiter. Das Verantworten verlangt von mir jeden Tag aufs Neue eine Antwort. In dieser Tatsache liegt auch der Ursprung der Sprache begründet, eine der wohl »am meisten verhandelten, bespöttelten und hoffnungslosen Fragen der menschlichen Geschichte.« 39 Die Erforschung der Sprachen verweist gemeinhin auf die »›Nachahmung‹, auf Nervenreflexe (Langer), als Gestikulation des ganzen Körpers, die zu einer Bewegung der Gurgel verkürzt seien (Jousse), auf das Geschrei einer kriegführenden Menschengruppe; und all diese Erklärungen grenzen an das Lächerliche.« 40 Nach der Lektüre, insbesondere des Humboldt-Kapitels 4, wissen wir, dass der Ursprung der Sprache ein transzendentaler ist – und wir diesen jeden Tag suchen müssen – und nicht in einem Entwicklungsstammbaum durch die Menschheitsgeschichte liegt. Grätzel bringt diesen Sachverhalt gegen Tomasello auf den Punkt: Tomasello meint, Sprache aus ›natürlichen‹ Vorformen wie die Sprache von Primaten oder Säuglingen ableiten zu können: »Die Sprache von Säuglingen kann aber nicht als Vorform der voll entwickelten Sprache verstanden werden, sie ist vielmehr die schon im vollen Umfang entwickelte menschliche Sprache, die allerdings noch nicht vollständig umgesetzt werden kann. Auch wenn Säuglinge noch nicht alles verstehen und artikulieren, bedienen sie sich der menschlichen Sprache und nicht einer Vorform davon. Säuglinge wachsen schon als Föten in einen voll entwickelten Spachraum hinein, ihre Entwicklung ist eine der Artikulation und des Verstehens, nicht der Sprache selbst.« 41

Die ersten fünf Grade der Sprache hängen ja bereits vom sechsten Grad, der Vollsprache, ab. Sprache muss bereits in ihrer Entstehung Vollsprache sein! 42 Bereits Wilhelm von Humboldt wendet sich gegen die im 18. Jahrhundert vorherrschende sensualistische Sprachursprungtheorie, die eine allmähliche Herausbildung der Sprachfähigkeit propagiert und »mit einer ›philosophischen‹ Konstruktion des Vgl. hierzu auch oben die »Dialogik« Goldschmidts (in Kap. 6), die diese Haltung als ständige Suche nach Widersprüchen im eigenen Standpunkt charakterisiert. 39 Rosenstock-Huessy: Der tägliche Ursprung der Sprache, 129. 40 Rosenstock-Huessy: Der tägliche Ursprung der Sprache, 129. 41 Grätzel: Versöhnung, 84. 42 Eine schöne Übersicht über die von der Sprachwissenschaft bisher herausgearbeiteten Sprachursprungstheorien finden sich in: Trabant: Artikulationen, 149 ff. 38

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Ergebnisse

sukzessiven Erwerbs grammatischer Strukturen verbindet […].« 43 Diese Position teilt sich Humboldt bereits mit Herder und Schlegel. Nur ein ernsthaftes Anliegen bewegt mich dazu, zu antworten, also zu sprechen. »Es kann auch die Sprache nicht anders, als auf einmal entstehen, oder um es genauer auszudrücken, sie muss in jedem Augenblick ihres Daseyns dasjenige besitzen, was sie zu einem Ganzen macht.« 44 Das Ur-Ja bringt ja die Sprache immer schon mit ihrer gesamten Logik und Grammatik hervor! Sprache mit halber Grammatik und Logik kann niemals deren Ursprung sein, sondern ist immer erst sprachliche Degeneration! Der Ursprung der Sprache liegt also in unserer täglichen Ernsthaftigkeit: die Dialogphilosophie jedenfalls legt dies nahe, denn »der einzige Satz […], aus dem heraus Sprache entspringt, und die Äußerung, um derentwillen wir als Menschen seit zehntausend Jahren sprechen, sind die Ausdrücke der vollen Übereinstimmung.« 45 Sprache entsteht, um es kurz zu sagen, wenn wir tatsächlich etwas zu sagen haben, sprich: wenn ein Imperativ unsere Antwort provoziert.

7.5. Die Relation von Wissen und Wirklichkeit Die Grammatik reißt alles Wissen, das die Menschheit ansammelt, alle Geist- und Sprachoberflächlichkeiten, Philologie, Literatur, Kunst und Kulturgeschichte, Soziologie etc. »in die Tiefe der Urbewährung hinunter.« 46 Mit seiner Zeit- und Ortsungebundenheit ist Wissen wohl der sich als am ›seiendsten‹ gebärdende Schein. Wissen liegt ja als logisches Häppchen im Indikativ vor. Auch Wissen muss sich, will es wahr sein, grammatisch immer wieder bewähren. Auch Wissen muss seinem Anspruch genügen. Im Wissen muss zwischen Sein und Schein unterschieden werden und Wissen, das ja der umgekehrten Kausalität des Reflexivums unterliegt, 47 muss sich zur Zeitlichkeit des Seins relationieren. Es muss sich wieder bewähren! Das Ernstnehmen der Grammatik fordert offensichtlich jede Wissenschaft und Philosophie, die einen Wahrheitsanspruch an sich

43 44 45 46 47

Trabant: Über die Sprache, 234. Humboldt: Ueber das vergleichende Sprachstudium, 12. Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wendung in der Grammatik, 60. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 26. Vgl. Kap. 5.4.1.

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Die Relation von Wissen und Wirklichkeit

stellt, grundsätzlich heraus: Weltdinge treten in logischer Form an uns heran. Das ist sehr praktisch, denn wo wir uns in der Welt bewegen wollen, müssen wir die Dinge in ihren alten Begriffen lassen. Aber diese Tatsache verleitet uns dazu, die Verstandessprache als die ursprüngliche Sprache auszugeben. 48 Wir aber wissen jetzt, dass der Indikativ nur die Ursachen zu benennen vorgibt, denn er selbst hat den Imperativ zu seinem Ursprung. 49 Dort, wo die Philosophie Ich-Bewusstsein werden will, redet sie statt vom Dasein vom Willen und Werden. »Die Philosophie, die den Menschen vergöttert, heißt Idealismus, denn sie lebt von der Freiheit des Willens.« 50 Wir aber wissen jetzt, dass alles Werdende, das dem Gesetz des Daseins noch nicht gehorchen will, im Konjunktiv steht, der Idealismus also eigentlich nur den Eigendünkel seiner Vergangenheit in die Zukunft projiziert. 51 Er frönt, von der Wirklichkeit abgekapselt, seinem Dasein im Binnenraum seiner Zeitblase! Alles Gedachte muss sich bewähren, um wahr zu sein. Meine Gedanken sind mein Eigentum. In der imperativen Bewährung der Wortwerdung findet aber eine »Expropriation des Gedankens durch das Wort« 52 statt. Ich verfüge zwar über meine Gedanken, die im Indikativ vorliegen, nicht aber über die Wirklichkeit des Gedachten. Die Bewährung enteignet mich also. »Insofern aber Sein gewährt wird, zeigt es sich als Gnade.« 53 Der Sprechende erlebt Wirklichkeit im Verantworten eines Imperativs. Das Kommen des Imperativs ist nicht erzwingbar: die Wirklichkeit gewährt ihn als Gnade. Verantwortung steht also unter dem Zeichen der Dankbarkeit, die das Denken erst gegenüber dem Charakter des Seins öffnet: Wahres steht im Dativ! Philosophien bewegen sich gemeinhin in tautologischen Totalitätsanmaßungen zwischen »Alles ist …« und »Nichts ist …«. Wissenschaften legen demgegenüber einen naiven Empirismus zu Grunde, dessen Anmaßung aber im Anspruch objektiver Wahrheiten liegt. Weltanschauungen überhöhen eine einmal festgestellte Zeitstruktur zu ihrem totalitär immergültigen Kalender durch die Zeit in ihrer Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 23 f. Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung der Grammatik, 97. 50 Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 24. 51 Vgl. Kap. 9. 52 Ebner: Schriften, Band 2: Notizen, Tagebücher, Lebenserinnerungen, München 1963, S. 977, zitiert aus: Casper: Denken, 210 f. 53 Casper: Denken, 212. 48 49

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Ergebnisse

Zeitblase. Weltanschauler leben so in panischer Angst vor dem unvermeidlichen Platzen ihrer Blase. Naturwissenschaften unterliegen demgegenüber der Falsifikation durch die Zeit, sie sind also offen für die Zeit, solange sie sich keinem Ismus hingeben. Die pragmatische Beschränkung des Wahrheitsanspruchs der Dialogphilosophen relationiert diese Vorgehensweisen: sie setzt sie wieder in ihre Relation zur Wahrheit. ›Wahres steht im Dativ‹ bedeutet nämlich auch: Wahrheit ist niemals nur Wahrheit für sich, sondern kann ›wahr‹ immer nur für jemanden sein. »Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr – bewährt werden will.« 54

7.6. Selbstführung: Die Kunst der Kaironomie zur Orientierung jenseits der Weltanschauungen Während der Lektüre fällt ein Sachverhalt ganz besonders auf: Die Orientierungsfunktion der Weltanschauungen in ihren Erzählmodi hat sich als trügerisch erwiesen! Konsequenterweise ringt die Dialogphilosophie in jedem Abschnitt um eine Möglichkeit der Orientierung, ohne in Weltanschauungen oder Ismen zurückfallen zu müssen. Doch woran kann man sich orientieren, wenn kein festes Weltbild vorliegt, auf das man sich beziehen kann? Wenn man Wahres nicht wissen kann, sondern bewähren muss? Wenn der Wert meiner eigenen Erkenntnis plötzlich selbst hinterfragbar wird und sie auch schlicht und ergreifend falsch sein kann? Wenn die sog. ›Werte‹, die ich hochhalte, bereits als Ausrede veralteter Weltanschauung entlarvt sind? Orientierung jenseits von Weltanschauungen ist die große Herausforderung der dialogphilosophischen Bemühungen. Wir kommen hier zur dialogphilosophischen Lösung des Maßstab-Problems, das in Kapitel 2.2 im Hinblick auf Kierkegaard umrissen wurde: »[…] jedes Ding [ist] qualitativ das, womit es gemessen wird; und das, was qualitativ sein Maßstab ist, ist ethisch sein Ziel […].« 55 Rosenstock-Huessy schreibt diesbezüglich:

54 55

Rosenzweig: Das Neue Denken, 448. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 112.

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»In meinem Briefwechsel mit meinem Freunde Franz Rosenzweig aus dem Ersten Weltkriege ging es um Judentum und Christentum. Darin fragte er, was ich denn unter ›Offenbarung‹ verstehe, denn davon reden ja beide Glaubenswege. Ich schoß zurück: ›Offenbarung ist Orientierung‹.« 56

Die einfache Antwort ist also die: der Imperativ der ›Offenbarung‹ orientiert den Menschen. Im Offensein für den Imperativ – also in einer Haltung des Dual, Ich-Du, Dativs und Vokativs – orientiert die Welt den Menschen. Dies ist möglich, da das sprachbegabte Wesen Mensch an Sprache teilhat. Hierin liegt die bereits bei Humboldt angelegte kopernikanische Wende der Sprachphilosophie! Jeder Moment fordert mich also heraus, mich immer wieder neu an der ›Offenbarung‹ der Gegenwart zu orientieren. Verweigere ich mich dieser Herausforderung zur Anerkennung, ›orientiere‹ ich mich zum Beispiel an einem Wissen, hänge ich mich an die Vergangenheit (im Rosenzweig’schen Sprech: an die »Schöpfung«) an: ›Werte‹ gebärden sich als Orientierung, werden aber eigentlich nur vertreten! Jede Situation verlangt mir also situationsgerechte Orientierung ab. Trifft der Kairos auf meine (vor-)orientierte Einstellung, orientiere ich mich nicht am Kairos, sondern verweigere dem Kairos die Anerkennung. Jeder Kairos aber – sollen keine »Kairosen« 57 entstehen – verlangt zu seiner höchsten Zeit seinen eigenen Zeit-Raum. Die Welt offenbart sich als Kairos, weshalb eine dem Kairos angemessene Messkunst nötig ist, um sich an der Offenbarung der »Welt« orientieren zu können: die Kaironomie nimmt den Kairos zum Maßstab zur Vermessung der »Welt«. Die Dialogphilosophie bezieht eine solche Kunst der Kaironomie ausdrücklich mit ein: zwar muss ich mich immer wieder neu orientieren, aber das Rad muss nicht in jeder Situation neu erfunden werden. Der Rekurs auf die Grammatik und unsere aus diesem herausdestillierten Maßstäbe sind nicht die situationsgerechte Orientierung – sie sind ja selbst bloß ein Wissen –, aber sie können als Beschleunigungsspur zur Orientierung dienen. Wir werden im Folgenden sehen, dass unsere vier Maßstäbe durch ihren Verweisungscharakter uns gewisserRosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 161. Die Bedeutung dieses Satzes wird auch von Rosenzweig hervorgehoben und bestätigt in einem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. 11. 1917: Rosenzweig: »Urzelle« des Sterns der Erlösung, 81. 57 »Die meisten Psychosen sind Kairosen«, so Rosenstock-Huessys These; Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 134. 56

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Ergebnisse

maßen ganz von alleine durch die Kreuze der Wirklichkeit der drei Zeitigungsformen der »Welt« tragen. Im Folgenden enthüllt sich der Sinn meines Ansatzes, die vier von mir vorgeschlagenen Maßstäbe als Faustregeln zu formulieren. Unsere vier Maßstäbe, die bereits in der Einleitung genannt wurden, korrespondieren nämlich mit den drei Zeitigungen der »Welt«, wie sie Rosenstock-Huessy darstellt (siehe oben Kapitel 5.6!). Wie jetzt dargestellt werden soll lässt sich anhand unserer vier Maßstäbe jede grammatische Situation – d. h. jede meiner Haltungen zur »Welt« – erstens feststellen und überprüfen (deshalb habe ich sie, soweit sinnvoll, also mit Ausnahme von Maßstab IV, als Faustregeln formuliert), und zweitens bilden sie den Verweisungscharakter der Grammatik ab: sie orientieren mich also – wie die Grammatik auch (siehe Kapitel 2) – am ›Ganzen‹, ohne zu behaupten, sie wisse, was das Ganze ist, noch dass es das oder ein Ganzes überhaupt gibt. Das bedeutet: Immer wenn Maßstab I (Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein) nicht zutrifft – und wissenschaftliche Erkenntnis ist immer aus Falsifikation gespeist –, dann setzt sofort ein Verweisungeffekt auf die anderen Zeitigungen, eine Art Trickle-down-to-Kairos, ein. Trifft dieser Maßstab zu, bleibe ich Weltanschauler! Auf diese Weise werden wir also mit Hilfe unserer Maßstäbe tatsächlich (ein Stück weit) ›Herr der Zeiten‹ (nicht über die Zeiten), da mit ihnen der Kairos der Gegenwart (mit Rosenzweig gesprochen die »Offenbarung«) das Maß der Dinge wird. Die erste Zeitigung »Vernimm!« und »Spiel!« korrespondiert mit dem Maßstab I: Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein. Dieser Maßstab drückt ja eine Haltung aus: der Widerspruch will aufgespürt werden, da meine Meinung kein Wissen ist und dementsprechend auch nicht als Wissen, sondern als Meinung behandelt werden will. Meinungen sind ergänzungswillig und -bedürftig. Trifft diese Faustregel zu – überprüfen kann das jeder nur bei sich selbst –, begleitet diese spezifische Haltung den Menschen, den RosenstockHuessy mit den transzendentalen Zeitigungsnamen »Kind« bzw. »Künstler« benennt, durch alle vier Zeitigungen aus der Vergangenheit: 334 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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»Heiße!« kann sich nur zeitigen, wenn man für den Widerspruch offen ist: ein Baby zum Beispiel hat in dieser Konfrontation mit der »Welt« noch gar keine andere Wahl als offen für diesen Widerspruch zu sein. Erst mit »Lies!« hat das »Kind« mehr und mehr die Möglichkeit, sich der widersprechenden »Welt« zu entziehen. Das Phänomen ist ja bekannt, dass Kinder häufig mit dem ersten Schultag alle kindliche Neugier und alles Interesse schlagartig verlieren – zur Verzweiflung der Eltern! Aber vielleicht sind das schon erste Anzeichen von Selbständigkeit, und die Lehrer oder das ›System Schule‹ trifft primär gar keine Schuld. Jedenfalls beginnt mit »Lies!« ja tatsächlich die Gratwanderung des Kindes zwischen Offenheit und Geschlossenheit angesichts des Widerspruchs der »Welt«. Im »Diene!« ist das »Kind« bereits mündig und das bedeutet: es wendet den Maßstab I selbst an. Der »Jugendliche« in uns sucht sich die ihn befehlenden Personen und Dinge selbst aus: er sucht sich aus dem Pool der Widersprüche den richtigen aus, an dem er sich abarbeiten kann! Im »Singe!« feiert sich der »Künstler« in uns selbst in seiner Originalität, und das bedeutet: in seinem Widerspruch zur »Welt«. Denn nicht nur die »Welt« steht im Widerspruch zu mir, sondern auch ich stehe, wenn ich originell bin, im Widerspruch zu ihr!

Halten wir uns im »Vernimm!« und »Spiel!« an den Maßstab I, dient er uns als Orientierungshilfe, denn wir befinden uns hier im Modus des Indikativs: Vergangenes wird aufgearbeitet. Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein lässt uns diesem Raum gerecht werden. Es geht nicht darum, unsere Vergangenheit zu leugnen, zu verdrängen oder gar zu überwinden (das könnten nur weltanschauliche Methoden sein). Im Gegenteil: es geht in der indikativen Zeitigung darum, den eigentlichen Wert meiner Meinung anzuerkennen. Wir müssen einen Umgang mit ihr finden, der ihr gerecht wird. Der Maßstab I verweist hier auf eine Unabgeschlossenheit, die das »Kind« in uns für die anderen Zeitigungen öffnet. So werde ich auf die folgende Zeitigung verwiesen: Die zweite Zeitigung »Kämpfe!« und »Leide!« korrespondiert mit dem Maßstab II: Erst die Relation bekundet die Relevanz! Dieser Maßstab drückt eine Haltung aus, die wesentlich konkreter ist als die 335 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Ergebnisse

Haltung des Maßstabs I: hier bin ich auf mich selbst zurückgeworfen und muss eigenständig versuchen, die »Welt«-Phänomene in Relation zueinander zu bringen. Dem »Erwachsenen« in uns geht es ja um die Zukunft! Er tastet sich also heran an die Zukunft, im Konjunktiv! • Mit »Zweifle!« geht die Erkenntnis einher, dass das, was mir die »Welt« weismachen will, völlig unzusammenhängend ist: was meine Vorfahren als wichtig und richtig angenommen haben, womit sie mich zum Beispiel in Form von ›Werten‹ und ›Erkenntnissen‹ konfrontiert haben, sieht plötzlich gar nicht mehr so wertvoll aus. Ich zweifle also. Die Werte-Debatten-Fetischisten von heute kommen aus ihrem Kindergartendasein des »Vernimm!« und »Spiele!« gar nicht erst heraus: weil sie Maßstab I nicht beherzigen, der sie in den Zweifel führen würde. • Mit »Forsche!« ist der Versuch ausgedrückt, die Phänomene der »Welt« wieder in die rechte Relation untereinander zu bringen. Eigenes Urteil ist hier notwendig und Maßstab II verursacht hier einigen Schmerz, sodass gewissermaßen im konsequenten – ›wandernden‹ – Suchen im Dual die Relationierung der »Welt« die Relevanz des Phänomens selbst herausschreit: Ich kann gar nicht anders als protestieren. • »Protestiere!« markiert das Einfordern dieser Konsequenz. Rosenstock-Huessy schreibt: der Erwachsene legt im Protest sein eigenes Wesen auf die »Waagschale«. 58 So bestimmt er die Relevanz! Im Protest finden sich bereits die ersten Anzeichen, die in Richtung Bewährung gehen. Aber noch ist es nicht so weit, wie derjenige weiß, der unseren Maßstab II beherzigt. Man protestiert gegen das zweifelhafte Herkommen, ohne bisher selbst etwas besseres anbieten zu können. • Relevanter Protest stößt – man ist versucht zu sagen: ›traditionell‹ – auf taube Ohren. Ist die ›Wanderbewegung‹ des Dual ins Stocken geraten – der Plural also vorläufig dualgesättigt –, ist, da immer noch Maßstab II gilt, sich aber keine Relationen mehr zu zeitigen scheinen, selbstkritisches Abwarten angesagt: »Harre!« Je relevanter das Vorgebrachte, desto länger muss man eventuell warten! Was soll man auch anderes tun, als auf die Bewährungsmöglichkeit zu warten? Ob diese kommt oder nicht: Man ist bereits auf die nächste Zeitigung verwiesen! 58

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 72.

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Halten wir uns also im »Kämpfe!« und »Leide!« an Maßstab II, dient er uns als Orientierungshilfe, denn wir befinden uns im Modus des Konjunktivs: Mögliches wird in die Zukunft projiziert (Futurum). Mit der Einstellung: Erst die Relation bekundet die Relevanz, werden wir dem Möglichkeitsmodus gerecht, denn wir verfallen ob der vielen schönen Möglichkeiten nicht ins Schwärmen. Die Herausforderung des Futurums besteht ja darin, Motive und Feststellungen für die Zukunft zu gewinnen, ohne das Futurum jedoch zur Zukunft zu er- und zur Wahrheit zu verklären. Zukunft ist Adventus, nicht Futurum. 59 Und Maßstab II stellt sicher, dass wir hier nicht die Orientierung verlieren und am Ende nicht nur schwärmerisch unserer ›eigenen Idee‹ anhängen. Ob wir Maßstab II beherzigen oder nicht, klärt die Probe mit Maßstab I: fällt hier die Selbstüberprüfung negativ aus, kann ich sicher sein, dass die Konsequenz mich unnachgiebig für den Imperativ der Gegenwart, den Kairos, offenhält: Die Zeitigung der Gegenwart: »Stifte!« und »Hinterlasse!« korrespondiert mit den Maßstäben III und IV: Maßstab III: Bin ich zum Spielen gezwungen, spiele ich nicht mehr. Maßstab IV: Feiere ich, auf dass sich etwas (wieder) ereigne, oder ereignet sich etwas, sodass ich feiere? Diese Maßstäbe unterscheiden sich erheblich von den anderen beiden Maßstäben I und II: Maßstab III gilt für den Raum und Maßstab IV für die Zeit. Die Zeitigung der Gegenwart, das »Stifte!«, stiftet nämlich Zeit-Räume. Sie betrifft die eigentliche Zeit: die Gegenwart. Die Gegenwart ist durch den Imperativ ausgezeichnet, in dem »Welt« und Sein sozusagen »eine Sprache sprechen« – will sagen: in der Gegenwart zeitigt sich das Sein selbst in die »Welt«. Anders ausgedrückt: in der Gegenwärtigkeit decken sich »Welt« und Sein. 60 Wie hängt dieser Maßstab IV also mit den vier Zeitigungen des »Greises« zusammen? • »Amtiere!«: aus dem »Harre!« steigt der Geduldige, wenn er Maßstab II beherzigt zum Amt auf. Originalität der Vergangenheit gegenüber und Sorge um der Zukunft willen ›verbeamten‹ ihn. Der »Herrscher in uns« weiß, was in der »Welt« gefeiert werden muss, da er »Vernimm!« und »Kämpfe!« mit ihren je59 60

Vgl. Kap. 9. Vgl. Kap. 7.2.

