Die Wunder Jesu 9783641310813

Was bedeutet es, von »Wundern« zu sprechen? Sind Phänomene wie »Spontanheilung« identisch mit dem, was im religiösen Ber

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German Pages 1096 [1100] Year 2021

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Die Wunder Jesu
 9783641310813

Table of contents :
Inhalt
Wundert euch wieder …
Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung
Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung mit Vorzeichen und Machttaten Gottes/von Gottheiten
Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen
Krankheitsbilder und soziale Folgen: Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Taubstummheit
Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale
Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter
Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus
Wundererzählungen heute unterrichten (Didaktik der Wundererzählungen)
Über Wundererzählungen heute predigen (Homiletik der Wundererzählungen)
I. Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q
Hinführung
Wunder in der Logienquelle
Heilung per Befehl (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Q 7,1.3.6b-9
Der umstrittene Exorzist (Jesu Macht über die bösen Geister) – Q 11,14f.17-22.24-26
II. Die Wundererzählungen im Markusevangelium
Hinführung
Wunder im Markusevangelium
Mächtig in Wort und Tat (Exorzismus in Kafarnaum) – Mk 1,21-28
Fieberfrei auf dem Weg Jesu (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus) – Mk 1,29-31 (Mt 8,14 f.)
Nicht nur rein, auch gesund (Heilung eines Aussätzigen) – Mk 1,40-45 (Mt 8,1-4 / Lk 5,12-16 / P. Köln 255)
Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1-12 (Mt 9,1-8; EvNik 6)
Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹) – Mk 3,1-6
Glaube in Seenot (Die Stillung des Sturms) – Mk 4,35-41
Wessen Medium willst du sein? (Die Heilung des Besessenen von Gerasa) – Mk 5,1-20 (EpAp 5,9 f.)
Glauben lässt JesuWunderkraft heilsam überfließen (Die Tochter des Jaïrus und die blutflüssige Frau) – Mk 5,21-43
Brot und Fisch bis zum Abwinken (Die Speisung der Fünftausend) – Mk 6,30-44 (ActJoh 93)
Vom Winde verweht (Jesu Erscheinen auf dem See) – Mk 6,45-53
Es ist genug für alle da! (Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin) – Mk 7,24-30
Mit allen Sinnen leben! (Die Heilung eines Taubstummen) – Mk 7,31-37
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es darf noch Fisch dazwischen sein (Die Speisung der Viertausend) – Mk 8,1-10 (Mt 15,32-39)
Sehen und Verstehen (Die zweiphasige Heilung des namenlosen Blinden) – Mk 8,22-26
Vermögen und Vertrauen, Dämonie und Exorzismus (Die Erzählung vom besessenen Jungen) – Mk 9,14-29
Bedingungslose Nachfolge heilt Blindheit (Die Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho) – Mk 10,46-52 (Lk 18,35-43)
Jesu Hunger nach Erfüllung der Zeit (Die Verfluchung des Feigenbaums) – Mk 11,12-14.20-25
III. Die Wundererzählungen im Matthäusevangelium
Hinführung
Wunder im Matthäusevangelium
Glaube und Fernheilung (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Mt 8,5-13
Schiffbruch im Kleinglauben (Die Stillung des Sturms) – Mt 8,23-27
Böses flieht (Die Heilung der Besessenen von Gadara) – Mt 8,28-34
Auch Frauen sind Wunder wert (Die Heilung der blutflüssigen Frau und die Auferweckung der Tochter eines Synagogenvorstehers) – Mt 9,18-26 (EpAp 5,4-7; EvNik 7)
Begegnungen mit dem Davidssohn oder Vertrauen macht sehend (Die Heilung zweier Blinder und eines Stummen) – Mt 9,27-34
Schau den Menschen an! (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹) – Mt 12,9-14
Jesus sättigt ganz Israel (Die Speisung der Fünftausend) – Mt 14,13-21
Jenseits der Komfortzone (Jesu Erscheinen auf dem See) – Mt 14,22-33
Das Heil an den Rändern Israels (Die kanaanäische Frau) – Mt 15,21-28
Warum nicht gleich so? (Heilung eines mondsüchtigen Jungen) – Mt 17,14-20(21) (Lk 9,37-43a)
Steuersünder mit Angellizenz (Die Zahlung der Tempelsteuer) – Mt 17,24-27 (EpAp 5,12f.)
Erhellende Begegnung (Die Heilung von zwei Blinden bei Jericho) – Mt 20,29-34
Der verdorrte Feigenbaum und das Bittgebet (Die Verfluchung eines Feigenbaums) – Mt 21,18-22
IV. Die Wundererzählungen im Lukasevangelium
Hinführung
Wunder im Lukasevangelium
Gewaltige Befreiung vor einem Synagogenpublikum (Exorzismus in Kafarnaum) – Lk 4,33-36
Heilende Macht daheim (Die Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus) – Lk 4,38 f.
Einmal Fischer, immer Fischer? (Der wunderbare Fischfang) – Lk 5,1-11
Hindernisse überwinden (Die Heilung eines Gelähmten) – Lk 5,17-26
Fern – schnell – gut (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Lk 7,1-10
Auferstanden in Naïn (Auferweckung des Sohnes einer Witwe aus Naïn) – Lk 7,11-17
Im Stress Wunder wirken (Die Heilung der blutenden Frau und die Auferweckung der Tochter des Jaïrus) – Lk 8,40-56
Die ignoranten Wundertäter (Die Speisung der Fünftausend) – Lk 9,10b-17
Feindliche Übernahme (Jesus und die bösen Geister) – Lk 11,14-23
Umgekehrter Hexenschuss: Keine Heilung ohne Kontext (Heilung einer gekrümmten Frau am Sabbat) – Lk 13,10-17
Der unstillbare Durst nach Heilung (Die Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat) – Lk 14,1-6
Wandel auf dem Weg des Heils (Die zehn Aussätzigen) – Lk 17,11-19
Ein Schwertstreich für Jesus (Die Heilung des Ohrs des hohepriesterlichen Dieners) – Lk 22,50f
V. Die Wundererzählungen im Johannesevangelium
Hinführung
Wunder im Johannesevangelium
Wein im Überfluss (Die Hochzeit zu Kana) – Joh 2,1-11
Vollkommener Glaube heilt vollkommen (Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten) – Joh 4,46-54
»Steh auf!« – Erweckung zum Leben hier und jetzt (Die Heilung eines Gelähmten) – Joh 5,1-18
Mehr als ein Prophet und ein Brotkönig (Die Speisung der Fünftausend) – Joh 6,1-15
ÜberraschendeWege auf dem See (Der Seewandel Jesu) – Joh 6,16-25 .
Sehen oder Nicht-Sehen? (Die Heilung des blind Geborenen) – Joh 9,1-41
Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus) – Joh 11,1-12,11
Beim Mahl am Kohlenfeuer trifft man sich wieder (Die Offenbarung beim wunderbaren Fischfang) – Joh 21,1-14
VI. Die Wundererzählungen in den apokryphen Evangelien
Hinführung
Wunder in den apokryphen Evangelien
»Schmücke dich, Höhle, denn die Jungfrau kommt, um zu gebären« (Wunderbare Geburt) – Protev 18-20
Die kooperative Palme (Die Palme, die sich neigt) – PsMt 20f. (Koran Sure 19,23-25)
Interreligiöser Konsens (Götterbilder stürzen) – PsMt 22-24
Ein mächtiges Kopftuch (Die wunderwirkende Windel Jesu) – arabK 11 f.
Spielender Schöpfer (Erschaffung der Spatzen) – KThom 2 (arabK 36.46; Koran Sure 3,49)
Anhaltende Trockenheit (Die Verfluchung des Sohnes des Annas) – KThom 3 (arabK 46 f.)
Erweckung eines verunglückten Spielkameraden (Junge auf dem Dach) – KThom 9
Heimlicher Wohltäter (Die wunderbare Vermehrung der Saat) – KThom 12
Nichts ist unmöglich – mit Jesus (Die Streckung des Bretts) – KThom 13
Ein aufmüpfiger Schüler (Der Knabe Jesus kennt die Buchstaben) – KThom 14
»Werde rein… und sündige nicht mehr!« (Heilung eines Aussätzigen) – P.Egerton 2
Hilfe zur Selbstständigkeit (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹ als Maurer) – EvNaz 4 (Hier. comm. in Matt. zu Mt 12,13)
Auferweckung zur Taufe (Auferweckung eines Jünglings) – gehMk Frgm. 1
Der Kaiser erweist Jesus die Ehre (Sich neigende Standarten) – EvNik 1,5 f
Wunderbare Befreiung aus dem Grab (Graböffnung und Auferstehung) – EvPetr 9,35-11,45
Vollständige Liste der Wundererzählungen nach Quellenbereichen
Die Autorinnen und Autoren
Gesamtliteraturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Stellenregister
Sachregister
Abbildungsnachweis

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Gt 08120 / p. 3 / 9.11.2021

KOMPENDIUM der frühchristlichen Wundererzählungen Band 1 Die Wunder Jesu Herausgegeben von Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit Detlev Dormeyer Judith Hartenstein Christian Münch Enno Edzard Popkes Uta Poplutz Redaktion: Susanne Luther und Jörg Röder

Gütersloher Verlagshaus

Gt 08120 / p. 1 / 9.11.2021

Gt 08120 / p. 2 / 9.11.2021

KOMPENDIUM der frühchristlichen Wundererzählungen Herausgegeben von Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit Istvan Czachesz Detlev Dormeyer Judith Hartenstein Bernd Kollmann Annette Merz Christian Münch Tobias Nicklas Enno Edzard Popkes Uta Poplutz

Gt 08120 / p. 4 / 9.11.2021

2. Auflage, 2021 Copyright © 2013 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg ISBN 978-3-641-31081-3 www.gtvh.de

Inhalt Wundert euch wieder … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann

5

Prolog: Wunder sind ›in‹ … oder: Die bleibende Faszination des Wunders . . . . .

5

1. Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsgeschichtliches: Zum Umgang mit dem Wundersamen . . . . 1.1.1 Forschungsrückblicke: Versuche, das Wundersame zu erklären . . . . . 1.1.2 Ein Neuansatz: »Man darf sich wieder wundern« . . . . . . . . . . . 1.2 Literaturwissenschaftliches: Die Sprache und Form des Wunderhaften . . 1.2.1 Wundertermini im Neuen Testament: Eine semantische Orientierung . 1.2.2 Zur Gattung der »Wundererzählung«: Ein literaturwissenschaftlicher Vorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Geschichtliches: Wundergeschichten im Geflecht von Fakten und Fiktionen 1.3.1 Die Geschichte jenseits der Geschichten: Fakten, Erlebnisse, Diskursuniversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die Geschichte in den Geschichten: Wundergeschichten als Wirklichkeitserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Die Geschichte der Geschichten: Traditions-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Hermeneutisches: Verstehen im Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Verstehen und Missverstehen der Wundererzählungen: Von der Unmöglichkeit einer Wundertheologie . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Zur Pragmatik und Funktion der Wundererzählungen: Welchen Sinn hat es, Wunder zu erzählen? . . . . . . . . . . . . . .

7 7 7 12 18 18 22 32 33 36 40 43 43 45

2. Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Weichenstellungen: Die Vorentscheidungen und Begrenzungen 2.2 Gesamtstruktur des Kompendiums: Die Anordnung des Stoffs 2.3 Vielfalt der »Sehepunkte«: Das Auslegungsraster . . . . . . . 2.4 Einladung zum Wundern: Die Deutungshorizonte . . . . . .

. . . . .

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. . . . .

. . . . .

50 50 54 54 60

3. Basisliteratur zu frühchristlichen Wundererzählungen . . . . . 3.1 Monographien und Sammelbände (der letzten 50 Jahre) 3.2 Themenhefte von Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . 3.3 Auswahl an Aufsätzen (chronologisch) . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

64 64 65 66

Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung mit Vorzeichen und Machttaten Gottes/von Gottheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Dormeyer

69

1. Das geozentrische Weltbild und die Existenz von Dämonen

. . . . . . . . . .

69

2. Die Wundergeschichten von Epidauros und das griechische Arztwesen . . . . .

69

. . . .

. . . .

. . . .

V

Inhalt

3. Wundertätigkeit im wissenschaftlichen Denken der Antike . . . . . . . . . . .

71

4. Die Wundergeschichten in der Geschichtsschreibung und im Neuen Testament .

72

5. Göttlicher Mensch oder göttliche Vollmacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

6. Vorzeichen in der antiken Geschichtsschreibung und im Neuen Testament . . .

75

Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

79

1. Asklepios-Traditionen und Asklepios-Heiligtümer . . . . . . . . . . . . . . . .

79

2. Hippokrates und das Corpus Hippocratikum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

3. Die Lage von Kranken im Imperium Romanum zur Zeit des frühen Christentums

84

4. Frühchristliche Adaptionen und Auseinandersetzung mit antik-mediterraner Heilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Krankheitsbilder und soziale Folgen: Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Taubstummheit . . . . . . . . . . . . Bernd Kollmann

87

1. Blindheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

2. Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

3. Aussatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

4. Stummheit und Taubstummheit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

5. Religiöse und kultische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

6. Soziale Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Poplutz

94

1. Textbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

3. Dämonenglaube

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

4. Austreibungsrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

5. Hermeneutische Schlussbemerkung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter . . . . . Annette Merz

108

1. Wundertäter der Antike: ein orientierender Überblick

. . . . . . . . . . . . .

108

2. Wundertäter als historische Personen und literarische Figuren . . . . . . . . .

111

3. Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmungen der Wundertäter

. . . . . .

112

4. Jesus als Exorzist und prophetischer Wundertäter im Vergleich . . . . . . . . .

115

5. Der eschatologische Horizont der Wundertätigkeit Jesu

117

. . . . . . . . . . . .

6. Wunder, Gebet und Glaube: thaumaturgischer Synergismus bei Jesus VI

. . . . .

119

Inhalt

Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus . . . . . . . . . . . . . Bernd Kollmann

124

1. Wesen und Funktion von Magie in der Antike

. . . . . . . . . . . . . . . . .

124

2. Magie und Schamanismus in der Umwelt Jesu

. . . . . . . . . . . . . . . . .

125

3. Forschungskontroversen um die Betrachtung Jesu als Magier . . . . . . . . . .

130

4. Magische Motive und Praktiken in der Jesusüberlieferung

. . . . . . . . . . .

132

5. Wirkungsgeschichtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

6. Fazit: Jesus als Magier der besonderen Art

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Wundererzählungen heute unterrichten (Didaktik der Wundererzählungen) . . . . Christian Münch

140

1. Wundergeschichten im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

2. Die problematische »Sache« der Wundergeschichten

. . . . . . . . . . . . .

141

3. Die Wundergeschichten als Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

4. Die Rezeption der Wundergeschichten durch Schülerinnen und Schüler . . . .

144

5. Die Wundergeschichten als Teil der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

6. Die Wunder als Ereignisse – noch einmal zur »Sache« der Wundergeschichten .

151

7. Methoden

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153

Über Wundererzählungen heute predigen (Homiletik der Wundererzählungen) . . Wolf-Jürgen Grabner / Hanna Kasparick / Gabriele Metzner

156

1. Wundererzählungen predigen – Lust und Last

156

. . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Wundererzählungen predigen – zwischen Rationalisierung und Re-Historisierung 158 3. Wundererzählungen predigen – Um das Kommen des Reiches Gottes bitten . .

159

I. Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enno Edzard Popkes

165

Tabelle: Wunder in der Logienquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

Heilung per Befehl (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Q 7,1.3.6b-9 . . . . . . . . Martin Hüneburg

173

Der umstrittene Exorzist (Jesu Macht über die bösen Geister) – Q 11,14 f.17-22.24-26 Enno Edzard Popkes

183

VII

Inhalt

II. Die Wundererzählungen im Markusevangelium Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Dormeyer

193

Tabelle: Wunder im Markusevangelium

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Mächtig in Wort und Tat (Exorzismus in Kafarnaum) – Mk 1,21-28 . . . . . . . . . Christian Strecker

205

Fieberfrei auf dem Weg Jesu (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus) – Mk 1,29-31 (Mt 8,14 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Lau

214

Nicht nur rein, auch gesund (Heilung eines Aussätzigen) – Mk 1,40-45 (Mt 8,1-4 / Lk 5,12-16 / P. Köln 255) . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Müller

221

Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) – Mk 2,1-12 (Mt 9,1-8; EvNik 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul-Gerhard Klumbies

235

Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹) – Mk 3,1-6 . . . . . . . . Michael Becker

248

Glaube in Seenot (Die Stillung des Sturms) – Mk 4,35-41 . . . . . . . . . . . . . . Hans-Georg Gradl

257

Wessen Medium willst du sein? (Die Heilung des Besessenen von Gerasa) – Mk 5,1-20 (EpAp 5,9 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Ebner

266

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen (Die Tochter des Jaïrus und die blutflüssige Frau) – Mk 5,21-43 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Kahl

278

Brot und Fisch bis zum Abwinken (Die Speisung der Fünftausend) – Mk 6,30-44 (ActJoh 93) Bernd Kollmann

294

Vom Winde verweht (Jesu Erscheinen auf dem See) – Mk 6,45-53 . . . . . . . . . David du Toit Es ist genug für alle da! (Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin) – Mk 7,24-30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Gerber Mit allen Sinnen leben! (Die Heilung eines Taubstummen) – Mk 7,31-37 . . . . . . Nadine Ueberschaer Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es darf noch Fisch dazwischen sein (Die Speisung der Viertausend) – Mk 8,1-10 (Mt 15,32-39) . . . . . . . . . . . Rainer Metzner VIII

304

313 323

332

Inhalt

Sehen und Verstehen (Die zweiphasige Heilung des namenlosen Blinden) – Mk 8,22-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard von Bendemann

341

Vermögen und Vertrauen, Dämonie und Exorzismus (Die Erzählung vom besessenen Jungen) – Mk 9,14-29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Leutzsch

350

Bedingungslose Nachfolge heilt Blindheit (Die Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho) – Mk 10,46-52 (Lk 18,35-43) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlev Dormeyer

359

Jesu Hunger nach Erfüllung der Zeit (Die Verfluchung des Feigenbaums) – Mk 11,12-14.20-25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Schwindt

371

III. Die Wundererzählungen im Matthäusevangelium Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Münch

379

Tabelle: Wunder im Matthäusevangelium

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391

Glaube und Fernheilung (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Mt 8,5-13 . . . . . . . Dieter T. Roth

393

Schiffbruch im Kleinglauben (Die Stillung des Sturms) – Mt 8,23-27 . . . . . . . . Kristina Dronsch

402

Böses flieht (Die Heilung der Besessenen von Gadara) – Mt 8,28-34 . . . . . . . . Robert Vorholt

409

Auch Frauen sind Wunder wert (Die Heilung der blutflüssigen Frau und die Auferweckung der Tochter eines Synagogenvorstehers) – Mt 9,18-26 (EpAp 5,4-7; EvNik 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Eberhart Begegnungen mit dem Davidssohn oder Vertrauen macht sehend (Die Heilung zweier Blinder und eines Stummen) – Mt 9,27-34 . . . . . . . . Dorit Felsch

416

426

. .

436

Jesus sättigt ganz Israel (Die Speisung der Fünftausend) – Mt 14,13-21 . . . . . . . Beate Kowalski

442

Jenseits der Komfortzone (Jesu Erscheinen auf dem See) – Mt 14,22-33 . . . . . . Judith Hartenstein

454

Schau den Menschen an! (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹) – Mt 12,9-14 Dierk Starnitzke

IX

Inhalt

Das Heil an den Rändern Israels (Die kanaanäische Frau) – Mt 15,21-28 . . . . . . . Uta Poplutz

465

Warum nicht gleich so? (Heilung eines mondsüchtigen Jungen) – Mt 17,14-20(21) (Lk 9,37-43a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Leonhardt-Balzer

474

Steuersünder mit Angellizenz (Die Zahlung der Tempelsteuer) – Mt 17,24-27 (EpAp 5,12f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Luther

485

Erhellende Begegnung (Die Heilung von zwei Blinden bei Jericho) – Mt 20,29-34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Münch

495

Der verdorrte Feigenbaum und das Bittgebet (Die Verfluchung eines Feigenbaums) – Mt 21,18-22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Weissenrieder

503

IV. Die Wundererzählungen im Lukasevangelium Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann

513

Tabelle: Wunder im Lukasevangelium

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

526

Gewaltige Befreiung vor einem Synagogenpublikum (Exorzismus in Kafarnaum) – Lk 4,33-36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Loren T. Stuckenbruck

529

Heilende Macht daheim (Die Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus) – Lk 4,38 f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominik Mahr

536

Einmal Fischer, immer Fischer? (Der wunderbare Fischfang) – Lk 5,1-11 . . . . . . . Georg Gäbel

543

Hindernisse überwinden (Die Heilung eines Gelähmten) – Lk 5,17-26 . . . . . . . . Hanna Roose

559

Fern – schnell – gut (Der Hauptmann von Kafarnaum) – Lk 7,1-10 Thomas Popp

. . . . . . . . .

565

Auferstanden in Naïn (Auferweckung des Sohnes einer Witwe aus Naïn) – Lk 7,11-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Metternich

571

Im Stress Wunder wirken (Die Heilung der blutenden Frau und die Auferweckung der Tochter des Jaïrus) – Lk 8,40-56 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mira Stare

583

X

Inhalt

. . . .

593

Feindliche Übernahme (Jesus und die bösen Geister) – Lk 11,14-23 . . . . . . . . . Christfried Böttrich

603

Die ignoranten Wundertäter (Die Speisung der Fünftausend) – Lk 9,10b-17 Stefan Alkier

Umgekehrter Hexenschuss: Keine Heilung ohne Kontext (Heilung einer gekrümmten Frau am Sabbat) – Lk 13,10-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sandra Hübenthal

615

Der unstillbare Durst nach Heilung (Die Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat) – Lk 14,1-6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elritia Le Roux

627

Wandel auf dem Weg des Heils (Die zehn Aussätzigen) – Lk 17,11-19 . . . . . . . . Karl-Heinrich Ostmeyer

638

Ein Schwertstreich für Jesus (Die Heilung des Ohrs des hohepriesterlichen Dieners) – Lk 22,50f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 Eckart David Schmidt

V. Die Wundererzählungen im Johannesevangelium Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Poplutz

659

Tabelle: Wunder im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

668

Wein im Überfluss (Die Hochzeit zu Kana) – Joh 2,1-11 . . . . . . . . . . . . . . . Silke Petersen

669

Vollkommener Glaube heilt vollkommen (Die Heilung des Sohnes des königlichen Beamten) – Joh 4,46-54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van der Watt

681

»Steh auf!« – Erweckung zum Leben hier und jetzt (Die Heilung eines Gelähmten) – Joh 5,1-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 Michael Theobald Mehr als ein Prophet und ein Brotkönig (Die Speisung der Fünftausend) – Joh 6,1-15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Claußen

705

. . . . . .