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Ergebnisse

weiligen Maßstäben (gleichzeitig) mit durchläuft: Der Beamte ist der Party-Planer für die Feste, an denen sich – wie wir gesehen haben – der Alltag orientiert. Heidegger zum Beispiel ist nur bis zum »Kämpfe!« vorgedrungen. Deshalb bleibt er bei der Erinnerung der Zeit in der Seinsgeschichte stehen. Er ist von der typischen Akademiker-Krankheit befallen: anstatt die Feste zu feiern, wie sie fallen, schaut er den Partygästen bloß beim Feiern zu! So bleibt er selbst aber der Gegenwart gegenüber verschlossen: Zwar will er beobachten, wie sich in den Partygästen die Gegenwart zeitigt, aber er kann immer nur die Manifestationen dieser Zeitigung erkennen. Hat sich eine Zeitigung manifestiert, ist sie aber schon vorbei: Heidegger kommt also immer zu spät, da er sich nicht traut, mitzufeiern! Der »Herrscher in uns« gibt den Feiertags-Kalender vor, der unsere »Welt« zusammenhält: die »Welt« mit uns, aber auch uns mit der »Welt«. Wir entsteigen den Feiern trajectiv. Um im Stammesjargon zu bleiben: der Herrscher befielt – »Ehehütten«, »Kriegspfade« und »Sühnealtäre«. Der Herrscher bekleidet ein »Pontifikal«-Amt: er schlägt die Brücken in die Vergangenheit. Wir dürfen hier nicht vergessen: es ist der ›Herrscher in uns‹, der das ›Kind in uns‹ und den ›Kämpfer in uns‹ anweist. Es handelt sich hier also um eine Form der Selbstführung! »Amtiere!« orientiert sich an den Feiern, die wegen ›nicht-totzu-kriegender‹ vergangener Ereignisse begangen werden. Die Relevanz dieser Ereignisse wurde ja bereits vom ›Kämpfer in uns‹ evaluiert. Die Pontifices sind die Repräsentanten der »Welt«, in die das ›Kind in uns‹ geboren wird. Der Herrscher, dessen eigener Standort im Kreuz der Wirklichkeit außen im Raum ist, heißt das »Kind« feiern: die Kunst des Herrschers besteht darin, den richtigen Raum zu projizieren. 61 Trotz des eigenen Raumstandorts muss er sich an Maßstab IV orientieren, der in der Zeit gilt. Folgendes durchzusetzen, ist die Herausforderung des Herrschers in uns: es wird gefeiert, damit sich etwas wieder ereigne, weil dieses Ereignis (noch) nicht tot zu kriegen ist. Beim ›Lehrer in uns‹ ist dies umgekehrt: er selbst wendet sich Vergangenem zu. »Lehre!« zwingt aber in den Schutz der Schul-



61

»Räume sind projizierte Zeiten«, vgl. hierzu Kap. 5.

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stunde. Katastrophen der Vergangenheit müssen ›gefeiert‹ werden (Aufgabe des Herrschers). Errungenschaften aus der Vergangenheit aber müssen gelehrt werden, auf dass man sie als erworbene Eigenschaften anerkenne. Sonst würden die Trajecte aus ihrem Trajectsein niemals herauskommen. In der Schule wird Ernstes wiederholt und auswendig gelernt, für den Ernstfall! Auch der ›Lehrer in uns‹ kann evaluieren, was relevant für den Lehrplan ist, da er auch »Kämpfer« ist. Schule ist also ein Schutzraum, in dem Ernstes nachgespielt werden kann. Der Lehrer muss sich also trotz seines akuten zeitlichen Standorts (Vergangenheit) an den räumlichen Maßstab III halten. Das ist seine pädagogische Herausforderung: er muss einen Raum des Spiels erschaffen. Im Ernstfall ist »Lehre!« nämlich unmöglich! Dass der Geltungsbereich für die beiden Maßstäbe III und IV im »Amtiere!« und »Lehre!« zu ihrem jeweiligen Standort vertauscht sein muss, erklärt sich daraus, dass beide Zeitigungen die beiden vorhergehenden Zeitigungsstufen adressieren. Sowohl im »Amtiere!« als auch im »Lehre!« wird die Bedingung der Möglichkeit beider Zeitigungen »Vernimm!« und »Spiel!« und »Kämpfe!« und »Leide!« adressiert. Die Zeitigungen »Amtiere!« und »Lehre!« sind die transzendentalen Bedingungen, die für den Menschen nicht verfügbar sind: das »Kind« muss ja Maßstab I beherzigen können und der »Erwachsene« Maßstab II. Herrscher und Lehrer sind »Pontifices«: Brücken-Schläger. Der ›Herrscher in uns‹ schlägt die Brücke aus der Gegenwart in die Vergangenheit zum ›Kinde in uns‹. Der ›Lehrer in uns‹ schlägt die Brücke aus der Gegenwart, um der Zukunft willen, zum ›Kämpfer in uns‹. Rosenstock-Huessy sagt ja: »Lieben heißt, jemandem eine Scham ersparen«. 62 Aber nur singend, meine Originalität zelebrierend, kann ich mich derartig blamieren, dass mir eine Scham erspart werden könnte. Wer kann aber überhaupt eine Scham ersparen? Nur derjenige, der an der Quelle der Zeiten steht. Die Zeitigungen des Herrschers und des Lehrers sind in diesem Sinne also Tätigkeiten der Liebe, denn sie ersparen dem »Kinde« und »Kämpfer« eine Scham, die sie an ihr jeweiliges »Weltalter« (aus der Vergangenheit und um der Zukunft willen) ketten würde. Wie ersparen sie die Scham konkret? Einerseits, indem sie das »Kind« heißen und so seine Originalität erst ermöglichen, und andererseits, indem sie einen 62

Vgl. Kap. 4.4.2.2.

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Ergebnisse

Schulraum kreieren, in dem es seine ›Kämpferfähigkeiten‹ spielerisch erproben kann (auf dem Spielplatz werden Fehler verziehen). Ein so vorbereitetes »Kind« kann seinen eigentlichen »Kampf« um der Zukunft willen aufnehmen. Der »Kämpfer« muss sich dann selber einen Namen machen: indem er sich selbst ›heißt‹ und ›beschult‹, erspart er sich selbst eine Scham, was sein Kämpferdasein erst ermöglicht. Spätestens in dieser Form der Selbstliebe entpuppt sich der »Kämpfer« bereits als »Priester«. Jedenfalls wird hier deutlich, wie der Brückenbau der ›Priester in uns‹ zwischen den »Welt«-Altern genau aussieht: erst der ›Greis in uns‹ sorgt dafür, dass wir uns zwischen den beiden »Welt«-Altern hin und her bewegen und zwar hinsichtlich der Gegenwart! Der Imperativ der Gegenwart ist sozusagen der Hebel, der zwischen den beiden Modi Indikativ (Kind«) und Konjunktiv (»Kämpfer«) hin- und herschaltet: immer vor dem Hintergrund der Gegenwart, die ja das Maß aller Dinge in der Vergangenheit und um der Zukunft willen ist. Grammatisch reformuliert: der Indikativ erhebt sich zum Konjunktiv, aber der Imperativ ›erdet‹ ihn. Bewegte sich ein Mensch ausschließlich in Zeitigungen aus der Vergangenheit und blendete die anderen beiden Zeiten aus, entstünde wohl ein traditionaler Konservatismus. Würde nur als »Künstler« und »Kämpfer« gelebt, befände sich die Menschheit wohl im Krieg der schwärmerischen Weltanschauungen. Erst der Kairos der Gegenwart relationiert die »Welt«-Alter untereinander in der Vollzahl der Zeiten. Aber hiermit haben wir erst die Hälfte der Zeitigungen der Gegenwart behandelt, der Kairos hat ja noch zwei weitere Zeitigungen: bei den letzten beiden Zeitigungen der Gegenwart findet keine Vertauschung von Standort und Adressat statt, denn hier werden keine künstlichen Zeiträume für das ›Kind in uns‹ und den ›Kämpfer in uns‹ geschaffen, sondern das Sein stiftet durch uns Zeiten und Räume in die »Welt« selbst. Hier ist der Imperativ des Kairos der Gegenwart folgender: • »Verheiße!«: die Gegenwart ist ganz anders als Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist höchste Zeit! »Der Kairos ist erfüllt« heißt ja: eine Hohe Zeit ereignet sich. Während das »Kämpfe!« um das Futurum geht, wird hier ein Stück Zukunft in die Gegenwart hereingerissen: »Verheiße!«. Im »Jetzt« der 340 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

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Hohen Zeit findet das statt, was bei Buber der Anspruch des Du ist und im »Du und Du« durch die Zeit getragen wird. Etwas Verheißen heißt, etwas Ver-antworten bzw. andersherum formuliert: als Verantwortlicher bin ich Teil der Verheißung. In dieser Struktur des Kohortativ ereignet sich eine Hohe Zeit, sodass ich feiere: in der Hohen Zeit verkörpert sich etwas noch nie Dagewesenes, das über das eigene Leben hinausgeht und benannt werden will. 63 Die Hohe Zeit markiert den »Anfang eines neuen Sprachbundes«. 64 Hier werde ich nicht zum Traject, wie bei den Feiern, auf dass sich etwas ereigne, sondern ich werde zum Präject: es ereignet sich eine Hohe Zeit, sodass ich feiere. Auf diese Weise bietet mir Maßstab IV Orientierung. »Stifte!« ist der letzte Akt vor dem Tod: spätestens hier – vor dem »Hinterlasse!« – schlägt das Spiel in Ernst um, denn hinter dem »Hinterlasse!« lauert für jeden sichtbar das Verderben, das abgewendet werden will. Und auf »Ernst« steht auch die Kompassnadel des »Stifters«. Nur wenn er gar nicht anders kann, als das zu hinterlassen, was er »stiften« kann, zeitigt sich das »Stifte!« – ansonsten ist er kein Stifter, sondern Mäzen.

Was ergibt sich also aus dieser die Zeitigungsimperative mit den Haltungen unserer Maßstäbe ergänzenden Darstellung? Rosenstock-Huessy meint ja triumphierend, dass wir durch die todesbedingte Umkehrung der Zeitigungen in eigenartiger Weise Herren der Zeit würden. 65 Das scheint irgendwie auch zu stimmen, denn durch die todesbedingte Umkehrung der Reihenfolge der Zeitigungen kommen wir auf ihren deduktiv-ersichtlichen, transzendentalen Zusammenhang. Aber was hat das Tagewesen Mensch denn konkret davon, dass im Generationenzusammenhang die Zeitigungen eine logisch nachvollziehbare Reihenfolge haben? Berücksichtigen wir zu dieser Frage die Orientierungsfunktion unserer vier Maßstäbe, bemerken wir: sie weisen immer über sich selbst hinaus auf die anderen Zeitigungsstufen. Das bedeutet, die Maßstäbe stehen in einem deduktiven Zusammenhang, der uns aus der Perspektive des Todes, der Reflexion, evident wird. Für unser Leben, das ja nicht vom Tod zur Geburt, sondern andersherum von der 63 64 65

Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 478. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 508. Vgl. Kap. 5.6.3.

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Ergebnisse

Geburt zum Tod verläuft, bedeutet dies, dass wir, wenn wir die Maßstäbe mit ihrer Verweisungsstruktur beachten, uns trotzdem orientieren können. Sie orientieren uns in Zeiten und Räumen und öffnen uns gleichzeitig die jeweilige Qualität der Zeitigung. Die Kunst der Kaironomie ist also recht simpel: trifft Maßstab I in der Selbstüberprüfung nicht zu, sind wir für alle Zeitigungen offen. 66 Die Rechtfertigung für diese These liegt im transzendentalen Verweisungscharakter der Zeitigungen bzw. Maßstäbe, der uns in der Reflexion evident wird. Das Beherzigen der vier Maßstäbe relationiert alle »Welt«-Phänomene im Hinblick auf den Imperativ der höchsten Zeit, den Kairos der Gegenwart. Die Kunst der Kaironomie ist es also, diese vier Maßstäbe als Beschleunigungsspur zur Orientierung benutzen zu können. Mit ihnen sind wir immer offen für alle zwölf Zeitigungsqualitäten gleichzeitig: für die Vollzahl der Zeiten also. Es ist unmöglich, mit diesen Maßstäben in Vorurteile zu verfallen und Weltanschauungsblasen zu begründen! Nun werden wir also doch noch ein Stück weit zu ›Herren der Zeiten‹. Der Verweisungscharakter unserer Maßstäbe I bis IV sorgt immer dafür, dass wir auch als einzelne Tagewesen offen für die Vollzahl der Zeiten und Räume sind: • In der Zeitigung des »Künstlers« besteht die Versuchung darin, sich vor den anderen Zeitigungen zu verschließen und diese Zeitigung aus der Vergangenheit zur einzig gültigen Weltanschauung zu verklären, wie es im Spiel ja möglich ist. Unser Maßstab I, der auf den akut unbekannten Kairos verweist, sorgt aber dafür, dass dies nicht geschehen kann: Er bringt die »Welt« der Vergangenheit in die Relation zum Kairos der Gegenwart. • Die Zeitigung des »Kämpfers« versucht, weil wir wegen des Konjunktivs keine Gewissheit bekommen können, uns irgendeinen Sachverhalt zu unserem fundamentum inconcussum zu erklären, womit wir den eigenen Hirngespinsten erliegen. Maßstab II verhindert dies: er sorgt dafür, dass unsere weltanschauliche Basis stets nur unter dem Vorbehalt der Wahrscheinlichkeit gilt und die Wahrscheinlichkeit nicht mit Bewährung verwechDies veranschaulicht die Relevanz von Goldschmidts Losung Freiheit für den Widerspruch, aus der ich diesen Maßstab herausdestilliert habe.

66

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selt wird, da sie Konsequenz und Strenge verlangt. Überprüfen lässt sich die Qualität des eigenen Durchhaltens der Konsequenz in jedem Moment mit Maßstab I. Das hält uns offen für den Kairos, der nicht verfügbar und unbekannt ist (sein muss). Die Zeitigung der Gegenwart ist anders gestrickt: in der Gegenwart zeitigt sich das Sein direkt als Kairos. Dieser ist der eigentliche Maßstab zur Bewertung unserer »Welt«. Auch hier gilt es also, nicht die Orientierung zu verlieren: die Maßstäbe III und IV bieten hier Kriterien, um den eigenen Ort im Kreuz der Wirklichkeit zu bestimmen und sich gleichzeitig den anderen Positionen des Kreuzes nicht zu verschließen.

Ich denke, dieses Ergebnis einer im Endeffekt konkreten Kunst der Kaironomie zur Orientierung jenseits von Weltanschauungen rechtfertigt meinen – ob der zahlreichen Meinungsverschiedenheiten und Zwistigkeiten zwischen den Dialogphilosophen – nicht unproblematischen Ansatz, die Dialogphilosophen ›zusammenzulesen‹. An diesem Ergebnis waren aber alle Dialogphilosophen beteiligt: Rosenzweig, Rosenstock-Huessy und Ebner mit ihren Untersuchungen zur Grammatik, Rosenstock-Huessy darüber hinaus mit seiner Soziologie und Goldschmidt mit seiner genialen Losung »Freiheit für den Widerspruch«, der entdeckte, dass im Endeffekt alles, was beschrieben wurde, eine Frage dieser Haltung ist. Trotzdem gebe ich hier jedem Recht, der in diesem Ansatz die Gefahr der Gleichmacherei der »Dialogphilosophen« sieht: sie unterscheiden sich im Einzelnen doch erheblich! Was ich in diesem Text herausgearbeitet habe, bezieht sich auf einen großen gemeinsamen Nenner der Dialogphilosophie, der darin besteht, dass das Kriterium der ontologischen Qualität der Phänomene in Raum und Zeit letztendlich in der Grammatik liegt. Wie in der Einleitung also gesagt wurde: die Lektüre der einzelnen Dialogphilosophen wird durch diesen Beitrag nicht ersetzt, sondern ausdrücklich empfohlen!

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8. Exkurs: Das Ich als Faktum

Mit dem ontologischen Primat auf dem »Du« ist die Frage nach dem »Ich« für die Dialogphilosophie von größter Bedeutung. Rosenzweigs Satz Mein Ich entsteht im Du, entnommen aus einem Brief an Rosenstock-Huessy vom 19. 10. 1917, 1 also lange vor der Niederschrift des Sterns der Erlösung, wird gerne als des Autors »Keim der Urzelle« bezeichnet. 2 Die Rede vom »Ich« löst eine Fülle an Assoziationen zur möglichen Bedeutung dieses Terminus aus. Aus diesem Grunde werde ich im Folgenden ein kleines Panorama möglicher Ich-Begriffe und Konzepte darstellen und anschließend das spezifisch dialogische Problem mit diesen Auffassungen herausarbeiten.

8.1. Ein Panorama an Ich-Begriffen Ein kurzer Blick ins Historische Wörterbuch der Philosophie genügt, um die Bedeutungvielfalt dieses Terminus festzustellen: von Descartes’ »cogito ergo sum« – diesem fundamentum inconcussum des Erkennens – aus beginnt die Philosophiegeschichte des denkenden Ichs bzw. des denkenden Subjekts. 3 Vor Descartes, in der Antike und im Mittelalter, wird der philosophische Begriff des Ichs eigentlich nicht genutzt, sondern nur mittelbar, durch die Begriffe der Seele, des Leibes, der Selbstanschauung, des Bewusstseins thematisiert. 4

Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften. Bd. 1: Briefe und Tagebücher, 471. 2 Vgl. Grätzel: Vorwort. In: Mein Ich entsteht im Du, 9. 3 Vgl. Descartes: »ego sum, ego existo« als »sum […] res cogitans«. In: Meditatio II, 3 und 6. 4 Vgl. Herring: »Ich«, S. 1–6. 1

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Ein Panorama an Ich-Begriffen

Erst Descartes verdichtet diese mittelbaren Ansätze im Ausschlussverfahren seines methodischen Zweifels zum Ich-Begriff im philosophischen Sinne. »Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich […] zu der Feststellung, daß dieser Satz: ›Ich bin, ich existiere‹, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.« 5

»Ich bin«, das ist nach Descartes sogar sicher, wenn mich ein Täuschergott täuschen möchte. Denn dann bin ich ja sein Täuschungsobjekt, also existiere ich. Aber was bin ich genau? Mit dieser Frage tritt bei Descartes die historische Wendung zum philosophischen Ich-Begriff ein: nachdem er die Gewissheit des Körpers und der Seele ob der Möglichkeit eines allmächtigen Betrügers und der Illusionserfahrungen im Traum ausgeschlossen hat, findet Descartes sein fundamentum inconcussum schließlich in der Tatsache des Denkens: »Denken? Hier liegt es: Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. Wie lange aber? Nun, solange ich denke. Denn vielleicht könnte es sogar geschehen, daß ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein. Für jetzt lasse ich aber nichts zu, als was notwendig wahr ist! Ich bin also genau nur ein denkendes Wesen, d. h. Geist, Seele, Verstand, Vernunft – lauter Ausdrücke, deren Bedeutung mir früher unbekannt war. Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, doch was für ein Ding? Nun, ich sagte es bereits – ein denkendes.« 6

So stellt dieses Ausschlussverfahren also fest, dass ich mindestens ein »denkendes Ding« bin, und das heißt: »ein Wesen, das zweifelt, bejaht, verneint, wenig versteht, vieles nicht weiß, das will, nicht will, auch Einbildung und Empfindung hat.« 7 Dieser erste wirklich philosophische Ich-Begriff der Geistesgeschichte, wie er sich bei Descartes findet, schiebt eine philosophische Diskurskaskade an, die ihren (vorläufigen?) Höhepunkt wohl im Deutschen Idealismus erfährt. Heute ist das Ich ein spezifisches Problem der Psychologie.