716

Sehen oder Nicht-Sehen? (Die Heilung des blind Geborenen) – Joh 9,1-41 . . . . . Jörg Frey

725

Überraschende Wege auf dem See (Der Seewandel Jesu) – Joh 6,16-25 Nicole Chibici-Revneanu

Vorbild im Sterben und Leben (Die Auferweckung des Lazarus) – Joh 11,1-12,11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruben Zimmermann

742

XI

Inhalt

Beim Mahl am Kohlenfeuer trifft man sich wieder (Die Offenbarung beim wunderbaren Fischfang) – Joh 21,1-14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Labahn

764

VI. Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Hartenstein

781

Tabelle: Wunder in den apokryphen Evangelien

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

789

»Schmücke dich, Höhle, denn die Jungfrau kommt, um zu gebären« (Wunderbare Geburt) – Protev 18-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Berghorn

793

Die kooperative Palme (Die Palme, die sich neigt) – PsMt 20f. (Koran Sure 19,23-25) Silke Petersen

799

Interreligiöser Konsens (Götterbilder stürzen) – PsMt 22-24 . . . . . . . . . . . . Angela Standhartinger

805

Ein mächtiges Kopftuch (Die wunderwirkende Windel Jesu) – arabK 11 f. . . . . . . Laila Fascia

825

Spielender Schöpfer (Erschaffung der Spatzen) – KThom 2 (arabK 36.46; Koran Sure 3,49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorit Felsch

827

Anhaltende Trockenheit (Die Verfluchung des Sohnes des Annas) – KThom 3 (arabK 46 f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard von Bendemann

832

Erweckung eines verunglückten Spielkameraden (Junge auf dem Dach) – KThom 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Erlemann

843

Heimlicher Wohltäter (Die wunderbare Vermehrung der Saat) – KThom 12 . . . . Christian Münch

847

Nichts ist unmöglich – mit Jesus (Die Streckung des Bretts) – KThom 13 . . . . . . Susanne Luther

852

Ein aufmüpfiger Schüler (Der Knabe Jesus kennt die Buchstaben) – KThom 14 . . . Mathis Christian Holzbach

862

»Werde rein … und sündige nicht mehr!« (Heilung eines Aussätzigen) – P.Egerton 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tobias Nicklas

XII

869

Inhalt

Hilfe zur Selbstständigkeit (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹ als Maurer) – EvNaz 4 (Hier. comm. in Matt. zu Mt 12,13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Frey

873

Auferweckung zur Taufe (Auferweckung eines Jünglings) – gehMk Frgm. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe-Karsten Plisch

878

Der Kaiser erweist Jesus die Ehre (Sich neigende Standarten) – EvNik 1,5 f. . . . . . Jörg Röder

883

Wunderbare Befreiung aus dem Grab (Graböffnung und Auferstehung) – EvPetr 9,35-11,45 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Hartenstein

894

Vollständige Liste der Wundererzählungen nach Quellenbereichen

. . . . . . . .

905

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

917

Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

923

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

999

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005 Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083

XIII

Wundert euch wieder … Wunder faszinieren. Wunder polarisieren. Wunder provozieren. Obgleich dem Wunderglauben mit dem Siegeszug von Vernunft und Aufklärung der Untergang vorausgesagt war, scheint selbst in diesem Feld die ›Dialektik der Aufklärung‹ ablesbar: Auch im 21. Jahrhundert erfreut sich das Thema »Wunder« weiter Verbreitung. Die Rede von Wundern, die Deutung von Lebens- und Weltereignissen als Wunder geht dabei weit über die Religion und den christlichen Glauben hinaus. Man kann sogar regelrecht von einem neuen Boom von Wundern, von einer bleibenden Faszination des Wunderhaften in unterschiedlichen Disziplinen sprechen. Zugleich hat sich aber auch die Kritik an Wundern außerhalb und innerhalb der Religion verschärft. Die präzisen Einsichten in Naturgesetzlichkeit oder Krankheitsbilder verwehren mehr denn je, an die mythologische Wunderwelt des Neuen Testaments zu glauben. Leisten die Erzählungen nicht einem naiven und sogar falschen Verständnis des Gottesglaubens Vorschub? Sind »Wunder« nur etwas für leichtgläubige, sensationslustige Menschen? Haben sie vielleicht bestenfalls einen Werbungs- oder Unterhaltungswert, der Aufmerksamkeit erregen will? Braucht man Wunder, um zu glauben – oder verstellen sie nicht vielmehr den Glauben an einen Gott, der sich ganz in Schöpfung und Menschsein samt ihrer Gesetzlichkeiten und Begrenztheiten zu erkennen gibt? Doch fragen wir im engeren Sinn: Wie soll man mit den neutestamentlichen Wundererzählungen heute umgehen? Macht es noch Sinn, von ihnen zu reden? Wie können sie verstanden und ausgelegt werden? Reicht es, sie nur religionsgeschichtlich mit ähnlichen Texten ihrer Umwelt zu vergleichen oder sie literarisch als besondere Erzähltexte zu analysieren? Müsste man in einem postmodern geläuterten Verständnis von Kulturgeschichte nicht die Begrenztheit der eigenen Wirklichkeitsdeutung im Licht dieser Texte erkennen? Könnte man dabei lernen, dass die an anderen Orten und zu anderen Zeiten gepflegten Wunderdiskurse und Wunderpraktiken durchaus Sinn machen und zumindest zunächst einmal wertfrei und tolerant wahrgenommen werden können? Aber was hat eine solche kulturanthropologische Deskription frühchristlicher Texte noch mit mir zu tun? Vollzieht sich hier nicht ein erneuter (und postmodern eigentlich verwehrter) Akt der Distanzierung und Ausflucht vor einer eigenen Stellungnahme und Selbstreflexion, zu der die Texte doch gerade drängen? Wie können glaubende Menschen in diesen Texten gegenwärtige Bedeutung, Sinn und Lebenshilfe finden? Wunder faszinieren … und polarisieren zugleich, ja, sie stellen immer auch die Frage nach Wahrheit, Wahrnehmung und Wahrheitsperspektive. Sie fordern heraus und provozieren. Die in diesem Kompendium vollzogene Beschäftigung mit Wundererzählungen in frühchristlichen Schriften nimmt diese Herausforderung an. Mit dem vorliegenden Band 1 wenden wir uns zunächst den Texten zu, die von Wundern Jesu erzählen (es folgen mit Band 2 »Wunder der Apostel«). Die Sammlung und Kommentierung dieser Wundergeschichten möchte aber keine vorschnelle oder einseitige Antwort auf die genannten Fragen geben. Wir sind der Überzeugung, dass die Texte gerade Herausforderungen darstellen und in einen Prozess des Verstehens hineinführen wollen, der nicht abgekürzt, sondern im Gegenteil intensiviert werden muss. 1

Wundert euch wieder …

Schnelle Bekenntnisse wie »das ist ein authentisches Jesuswunder« oder: »dieses Wunder ist historisch unplausibel« wird man deshalb hier vergeblich suchen. Sie würden auch den Reichtum dieser Texte auf historische Faktenwahrheiten oder vollmundige Lippenbekenntnisse reduzieren wollen, was wir bereits aus geschichts- und erkenntnistheoretischer Perspektive ablehnen. Umso mehr aber muss man einer derart naiven Reduktion der Wahrheit dieser Texte aus theologischen Gründen widersprechen. Die Botschaft Jesu und des Neuen Testaments ist mit der Konkretion des Geschichtlichen verwoben, sie kann aber nicht auf Vergangenheit beschränkt werden. Die Wahrheit dieser Texte muss vielmehr irgendwo zwischen ihrer geschichtlichen Verankerung und ihrer bleibenden und auch gegenwärtigen Bedeutsamkeit gesucht werden. Wunder sind Wirklichkeitserzählungen (s. u.). Das »Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen« steht in unmittelbarer Kontinuität zum »Kompendium der Gleichnisse Jesu« (Gütersloh 2007) und teilt viele methodische und hermeneutische Weichenstellungen mit diesem Werk. Ein besonderes Charakteristikum besteht darin, dass die Vielfalt der Texte in mehrfacher Hinsicht in der Kommentierung abgebildet wird: So ist einerseits die Auslegung nicht das Werk eines Einzelnen oder einer kleinen homogenen Gruppe von Autorinnen und Autoren. Stattdessen sind in beiden Bänden mehr als 70 Exegetinnen und Exegeten in den Auslegungen zusammengeführt, die ein breites Spektrum an theologischen Schultraditionen und persönlichen Standpunkten vertreten. Diese Offenheit spiegelt nicht nur den gegenwärtigen Stand der exegetischen Wissenschaft, sie steht auch für die biblische Tradition selbst, die schon in der Mehrfachüberlieferung und Uminterpretation einzelner Texte eine bemerkenswerte Offenheit für Variation und Veränderung besitzt. Andererseits wird auch innerhalb der Einzelauslegung selbst nicht nur eine Position vertreten, sondern es werden bewusst verschiedene Deutungshorizonte nebeneinandergestellt. Auch wenn man sich einer ähnlichen Methodik und Hermeneutik verpflichtet fühlt, auch wenn sowohl historische als auch philologische Aspekte ernst genommen werden, gibt es nicht nur eine einzige Auslegungsmöglichkeit dieser Texte. Um diese Offenheit der Deutung auch bei jedem Einzeltext sichtbar zu machen, haben sich Autorinnen und Autoren die Selbstverpflichtung auferlegt, unterschiedliche – und z. T. sogar sich widersprechende –, aber je für sich plausible Deutungen nebeneinanderzustellen und je für sich stark zu machen. Dies ist für Autorinnen und Autoren ebenso wie für Leserinnen und Leser von exegetischen Werken ungewohnt. In der Regel versucht man, Gegenpositionen abwertend zu erfassen, um die eigene Position als die einzig wahre zu profilieren. Doch wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die eigene Überzeugung mit der Wahrheit der Texte verwechseln, haben sie bereits die Sinnstiftung der biblischen Texte verfehlt. Nur im gemeinsamen Ringen, nur in der Akzeptanz von Sondermeinungen und kreativen Ideen kann die Wahrheit der biblischen Botschaft Gestalt annehmen. Das Kompendium stellt insofern auch ein Beispiel für eine neue Form exegetischer Diskurskultur dar: Hier ist nicht ein Historiker, nicht eine Philologin oder ein engagierter Interpret, der die Botschaft einseitig vertritt. Vielmehr ist es das gemeinsame Bemühen um Textauslegung, das auch im medial unterstützten (s. http://www.wunderkompen dium.de), langwierigen Revisionsprozess der Kommentare sowie im Dialog der Heraus2

Wundert euch wieder …

gebenden sowie Autoren und Autorinnen zum Ausdruck kam und auf den Leser und die Leserin überspringen soll. Vielfalt steht zugleich in der Gefahr der Beliebigkeit. Damit das Werk trotzdem wissenschaftlich verantwortet und als ›Einheit‹ kommunizierbar bleibt, haben sich alle Autorinnen und Autoren zu einer einheitlichen Grundstruktur der Auslegung sowie zu bestimmten methodischen Weichenstellungen verpflichtet, die historisch-traditionsgeschichtliche, sprachlich-narratologische und rezeptionsästhetisch-theologische Aspekte einbezieht. Einen solchen Prozess der kollektiven Exegese zusammenzuhalten erforderte auch den engagierten Einsatz vieler Mitarbeiter(innen): So möchte ich an erster Stelle den Mitherausgebenden danken, die nicht nur die Texte in ihrem jeweiligen Quellenbereich, sondern auch konzeptionelle Entscheidungen mitverantworten. Die unkomplizierte Zusammenarbeit ist eine wohltuende Ermutigung, dass Teamprojekte und kollektive Exegese auch in der Wissenschaft möglich sind. Mein herzlicher Dank gebührt dann auch dem Mainzer Mitarbeiterteam mit Stud. theol. Almuth Peiper, Sophia Schäfer, Charlotte Seiwerth, Miriam Teutsch, Guido Wenzel und vor allem auch meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern Dr. Susanne Luther und Jörg Röder, ohne deren außergewöhnliche Einsatzfreude das Projekt nicht hätte zu Ende kommen können. Ebenso möchte ich dem Gütersloher Verlagshaus, insbesondere der Lektorin Tanja Scheifele für ihre souveräne Betreuung danken. Ihre stetige Ermutigung, akribische Fehlersuche und wohltuende Gelassenheit haben das Projekt in allen Phasen der Entstehung auf ›wunderbare‹ Weise vorangebracht. Die Vielfalt der Auslegungen von Wundererzählungen soll vor allem als Einladung begriffen werden: Die Leserin und der Leser dieses Kompendiums sollen herausgefordert werden, ihrerseits nach Bedeutung, nach Wahrheit dieser Texte zu suchen. Je nach Leseinteresse, je nach Interpretationskontext werden sich unterschiedliche Aspekte der Wundererzählungen in den Vordergrund drängen. Wenn das Kompendium hier und da Geburtshilfe leisten kann, damit Sinn in den Texten aufleuchtet, dass das wunderhaft Erzählte Wirklichkeit in Frage stellt, verändert und im Licht Gottes neu erschließt, dann hat es sein Ziel erreicht. Wir hoffen also, dass die Auslegungen der Wundererzählungen immer wieder neu Anlass zum Staunen und Glauben geben können. Wir wünschen, dass die Wundererzählungen weiterhin faszinieren, polarisieren und provozieren. Wundert Euch mit diesen Texten! Am Johannisfest 2012

Ruben Zimmermann und die Mitherausgebenden

3

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung Prolog: Wunder sind ›in‹ … oder: Die bleibende Faszination des Wunders »Wunder sind des Glaubens liebstes Kind«, hat Goethe einmal gesagt (Goethe 2009, 766). »Das war einmal …«, möchte man nach dem Läuterungsfeuer des kritischen Denkens und dem Siegeszug der empirischen Naturwissenschaft in der Welterklärung entgegenhalten. Wir müssen heute eher fragen: Darf man im 21. Jh. überhaupt noch von Wundern reden oder gar an Wunder glauben? Schon zu Beginn des 20. Jh. hatte Franz Rosenzweig, die Metapher Goethes aufnehmend, das Wunder nicht nur zu einem »Problemkind« erklärt, sondern ihm zugleich den Untergang vorausgesagt. Ausgerechnet die »vom Vater bestellte Pflegerin, die Theologie«, wird wissen, »was sie mit dem armen Wurm zu tun hat«, nämlich ihm beim Sterben zu helfen (ursprünglich 1921, vgl. Rosenzweig 1976, 103, zum vollen Zitat s. Zimmermann 2011a, 95). Nun haben sich zwar die Theologie und auch die Bibelwissenschaft redlich bemüht, der Aufgabe der aktiven oder passiven Sterbehilfe nachzukommen. Allein: Das Kind ist lebendiger als je zuvor. Ein Blick in die unterschiedlichen Artefakte der Kulturlandschaft zeigt, dass es sogar ein neu erwachtes Interesse an Wundern gibt, dass zumindest der Wunderdiskurs auch in der westlichen Industriegesellschaft regelrecht boomt. Als Gradmesser kann die Präsenz des Wundermotivs in Schlager und Popmusik gelten (dazu Pirner 2006; Kollmann 2011, 230-233). Waren die alten Klassiker von Zarah Leander (»Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen«, 1942) und Katja Ebstein (»Wunder gibt es immer wieder«, 1970) noch kaum verklungen, da hat die Sängerin Nena (geb. 1960) im Jahr 1989 ihr erstes Soloalbum veröffentlicht. Es trägt den Titel »Wunder gescheh’n«. Jüngst hat der Rapper JokA (geb. 1985) »Wunder gibt es immer wieder« (2011) mit Bezug zu Katja Ebstein online gestellt, wie auch der sich selbst »King of Rap« nennende Kool Savas (geb. 1975) einen Rapsong mit dem Titel »Ein Wunder« (2012) präsentiert. Auch im englisch-sprachigen Feld ist das Wundermotiv in der Musik häufig vertreten, wie nur einige Beispiele demonstrieren: Als Klassiker mögen hier »All I need is a miracle« (Mike and the Mechanics, 1985) oder der Song »It’s a miracle« von der britischen Rockband Queen genannt werden, der zugleich ihrem 13. Album den Titel »The miracle« (Queen, 1989) leiht. Die amerikanische Rockband »Jefferson Starship – next generation« (seit 1992) reiste mit dem Song »Miracles« (1998) um die Welt, und die kanadische Sängerin Sarah McLachlan (geb. 1968) veröffentlicht 2006 die Single »ordinary mircale«. Die bis dato unbekannte mexikanisch-amerikanische Sängerin Myra (geb. 1986) wurde mit ihrem Song »miracles happen« über Nacht berühmt (One-Hit-Wonder!) und wurde damit sogar für einen American Latino Media Arts Award nominiert. Darin singt sie: »Miracles happen/Miracles happen/You showed me faith is not blind/I don’t need wings to help me fly/Miracles happen/Miracles happen«. Der bekannte, in den USA wirkende afrikanisch-australische Rapper Samson Andah (geb. 1991) trägt sogar den Künstlernamen »Miracle«. Auch wenn nicht selten von einer »Renaissance des Wunderglaubens« (Euler 2008, 5

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

12; Twelftree 2004, 2517) gesprochen wird, macht doch schon der flüchtige Blick in die Songkultur sichtbar, dass die Rede vom Wunder keineswegs ›neu‹ oder gegenwärtig außergewöhnlich ist, sondern ein kontinuierliches Phänomen der Kulturgeschichte darstellt (s. Signori 2007; Fitschen/Maier 2006; vgl. ferner das Panorama anhand der Wunderbegriffe bei Geppert/Kössler 2011b, 49-68). Nur ein weiteres Beispiel: Die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte kann als Wunderdiskurs betrachtet werden. Dem »Wunder von Bern« (1954) folgte das »Wirtschaftswunder« (1960er), in den 1980er Jahren diskutierte man über »Wunderwaffen«, bevor dann der Mauerfall 1989 als »Das Wunder von Leipzig« (so der Titel des Doku-Dramas von Sebastian Dehnhardt und Matthias Schmidt in Arte, 2009) bezeichnet wurde. Dies ist zumindest eines der Ergebnisse eines Kongresses zum Thema »Wunder«, der am kulturwissenschaftlichen Institut in Essen im Jahr 2010 von Historikern durchgeführt wurde. Hier war aus primär geschichtswissenschaftlicher Perspektive das Reden über »Wunder«, die »Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert« in den Blick genommen worden (vgl. den Untertitel in Geppert/ Kössler 2011a). So bunt und vielfältig der Wunderdiskurs in Geschichte und Gegenwart ist, so bunt und vielfältig ist auch das, was jeweils unter »Wunder« verstanden wird. Im vorliegenden Band geht es um die Wunder Jesu, genauer um die Erzählungen, die von seinen Wundern berichten. Diese Textgebundenheit schränkt den Blick auf das Wunderphänomen und den Wunderdiskurs von vornherein ein. Statt in allgemeine Wunderdefinitionen (Nanko 2000; Olewinski 2009) oder historische (Daston 2003; Signori 2007), philosophische (Corner 2007; vgl. etwa zum »miracle argument« Putnams Carrier 1991), psychologische (Popp-Baier 2007; Ellens 2008) oder religionsgeschichtliche (Woodward 2000; Twelftree 2011b) Debatten einzutreten, soll die Beschäftigung mit Wundern ganz auf die frühchristlichen Wundererzählungen beschränkt werden. Diese literarische Schwerpunktsetzung weicht nicht Fragen der Historizität, der Vernunft oder der Verstehenspraxis aus. Sie stellt sie aber immer vom Text aus und mit klarem Textbezug. Das bringt wesentliche Akzentverschiebungen mit sich: Entsprechend geht es in historischer Hinsicht nicht um die allgemeine Frage, ob Jesus Wunder getan hat, sondern um die Frage, wie in Texten historische Referenzialität, also Vergangenheitsbezug, erzeugt wird. Die Frage nach Widersprüchen zwischen Vernunft und Wunder kehrt in der forschungsgeschichtlichen Frage nach »rationalistischen Auslegungsversuchen« wieder; oder der persönliche Umgang mit Wundern wird auf die hermeneutische Frage nach den Verstehensmöglichkeiten der Wundertexte konzentriert. Auch die Theologie der Wunder Jesu kann nicht in einem abstrakten Begriff oder einer Botschaft ›hinter‹, ›über‹ oder ›jenseits‹ des Textes entdeckt werden, sondern nur in und mit demselben. Die folgende Hinführung setzt zwei Schwerpunkte: Sie benennt im ersten Teil einige Grundprobleme, die sich im Umgang mit den Wundererzählungen stellen (1.). Diese Fragen werden in den nachfolgenden Themenartikeln weiter vertieft. Sie möchte im zweiten Teil eine »Leseanleitung« für das Kompendium geben, indem Grundentscheidungen des vorliegenden Bandes benannt und begründet werden (2.).

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1. Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen 1.1 Forschungsgeschichtliches: Zum Umgang mit dem Wundersamen Die Vorprägungen, Chancen und Begrenzungen der vorliegenden Interpretationen der Wundererzählungen lassen sich vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Auslegung besser wahrnehmen. Wie wurden Wundergeschichten innerhalb exegetischer Forschung gedeutet und erklärt? Was ist demgegenüber neu oder neu profiliert am Ansatz dieses Bandes? Die folgende forschungsgeschichtliche Skizze erhebt keineswegs den Anspruch, einen umfassenden Überblick über die exegetischen Arbeiten zu frühchristlichen Wunderzählungen zu geben (dazu Kollmann 1996, 18-41; Frey 1999; Alkier 2001a, 2-24; Twelftree 2004; Zimmermann 2011a, 95-125; für die frühere Forschung Maier 1986). Sie möchte stattdessen die hermeneutischen Prämissen offenlegen, die der explizite oder meist auch implizite Motor bei den unterschiedlichen Interpretationsansätzen waren.

1.1.1 Forschungsrückblicke: Versuche, das Wundersame zu erklären Mit dem Aufkommen eines neuzeitlichen, naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes wurde das in Wundererzählungen des Neuen Testaments Berichtete verschärft als unwahrscheinlich oder unmöglich erachtet. Die empirisch nachweisbaren Naturgesetze, etwa die Gesetze der Gravitation, verbieten es, dass ein Mensch auf dem Wasser geht, ohne einzusinken, um nur ein Beispiel zu nennen. So stellte sich die Frage der Vereinbarkeit von Vernunft und Wundergeschichte. Muss man rationale Überlegungen ausschalten, wenn es um Wundererzählungen geht? Besonders wirkmächtig ist etwa ein Satz Rudolf Bultmanns geworden, der im ersten Drittel des 20. Jh. diese Problematik benennt und sich kritisch positioniert: Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht (Bultmann 1948, 18).

In der modernen Wunderdeutung lassen sich von Beginn der Neuzeit bis in die Gegenwart drei Argumentationsmuster erkennen, um diesem Dilemma zu begegnen (dazu auch Alkier 2001a, 23-54): a) Deutung durch »historische Anpassung« Die Wunder Jesu im Neuen Testament sind Ausdruck einer Anpassung an Weltbild, Literatur und Erwartung der Zeitgenossen im 1. Jh.

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Bei Johann Salomo Semler (1725-1791) wurde dieses Deutungsmuster zuerst in einer historischen Weise vorgetragen. Jesus selbst habe sich an die Erwartung seiner Zeitgenossen angepasst. Aber auch die religionsgeschichtliche und später dann formgeschichtliche Wunderdeutung sind im Kern Akkomodationen: So vertrat man z. B. im Zuge religionsgeschichtlichen Vergleichens die Auffassung, die Verwandlung von Wasser zu Wein in Joh 2,1-11 greife ein »typisches Motiv der Dionysos-Legende« (Bultmann 1986, 83) auf; oder die Heilung von Kranken werde im Neuen Testament genau so erzählt, wie die Therapien am Asklepios-Heiligtum in Epidauros (vgl. dazu Popkes, Antikes Medizinwesen in diesem Band). Ein pointiertes Beispiel für eine solche Annäherung ist mit Adolf von Harnack gegeben: Erstlich, wir wissen, daß die Evangelien aus einer Zeit stammen, in welcher Wunder, man darf sagen, fast etwas Alltägliches waren. Man fühlte und sah sich von Wundern umgeben – keineswegs nur in der Sphäre der Religion. (…) Eine Durchbrechung des Naturzusammenhangs kann von niemandem empfunden werden, der noch nicht weiß, was Naturzusammenhang ist. So konnten die Mirakel für jene Zeit gar nicht die Bedeutung haben, die sie für uns hätten, wenn es welche gäbe (Harnack 1999, 69).