5 6 7

Descartes: Meditatio II, 3. Descartes: Meditatio II, 6. Descartes: Meditatio III, 1.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

Mit dem cartesischen Diktum des cogito ergo sum und der darauf basierenden Ich-zentrierten Philosophie, wird der Andere allerdings sichtbar zum Problem. 8 Ganz entscheidend für den Verlauf der Begriffsgeschichte ist Kants Unterscheidung zwischen dem »Ich« als Gegenstand des inneren Sinnes – dem empirischen Ich – und dem »Ich« eines denkenden Subjekts – dem transzendentalen Ich. Beide »Iche« sind, so Kant, nicht ›an sich‹ : »Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen […]. 9

Das Subjekt des Denkens erkennen wir niemals an sich, sondern nur durch seine Resultate: den Gedanken. Ohne Gedanken ist auch kein Ich erkennbar. Im subjektiven Bewusstsein sind uns also Erkenntnisinhalte nur bewusst, weil sie in das cartesische Cogito zusammengezogen werden: »Der Satz: Ich denke, wird aber hierbei nur problematisch genommen; nicht so fern er eine Wahrnehmung von einem Dasein enthalten mag, (das Cartesische cogito, ergo sum,) sondern seiner bloßen Möglichkeit nach, um zu sehen, welche Eigenschaften aus diesem so einfachen Satze auf das Subjekt desselben (es mag dergleichen nun existieren oder nicht) fließen mögen.« 10

Das Ich ist nur hinzugedachte Entität des Cogito: es ist die einfache Vorstellung einer formalen erkenntnis- und gegenstandskonstituierenden Einheit des Bewusstseins. Niemand kann guten Gewissens diesem Subjekt des Denkens Existenz zuschreiben. Wir können über das transzendentale Ich nichts sagen. Andererseits müssen wir aber hinsichtlich der Frage nach dem Ich eine Unterscheidung bedenken: »In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellektuelle BeVgl. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 11. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 346/B 404. 10 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 347/B 405. 8 9

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Ein Panorama an Ich-Begriffen

wußtsein an die Hand gibt. […] 1. das Ich als Subjekt des Denkens (in der Logik), welches die reine Apperzeption bedeutet (das bloß reflektierende Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist; 2. das Ich als das Objekt der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes, was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung möglich machen.« 11

Das Ich als das Objekt unserer inneren Wahrnehmung hat den selben ontologischen Status wie jeder äußere uns erscheinende Gegenstand auch. 12 Das konkrete empirische Ich, die nicht zu leugnende Tatsache, dass ich mich (falls ›gesund‹) alltäglich als Einheit erfahre, ist tatsächlich ein vornehmlich psychologisches Problem. Seit ihrem Aufkommen im 19. Jahrhundert entfaltet die Psychologie, wie von Kant angekündigt, ein ganzes Panorama an Ich-Begriffen mit verschiedenen Ansätzen. Um einige Beispiele zu nennen: • den reduktionistischen Ich-Begriff, der das Ich etwa auf seine Intellektualität oder die Gesamtsumme augenblicklicher Neigungen oder Körperempfindungen reduziert; • den voluntaristischen Ich-Begriff, der das Ich als Träger des Willens oder der Emotionen charakterisiert; • sodann kann das empirische Ich sowohl Materielles (wie Haus und Auto) als auch Soziales (durch gesellschaftliche Anerkennung) und Geistiges (wie bestimmte Fähigkeiten) umfassen. 13 Für unser Thema ist wichtig, zu differenzieren: das Ich als Subjekt des Denkens (das transzendentale Ich) ist etwas anderes als das Ich unserer inneren Wahrnehmung (das empirische Ich). Beiden können wir – aus verschiedenen Gründen – keinen ontologischen Stellenwert einräumen. Wir verdanken es Kant, wie Rosenzweig hervorhebt, dass er uns das Ich zum Problem gemacht hat: »Vom erkennenden Ich lehrt er, daß es nur in der Beziehung auf das Erkennen, an seinen Früchten also, […] zu erkennen ist. Und gar vom wollenden weiß er, daß die eigentliche Moralität, Verdienst und Schuld, der Handlungen, selbst unsrer eigenen, uns stets verborgen bleibt.« 14

11 12 13 14

Kant: Anthropologie I, § 4, Anmerkung, 134. Vgl. Herring: »Ich«, 3. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen! Vgl. hierzu Schönpflug: »Ich«, 6–18. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung I, 55.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

Mit dem Deutschen Idealismus erfährt das Ich allerdings eine ontologische Umwertung, insbesondere bei Johann Gottlieb Fichte: »Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird, Handlung und That sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung; aber auch der einzig-möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muss.« 15

Oder: »Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich«. 16

Das Ich, bei Kant als formale Vorstellung einer Einheit bzw. Gegenstand der inneren Erfahrung identifiziert, wird bei Fichte zu einer metaphysischen Letztbegründungsinstanz erklärt, indem es sich selbst als ›Ding an sich‹ setzt. Angesichts dieser Verabsolutierung – wir dürfen auch sagen: Vergöttlichung – des Ichs ließ der Widerspruch nicht lange auf sich warten: spätestens Kierkegaard weist spöttisch auf den spekulativen Charakter dieses »Ich«-Fetischismus hin: »Je mehr im Kritizismus das Ich in die Betrachtung des Ich versank, um so magerer und dürrer ward dieses Ich, bis es damit endete, daß das Ich ein Gespenst ward, unsterblich gleich Auroras Mann.« 17

Fichtes »Ich« setzt sich selbst als »Ich«, was wiederum sich selbst setzt (als »Ich«), was wiederum sich selbst setzt … Das fortlaufende »Ich«Setzen des »Ich«-setzenden Ichs als Subjekt ist zwar vollkommen frei, aber inhaltsleer: es ist Alles und Nichts. War bei Kant das Subjekt noch die notwendige Vorstellung eines konkreten Subjekts, schwingt sich das Ich bei Fichte zum Weltenherrscher auf. Aber weder die bloße Vorstellung der Einheit meines Bewusstseins noch die empirische, Tatsache, dass ich mich als Einheit wahrnehme, kann ich einfach zur metaphysisch letztbegründenden Bewertungs-Instanz erklären: das ist Spekulation! 15 16 17

Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre I, § 1, 6. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre I, § 1, 7. Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie, 277.

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Der dialogphilosophische Problemhorizont bei der Frage nach dem Ich

8.2. Der dialogphilosophische Problemhorizont bei der Frage nach dem Ich Wie wir bereits gesehen haben, begegnet Rosenzweig diesem Willen zur metaphysischen Letztbegründung durch das Ich und macht daraus sogar eine Diagnose seiner Zeit: »Noch immer werden unermüdet die Möglichkeiten der ›Zurückführung‹ eines jeweils einen auf sein jeweils andres durchpermutiert, die im großen gesehen die drei Epochen der europäischen Philosophie charakterisieren, – die kosmologische Antike, das theologische Mittelalter, die anthropologische Neuzeit. Insbesondere natürlich der Lieblingsgedanke der Neuzeit, die Zurückführung auf ›das‹ Ich. Diese Zurückführung oder ›Begründung‹ der Welt- und Gotteserfahrungen auf das Ich, das diese Erfahrungen macht, ist dem wissenschaftlichen Denken noch heut […] selbstverständlich, […].« 18

Heute, im Jahre 2020, nach einem langen Jahrhundert der Totalitarismen, dem kritischen Empirismus Karl Poppers und dem heilsamen Skeptizismus angelsächsischer Logik, geht man meines Erachtens etwas vorsichtiger zu Werke. Andererseits spukt die Neuzeit immer noch herum, zum Beispiel in der metaphysischen Sackgasse des radikalen Konstruktivismus. Für Rosenzweig ist es mindestens fragwürdig, ›alles‹ auf »das« Ich zurückzuführen. Das Problem besteht darin, dass das Denken in die Irre geführt wird: zum Beispiel verzerrt bereits die philosophische Behauptung der Allgegenwart des Ichs den Inhalt des Wissens, ohne dass wir das bemerken. 19 Wir stehen hier also vor einer speziellen Herausforderung des in Kapitel 2.2 mit Hilfe von Kierkegaard angerissenen Maßstabsproblems: »Ein Selbst ist qualitativ, was sein Maßstab ist.« 20 Je nach Geschmack, je nach der Definition meines »Maßstabs« – ob Gott, der Welt oder dem Menschen der Primat meiner Wertehierarchie zukommt – überschätze oder unterschätze ich mein Ich. Die Dialogphilosophen fragen deshalb zunächst nach dem Stellenwert des Ichs, wobei hierbei nicht hinter Kant zurückgefallen werden kann. Mit Hilfe der beiden dialogischen Maßstäbe 21 werde ich im Folgenden versuchen, die Ich-Auffassung der Dialogphilosophen heRosenzweig: Das Neue Denken, 431. Vgl. Rosenzweig: Das Neue Denken, 435. 20 Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 154. 21 Maßstab I: »Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein« und Maßstab II: »Erst die Relation bekundet die Relevanz«. 18 19

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Exkurs: Das Ich als Faktum

rauszuarbeiten, die sich – trotz ihrer Differenzen bei anderen Themen – bei diesem Thema erstaunlich einig sind. Um die Besonderheit des dialogphilosophischen Ansatzes zu charakterisieren, beginne ich mit der Darstellung dreier Polemiken Rosenstock-Huessys gegen andere Ansätze: a.) Die Idealisten predigen Individualismus und Willensfreiheit, als ob die Selbständigkeit des Menschen in der Geisteskraft wurzle. Rosenstock-Huessy diagnostiziert hier: »Dies beruht aber auf dem Irrtum über das Wesen der Selbständigkeit, als bestände diese statt in einem Schmerze unseres Wesens in einer Ausgelöstheit und Absolutheit aus der Wirklichkeit. Dann allerdings bliebe für das Kugelgötzlein Individuum nur der Vernunft regulatives Prinzip als Steuerrad übrig. Aber die Vernunft ist gerade das Allgemeine, Gemeinschaftliche in uns.« 22

Rosenstock-Huessy weist hier auf einen Denkfehler hin: wenn der Geist das Ich wesentlich ausmacht, dann ist jedes Ich gleich. Denn der Geist ist das Allgemeine, nicht das Besondere. Die Dialogphilosophen beharren auf der Relation zwischen Ich und Geist, wie auch Buber erklärt: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du.« 23 Rosenstock-Huessy und Buber betonen hier: Nicht das Ich umfängt den Geist, sondern der Geist umfängt das Ich. 24 Den Idealisten stellt sich, ob der Allgemeinheit ihres Ichs, gar nicht mehr die Frage nach dessen Stellenwert. b.) Auch der sich mit dem Ich befassende Okkultismus des Fin de Siècle, der sich ungeachtet des spekulativen Charakters des Idealismus von dessen Ich-Vergötterung offensichtlich vereinnahmen läßt, ist fehlerhaft. Der Gefahr der Verallgemeinerung des Ichs offenbar bewusst, dichten die Okkultisten dem idealistischen »Ich« noch eine es (scheinbar) vereinzelnde Backstory hinzu: dem Okkultisten ist der Mensch ein kosmisches Wesen und in diesem Kontext die »Psyche in ihrer Eigenschaft als Trägerin eines eigentümlichen Schicksals« 25 an-

22 23 24 25

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 231. Buber: Ich und Du, 37. Vgl. Teunissen: Der Andere, 265. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde. 34.

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Der dialogphilosophische Problemhorizont bei der Frage nach dem Ich

zusehen. Aber trotz der proklamierten Einmaligkeit ihres Ichs sind sich die Okkultisten erstaunlich einig darüber, was das Ich sei. Ihr Ich ist damit eben nicht einmalig, sondern allgemein, weshalb ihre Gattungsbezeichnung als »Individuum« – das letzte ungeteilte Unteilbare einer Gattung – ironischerweise zutrifft. Die Okkultisten verschieben die Frage nach dem Ursprung des Ichs, die sich stellt, sobald man seine Einmaligkeit proklamiert, in ihrer Backstory auf den Sankt Nimmerleinstag wiederkehrender Reinkarnationen – offenbar, ohne es zu bemerken. c.) Das unterscheidet die Okkultisten von Psychologen: ist dem Okkultisten der Mensch Teil eines einmaligen Schicksalsprozesses, studiert die Psychologie die Seele eines ›normalen‹, d. h. durchschnittlichen Menschen. »Die Psychologen nehmen sich nicht einmal die Mühe, die Feststellung zu treffen, daß oder ob jeder Mensch eine eigene Seele hat und was das wohl bedeutet.« 26 Die Psychologen stellen sich zwar der Frage nach dem Ursprung des Ichs, haben aber, wie oben im Zusammenhang mit Kant dargestellt wurde, nicht das Ich sondern das Ichliche zum Problem. Alle drei Ansätze bringen also ihre theoretischen Voreingenommenheiten mit sich: die Idealisten und die Okkultisten stellen sich gar nicht erst die Frage, ob es das Ich überhaupt ›gibt‹ und wenn ja, wie es entsteht und welchen Stellenwert es hat. Sie geben sich bloß der spekulativen Ich-Überhöhung hin. Die Okkultisten proklamieren darüber hinaus noch die Einmaligkeit des Ichs, ohne diesem Anspruch freilich gerecht werden zu können, denn sie widersprechen sich dabei selbst, indem sie genau herausarbeiten, was das Ich sei. Die Psychologen wiederum stellen sich zwar die Frage nach der Existenz des Ichs, welchen Stellenwert es hat und wie es entstehen könnte. Aber ihr generalisierender Ansatz macht sie bei der Untersuchung des Ichs betriebsblind: sie zielen nicht auf die Untersuchung des besonderen Ichs eines Menschen, sondern auf die Durchschnittsseele. Das einzelne Ich ist gar nicht ihr Thema, sondern höchstens das Ichliche aller Menschen im Durchschnitt (was ja durchaus auch seinen Wert hat!).

26

Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde. 34.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

Es fällt auf, dass keiner der hier skizzierten Ansätze die Einmaligkeit des Ichs, die die Frage nach dem Ich eigentlich unmittelbar impliziert, behandelt. Denn wenn die Frage nach der Einmaligkeit geklärt werden soll, stellt sich unmittelbar auch die Frage nach dem Ursprung dieses einmaligen Ichs. Diesem Problemhorizont stellen sich die Dialogphilosophen, die mit ihrem Ansatz dem Phänomen des Ichs insofern näher kommen als alle aufgezählten Ansätze, als sie die Einmaligkeit des Ichs erklären können. Die Sprache ist weiser als derjenige, der sie spricht: was all diese Ansätze nämlich nicht berücksichtigen, ist, dass der Mensch ein Angesprochener ist.

8.3. Der angesprochene Mensch Kein Mensch kommt als Ich zur Welt! Stellen Sie sich doch bitte einmal ein Baby vor, das dem Mutterleib entsteigt und sagt: »Cogito ergo sum« – es wäre der geborene Philosoph! Solches scheinen aber die idealistischen Descartes-Interpretationen zu implizieren. Nein, das Baby hat noch gar kein Ich, sondern das Ich entsteht erst: wie oben herausgearbeitet wurde, wird das Ich im Kraftfeld zwischen Zucht und Zeugung, das durch die Nennung des Eigennamens entsteht, herausgezwungen. 27 Von Ferdinand Ebner wissen wir, dass das Ich im Vokativ und Nominativ angesprochen wird und sich erst später im obliquen Kasus auf sich beziehen kann. 28 Dieses erst später ist entscheidend, denn wie sollte sich das Ich selbst adressieren können, wenn es vorher nicht ›benannt‹ (korrekter ausgedrückt: »geheißen«) wurde? Dies entspricht der grundsätzlichen Feststellung RosenstockHuessys, dass wir erst Hörer und dann Sprecher sind: »Das Hören, daß wir für andere da sind und etwas bedeuten, daß sie etwas von uns wollen, geht also dem Aussprechen dessen, daß wir selber sind und was wir selber sind, vorauf. Daß wir Befehle von außen erhalten und von außen beurteilt werden, gibt uns Selbstbewußtsein. Denn nun empfinden wir uns als Etwas und Besonderes gegenüber diesem Befehl und diesem Urteil. Etwas anderes oder etwas Besonderes zu sein ist das Grunderlebnis des Ich. Und wie viele Menschen bringen es in ihrem Leben zu nichts als zu 27 28

Vgl. Kap. 5.6.2.1. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 133 f.

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Der angesprochene Mensch

diesem stumpfen, trotzigen ›Andersgefühl‹, wie es der Satz: Ich bin ich, dieser erste Satz aller Individualpsychologie und Individualethik, festnagelt. ›Ich bin ich‹ ist die Antwort des von draußen mit seinem Namen angeredeten Menschen.« 29

Der Geheißsatz, der im Imperativ steht, nennt den Namen und gibt Befehl. 30 Als Geheißener bin ich dann so und nicht anders: »Dem ›Nicht anders‹ schlägt unmittelbar die Frage entgegen: ›nicht anders als was denn?‹ Es muß antworten: ›nicht anders als alles‹. Denn schlechthin gegen ›alles‹ soll etwas, was als ›so und nicht anders‹ bezeichnet wird, abgegrenzt werden. Und es ist ›nicht anders‹ als alles. Als anders als alles ist es schon durch das So gesetzt; das zum So hinzutretende ›und nicht anders‹ meint gerade, daß es, obwohl anders, dennoch auch nicht anders als alles, nämlich beziehungsfähig zu allem ist.« 31

Bin ich so und nicht anders habe ich einen Eigennamen (»ich wurde geheißen«) und bin doch durch diese Abgrenzung ›nicht anders‹ bereits in Beziehung mit allem anderen. Dieses Bezogensein durch den Eigennamen ermöglicht dem Menschen die Antwort: »›Ich bin Ich‹, das ihm klar macht, daß er Ja oder Nein antworten kann« 32. Meine Beziehungsfähigkeit bedeutet also nicht die Fähigkeit zu entscheiden, ob ich mich auf etwas beziehe oder nicht. Der Mensch mit Eigenname ist ja bereits bezogen auf anderes. »Im Anfang ist die Beziehung«, 33 schreibt Buber deshalb. Aber ich kann den Modus, die Art der Beziehung bestimmen. Mein Eigenname, dessen Zuteilwerden durch das Du mit der Entdeckung des Du einhergeht, 34 den ich mir selbst nicht geben kann, ermöglicht mir (mindestens) zwei Arten des MichBeziehens-auf: • Das Mich-Beziehen auf das Du hin (mit Buber gesprochen im Ich-Du-Modus), das mich auch benannt hat im Nominativ und Vokativ (hiermit bin ich dem Du erschlossen). • Das mich Beziehen auf mich selbst im obliquen Kasus im MeinMir-Mich (mit Buber gesprochen, im Ich-Es-Modus), wobei ich dem Du in meiner Icheinsamkeit verschlossen bin. 35 29 30 31 32 33 34 35

Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 21. Vgl. zu diesem Thema auch: Kap. 5.6.2 Rosenzweig: Der Stern der Erlösung II, 111. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 21. Buber: Ich und Du, 27. Vgl. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung II, 112. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 134.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

Wenn Martin Buber also schreibt: »Der Mensch wird am Du zum Ich« 36, ist das nicht einfach eine Behauptung, sondern eine Beschreibung der Beziehungsqualitäten und ihrer Zusammenhänge, die sich in der Grammatik niederschlagen. Das ursprüngliche Beziehungsereignis ist noch »vorichhaft«. 37 Die Beziehung zerlegt sich in ihrem Verlauf in Ich und Du, und erst anschließend ist die Ich-Es-Beziehung möglich. Denn erst in zweiten Schritt kann sich das ursprünglich am Du gewordene Ich auf das Es beziehen: »es ist nachichhaft.« 38 Die namentliche Anrede geht also dem eigenen Über-sich-selber-Denken des Ichs voraus. Erst das Antworten geschieht aus Selbstbewusstsein. Indem dieses »Ich« sich aber dann auf sich selbst bezieht, behandelt es sich nicht als Ich, sondern – wie der oblique Kasus beweist –, »als sächliches Es innerhalb eines Welt-Systems«. 39 Und die Dinge der Welt, die zwar vom Menschen benannt werden, aber ihm keine Antwort geben und ihn auch nicht anreden können, werden in einem dritten Schritt anschließend entdeckt. 40 Die »Welt« zeitigt also das Ich mit »Vernimm!« und »Spiel!«. Das Resultat dieser Zeitigung ist die Originalität und damit die Einmaligkeit des Menschen. »Damit ist diese Betrachtung so weit geführt, um verständlich zu machen, daß okkulte und psychologische Wissenschaft beide in der Tat demselben griechischen Irrtum anhängen, es sei das Ich oder Es vor dem Du, während es die Antwort auf ein Du oder die Sehnsucht nach dem Du ist und nur als Antwort auf oder als Sehnsucht nach dem Befehl des Liebenden sinnvolle Erkenntnisse liefern kann.« 41

Die Genese des Ichs folgt also derselben Logik wie die Sprache: Ich bin erst Hörer, bevor ich Sprecher bin. 42 Wie könnte ich denn bitte etwas ernsthaft sagen, ohne dass es mir vorher irgendwie ›gekommen‹ ist?

36 37 38 39 40 41 42

Buber: Ich und Du, 28. Buber: Ich und Du, 22. Buber: Ich und Du, 22. Heinze: Einführung in das Dialogische Denken, 47. Vgl. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 21. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 32. Vgl. Rosenstock-Huessy: Die Kopernikanische Wendung in der Grammatik, 52.

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Ich als Seinsweise »Ich bin«

8.4. Ich als Seinsweise »Ich bin« Das Ich, von dem die Idealisten und die Okkultisten träumen, gibt es nicht. Es hat höchstens – denken wir an Kant – spekulativen Charakter: »Denn das Ich ist keine Sache – Objekt – des Habens, sondern das aller Objektivierung spottende ›Subjekt‹ des geistigen Seins im Menschen und dieses Sein selbst. Das Ich ist auch keine Vorstellung und läßt sich in keinem Begriff fassen. Als Wort ist es gleichsam das ›unsinnlichste‹ Wort, dem auch in seinem sprachlichen Urzustande, in welchem man sich doch sonst alle Wörter einem sinnlich-konkreten Bewußtseinsinhalte verbunden denkt, keine sinnliche Vorstellung entsprochen haben konnte.« 43

Emmanuel Levinas weist (im Rückgriff auf Heidegger und Rosenzweig) folgendermaßen auf diesen Sachverhalt hin: »daß das ›ich‹ anfänglich nicht ein Seiendes ist, sondern die Weise zu sein als solche, daß es also im eigentlichen Sinne nicht ›existiert‹.« 44 Erst mit der Zeit wandelt sich das Ich in ein Seiendes. Das Ich ist also keine Substanz. Ich kann somit auch keine Substantive für seine Beschreibung verwenden: »Das Ich ›ist‹ nicht […]. Aber: Ich ›bin‹ […].« 45 Ich bin ist zuerst einmal nur meine Seinsweise, 46 die mit der Zeit und angesichts der Erfahrung der Abgetrenntheit meines Leibes von seiner Umwelt zum Träger der Empfindungen wird: »Jetzt erst kann der bewußte Ichakt, die erste Gestalt des Grundworts Ich-Es, des ichbezogenen Erfahrens entstehen: das hervorgetretene Ich erklärt sich als den Träger der Empfindungen, die Umwelt als deren Gegenstand.« 47 Das Ich ist insofern ein leibliches Faktum. Das Du ruft die Seinsweise des »Ich bin« hervor und das Ich bezieht mich auf zwei Weisen im Ich-Du oder im Ich-Es auf anderes und auf sich selbst. Schließlich erklärt sich das Ich selbst zum Träger der Empfindungen. Aber was charakterisiert das Ich ausgerechnet als leiblich? Dieses Problem wird grammatisch wahrscheinlich am eindrücklichsten an den Genera verbi deutlich: im Deutschen kennen wir Aktiv und Passiv:

43 44 45 46 47

Ebner: Pneumatologie, 118 f. Levinas: Die Zeit und der Andere, 28. Ebner: Pneumatologie, 117. Vgl. hierzu auch Theunissen: Der Andere, 272. Buber: Ich und Du, 23.