Die Faszination an Umfeldtexten hatte zwar zu Zeiten der religionsgeschichtlichen Schule einen besonderen Höhepunkt (vgl. Richard Reitzenstein; Otto Weinreich), zeigt aber eine lange Vorgeschichte, die bis zu Justin reicht (gest. um 165 n. Chr.): »Sagen wir endlich, er habe Lahme, Gichtbrüchige und von Geburt an Sieche gesund gemacht und Tote erweckt, wird das dem gleich gehalten werden können, was von Asklepios erzählt wird« (Justin Apol I 22, Übers. PG 6,362 f.). Auch heute ist der Reiz einer religionsgeschichtlichen Einbettung der Wunder Jesu keineswegs verblasst, wie Arbeiten von Erkki Koskenniemi (1994), Wendy Cotter (1999), John C. Cavadini (1999), Eric Eve (2002) oder Janett Spittler (2012) zeigen. Das historisch orientierte Verstehensbedürfnis vieler Exegeten scheint offenbar damit schon gestillt, dass man entsprechende Phänomene in der Umwelt des Neuen Testaments nachweisen kann. Aber was besagt das für die Wunder Jesu? Sind sie ›nur‹ Abklatsch zeitgenössischer Wunderfrömmigkeit – oder vielleicht auch quantitative oder qualitative Überbietung derselben (so z. B. Preisigke 1980, 246: »Das ist die grobsinnliche, aus heidnischer Zeit in das frühe Christentum hinübergleitende Anschauung«)? Ob bewusst oder unbewusst nimmt man den neutestamentlichen Wundererzählungen doch letztlich das Besondere, das Außergewöhnliche, das Anstößige. Sie werden historisch-kontextuell eingebunden und damit auch eingeebnet. Wird nicht das Handeln Jesu selbst angepasst, so doch die literarische Verarbeitung desselben. Um bei Zeitgenossen Gehör zu finden, hätten sich die neutestamentlichen Autoren des Motivarsenals des antiken Wunderdiskurses bedient oder ihre Erzählungen literarisch an das Muster der bekannten Wundergattungen angepasst. Hierbei wird allerdings übersehen, dass es bereits in der Antike eine ausgeprägte Diskussion über die Glaubwürdigkeit von Wundergeschichten gab, wie sie etwa im Anschluss an Kaiserwunder, der Debatte der Geschichtsschreiber oder schließlich der Auseinandersetzung des Origenes mit Kelsos nachweisbar ist (dazu Plümacher 2004a, 38-44; Herzer 2008, 239-242).

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Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

b) Deutung durch »rationalistische Erklärung« Die Wunder Jesu können rational erklärt werden, da das heutige Weltbild Analogien und Kontinuitäten zum Weltbild der Antike aufweist und insbesondere ein Widerspruch zwischen Naturgesetzen und geschichtlichen Ereignissen auszuschließen ist. Es waren v. a. Carl Heinrich Venturini (1768-1849) und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851), die, Überlegungen von Karl Friedrich Bahrdt (1740-1792) aufnehmend, zu Beginn des 19. Jh. eine solche rationalistische Deutung im größeren Stil vertraten: Was in der Bibel als Wunder erscheint, lässt sich mit heutigem differenzierteren Wissen erklären, ohne eine Durchbrechung der in der Moderne erkannten universellen Naturgesetze annehmen zu müssen. Jesus habe als Arzt mit Reiseapotheke und chirurgischen Instrumenten gewirkt, dem »rohen und ungebildeten« Volk, »dessen ganze Arzeneywissenschaft auf kuemmerliche Behandlung einiger aeußerlicher Krankheiten (…) beschränkt war«, mussten die medizinischen Praktiken Jesu wie ein Wunder vorkommen (zit. nach Kollmann 1996, 19f.). Dass der »geschickte Arzt« Jesus der Jaïrustochter mit einer kräftigen Tinktur die Schläfe bestreicht, der (schein)tote Lazarus in Grabkammern weiteratmet, oder der Gang Jesu über das Wasser als optische Täuschung bzw. Luft-Wasser-Spiegelung erklärt wird, mag uns heute zwar belustigen. Aber dieser rationalistische Erklärungswille ist auch gegenwärtig bei Rezipienten der Wundererzählungen breit vertreten: Die historisierende Frage »Was ist wirklich passiert?« wird dabei zur Frage von Vernunft und zeitübergreifender Wirklichkeitsbeschreibung: »Was kann wirklich passiert sein?« Wie kann ich mir das vorstellen vor dem Hintergrund meiner Kenntnis von Wirklichkeit, meiner eigenen Welterfahrung und der Einsichten der empirischen Naturwissenschaft? Entsprechend neigt auch die spätere und neuere Wunderinterpretation immer wieder dem rationalistischen Muster der Wundererklärung zu. Gerd Theißen etwa erklärt in seinem Jesusroman ›Der Schatten des Galiläers‹, dass das Brotwunder durch ein Teilen der vorhandenen Nahrungsmittel im großen Stil verstanden werden kann: »Wenn die Leute erst einmal glauben, daß genügend Brot für alle da ist, verlieren sie die Angst vor dem Hunger. Dann holen sie die Brotreserven heraus, die sie versteckt hielten, um nicht mit anderen teilen zu müssen. Sie geben von ihrem Brot ab« (Theißen 1993, 168). Ferner ist die pathologisch-medizinische Klassifizierung der Krankheiten diesem Erklärungswillen geschuldet: Vor dem Hintergrund moderner Diagnostik und Terminologie kann man das Anfallsleiden des Jungen (Mk 9,14-29) als »Epilepsie« (Wohlers 1999b) einstufen, man ›weiß‹ jetzt, dass die »verkrümmte Frau« (Lk 13,10-17) unter einer »Skoliose« der Wirbelsäule litt, oder erklärt die »Wassersucht« (Lk 14,1-6) mit dem – hier immerhin aus dem griechischen Terminus abgeleiteten – Krankheitsbild des »Hydrops« oder »Ödems« (vgl. Wolter 2008, 501). Und selbst für das derzeit noch Unerklärliche hat die Schulmedizin den Begriff der »Spontanheilung« geprägt, der auf die neutestamentlichen Texte übertragen werden kann (Lohfink 2011, 210). Besonders deutlich wird dieser rationalistische Zugang bei dem Versuch, dämonische Besessenheit rational erklären zu wollen: Unterschiedliche Erklärungsmuster wie z. B. Hysterie, Manie, Epilepsie (Trunk 1994, 36 zu Mk 9,14-29; Meier 1994, 647) oder etwa »Schizophrenie« bzw. »multiple personality disorder« (Weber 1999, 30; Davies 1995, 86; vgl. Pilch 2000) spiegeln je vorherrschende Konstruktionsmodelle in moderner Psychologie und Psychiatrie. Das im Text genannte, aber für moderne Rezipienten sperrige Phänomen der Dä9

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

monenbesessenheit soll auf diese Weise mit gegenwärtiger rationaler Theorie und Einsicht kompatibel gemacht werden (vgl. kritisch dazu Strecker 2002, 55). Auch die in der Forschung häufig anzutreffende Trennung und unterschiedliche Bewertung von Heilungs- und Naturwundern ist dieser Rationalisierungstendenz geschuldet, wobei man den vorstellbaren Therapien historische Plausibilität zubilligt, während die unglaublichen Naturwunder dem Reich und der Phantasie der späteren Gemeindebildung zugerechnet werden (vgl. Theißen 1998, 168f.274). Letztere erweitern für das damalige Weltbild die Macht des Auferstandenen über den Kosmos und den Tod (Dormeyer 1993, 170). Schließlich sind neuere Versuche zu nennen, die Heilungen oder Wunder allgemein mit Methoden der Psychosomatik, Parapsychologie, Hirnforschung, ja sogar der Quantenphysik (Tipler 2008; Bartlett 2010) erklären wollen. Dabei sollen Dämonenaustreibungen als Lösungen psychologischer Blockaden, Erscheinungen als Phänomene von Massensuggestion und der Gang Jesu auf dem Wasser mit der Überwindung der Schwerkraft durch den Neutrinostrahl verstanden werden. Das in den frühchristlichen Wundergeschichten Erzählte wird somit z. B. hinsichtlich der Krankheitsbilder terminologisch und klassifikatorisch in das gegenwärtig bestehende Wirklichkeitsmodell eingeordnet. Die damaligen Krankheiten gibt es heute auch noch, einzelne Körper- oder Naturphänomene sind vielleicht außergewöhnlich, aber nicht unerklärbar. Mit einer erweiterten Wissensbasis kann somit die Analogie und letztlich die Einheitlichkeit des Weltbildes erhalten bleiben. c) Deutung durch Übertragung des Bildhaften Die Wundergeschichte ist eine bildhafte Erzählung, die auf etwas anderes hindeutet als sie selbst, sie spielt auf zwei Ebenen: Die vordergründige Handlung ist ›nur‹ Vehikel einer grundlegenden (theologischen) Aussage, die es letztlich zu erkennen gilt. Von Theologen wie Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und Johann Philipp Gabler (1753-1826) oder dann David Friedrich Strauß (1808-1874) wurde das Paradigma geprägt, dass die Wundergeschichten gerade nicht geschichtlich gedeutet werden dürfen, vielmehr müsse ein tieferer Sinn, die »Idee« des Wunders erkannt werden. Die Wundererzählung wird somit zu einer mythologischen, bildhaften Erzählung, die auf etwas anderes hindeutet als sie selbst. Farbe und Leinwand dürfen nicht mit dem verwechselt werden, was dargestellt werden soll. Es gelte folglich, den eigentlichen Gegenstand der Erzählungen wahrzunehmen. Die existenzialistische Wunderdeutung Bultmanns setzt bei dieser Perspektive einen prägenden Meilenstein. Er kritisiert zunächst das mythologische Gewand, das uns in den Erzählungen oft entgegentritt. Entsprechend formuliert er: Die ›Wunder Jesu‹ (sind), sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre (Bultmann 1965-66, 227).

Allerdings könne nach der Entmythologisierung der Texte ihr Kerygma, ihre eigentliche Botschaft erkannt werden, die auch gegenwärtig noch zum Glauben ruft. 10

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

Für den Bultmannschüler Walter Schmithals spiegelt sich in den Wundererzählungen »gleichnishaft die ganze Botschaft des Evangeliums wider (…). Die neutestamentlichen Wundergeschichten berichten nur scheinbar von merkwürdigen Ereignissen aus dem Leben des irdischen Jesus. In Wahrheit verkündigen sie, was Gott durch Jesus, d. h. durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn der Gemeinde, an dieser Gemeinde und an der Welt tun will« (Schmithals 1970, 25f.). Entsprechend seien auch die Texte auf das verkündigte Wort zu konzentrieren. Heilungshandlungen oder gar magische Beschwörungsformeln (vgl. Mk 7,34; 8,22-26) seien Relikte, die aufgegeben werden müssten. Man glaubte in redaktionsgeschichtlicher Perspektive sogar, innerhalb der Evangelien selbst eine Art »Wunderkritik« wahrnehmen zu können (Kertelge 1970; Koch 1975, dazu Kollmann 2011, 119-129). Für Jens Herzer werden »die Wundertaten von Jesus selbst bereits als Zeichen der anbrechenden Herrschaft Gottes interpretiert« (Herzer 2008, 249, kursiv J. H.). Es geht nach Herzer auch »dem Erzähler des Evangeliums bei den Wundern also nicht um Jesus als Wundertäter, sondern um die in seinem Wirken sichtbar und erfahrbar werdende Nähe der Gottesherrschaft« (ebd.). Auch Gerd Theißen versteht in dem dritten (wenig beachteten) Teil seiner Habilitationsschrift die »Wundergeschichten als symbolische Handlungen« (Theißen 1998, 229-297), die eine soziale, religionsgeschichtliche und zuletzt auch existenzielle Funktion erfüllen. Obgleich mit der Tiefenpsychologie von C. G. Jung bei Eugen Drewermann ein völlig anderer Theoriehintergrund gegeben ist, bleibt auch seine Auslegung hermeneutisch in der Linie bildhafter Interpretation (Drewermann 1990, 43-309, dazu Zimmermann 2011a, 113-117). Der äußere Ablauf des Geschehens einer Wundergeschichte (Objektstufe) müsse auf ein Geschehen der Psyche (Subjektstufe) übertragen werden. Innerhalb einer solchen Amplifikation könne ein Rezipient archetypische Motive und grundlegende urmenschliche Konflikte erkennen und auf sein eigenes Leben übertragen. Die im Text angebotenen Lösungsansätze könnten somit auf dem Weg der Selbstwerdung helfen. Auch hierbei wird zwischen Bildhaft-Symbolischem und Eigentlichem unterschieden: »Das Geschenk der Nähe Gottes ist das eigentliche Wunder unseres Lebens« (Drewermann 1989, 408). Viele Spielarten einer derart symbolischen Wunderdeutung ließen sich hier noch anführen. Für Marius Reiser haben die Erzählungen »etwas Transparentes und Symbolisches an sich, das dem erzählten Geschehen einen weiteren Sinn und eine tiefere Bedeutung verleiht. Ohne die symbolische Dimension wären sie für uns lediglich wunderbare Geschichten aus alter Zeit« (Reiser 2011, 169). Als Zeichenhandlung, in ihrer »symbolischen Natur« hingegen können sie zu »aktuellen Geschichten (werden), die uns etwas zu sagen haben« (ebd.). Wundererzählungen werden dabei in die Nähe von Gleichnissen gerückt (Reiser 2011, 175), wie es auch Manfred Köhnlein vollzieht. Wenn er die Wundergeschichten als »Fenster der Hoffnung mit dem Blick auf und in eine bessere Welt« (Köhnlein 2010, 17) bezeichnet, dann kommt diese Beschreibung seiner Parabeldefinition gleich, die er als »Visionen einer besseren Welt« (Köhnlein 2009) tituliert. Köhnlein schreibt dann auch: »Wunder können Gleichnisse sein und Gleichnisse Wunder« (Köhnlein 2010, 17). Aber wird auf diese Weise die Wundergeschichte nicht in ihrem Eigenwert aufgelöst? Alle Deutungsmuster in dieser Richtung treffen sich in einem Punkt: Die neutestamentliche Wundererzählung wird als bildhafter Text gelesen, der gerade nicht wörtlich 11

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

im eigentlichen Sinne des Erzählten, sondern nur entmythologisiert, übertragen, amplifiziert oder gleichnishaft zu verstehen sei. Fazit: So unterschiedlich diese Deutungsmuster auch sind, sie treffen sich in einem entscheidenden Punkt: Sie teilen jeweils das Interesse, die Wunder erklärbar zu machen. Aber werden diese Ansätze den Texten selbst gerecht? Erkaufen sie dieses Ziel nicht mit der Preisgabe der Wundererzählung selbst? Entspricht es der intentio operis einer Wundererzählung zu sagen: »Damals hat doch jeder geglaubt, dass man über das Wasser gehen kann. Dass Tote wieder herumlaufen oder Blinde plötzlich sehen, war da ganz normal« (akkomodierend); oder: »Und übrigens: Was ihr ja schon längst von Asklepios gehört habt, das konnte dieser Jesus auch« (religionsgeschichtlich); oder: »Es war einmal ein Kranker, der geheilt wurde – und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute«; ach so: eine typische Wundergeschichte! (formgeschichtlich); oder: »Hätten die Menschen damals nur unser Wissen über die Naturgesetze gehabt, dann wären sie nie auf die Idee gekommen, die Handlung Jesu als ›Wunder‹ zu bezeichnen« (rationalistisch); oder: »Eigentlich geht es ja um etwas ganz anderes; Jesus hätte streng genommen gar nicht heilen müssen, es kommt allein auf die Glaubensbotschaft an« (kerygmatisch); oder: »Wer die archetypischen Motive in der Erzählung erkennt, weiß auf einmal, wo er selbst krank und besessen ist. Wer könnte sich dann noch dem Prozess der Selbstfindung entziehen?« (tiefenpsychologisch). Diese Formulierungen wollen überspitzt aufzeigen, dass die hermeneutische Intention früherer Forschungsrichtungen die Texte in einem m. E. unsachgemäßen Sinn unterwandert hat. Es war vielfach ein ›Gegen-den-Strich-Lesen‹ der Wundertexte, um sie der eigenen Fragestellung gegenüber gefügig zu machen. Die Wunderexegese der letzten zwei Jahrhunderte kann somit über weite Strecken als Versuch gesehen werden, wesentliche Aspekte und Elemente der Wundertexte zu missachten. Ist es das Ziel der Wundertextexegese, Ent-Wunderung voranzutreiben?

1.1.2 Ein Neuansatz: »Man darf sich wieder wundern« Im folgenden Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen soll hingegen der Text selbst im Mittelpunkt stehen. Es ist gewissermaßen eine Rückkehr zum Text, nachdem man sich lange Zeit mit den Ereignissen (etwa im Leben Jesu), Umfeldtexten (etwa in Epidauros oder im Judentum), der abstrakt aus dem Text herausgelesenen Botschaft (etwa dem Kerygma in der Bultmann-Schule) und dem Symbolgehalt beschäftigt hatte. Ein literaturwissenschaftlicher Ansatz der Auslegung versucht, gerade in dem Moment der Verwunderung ein die Texte konstituierendes Element zu erkennen. Es wegzuerklären, wäre demnach nicht nur falsch und unproduktiv, sondern würde auch ein entscheidendes Merkmal, ja das wesentlich gattungskonstitutive Merkmal der Wundererzählung ausmerzen (dazu unten unter 1.2.2). Ich möchte stattdessen dieses Element zunächst wahrnehmen und auch ernstnehmen. Der Text möchte, so die These, als Wundertext insofern verstanden werden, als er 12

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

eine Handlung bzw. ein Ereignis als sinnlich wahrnehmbar und konkret darstellt und dabei das Durchbrechen der Normalität und des Erwartbaren betont. Das Wundern soll gerade den Leser bzw. die Rezipientin des Textes erreichen und erfassen. Ziel dieser Texte ist es, dass sich die Rezipienten gleichsam mit den Augenzeugen und Handlungsfiguren auf der Erzählebene wundern. Blicken wir schon einmal in Abschnitte dieser Texte hinein: Da lesen wir, dass die Menschen nach der Heilung eines Gelähmten sagen: »So etwas haben wir noch niemals gesehen (o˜tw@ o'dffpote e—domen houto¯s oudepote eidomen)« (Mk 2,12); nach der Heilung eines stummen Menschen heißt es: »Und es staunten die Volksmengen und sagten: Noch niemals erschien so etwas in Israel (o'dffpote ¥f€nh o˜tw@ ¥n t† 3Israffil oudepote ephane¯ houto¯s en to¯ Israe¯l)« (Mt 9,33). Außer der hier geschilderten Reaktion der beim Wunder Jesu anwesenden Menschen wird das Wunderbare und Außergewöhnliche auch durch die Schilderung der Not hervorgehoben: Immer wieder werden Jahres- und Zeitangaben genutzt, um die Schwere und Hoffnungslosigkeit der Erkrankung hervorzuheben (Mk 5,25: 12 Jahre Blutfluss; Lk 13,10: 18 Jahre Verkrümmung; Joh 5,5: 38 Jahre Lähmung; Joh 9,1: Blindheit von Geburt). Figuren auf Erzählebene verstärken beim Leser den Eindruck der Ausweglosigkeit: Nach dem Tod des kranken Mädchens treten Boten auf und sagen: »Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger?« (Mk 5,35), wie auch die Leute aus dem Volk Jesus verspotten und auslachen (Mk 5,40), als er vom Schlaf der Toten spricht. In ähnlicher Weise interveniert auch Martha vor dem Grab des Lazarus und weist darauf hin, dass Lazarus schon vier Tage tot sei, ja sogar der Verwesungsgestank schon eingesetzt habe (Joh 11,39). Ferner wird hervorgehoben, dass das von Menschen erwartbare oder ihnen mögliche Tun ausgeschöpft und an die Grenzen gekommen ist. So erfährt der Leser, dass die ›blutflüssige Frau‹ schon erfolglos viele Ärzte aufgesucht und ihr ganzes Vermögen verbraucht hat (Mk 5,26), Jünger kommen bei ihren Möglichkeiten zu heilen (Mk 9,18 par.) oder zu speisen (Mk 6,37) an ihre Grenzen, auch erfahrene Fischersleute werden beim Fischen (Lk 5,5) oder in einem Sturm (Mk 4,38) hilflos gezeigt, wie auch der Gelähmte am Teich Betesda, der »keinen Menschen« hat, der ihm ins Wasser helfen könnte (Joh 5,7). Der mit Dämonen Besessene kann von keiner Kette, von keiner menschlichen Macht mehr gebändigt werden (Mk 5,3-5). Alle diese Erzählelemente dienen dazu, das Wunderbare zu verstärken. Narratologisch betrachtet geht es hierbei um retardierende Elemente, die ganz bewusst den Handlungsverlauf verzögern und sogar stören, aber damit ihre Wirkung nicht verfehlen: Die Leser und Leserinnen sollen begreifen, dass hier etwas erzählt wird, das die Normalität durchbricht. Offenbar sollen diese Texte gerade »haarsträubend mirakulös« und »sensationell« (Avemarie 2011, 61) wirken, und zwar nicht erst für den modernen, sondern auch für den antiken Leser. Beim Hinweis auf Kulturdifferenz und veränderter Wirklichkeitswahrnehmung wurde oft übersehen, dass auch die Antike über die Grenzlinie zwischen ›möglichen‹ und ›unmöglichen‹ Geschichten diskutierte (s. o., vgl. Plümacher 2004a, 38-44; mit Lindemann 2003, 189). Ich möchte im Folgenden zwei Aspekte vertiefen, an denen exemplarisch gezeigt werden kann, wie verengt und einseitig die Wunderexegese vielfach durchgeführt wurde. 13

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Mit den Motiven des Staunens sowie der Sinnlichkeit werden Elemente benannt, die m. E. in der zurückliegenden Forschung besonders vernachlässigt wurden. a) Staunen und Erschrecken Das Element des Staunens, der Verwunderung (zum Begriff qaum€zw thaumazo¯ s. u.), ja sogar des Schreckens ist für die neutestamentlichen Wundererzählungen konstitutiv. Es begegnet meist als erzählte Reaktion auf die Handlung des Wundertäters. Was Martin Dibelius in seiner Formgeschichte pauschal als »Chorschluss« (Dibelius 1971, 50.54f. 64.72) klassifiziert hat, unterteilt Gerd Theißen bei seiner Motivanalyse in »Admiration«, »Akklamation« und in gewissem Sinn auch »ablehnende Reaktion« (Theißen 1998, 7881). Die Admiration wird weiterhin in »intentionales und zuständliches Staunen, SichEntsetzen und Über-Etwas-Staunen« (ebd., 78) zergliedert. Diese Motivanalyse zeigt bereits die Variationsbreite und Bedeutung, die diesem Element der Erzählungen zukommt. In narratologischer Hinsicht ist besonders die Wirkung auf den Leser herauszuarbeiten. Die verwendeten Begriffe und auch ihre Erzählweise wollen keineswegs ›nüchtern berichten‹, sondern beabsichtigen, dass die erzählte Verwunderung von der Ebene der story im Akt des Lesens auf den Lesenden überspringt. So heißt es nach dem ersten Wunder im Markusevangelium: »Und sie erschraken alle, so dass sie untereinander stritten und sagten: Was ist dies?« (Mk 1,27). Das Wunder Jesu löst Furcht und Schrecken aus, es ruft zugleich Streit und Fragen hervor. Das hier zunächst verwendete Wort qambffomai (thambeomai – erschrecken) ist bald so fremd und ungebräuchlich wie die Lehre Jesu. Es wird im Neuen Testament nur noch in Mk 10,24 und 10,32 verwendet, an letzterer Stelle synonym zu fobffomai (phobeomai – sich fürchten). Dieses Semantem taucht häufig im Zusammenhang mit Wundern auf: Entsprechend wird die Sturmstillung kommentiert, verstärkt in einem semitischen Pleonasmus: ¥fobffiqhsan fbon mffgan (ephobe¯the¯san phobon megan – sie fürchteten sich mit großer Furcht, Mk 4,41). Auch bei der Heilung des Geraseners »fürchten« sich die Bewohner des Zehnstädtebundes nach dem Anblick des Geheilten (Mk 5,15). Furcht kann die Augenzeugen ergreifen, aber ebenso die Geheilten selbst: So reagiert die blutflüssige Frau »mit Furcht und Zittern« (fobhqe…sa ka½ trffmousa – phobe¯theisa kai tremousa, Mk 5,33) auf ihre Heilung. Jesus fordert den Synagogenvorsteher angesichts der Krankheit seiner Tochter auf, sich »nicht zu fürchten« (Mk 5,36), ebenso wie seine entsetzten Jünger, die ihn über das Wasser laufen sahen (Mk 6,50). Furcht, Erschrecken, ja sogar große Aufregung (wörtl. Ekstase: Mk 5,42b: ka½ ¥xffsthsan [e'q±@] ¥kst€sei meg€l–h kai exeste¯san [euthys] ekstasei megale¯) sind die Reaktionen, von denen wir in den Texten selbst lesen. Vielfach bleiben sie offen stehen, ohne erklärt und besänftigt zu werden. Aber gerade diese Erzählmotive entfalten eine Appellstruktur für den Leser bzw. die Leserin. Man wird hier wohl kaum sagen können, dass das »Rätselhafte und Sensationelle des Geschehens« ›nur‹ die deutsche Enzyklopädie zu Wunder wiedergibt und »das Erleben des Wunderrezipienten« für die antiken Wundertexte keine Rolle spiele (so Alkier 2001a, 291 mit Blick auf das paulinische Christentum). Auch die früher vertretene traditionsgeschichtliche ›Lösung‹, nach der zwar im Markusevangelium noch archaische Wunderelemente der Furcht und des Staunens vorhanden seien, die frühchristliche Überlieferung sie aber zunehmend in den Hintergrund rücke, wird durch den Blick in die Quellen obsolet: So wird z. B. das Furchtmotiv bei 14