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Exkurs: Das Ich als Faktum





Im Passiv nimmt das Ich eine rein leidende Haltung ein: ein Hinter-sich-selbst-zurück-Bleiben. Momente des Ichs in dieser Haltung eignen sich also nicht zur authentischen Selbsteinschätzung des Ichs, da es in dieser Haltung des objektiv Erleidens nicht präsent ist. Im Aktiv ist das Ich zielstrebig wirksam, nimmt also die Haltung eines Sich-selbst-schon-(scheinbar)-vorweg-Seins ein. Es kommt vor, dass diese Haltung des subjektiven Tuns des Ichs zum Maßstab auserkoren wird, obwohl sie denkbar ungeeignet ist: das Ich ist nämlich sich selbst nur scheinbar schon vorweg, es befindet sich im Modus des Konjunktivs. Kein Wunder, dass einige Ich-Fetischisten in ihrem Wunschdenken das Ich ›vergöttern‹ !

Wann ist denn dann bitte mein Ich authentisch, am ›ichsten‹ ? Hier kommen wir wieder auf die Charakterisierung des Ichs als leiblich zurück. Es gibt nämlich noch einen dritten Genus verbi, das Medium, für alle organischen Vorgänge: »Im Schlafen arbeiten wir nicht, und wir werden auch nicht bearbeitet. Wir sind also weder aktiv wie im Wachen als Arbeitsmenschen noch passiv wie als Leichen, wenn wir eingeäschert oder einbalsamiert werden. Wie sind wir im Schlaf? Die Griechen nannten diese Haltung zwischen Aktivem und Passivem, zwischen subjektivem Tun und objektivem Erleiden das Medium. Leider fehlt den modernen Sprachen diese unentschiedene Verbform. […]. Vielleicht leiden wir unter keiner Sprachlücke mehr als unter dem Verlust des eindeutigen Mediums für alle organischen Vorfälle. Diese Vorgänge müßten aber in einer besonderen Form artikuliert werden. Denn sie sind nicht aktiv. Sie verlaufen nicht auf der Höhe der Zeit, also in verständiger Beschleunigung, und sie verlaufen auch nicht in der Tiefe des toten Raumes.« 48



Im Medium ist das Ich weder hinter-sich-selbst-zurück, noch sich-selbst-(scheinbar)-schon-vorweg, sondern das Ich ist in der Haltung des Selbst-seins. Diese Haltung, die das Ich als leibliches charakterisiert, scheint die adäquate Haltung zur Selbsteinschätzung zu sein. Nicht ohne Spott lässt Rosenstock-Huessy sich diesbezüglich 49 zu folgender Zeit-Diagnose hinreißen:

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 30 f. Nach eigenem Bekunden in Anlehnung an Hutchinsons Roman-Motiv If Winter Comes.

48 49

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Ich als Seinsweise »Ich bin«

»Der Mensch kann in seiner vollen Gestalt nur dort angetroffen werden, wo er für seine geringeren Daseinsformen Herablassung übrig hat. Nur da ist er auf der Höhe, die ihm zukommt. […] Im vollsten Besitz seiner Möglichkeiten und Kräfte ist der Mensch auf der Straße unterwegs als Pendler.« 50

Und das bedeutet für den modernen Menschen: »Auf der Autostraße als Pendler spricht der wirkliche Mensch allein mit sich selbst.« 51 Natürlich ist dieses Die-Seele-auf-der-Autobahn-Motiv halb scherzhaft vorgebracht, aber das Unterwegs-Sein scheint doch eine solche Medium-Haltung des Ichs hervorrufen zu können. Man braucht keine ›esoterisch‹ konnotierten Orte aufzusuchen oder Taten zu vollbringen, um sich mit seinem Ich auseinanderzusetzen. Der Alltag reicht: Autofahren bei flüssigem Verkehr ist kein abwegiges Beispiel für die Möglichkeit dieses weder aktiv- noch passiv-Seins des Ichs. Die adäquate Selbsteinschätzung des Ichs kann auch auf der Autobahn stattfinden. Das Ich der Idealisten wird also im Ich-Es hervorgebracht und ist deshalb »Faktum«, eine Tatsache: etwas »Gemachtes«. Aber in seiner Icheinsamkeit kann dem Ich keine absolute Existenz im ontologischen Sinne zugesprochen werden. Denn im Endeffekt existiert es ja nur im Verhältnis zum Du. 52 Auf sich bezieht es sich nur im obliquen Kasus. Das Ich kann sich nicht selbst in die Wirklichkeit setzen. Die Seinsweise »Ich bin« kann sich aber, da ihr die Möglichkeit des obliquen Kasus offen steht, seine Seinsweise zur Instanz erklären und so tun, als ob es substanzhaft existierte. Aber eigentlich ist das Ich als Seinsweise selbst nichts ›Seiendes‹, sondern etwas ›Werdendes‹. Nur das Du ist etwas Seiendes: »Das Ich ist etwas ›Werdendes‹ ; etwas, das im Verhältnis zum Du wird oder auch entwird, je nachdem es sich eben in diesem zum Du hin- oder von ihm wegbewegt. Das Du ist etwas ›Seiendes‹, etwas, das im Verhältnis des Ichs zu ihm nicht erst wird wie jenes, sondern schon als dessen und seines Werdens Voraussetzung ist. Das Ich ist etwas Werdendes, das Du etwas Seiendes, das bedeutet im letzten Grunde: jenes ist etwas Menschliches, dieses

50 51 52

Rosensock-Huessy: Des Christen Zukunft, 40. Rosensock-Huessy: Des Christen Zukunft, 39. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 26.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

etwas Göttliches. Gott ist die Konkretion des Du, wie der Mensch – nicht jedoch die Idee des Menschen bei den Philosophen und Ethikern – die des Ichs ist und sein soll in seinem Verhältnis zu Gott.« 53

Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr restlos in die Gattung eingehen: Die Persönlichkeit mit Eigennamen ist also nicht bloß Individuum – letztes Unteilbares einer Gattung –, sondern von nun an seine eigene Gattung. Ihm kann auch kein allgemeiner Ort und kein Zeitpunkt zugeschrieben werden. Es ist schlicht und ergreifend im Hier und Jetzt: im Augenblick des Geschehens. Die Ichpersönlichkeit des Menschen entsteht erst im Angeredetwerden: der Geheißsatz nennt den Namen und gibt den Befehl. »Er ist also noch in Einem: Anruf des Du von Dir, das du für den Heißenden darstellst, und Formung deines Wesens durch Gehorsam.« 54 Das Ich ist also auch nicht bloß eine grammatische Fiktion. 55 Das wäre ein Missverständnis: das »Ich bin« ist ein Faktum, das im Selbstbezug des Ich-Es sein Ich hervorbringt. Als Faktum ist es zugleich Subjekt und Objekt. Dieses seiende ›Subjekt-Objekt-Ich‹ nennt Buber treffend »Eigenwesen«: »Eigenwesen erscheint, indem es sich gegen andere Eigenwesen absetzt. Person erscheint, indem sie zu andern Personen in Beziehung tritt.« 56 Dem »Eigenwesen« kommt also ein anderer ontologischer Status zu, als dem werdenden »Ich bin«: es ist artifiziell und fristet von der Wirklichkeit abgekapselt sein Dasein in Icheinsamkeit.

8.5. ›Ich‹-Sagen als Schibboleth der Menschheit Wenn wir vom »Ich« reden, müssen wir also genau unterscheiden, welches wir meinen: • Das seiende »Eigenwesen«, das sich selbst als Antwort vor dem Du verschloss (also dulos 57 ist), sich zum Subjekt erklärt und sich auf sich selbst im obliquen Kasus als Objekt bezieht. Dieses Ich setzt sich gegen anderes ab. Es wird sich seiner selbst als eines So-und-nicht-anders-Seienden bewusst: es ist ein Subjekt des 53 54 55 56 57

Ebner: Pneumatologie, 197. Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 48 f. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 98. Buber: Ich und Du, 61. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 104.

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›Ich‹-Sagen als Schibboleth der Menschheit



Erfahrens und Gebrauchens. 58 In seiner Macht liegt es also, sich auf sich selbst und auf anderes im Verfügbarkeitsmodus des IchEs zu beziehen. Aber durch seine Duverschlossenheit hat dieses Ich nur Vergangenheit: es trägt sich selbst wie eine alte Monstranz durch die Zeit im Glauben an seine Unzerstörbarkeit, aber, da es keine Präsenz hat, 59 ist es ohne Kenntnis seiner gebrechlichen Grundfeste. Die werdende »Person«, die dem Du nicht nur erschlossen ist, sondern sich auch von dem Du direkt affizieren lässt: die Person ›ist‹ in Beziehung zu etwas Geistigem außer ihr – dem Du – und ist sich dieser Beziehung auch bewusst. 60 Der Person ist das Du gegenwärtig, 61 sie ist am Sein Teilnehmende und wird sich als Mit-Seiende bewusst. 62

Des Menschen Ich ist also entweder »Eigenwesen«, das sich auch als »Ich« setzt, dem also tatsächlich ein »eigenes Wesen« (Genitiv) zukommt, oder die am Sein teilnehmende Person. Es ist aber niemals beides zugleich! Hier handelt es sich um »zwei Pole des Menschentums«, 63 um die herum das Menschenleben kreist. »Die Person sagt: ›Ich bin‹, das Eigenwesen: ›So bin ich‹. ›Erkenne dich selbst‹ bedeutet der Person: erkenne dich als Sein, dem Eigenwesen: erkenne dein Sosein. Indem das Eigenwesen sich gegen andre absetzt, entfernt es sich vom Sein. […] Das Eigenwesen nimmt an keiner Wirklichkeit teil und gewinnt keine.« 64

Um auf einen Terminus von oben zurückzukommen: Es handelt sich hier um zwei verschiedene Modi des Bewusstseins, das Eigenwesen hat ein BEWUSSTsein und die Person ein BewusstSEIN. Die Frage nach dem »Ich« ist für die Dialogphilosophie, die den ontologischen Primat ja eindeutig auf dem »Du« verortet, von entscheidender Wichtigkeit. Denn das Du gibt dem Menschen nur indirekt Orientierung. Überprüfen kann der Mensch nur sich selbst und die Beziehungsqualität anhand seiner Haltung: 58 59 60 61 62 63 64

Vgl. Buber: Ich und Du, 61. Vgl. Buber: Ich und Du, 12. Vgl. Ebner: Pneumatologie, 104. Vgl. Buber: Ich und Du, 12. Vgl. Buber: Ich und Du, 61. Buber: Ich und Du, 63. Buber: Ich und Du, 62.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

»Nach seinem Ichsagen – danach, was er meint, wenn er Ich sagt – entscheidet sich, wohin ein Mensch gehört und wohin seine Fahrt geht. Das Wort ›Ich‹ ist das wahre Schibboleth der Menschheit.« 65

Je nach der Intention, die hinter meinem momentanen »Ich« steht, ist mir also ersichtlich, ob ich gerade Eigenwesen oder Person bin, ob ich in meiner Duverschlossenheit mir meine Welt erträume oder ob ich dem Du aufgeschlossen am Sein teilnehme. Wie im Zusammenhang mit Rosenstock-Huessy oben beschrieben wurde, kann ich Subject, Object, Präject oder Traject sein: der Unterschied liegt in meiner Haltung zu dem mir Begegnenden. Doch wie kann ich meine Haltung überprüfen? Wie genau kann ich feststellen, in welchem Modus ich mich gerade befinde? Mit unserem Maßstab I, der den Ich-Mechanismus des »Eigenwesens« zum Ausdruck bringt, kann hier kein Zweifel aufkommen: Duldet meine Meinung keinen Widerspruch, kann sie an Wahrheit nicht interessiert sein.

8.6. Ich als Faktum und Postfaktisches aus dem Ich Doch was passiert, wenn unser Maßstab nicht beachtet wird? Um uns zu orientieren, müssen wir feststellen können, ob wir gerade Erfahrungen (Ich-Es) machen oder ob wir etwas erleben (IchDu). Haben wir hierfür kein Kriterium zur Hand, besteht die Gefahr darin, dass wir beides miteinander verwechseln und das Ich-Es zur einzigen Wirklichkeit erklären, ohne dass wir eigentlich wissen können, ob es wahr oder falsch ist (denn im Indikativ ist der Wahrheitswert mindestens unentschieden). Zum Beispiel können wir nicht feststellen, ob das Erlebte wahr ist oder ob es sich bloß um eine »›Projektion des Ichs‹« 66 handelt. Das Problem verschärft sich dadurch, dass das Eigenwesen mit seinem »Ich« niemals ruht: »Im Ich wirkt eine Tendenz der Zerstreuung und zum Sichselbstverlieren, solange es sein Du nicht gefunden hat. Die Sphäre, in die hinein es sich zerstreut und verliert, ist die ›Welt‹. Das Welterlebnis des Menschen ist 65 66

Buber: Ich und Du, 63 f. Ebner: Pneumatologie, 169

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Ich als Faktum und Postfaktisches aus dem Ich

eigentlich ebenso wie das des Tieres ›ichlos‹, selbst im Schönheitserlebnis, in welchem es sich ins Geistige und dadurch beim Genie zur Weltanschauung steigert; denn da ›ruht‹ das Ich und ›träumt‹ in geistiger Verborgenheit und kommt nicht zum Vorschein, weil es nicht in ein Verhältnis zum Du tritt, es gar nicht sucht.« 67

Genauso wie das »Ich«, selbst ein Faktum seiner Eigentätigkeit, sich zur ontologisch letzten, anthropologisch höchsten (›göttlichsten‹) Instanz erklärt, erliegt der orientierungslose Mensch der Suggestion seines Eigenwesens, wenn es seine von ihm produzierten »Welten« zur ›einzig wahren‹ Welt verklärt: das Faktum »Ich« bringt dann also ein ›Postfaktum‹ hervor. Eine künstliche Instanz schafft eine künstliche Welt, deren Virtualität zur scheinbaren Realität gesteigert wird. Unsere jugendliche Verliebtheit in den uns vorgesetzten weltanschaulichen Maßstab ist der Katalysator dieses Illusionierungsprozesses: Wer bin ich und wer will ich sein? Schon Kierkegaard lässt sein Pseudonym Johannes de silentio diesen Selbst(ein)bildungs-Prozess folgendermaßen beschreiben: »Ein jeder soll im Gedächtnis fortleben, aber ein jeder wurde groß je im Verhältnis zur Größe dessen, womit er gerungen hat. Denn wer mit der Welt gerungen hat, wurde groß, indem er die Welt überwand, und wer mit sich selbst gerungen hat, wurde größer, indem er sich selbst überwand; aber wer mit Gott gerungen hat, wurde größer als alle.« 68

Je nachdem, wie das Ich seinen Maßstab setzt, setzt es im Endeffekt sich selbst ›göttlich‹ oder ›weltlich‹. Der Orientierungsmaßstab diktiert die Qualität, in der sich das Selbst selbst schafft. Um es nochmals klar zu stellen: Fakten sind nichts Falsches und auch nichts Wahres. Fakten sind etwas Hervorgebrachtes, und auf Fakten einigt man sich: Fakten sind evident! Dem Faktum Ich bleibt aber gar nichts anderes übrig, als virtuelle Welten hervorzubringen: »Das einzelne Du muß, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden. Das einzelne Es kann, durch Eintritt in den Beziehungsvorgang, zu einem Du werden.« 69 Deshalb ist das Ich ein besonderes Faktum, denn nur das Ich kann Postfaktisches hervorbringen. Alle anderen, ›normalen Fakten‹ können das nicht. 67 68 69

Ebner: Pneumatologie, 99 f. Kierkegaard: Furcht und Zittern, 192. Buber: Ich und Du, 33.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

Eigenwesen und Person sind zwei Pole des Menschentums. Diese sogenannte Alternativik wurde Buber immer schon vorgeworfen, auch von seinen dialogphilosophischen Mitstreitern. 70 Aber Buber hat Recht: es gibt nicht das Ziel, dass der Mensch nur im Ich-Du sesshaft werden soll. Von Liebe und Beziehung ist noch kein Mensch satt geworden: in der Ich-Du-Beziehung zum Teller könnte er nicht einmal seine Suppe essen! Der Mensch muss zwischen beiden Polen hin und her wechseln. Er muss – er kann nicht anders – seine Einstellung zur Welt wechseln. »Dies gehört zur Grundwahrheit der menschlichen Welt: Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unsrem Du zu unsrem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem.« 71 Das Entscheidende ist aber, dabei nicht die Orientierung zu verlieren! In der Transformation vom Ich-Du zum Ich-Es ändert der Mensch seine Einstellung: er stellt sich den Dingen anders gegenüber: »Der ichhaft gewordene Mensch, der Ich-Es sagt, stellt sich vor den Dingen auf, nicht ihnen gegenüber im Strom der Wechselwirkung […].« 72 Die Person, das »Ich bin«, muss zu einem »Ich« werden, damit es sich und die Dinge ordnen kann. Doch tritt der Mensch erneut in eine Ich-Du-Beziehung ein, verschwindet sein Ich für diesen Moment, um als neues Ich nach Ablauf des Beziehungsvorgangs hervorzutreten. »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber [ist er] nachbarnlos und fugenlos […] Du und füllt den Himmelkreis. Nicht als ob nichts andres wäre als er: aber alles andre lebt in seinem Licht.« 73 Sobald ich aber etwas über diesen Menschen feststelle, etwa die Haarfarbe, oder seine Redegewandtheit bewundere, ist er vom Du zum Es geworden. Das Du grenzt nicht. Im Ich-Du-Modus passiert mir Folgendes: alles erscheint mir (sogar ich selbst) im Lichte des Du. Im Ich-Es ist das Ich auf ›Ganzheiten‹ fokussiert: das Reich des Es ist das Etwas. Ich nehme etwas wahr, empfinde etwas, will etwas, fühle etwas etc. Seine Begrenzungen markieren dieses Etwas immer als Ganzheit: »[…] wo

70 71 72 73

Vgl. Kap. 3. Buber: Ich und Du, 30. Buber: Ich und Du, 29. Buber: Ich und Du, 8 f.

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Ich als Faktum und Postfaktisches aus dem Ich

Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, Es ist nur dadurch, daß es an andere grenzt.« 74 Im Ich-Du sieht es ganz anders aus: »Du grenzt nicht. Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung.« 75 Diese Notwendigkeit des Wechsels zwischen Ich-Du und Ich-Es hat die merkwürdige Konsequenz, dass die Welt der Dinge immer weiter wächst. Es grenzt an anderes Es: man sammelt Es. Die Es-Welt wächst also notwendigerweise mit dem Verlauf der Geschichte (die Sammlung an Zeitbegriffen in Kapitel 5.1 und das Panorama der Ich-Auffassungen in Kapitel 8.1 dürfen als geeignete Beispiele für diesen Sachverhalt dienen). 76 Wehe dem, der die Orientierung in dieser immer komplexer werdenden Es-Welt verliert und die eigentliche Relevanz nicht mehr abschätzen kann. Wer sein »Ich« vergöttlicht, begeht einen allzumenschlichen Fehler: »Der Tiefsinn der Mystiker ist Selbstbetrug, der auf der Perspektivenlosigkeit des mystischen In-sich-selbsthinein-Versinkens beruht. Das Ich ist und bleibt menschlich und ist nicht göttlich […].« 77 Er erklärt die Eswelt, die den ontologischen Status einer virtuellen Welt hat, zur eigentlichen Realität und schafft sich so seine – im wörtlichen Sinne – postfaktische Welt. »Postfaktisch« bedeutet hier: Tatsachen, die, einmal in die Welt gesetzt, anschließend (post-faktisch), bedingt durch anscheinende Evidenz innerhalb einer Personengruppe, ihre Virtualität, ihre Wirkung bzw. Funktionalität entfalten. Die Dulosigkeit des Ichs führt zu postfaktischen Weltanschauungen, in denen das Ich sich an die Stelle Gottes setzt. Das »Ich« des Eigenwesens, gibt es zwar, aber sein ontologischer Status unterscheidet sich vom »Ich bin« der Person. Das »Ich« kann niemals göttlich sein: es ist und bleibt menschlich, weil es Ergebnis menschlicher Tätigkeit ist. Es ist Selbst-Interpretation. Wohl kann es sich als ›göttlich‹ gebärden und als göttlich verklären. Aber dieses Schauspiel entlarvt das Ich ja nur als allzumenschlich! Alle oben aufgeführten Ich-Begriffe und Ich-Konzepte können also korrekt sein: das »Ich« setzt sich selbst, 74 75 76 77

Buber: Ich und Du, 4. Buber: Ich und Du, 4 f. Vgl. Buber: Ich und Du, 35. Ebner: Pneumatologie, 204.

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Exkurs: Das Ich als Faktum

wie es will, indem es sich interpretiert. Und in dieser Interpretation, die immer im Indikativ steht und auf die sich das »Ich« im Genitiv bezieht, büßt es seine Einzigartigkeit wieder ein. Das »Ich bin« der Person ist demgegenüber im Augenblick des Anspruchs im Imperativ vom Du hervorgebracht: In diesem Sich-Ansprechen-lassen-von Etwas-zu-einem-bestimmten-Zeitpunkt liegt die Einzigartigkeit der Person in Zeit und Raum. Das oben skizzierte Panorama der Ich-Begriffe weist darauf hin, dass das »Ich« bei seiner Selbstinterpretation offenbar willkürlich schalten und walten kann: mein Ich kann sich jede x-beliebige, sinnvoll erscheinende Backstory erfinden – hier bietet sich dem »Ich« die Methode der Projektion an – und muss nur ›schön fest dran glauben‹, sodass ihre Virtualität real erscheint. Aber der postfaktische Status dieser ›Ich-Welt‹ bleibt trotzdem bestehen. »Die von uns erlebte Welt wird in den Augen und Gedanken der Philosophen zu einer ›Projektion des Ichs‹. Zwar ist sie das gewiß nicht. Aber die Weltanschauung des Metaphysikers ist nichts anderes als eine solche Projektion. Es ist tatsächlich nicht anders als so: das Ich setzt sich an die Stelle Gottes – weil es zwar seiner selbst sich bewußt wurde, aber nicht seines seine Existenz ja erst möglich machenden Verhältnisses zum Du; weil es seine Icheinsamkeit, die es in dem Augenblick, wo es um sich selbst weiß, zwar erkennt, aber nicht als Mangel versteht. Und so wird es in dieser mißverstandenen Einsamkeit zum absoluten Ich der Metaphysiker, zum intelligiblen der Ethiker, und weder der Metaphysiker noch der Ethiker scheinen es zu bemerken, daß diese Verabsolutierung der Icheinsamkeit nichts weniger als den Tod des Ichs, den geistigen Tod des Menschen bedeuten müßte – wenn sie eben nicht nur im abstrakten Denken erfolgte.« 78

78

Ebner: Pneumatologie, 122 f.

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9. Ausblick: Was heißt Zukunft?