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Lukas in den von Markus übernommenen Teilen noch verstärkt. Die Furcht wird als grammatisches Subjekt personifiziert und damit aufgewertet (Mk 1,27: ¥qambffiqhsan ethambe¯the¯san > Lk 4,36: ka½ ¥gffneto q€mbo@ ¥p½ p€nta@ kai egeneto thambos epi pantas, vgl. auch Lk 1,12; 5,9; 7,16; 8,37; dazu bereits Theißen 1998, 79). Ferner wird die Reaktion des Staunens und Entsetzens ausgeweitet (Mk 2,12: alle entsetzten sich – ¥xfflstasqai p€nta@ existasthai pantas > Lk 5,26: Und Entsetzen erfasste alle [ka½ ˛kstasi@ ˛laben ¿panta@ kai ekstasis elaben hapantas] und sie verherrlichten Gott und wurden erfüllt von Furcht [fbou phobou] und sagten: »Wir sahen heute Unglaubliches« [par€doxa paradoxa]). Auch die Johannesexegese spricht mehrheitlich von einer Verstärkung und Intensivierung des Wunderhaften, wie es an der Entfernung bei der Fernheilung in Joh 4, den 38 Jahren in Joh 5, den 200 Denaren in Joh 6, der schweren Blindheit in Joh 9 oder der Dauer des Todes in Joh 11 gezeigt werden kann. Entsprechend folgert Welck: »Es werden besonders drastische Wunder erzählt; wo der Vergleich mit den Wundergeschichten der synoptischen Tradition möglich ist, ist zu beobachten, daß die johanneischen Wundergeschichten häufig das Wunderhafte in einzelnen Zügen noch steigern« (Welck 1994, 61; Kursivierung im Original). Diese kleine Skizze abschließend, können wir festhalten, dass die Erzählungen bemüht sind herauszustellen, dass die Handlung des Wundertätigen – hier Jesus – bewusst den Bereich des Normalen übersteigt. Dies wird an erzählerischen Details, v. a. aber an der Reaktion der anwesenden Figuren sichtbar. Das Wunder löst nicht nur Bewunderung, sondern vielfach Furcht und Entsetzen aus. Die Wundererzählungen haben ein besonderes Interesse, diesen Aspekt festzuhalten und – wie wir in der Verarbeitung der markinischen Motive bei Lukas oder bei Johannes gesehen haben – sogar auszubauen und zu gestalten. Es darf – ja es soll nicht nur gewundert, sondern sogar gefürchtet werden. Ob hier »Admiration« die treffende Überschrift zu diesen Reaktionen ist, wage ich zu bezweifeln. Was hier erzählt wird, soll nicht religionsgeschichtlich angepasst, rational plausibilisiert oder bildlich relativiert werden. Es soll Furcht und Schrecken auslösen, beim Lesenden selbst Irritationen und Fragen hervorrufen, wie es bei Markus sogar erzählerisch dargestellt wird. Es soll gerade Bekanntes, Rationales und Plausibles in Frage gestellt werden. Diese Verunsicherung und Furcht darf keineswegs heruntergespielt oder exegetisch gefügig gemacht werden. Sie ist aber auch keine Furcht, die lähmt oder verzweifeln lässt. Sie ist produktiv und wirksam und führt letztlich zu Erkenntnis. Sie befördert eine »Heuristik der Furcht« – wie Hans Jonas einmal gesagt hat (vgl. Jonas 2012). b) Berühren Als zweites Beispiel möchte ich den Aspekt der »Berührung« herausgreifen, der lange Zeit missachtet wurde. Die Art und Weise, wie Jesus heilt, ist zweifellos vielfältig (vgl. bereits van der Loos 1965, 305-336: »Jesus’ Methods of Treatment«). Mal heilt er scheinbar beiläufig wie bei den zehn Aussätzigen in Lk 17,11-17 (»beim Fortgehen wurden sie rein«), mal spricht er klare Worte zum Kranken (Mk 2,11: »Steh auf!«), gebietet machtvoll dem Dämonen auszufahren (Mk 1,25) oder befiehlt sogar dem Fieber, den Menschen zu verlassen (Lk 4,39), mal reicht ein Wort aus der Ferne, wie an verschiedenen Fernheilungen sichtbar wird (z. B. Q/Lk 7,1-10: Hauptmann von Kafarnaum), mal handelt er demonstrativ in aller Öffentlichkeit (Joh 11,1-44), mal sondert er den Kranken ab, um mit ihm allein vor dem Dorf zu sein (Mk 8,23). 15

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Allerdings zeigen doch viele Erzählungen, dass Jesus durch körperlichen Kontakt, durch Berührungen heilt. Die frühere Exegese hat diese körperliche Dimension der Zuwendung heruntergespielt. Im Zuge der »Wort-Gottes-Theologie« (K. Barth) wurde alles auf das Wort konzentriert. Handlungen wurden als Relikte aus magischen Ritualen betrachtet, die nicht mit der Botschaft des Neuen Testaments vereinbar seien, ja die dem Glauben sogar hinderlich sein können. Ein Beispiel für diese Einschätzung gibt Walter Grundmann: »Nicht die Kenntnis magischer Mittel und Formeln, sondern die personale Beziehung zwischen Gott und Jesus einerseits, zwischen Jesus und den Menschen andererseits wirkt ohne magischen Zwang und Vergewaltigung das Wunder« (Grundmann 1935, 303). Letztlich komme es auf den Glauben an, weshalb sich auch der dreimal im Zusammenhang mit einer Wunderhandlung überlieferte Satz »Dein Glaube hat dich gerettet« ( pfflsti@ sou sffswkffn se he¯ pistis sou seso¯ken se, vgl. Mk 5,43 par., 10,52 par.; Lk 17,19) besonderer Beliebtheit erfreute. Er ist aber – wie Lukas zeigt – nicht spezifisch auf Wundererzählungen beschränkt (vgl. Lk 7,50). Die Missachtung des Körperlichen wird hingegen der Fülle der neutestamentlichen Heilungserzählungen nicht gerecht. Eindrücklich werden einzelne Handlungen bis hin zu kleinsten Details erzählt. So ist es die Berührung Jesu (genau genommen nur seines Gewandes), die bei der blutflüssigen Frau die Heilung erbringt, noch bevor sich Jesus ihr überhaupt zuwenden kann. In ganz ›stofflicher Weise‹ wird von einer Kraftübertragung von Jesus auf die Frau berichtet: Mk 5,27-31 (27) Als die (Frau) von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. (28) Denn sie sagte sich: »Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund.« (29) Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie spürte es am Leibe, dass sie von ihrer Plage geheilt war. (30) Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, und wandte sich um in der Menge und sprach: »Wer hat meine Kleider berührt?« (31) Und seine Jünger sprachen zu ihm: »Du siehst, dass dich die Menge umdrängt, und fragst: ›Wer hat mich berührt?‹« Mehrfach spricht der Text explizit von der Berührung (¿ptomai haptomai – berühren, V. 27.28.30.31). Die Verdopplung der Frage Jesu durch die Jünger scheint gerade die Dimension der Berührung hervorzuheben. Auch das Gedränge, das Kleid, die körperliche Wahrnehmung des Kraftflusses Jesu wie auch des Versiegens der Blutquelle der Frau und überhaupt auch das »Blut« betonen das Stoffliche und Leibliche (sma so¯ma – Körper, V. 29) in der Szene. Eindrucksvoll erzählt auch Mk 8,22-26, wie der Blinde geheilt wird: Mk 8,22-26 (22) Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. (23) Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: »Siehst du etwas?« (24) Der Mann blickte auf und sagte: »Ich sehe Menschen; denn 16

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

ich sehe etwas, das wie Bäume aussieht und umhergeht.« (25) Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich. Er war geheilt und konnte alles ganz genau sehen. (26) Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: »Geh aber nicht in das Dorf hinein!« Die Bitte um Heilung wird hier ganz auf die Bitte nach Berührung zugespitzt (V. 22). In der Berührung durch Jesus werden sich Gesundung, Heilung, ja Heil und Erkenntnis einstellen. Jesus scheut keinen Körperkontakt. Er verwendet sogar seine eigenen Körpersäfte (Speichel) und legt ihm die Hände mehrfach auf. Noch intimer, absonderlicher wird die Heilung des Taubstummen in Mk 7,32-36 berichtet: Mk 7,33 Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel. Wie schon bei der Blindenheilung sondert Jesus den Kranken ab, er berührt ihn mit den Fingern, dann sogar die Zunge mit seinem Speichel. Dazu spricht er noch Worte in einer – vermutlich schon für die Empfänger des Markusevangeliums – unverständlichen Sprache: »Hefata!« Derartige Berührungen Jesu sind keine Einzelfälle: Er fasst die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,41 par.) an der Hand oder berührt Blinde (Mt 9,29; 20,34). Jesus berührt sogar aussätzige Menschen (Mk 1,40-45), obwohl Körperkontakt mit ihnen aufgrund der ›unreinen Krankheit‹ ausdrücklich verboten war (s. Kollmann, Krankheitsbilder in diesem Band). Selbst vor der Berührung des Toten (genau genommen: des Sarges des Toten) bei der Erweckung des Jungen zu Naïn (Lk 7,14) macht er nicht Halt. Auch bei diesen Aspekten der Wundererzählungen ist die weitere synoptische Überlieferung keineswegs uninteressiert. Für Matthäus ist das Berühren eine typische Heilgeste (Mt 8,3.15; 9,29, vgl. Mt 9,20f.; 14,36), bei Lukas wird die manuelle Dimension über die synoptischen Parallelen hinaus noch im Sondergut belegt (Lk 13,13; 22,51). Bei der Heilung der verkrümmten Frau wird nach dem Heilungswort explizit noch das Auflegen der Hände genannt (Lk 13,13 ¥pffqhken a't» tÞ@ ce…ra@ epethe¯ken aute¯ tas cheiras – er legte ihr die Hände auf), bevor die Heilung bestätigt wird. Auch bei Johannes ist keine Reduktion auf das reine Wort erkennbar, vielmehr wird beim Blindgeborenen ein aufwändiges Verfahren mit Erde, Speichel, Bestreichung und Waschung (Joh 9,6) beschrieben. Die für Johannes konstitutive Einbeziehung der Sinne (Lee 2002) spiegelt sich auch in seiner Darstellung der Wunder, wie die Dimension des Schmeckens in Joh 2, des Sehens und Hörens in Joh 4, 6 und 9, des Bewegens und Berührens in Joh 5 und 9 sowie des Hörens und Riechens in Joh 11 spüren lässt. Dass in diesen sinnlichen und haptischen Handlungen nicht nur – wie man früher glaubte – Überbleibsel magischer Handlungen (etwa aus vorliegenden Quellen, dazu Kollmann, Magie in diesem Band) vorliegen, wird daran erkennbar, dass die Evangelisten in Versen, die die Heilungstätigkeit Jesu übergreifend zusammenfassen (so genannte »Summarien«), expressis verbis auf die Berührung hinweisen. Mk 3,10 Denn er heilte viele, so dass alle, die ein Leiden hatten, sich an ihn herandrängten, um ihn zu berühren. 17

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Lk 6,19 Und die ganze Volksmenge suchte ihn zu berühren, weil Kraft von ihm ausging und er alle heilte. Wenn man davon ausgeht, dass diese Verse aus der Hand der Evangelisten stammen, so kann man nicht mehr behaupten, dass für sie die körperliche Dimension innerhalb der Heilungshandlung keine Rolle spiele. Es sind im Gegenteil offenbar die Berührungen, der enge Kontakt mit Jesus, der zur Heilung führt. In Lk 6,19 spiegelt sich wie in Mk 5,43-48 sogar die Vorstellung, dass durch die körperliche Berührung eine Kraftübertragung erfolgt. Diese skizzenhaften Analysen wollen verständlich machen, worauf es bei der folgenden Analyse der Wundererzählungen ankommt: Sie stehen als Texte mit allen ihren Aspekten im Zentrum. Dabei geht es nicht nur um das »Was« der erzählten Handlung, sondern gerade auch um das »Wie«, womit eine Grundunterscheidung der Erzähltheorie aufgenommen wird (dazu unten). Einzelne Aspekte der Erzählung wie hier die Motive des Erschreckens oder Berührens dürfen nicht dogmatischen Vorentscheidungen geopfert werden. Wer von Wundern erzählt wie die Evangelisten, der möchte seine Botschaft nicht »jenseits« und »trotz« dieser Erzählungen, sondern gerade »mit« und »durch« sie zum Ausdruck bringen. Sie als »Wundererzählung« ernst zu nehmen und sie als solche zum Sprechen zu bringen, ist eine der Aufgaben des Kompendiums. Die Texte laden dabei mit sprachlichen Mitteln ein, sich in die Verwunderung und Irritation mit hineinnehmen zu lassen, von denen sie erzählen. Wer diese Texte verstehen will, darf, ja muss sich sogar mit ihnen wundern.

1.2 Literaturwissenschaftliches: Sprache und Form des Wunderhaften Weder hinsichtlich der Anzahl noch der Systematik der Wunder Jesu im Neuen Testament herrscht Einigkeit innerhalb der Bibelwissenschaft. Dies hängt – ähnlich wie bei den Parabeln/Gleichnissen – mit dem Problem der Mehrfachüberlieferung ebenso wie mit der Frage nach den unterschiedlichen Definitionen der Textsorte zusammen. Gegenüber den Parabeln/Gleichnissen verstärkt sich die Offenheit des Gegenstandes allerdings dahingehend, dass dort bei den Autoren des Neuen Testamants durch die einleitende Verwendung zweier Quellenbegriffe (parabolffi parabole¯ und paroimffla paroimia) ein klareres Gattungsbewusstsein zu erkennen ist. Für das Wunder ist die Wahrnehmung übergreifender Termini im Griechischen des Neuen Testaments schwieriger. Bevor im Folgenden die sprachliche Gestalt der Gattung Wundererzählung näher in den Blick genommen wird (1.2.2), soll deshalb zunächst eine Orientierung über das semantische Feld des Wunderhaften gegeben werden.

1.2.1 Wundertermini im Neuen Testament: Eine semantische Orientierung Befragen wir aus unserer Diskurswelt des ›Wunders‹ heraus die frühchristlichen Texte, so ist zunächst die Frage nach Termini der Quellensprachen, v. a. des Altgriechischen ge18

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

stellt. Welche griechischen Begriffe können zum »semantischen Feld« (dazu Alkier 2001a, 288-296) des Wunders gerechnet werden? Die Fragestellung steht freilich in einem hermeneutischen Zirkel, der auch semiotisch (gegen Alkier 2001a, 86-88.291) nicht zu durchbrechen ist. Es ist immer die prefiguration (Ricœur 1988, 88f.) bzw. das enzyklopädische Wissen (Eco) unserer Kulturwelt, die als Filter in der Wahrnehmung und Auswahl der Quellenbegriffe fungieren, auch wenn zunächst eine sehr weite Einstiegsdefinition herangezogen wird wie diejenige von Ulrich Nanko im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (Nanko 2000, 386): Das dt. Wort ›Wunder‹ bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten herausfällt; das semantische Feld reicht von einem ›Unerwarteten‹ bis zu der ›Norm-Überschreitung‹. Die Reaktion auf dieses Ereignis kann einerseits zu Staunen und Bewunderung, andererseits zu Schrecken, Furcht und Angst führen.

Bei der Frage nach Termini und ihrer Bedeutung im Diskursuniversum der Quellensprache begeben wir uns methodisch in das Gebiet der Semantik, genauer der ›historischen Semantik‹ (vgl. dazu Fritz 2006). Welche griechischen Termini also stecken das semantische Feld des Wunderhaften im Neuen Testament (und seiner Umwelt) ab? Beginnen wir, die Definition von Nanko aufgreifend, mit dem Begriff des »Paradoxen« für das unerwartete, unglaubliche Geschehen. Der griechische Terminus t par€doxon (to paradoxon, pl. tÞ par€doxa ta paradoxa) ist in der antiken Welt durchaus verbreitet und ist zum Leitbegriff der spätantiken Sammlungen der so genannten paradoxogr€foi (paradoxographoi), d. h. Sammlungen phantastischer Geschichten, geworden (vgl. Paradoxographus Vaticanus; Paradoxographus Florentinus etc., dazu etwa die Liste bei Ziegler 1949, 1137-1166, ferner Wenskus/Daston 2000; jetzt Spittler 2013). Kallimachos wird als der frühe Vater solcher Listen angesehen. Die erhaltene Schrift des Antigonus von Carystos (3. Jh. v. Chr.), dem wir diesen Hinweis verdanken, trägt den Titel 2Istorin paradxwn sunagwgffi (historio¯n paradoxo¯n synago¯ge¯), also »Sammlung der historischen Paradoxa/Wunder«. Ein Text mit der Überschrift Per½ Qaumasfflwn ⁄kousm€twn (peri thaumasio¯n akousmato¯n), etwa »Über Dinge, die wunderbar zu hören sind«, wurde Aristoteles zugeschrieben, ist aber sicherlich pseudepigraph. Auch im frühen Christentum wird der Begriff aufgenommen, indem Clemens von Rom die mythische Gestalt des Phönix als ein »unglaubliches Zeichen« (t par€doxon shme…on to paradoxon se¯meion) bezeichnet (1Clem 25f.), er hat ihn offenbar aber nicht auf die Wundertaten Jesu bezogen. Auch die Septuaginta verwendet den Begriff nur selten und nicht mit Bezug auf die Wundertaten Moses oder der Propheten (vgl. 2Makk 9,24; Sir 43,25). Im Neuen Testament begegnet der Terminus nur ein einziges Mal in der lukanischen Fassung der Gelähmtenheilung. Nachdem der Gelähmte seine Trage genommen hat, sagen die Umstehenden: e—domen par€doxa sffimeron (eidomen paradoxa se¯meron – Lk 5,26): »Wir haben heute paradoxa, d. h. Wundertaten, gesehen«. Ähnliche Zurückhaltung zeigt sich bei dem Begriff t tffra@ (to teras, meist pl. tÞ tffrata ta terata). Während im Profangriechischen tffra@ in der Bedeutung »Wunder, Wunderzeichen im Sinne von Vorzeichen (Omen), Mirakel« (Hofius/Kahl 2005, 1977) seit Homer häufig belegt ist, kommt der Terminus in den biblischen Schriften kaum vor (in der LXX nur 49 Belege als Wiedergabe von mofet: Wahrzeichen, Wunder). Mit der aus tffra@ abgeleiteten Textsorte der terate…a (terateia) verbindet sich zugleich ein Streit 19

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

der antiken Historiker (dazu Plümacher 2004a, 40f.). Polybius kritisiert einen Historikerkollegen wegen der Verwendung von Wundergeschichten, den terate…ai (terateiai). Um die Leser gefühlsmäßig anzusprechen, neige er zur schonungslosen Übertreibung und Ausschmückung (Polyb. 2,58 f.). So wird man – mit Plümacher – die terateffla »als eine auf das Spektakuläre zielende, wenn nicht gar zum Sensationellen strebende Darstellungsweise definieren können, zu deren Wesen unabdingbar auch gehörte, auf Wirkung bedacht zu sein und es deshalb mit der historischen Wahrheit nicht sonderlich genau zu nehmen (…)« (Plümacher 2004a, 41). Die neutestamentlichen Wundererzählungen werden nicht als terate…ai (terateiai) bezeichnet, weil ihnen offenbar dieser Terminus nicht gerecht geworden wäre. Selbst das Nomen tffra@ kommt nur 16-mal im Plural vor und dabei immer in der festen Verbindung mit shme…on (se¯meion – Zeichen): shme…a ka½ tffrata (se¯meia kai terata – Zeichen und Wunder). Die Wendung »Zeichen und Wunder« hat – wie u. a. Wolfgang Weiß in seiner Mainzer Habilitationsschrift gezeigt hat (vgl. Weiß 1995) – seine Wurzeln unzweifelhaft im jüdischen Sprachgebrauch: zum einen als rückblickende Deutung von Ereignissen beim Exodusgeschehen (Dtn 4,34; 7,19; 26,8; Ps 78,43; Neh 9,10 u. v. a.); zum anderen im Zusammenhang mit prophetischen Zeichenhandlungen (Jes 8,18; 20,3). Im Neuen Testament wird die Wendung dann überwiegend in der Briefliteratur (z. B. Röm 15,19; 2Kor 12,12) oder in der Apostelgeschichte (Apg 2,43; 4,30; 5,12 etc.) verwendet und meist auf Taten der Apostel bezogen. Nach Weiß ist das Begriffspaar deshalb auch ein terminus technicus der Missionssprache und verweist auf den Funktionsträger, nicht aber auf konkrete Handlungen wie Heilungen (Weiß 1995, 144f.). Dem widerspricht auch nicht, dass die Wendung in Apg 4,30 um »Heilungen« synonym erweitert wird: e§@ —asin ka½ shme…a ka½ tffrata gfflnesqai (eis iasin kai se¯meia kai terata ginesthai – damit Heilungen und Zeichen und Wunder geschehen), um die Taten Gottes zu beschreiben. Es wird aber deutlich, dass offenbar ›Heilungen‹ in einer Reihe mit solchen Zeichen und Wundern betrachtet wurden. Die synoptische Tradition verwendet »Zeichen und Wunder« nur kritisch als irreführende Taten der Lügenchristusse und Falschpropheten (Mk 13,22 par.). Auch der Beleg in Joh 4,48 im Mund Jesu weist einen kritischen Unterton auf, besonders im Zusammenhang mit der später abgewiesenen Zeichenforderung (vgl. Joh 6,30): »Jesus sprach zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht« (Joh 4,48). Doch nach der Zurechtweisung erfolgt die Heilung: Jesus geht auf das Anliegen des königlichen Beamten ein und heilt seinen Sohn. Hier steht also die Wendung doch in unmittelbarem Bezug zu einer Wundererzählung. Dies mag auch daran liegen, dass im Johannesevangelium der Teilbegriff t shme…on (to se¯meion, pl. tÞ shme…a ta se¯meia, Joh 2,11; 20,30 u. a.) an prominenten Stellen auf konkrete Taten Jesu bezogen wird und vielleicht den höchsten Grad an Begriffsbildung innerhalb der neutestamentlichen Wundertermini überhaupt aufweist. Schon das erste öffentliche und durchaus Staunen erregende Handeln Jesu, das Weinwunder von Kana, wird explizit als shme…on (se¯meion – Zeichen), genauer sogar als »Anfang der Zeichen« (⁄rc¼ tn shmefflwn – arche¯ to¯n se¯meio¯n, Joh 2,11) bezeichnet. Die genannte Fernheilung wird mit der Bemerkung »so tat Jesus das zweite Zeichen« (deÐteron shme…on deuteron se¯meion, Joh 4,54) abgeschlossen. Aber auch summarisch kann das (Wunder-)Handeln Jesu als Zeichen beschrieben werden (z. B. im Nikodemus20

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

Gespräch, vgl. Joh 3,2; von Kaiphas in Joh 11,47; erster Schluss Joh 20,30). Diese Verwendung des Semeion-Begriffs hat die These einer eigenen Wunderquelle, auf die sich der vierte Evangelist stützt und die den Begriff semeion reflektiert einsetzt (so genannte »Semeia-Quelle«, dazu Poplutz, Hinführung Johannes), bis heute immer wieder genährt (zuletzt Theobald 2009, 32-42). Bei den Synoptikern hingegen wird shme…on niemals auf Handlungen bezogen, die der irdische Jesus vollbracht hat. Stattdessen werden damit künftige Zeichen (Mk 13,4; 16,17.20; Mt 26,48) benannt oder aber von Jesus erwartete Zeichen (mit Kahl 2005, 1972). Diese – im Blick auf Jesu Handlungen – eher kritische Sicht passt zur Perikope der Zeichenforderung. Die Pharisäer fordern ein Zeichen aus dem Himmel, um die Identität Jesu zu beweisen. Jesus verweigert explizit ein solches Zeichen im Sinne eines Schauwunders (Mk 8,11 f.): »Es wird diesem Geschlecht sicher kein Zeichen gegeben werden«. Allerdings wird bei Matthäus und Lukas hier das »Zeichen des Jona« angefügt (Mt 12,38-42; Lk 11,29-32, dazu Münch, Hinführung Matthäus; Zimmermann, Hinführung Lukas). Vermutlich verwerten hier Matthäus und Lukas ein Wort aus der Logienquelle Q. Dies würde zumindest erklären, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerks in der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,14-36) Jesus nun doch rückblickend summarisch durch »Zeichen und Wunder« von Gott ausgewiesen sein lässt (Apg 2,22). Auch diesmal erfolgt eine Erweiterung des stereotypen Wortpaars, in diesem Fall durch dun€mei@ (dynameis), was dann entsprechend mit »Krafttaten« übersetzt werden kann. Für Stefan Alkier strukturiert sich das semantische Feld des Wunderbaren sogar vorrangig »um das Substantiv dÐnami@ (dynamis), und zwar genauer der dÐnami@ qeo‰« (Alkier 2001a, 291; vgl. Metternich 2000, 231), was für das paulinische Christentum in besonderem Maße gelten mag. So weit und offen das semantische Spektrum von dynamis im Griechischen aufgefächert sein mag (dazu Krug 2001, 37-51; ders. 2012), trifft die Beobachtung zu, dass besondere, außergewöhnliche Taten wie z. B. die Wundertaten des Heilgottes Asklepios (dazu Grundmann 1935, 291 mit Belegen) als »Krafttaten« (dun€mei@) klassifiziert werden können. Entsprechend wird der Begriff auch zur Beschreibung von Jesu ›Wunder‹taten im Neuen Testament verwendet: Bereits in der Logienquelle Q werden die galiläischen Dörfer Chorazin und Betsaida als Orte genannt, in denen solche Wunder Jesu geschehen sind (Q/Lk 10,13), was lokal manifestierbare Taten voraussetzt (zu Betsaida auch Mk 8,22). Auch in Nazaret rufen die »Krafttaten, die durch seine (Jesu) Hände geschehen sind« Unverständnis und Irritationen hervor (Mk 6,2), obgleich Jesus dort selbst kein einziges Wunder tun kann (poi»sai o'demfflan dÐnamin poie¯sai oudemian dynamin, Mk 6,5). Bei diesem Beleg wird jedoch deutlich, dass gerade die manuelle Tätigkeit Jesu mit diesen Handlungen verbunden ist. Nach Lk 8,43 vollzieht sich die Heilung sogar durch eine Art stoffliche Kraftübertragung (vgl. dazu Preisigke 1980). Schließlich dient der Begriff dun€mei@ als der summarische Terminus für Jesu Wunder, als die Menge ihm wegen seiner Taten beim Einzug in Jersusalem zujubelt (Lk 19,37, dazu Zimmermann, Hinführung Lukas). Doch auch dieser Begriff wird nicht gerade häufig oder dominant für Jesu Wundertaten verwendet, und so mag es nicht verwundern, dass Kahl/Hofius in ihrem Artikel »Wunder«, der sich sprachlich an qa‰ma (thauma), shme…on (se¯meion) und tffra@ (teras) rückbindet, offenbar keinen Grund sehen, auch noch dÐnami@ (dynamis) hinzuzunehmen (Kahl/Hofius 2005). Der nüchterne Befund hinsichtlich einer neutestamentlichen Begriffsbildung zu den Wundern (gegen Suhl 1980, 1-38) wird durch ein weiteres Glied fortgesetzt: Der 21

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

im Griechischen geläufige Begriff der Wundertat t qa‰ma (pl. tÞ qaum€sia ta thaumasia) wird kein einziges Mal verwendet, das substantivierte Adjektiv qaum€sion (thaumasion) begegnet nur einmal (Mt 21,15) und bezieht sich hierbei auf die summarisch genannten Heilungen von Blinden und Lahmen im Tempel (Mt 21,14, dazu Münch, Hinführung Matthäus). Auch wenn die Substantive fehlen, ist das Wortfeld von qa‰ma ktl. durchaus häufig im Neuen Testament anzutreffen, vielfach auch mit einem direkten Bezug zu konkreten Taten Jesu. So findet sich das Verb qaum€zw (thaumazo¯ – sich wundern, staunen) 43-mal, davon in den Evangelien 31-mal, das Adjektiv qaumast@ (thaumastos) begegnet noch 6-mal (Mk 2,11 par. Mt 21,42; Joh 9,30; 1Petr 2,9; Offb 15,1.3). Beispielhaft seien einige Belege aus dem Matthäusevangelium aufgeführt. Nach der Sturmstillung lesen wir etwa: »Die Menschen aber staunten (¥qaÐmasan ethaumasan) und sagten: Was für einer ist dieser, dass auch die Winde und das Meer ihm gehorchen?« (Mt 8,27). Als der Dämon aus dem Jungen ausgetrieben war, staunten (¥qaÐmasan ethaumasan) die Volksmengen und sagten: »Niemals erschien so etwas in Israel« (Mt 9,33). Nach dem Summarium von Mt 15,31 (nach der Heilung der Tochter der Syrophönizierin) rufen die unterschiedlich Geheilten (Stumme, Lahme, Blinde etc.) das Staunen des Volkes hervor. Aber auch das schnelle Verdorren des Feigenbaums führt nach Mt 21,20 zu der Verwunderung der Jünger (¥qaÐmasan ethaumasan). Wir sehen hierbei, dass durchaus unterschiedliche Handlungen Jesu (an Natur, Dämonen, Kranken), die sowohl positiv (Kranke) als auch negativ (Feigenbaum) verlaufen können, durch Erzählelemente, wie hier eine wiederkehrende Reaktion der Menschen, parallelisiert werden. Entsprechend könnten nun auch Handlungen des Wundertäters in den Blick genommen werden, die durch andere Verben wie §€omai (iaomai) und qerapeÐw (therapeuo¯ – heilen) oder ¥kb€llw (ekballo¯ – austreiben) zusammengefasst werden. Damit wird zugleich eine wesentliche sprachliche und methodologische Einsicht gewonnen. Wie ist der nüchterne Befund zu beurteilen, dass eine Begriffsbildung zum Wunder kaum ablesbar ist? Wollen »die Evangelien die in der heidnischen Umwelt üblichen Begriffe für wunderbare Taten (…) meiden, weil sie den Eindruck vermeiden wollen, Jesus sei einer der üblichen Zauberer und Wundertäter gewesen« (Knoch 1993, 38f.), wie die frühere Forschung meinte? Die Suche nach übergeordneten Klassifikationsbegriffen zum Thema »Wunder« geht m. E. insofern fehl, als wir im Neuen Testament keinen oder nur einen sehr begrenzten Diskurs über Wunder finden. Das Sprechen über Wunder vollzieht sich hingegen in Erzählungen, weshalb gerade Verben zu Signalwörtern des semantischen Feldes werden müssen. Die Suche nach den Wundern im Neuen Testament darf sich deshalb weniger auf einzelne Begriffe als auf ganze Texte beziehen. Statt nach dem Wunder fragen wir also besser nach der Wundererzählung.

1.2.2 Zur Gattung der »Wundererzählung«: Ein literaturwissenschaftlicher Vorschlag a) Gibt es überhaupt die Gattung »Wundererzählung«? Da die Quellen keinen einheitlichen Leitbegriff für Wundererzählungen erkennen lassen, liegt die Frage nahe, ob es überhaupt die Gattung »Wundergeschichte/Wundererzählung« gibt. Entsprechend hatte bereits Martin Dibelius eine übergreifende Gattung bestritten, indem er stilkritisch vier Wundererzählungen als »Paradigmen« klassifizierte, 22

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

worunter er eine »Erzählungsart (versteht), der jeder Ausdruck individueller Empfindung fernliegt, die aber in hohem Grade sachlich interessiert ist« (Dibelius 1971, 34; mit Bezug auf Mk 1,23-28; 2,1-12; 3,1-6; 10,46-52). Den überwiegenden Teil der Wundererzählungen ordnet er dann bei den »Novellen« ein, die nicht die Verkündigung, sondern Jesus selbst als Thaumaturgen in den Mittelpunkt stellten. Weitaus größere Wirkung hatte dann in den 1980er Jahren Klaus Berger, dessen vielzitierter Satz in der Formgeschichte des Neuen Testaments wie folgt lautet: Wunder/Wundererzählung ist kein Gattungsbegriff, sondern die moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses (Berger 1984, 305; ders. 2005, 362).

Bis in jüngere und jüngste Zeit hat diese Kritik Nachwirkungen gezeigt: Auch Ulrike Metternich plädiert in ihrer Dissertation über die Heilung der blutflüssigen Frau dafür, »den Begriff ›Wundergeschichte‹ zugunsten von ›Dynamis‹-Geschichte aufzugeben« (Metternich 2000, 231; vgl. Pesch 1970, 16: »Machttaten«). Für Marius Reiser werden Wundergeschichten »auf so vielfältige Weise erzählt wie Geschichten überhaupt. Eine gewisse formale Strenge haben Wundergeschichten nur im Kontext eines bestimmten Sitzes im Leben ausgebildet: als offizielle Wunderberichte an Heilstätten« (Reiser 2001, 137). Müssen wir folglich die Suche nach einer übergeordneten Gattung »Wundergeschichte« bzw. »Wundererzählung« aufgeben oder die formgeschichtliche Betrachtung auf »Heilungserzählungen« einschränken? Die Beantwortung dieser Frage (vgl. ausführlich Zimmermann 2013a) erfordert die Erörterung der vorgängigen Frage, was überhaupt eine »Gattung« ist, oder offener: »Gibt es überhaupt Gattungen«? So fragte der Gelehrte und Dichter Hans Magnus Enzensberger im Rahmen seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen mit dem Titel »Vom Nutzen und Nachteil der Gattungen«: »Gibt es literarische Gattungen, und wenn ja, wie viele? Wie lassen sie sich rechtfertigen, welches ist ihre Existenzweise und ihr Nutzen? Erlauben sie eine Klassifikation der literarischen Werke? Oder dienen sie nur, als bloße Namen, der vorläufigen Verständigung? Müssen Gattungen sein?« (Enzensberger 2009, 65). Die Frage nach der Existenz von Gattungen ist in der Literaturwissenschaft durchaus umstritten (dazu Zymner 2003, 37-60). In Anlehnung an die mittelalterliche Debatte zwischen Begriffsrealisten und Nominalisten (über die Frage aus Platons Dialog Kratylos zur Existenzweise von Wörtern) sprechen die Literaturwissenschaftler hier gerne vom »Universalien-Problem« (Hempfer 1973, 30-36; Fricke 2010b, 10): Sind Gattungen vorfindliche Textklassen, die benutzt und beschrieben werden können, oder sind Gattungen lediglich Konstrukte, d. h. Analyseinstrumente, denen vorfindliche Texte ex post zugeordnet werden? Obgleich es immer wieder Literaturwissenschaftler wie André Jolles oder Emil Staiger gegeben hat, die von einer ontologischen oder archetypischen Universalität, einem Begriffsrealismus ausgingen, kann man doch einen mehrheitlichen Konsens in der Literaturwissenschaft ausmachen, der dem Nominalismus oder neuerdings wohl eher dem Konstruktivismus zugeneigt ist. Gattungen werden nicht vorgefunden, sondern erfunden. Sie sind von Menschen erdacht, sie existieren nur durch Begriffe, die sie davon bilden. Aber die Konstruktionen sind nicht beliebig. Sie beziehen sich durchaus auf Vorfindliches, insofern das Nachdenken über Sprache immer schon Sprache und Kommunikation voraussetzt. Ich halte deshalb die Annäherung von Klaus W. Hempfer und Rüdiger Zymner für sinnvoll, die von einem »abgeschwächten Nominalismus« (Hempfer 1973, 124f.; Zymner 2003, 59) sprechen. Die Gattungskonstruktionen setzen schon einen Gat23

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

tungsdiskurs, eine Geschichte der Gattung, eine kommunikative Praxis mit Gattungen voraus. »Gattungen greifen die Leser-Erwartungen auf und lenken sie« (Dormeyer 2004, 132). Hempfer nennt dieses Vorfindliche »quasi-normative Fakten« (faits normatifs, ebd.). Mit anderen Worten: So sehr also die Rede von Gattungen der Konstruktion unterliegt, so wenig sind diese Konstruktionen willkürlich, zumindest dann nicht, wenn sie einer intersubjektiven Verständigung dienen sollen. Doch damit eine solche Verständigung gelingt, muss die Konstruktion kontrollierbar oder zumindest nachvollziehbar sein. Wir müssen also z. B. klären, in welchem Sinne wir Wörter wie »Novelle« (Dibelius), »Apophthegma« (Bultmann) oder »metaphorische Personalprädikation« (Berger) verwenden. Das ist innerhalb neutestamentlicher Gattungsdiskussionen nicht immer geglückt, denn vielfach traten die Konstrukteure von Gattungen so auf, als hätten sie vorfindlich existierende Gattungen bloß entdeckt und als seien z. B. »Beispielerzählungen« (Jülicher, dazu Zimmermann 2011f, 392-395) oder die Gattungsgruppe »Epideixis« (Berger 1984, 310f.) die vorfindliche Gattungsnorm, die jeder vernünftige Mensch in den Texten ebenso erkennen müsse. Damit trotz konstitutiver Konstruktivität nicht jeder seine eigene Gattung erfindet, ist es notwendig, die Kriterien offenzulegen und auf vorhandene Diskurse zu beziehen. Mit anderen Worten, eine Gattungsdefinition soll der Qualität einer »Begriffsexplikation« genügen, wie sie in der Literatur- und der allgemeinen Humanwissenschaft üblich ist (näher dazu Zymner/Fricke 2007, 246-255). Ferner sollten Gattungsdefinitionen zwischen der Starre einer Festlegung auf ein bestimmtes Set an Merkmalen und der Relativität einer unscharfen ›offenen Reihe‹ hindurchfinden, um den konkreten Textphänomenen wie auch dem Bedürfnis nach Erkenntnis- und Kommunikationsgewinn gerecht werden zu können. Harald Fricke hat deshalb vorgeschlagen, eine Definitionsstruktur zu wählen, die einerseits Merkmale ausweist, die ein Text notwendig aufweisen muss, um zu einer Textgattung zu gehören, die aber andererseits auch Merkmale integriert, die alternativ und nicht zwingend die Gattungszugehörigkeit begründen. Eine derartige Definitionsstruktur lautet entsprechend: [1] + [2] + [3] + [4a u/o 4b] + [5a u/o 5b u/o 5c] (vgl. Fricke 2010a, 9). Während die Kriterien 1, 2 und 3 notwendig erfüllt sein müssen, handelt es sich bei den Merkmalen 4 und 5 um einen ›Wahlpflichtbereich‹, der variieren kann. Versuchen wir, dieses dynamisch-funktionale Gattungsverständnis (dazu auch Zimmermann 2007, 138-167) auf die Wundererzählungen zu applizieren: Die Frage »Gibt es überhaupt eine Gattung ›Wundererzählung‹ ?« ist also nach dem Vorgenannten unsinnig oder zumindest missverständlich unpräzise. Gattungen haben keine ontologische Existenz, sie finden sich weder im Wüstensand, noch im Schubladenkasten gelehrter Philologie des 19. Jh. oder im Online-Shop. Bergers Satz »Wundererzählung ist kein Gattungsbegriff« ist also seinerseits ein essentialistisches Missverständnis. Die Gattung »Wundererzählung« gibt es schon allein deshalb, weil die Autorinnen und Autoren des Kompendiums darüber diskutieren und Sie als Rezipient(in) gerade über diese Frage lesend nachdenken. Sie ist und bleibt ein Konstrukt der Meta-Kommunikation. Sie ist gleichwohl ein hilfreiches Konstrukt, wenn sie im Sinne der kritischen Begriffsexplikation zum einen den Textphänomenen bzw. der historischen Textkommunikation gerecht wird, zum anderen die Analyse des bisherigen Begriffsgebrauchs mit einbezieht (so Fricke 2010a, 7). Gattungsdefinition sollte in der Kommunikation über Texte eine sinnvolle Funktion erfüllen, sei es eine analytische, indem sie erlaubt, einzelne Texte in eine größe24

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

re Gruppe zusammenzufassen, sei es eine kommunikative, indem sie den Adressaten anzeigen will, dass ein Text in diesem System wahrzunehmen ist. b) Gattungsbewusstsein in der Antike und insbesondere bei frühchristlichen Autoren Obgleich die Möglichkeit der Gattungsdefinition nicht an einem historischen Gattungsbewusstsein hängt, wird sie doch im Falle einer Bejahung hilfreich gestützt. So stellen wir die interessante, gleichwohl bis zu einem gewissen Maß unbeantwortbare Frage, ob es im antiken Diskurs, etwa in der Kommunikation zwischen einem Evangelisten und seinen Adressaten, bereits ein Gattungsbewusstsein gegeben hat. Wollte also z. B. der Evangelist Johannes die Weinherstellung in Kana als »Wunder« verstanden wissen, wenn er diese Erzählung mit dem zusammenfassenden Begriff des shme…on (se¯meion – Zeichen) klassifiziert hat? Und wenn ja, welche Absicht verfolgte er damit? Wollte er etwa eine Zuordnung dieses Textes zu ähnlichen, bekannten Texttypen wie z. B. Erzählungen wunderbarer Ereignisse über Dionysos vollziehen (s. Petersen zur Stelle)? Häufiger noch wurden Struktur- und Motiv-Parallelen zwischen frühchristlichen Heilungserzählungen und den Erzählungen an Heilstätten, z. B. den Wunderberichten auf den am Asklepios-Heiligtum in Epidauros gefundenen Stelen (Li Donnici 1995, s. dazu Popkes, Antikes Medizinwesen in diesem Band), beschrieben (Reiser 2001, 137; kritisch differenziert Wolter 2009, 82-117). Für Detlev Dormeyer haben deshalb »Wundergeschichten (…) von den neutestamentlichen Gattungen die größte Nähe zu einer hellenistischen Gattung, und zwar zur hellenistischen Wundergeschichte« (Dormeyer 1993, 166). Seit den Zeiten der religionsgeschichtlichen Schule bzw. konkret den Arbeiten von Richard Reitzenstein und Otto Weinreich wurde die Struktur antiker Wunderheilungen als unmittelbares Vergleichsmaterial für die Beschreibung neutestamentlicher Wundererzählungen herangezogen (zur z. T. problematischen Hermeneutik s. o.). Gehen wir davon aus, dass Gattungen Kommunikationsmedien darstellen, so ist zumindest aus dem Vergleichsmaterial eine Diskurswelt zu konstruieren, an der auch die frühchristlichen Kommunikationsteilnehmer partizipiert haben. Bewusste Referenzen auf derartige Umfeldtexte finden sich aber in den neutestamentlichen Wundererzählungen nicht. Doch was sagen die neutestamentlichen Texte immanent? Können wir bei Johannes noch die weitreichendste begriffliche Zuspitzung erkennen (s. o.), so müssen wir mit Blick auf das ganze Neue Testament konstatieren, dass die frühchristlichen Autoren kein begriffliches Gattungssignal im Sinne einer Leseanweisung geben, mit der man eine Gruppe von Texten unter einer Überschrift »Wundererzählung« subsumieren könnte. Ein Gattungsbewusstsein frühchristlicher Autoren wird aber m. E. bezüglich einer vergleichbaren Textgruppe kompositionell sichtbar: Einerseits werden bestimmte Handlungen Jesu in Summarien zusammengefasst (vgl. dazu die Hinführungen der Quellenbereiche). Andererseits zeigen sich Zusammenstellungen bestimmter Texte, die auf ein Bewusstsein der inneren Zusammengehörigkeit dieser Texte hindeuten. Gleich zu Beginn des Markusevangeliums werden mit Mk 1,23-31 (und ihm folgend Lk 4,33-39) eine Heilungserzählung und ein Exorzismus nebeneinandergestellt und komplementär aufeinander bezogen (s. Dormeyer, Hinführung Markus). Im anschließenden Summarium wird diese Verbindung wiederholt (Mk 1,32-34; Lk 4,40 f.). Ebenso wird in weiteren Summarien eine enge Verbindung von Heilungen und Exorzismen erzeugt (vgl. Lk 4,40f.; 5,25; 6,17-19; 13,32). 25

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Diese Übergänge hängen z. T. mit der antiken Überzeugung zusammen, dass unreine bzw. böse Geister als Ursache für Krankheiten angesehen wurden, so dass auch der Restitutionsvorgang eine Mischung aus Exorzismus und Heilung darstellt. Nach Lk 9,3743 muss der unreine Geist des Jungen ›bedroht‹ werden; im Summarium Lk 8,1-3 wird explizit von einer »Heilung von bösen Geistern und Krankheiten« (Æsan teqerapeumffnai ⁄p pneum€twn ponhrn ka½ ⁄sqenein e¯san tetherapeumenai apo pneumato¯n pone¯ro¯n kai astheneio¯n) gesprochen. Bei der Erzählung zur »verkrümmten Frau« (Lk 13,10-17) lesen wir vom »Geist der Kraftlosigkeit« als Ursache für das Verkrümmtsein (V. 10) wie auch von der »Bindung des Satans« (V. 16) Umgekehrt wird die besessene Tochter der kanaanäischen Frau (Mt 15,21-28) nur »geheilt« – der Dämon fährt hier nicht explizit aus. Daraus wird man folgern dürfen, dass die Evangelisten keine scharfe Trennlinie zwischen Exorzismen und Heilungen ziehen oder gattungsspezifisch betrachtet auch Heilungserzählungen und Austreibungserzählungen zusammengesehen werden dürfen. Auch die Übergänge von Erzählungen zu Krankenheilungen und Totenerweckungen sind fließend: In der Perikope von der Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mk 5,21-43 par.) wird Jesus geholt, um das kranke Mädchen zu heilen; während er noch auf dem Weg ist, stirbt das Kind. Eine ähnliche Konstellation findet sich bei der Erweckung des Lazarus (Joh 11,1-43), der explizit als »krank« eingeführt wird, dann aber erweckt wird. Die Lazarus-Perikope verweist zugleich auf einen weiteren Zusammenhang. Die Salbung bei Betaniën findet bei den Synoptikern im Haus »Simons, des Aussätzigen« statt. Da auch in Joh 11 f. die Salbung eng mit der Auferweckungserzählung verknüpft ist (s. Zimmermann zu Joh 11,1-12,11 in diesem Band), wurde die These vertreten, dass Lazarus aussätzig war. Aussätzige wurden im Judentum wie Tote betrachtet (Num 12,12), entsprechend konnte die Heilung eines Aussätzigen nach rabbinischer Bewertung auf eine Ebene mit der Auferweckung eines Toten gestellt werden (bSan 47a). Schließlich kann man erkennen, dass die Sturmstillungserzählung deutliche Züge einer Exorzismus-Geschichte trägt, wenn etwa Jesus den Wind anfährt (Mk 4,39 mit ¥pitim€w epitimao¯ wie Mk 1,25) oder dem personifizierten Meer das Schweigen gebietet. So wird auch die strikte Unterscheidung zwischen Heilungs- und Naturwundern bzw. »Erzähltyp: Rettungswunder« und »Erzähltyp: Dämonenaustreibung« (mit Lohfink 2011, 197) brüchig. Gehen wir noch einen Schritt weiter: So wie z. B. Matthäus ein Kapitel zu Parabeln (Mt 13) präsentiert oder fünf Redeteile durch die bekannte Schlussformel aufeinander bezieht (s. Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1), so fügt er abweichend von seinen Vorlagen in Mt 8,1 bis 9,8 sechs Texte zusammen, die in Gegenstand und Erzählweise beträchtlich variieren, aber offenbar doch zusammengesehen werden sollen. Neben Heilungs- und Austreibungserzählungen wird nun auch eine Handlung an der Natur (Mt 8,23-27) beigefügt. Auch bei Lukas zeigen sich ähnliche Kompositionen, z. B. in Lk 8, wo am gleichen Tag (»an einem der Tage« – ¥n mi” tn mern en mia to¯n he¯mero¯n, Lk 8,22) die Erzählungen von vier Wundern Jesu ohne erkennbaren inneren (z. B. auf Handlungspersonen bezogenen) Zusammenhang präsentiert werden: (1) Naturwunder (Lk 8,22-25), (2) Exorzismus bzw. Dämonenaustreibung (Lk 8,26-39), (3) Heilung (Lk 8,43-48) und (4) Auferweckung (Lk 8,40-42.49-56). Schon diese skizzenhaften Ausführungen (mehr dazu Zimmermann 2013a) legen den Schluss nahe, dass auch die neutestamentlichen Autoren in übergeordneten Zusammenfassungen (Summarien) wie auch durch ihre kompositionelle Anordnung die Zu26