Wohl keine der Zeitdimensionen beflügelt unsere Phantasie so sehr wie die Zukunft. In die Zukunft projizieren wir unsere Hoffnungen (›Zukunftsmusik‹) und Sorgen (›Zukunftsängste‹). In die Zukunft entschuldigen wir unsere gegenwärtige Umweltverschmutzung mit der ›Zukunftstechnologie‹ von morgen und versuchen ›zukunftsweisende‹ Unternehmen in unsere Stadt – selbstverständlich ein ›Zukunftsstandort‹ – zu locken. Das ganze nennen wir dann ›Zukunftsplanung‹. Doch was meinen wir genau mit »Zukunft«, dieser unter den Zeiten so ungewissen Zeit? Beim Stichwort »Zukunft« denken wir wohl zuerst an das Tempus in der Grammatik: im Futur 1 kennzeichnen wir eine mögliche Tatsache, im Futur 2 nehmen wir eine Tatsache vorweg. Doch sollten wir uns nicht verführen lassen: Wie wir inzwischen wissen, ist das Tempus nicht das, was uns den Wahrheitswert anzeigt. Das Tempus zeigt uns ja noch nicht einmal die Zeit an! Es maskiert und identifiziert seine Aussage nur mit einer Zeit. Ein Tempus muss korrekt verwendet werden, beweist aber erstmal nichts. Wollen wir aber den Wahrheitswert bestimmen, müssen wir den Modus bedenken! Das Futurum zum Beispiel kennzeichnet eine mögliche Tatsache, sein Modus ist also der Konjunktiv. Wie Rosenstock-Huessy aufzeigt, hat sich das Futurum als Tempus ursprünglich aus dem Modus des Konjunktivs entwickelt: erst die Prophetengestalten des fünften und sechsten Jahrhunderts vor Christus haben den Begriff des Futurums geschaffen! »So wurde das Futurum von Modus zu Tempus und noch bei Aischylos kommt das temporale Futurum nur im Munde von Sehern und Seherinnen vor.« 1 Ein Seher setzt seine leidenschaftliche Schau als absolute Wirklich-

1

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 96.

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

keit. Wissen, das im Modus des Indikativs steht, wird für Prognosezwecke herangezogen. Die Vernunft entdeckt die »Zukunft« als menschliche Zielsetzung, als allgemeinste Möglichkeit. Die Widersprüche, die heute als Wissen im Indikativ vorliegen, werden im Konjunktiv als Möglichkeitsspektrum in die »Zukunft« projiziert und anschließend nach ihrer Wahrscheinlichkeit quantifiziert. Trotzdem bleibt der Inhalt ungewiss. 2 Im Sanskrit ist nach dem Urteil Wilhelm von Humboldts auch das Verhältnis von Modus zu Tempus nicht rein und genau unterschieden 3, und es gibt offenbar noch gesprochene Sprachen (jedenfalls zur Zeit Humboldts), in denen Futurum und Konjunktivus gleich behandelt werden. 4 Es gibt also nicht nur auf der inhaltlichen Ebene Überschneidungen zwischen Futurum und Konjunktiv, sondern auch sprachhistorische Erkenntnisse verweisen darauf (die wir angesichts des Maßstabs transzendentaler Erkenntnis allerdings nur als Ergänzung der inhaltlichen Argumente werten dürfen). Auch die Griechen entdeckten, wie oben dargestellt wurde, 5 auf diese Weise die Dreiheit der Zeit: das Früher, das Später und das Jetzt. »Da gibt es nun außer dem Vergehen auch das Werden und neben dem unaufhörlichen Verrinnen unablässiges Kommen, sowie den Stillstand der Dauer, die weder bevorsteht noch vergeht, und ferner außerhalb der Zeitlichkeit die Ewigkeit: an der Stelle der Zeit den Austritt aus ihr.« 6 Die Juden in ihrem biblischen Aufbruch erschlossen demgegenüber die Zukunft in ihrer eschatologischen Zeitauffassung quer zur Vernunft. Das ›Reich Gottes‹ »mit seiner vollständigen Heiligung des Alls«: 7 seine »aus dem Dual entwickelte[n] Allheit« 8 ist der Inhalt der Botschaft des Judentums. Das Judentum ver-antwortet diese Verheißung. Der jüdische Aufbruch geht bezüglich der Zukunft also noch einen weiteren Schritt: »Fortan gibt es trotz der Wiederholungen des Naturkreislaufs kein Zurück und trotz der Grenzen der Vernunft, die

2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 32 f. Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 84 f. Vgl. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 79. Vgl. Kap. 5.1. Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 78. Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 79. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, 2, 192 f.

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

sich in der Zeitlichkeit spiegeln, keinen Grund zum Austritt aus der Zeit, sondern nunmehr […] den Fortschritt zur Vollendung.« 9 Die Griechen kannten die drei Zeiten, schlugen sie aber mit der Ewigkeit tot: ihre Zeiten sind zeitlos-abstrakt. Zwar huldigten sie dem Kairos, der Forderung des Augenblicks, allerdings eher als Gunst der Stunde, denn sie hatten kein Gedächtnis. »Nicht vor 600 v. Chr. weiß ein großer Geist wie Plato zurückzudringen, wenn er um 375 schreibt. Die Griechen hatten kein besseres Gedächtnis als die Indianer: ein paar Generationen, nie mehr.« 10 Erst der jüdische Aufbruch zum Reich bringt die tatsächliche Geltung des Augenblicks zum Vorschein. Das Reich kommt am Ende der Zeiten (wenn alles von Allen besprochen ist). Die Griechen bleiben Gefangene der Natur, »auch dort wo sie höhere Einheiten oder sogar deren Einzigkeit faßten.« 11 Ihre Vernunft verführte die Griechen zum Austritt aus der Zeit, in die Ewigkeit. Damit entzogen sie sich aber voreilig jeder Verbindlichkeit der Zeit: »Der Fachidiot flüchtet in die Enge unverbindlich widerspruchsfreier Fachwissenschaft, wie der Futurologe in die nicht weniger unverbindliche Weite seiner Wissenschaft von der Zukunft. Doch nicht zu fliehen gilt es, sondern standzuhalten!« 12 Erst die Geistesgeschichte unterscheidet (fälschlich!) Futurum und Adventus als Aspekte der Zukunft: 13 • »Advent (das heißt ›ankommendes‹ Sein: etwas als solches schon Beschlossenes), auch wenn sich der Zeitpunkt der Ankunft dieses Advents nicht im voraus ausmachen läßt.« 14 Etwas auf jeden Fall Kommendes, wie auch immer sich die Gegenwart entscheiden wird: ein froher oder drohender Advent. Er hält Gericht über die Gegenwart. • Futurum: »Das sogleich oder später bestimmt oder wahrscheinlich Machbare oder sonst Ungetane und dann womöglich nicht Eintretende – de Jouvenels Futuribles: futures possibles, Jungks Modelle für die Zukunft, Flechtheims Futurologie – erfaßt nur die von der Vergangenheit aus durch die Gegenwart, wenn sie Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 78 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 252. 11 Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 78. 12 Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 112. 13 Vgl. Mamczak: Zukunft, 26. 14 Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 105. 9

10

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

sich so oder so entscheidet, hindurchlaufenden Richtungen in die Zukunft.« 15 »Zukunft« geht aber auf das Verb »kommen« zurück und hat im christlichen Kontext auch eine religiöse Konnotation im Sinne des »Herabkommens Gottes«. Das Tempus Futurum, das gemeinhin mit »Zukunft« verwechselt wird, hat nicht dieselbe ontologische Bedeutung wie »Zukunft« und wird historisch (wie wir gesehen haben) mit dem Modus des Konjunktivs identifiziert. Hier wird nochmals Rosenstock-Huessys Charakterisierung der Seelenkunde als ›Grammatik‹ manifest: während das Tempus Futurum der grammatische Ausdruck für einen spezifischen seelischen Zustand (die Projektion von Vergangenem in einen Möglichkeitsraum, sprich: Antizipation) ist, ist die Zukunft eine ontologische Größe. Wir müssen also, befassen wir uns mit »Zukunft«, unbedingt zwischen grammatischem Tempus (Futurum) und Zukunft unterscheiden. Ansonsten geraten wir schnell in die spekulativen Fänge einer Futurologie, wie es allzu oft passiert bei diesem Thema. Die lateinische Übersetzung von »Zukunft« ist Adventus, was eine ontologische Größe hat, nicht Futurum, was eine grammatische Form ist! Futurum und Adventus sind also nicht zwei Aspekte der Zukunft, sondern grundsätzlich verschieden. Erst das Ernstnehmen der Grammatik legt diesen Unterschied frei: die Dialogphilosophie bringt das Futurum mit dem Konjunktiv in Verbindung und entlarvt es, wenn es mit Zukunft verwechselt wird, als mit der Vergangenheit begründetes Wunschdenken. Nur der Adventus bezeichnet die Zukunft: der Advent kommt, gleichgültig wie wir ihn uns (im Futurum) wünschen. Die Zukunftsforschung neigt dazu, den Unterschied zwischen Adventus und Futurum zu relativieren anstatt zu relationieren. Macht sie aber aus dem Adventus ein verkapptes Futurum, wird sie der Zukunft nicht gerecht. Sie unterbreitet Vorschläge, wie man die Zukunft trotzdem gestalten könne. Damit überdeckt sie aber nur, dass der Advent und nur der Advent die Zukunft bringt. Zukunft hat also mehr mit Abenteuer als mit Vorausplanung zu tun: diesen Zusammenhang legt auch die Etymologie frei: »Abenteuer« (Lat.: advenire: »Ankommen«) und Zukunft (Lat.: »adventus«:

15

Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch, 105.

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

»Ankunft«) stehen über das mittelhochdeutsche »aventiure« in Zusammenhang. Inhaltlich lässt sich dieser Zusammenhang veranschaulichen: sich auf ein Abenteuer einlassen ist, sich Ungewissheiten (bis zu einem ›vertretbaren‹ Grad) aussetzen. Es ist also völlig unpassend, der Zukunft mit der Haltung des Futurums planend zu begegnen. Auf die Zukunft lässt man sich ein, wie man sich (im kleineren Maßstab) auf ein Abenteuer einlässt: geht es um die Zukunft, ist das Leben kein ›Projekt‹, sondern ein Abenteuer! Und zwar nicht im pseudoabenteuerlichen Sinne wie Achterbahnfahrten es suggerieren, sondern im Sinne eines Erlebnisses mit ungewissem Ausgang, dessen Bewältigung persönlichen Einsatz, Mut, Angstkontrolle und Wagnisbereitschaft erfordert. 16 Im Großen und Ganzen haben wir drei Methoden, uns ein futurologisches Bild zu erzeugen: 17 • Historisch interpretieren wir vergangene Ereignisse und verlängern sie in die Zukunft, aber nicht als Wiederholung der Vergangenheit, sondern um einer besseren Zukunft willen. • Oder systematisch, wie es die Futurologie unternimmt. • Die wohl interessanteste, weil am häufigsten praktizierte Methode ist allerdings die künstlerische: auch Rosenstock-Huessy stellt fest, dass Kunst ein Zwischen-Ding zwischen Gegenwart und Zukunft zu sein scheint. In ihrer Spielwirklichkeit nimmt die Kunst häufig die Zukunft anscheinend schon vorweg, indem sie Probleme löst, die sie selbst erst schafft. Etwas grobschlächtig ausgedrückt, ist der Zusammenhang folgender: die Kunst löst Probleme, die es (noch?) nicht gibt. »Die Sensation ist nur der gröbste Ausdruck für den Schein der Zukunftskraft, der auch der Kunst innewohnt: Zukunft heißt Lösung.« 18 Das Kunstwerk fesselt uns, indem es »eine überraschende Lösung irgendeiner Schwierigkeit« 19 darstellt. Der Überraschungseffekt unterscheidet die Kunst von der Technik, denn technische Wunderwerke gehören der wirklichen Welt an: »Hier erscheint also nicht die Zukunft im Spiegelbild der Phantasie; sie bleibt nicht als Zu16 17 18 19

Vgl. Warwitz: Sinnsuche im Wagnis, 308 ff. Vgl. Mamczak: Zukunft, 39 ff. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 99. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 100.

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

kunft in ihrem Element der Schwebe, sondern sie tritt wirklich herein.« 20 Die Technik steht auf dem Fundament von meistens klar erkannten Naturgesetzen und zerstört durch die Betonung ihres wissenschaftlichen Untergrundes ihren Zukunftsreiz, da sie ja methodisch wiederholbar ist. »Die echte Zukunft aber ersehnt Erlösung, Verwandlung und Überwindung aller Gesetze.« 21 Die Kunst jedoch hat mit der Zukunft gemeinsam den Überraschungseffekt. Besteht kein Bewusstsein für die Zeit, wie es in Weltanschauungen der Fall ist, dann muss die Zukunft entschuldigt werden: es muss ein Zukunftsersatz beschafft werden, denn »Jede vom Raum aus unser Leben ordnende Macht operiert mit Verhängnis und Zufall.« 22 Die von Rosenstock-Huessy idealtypisch dargestellten Stammeskalender zum Beispiel verteidigen ihre Herkunft gegen die Zukunft. So müssen sie der Zukunft im Raum ausweichen: sie wandern. »Im Gesetz der Stämme muss dauernd die Zukunft entschuldigt werden. […] Lateinisch heißt dieser Akt excusare. Und diesem Wort kann man es sogar äußerlich ansehen, daß im Stamm Ursachen abgeschafft werden, causae, die gegen des Ahnen gegebene Gebote verstoßen würden: Ex-cuso, ich schaffe eine causa ab.« 23 Aber auch das »Reich« sieht seinen Kalender stets von der Zukunft bedroht. In ihrem Bestreben der ewigen Wiederkehr ihrer selbst sind Reichsbürger blind für die Zukunft. Im Zentrum stehen ihre Tempel, und diese zielen auf die Abschaffung der Zeit. 24 Aber die Tempel-Astrologen müssen durch einen Zukunftsersatz ergänzt werden: die Weltmärkte bringen das Neue, das im Fatum, der Vorherbestimmung der Astrologen ausgelassen wurde. Anstatt in Verantwortung Zukunft zu schaffen bringt der Markt »bloß Neues aus einem anderen Raum«. 25 Das Reich sucht seinen Zukunftsersatz also in ›Innovationen‹, mit der Hoffnung, sich der drohenden Zukunft entziehen zu können. Und wie häufig werden bloße Marktneuheiten als Zukunftsprodukte deklariert! In Ägypten stand noch der Tempel im Mittelpunkt. Das Verhältnis Tempel (Zentrum)-Markt drehte sich (nolens volens) bei den 20 21 22 23 24 25

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 100. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 100. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 118. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 219. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 114. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 116.

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Ausblick: Was heißt Zukunft?

Griechen um 90 Grad: in der Polis steht nämlich die Agora im Mittelpunkt des Lebens. »Die Hellenen setzten also den Markt in die Mitte ihres Daseins und wurden mit seinen Gefahren besser als die Ägypter fertig, weil sie von vornherein auf sie gefaßt waren.« 26 Vor den Griechen mussten die Reiche die Märkte unwillig ertragen und untergehen. Die Reiche mussten den an sie herangetragenen fremden Ideen (und Händlern) erliegen. Die Griechen hingegen waren auf diese Zufälle von außen vorbereitet und dadurch gewappnet. »Die Reiche verfallen, eben weil sie ewig wiederkehren wollen, dem Zufall von außen! Alexandria, London, New York bringen das Neue, das im Fatum, in der Vorherbestimmung der Tempel-Astrologen, ausgelassen wird, durch ihre Weltmärkte ins Land.« 27 Wollen wir wissen, was Zukunft ist, müssen wir uns also genauer mit dem Volkskalender beschäftigen, der sich ja im Gegensatz zu den anderen beiden ganz auf das Kommen des Advents fokussiert. Tatsächlich projizieren wir die Zukunft (wie die anderen Zeiten auch) andauernd in einen Raum: »Gehen, laufen, rennen: auch hier zeigt die Sprache, dass wir die Zeit zum Raum gemacht haben, dass auf unserer Reise von einem gegenwärtigen Hier zu einem zukünftigen Dort dieses Dort für uns bereits existiert; wir müssen nur entscheiden, welche Wegbeschreibungen, Landkarten oder Navigationsgeräte wir verwenden, um dieses Dort zu entdecken, zu erforschen, zu erobern.« 28

Die Zukunft kommt, ob wir wollen oder nicht: auf diesen Advent ist nur der idealtypische »Volkskalender« vorbereitet. Aber hier müssen wir Missverständnissen vorbeugen: Zukunft ist nicht bloß ein ›Determinismus von vorne‹ (statt eines Determinismus aus der Vergangenheit). Wenn wir die Zukunft bewusst räumlich projizieren, wird verständlich, um was es sich dabei handelt. Schauen wir uns die Zukunft also im Licht der Grammatik genauer an: Mit der Grammatik sind wir vor Vernünfteleien über die Zukunft gefeit. Die Dialogphilosophie weiß: der Imperativ »ist Hereinreißung des Kommenden in das Heute und Hier […] der Modus der

26 27 28

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 117. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 116. Mamczak: Zukunft, 29.

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Verwandlung […].« 29 Sein zeitigt sich im Imperativ. Nur der Imperativ steht in der Gegenwart. Der Verstand kann »Heute« nicht denken. 30 Es ist also nicht die Vergangenheit, die unsere Gegenwart prägt, sondern die Zukunft. Auch Naturforscher, die es mit Totem zu tun haben, denken zwar im Futurum, aber ihr Tun macht erst vom Ende der Physik her betrachtet Sinn, aus der Perspektive des Adventus. 31 Der Advent tritt als Geheiß im Imperativ auf. 32 Im Dialog werden Menschen also bereits Zeugen der Zukunft, denn in ihm fordert uns die Zukunft schon in der Gegenwart heraus. In der Gegenwart geht es um die Zukunft! Das Geheiß sucht sich seinen Akteur, jemanden, der antwortet: »Dem Augenblick antworten wir, aber wir antworten zugleich für ihn, wir verantworten ihn.« 33 Mit jeder Antwort auf ein Geheiß verantworten wir eine Verheißung. Zukunft will verantwortet werden! Wir können uns ihr nicht entziehen: In der Verantwortung besteht geradezu die Bewährung des Menschen. Auch die Menschen müssen sich bewähren: sie müssen unsere Gesetze, Hoffnungen, Versprechungen garantieren, um zukünftige Bahnen heraufbeschwören zu können. »Der Antworter will sich beim Worte nehmen lassen und er akzeptiert ein künftiges Leben, das sich an dem von ihm ausgesprochenen Satze entzünden wird.« 34 Nur im Kohortativ und Dativ verantwortend beschreitet der Mensch den Weg des wandernden Duals in die Zukunft! Verdrängt man den Advent durch eine Überhöhung der Futurologie, schlägt die heilsame Furcht vor dem Gericht der Zukunft (denn die Zukunft richtet, im wörtlichen Sinne) in Angst vor der Zukunft, in Panik um. Die Zukunft will ernst genommen werden! 35 Wird man zum Futurum erzogen, behandelt man die Zukunft als Privateigentum. Man verkennt ihren durch den Kohortativ und Dual charakterisierten regenerativen Charakter und knallt sich seinen Timeplaner voll. Aber allein schon der menschliche Organismus verzeiht diesen

29 30 31 32 33 34 35

Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, 25. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 489. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 62. Vgl. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 330. Buber: Zwiesprache. 163. Rosenstock-Huessy: Der tägliche Ursprung der Sprache, 212. Vgl. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch. 107.

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Diebstahl nicht und holt sich seine Zukunft im Zweifelsfall mit einem Nervenzusammenbruch zurück. 36 Duckmäusertum in einem Kollektiv ist eine weitere Möglichkeit, der Verantwortung (und damit – wenn auch nur scheinbar – dem Advent) zu entrinnen: »Was man einst glaubte: daß man stets neu, Situation um Situation, das jeweils Gewählte zu verantworten hätte, das ist man nun los. Die Gruppe hat einem seine politische Verantwortung abgenommen. Man fühlt sich in ihr verantwortet.« 37 Der Imperativ wird in Ismen, Weltanschauungen, politischen Kollektiven etc. nicht vernommen. Auf den Totschlag der Zeit folgt Totschlag im Raum. Der Hitlergegner und Widerständler Rosenstock-Huessy ist sich nicht zu schade, hier den worst case zu benennen: Was ist Krieg anderes als der Versuch, angesichts des Verstummens der Sprache wieder Verbindungen zu knüpfen? Verstummt die Sprache, wird es lebensbedrohlich: trotz des Verstummens der Sprache für die Menschen kommt der Advent, allerdings als zynische Regeneration. Verstummt die Sprache ist Gewalt die Folge, »um sich wieder ins Gespräch zu bringen.« 38 Auf die Spitze getrieben, schlägt sich Sprachlosigkeit in den politischen Phänomenen Krieg, Revolution, Gegenrevolution oder Anarchie nieder. Krieg führt immer zum Platzen weltanschaulicher Zeit-Blasen! Diese vier politischen Phänomene haben also den ›Sinn‹, die Ismen zu durchbrechen und die Einzelnen wieder zu Zeitgenossen zu machen. Es mag zynisch klingen, aber Krieg knüpft Beziehungen. 39 Das Geheiß der Zukunft (an mich persönlich) gilt es, ernst zu nehmen. Wirkliche Zukunft (Adventus) umfasst eben eine Qualitätsänderung: eine Überraschung und eine Verheißung. 40 Das erleben wir alltäglich, zum Beispiel mit Namen: wir alle wissen, dass in Berufsnamen Verheißungen stecken, die ganze Zeitalter prägen können: »Wieviele Deutsche sind nicht Privatdozent, Reserveoffizier, Parteigenosse geworden, nur weil es den Namen gab.« 41 Und völlig zu

36 37 38 39 40 41

Vgl. Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch. 50 f. Buber: Die Frage an den Einzelnen, 243. Grätzel: Versöhnung, 58. Vgl. Rosenstock-Huessy: Der tägliche Ursprung der Sprache, 141 ff. Vgl. Rosenstock-Huessy: Der unbezahlbare Mensch, 49 f. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 183.