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

sammengehörigkeit von Texten im Bewusstsein hatten, die wir in der Lesetradition der Evangelien als »Wundergeschichten« zusammengefasst haben. Die zuletzt verwendeten Begriffe leiten bereits von der Quellensprache hinüber zur Beschreibungssprache, die bei der kritischen Begriffsexplikation einer Gattung (Fricke 2010a, 7) ebenfalls Berücksichtigung finden muss. Wie wurde der Diskurs über Wundergeschichten innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft geführt? c) Die Gattungssystematik der neutestamentlichen Wissenschaft zur Gattung ›Wundererzählung‹ Rudolf Bultmann hatte in seiner Formgeschichte schlicht zwischen Heilungs- und Naturwundern unterschieden (Bultmann 1995, 223-230). Diese Unterscheidung scheint auch für Van der Loos eine Orientierung gegeben zu haben, da er seinen Kommentarteil in »1. The Healing Miracles« (Van der Loos 1965, 339-589) und »2. The Nature Miracles« (Van der Loos, 590-698) unterteilt. Dabei werden wie bei Bultmann Exorzismen unter der Überschrift »The Healing of the Possessed« (ebd. 339-414) oder Totenerweckungen (»The Ressurection of the Dead«, ebd. 559-589) subsumiert. Innerhalb der einzelnen Teile wird dann aber wiederum eher thematisch geordnet, indem etwa unter »1., III. The Healing of the Paralytics« sowohl die Heilung der vertrockneten Hand Mk 3,1-6 (a. a. O., 436-440), des Gelähmten in Kafarnaum (a. a. O., 440-449) und des Gelähmten am Teich Betesda (Joh 5,1-18, a. a. O., 450-463) zusammengefasst werden. Besonders wirkmächtig wurde das von Gerd Theißen eingeführte Raster, der Bultmanns Begriff des »Naturwunders« kritisiert hat (Theißen 1998, 122) und stattdessen sechs Untergattungen ausweist, je nachdem, welche Person aus dem Personeninventar der Wundergeschichte im Zentrum der Erzählung steht: 1) Exorzismen (Dämon), 2) Therapien (Geheilter), 3) Epiphanien (Wundertäter), 4) Rettungswunder (Jünger), 5) Geschenkwunder (Menge), 6) Normenwunder (Gegner Jesu). Dem Bedürfnis nach Systematik folgend ordnet er die Untergattungen ferner den Spalten (personen- und sachorientiert bzw. Haupt- und Nebenspieler) sowie den Zeilen dämonische, menschliche und göttliche Perspektive zu (Theißen 1998, 124). Im Lehrbuch zum historischen Jesus wird diese Systematik aufgenommen, wobei er postuliert, dass für »Exorzismen, Therapien und Normenwunder« ein »Ursprung beim historischen Jesus« anzunehmen ist, für die jeweils zuzuordnenden Untergattungen von »Rettungs-, Geschenkwundern und Epiphanien« sei »dagegen der Osterglaube Voraussetzung« (Theißen/Merz 2011, 268). Otto Knoch greift dieses Raster auf (Knoch 1993, 50), sondert aber in seinem Kommentarteil die »Totenerweckungen« (a. a. O., 327-349) von den Heilungen ab und weist stattdessen »messianische Zeichenhandlungen« (a. a. O., 351-400) eigens aus (denen er u. a. auch die »Verklärung« zurechnet), so dass er unter Verzicht der Kategorie »Geschenkwunder« auf sieben Unterkategorien kommt. Ferner fasst er die Wundererzählungen des Johannesevangeliums (a. a. O., 411-476) in einem eigenen Kapitel zusammen. Auch die im deutschsprachigen Raum jüngste Zusammenstellung von Einzelanalysen von Manfred Köhnlein lehnt sich an die bekannte Klassifikation von Untergattungen an und ordnet den Stoff entsprechend nach »Therapien« (Köhnlein 2010, 17-206, 15 Texte), »Normenwunder« (a. a. O., 207-227, 2 Texte), »Naturwunder« (a. a. O., 228-258, 3 Texte), »Geschenkwunder« (a. a. O., 259-274) und »Totenerweckungen« (a. a. O., 275284) an. David Aune unterscheidet nur drei Untergattungen: »exorcisms«, »healings« und 27

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

»so-called nature miracles« (Aune 1980, 1523 f.), worin ihm John P. Meier folgt (Meier 1994, 646-970), der aber die Auferweckungserzählungen noch aus dem zweiten Block herauslöst und sie als eigene Untergruppe unter der Überschrift »Raising the Dead« ausweist (Meier 1994, 773-873). Eric Eve spricht neben »healing« (Kap. 3) und »exorcism« noch von »anomalous miracles« (Eve 2009, 145-160), womit er einige Naturwunder und Totenerweckungen zusammenfasst: The category of ›anomalous miracles‹ is not identical to that of ›nature miracles‹, both because not all the ›nature miracles‹ are equally anomalous and also because there is another class of purported miracle that also seems anomalous, namely accounts of Jesus raising people from the dead (Mark 5.35-43; Luke 7.11-17; John 11) (Eve 2009, 145f.).

Wendy Cotter hat – anders als es ihr übergreifender Titel suggeriert – überhaupt nur Wundererzählungen aus dem Markusevangelium analysiert (Cotter 2010). Der heuristische Wert derartiger Kategorisierungen ist unbestritten. Sie helfen, die Vernetzungen der z. T. disparaten Texte klarer wahrzunehmen. Diese Untergattungen dürfen aber nicht im Sinne einer Klassifikationspoetik missverstanden werden, als ›gebe‹ es diese Gattungsdifferenzierung und sie müsse nur noch entdeckt werden. Jede Gattungssystematik unterliegt konstruktiven Elementen, die sich zwar auf die Texte beziehen, die Wahrnehmung der Texte aber vorgefassten Kriterien unterziehen. Problematisch wird die Einteilung in Untergattungen, wenn dieses Erkenntnisinteresse nicht mehr wahrgenommen und man den Nominalismus der Begriffe mit dem Realismus der Texte verwechselt. Dies liegt weniger bei den Erfindern der Gattungsraster als bei ihren z. B. für den Lehrbetrieb um Vereinfachung bemühten Rezipienten begründet. Es war auch ein Trugschluss der so genannten »neuen Formgeschichte«, so zu tun, als könne man nur anhand sprachlicher Kriterien eine Zuteilung vollziehen. Wie stark eine Zuteilung immer durch inhaltliche Entscheidungen bestimmt ist und bis zu einem gewissen Maß willkürlich bleibt, können wir an folgenden Beispielen sehen: Warum etwa wird in der neutestamentlichen Gattungssystematik nicht von »Fernwundern« als eigener Untergattung gesprochen? Eine nennenswerte Gruppe von literarisch unabhängigen Texten zeichnet sich gerade durch eine Distanz des Wundertäters vom Wunderempfänger aus (vgl. Q 7,1-10 par.: Hauptmann von Kafarnaum; Mk 7,24-30 par.: Fernexorzismus an der Tochter der Syrophönizierin; Lk 17,11-19: Zehn Aussätzige werden im Gehen geheilt; vgl. Joh 4,46-54; bBer 34b). Für Gerd Theißen werden sieben Texte den »Normenwundern« zugeordnet (Mk 3,1-6 par., Mk 2,1-12 par., Lk 13,10-17; Lk 14,1-6; Mt 17,24-27; Joh 9,1-41 und Apg 28,1-6, vgl. Theißen 1998, 319). Für Otto Knoch hingegen werden nur im Bereich der Jesuswunder neun Texte als »Normenwunder gewertet, wobei nicht nur die Zahl, sondern auch die Auswahl der Texte variiert (Mk 1,29-31 par., Mk 3,1-6; Lk 14,1-6; Mk 1,21-28; Lk 13,10-17; Joh 5,1-15; Joh 9,1-34; Mk 5,25-34; Mk 5,1-20, vgl. Knoch 1993, 401). Manfred Köhnlein führt nur zwei Texte unter Normenwunder auf, dabei aber neben Mk 3,1-6 mit der Geschichte von Jesus und der Sünderin (Joh 7,53-8,1) auch einen Text, der sonst nie unter dieser Kategorie verhandelt wird (Köhnlein 2010, 207-228). Bei den meisten dieser Texte findet eine Heilung am Sabbat statt, so dass die eigentliche Norm die Einhaltung der Sabbatgebote darstellt. Dabei erkennt man, dass einige Heilungserzählungen so viele Gattungsmerkmale der Textsorte »Streitgespräche« 28

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

aufweisen, dass die frühere literarkritisch orientierte Exegese etwa in Mk 2,1-12 zwei unterschiedliche Ursprungstexte verknüpft sah. Die sprachwissenschaftlich orientierte Interpretation hat jedoch die Kohärenz des Textes aufzeigen können (vgl. Zimmermann 2009a, 236-242), so dass man auch gattungsspezifisch die Zusammengehörigkeit des Streitgesprächs über Sünde und die Heilung des Gelähmten anerkennen muss (ähnlich bei Mk 3,1-6; Lk 13,10-17; Lk 14,1-6; KThom). Wir erkennen anhand dieser Überlappung etwas Grundsätzliches: Statt die nur defizitäre Zuordnung zu einer (Unter-)Gattung in Reinform zu beklagen, darf man getrost anerkennen, dass Mischgattungen zum Normalfall zählen. Dies liegt an der einfachen Beobachtung, dass Gattungen keine vorfindlichen Klassifikationsschubladen sind, sondern geschichtlich betrachtet als Medien der Kommunikation und Erinnerung (vgl. Zimmermann 2007) einem dynamischen Wandel unterworfen sind, systematisch betrachtet aber Konstruktionen darstellen, denen dann die Texte ex post zugeordnet werden. So können Texte problemlos Merkmale von unterschiedlichen Gattungen aufweisen (so auch bereits Berger 1987, 43). Was die neuere Gattungstheorie grundsätzlich herausgearbeitet hat, lässt sich auch bei den Wundererzählungen zeigen: Konkrete Texte zeigen keine Reinform von Gattungen, sondern immer nur Mischformen, die in unterschiedlichem Maß an Gattungsmerkmalen partizipieren. Auch die Exegese muss Abschied von einer klassifikatorischen Gattungspoetik nehmen, die davon ausgeht, dass es eine ideale Form von Texten geben könne. Wenn einmal eingestanden wird, dass es nicht darum geht, eine historische Reinform zu re-konstruieren, sondern im heuristisch-wissenschaftlichen Sinn eine Idealform zu konstruieren, dann darf man durchaus bestimmte Kriterien definieren, die für die Gattung Wundererzählung gelten können. Diese Kriterien sind nicht willkürlich gesetzt, sondern versuchen, sprachliche und inhaltliche Besonderheiten aufzunehmen, von denen man annehmen kann, dass sie auch von den antiken Kommunikationsteilnehmern erkennbar waren. Gleichwohl bleibt jede Definition eine Konstruktion und Setzung, die nicht den Anspruch erheben darf, mit dem Gattungsbewusstsein neutestamentlicher Autoren und deren Adressaten übereinzustimmen. Ziel der Gattungsdefinition ist hierbei, ein klares und doch flexibles Set an Kriterien zu bestimmen, aufgrund derer ein Kommunikationsteilnehmer einen Text einem bestimmten Texttyp zuordnen konnte und kann. Texte sind dynamische Gebilde aus konkreten Kommunikationssituationen. Nach der Diktion von de Saussure sind sie stets auf der Ebene der »parole« anzusiedeln und haben eine bleibende Widerständigkeit im Versuch, sie dem System der »langue« einfach zuordnen zu wollen. Diese »Unschärfe« in der Gattungsbeschreibung betrifft aber nicht nur die Gattung »Wundererzählung«, sondern eignet jedem Versuch, Einzeltexte einem idealen Texttypus zuordnen zu wollen. Gattungsbestimmung beinhaltet genuin das Problem der Gattungsunschärfe eines Einzeltextes. d) Definition der Gattung ›Wundergeschichte/Wundererzählung‹ Einen sprachwissenschaftlich untermauerten Versuch der Gattungsdefinition hat Werner Kahl vorgelegt. In seiner Dissertation »New Testament Miracle Stories in their ReligiousHistorical Setting« hat Kahl die »Morphologie der Wiederherstellungswundererzählung« zu beschreiben versucht: »Die Morphologie dieses Erzähltyps ist bestimmt durch eine 29

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Bewegung von einem Mangel zu seiner Überwindung durch eine (mirakulöse) Handlung eines aktiven Subjekts, das für diese Aufgabe besonders vorbereitet ist« (Kahl 1994, 238). Er appliziert damit Einsichten der strukturalistischen Erzähltheorie von V. J. Propp bzw. ihre semiotische Weiterführung durch A. J. Greimas und A. Dundes (dazu Kahl 1994, 38) auf neutestamentliche Texte. Bei den Diskussionen über die Gattung »Wundererzählung« auf den Autor(inn)entagungen zum Projekt des Wunderkompendiums 2009 und 2010 wurden die Aspekte der Konzentration auf eine Handlungsfigur wie auch des Spannungsverlaufs im Plot zwischen Mangel und Lösung aufgenommen, aber auch ausgeweitet. Die Konzentration auf Aktanten und binäre Oppositionen des strukturalistischen Erzählmodells wurde durch die neuere Erzähltheorie entscheidend ausdifferenziert (dazu den Überblick bei Finnern 2010). V. a. verbleibt die Definition Kahls ganz auf der Handlungsebene, ohne Erzählweise und Pragmatik mit einzubeziehen. In Anlehnung an neuere Erzähltheorien (z. B. zu Erzählmodus, -absicht) wie auch unter Aufnahme der postulierten Einsichten des kompositionellen Gattungsbewusstseins der frühchristlichen Autoren wurde für das Kompendium folgende Definition maßgeblich: Eine Wundergeschichte ist eine faktuale mehrgliedrige Erzählung (1) von der Handlung eines Wundertätigen an Menschen, Sachen oder Natur (2), die eine sinnlich wahrnehmbare, aber zunächst unerklärbare Veränderung auslöst (3), textimmanent (4a) und/oder kontextuell (4b) auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt wird und die Absicht verfolgt, den Rezipienten/die Rezipientin in Staunen und Irritation zu versetzen (5a), um damit eine Erkenntnis- (5b) und/oder Appellfunktion zu erfüllen (5c).

Diese Definition soll weit genug sein, um für alle von Evangelisten in Summarien und Teilkompositionen zusammengefassten Wundertypen bzw. die korrespondierenden Texte zu gelten. Ferner werden der Erzähltheorie folgend Aspekte des »Was« (story/récit) ebenso wie des »Wie« (discours/e) der Erzählung aufgenommen (dazu Genette 1998; Martínez/Scheffel 2009, 27-160). Die so genannte »neue Formgeschichte« hatte – diese Unterscheidung ignorierend – für die Gattungsbestimmung ausschließlich formale Merkmale (d. h. Merkmale auf der discourse-Ebene) gelten lassen (vgl. dazu Berger 1987, 13-27). Schließlich spielt die Pragmatik, d. h. die Funktion und Absicht der Erzählung, im Sinne einer kommunikationsorientierten Gattungstheorie eine maßgebliche Rolle. Wundergeschichten sind zunächst »Erzählungen«, die wie jede Erzählung »mehrgliedrig« sind, d. h. die erzählten Ereignisse werden in einer Ordnungsstruktur wiedergegeben, die sich zumindest in Einleitung, Mittelteil und Schluss zergliedern lassen (Theißen differenziert bei der Einleitung noch zwischen »Einleitung« und »Exposition«, Theißen 1998, 82f.). Es ist heuristisch durchaus hilfreich, diese Struktur durch Einzelmotive detaillierter zu beschreiben, wie es Theißen mit seinen 33 Motiven tut (ebd.). Gleichwohl haben wir darauf verzichtet, weil die Motivik doch zu leicht als Merkmalsbündel im Sinne der alten Gattungspoetik missverstanden werden kann. Die Offenheit in unserer Definition trägt vielmehr der Variationsbreite der Texte Rechnung. Ein wesentliches Merkmal dieser Erzählungen besteht darin, dass sie »faktual« im Gegensatz zu »fiktional« sind. Damit wird eine Unterscheidung von Genette aufgenommen, die auch hinsichtlich der Historizitätsfrage (s. u.) weiterführend ist. Nach Genette 30

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

wird die authentische Erzählung von historischen Ereignissen und Personen als »faktuale Erzählung« bezeichnet, von der die erdichtete, »fiktionale Erzählung« zu unterscheiden ist (vgl. Genette 1990, 755-774; ders. 1992, 11-40.66). Die Texte erheben den immanenten Anspruch, von Ereignissen der Vergangenheit zu erzählen. Sie wollen nicht als frei erfundene Texte (wie z. B. Parabeln) verstanden werden. Diese offenbare Klarheit verliert jedoch an Schärfe, wenn wir die unterschiedlichen Ebenen der Erzählung unterscheiden. Wie genau diese historische Referenzialität sprachlich erzeugt wird, d. h. wie das Spiel zwischen den auf discourse-Ebene narrativen (d. h. fiktionalen) und den auf story-Ebene faktualen Elementen verläuft, wird dann jeweils genauer zu bestimmen sein (s. u.). Weiterhin wird mit dem »Wundertätigen« eine Handlungsfigur ins Zentrum gerückt. Mit diesem Merkmal vollzieht sich eine wesentliche Weichenstellung (s. u.), denn der Akteur wird als anthropomorphe Figur auf der Ebene des plots (nicht bloß als Aktant im Sinne Propps) definiert. Erzählungen über Prodigien/Vorzeichen ohne Wundertäter, über visuelle Erscheinungen (Epiphanien) ohne Handlung wie auch über die Wundertätigkeit des transzendenten Gottes (des Vaters) werden deshalb nicht einbezogen (s. dazu unten die ausführliche Begründung, 2.1). Auch die »Handlung« selbst wird eingegrenzt. Bloßes Wissen, das Staunen hervorruft (bei Jesus etwa Joh 4,18f.; Mk 14,12-16), reicht nicht aus. Es geht um Handlungen, die an »Menschen, Sachen oder Natur«, also konkreten Objekten vorgenommen werden und bei ihnen »sinnlich wahrnehmbare Veränderungen« auslösen (so auch Kahl 2005, 1965), die aber textimmanent erklärungsbedürftig bleiben (»unerklärbare Veränderungen«). Wir halten diese sinnliche Konkretion der Handlung wie auch ihre Erklärungsbedürftigkeit für wesentlich, da sie erst die Voraussetzung für die beabsichtigte Wirkung »Staunen und Irritation« (5a) darstellt. Das »Was« der Erzählung wird somit aus dem reinen Innenraum etwa einer Imagination oder eines Deutungszusammenhangs des »impliziten Lesers« bzw. der »Erzählstimme« in den Bereich der erzählten Wirklichkeit gestellt. Die »Erzählperspektive« (dazu Finnern 2010, 164-186) wird hierbei so gewählt, dass die Handlung einen distanzierenden bzw. verobjektivierenden Charakter erhält. Die erzählte Veränderung am realistischen Inventar (Menschen, Sachen, Natur) überschreitet dabei die Grenze zwischen gewohnter Weltordnung und dem Irrealen. Die Erzählung erzeugt hierbei bewusst eine Spannung, inszeniert gerade das Gegenrationale und Unmögliche. Zugleich bietet die Erzählung aber einen Erklärungszusammenhang an, der nun immanent (d. h. durch Erzählerkommentar, Figurenrede etc.) oder aber erst kontextuell (Mikrokontext; Ganzschrift) das »Einwirken göttlicher Kraft« ins Spiel bringt (ähnlich Achtemeier 2008, 195: »result of divine activity«). Auch für Lohfink ist diese Rückbindung an Gottes Kraft und Wirksamkeit konstitutiv: »Ohne dieses Verweisen gibt es keine Wunder im christlichen Sinn (…). Im Neuen Testament ist dieser Verweiszusammenhang (…) bei jedem Wunder gegeben« (Lohfink 2011, 218-221). Hier unterscheidet sich die frühchristliche Wundererzählung maßgeblich von phantastischer Literatur (dazu Lachmann 2002), die unglaubliche Ereignisse vielfach gar nicht erklärt und schon gar nicht notwendig auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückführt. Wenn in der phantastischen Literatur eine immanent kohärente Welt erschaffen wird, die nicht (wie bei Harry Potter oder dem König von Narnia) mit der bekannten Welt interagiert, ist ohnehin kein Erklärungsbedarf gegeben. 31

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Schließlich ist die Erzählung auf Wirkung und Rezeption ausgerichtet und erfüllt eine spezifische Funktion für den Rezipienten, die kognitive wie auch affektive Aspekte einschließt (dazu Finnern 2010, 186-245): Die Lesenden werden in einen Prozess hineingenommen, der mit Irritation und Verunsicherung beginnt und zu einer Erkenntnisoder einer Verhaltensänderung gelangen kann. In jedem Fall aber werden sie im Prozess des refigurierenden Lesens eingeladen, eine (neue) »narrative Identität« (Ricœur 2005, 209-226) zu erlangen. Die Erzählung ist somit auf Wirkung bei dem Rezipienten ausgerichtet und kann nicht bloß religionsvergleichend oder formal-strukturell erfasst werden. Die genannte Definition ist offen genug, um auf viele antike (oder auch gegenwärtige) Wundererzählungen angewandt zu werden. Mit Blick auf die frühchristlichen Wundererzählungen lassen sich einige Aspekte noch weiter präzisieren (s. Kursivierung): Eine frühchristliche Wundergeschichte ist eine faktuale mehrgliedrige Erzählung (1) von der Handlung Jesu oder eines Jesusanhängers an Menschen, Sachen oder Natur (2), die eine sinnlich wahrnehmbare, aber zunächst unerklärbare Veränderung auslöst (3), textimmanent (4a) und/oder kontextuell (4b) auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt wird und die Absicht verfolgt, den Rezipienten/die Rezipientin in Staunen und Irritation zu versetzen (5a), um ihn/sie damit zu einer Erkenntnis über Gottes Wirklichkeit zu führen (5b) und/oder zum Glauben bzw. zu einer Verhaltensänderung zu bewegen (5c).