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Recht: diese Namen reizen ja! »Die Schwergeburten des Dipl.-Ing. und des Dr.-Ing. bezeichnen das Wilhelminische Deutschland. Diese Namen prophezeien die Wendung zur Technik auf Jahrhunderte hinaus.« 42 Diese Eigennamen wollen verantwortet werden! Namen wirken als Geheiß im Imperativ: »Vornehmlich vernimmt jeder gehorchende oder vernehmende Mensch aus allen Anreden, daß er seinen eigenen Namen tragen soll. Dieser Name wirkt als die Klammer um alle Geheiße, Imperative, Aufforderungen, Gebote, Lehren und Verheißungen, die ihm Eltern, Lehrer oder die Straße zurufen.« 43

Einen Eigennamen tragen zu lernen, ist, eine Verheißung zu verantworten, wie oben im Kontext der Zeitigung »Vernimm!« und »Spiel!« beschrieben wurde. 44 Wir können vor der Zukunft nicht flüchten. Wir dürfen vor ihr die Augen nicht verschließen. Wir müssen sie aber nicht einfach hinnehmen: wir können sie nämlich verantworten! Um die Orientierung zwischen Futurum und Adventus nicht zu verlieren, um zu wissen, in welchem Modus wir uns befinden, kann folgende Faustregel zum Maßstab erhoben werden: »Unverheißene Zukunft ist bloß über ihre Lebensdauer hinaus verlängerte Vergangenheit.« 45 Die Fähigkeit zur Verantwortung im Kohortativ in Bezug zu etwas im Dativ auf dem Wanderweg des Duals führt in die Zukunft, ohne in die Abkürzung des Futurums zu verfallen. Es ist die ›Wanderbewegung‹ des Duals, die das (noch unausgesprochene) Ganze zur Sprache bringt. Wir wissen »die Wegrichtung im Ganzen und dürfen doch den nächsten Augenblick nicht wissen.« 46 Wenn die Futurologie die Zukunft selbst nicht einfach verdrängt, kann sie wertvolle Dienste leisten. »Ich aber bleibe der Gefangene des Worts zu seiner Zeit und Stunde.« 47

42 43 44 45 46 47

Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit I, 183. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 65. Vgl. Kap. 5.6.2.1. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit II, 19. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 488. Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit III, 489.

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Wir müssen Prioritäten setzen. Und das ist wider Erwarten ganz einfach: denn die »Vergangenheit hat Zeit; keine Zukunft wird ihr entgehen. Die Gegenwart aber kann die Zukunft verfehlen.« 48

48

Goldschmidt: Die Botschaft des Judentums, 208.

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Personen- und Sachregister

a posteriori (s. a. Empirie, Erfahrung) 162 a priori 47, 162, 164, 224 Abendland 150, 156, 277, 315 – Vernunft der Abendländler 49 Abenteuer (s. a. Zukunft) 368–369 Ablativ 59 Absicht 94 Abstrakt (s. a. Erkenntnis, Zeit) 152, 204, 221, 300, 319 – ~er Zeitbegriff 193–194, 235, 280, 282 – zeitlos-~ 367 Activum (s. a. Reflexivum) 201, 219, 223 Adjektiv 54, 58 Adventus s. Zukunft Ahn 178–179, 183, 190, 194 – ~-Enkel-Bund 177 – ~enkult 175–176, 181 – ~sein 229 – Autorität der ~en 176 – Gebote der ~en 370 – höchste Zeiten der ~en 242 Aischylos 365 Akademiker 191–192, 319 – ~krankheit 338 Akkusativ (s. a. Kasus) 59, 74, 79 – verkappter ~ 56 Akteur 74, 105, 187, 227, 372 Aktiv 355–356 All (s. a. Dual, Ganze, Organismus) 290, 315 – duale ~heit 86, 108, 366 Alltag 176, 232, 234, 236, 338, 357 – Abkühlungszustand des ~s 226, 242

– alltäglich 134, 220, 242, 347, 373 – ~ssprache 103 Alter 282, 293–298, 301 Alternativik 99–100, 362 Altes Testament 158, 159, 175 Amt 283, 294, 297, 337 Analogie 236, 321, 324–325 Anaximander 149 Andere (s. a. Du, Gegenüber) 87, 117–119, 140–143, 311, 313, 346 – Anderheit des ~n 80, 105, 237 – hörender ~r (s. a. Hören) 126 – Liebesverhältnis zum ~n 238 – Originalität des ~n 241 – Verhältnis zum ~n 237–238 Anerkennen (s. a. Erkennen) 172, 231, 237, 286, 303 – ~ der Vergangenheit 232 – Methode des ~s 198 – ›Wer fragt, erkennt an‹ 221 Anerkennung 224, 232, 286, 347 – ~sverhältnis 90 – Schein~ 89 Anfang 74, 100, 119–120, 149, 219, 225, 294, 353 Angemessenheit 136 Angst 186, 332, 369 – ~ vor der Zukunft 372 – Todes~ (s. a. Tod) 303 Anliegen 99, 193, 279, 326, 330 Anmaßung 172, 196 – Totalitäts~ 308, 314, 331 Anrede 103, 107, 143–144, 286 – Angeredetwerden 47, 86–87, 94, 358 – Anredefall (s. a. Vokativ) 59, 222– 223, 353–354

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Personen- und Sachregister Anschauung 161–162, 164, 194, 212, 236 Anspruch (s. a. Heißen) 87, 120, 164, 172, 180, 288, 322, 351 – Angesprochenwerden 24, 321, 324 – Ansprechen 101, 103, 171, 219, 227, 288, 352 – ~ an ein Wissen 308 – ~ des Du (s. a. Du) 321, 324–325 – ~seinschränkung 118, 124, 218, 319 – ~stheorie 318–324, 326 – Augenblick des ~s (s. a. Gegenwart) 294, 324, 364 – beanspruchen 97, 169, 171, 323 – Imperativ des ~s (s. a. Imperativ) 89 – Perversion des ~s 323 – Wahrheits~ 171, 209, 293, 321 Antike 157, 174, 215, 229, 344 – ~s Gedankengut 156 – die vier ~n 191 – Frucht der ~n 192 – kosmologische ~ 49, 349 – Tod der ~ 192 Antizipation (s. a. Konjunktiv) 368 Anthropologie s. Mensch Antwort (s. a. Verantwortung) 52, 74, 106, 179, 181, 244, 329, 353, 358, 372 – ~ auf ein Du 354 Antworten (s. a. Verantwortung) 25, 68, 72, 101, 103–107, 138, 201, 283, 312, 317–318, 330, 354, 372 Äon (s. a. Zeit) 152–153 – ~ der Welt 297 – Zeit der ~en 296 Apollon 189 Apostel 192 Aquin, Thomas von 40, 277 Arbeit 184, 194, 234 – ~ des Geistes 113 – ~steilung 178, 181, 224 Aristoteles 113, 154–156, 185, 221, 233, 254, 262, 300, 312, 314 Artikel – bestimmter ~ 55, 71

– unbestimmter ~ 55 Artikulieren 114, 116, 120, 356 – Artikulation 180 – artikulierter Laut 138 – aus~ 111, 119, 143, 145 Ashtekar, Abhay 258 Astrologie 179 Aufforderung 78–79, 105 Augenblick (s. a. Gegenwart, Imperativ) 119, 154, 200, 217, 310, 358, 372 – dem ~ treu 103 – Forderung des ~s 244 – Geltung des ~s 367 – Gunst des ~s 235–236 Augustinus 160, 167 Außen (s. a. Innen, Raum) 194–245, 280–306, 332–343 – Äußere 64, 97, 123, 126, 177 Aussage 322, 321 – ~satz 225 Averröes 156 Barth, Heinrich 230 Beck, Ulrich 90, 195–197 Befehl (s. a. Imperativ) 353 Begegnung 97–98, 102, 160, 309, 311 – Ur~ 273 Begeisterung 220–222, 241 – ~skraft 134 Begreifen 153, 156, 311 – begrifflich 74, 219, 318 Begriff 114, 120, 140, 161, 176, 189, 206, 220, 243, 281, 331 – ~sbildung (s. a. Denken) 169 – ~simpotenz 223 – ontologischer Struktur~ 276 – Verknüpfung von ~en 117 – Verstandes~e 162–163 Begründung 75, 323 – ~sstruktur 322 – Letzt~ 281, 348–349 Behauptung 324, 354 Beobachtung 52, 154, 169, 181, 195 Beruf 179, 190–191 Berufung 109, 193, 292

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Personen- und Sachregister Beschwören 77, 90, 107, 237, 241, 295, 372 Besitz (s. a. Genitiv) 56, 61, 97–98, 103, 178–179, 237, 357 – ~streben 97, 233 – Expropriation der Zeit 296 – Expropriation des Gedankens 66, 331 Bestimmung 191, 281 Bewegung 71, 138, 177, 179–181, 304 – ~en im Kosmos 157, 168 – ~sgeschwindigkeit 156, 166 – Himmels~en 153, 156 Bewusstsein (s. a. Grenze, Selbstbewusstsein) 177, 274, 277–278, 280–281, 293, 325, 344 – ~szustand 322 – ~sinhalt 128, 355 – ~skonstitution 166 – Einheit des ~s 346, 348 – Geschichts~ 231 – Gruppen~ 184 – Klarheit des ~s 114 – Modi des ~s 359 – Zeit~ 273, 370 Beziehung (s. a. Kasus) 100, 303, 354, 358–359, 362 – ~ auf sich selbst 353 – ~ zu einem Geheimnis 238 – ~ zu den Ahnen 179 – ~ zum Du 98, 353 – ~en des Raumes 143 – ~skonstellation 142, 144 – ~squalität 59, 61, 69, 85, 89, 104, 134, 143, 354, 359 – ~svorgang 98–99, 361–362 – Du-Du-~ 106, 108, 308, 341 – Dual~ (s. a. Dual) 144 – Ich-Du-~ 66–67, 98, 101–102, 106, 108, 206, 317, 325, 362 – Ich-Es-~ 100, 354 Bibel 174, 183, 242 Boethius, Anicius Manlius Severinus 160 Böhler, Michael 113–114, 116, 118 Bohm, David 201, 252 Bohr, Niels 251, 253

Boltzmann, Ludwig 264 Born, Max 247, 253 Broglie, Louis de 252, 254 Buber, Martin 14–44, 92–109, 314– 365 Casper, Bernhard 49, 57, 71, 86, 279, 316, 331 Celan, Paul 139 Charakter 113, 122–123, 126, 133, 169, 326, 333 – ~ der Sprache 113, 120, 122 – ~ indelebilis 287 – ~isierung des Ichs 356 – ~istikum 70, 124, 137–138, 218, 238, 276 – ~studium 123–125, 172 Christ 275 Christentum 157, 319, 333 Christi Geburt 191, 298 Christus 193 Chronos 153, 158, 189 – Botmäßigkeit des ~ 152, 173 cogito 344, 346, 352 Connes, Alain 258 Dank (s. a. Kohortativ) 105, 331 Dasein 274–275, 316, 346 – Gesetz des ~s 331 – Sinn des ~s 276 Dativ (s. a. Beziehung, Kasus) 56, 59, 79, 89–90, 105–106, 134–135, 237, 272, 320, 372 – Beziehungsqualität des ~ 322, 325, 374 Dauer (s. a. Zeit) 161, 166, 325 – Stillstand der ~ 366 – unabsehbare ~ 159 Definition 123–124, 200 Denken (s. a. Begriff, Logik) 69, 87, 123, 143, 187, 190, 204, 215, 278, 315 331, 349 – abendländisches ~ (s. a. Abendland) 48–50, 308 – abstraktes ~ (s. a. Logik) 364 – grammatisches ~ (s. a. Grammatik) 92–93

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Personen- und Sachregister – – – – – – – – – –

einsames ~ 62, 140, 314 ~des Wesen 345 Denkfehler 326, 350 Denkmaschine 167 Denkkraft 119 Denkmuster 239 Dialogisches ~ 106, 307 Fragmentierung durch das ~ 201 Gedachtes 161, 277, 331 Gedanken 58, 66–67, 128, 133, 135, 144, 173, 213–215, 345–346 – Gedankengang 165, 216 – Kategorien des ~s 117 – Nach~ 211, 216, 291 – Neues ~ 92, 314, 317 – notwendige Bedingung des ~s 62, 140 – Organismus des ~s 136, 139 – Relevanz des ~s 212, 217 – Stammes~ 178 – Subjekt des ~s 125–127, 347 – Überschätzung des ~s 293 – vorgriechisches ~ 149 – Wesen des ~s 201 – Wunsch~ 72, 356, 368 Denker 51, 67, 73, 213, 217, 297 – reiner ~ 214 Descartes, Renè 106, 281, 344–345 Determinismus 371 Deutungsanstrengung 170–171, 301 Dialektik 49, 307, 309 Dialog (s. a. Gespräch, Logos, Zwiegespräch) 276, 314–318, 372 – vulgärer ~begriff 93 Dialogik (s. a. Haltung) 68–69, 111, 139, 207, 307–313, 318, 329 – Dialogismus (s. a. Weltanschauung) 312 – Kerngedanke der ~ 110 Dialogische 104, 129, 309, 314, 317– 318, 328 Dialogphilosophie 93, 324, 330, 332, 344, 359, 368, 371 – Besonderheit des Ansatzes 350 – dialogisierendes Verfahren 314, 317

– Dialogphilosophen 86, 92, 108, 118, 137, 140, 170, 273, 318, 349, 352 – – Gefahr der Gleichmacherei 343 – Grundgedanken der ~ 63 – Kern der ~ 111, 145 – Relevanz der ~ 326 – Thema der ~ 235, 321 Dichter 151, 297 – Dichtung 170 Dostojewski, Fjodor M. 224 Dritte (s. a. Dual) 81, 84, 87, 144 Du (s. a. Andere, Anspruch, Ich, Wir) 64, 77, 93, 98–99, 106, 143, 225, 315, 322, 324, 344 – Anspruch des ~ 341 – Entdeckung des ~ 353 – im Lichte des ~ 362 – Konkretion des ~ 358 – Sehnsucht nach dem ~ 354 – Verhältnis zum Du 61, 63, 67–68, 73, 97, 142, 189, 357–361, 364 Dual (s. a. All, Beziehung, Dritte) 84, 89, 108, 132, 137, 141, 237, 272, 320, 325 – ›Wander‹-Funktion des ~s 86–88, 90, 140, 144, 233, 242, 372, 374 – ~ der Liebe (s. a. Liebe) 241 – ~gesättigter Plural (s. a. Plural) 86 – ~ismus 143, 242 – ~ als Gemeinschaft (s. a. Gemeinschaft) 87, 322 – »Zwei gleich eins« 81 Ebner, Ferdinand 14–44, 59–69, 92– 109, 314–365 Ehe 176, 190, 232–233, 237 Ehrenberg, Rudolf 333 Eigenschaft 55, 164, 186, 217 – erworbene ~ 172, 231, 299, 339 Einsamkeit (s. a. Ich) 140, 317 – ~ zu zweit 144 Einstein, Albert 157, 245–247, 249, 262 Einstellung (s. a. Haltung) 282, 307, 333

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Personen- und Sachregister Einzelne 55, 109, 114, 129–130, 134, 286–287, 343 Einzigartigkeit (s. a. Situation) 229, 286, 288, 364 Empfindung 138, 161–162, 347, 355 Empirie (s. a. Erfahrung) 120, 132, 161–162, 233, 348 – kritischer Empirismus 349 – naiver Empirismus 331 Entspringen (transzendental) 120 Entstehen 119, 149 Entwicklung 128, 134, 180 – ~sstammbaum 329 – ~sziel 301 – gesellschaftliche ~ 195 – Ideen~ 135 Erben (s. a. Zeitigung) 184, 188, 222, 235–236, 241, 300 – Vermächtnis 294, 299 Ereignis 151, 181, 187, 192, 228– 229 – Anderheit des ~ses 303 – ereignetes ~ 231, 234, 369 – nicht totzukriegendes ~ 174, 234, 338 – Sich Ereignen 48, 207, 235, 242, 244, 272, 307, 337, 341 Erfahrung (s. a. a posteriori, Empirie, Erlebnis) 97, 163, 184, 229, 233, 360 – ~ssituation 164, 274 – innere ~ 347–348 Ergänzung (s. a. Ganze) 240–241, 290, 311, 334 Erinnerung 138, 168, 210, 274 Erkennen (s. a. Anerkennen) 89, 173, 216, 344, 347, 359 Erkenntnis (s. a. Anerkennen, Widerspruch) 89, 142, 161–162, 173, 278, 336, 346, 366 – ~arten 188, 322, 324 – ~ebene 165, 276 – ~fragen 165, 277 – ~theoretisch 165, 307, 312 – ~wahrheit 40–41, 277 – mehrstimmige ~ 199 – soziale ~verfahren 199, 202

– Wert der ~ (s. a. Indikativ) 123, 198, 207, 332 Erlebnis (s. a. Erfahrung) 66, 72, 74, 143, 223, 315, 319, 360, 369 Erlösung (s. a. Kohortativ) 86, 88, 104, 110, 370 – grammatische ~sstruktur 90, 296– 297 Ernst (s. a. Spiel) 61, 212, 228, 234, 289, 294, 309, 341, 372–373 – ~fall 210, 213, 217, 339 – ~haftigkeit 115–116, 121, 173, 219, 239, 320, 325–330 Erscheinung 123–124, 140, 161–164, 211 Erzählung (s. a. Indikativ) 71, 73, 77, 89, 167, 225, 228, 230 – Erzähler 72, 78, 294 – Erzählmodus 279, 332 Es (s. a. Du, Ich, Wir) 98, 284 – Es-Welt 363 Euripides 152 Ewigkeit (s. a. Dauer, Zeit) 153–154, 158–159, 166, 168, 309, 366–367 Experiment 201, 204–205, 223, 226, 304 Fakt 162, 172, 324, 357–358, 361 – alternative ~en 323 – historische ~en 171, 231 – Post~isch 69, 312, 328, 361, 363– 364 Falsifizierung 226, 332 Feier (s. a. Vergangenheit, Zukunft) 228, 232, 234, 294, 341 – Stammes~ 177, 179 – ~n 176, 235, 244, 272, 337 – ~tag 174, 234–235 – Fest 175, 182, 338 Fichte, Johann Gottlieb 348 Flexion 132, 215 Form 161, 172, 214, 216–217 – ~en a priori 162–163 Forschung (s. a. Dual, Wandern) 214, 233, 311 – Forscher 178, 223–224, 291 Fortschritt 134, 154, 190, 367

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Personen- und Sachregister Freier (s. a. Liebe) 240–241 Freiheit (s. a. Raum) 172–173, 181, 241, 298, 307–309, 318, 348 – ~ des noch nicht Organisierten 242 – ~ vom Tode 190 – scheinbare ~ 193 – zeitbegrenzte ~ 152 Freizeit s. Zeit Freud, Sigmund 213 Freundschaft 81, 90, 241, 305 Frieden 233, 241, 309 – ~sbedingungen 283 – ~sordnung 232 – Unmöglichkeit des ~s 310 Fundamentum inconcussum 342, 344–345 Futurum s. Konjunktiv Fürwort 55, 142–143, 284 Ganze (s. a. All, Organismus) 90, 101, 126, 180, 216, 225, 289, 311–312 – (noch unausgesprochene) Ganze 115–119, 121–122, 330, 143, 374 – Ganzheit 74, 84, 90, 101, 119, 132, 281, 362 – – sprachliche Ganzheit 117 – – vorläufige Ganzheit 85 – Teil des ~n 114–115, 141 – Wesen des ~n 201 – Zeit-Gänze 302 Gattung 84, 98, 351, 358 – Vertreter einer ~ 55–56 Geburt 177, 222, 294, 298, 300, 302 Gedächtnis (s. a. Geschichte) 190, 361, 367 – Raum- und Zeit~ 177 Gegenseitigkeit 241, 316 Gegenstand 57, 83, 142, 161–164, 212, 347 Gegenüber (s. a. Andere) 309–311 Gegenwart (s. a. Augenblick, Kairos) 71–80, 227–245, 294–298, 367, 372, 375 – Erstmaligkeit der ~ 231 – gegenwärtig (s. a. Geschehen, Zeitigung) 151, 160, 167, 278, 371

– Imperativ (s. a. Imperativ) 244, 325, 340 – Kraft der ~ 108, 317 – Offenbarung (s. a. Offenbarung) 333 – permanente ~ 153 – reine ~ 161, 293 – Vergegenwärtigung 274 – ›vulgäres‹ Verständnis von ~ 184 – zeitlose ~ 154 Geheimnis (s. a. Gott) 196, 316 – Beziehung mit dem ~ 303 – sein-/zeitlassendes ~ 296 Gehorsam (s. a. Hören) 287–288, 358 Geist (s. a. Logos, Reflexivum) 127, 133–135, 160–161, 213, 217, 221– 222, 234 – Ahnen~ (s. a. Ahn) 176 – Arbeit des ~es 114 – Beitrag des ~es 218 – ~ der Menschheit 130 – ~ als etwas Allgemeines 350 – ~ig 63–65, 67, 122, 359, 361 – Geschichte des ~ (s. a. Geschichte) 300 – griechische ~esart 186, 189 – Organismus des ~ (s. a. Organismus) 87 – Terminus des ~es 166 – vom ~ getragen 220 – Welt~ 315 – zeitleerer ~ (s. a. Zeit) 229 Geister 176, 182–184, 232 Geisteswissenschaft s. Wissenschaft Gelübde (s. a. Namen) 221–222 Gemeinschaft (s. a. Dual, Liebe, Plural) 77–79, 85–87, 186, 195, 234, 239–241 – ~sbildende Kräfte 108, 242 – ~sformen (s. a. Numerus) 80 – Mittel des Gemeinwesens 239 – Sprach~ 46, 117, 128, 130 Generation (s. a. Welt (2)) 175, 178, 190, 192, 283, 293, 301–302, 367 – ~enzusammenhang 177, 282, 341 Genitiv (s. a. Besitz, Kasus) 56–70, 97–98, 105, 134–135, 344, 359

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Personen- und Sachregister Genus verbi (s. a. Aktiv, Medium, Passiv) 355–356 Gericht 150, 179, 226, 367 – Furcht vor dem ~ 372 Gesang s. Zwiegesang Geschehen (s. a. Verb) 52–53, 70–71, 74, 113–114, 118, 200, 202, 205, 229–231, 358 Geschichte (s. a. Vergangenheit) 88, 121, 145, 170, 177–178, 181, 192, 229, 292 – Geistes~ 51, 153, 155–156, 277, 300, 367 – ~ der Zeitauffassungen 151 – ~sgedächtnis (s. a. Gedächtnis) 177 – ~sunterricht 171–172, 230–232 – Heils ~ 150, 157 – Maßstab der ~ 189 – Träger der ~ (s. a. Traject) 293, 301 – Verlauf der ~ 88, 363 – Welt~ 211 – Zeitigung der ~ (s. a. Zeitigung) 229 Geschlecht (s. a. Generation) 233, 236, 239, 290, 302 Gesellschaft 197–199, 203–204, 225– 226, 292, 317 – ~ des Alltags 242 – ~liches Herkommen 305 – ~sordnung 234 – Grammatik der ~ 131–132, 135, 141 Gesetz 184, 294, 311, 372 – ~ der Reiche 182 – ~ der Stämme 182, 370 – ~e einer polis 187 – Natur~ 156, 181, 190, 370 Gespräch (s. a. Dialog, Zwiegespräch) 66, 184, 218, 223, 309, 313–316, 325 – ~spartner 101, 127, 313, 320 – ~steilnahme (s. a. Sprechen) 220 – Selbst~ 61, 68, 316 – Streit~ 225 Gewissheit (s. a. Meinung, Wissen) 144, 166, 313, 323, 342, 345 – Un~ 120, 217, 365–366, 369 Gleichzeitigkeit s. Zeit