1.3 Geschichtliches: Wundergeschichten im Geflecht von Fakten und Fiktionen Wundergeschichten erzählen von Ereignissen der Vergangenheit. Die Wundererzählungen wollen historische Erzählungen sein. Literaturwissenschaftlich können wir sie mit Genette als »faktuale Erzählungen« (s. o.) bezeichnen, die von vergangener Wirklichkeit erzählen, im Gegensatz zu »fiktionalen Erzählungen«, wie z. B. Gleichnissen, die erfunden sind und diesen Anspruch nicht haben. Die frühchristlichen Wundergeschichten wollen zum Ausdruck bringen, dass die Ereignisse, von denen sie erzählen, auch stattgefunden haben. Diesen Anspruch der Texte vorschnell aufzugeben oder zu unterwandern, würde den Texten keineswegs gerecht. Der moderne Leser ist allerdings vielfach nicht gewillt, sich in den Sprachduktus der Texte hineinnehmen zu lassen. Indem die eigene Erfahrung oder das gegenwärtige allgemeine Weltbild zum Bewertungsmaßstab gemacht wird, entzieht man den Texten das Recht, so zu reden. Weil sich ein moderner Leser nicht vorstellen kann, wie ein Toter ins Leben zurückkommt, oder weil eine kritische Rezipientin anhand empirischer Wissenschaft weiß, dass der Hirntod irreversibel ist, gerät das Erzählte in einen Widerspruch zu eigener Weltdeutung. So kommen viele zu dem Schluss: Die Texte geben zwar vor, auf historische Ereignisse zu verweisen. Dieser Anspruch ist aber nicht nachvollziehbar, denn solche Ereignisse gibt es nicht und hat es nie gegeben, die Texte behaupten sie nur – entweder wider besseres Wissen, oder aber sogar in Täuschungsabsicht; in letzterem Fall würden sie lügen. Nun gibt es unterschiedliche Weisen, mit dieser Problematik umzugehen. Sie stellen je unterschiedliche ›Lösungsangebote‹ für das Problem der Historizitätsansprüche der neutestamentlichen Wundererzählungen dar. 32

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

1.3.1 Die Geschichte jenseits der Geschichten: Fakten, Erlebnisse, Diskursuniversum Zeit und Erzählung müssen nicht notwendig verknüpft werden. Entsprechend kann in den Geschichten erzählte und dabei referierte Vergangenheit von den Erzählungen selbst abgelöst werden. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Spielarten, wie sich dieser Distanzierungsprozess vollzieht: a) Die Wundererzählungen als Quelle einer Faktengeschichte Ein verbreiteter Weg besteht darin, die Texte als Quellen für historische Ereignisse zu lesen und mit Methoden historisch-kritischer Exegese das in ihnen Erzählte auf historische Fakten im Leben Jesu hin zu befragen. Die exegetische Literatur ist voller Zeugnisse, wie Neutestamentler mit unterschiedlichen Methoden versucht haben, den historischen Wahrheitsgehalt der Wundererzählungen zu erweisen oder zu widerlegen (vgl. den Überblick zur amerikanischen Forschung bei Twelftree 2011a, 2519-2537): Eine extreme Form besteht darin, den Faktualitätsanspruch der Texte so ernst zu nehmen, dass in ihnen im Sinne einer Korrespondenzwahrheitstheorie die Übereinstimmung zwischen Wort und Sache angenommen wird. Die frühchristlichen Wundererzählungen werden somit als Faktenberichte verstanden, die im Ideal eins zu eins wiedergeben, »was gewesen ist« (Ranke). Die Beweislast liegt bei dem, der sie in Zweifel ziehen möchte. Der Faktualitätsanspruch der Texte wird hierbei höher gewichtet als eigene Erfahrung und Wirklichkeitstheorien. Mit Hinweis auf den Naturphilosophen Günter Ewald konstatiert etwa Rainer Riesner, dass »kein Phänomen […] deswegen verboten werden (darf), weil es bisheriger Erfahrung widerspricht« (Riesner 2001, 56). Statt exegetischer Verifikation fordert Riesner umgekehrt von den Wunderkritikern den Falsifikationsbeweis. Häufiger vollziehen die historisch-kritischen Exegeten jedoch eine Binnendifferenzierung, bei der sie zwar am grundsätzlichen Modell der Faktenreferenz festhalten, aber auch fiktionale Elemente oder sogar ganze Perikopenfiktionen gelten lassen. Mit den Kriterien der historischen Jesusforschung werden Wundererzählungen dann von Fall zu Fall oder auch im Blick auf die Gattung historisch bewertet, wie die folgenden Beispiele belegen: Entsprechend rekonstruierte Franz Mußner mit dem Differenzkriterium die ipsissima facta Jesu, d. h. »Taten, die für ihn (= Jesus, RZ) bezeichnend sind und die nur er gewirkt haben kann (Mußner 1967, 33). Rudolf Pesch hat diese Linie weitergeführt und für die ureigenen »Machttaten Jesu« kritisch gefordert, dass »demjenigen die volle Beweislast zu(fällt), der Wundergeschichten als Quellen für den historischen Jesus beansprucht. (…) Bei der Befragung der neutestamentlichen Wundergeschichten darf die Historizität des Erzählten nicht vorausgesetzt, sie muß erwiesen werden« (Pesch 1970, 143; vgl. die Thesenreihe). Die Forscher des »Jesus Seminars« am Westar Institute in Kalifornien haben sich anhand der dort geltenden Kriterien auf die Authentizität von sechs Heilungswundergeschichten geeinigt, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit als ›historische Ereignisse‹ aus dem Leben Jesu klassifizierten. Kein einziges Naturwunder wurde als historisch glaubwürdig attestiert (vgl. Funk 1998, 530f.). Gerd Theißen verknüpft seine formgeschichtliche Differenzierung mit dem Kriterium der »Plausibilität« (Theißen/Winter 1997) und kommt zu folgendem Ergebnis: »Für Exorzismen, Therapien und Normenwunder können wir einen Ursprung beim historischen Jesus annehmen. Jesus selbst hat 33

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

diese Formen von Wundern getan« (Theißen/Merz 2011, 268). Für John P. Meier wird die historische Zuverlässigkeit der Wundererzählungen durch Mehrfachüberlieferung, Formvarianz und Kohärenz bezeugt: »The historical fact that Jesus performed extraordinary deeds deemed by himself and others to be miracles is supported most impressively by the criterion of multiple attestation of sources and forms and the criterion of coherence« (Meier 1994, 630). In ähnlicher, aber zugespitzter Weise hatte bereits Craig L. Blomberg versucht, aus dem formalen Kriterium der Kohärenz, dem inhaltlichen der Reich-Gottes-Verkündigung sowie der Parallelität zu Parabeln im Analogieschluss die historische Zuverlässigkeit sogar der Naturwunder zu folgern: In short, the nature miracles and the parables closely cohere with each other. From these three propositions it therefore follows that the earliest forms of these miracles stories should be recognized as most probably historical (that is to say factual accounts of deeds from the life of Christ) (Blomberg 1986, 347).

Die Wundertexte werden hier – unabhängig von der Argumentation im einzelnen – als Quellen einer Ereignis- bzw. Faktengeschichte angesehen, die es durch sie zu rekonstruieren gilt. b) Die Wundererzählungen als Augenzeugenberichte bzw. Manifestationen von Erfahrungen Richard Bauckham (Bauckham 2006) und nun auch Craig Keener haben die neutestamentlichen Texte als Augenzeugenberichte gelesen. Dabei verschiebt sich die Wahrnehmung des Geschichtlichen von einem ›objektiven‹ Ereignis mehr zum subjektiven Erleben desselben. Für Craig Keener ist es ein vorrangiges Ziel seines voluminösen zweibändigen Werks, die historische Plausibilität der neutestamentlichen Texte durch Analogieschluss aus Gegenwartserlebnissen zu erweisen. Der Widerspruch zwischen dem Erzählten und gegenwärtiger Lebenswelterfahrung sei nur behauptet (z. B. von Bultmann) und schließe die »majority of the world’s population« (Keener 2011, 8; ähnlich schon Fascher 1960, 8: »Millionen von Menschen«) aus, deren Erleben in überwältigender Kongruenz zu den in den neutestamentlichen Texten berichteten Erlebnissen stehe. The first argument is that the miracle reports in the Gospel and Acts are generally plausible historically and need not be incompatible with eyewitness tradition. Similar claims, often from convinced eyewitnesses, circulate widely today, and there are no a priori reasons to doubt that ancient eyewitnesses made analogous claims (Keener 2011, 7).

Es geht Keener also nicht um eine Analyse der Wundererzählungen selbst, sondern um die grundsätzliche Frage nach der Zuverlässigkeit von Augenzeugenberichten über Wundererlebnisse: »My concern is to focus (…) on the more introductory question of the plausiblity of eyewitness miracle reports« (ebd. 9). Keener erzählt über viele Seiten Erlebnisse von wunderbaren Ereignissen in aller Welt (Afrika, Lateinamerika und der Karibik) nach, die für die Augenzeugen und ihn auf supranaturalen Einfluss zurückzuführen sind. Darunter finden sich auch viele Totenerweckungen (Raising the Dead) und Naturwunder (Nature Miracles). Die umfangreichen Berichte dienen letztlich aber dem hermeneutischen Interesse, die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Wundererzählungen zu be-

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Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

zeugen – so der Untertitel: »The Credibilty of the New Testament Accounts« (vgl. Keener 2011). c) Die Wundererzählungen im Kontext von Wirklichkeitskonzepten Gänzlich anders gelagert sind Ansätze, die das Wirklichkeitsverständnis zum Ausgangspunkt der Textinterpretation erheben. Entsprechend hat Paul J. Achtemeier darauf hingewiesen, dass »Realität« nicht abstrakt, sondern nur kontextuell hinsichtlich ihrer diskursiven Funktion bestimmt werden kann: It has become evident, through the discipline of the sociology of knowledge, and the studies in the influence of habit and language on the perception of reality, that ›reality‹ as it is conceived and perceived can and will differ in different circumstances, and different historical periods. The question is not ›what is reality‹ in the abstract, but ›what functions as reality‹ in a concrete historical period (Achtemeier 2008, 137).

Im Horizont eines kulturanthropologischen Ansatzes postuliert Pieter F. Craffert eine Pluralität der Wirklichkeitskonzeptionen, die es ermögliche, zwischen einer positivistischen und einer postmodernen Geschichtsvorstellung hindurchzufinden. A culturally sensitive reading of ancient texts has to be alert to all kinds of cultural realities: those that are unique to a given cultural system (…), and those that are cultural presentations of otherwise common human phenomena (Craffert 2008, 32; vgl. auch Strecker 2002).

In einer – wie er es nennt – »cross-cultural interpretation as thick description« (ebd., 19) könnten Jesu Heilungen, Exorzismen und die Kontrolle der Geister in der religionswissenschaftlichen Kategorie des Schamanismus gedeutet werden: Being a shamanic figure and acting as one, it has by now become clear, was not constituted simply by means of specific identifiable actions but by means of being inscribed in a set of cultural beliefs and in the dynamics associated with such a figure (Craffert 2008, 307).

Für Klaus Berger sind Wunder Teil einer »mystischen Wirklichkeit« (Berger 2010, 251), die »quer zur kausal erklärbaren und gewohnten Alltäglichkeit« (a. a. O., 257) stehe, aber in einem offenen Weltbild eine alternative Form der Wirklichkeitsdeutung mit »eigene[n] Regeln und eigenen Evidenzen« (a. a. O., 251) darstelle. In diesem »Regelkreis« sei der Mikrokosmos des menschlichen Körpers wie auch der Makrokosmos der Welt für das Eingreifen Gottes offen (a. a. O., 249). Besonders Stefan Alkier hat einen wirklichkeitsorientierten Ansatz mit dem semiotischen Inventar von Ch. S. Peirce differenziert ausgearbeitet. Dabei gelte es, den jeweiligen Ort eines Wunderdiskurses in den weiteren Horizont ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion oder ihrer Wissensenzyklopädie zu stellen: Die semiotische Formulierung der Wunderfrage geht von der Theorie aus, dass die Welt, in der wir leben, mittels Zeichenprozessen kommunikativ erschlossen wird. Was als Wirklichkeit gelten soll, ja sogar in welche ontologischen Modalitäten die Welt gegliedert ist und wer sie bewohnt, wird mittels Zeichenprozessen kommunikativ und konfliktreich erarbeitet. Formal muß daher die semiotische Wunderfrage lauten: Welche Zeichenprozesse ermöglicht der Signifikant /WUNDER/ oder eines seiner Äquivalente innerhalb einer gegebenen Welt? (Alkier 2001a, 86f.).

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Text und Geschichte werden hierbei zu dynamischen und relationalen Elementen eines semiotischen Systems. Wunderauslegung ist somit gleichzusetzen mit Wirklichkeitskonstruktion, die sich im Prozess der unendlichen Semiose zwischen Geschichte, Text und verstehendem Subjekt befindet. Der Ansatz einer semiotischen Wunderexegese relativiert bzw. verändert die historische Frage wesentlich: Die Semiotik des Wunderbaren kann nicht entscheiden, ob Jesus über das Wasser gewandelt ist oder nicht, ob sein Grab leer war oder nicht. Sie vermag aber danach zu fragen, mit welchen extensionalen Geltungsbereichen solche außergewöhnlichen Erzählungen auftreten […]. Eine Semiotik des Wunderbaren trägt zu einem reflektierten und kommunizierbaren Umgang mit der kulturellen Einheit /Wunder/ bei, die um die Komplexität und Verstricktheit der Fragen nach dem Wunderbaren weiß (Alkier 1998, 46).

Fazit: Die vorgestellten Ansätze versuchen, die Historizitätsfrage der Texte mit sehr unterschiedlichen Rahmentheorien zu beantworten. Sie treffen sich allerdings in der Folgerung, dass Geschichtlichkeit bzw. Wirklichkeit Vorrang gegenüber der Sprachlichkeit des Textes haben. Während die ersten beiden Modelle eine strikte Unterscheidung von Geschichte und Text voraussetzen, sei es, dass eine Faktengeschichte jenseits des Textes rekonstruiert oder zumindest postuliert wird, sei es, dass der Text (Augenzeugen-)Bericht einer Erlebenswelt darstellt, kommt es im semiotischen Ansatz eher zu einer Auflösung des Textes als distinkter Einheit in ein kulturelles Diskursuniversum hinein. Die Stärke im Ansatz von Alkier liegt zweifellos darin, dass er die Zeichenwelt der Erzählung als Artefakt eines Diskursuniversums in ihrem Eigenwert anerkennt. Jenseits vorschneller Aneignung oder Analogisierung kann hier die Akzeptanz unterschiedlicher Wirklichkeitsmodelle (des Textes und seines Lesers) bestehen bleiben. Wie allerdings überhaupt ›Verstehen‹ zwischen zeitlich auseinanderliegenden Diskursuniversen möglich ist, bleibt noch präzisierungsbedürftig. Aufgrund der prinzipiellen »Vertreibung der Kategorie Referenz« (Zipfel 2001, 51) aus dem semiotischen System wird auch die Frage nach Geschichte letztlich obsolet. V. a. gerät die Sprachlichkeit des Textes und damit auch der Text selbst durch die Horizonterweiterungen in Richtung des Diskursuniversums des Lesers inmitten der kulturellen Lektüregemeinschaft der Gegenwart samt der Einbettungen in die Enzyklopädie der fremden (z. B. frühchristlichen) Kultur zunehmend aus dem Blick.

1.3.2 Die Geschichte in den Geschichten: Wundergeschichten als Wirklichkeitserzählungen Seit etwa den 1960er Jahren kann man von einer narratologischen Wende der Geschichtswissenschaft sprechen, seit der die Erzählung als strukturelle und mediale Grundform der Vergangenheitsdarstellung angesehen wurde (vgl. dazu Zimmermann 2011g, 427-443). Geschichte hat demnach »grundsätzlich die Form einer Erzählung und historisches Denken folgt grundsätzlich der Logik des Erzählens« (Rüsen 2001, 44). Hatte sich die Geschichtswissenschaft mit dieser Einsicht zunächst auf den historiographischen Diskurs beschränkt, so wird nun ihr Wert vermehrt auch bei der Applikation auf ›Quellen‹ gewürdigt (Jaeger 2009, 121; Zimmermann 2011g, 429-432). Die neutestamentlichen Texte und mit ihnen auch die Wundererzählungen sind gerade als Erzählungen zugleich Geschichtsdarstellungen. Die Geschichte wird auf diese Weise be36

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

sonders in der Form der Erzählung selbst wahrgenommen und nicht von ihr abgelöst. Dies hat methodisch wesentliche Folgen, denn es wird nun nicht mehr nach einer Faktengeschichte jenseits des Textes gefragt, sondern nur nach einer Geschichte im Text. Die Einsicht der Geschichtstheorie ist sogar noch radikaler. Die Erzählung ist nicht nur eine bevorzugte Form der Vergangenheitsbearbeitung. Nach White und anderen (Ankersmit, Ricœur, Lorenz) ist die Erzählung die einzige Form der Vergangenheitsund Wirklichkeitsdarstellung. Die Idee von »Fakten« sei durch das Konzept der »Fiktionen der Darstellung des Faktischen« (White 1991) zu ersetzen. So sehr damit eine textbezogene Form der Geschichtsdarstellung gewonnen ist, so gerät nun die klare Konzeption der Trennung zwischen einem geschichtlichen und einem poetischen Text, ja letztlich auch die eines »faktualen Textes« versus eines »fiktionalen Textes« (s. o.) ins Wanken (dazu Nünning 1999). Die von Aristoteles eingeführte Unterscheidung zwischen dem Werk des Geschichtsschreibers ( storik@ historicos) und dem des Dichters (poihtffi@ poie¯te¯s) (vgl. Arist. po. 1451b) greift zu kurz. Auch die von Genette daraus abgeleitete erzähltheoretische Differenzierung zwischen »fiktionalen« und »faktualen Erzählungen« (s. o.) ist simplifizierend. Sie suggeriert, dass nur faktuale Erzählungen einen Realitäts- bzw. Vergangenheitsbezug haben, fiktionale aber nicht. Allerdings sind auch ›erfundene Geschichten‹ Teil einer realen Kommunikation, sie speisen sich – wie z. B. die Gleichnisse – aus der realen Erfahrungswelt der Kommunikationsteilnehmer, sie erweisen sich insofern auch als Träger historischer Informationen und besitzen geschichtliche Wahrheitsfähigkeit, sind mit Lewis »Truth in fiction« (Lewis 1978). Die Zuordnung von Faktualität und Fiktionalität bedarf deshalb weiterer Differenzierung. Auf der Suche nach Präzisierung hat der Literaturwissenschaftler Frank Zipfel zwischen Fiktivität und Fiktionalität unterschieden (Zipfel 2001, 61-68). »Fiktivität« bezieht sich dabei auf das »Was« der Erzählung. Dabei ist zu fragen, ob und in welcher Weise die erzählte Handlung bzw. Sachverhalte eine Referenz zur Wirklichkeit haben. »Fiktionalität« bezieht sich hingegen auf das »Wie« der Erzählung, die Erzählweise, die sich bestimmter sprachlicher Mittel bedient. Zipfel grenzt sein Modell von »Fiktivität« vom modallogischen Konzept der »möglichen Welten« ab. Während sich das Modell der »possible worlds« (Dolezˇel 1998, IX) auf das Erzählen von »möglichem Nicht-Wirklichen«, d. h. der Konstruktion von kontrafaktischen Alternativwelten zur wirklichen Welt konzentriert, beruht die Fiktivität auch »auf Nicht-Wirklichem, das im Rahmen der Wirklichkeitskonzeption als nicht-möglich anzusehen ist. In fiktiven Welten können sogar logische Widersprüche vorkommen, was in möglichen Welten per definitionem ausgeschlossen ist« (Zipfel 2001, 84). Für Zipfel gibt es deshalb zwei zu unterscheidende Formen fiktiver Geschichten, die »Realistik« und die »Phantastik« (Zipfel 2001, 106113). »Mit dem Begriff Realistik soll (…) der Fall bezeichnet werden, daß die Geschichte einer Erzählung in bezug auf das jeweils gültige Wirklichkeitskonzept möglich ist« (Zipfel 2001, 107). Allerdings müsse das »Realitätsprinzip« eher durch das »Prinzip der allgemeinen Überzeugungen« ersetzt werden, das »historische und kulturelle Bedingtheit und Variabilität dessen (einbezieht), was als Wirklichkeit aufgefaßt wird« (Zipfel 2001, 87). »Unter Phantastik sollen hier alle Geschichten verstanden werden, die Elemente enthalten, die von dem im Hinblick auf die gültige Wirklichkeitskonzeption Möglichen abweichen« (Zipfel 2001, 109). Phantastische Erzählungen sind so gesehen »nicht-realitätskompatible« Geschichten (Wünsch 1991, 23). »Das Irreale, das der phantastische Text 37

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

favorisiert, stellt die Kategorie des (vereinbarungsgemäß) Realen auf die Probe« (Lachmann 2002, 10). Während Zipfel diese »grundlegenden Formen der Fiktivität voneinander abgrenzen« (Zipfel 2001, 106) möchte, betrachte ich sie eher als die beiden Extreme einer Skala. Die durch Ereignisträger, Handlungen, Orte und Zeiten erzeugte erzählte Welt bewegt sich zwischen den Polen der Realität und der Phantastik. Eine solche flexible Beschreibung ermöglicht es, die eher ›realistischen‹ bzw. möglichen Handlungen in Wundererzählungen (z. B. einiger Wunder Jesu im Band 1 des Kompendiums) mit den zunehmend phantastischeren Handlungen der Wundererzählungen in Band 2 des Kompendiums (Wunder der Apostel) zusammenzudenken. Es wird nun freilich die Frage zu stellen sein, ob diese Anleihe bei der Literaturwissenschaft nicht im Widerspruch zu dem bisher erläuterten Anspruch der Texte steht, »faktual« zu sein. Können und dürfen wir denn die erzählte Welt der Wundererzählungen als »fiktive Welt« betrachten? Aus der Sicht der Literaturwissenschaft müssen wir zunächst anerkennen, dass die Wundererzählungen durchaus zu Recht als »phantastische Literatur« eingestuft werden. Auf der Ebene der Handlung werden gerade »unmögliche« Ereignisse erzählt, und zwar nicht, weil der z. B. ungläubige Leser sie als »unmöglich« einstuft, sondern weil die Texte selbst sie durch Kommentare der Handlungsfiguren, der Erzählstimme und weitere Erzählelemente ganz bewusst in einen Widerspruch zur normal und gültig angesehenen Welt setzen (s. o.). Wundererzählungen sind so gesehen Teil der »erzählten Phantastik« (Lachmann 2002). »Fantastische Literatur ist Literatur, in der in einer realistisch gezeichneten Welt als übernatürlich erscheinende Ereignisse eintreten, deren Status häufig nicht oder nicht eindeutig geklärt werden kann« (Dunker 2009, 240). Mit Dunkers Definition wird zugleich deutlich, dass das Phantastische immer schon ein Konzept von Realität voraussetzt, ja letztlich nur durch die bewusste Grenzüberschreitung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen funktioniert. »Das Phantastische als das Unmögliche, Gegenrationale und Irreale kann trotz seiner Aufkündigung der fiktionalen Darstellungsregeln und der versuchten Desintegration des Bestehenden nicht ohne die Welt des Realen, Möglichen, Rationalen bestehen. Und dennoch gelingt es ihm, diese parasitäre Abhängigkeit offensiv auszulegen« (Lachmann 2002, 10). Dieser Realitätsbezug wird nun bei Wundererzählungen gerade durch den Verweis auf die Geschichte erzeugt. Wundergeschichten erheben im faktualen Erzählmodus zugleich den Anspruch, referenziell zu sein, d. h. auf Ereignisse (der Vergangenheit) zu verweisen. Die Extremform der referenziellen Gattung wäre der »Tatsachenbericht«. Wundergeschichten erzählen von unmöglichen Handlungen als geschichtlichen Ereignissen, sie präsentieren realitätswidrige Inhalte im faktualen Redemodus. Wundererzählungen partizipieren insofern an Merkmalen des Tatsachenberichts ebenso wie der Phantasiegeschichte, oder zugespitzt formuliert: Wundererzählungen sind phantastische Tatsachenberichte! Diese spezifische Spannung kennzeichnet m. E. eine Wundererzählung und sollte nicht vorschnell aufgelöst werden, indem man z. B. den Fiktivitätsgehalt der Handlungen als ›normal‹ klassifiziert oder indem man den faktualen Redemodus als fiktional herunterspielt. Um diese eigenartige Spannung zwischen dem Tatsachenbericht und der Phantasiegeschichte präziser zu benennen, mag das literaturwissenschaftliche Konzept des »begrenzten Wunderbaren« bzw. des »magischen Realismus« hilfreich sein. Uwe Durst 38

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

bezeichnet damit realistische Erzählungen (»realitätssystemische Strukturen«), die in einem begrenzten Maße phantastische bzw. wunderbare Elemente enthalten (vgl. dazu Durst 2008, 17-100; ähnlich Reichelt 2001, 10 f.; ausführlicher dazu Zimmermann 2013). Im Folgenden möchte ich zunächst die von Klein/Martínez eingeführte Kategorie der »Wirklichkeitserzählung« als Verstehenshilfe für die Wundererzählungen heranziehen (Klein/Martínez 2009). Damit soll gerade eine Literaturform beschrieben werden, die nicht primär als belletristische Literatur verstanden wird, sondern in anderen Funktionszusammenhängen steht. »Erzählen im historiographischen Diskurs« (Jaeger 2009) ist eine solche Form der Wirklichkeitserzählung. Weiterführend ist die von Klein/Martínez vorgeschlagene Systematik, mit der Fiktion, Fiktionalität und Faktualität in je unterschiedliche Beziehungen gesetzt werden (s. Klein/Martínez 2009, 4 f.): 1) Faktuale Erzählungen mit fiktionalisierenden Erzählverfahren Erzählungen, die auf eine wahre Geschichte referieren, aber literarische Erzähltechniken verwenden, um die Plausibilität des Erzählten zu erhöhen. 2) Faktuale Erzählungen mit fiktiven Inhalten Die Erzählungen erheben zwar den Anspruch, auf reale Begebenheiten zu referieren. Sie lösen diesen Anspruch aber nicht ein, weil es diese Begebenheiten nicht gab. Dabei kann man zwischen Erzählungen unterscheiden, die dies wider besseres Wissen oder aber bewusst tun. 3) Fiktionale Erzählungen mit faktualen Inhalten Die Erzählungen erheben nicht den Anspruch, wahre Geschichten wiederzugeben. Sie referieren aber auf Geschehnisse, Personen und Sachverhalte, die in ähnlicher Form so passiert sind oder hätten passiert sein können. 4) Fiktionale Erzählungen mit faktualem Redemodus Manche Erzählungen inszenieren sich durch spezielle literarische Techniken als faktual, obgleich sie fiktional sind und auch auf fiktiven Inhalten beruhen. Dem Rezipienten wird gleichwohl kenntlich gemacht, dass es sich um fiktionale Texte handelt.