Goethe, Johann Wolfgang von 118 Goldschmidt, Hermann Levin 307– 343 Gott (s. a. Geheimnis) 67–69, 98, 155, 160, 181–184, 296, 322, 368 – Anthropomorphisierung 189 – ~ Israels 158, 182 – ~eserfahrung 349 – ~eskraft 318 – göttlich 348, 358, 361, 363 – Täuscher~ 345 – Verhältnis zu ~ 68, 358 Grammatik (s. a. Denken, Logik) 46– 47, 59, 70, 279, 326, 343, 354 – Ernstnehmen der ~ 52, 330, 368 – Erwerb grammatischer Strukturen 122, 329 – Figuren der ~ 172, 195 – Formen der ~ 77, 81–83, 117, 136, 140–141, 224, 368 – – Formenreichtum/-Armut 131– 133, 135, 220 – ~analyse 96, 170, 343 – grammatische Fiktion 358 – grammatische Struktur 90–91, 104, 219, 307 – halbe ~ 132, 330 – Schul~ 45–47, 76, 143, 223, 225 – soziale ~ 184 – Stellenwert der ~ 195 Grätzel, Stephan 60, 79, 88, 99, 329 Grenze (s. a. Bewusstsein, Ganze) 67, 101, 119, 155, 166, 173, 204, 278 – Das Du grenzt nicht 362–363 – Das Ich-Es grenzt 142, 363 – ~ von Erkenntnis 166, 277, 366 – ~nlos 149 Griechentum s. Zeitwort Haltung (s. a. Einstellung, Modus) 201–202, 282, 312, 318, 356, 360 – dialogische ~ (s. a. Dialogik) 99, 307–308, 316 – feststellende ~ 97 Handlung 76, 84, 138, 142, 151, 168, 223, 347

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Personen- und Sachregister Harren (s. a. Warten, Zeitigung) 184, 191, 293, 297–298 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 29, 49, 139, 165–166 Heidegger, Martin 29, 50, 52, 72, 165, 184, 197, 274–275, 277–280, 284, 338, 355 Heinze, Eva-Maria 62 Heißen (s. a. Namen) 288–289, 293, 295, 297, 301, 321, 338, 340, 352– 353 – Geheiß (s. a. Imperativ) 76, 99, 223, 225, 228, 286–288, 358 – Verheißung (s. a. Zukunft) 72, 88, 182, 224, 366, 372–374 – – ver~ 108, 167, 208, 228, 341 Heisenberg, Werner 254–255 Heraklit 152, 218 Herder, Johann Gottfried 121, 138, 330 Hesiod 153 Heute (s. a. Gegenwart) 75, 233, 242– 244, 275, 371–372 – Heutzutage 48, 178, 194, 220 Himmel 178–179, 180–183, 185, 193, 233 Hochzeit s. Zeit Hoffnung s. Konjunktiv Homer 152, 185–189, 242 Hören (s. a. Sprechen) 113, 127, 137– 140, 218, 279, 320, 327–328, 352 – ~ als energeia (s. a. Sprache) 113 Hörer (s. a. Sprecher) 76–77, 137– 143, 187–188, 280–290, 325–328, 352, 354 – Zu~ 138–139, 327 Humboldt, Wilhelm von 80–91, 110– 148, 170–172, 218–219, 221–223, 329–330 Husserl, Edmund 275, 281 Ich (s. a. Du, Es, Subjekt, Wir) 62, 68, 73–75, 344–365 – Allgemeinheit des ~s (s. a. Individuum) 350 – ~ als Seinsweise (s. a. Modus) 355– 359, 362–364

– Eigenwesen (s. a. Wesen) 360 – Empirisches ~ 331, 346–347 – Genese des ~s 47, 65, 344–345, 351–352, 354 – ~einsamkeit (s. a. Einsamkeit) 61– 63, 87, 97, 142, 189, 357–358 – intelligibles ~ 62, 346–347 – Projektion des ~s 66, 68, 360, 364 – Stellenwert des ~s 65 Idee 68, 134, 185, 213, 241, 276, 358 Ideologie s. Weltanschauung Imperativ (s. a. Gegenwart, Heißen, Modus, Zeitigung) 70–80, 106, 276, 284–288, 372–373 – Demut des ~s 76, 78 – Subjektlosigkeit des ~s 74, 102 – Transformationskraft des ~s 206 Indikativ (s. a. Erzählung, Modus) 70–72, 89, 105, 284, 328, 330–331, 340, 360 Individuum (s. a. Ich, Subjekt) 55, 116, 166, 221, 227, 351, 358 – Charakter eines ~s 65, 123, 290 – Individualisieren 186 – Individualismus 350 Infinitiv 58 Information 89–90, 323–324 Initiative 237 – absolut ohne ~ 303 Inkarnation 229 Innen (s. a. Außen, Raum) 194–244, 281–306 Innovation (s. a. Markt, Zukunft) 273, 370 Instrumentalis 59 Intention 106–107, 115–117, 119, 131–133, 141, 143–144, 166, 180, 215, 275, 316, 360 – dialogische ~ 326–329 – Sprecher-/Hörer~ (s. a. Sprache) 325–326 – ~ im Kohortativ 78, 105, 108, 237, 296, 317, 322 Intersubjektivität 166, 317 Ironie 171–173, 351 Ismus (s. a. Weltanschauung) 50, 198, 208–209, 226, 307, 332, 373

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Personen- und Sachregister – – – – – –

Abwege in Ismen 209, 312 Dialogismen 312–313 Dual~ 81, 88 Human~ 186, 189, 193, 290 Ideal~ 143, 166, 186, 331 – Deutscher Ideal~ 167, 228, 345, 348, 350 – Idealisten 171, 350–351, 355, 357 – Ismen-Anbeter 88, 194, 312 – Mon~ 49–50, 87–88, 91, 281 – Nihil~ 72 – Okkult~ 350–351, 355 – Relativ~ 72, 92, 312 Israel 159, 175, 182–183, 190–193, 213 Jahr 191–194, 208, 229 Jahrtausend 177–178, 232 Jesus 192–193 Jetzt (s. a. Gegenwart, Heute) 159, 166, 183, 236 – Hier und ~ 74, 227, 358 – ~punkt 155, 273 – Sinn für das ~ (s. a. Kairos) 236 Judentum 86, 333, 366 Jugend (s. a. Zeitigung) 288–289, 291, 293, 335 Kaironomie 169–173, 206–207, 209, 235, 272–273, 278, 302–303, 307, 333, 342–343 Kairos (s. a. Gegenwart) 152–153, 155, 158, 235–236, 244, 302, 333– 334, 343, 367 – erfüllter ~ (s. a. Heißen) 159, 337, 340 – unbekannter ~ 342 Kalender (s. a. Zeit) 169, 173, 184, 191–194, 199 – Fest~ (s. a. Feier) 150, 234–235, 338 – ~kunde 170–171 – ~typen 172, 175 – Macht der ~ 272 – Privat~ 208–209, 298 – Stammes~ 176, 232, 370 – totalisierter ~ 193, 331

– Vielzahl an ~n 174, 195 – Volks~ 371 Kant, Immanuel 28, 37, 118, 120, 123–124, 161–164, 170, 173, 235– 236, 269, 274, 280, 301, 346–349, 351, 355 Kasus (s. a. Beziehung) 45, 56, 59, 132, 134–135, 223 – ~ rectus (s. a. Nominativ) 62 – oblique ~ (s. a. Akkusativ, Dativ, Genitiv) 61–63, 93, 102, 352–354, 357–358 Kausalität (s. a. Ursache) 203–204, 223, 330 – Umkehrung der Kausalstruktur 322 Kepler, Johannes 156 Kierkegaard, Søren 50, 52, 109, 171, 210, 275, 324, 332, 348–349, 361 Koexistenz 309–310 Kohortativ (s. a. Dank, Erlösung, Modus, Zukunft, Zwiegesang) 78–79, 85, 272, 284, 320, 325, 372 – Anerkennung (s. a. Anerkennung) 89 – Aufgefordert/Auffordernd 105– 106 – Pole des ~s 298 Kollaboration 310 Kollektiv (s. a. Dual, Plural) 81, 85, 237, 239, 373 Kommunikation (s. a. Sprechen) 124, 311, 325–328 Komplementarität 311 Konjugieren 45–47, 115, 141, 285 Konjunktiv (s. a. Indikativ, Möglichkeit, Modus) 70, 204, 296, 331, 336, 342, 356, 366 – Futurum (s. a. Zukunft) 72, 89, 204, 238, 284, 290, 337, 340, 369, 372, 374 – – Tempus Futurum 365, 368 Konkurrenz 309–310 Kontinuum 155, 203, 208, 260, 274 Konvergenz 309–310 Kooperation 310–311 Koordination 166, 310–311

393 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Personen- und Sachregister Kopula ›sein‹ 57–58 Korrelation 311 Korrespondenz 320–321, 324 Kosmos 157, 168, 181, 184, 281 Kreuz der Wirklichkeit (s. a. Orientierung) 194–245, 272–306, 332–343 – Orientierung im ~ 285 – Quellpunkt des ~ 206 Krieg 177, 232–234, 338, 373 Kultur 151, 174, 209, 213, 226, 297 Kunst (s. a. Zukunft) 170, 185, 187– 189, 191, 194, 214, 222, 369–370 Kurzweil (s. a. Zeit) 168 Langeweile (s. a. Zeit) 168 Laut 137–138, 215 Leben 176–177, 189, 201–202, 218, 228, 278, 298, 327, 369 – Dialogisches ~ 317 – Erholung vom ~ 212 – ewiges ~ 159, 303 – ~digkeit 169, 227, 302–305 Lebewesen s. Wesen Leib (s. a. Medium) 215, 232, 344, 355–356, 372 Leibniz, Gottfried Wilhelm 120, 262 Levinas, Emmanuel 237–238, 303, 355 Liebe (s. a. Gemeinschaft, Scham) 77, 90, 107–108, 237, 305, 362 – Grammatik der ~ (s. a. Dativ, Dual, Imperativ) 107, 241 – ~n 238, 240–243, 290, 339 – Selbst~ 340 Logik (s. a. Grammatik) 46–49, 59, 195, 203, 220–221, 224, 301, 326, 330, 346–347, 349, 354 – logisch 299, 319, 341 – logisch Denken (s. a. Denken) 51, 70 Logos (s. a. Dialog, Sprache) 74, 160, 218, 302, 315–319 – Imperativ des ~ (s. a. Imperativ) 227 – ~ als Nennkraft 227, 293, 301–302, 318

Lokativ 59 Lüge 67, 69, 315–316, 319–320, 328 Macchiavelli, Niccolò 280 Mannigfaltigkeit 135, 311, 347 Markt (s. a. Innovation, Zukunft) 370–371 Maßstab (s. a. Orientierung) 155– 156, 160, 171, 239, 333, 356, 374 – Einzelleben als ~ 299 – ~ für Handlungsfreiheit 291 – Maß aller Dinge 49, 189, 334, 340 – ~ der Wissenschaft 311 – ~ für Verantwortung 104 – ~ I 102, 308, 334–337, 339, 342, 349, 360 – ~ II 100, 206, 220, 226, 335–337, 339, 342, 349 – ~ III 218, 272, 337, 339, 343 – ~ IV 207, 244, 272, 337–338, 341 – – Verweisungscharakter von ~ I – IV 342 – ~s-Problem 50, 332, 349, 361 – ›methodischer‹ ~ 136 – Schibboleth der Menschheit 360 – soziologischer ~ 198–199 – ~ zur Selbstüberprüfung 308–309 Medium (s. a. Leib) 356 Meinung (s. a. Gewissheit, Wissen) 102, 308, 321, 334, 360 – Anspruch einer ~ 323 – ~sbildung 312 Mensch (s. a. Person) 121, 158, 189, 195, 285, 292, 299–300, 304, 315, 317, 350, 357, 362 – allzu~lich 363 – ~ als Tageswesen 152, 341 – angesprochener ~ 61, 322, 352 – anthropologisches Anliegen 226, 236, 302, 366 – Bewährung des ~en 372 – Des ~ Natur 151, 174 – durchschnittlicher ~ 351 – Einzigartigkeit des ~en 282–283, 288, 353–354 – Geheimnis des ~en 196 – Geist des ~en 129

394 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Personen- und Sachregister – – – – – – –

Homo Migrans 177 Ichpersönlichkeit des ~en 358 Inventur der ~heit 210 Lebenskraft des ~en 152 ~ als Reflexivum 218 ~enalter 281–282 ~engeschlecht 47, 86, 134, 272, 289–290, 298 – ~entyp 189 – ~heit 122, 235, 329–330 – ~liches Dasein 274–275 – Mit~ 98, 194 – Pole des ~tums 359 – Seinsweise des ~en 274 – sprachbegabt 48, 114, 117, 318–319 – Veränderung des ~en 101, 305 Metaphysik (s. a. Ontologie) 49, 123– 124, 276–278, 322 – Geschichte der ~ 52 – Letztbegründungs-Instanz 348 – meta-metaphysische Fragen 48 Methode (s. a. Grammatik) 70, 92, 112, 195–198, 226, 369 – methodisch 123–124, 312 – methodisch wiederholbar 370 – weltanschauliche ~n 335 Mittelalter 49, 156, 344, 349 Mittelstraß, Jürgen 33, 244, 322 Modus (s. a. Haltung, Kasus) 45–91, 278, 284, 340, 353, 365, 374 – Du-Du-~ (s. a. Kohortativ) 106, 108, 325 – Ich-Du-~ (s. a. Imperativ) 96–109, 307–308, 353, 355, 362–363 – – ~ der Verwandlung 74, 371 – Ich-Es-~ (s. a. Indikativ) 96–109, 308, 328, 353, 355, 363 – Möglichkeits~ (s. a. Konjunktiv) 337 – Seinsweise 70 – Verhältnis von ~ zu Tempus 366 Möglichkeit (s. a. Konjunktiv) 129, 238, 319, 335, 346 – allgemeinste ~. 366 – ~sraum 368 Monolog (s. a. Dialog) 69, 309, 313, 317

– dialogisch verkleideter ~ 309, 316 Muße 185–186, 190, 194 Mystik 106, 363 Nachkommen (s. a. Zeit) 229, 232– 233 Name (s. a. Vokativ) 173, 176, 183, 188, 191, 233, 241, 293, 297, 373 – Eigen~ 55–56, 75, 98, 222, 224, 285–289, 353, 358 – sich einen ~n machen 340 – Macht der ~n (s. a. Zwang) 220, 223, 225 – ~n als Geheiß (s. a. Heißen) 374 – Nennen (s. a. Logos) 60, 241, 243, 352 Nation (s. a. Sprache) 116–117, 123, 128–130, 133–134, 215 – Charakter von ~en 122 Natur 65, 80–81, 92, 98, 118, 143, 173, 183, 233, 244, 289, 319, 367 – ~zyklus 158, 366 Naturwissenschaft s. Wissenschaft Neues Testament 159, 192–193 Neuzeit 49, 157, 290, 349 Newton, Isaac 261–262 Nichts 163–164, 236, 238, 274 Nida-Rümelin, Julian 326–327 Nietzsche, Friedrich 238 Nominativ (s. a. Kasus) 56, 59, 61, 63, 74, 79, 93, 189, 223, 307, 352–353 Numerus (s. a. Dual, Plural, Singular) 59, 80, 237 Object (s. a. Präject, Subject, Traject) 203, 219–220, 226–227, 284, 360 Objekt 56, 129, 144, 355, 358 – ~ivität 62, 66, 68, 126–128 – – gehörte ~ivität 137 – – subjektbezogene 140 Offenbarung 52, 75, 102, 104, 166, 191, 333–334 – Imperativ der ~ (s. a. Imperativ) 63, 307 – ~ als Orientierung (s. a. Orientierung) 333 – ~ als Zeitigung (s. a. Zeitigung) 276

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Personen- und Sachregister Ohr s. Hören Ontologie (s. a. Metaphysik) 149, 276–277 – ontologisch 56, 61, 68, 84, 160, 172, 344, 348, 357, 359, 368 – – ~e Differenz 165, 277–278, 280, 284 – – ~e Hebungsfunktion 140 – – ~er Status 163, 343, 347, 358, 363 Organisation 181, 242 Organismus (s. a. All, Ganze, Sprache) 116–119, 126, 128, 136 Orientierung (s. a. Offenbarung) 49, 75, 88, 180–181, 206, 244, 284–285, 342, 362–363, 374 – orientieren 119, 122, 143, 153, 176, 199, 333, 359 – ~ durch Maßstab I–IV (s. a. Maßstab) 90, 341 – ~slosigkeit 191, 193–194, 208–209, 361 – ~smaßstab (s. a. Kreuz der Wirklichkeit) 91, 169–170, 194, 228, 308, 335, 337, 343 Originalität 239, 288–289, 298, 335, 339, 354 Ort 187, 318, 325–326 Ostern 193 Pajević, Marko 94–95 Parmenides 29, 276 Partizip 58 Passiv 56, 355–357 Performanz 48, 64, 73, 79, 325 Person (s. a. Mensch) 286, 303, 358– 359, 360, 362–363 Personalpronomen 45–46, 59, 62, 71, 73–74, 142–143 Pfingsten 193 Philosophie 70, 77, 120, 149, 170, 185, 188, 278, 329–331 – Sprach~ 81, 110, 138, 194 Physik (s. a. Zeit) 169, 173, 194, 204 – Atommodell 248, 250–251 – ~er 202, 223, 268–270, 304

– Quantentheorie 246, 248, 253– 254, 257–261 – – Loop-Theory 247, 258, 261–262, 268, 271–272 – – Plancksches Wirkungsquantum 245, 249, 259 – – Planck-Zeit (s. a. Zeit) 250, 260, 262–263, 267, 271 – – Stringtheorie 247, 258, 261 – – Zeit als das Unbekannte 261, 264–265, 266–269, 271 – Raumzeit der ~ (s. a. Zeit) 202, 247, 258, 260–261, 267, 270–271 – Relativitätstheorie 257–258 – t-Variable (s. a. Zeit) 247, 261–265, 269–272 – Weltanschauung der ~ 267–268 Pindar 153 Planck, Max 245–246, 248–249, 251 Platon 29, 152–154, 156, 158, 185– 186, 190, 262, 276, 300, 314 Plotin 156 Plural (s. a. Dual, Singular) 80– 88, 233, 237, 297 Pneumatologie 65, 93, 315 Poesie 187–188, 190–191, 319 poiema 171, 189–190 Polemik 171, 350 Politik 174, 179, 181, 194 Pontifice 294, 297, 338–340 Popper, Karl 349 Pragmatisch 137, 141, 143, 150, 156, 165, 332 Prägung 111, 205, 293 – Gepräge 47, 114, 129 Präject (s. a. Object, Subject, Traject) 202–26, 208, 221, 227–228, 244, 284, 341, 360 – präjicieren (s. a. Zeitigung) 206, 217, 219–220 Präposition 132, 134, 143 Projektion 175, 209, 326, 364, 368– 369 – projizieren 181, 185, 190, 195, 199, 208, 216, 244, 302, 331, 337, 366, 371 Pronomen s. Fürwort

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Personen- und Sachregister Prophet 182, 294, 365 Protest 291–292, 297, 336 Provokation (s. a. Vokativ) 63, 223 Psychoanalyse 213 Psychologie (s. a. Seele) 46, 65, 235, 322, 345–347, 350–351, 353 – psychologisch 168, 224, 278 Publikum 187–188, 190–191 Qualität 50, 72, 144, 324, 349, 373 Quantentheorie s. Physik Quantität 136 195, 366 Rationalität (s. a. Vernunft) 201, 221, 226, 244, 305 Rätsel (s. a. Geheimnis) 196 Raum (s. a. Zeit) 118, 152, 161–164, 174, 190, 198–199, 204, 212, 216, 243, 322, 324, 337, 356, 370–373 – Außen~ (s. a. Außen) 173, 187 – Frei~ (s. a. Freiheit) 171, 173, 185– 186, 189, 210 – Innen~ (s. a. Innen) 175, 187, 199, 206, 208–209 – Koordinaten im ~ 153, 228 – ~ des Vergleichs 185–186 – ~genossen 193, 232 – Räumliche 163–165, 172, 183, 302 – Spiel~ (s. a. Spiel) 211, 217 Raumzeit s. Zeit Realität (s. a. Wahrheit) 64–65, 68, 73, 328, 363 – empirische ~ 163–164, 274 – scheinbare ~ 361 Rede (s. a. Sprechen) 133, 221, 226, 316 Reflexion (s. a. Logik) 206, 211, 215, 219 – Gesetz der ~ 200, 212, 214 – Indikativ der ~ (s. a. Indikativ) 278 – Innenraum der ~ (s. a. Raum) 203, 216 – reflektieren 124, 201, 211, 233, 275 – Selbst~ 274 Reflexivum (s. a. Activum) 201, 209– 212, 217, 322, 330 – Relevanz des ~s 218

Reich s. Zeitwort Relation (s. a. Maßstab, Relevanz) 50, 170, 188, 190, 199–200, 206, 214, 217, 220, 226, 244, 284, 324, 335– 336 – ~ zum Kairos (s. a. Kairos) 342 – ~ zur Wahrheit (s. a. Wahrheit) 332 – ~ zur Welt (s. a. Welt (1)) 213 – ~ zur Wirklichkeit (s. a. Wirklichkeit) 218 – ~ierung (s. a. Relativierung) 100, 209, 212, 312, 272, 330, 340, 368 Relativierung 72, 139, 324, 368 Relevanz (s. a. Relation) 100, 188, 190, 199, 207, 217, 219–220, 226, 324, 335–337, 344, 363 – ~ des Denkens (s. a. Denken) 212 Ritzkowski, Ingrid 284 Rosenstock-Huessy, Eugen 14–48, 70–91, 149–244, 272–306, 314– 360, 365–376 Rosenzweig, Franz 14–44, 48–59, 70– 91, 314–376 Rovelli, Carlo 258, 262–271 rückwärts (s. a. vorwärts) 177, 202, 210, 227, 281, 284, 289, 291, 295, 298–299 Rutherford, Ernest 250–251 Sabbat 182, 184–185 Satz (s. a. Sprechen) 45, 48, 51, 56, 61, 71–72, 76, 129, 133, 319–320, 325, 372 Scham 235, 340 – ~ ersparen (s. a. Liebe) 238, 241, 305, 339 Schapp, Wilhelm 230 Schein (s. a. Sein) 48, 70, 124, 127, 211–212, 276, 319 – ›seiend‹ gebärdender ~ 330 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 166–167, 227 Schicksal 202, 292, 317, 350–351 Schiller, Friedrich 123 Schmid, Manfred A. 93, 108, 278, 284 Schöpfung (s. a. Indikativ) 102–104, 333

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Personen- und Sachregister Schrödinger, Erwin 246, 252 Schule (s. a. Raum) 189, 203, 287, 338–339 – Schulstunde 211, 216–217 Seele (s. a. Psychologie) 154, 160, 169, 190–191, 241, 344–345, 357 – Durchschnitts~ 351 – ~nkunde 47, 70, 368 Sehnsucht 180, 223, 241, 290, 354 Seiendes (s. a. Sein) 54, 70, 274–277, 281, 312, 355, 357 – Mit-~ 359 Sein (s. a. Zeitlichkeit) 48, 66–67, 70, 74, 312, 318, 320, 325–326 – am ~ teilnehmen (s. a. Kasus) 97, 165, 322, 359 – Charakteristika des ~s 87, 276, 278, 331 – Erscheinung des ~s 164, 319 – ~ des Andern 107 – ~ des Seienden (s. a. Seiendes) 277 – ~ im Imperativ (s. a. Imperativ) 99 – ~sweise (s. a. Modus) 274, 284, 355, 357 Selbst (s. a. Ich, Kasus) 221, 349, 356 Selbständigkeit 218, 238–240, 244, 335, 350 – Selbsteinschätzung 356 – Selbstführung 338 Selbstbewusstsein (s. a. Bewusstsein) 47, 49, 77, 210–212, 216, 352, 354 Singen s. Zwiegesang Singular (s. a. Dual, Plural) 24, 84, 86 Sinne 137–138, 161–162, 215, 346– 347 Sittlichkeit 231, 239, 240–241, 307 Situation (s. a. Einzigartigkeit) 71, 103, 309, 312, 373 – situativ 319, 326 Smolin, Lee 258 Sokrates 322 Sorge (s. a. Zeitlichkeit) 275 Soziologie 165, 199–201, 236, 272, 307, 343 – Anspruch der ~ 172, 196 – Soziologe 195, 198, 202–203, 206, 219

– soziale Wirksamkeit 213–214, 319 Spiel (s. a. Ernst) 133, 152, 203, 210– 214, 228, 234, 294, 319, 341 – Relevanz des ~s 217, 369 – ~en 185, 272, 289–290, 293, 337 – ~platz (s. a. Raum) 223, 226, 240, 302, 339 Sprache (s. a. Logos) 48, 66, 68, 70, 187, 191, 214, 218, 318, 354, 371– 374 – ~ als Kommunikationsmittel (s. a. Kommunikation) 73, 219 – Charakteristika der ~ (s. a. Charakter) 62, 87, 112, 115, 137–138, 286 – Einzel~ 128–130, 134–136, 219– 220, 222, 241, 356 – energeia der ~ (s. a. Hören, Sprechen) 112–114, 122, 137, 139, 337 – Genese der ~ 63, 114–115, 120, 133–134, 219, 225, 315, 330 – Organismus der ~ (s. a. Organismus) 83, 86–87, 116–119, 126– 127, 130, 132, 143–145 – Sprachbund (s. a. Nation) 243, 341 – Typus der ~ (s. a. Typos) 114–117, 122, 128, 131, 180, 215 – – Urtypus der ~ 141–143 – Ursprung der ~ 46, 69, 73–74, 119– 122, 140, 142, 219–222, 224, 329– 331 Sprechen (s. a. Gespräch, Hören, Sprache) 54, 57, 62, 65, 67, 113, 119, 125–126, 129, 140, 143, 215, 352 – Aktualität des ~s 64, 69, 71, 222, 226, 316, 319 – gesprochene Sprache 103, 137– 138, 221, 319–321, 326–330, 366 – – schamhaft Gesprochenes (s. a. Scham) 239 Sprecher (s. a. Hörer, Sprache) 76–77, 87, 105, 118–119, 126–129, 134– 137, 140–142, 218, 227, 282, 320– 331, 352–354 Stamm s. Zeitwort Sterben 181, 186, 239–240, 299–300, 303

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Personen- und Sachregister – sterblich 192, 229, 283 – unsterblich 188, 295, 298, 302, 348 Stern s. Himmel Stimme 126, 138–139, 201–202, 283 Stunde (s. a. Zeit) 158, 217, 235, 289 Subject (s. a. Object, Präject, Traject) 203–204, 206, 217, 219–221, 227– 228, 284, 360 Subjekt (s. a. Ich) 126–129, 137, 140, 144, 222, 303, 346–348, 355, 358 Subjunktiv 45, 132 Substantiv 53, 142, 158, 217, 355 Substanz 355 Sühne 232–234, 338 – Versöhnung 79, 88, 234 Sukzession s. Zeit Synchronisation 175, 180, 216, 322 Synthese 57, 66, 126–127, 157, 309 Tabelle 47 Tag (s. a. Zeit) 121, 134, 158–159, 180, 183, 234, 275, 298, 303, 328–329 Taleb, Nassim Nicholas 90 Tat (s. a. Imperativ) 76, 103, 229, 291 – Täter 320, 322 Tätowierung 178 Tatsache (s. a. Fakt) 225, 292, 320, 363 Technik 131, 369–370, 374 Tempel (s. a. Reich) 178–179, 181, 370 – Zerstörung des ~s 192 Temporalität s. Zeitlichkeit Tempus (s. a. Modus) 365, 368 Tetens, Holm 48, 321 Theologie 70, 111, 194, 277 Theunissen, Michael 94, 110 Thomson, Joseph John 250 Thukydides 190 Timing s. Zeit Tod (s. a. Leben) 88, 173, 176–177, 181–189, 201–202, 208, 213, 278, 282, 294 – angesichts des ~es (s. a. Zukunft) 152, 238–239, 283, 198–299, 303 – Definition des Toten (s. a. Zeit) 205, 304–305 – Geist der Toten (s. a. Stamm) 182, 184

– täglich lauerndes Verderben (s. a. Zeitlichkeit) 152, 300–303, 341 Tomasello, Michael 329 Trabant, Jürgen 57, 111, 117, 119, 138, 330 Tradition 104, 111, 336 – ~en Humboldts 112, 145 Traject (s. a. Geschichte, Object, Präject, Subject) 202–203, 206, 208, 219–220, 227–228, 231–234, 244, 284, 338–341, 360 Transparenz 48, 59, 225 Transzendental 101, 120, 164, 171, 231, 274, 286, 334, 339, 341–342, 346, 366 – Bedingung der Möglichkeit 162– 165, 274–275, 339 – rein (im ~en Verstande) 161 – ~e Idealität 163–164 – ~e Quelle der Sprache 120 – ~er Ansatz 163 – ~philosophisch 171, 276 Typos (s. a. Sprache) 114–117, 126– 127, 130, 132 Überraschung (s. a. Zukunft) 224, 373 – ~seffekt 369–370 Uhr (s. a. Zeit) 155–157, 168–169, 235, 299–300 unbekannte Unbekannte (s. a. Gewissheit) 88, 90, 116, 197, 244 Universum 155, 183, 281–282 Unverfügbarkeit 66, 113, 158, 316 Unvoreingenommenheit 41, 271, 312 Ur-Ja (s. a. Sprache) 54, 56, 70, 319, 330 Ursache (s. a. Kausalität) 71, 203–204, 225, 331, 370 – Umkehrung 214, 216, 226 Ursprung 120, 143, 152, 216, 221, 281, 315, 330–331 – apeiron 149 Urteil 291 – Vor~ 49, 65, 98, 196, 278, 291, 315, 342

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Personen- und Sachregister Veränderung (s. a. Zeit) 154–156, 160, 166, 212 Verantwortung (s. a. Antwort) 68, 103–105, 107–109, 297, 313, 320, 327, 329, 331, 372–374 – Verantworten (s. a. Antworten) 201–202, 206–208, 224, 243, 291, 316, 322, 324–327, 366 – Verantwortlicher 106, 228, 233, 317, 341 Verb (s. a. Infinitiv) 45–46, 53, 57–58, 71, 356 Vergangenheit (s. a. Indikativ) 71, 102, 160, 206, 284, 289, 293, 331, 337–339, 342, 369, 372, 375 – aus der ~ (s. a. Feier, Zeitigung) 280, 282, 290, 298, 338, 340 – Vergangen 150, 166–167, 198–200, 205, 211, 227, 228–230, 281, 299, 335 – Vergänglichkeit (s. a. Zeitlichkeit) 235 Verheißung s. Heißen Vermittlung 48, 113–114, 122, 129, 139–141, 144, 155, 161, 328 – Jetztpunkte als ~ (s. a. Kontinuum) 273 Vernunft 166, 304, 321, 327, 345, 350, 366–367 – Sprach~ (s. a. Logos) 315, 317 Versöhnung s. Sühne Verstand 114, 126, 161, 345, 372 – ~eshandlung 120–121 Verständigung 314, 316, 326 Vertrauen 52, 90, 241, 294, 326 Verwirklichung s. Wirklichkeit Verzweiflung s. Zweifel Virtualität (s. a. Wirklichkeit) 284, 361, 363–364 Vokativ (s. a. Anspruch, Heißen, Name) 24, 59, 61, 63, 106, 111, 176, 189, 222–224, 307, 352–353 Volk s. Zeitwort Vorfahren (s. a. Zeit) 229, 231, 233, 336 Vorstellung 127, 140, 144, 161–162, 289, 300, 324, 346, 348, 355

– Genese von ~en 66, 137 vorwärts (s. a. rückwärts) 202, 281, 284, 289, 293–299 Vos, Ko 14, 16, 198 Wahn 61, 104, 209, 240, 243 – ~sinn 65, 173, 225 Wahrhaftigkeit 326–329 Wahrheit (s. a. Realität) 50, 72, 85, 103, 128–129, 171, 196, 216, 276, 291, 308, 315–318 – Anspruchstheorie der ~ (s. a. Anspruch) 64–67, 91, 125, 172, 231, 320–326 – Bewährung (s. a. Besitz) 89, 235, 237, 310, 331–332, 336, 342 – – bewähren 101, 108, 177, 201– 206, 208, 233–234, 241, 292, 309, 312, 328, 372 – – Urbewährung 99, 330 – Kalender-~ (s. a. Kalender) 191 – Offenbarungs~ (s. a. Offenbarung) 40–41 – ~swert 64, 164, 360, 365 Wahrnehmung 127, 142, 154, 162, 166, 346 Wandern (s. a. Dual, Forschung) 101, 177, 233, 291, 370 – Wanderer 85–87, 178, 240 Warten (s. a. Harren) 88, 151, 288– 289, 292, 336 – er~ 150, 159–160, 183, 193, 326 Wechselrede (s. a. Dialog) 71, 73–74, 276, 317, 314, 326 – Dual der ~ (s. a. Dual) 85 – Imperativ der ~ (s. a. Imperativ) 98 – Terminus der ~ 86, 110 Weihnachten 193 Welt (1) 50, 58, 63, 79, 85–86, 101, 149, 159, 187, 202, 211–214, 232, 240, 281 – Einheit der ~ 315 – Leonardo~ 244, 361 – ~erlebnis 177, 360 Welt (2) (s. a. Generation) 228, 232, 282–284, 288–289, 294, 296–299, 301, 335

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Personen- und Sachregister – Relationierung der ~ 336 – ~ und Sein 317, 337–338 – ~-Alter 340 – ~-Phänomene 336, 342–343 Weltanschauung (s. a. Ismus) 49, 77, 203, 217, 239, 243, 307, 340, 361, 364, 373 – Orientierungsfunktion der ~ (s. a. Orientierung) 331–332 – Spielplatz der ~ (s. a. Raum, Spiel) 208, 302 – Weltanschauler 88–89, 129, 209, 212–213 – weltanschaulich 196–199, 226– 227, 309, 342, 370 Weltansicht (s. a. Sprache) 128–130, 140 Weltbild 50, 207, 332 Werk 113–114, 120, 222, 315 – ~zeug 116, 118, 153, 221 Wert 332–333, 336, 349 – ~edebatte 226–227 Wesen 52, 117, 123, 139, 142, 311, 350 – Eigen~ (s. a. Ich) 358–361, 363– 364 – Lebe~ 116, 224–225, 304 Widerspruch (s. a. Erkenntnis) 102, 199, 323, 348, 360, 366 – offen für den ~ 307, 334–335 – widersprechen 191, 308–309, 311– 313, 318–319, 351 Wiedebach, Hartwig 196 Wiederholung (s. a. Spiel) 183, 210, 212, 216–217, 366 – Wiederkehr (s. a. Zeit) 150, 181, 184, 194, 370 Wille (s. a. Intention) 78, 223, 233, 310, 313, 347, 349 – letzter ~ (s. a. Erben) 299–300 – ~nsfreiheit (s. a. Freiheit) 77, 331, 350 Willkür 49–50, 120, 152, 203, 312, 325, 364 Wir (s. a. Du, Dual, Es, Ich) 85–89, 108, 184, 284 Wirklichkeit (s. a. Virtualität) 58, 92,

189–190, 211, 217, 284–285, 331, 350, 360, 365 – Lebens~ 150, 153, 198–199, 202, 214, 239–241, 302 – Urkategorie der ~ 101 – Verwirklichung 53, 114, 219, 317– 320 Wissen (s. a. Gewissheit, Meinung) 70, 101, 166–167, 208, 228, 278, 312, 322, 330, 349, 366 Wissenschaft (s. a. Physik) 65, 70–71, 74, 123, 185, 188, 194, 196, 217, 297, 311, 330–331 – Geistes~ 46, 209, 226 – Natur~ 155, 203–204, 322, 332 – Sprach~ 219–220 Witten, Edward 258 Wittgenstein, Ludwig 29, 323 Wort (s. a. Sprache) 68, 128, 220, 223, 317, 319, 325, 355 – Gefangener des ~s (s. a. Mensch) 244, 374 – Gesprochenes ~ (s. a. Sprechen) 48, 131, 327 – ~ als ›Vehikel‹ 65 – ~form 54, 132, 276 – ~werdung 105, 119, 315 Zeit 118, 150–153, 161–164, 166, 204, 274, 300, 324, 337–338 – Abschaffung der ~ 159, 211, 267, 367, 370 – Bedingungen der ~ 154–155 – Botmäßigkeit der ~ (s. a. Ernst) 149, 175, 202, 211, 367 – dreidimensionale ~ 173, 228, 366 – durch die ~ 227, 241–242, 325 – Ende der ~en 193, 243, 367 – Frei~ (s. a. Spiel) 168, 188, 190, 194, 216 – Ge~en (s. a. Zeitigung) 153, 213, 280, 283 – Gleich~igkeit 157, 192–194, 200, 232, 262, 298 – Herr der ~en (s. a. Kaironomie) 169–170, 334, 342

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Personen- und Sachregister – Hohe ~ (s. a. Zukunft) 235–238, 242–243, 289, 333, 340–342, 356 – – Hochzeit (s. a. Liebe) 235, 237, 241–242, 305 – Kind der ~ 152, 293–295 – Quelle der ~en 193, 339 – recht~ig 158, 211 – temporal (s. a. Zeitlichkeit) 152– 153, 196 – Totgeschlagene ~ (s. a. Tod) 168, 235–236, 302, 373 – Umgang mit der ~ (s. a. Kalender) 169, 172–173, 177, 188, 218 – Vollzahl der ~ 193, 225, 229, 235, 277, 298, 340, 342 – Vor~ 124, 160, 276, 297, 301 – Wahn~ 208–210, 217, 226, 272, 301–302 – Währ~ 175, 208–209, 215, 272, 278 – ~alter (s. a. Äon) 198, 244, 373 – ~bezug 151, 153, 167, 238, 303 – ~blase (s. a. Weltanschauung) 129, 176, 227, 297, 328, 331 – – im Binnenraum der (s. a. Raum) 209, 331 – – Platzen der Blase 332, 373 – ~enfloß 175–178, 182 – – Nach-wie-Vor 176, 178, 225 – ~en-Immer 155, 190, 194, 298 – ~geist 285, 288 – ~genosse 88, 174, 192–193, 222, 292, 373 – ~interpretationen (s. a. Physik) 185, 199 – – Abstrakter Zeitbegriff 149, 151, 153, 156, 160, 166–168, 191 – – als Ausdehnung betrachteten Zeit 143 – – Atemporalität 160 – – Begriffsgeschichte der Zeit (s. a. Geschichte) 166–167, 280 – – christliche Zeitrechnung 192, 298 – – Eigenzeit 216, 235, 283, 296, 301, 305 – – Eschatologische Zeit 150, 153,

157, 159–160, 193, 267, 269, 271, 366 – – geometrisch projizierte Zeit 235 – – Geschichtszeit 165–166, 193, 300, 302 – – künstliche Zeit 212 – – Lebenszeit (s. a. Leben) 151–152, 305 – – Lineare Zeit 150, 153, 158, 193 – – Omnitemporalität 160 – – physikalische Zeit 204, 299, 301 – – platonischer Zeitbegriff 153, 154, 156 – – subjektive Zeit 167, 169 – – Sukzession 120, 153–154, 161, 210, 232, 236 – – Zeit als Dauer 150, 155, 158 – – Zeitablauf 158, 189, 236 – – Zeitbegriff 154–155, 157, 165, 169, 208, 272, 363 – – zyklische Zeit 153, 193 – ~los 153, 160, 214, 225 – ~messung 153, 155–156, 160 – ~punkt 120–121, 197, 318, 321, 374 – ~raum (s. a. Raum) 70, 72, 75, 162– 163, 184, 195, 206, 219, 311, 317, 322, 343, 364 – – Abstraktionen der 212, 247, 259, 263, 267–269 – – Räume sind projizierte Zeiten 151, 165, 172, 174, 239, 371 – – Raumzeit 157, 169, 215, 305 – ~sinn (s. a. Kairos) 169, 189–190, 235, 302 – ~verhältnis 169, 205, 208, 215 – Zwischen-~ 186 Zeitigung (s. a. Zeit) 91, 173, 191, 229, 281 – sich zeitigen 151, 236, 343, 354, 372 – ~ der Welt 170, 207, 228, 276 – ~simperative (s. a. Imperativ) 164, 273, 280 – – Amtiere! (s. a. Amt) 294–295, 297–300, 337–339 – – Diene! 288–289, 299–300, 335

402 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .

Personen- und Sachregister – – Forsche! (s. a. Forschung) 291, 293, 299–300, 336 – – Harre! (s. a. Harren) 292–293, 297, 299–300, 336–337 – – Heiße! (s. a. Heißen, Name) 285–287, 289, 299–300, 335 – – Hinterlasse! (s. a. Erben) 341 – – Kämpfe! 337–338, 340 – – Lehre! 294–295, 297, 299–300, 338–339 – – Leide! 283, 337 – – Lerne! 299–300 – – Lies! 76, 285, 287–289, 335 – – Protestiere! 291, 293, 299–300, 304, 336 – – Singe! (s. a. Kohortativ) 288– 289, 299–300, 335 – – Spiel! (s. a. Spiel) 283, 289, 292, 335–336, 354, 374 – – Stifte! (s. a. Erben) 91, 283–284, 294–297, 299–300, 320, 322, 337, 341 – – Verheiße! (s. a. Heißen) 294– 295, 297, 299–300, 340 – – Vernimm! (s. a. Hören) 285– 286, 288–289, 335–337, 354, 374 – – Zweifle! (s. a. Zweifel) 291, 293, 299–300, 336 – ~snamen (s. a. Name) 282, 286, 334 – – Erwachsener 282–283, 290, 295, 301, 336, 339 – – Greis 282–283, 294, 301, 337, 340 – – Herrscher 337–339 – – Kämpfer 282–283, 293, 301, 304, 338–340, 342 – – Kind 282–283, 289, 293, 297, 301, 304, 334–335, 338–340 – – Künstler 282–284, 301, 334–335, 340, 342 – – Lehrer 338–339 – – Priester 282–283, 293–298, 301, 340 – – Stifter 296, 298–300, 305–306, 324, 341

Zeitlichkeit (s. a. Zeit) 164–166, 267, 269–270, 273–276, 322, 366–367 – ~ des Seins (s. a. Sein) 52, 66, 295– 296, 302, 307, 319, 325 Zeitwort (s. a. Raum, Zeit) 184–185, 190–193 – Griechentum 172, 175–176, 184– 186, 188–193, 209, 367, 371 – Reich 174–175, 178–186, 188–191, 193, 209, 233, 370–371 – Stamm (s. a. Vergangenheit) 172– 179, 181–186, 188–193, 209, 232– 235, 338 – Volk (s. a. Zukunft) 172, 175–176, 184, 186, 190–191, 193, 209 Zukunft (s. a. Heißen, Kohortativ) 70–74, 160, 182, 228, 289–296, 339–341, 365–375 – Advent (s. a. Feier) 107, 159, 183, 193–194, 316, 367 – Adventus (s. a. Abenteuer, Tod) 203–206, 237–242, 294–297, 335– 337 – als Tempus (s. a. Konjunktiv) 89, 284, 365 – Künftig 199, 150, 167, 227, 281 – Sorge (s. a. Zeitlichkeit) 280, 282, 298, 336–337 Zwang (s. a. Imperativ, Name) 86, 218, 283, 286, 288 – zwingen (s. a. Anerkennen) 58, 74, 89, 138, 144, 288–289, 303 Zweifel 240, 286, 290–291, 298, 336 – Verzweiflung 209, 292–293 Zweiheit (s. a. Dual) 83–84, 87, 140, 144 Zwiegesang (s. a. Kohortativ) 71, 77– 79, 85, 105, 220, 276, 288, 296, 317, 320 Zwiegespräch (s. a. Dialog, Gespräch) 78, 297, 318 Zwischen (s. a. Imperativ) 66, 74, 87, 98, 100–101, 140, 317–318 – ~ Ich und Du 74, 102, 107, 144, 316, 350

403 https://doi.org/10.5771/9783495823835 .