Kommen wir auf die frühchristlichen Wundererzählungen zurück. Dem Selbstanspruch der Texte folgend, kommen nur die Kategorien 1) und 2) in Frage. Wir können aber nach dem Vorgenannten noch präziser formulieren: Wundergeschichten sind im Redemodus grundsätzlich faktuale Erzählungen, die gleichwohl fiktionalisierende Erzählverfahren in unterschiedlichem Maße einschließen. Im Blick auf die erzählten Inhalte bewegen sie sich bewusst auf der Grenze zwischen Realitätsbezug (Realistik) und Realitätsdurchbrechung (Phantastik).

Fazit: Die in diesem Kompendium gewählte Perspektive, den Text selbst als Ausgangsund Endpunkt der Analyse zu wählen, hat besonders gravierende Konsequenzen im Bereich der Historizitätsfragen. Gewöhnlich wird die Frage nach der Geschichtlichkeit auf die Frage reduziert: Hat Jesus wirklich Wunder getan? Was ist wirklich gewesen? Hierbei wird historistisch nach einer Faktengeschichte zurückgefragt, was sich m. E. aus geschichtstheoretischen wie auch erkenntnistheoretischen Einsichten verwehrt (vgl. Schröter 2003; Zimmermann 2011g). So selbstverständlich diese Frage auch ist, so wenig kann sie methodisch abgesichert bearbeitet werden und Antwortversuche werden meist zu einem reinen Bekenntnisakt. Wie schon Aristoteles wusste, ist es ein Zeichen des gebilde39

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

ten Geistes, nur diejenige Präzision über einen Gegenstand erlangen zu wollen, die ein Gegenstand auch zulässt (Arist e. N. 1094b). Der Referenzbezug einer historischen Erzählung kann nicht präzise bestimmt werden. Was hingegen präziser beschrieben werden kann als es meist in der Exegese geschieht, ist die Funktionsweise der »historischen Wundererzählungen«, wobei neuere Erkenntnisse der historiographischen Narratologie hilfreich sind. Eine positivistisch gestellte Historizitätsfrage ist m. E. aber auch theologisch fragwürdig, weil sie den kanonischen Text zu einer Quelle degradiert und dabei die (eigene) Rekonstruktion der Ereignisse den Texten selbst vorordnet. Nach reformatorischem und ökumenischem Schriftverständnis sind jedoch nicht die zur Erzählung führenden Ereignisse, sondern die Schrift selbst der Maßstab des Glaubens. Der rückwärtsgewandte Streit über die Frage nach »historisch möglich« oder »historisch unmöglich« verwehrt besonders auch die gegenwartsorientierten Potenziale, die der Text in seiner spezifischen Erzählweise birgt. Die Wundererzählungen als Wirklichkeitserzählungen zu betrachten, ermöglicht in einem analytischen Sinn, ihre spezifische Verknüpfung von faktualem Redemodus und fiktiven Inhalten präziser zu erfassen; es ermöglicht in einem theologischen Sinn aber auch, auf die pragmatischen Impulse hinzuweisen, die auf Relevanz und Gegenwartsorientierung dieser Texte zielen. Die Wundererzählungen werden im Neuen Testament nicht weitererzählt, um die Vergangenheit wegzurücken oder theologisch zu überhöhen, sondern um sie als gegenwärtig relevant zu erweisen. Wirklichkeitserzählungen sind deshalb mehr als Tatsachenberichte!

1.3.3 Die Geschichte der Geschichten: Traditions-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte Die frühchristlichen Wundererzählungen stehen nicht nur in einer Beziehung zur Ereignisgeschichte, sondern haben auch selbst eine »Geschichte der Geschichten«. Für Achtemeier steht diese Dimension der Tradierung des Wunderstoffs sogar im Zentrum seines Forschungsinteresses. Aufgabe der Beschäftigung mit Wundererzählung sei es, »to determine the meaning the miracles recorded of Jesus had for the earliest Christian traditions« (Achtemeier 2008, xi). Geschichtlichkeit wird innerhalb des Kompendiums in einer solchen diachronen Text- bzw. Literaturgeschichte immer wieder zur Sprache kommen. Dabei können unterschiedliche Bereiche differenziert werden, sei es, dass Elemente der Erzählung sozial- und realgeschichtlich in den kulturellen Kontext eingeordnet werden (dazu unten), sei es, dass Aspekte der Textproduktion und -rezeption im Horizont einer Traditions-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Texte differenziert erfasst werden. a) Traditionsgeschichte: Wundererzählungen als ›Wiedergebrauchsformen‹ Die historischen Ereignisse werden in sprachlichen Formen wiedergegeben, die wie bei jedem Vertextungsprozess auf Prätexten basieren, die als sprachliche Medien nicht nur inhaltsleere Vehikel darstellen, sondern dem Geschehen auch und besonders in ihrer Form Deutungspotenziale verleihen. Theißen spricht hier davon, dass die Ereignisse in gesteigerter Form (Theißen 1998, 138.279) wiedergegeben werden. Ich möchte viel einfacher sagen: Die Ereignisse werden schlicht »erzählt«. Und in der narrativen Wiedergabe der Erlebnisse, wenn Geschichte zu Geschichten wird, vollzieht sich unweigerlich ein Pro40

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

zess der Versprachlichung, bei dem auch faktuale Erzählungen durch fiktionale Elemente angereichert werden. Dazu ein Beispiel: Dass bei der Speisung der Fünftausend (Mk 6,32-44) zwölf Körbe Brocken und in der Speisung der Viertausend (Mk 8,1-10) sieben Brote gefunden wurden (Mk 8,5) und wiederum sieben Körbe mit den Resten gefüllt werden (Mk 8,8), mag man als historischen Zufall deuten; indem aber in Mk 8,19-21 dieselben Zahlen ausdrücklich wieder aufgegriffen und als Deutungsschlüssel benannt werden, drängt sich doch unweigerlich die Auffassung auf, dass hier Zahlensymbolik bewusst in die Erzählungen eingeflossen ist und die Erinnerungsgeschichte narrativ geprägt hat. Ferner zeigt eine konkrete Berechnung der nach den Zahlangaben erforderlichen Brotmengen, Bedienungen, Kosten die doch kaum bezweifelbare »Fiktionalität dieser Mengenangaben« (Avemarie 2011, 62). Aber heißt das, dass gar nichts stattgefunden hat? Bedeutet die Verwendung geprägter Sprachmuster und Motive, dass die frühchristlichen Autoren lediglich Sprachspiele betrieben haben, die keinerlei Referenz auf außersprachliche Wirklichkeit aufweisen? Sind die neutestamentlichen Heilungserzählungen etwa nur Stilübungen oder Imitate von hellenistischen Wundererzählungen aus dem Asklepios-Heiligtum? Keineswegs. Die sprachliche Gestalt hat ein Eigengewicht und zieht den Ereignissen ihre Matrix ein. Gleichwohl erfindet die sprachliche Gestalt nicht beliebig Ereignisse. Ferner vollzieht sich diese sprachbasierte Deutung nicht erst ex post. Nach Carr oder Grethlein haben sogar Erlebnisse und Erfahrungen bereits im Moment des Geschehens narrative Strukturen (Carr 1986; Grethlein 2010, 21-39). Die innerhalb der Geschichtstheorie intensiv geführte Diskussion um Fakten und Fiktionen hat gezeigt, dass es nicht erst die losgelösten Fakten als amorphe Einzelereignisse gibt, die nachträglich durch sprachliche Formen gedeutet werden, sondern dass sich solche Deutungsprozesse bereits im Erleben selbst vollziehen (s. o., dazu im Detail Zimmermann 2011g, 432-434). Um Ereignisse verstehen zu können, braucht man Vorkenntnisse, Deutungsraster, die bereits geprägt sind, die bereits eine sprachliche Form aufweisen. Um von Ereignissen erzählen zu können, bedient man sich umso mehr derartiger geprägter Motive, Gattungen und Deutungsmuster. Auch Wundererzählungen sind deshalb »Wiedergebrauchsformen« (dazu Zimmermann 2011e, 112-114), die in unterschiedlicher Weise auf Prätexte zurückgreifen. Im Auslegungsschritt zum »Traditions- und Religionsgeschichtlichen Hintergrund« (s. u. 2.3) werden diese potenziellen Vorprägungen, die mögliche oder in einigen Fällen sogar plausibel nachweisbare Vorgeschichte der Wundergeschichte eigens untersucht. b) Zur Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte Einige frühchristliche Wundererzählungen zeigen teilweise so markante Überschneidungen und Wortlautparallelen mit Texten aus anderen frühchristlichen Quellen, dass der Schluss nahe liegt, dass eine Wundergeschichte mehrfach überliefert ist. Derartige Parallelüberlieferungen können in einer synchronen, aber auch diachronen Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Obgleich wir im Kompendium die grundsätzliche Überzeugung der neutestamentlichen Wissenschaft teilen, dass die Texte im Neuen Testament Traditions- und nicht reine Autorenliteratur darstellen, soll sich die Untersuchung der Überlieferungsgeschichte auf Texte beschränken, die in Mehrfachüberlieferungen vorliegen. Dies ist insbesondere bei den ersten drei Evangelien der Fall, die in einer komplexen literarischen Abhängigkeit stehen. Teilweise zeigen sich auch Parallelen zwischen Johan41

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

nes und der synoptischen Tradition sowie zwischen apokryphen und kanonischen Texten. Nicht immer kann die Analyse der Beziehung zwischen diesen Erzählvarianten auf Erklärungsmodelle wie etwa die Zwei-Quellen-Theorie zurückgreifen, die doch von den meisten Forschern anerkannt wird. Die Beschreibung der Abweichungen kann unter literaturwissenschaftlicher Perspektive von der Last befreit werden, die ursprüngliche und damit historisch zuverlässigere Variante zu rekonstruieren. Statt einer (vielfach implizit wertenden) rein linearen Zuordnung der Varianten kann mit der Differenz zwischen fiktiven und fiktionalen Elementen eine präzisere Deskription der Unterschiede erfolgen, die dann auch hermeneutisch ausgewertet werden können. Dazu einige Beispiele: Wie ist etwa die Abweichung des Ortes bei der Dämonenaustreibung in der Dekapolis (Mk 5,1-20; Mt 8,28-34; Lk 8,2639) zu verstehen? Während Markus und Lukas von »Gerasa« sprechen, lokalisiert Matthäus die Erzählung in »Gadara« mit zwei Besessenen; nimmt man abweichende Lesarten einiger Handschriften hinzu, dann wird auch noch »Gergesa« als Ort vorgeschlagen (dazu Zimmermann 2012, 90-92; ebenso Ebner in diesem Band zu Mk 5,1-20). Während Heilungen an Blinden und Lahmen auch in ähnlicher Weise an unterschiedlichen Personen und Orten erfolgt sein können, ist der Exorzismus mit kollektivem Selbstmord einer Schweineherde ein so ungewöhnliches Motiv, dass die Parallelüberlieferung doch wohl auf dasselbe Ereignis zurückgreift. Wird mit der Variation der Ortsreferenz zugleich die historische Glaubwürdigkeit der Erzählung insgesamt aufgekündigt? Vor dem Hintergrund der oben genannten Überlegungen lässt sich die Variation unterschiedlich deuten: Es mag sein, dass die Evangelisten oder spätere Abschreiber den faktualen Redemodus verstärken wollten, indem sie eine für sie unwahrscheinliche Ortsangabe durch eine plausiblere ersetzten (dies mag bei den späten Handschriften a2 L D der Fall sein, die mit »Gergesa« einen seit dem 4. Jh. auch archäologisch belegbaren Pilgerort am See Gennesaret eintragen, vgl. Zwickel 2003, 423). Es mag aber auch sein, dass sie in der Ortsangabe ein fiktionales Element sehen, das z. B. die politische Intention der Erzählung verstärkt, so dass je nach eigenem Kenntnisstand des Tradenten auf die römisch geprägten Dekapolisstädte Gadara oder Gerasa verwiesen wird. Die Variationen belegen aber in jedem Fall, dass Tradenten dieser Erzählung die Texte nicht im Sinne einer Korrespondenzwahrheitstheorie oder eines Tatsachenberichts engführen wollten, die jede Veränderung hätte verhindern müssen. Die Geschichte der Erzählungen zeigt ferner regelmäßige Veränderungen im Laufe ihrer Überlieferung, die Deutungspotenziale in sich bergen: Matthäus scheint Paarbildung bzw. Verdopplungen der Handlungsfiguren zu schätzen, was als fiktionales Element gedeutet werden kann (dazu Münch, Hinführung Matthäus): So ist von zwei Blinden in der ersten Blindenheilungserzählung (Mt 9,27-31), von zwei Besessenen in Gadara (Mt 8,28 diff. Mk 5,2; Lk 8,27) oder von zwei Blinden bei Jericho (Mt 20,29-34 diff. Mk 10,46-52) die Rede. Ferner fällt die spätere Namensgebung bei anonymen Gestalten auf: In den PseudoKlementinen wird die namenlose kanaanäische Frau aus Mt 15,21-28 (vgl. Mk 7) »Justa« genannt (Ps.-Clem. Hom. 2,19; vgl. 3,73; 4,1; 13,7; Ps.-Clem. Hom. 2,20f.). In allegorischer Weise deutete Hilarius die Kanaanäerin als Proselytin, die stellvertretend für ihr Kind, d. h. für die Heiden, bittet (Hilar. 15,3); die blutflüssige Frau wird im Nikodemusevangelium »Bernike« genannt (s. dazu Eberhart in diesem Band), um nur einige Beispiele zu nennen. Liegt mit der Namensnennung in Wundererzählungen eine authenti42

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

sche Referenz auf geschichtliche Fakten vor (so Bauckham), oder können wir darin nicht ein fiktionales Element erkennen, mit dem gerade der faktuale Redemodus verstärkt werden soll? In ähnlicher Weise werden Leerstellen der Erzählung bei der Nacherzählung der Wundergeschichte von der Heilung der verdorrten Hand gefüllt: Während die Erzählung bei Markus sehr detailarm ist, ergänzt Lukas, dass es sich um die rechte Hand handelt (Lk 6,6), und das Nazarenerevangelium weiß sogar vom Maurer-Beruf des Kranken (EvNaz 4). Wer die Texte historistisch enggeführt liest, wird den späteren Autoren bewusste Falschaussagen im Sinne einer Faktenwahrheitstheorie unterstellen müssen. Wenn man in den Erweiterungen aber fiktionale Ausschmückungen erkennt, kann das Deutungspotenzial dieser Erzählelemente wahrgenommen werden, etwa dass bei einem Maurer das sich durch die Erkrankung stellende soziale Problem veranschaulicht wird (vgl. dazu Becker zu Mk 3,1-6; Frey zu EvNaz 4 in diesem Band). Während die Gewaltanwendung bei der Gefangennahme Jesu in Getsemani in allen Evangelien überliefert wird, erzählt nur Lukas von der Heilung des abgehauenen Ohrs (Lk 22,50f.). Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Lukas hier eine Sonderguttradition aufgreift, die nur ihm zugänglich war. Es wäre aber auch denkbar, in dieser kleinen Szene eine fiktive Fortschreibung der theologischen Grundlinie des Evangelisten zu sehen, der darum bemüht ist, Jesu gewaltfreie und vergebungsbereite Theologie auch in der Passionsgeschichte durchscheinen zu lassen (man denke an die Vergebungsbitte für die kreuzigenden Soldaten oder die Verheißung für den Schächer am Kreuz). In diesem Fall wäre die Heilungsepisode in Getsemani bei Lukas eine faktuale Geschichte mit rein fiktivem Inhalt.

1.4 Hermeneutisches: Verstehen im Erzählen 1.4.1 Verstehen und Missverstehen der Wundererzählungen: Von der Unmöglichkeit einer Wundertheologie a) Wundererzählungen als Bekenntnisakte? Wie kann man Wundererzählungen heute verstehen? Worin bestehen Verstehensschwierigkeiten und Verstehensmöglichkeiten? Welche theologischen Fragen sind mit ihnen aufgeworfen? Der Umgang mit Wundererzählungen wie mit dem Wunder überhaupt wird vielfach zu einem status confessionis hochstilisiert: Auf der einen Seite stehen Christenmenschen, die sich kaum trauen, den Begriff des Wunders in den Mund zu nehmen, sei es aus rationalen Gründen (»Wunder widersprechen dem modernen Welt- und Wirklichkeitsbild, den Naturgesetzen, der prüfbaren Vernunft«), sei es aus Gründen der Kommunikation (»Das würde sofort ungläubige Gesprächspartner erschrecken«), sei es aus Glaubensgründen (»Ich brauche keine Wunder, um zu glauben …«). Auf der anderen Seite gibt es Christenmenschen, die geradezu ›scharf‹ auf Wunder sind und Wunder zu einem Bekenntnisakt ihres Glaubens machen, auf den alles ankommt (»Glaubst du nicht an die Wunder, dann glaubst du gar nicht«). Dabei geht es um die Hoffnung auf die Macht Gottes, die sich gerade darin erweist, dass sie alles Regelhafte und Vorstellbare durch-

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

bricht (»Ich finde es befreiend, wie in den Wundern die brutale Macht von Kausalität und deterministischer Festlegung der Welt durchbrochen wird«). Hinter dieser Frontstellung verbergen sich fundamentale Fragen der Gotteslehre: Kann es einen Gottesglauben ohne Wunder geben? Ist es nicht ein Charakteristikum Gottes, gerade der menschlichen Einsichtsfähigkeit und Verfügbarkeit entzogen zu sein? Oder schöpfungstheologisch gewendet: Impliziert das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer nicht die Folgerung, dass er selbst gerade nicht der Schöpfung unterworfen ist, also auch die Eigen-Gesetzlichkeit der Schöpfung durchbrechen kann? Und entspricht es nicht einem Grundbekenntnis des jüdisch-christlichen Gottesglaubens, dass Gott auch in der Welt wirkt und sich offenbart (vgl. ökonomische Trinität)? Doch wie wirkt Gott, wie wird er in der Welt erfahrbar? Etwa in sinnlich wahrnehmbarer, konkreter und dabei auch überraschender, ja bisweilen irritierender und verstörender Weise? Wäre es nicht ein Verzicht auf ein relationales Gottesbild, wenn die Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes sich derart immanent gestaltet, dass wir sie gar nicht mehr ›sehen‹ oder ›spüren‹ könnten? Wenn das Handeln Gottes in der Welt nicht in irgendeiner Weise auffällig wäre, warum wären wir dann überhaupt dazu verleitet, noch von Gott zu sprechen? Wirkt also Gott (noch) in der Geschichte der Welt und in meinem Leben? Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf Wundererzählungen Jesu, so dass sie die theologischen Fragen um christologische Fragen erweitert: Ist es Gott, der in Jesus wirkt? Sind die Wundererzählungen gerade ein Ausdruck der Wirksamkeit Gottes in und mit Jesus von Nazaret? Wird die exzeptionelle Gottesgemeinschaft Jesu nicht gerade durch die Wunder erkennbar, mit denen Gottes Heil auf Erden sichtbar wird? In welchem Verhältnis steht das in punktuellen Wunderhandlungen erfahrene Heil zum soteriologischen Heil durch Jesu Kreuz und Auferstehung? Hinzu kommen Fragen der Theodizee, d. h. der Vereinbarkeit von Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Neben der Freude über die ›erlesenen‹ Heilungen wird zugleich ein Unbehagen über die empfundene Ungerechtigkeit geweckt, dass das erzählte Heil der Vergangenheit in einem Widerspruch zum erlebten Leid der Gegenwart steht. b) Keine Heilung für alle – oder: Die Probleme einer Wundertheologie Exemplarisch soll an dieser Stelle ein Problem in Auseinandersetzung mit den Texten vertieft werden: Die Theodizee-Problematik von punktuellen Heilungen und fortbestehendem Leid findet sich bereits in den Erzählungen selbst. Wie viele Kranke gab es in Israel, aber nur einige wenige werden geheilt. Im Lukasevangelium wird diese selektive Heilung sogar im Kontext der Heilsadressaten (Israeliten oder Fremde) zugespitzt und reflektiert (vgl. Lk 4,25-27). Lukas berichtet, wie dies bereits auf der Ebene der erzählten Welt »Ärger« (Lk 4,28) auslöst. Dies hindert ihn aber nicht, dass die Wunderhandlungen Jesu auf einige wenige Menschen beschränkt bleiben. Wie viele Jungen werden als einzige Söhne einer Witwe gestorben sein, aber nur von einer derartigen Totenerweckung wird berichtet (Lk 7,11-17). Am deutlichsten wird diese Spannung in Joh 5 ausgedrückt: Am Teich Betesda liegen in fünf Säulenhallen viele Kranke. Jesus hätte mit kräftiger Stimme alle in einem Handstreich gesund machen können, so wie er allen Wellen und dem Sturm auf dem See Gennesaret Ruhe gebot. Aber nein: Jesus wendet sich nur einem einzelnen zu inmitten Hunderter von Kranken, die am Teich warten. Die Zuwendung zu einem Einzelnen wird hierbei als ein wesentliches Charakteristikum der Heilungs- und Wundertätigkeit Jesu erkennbar. Die Wundersummarien spre44

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

chen zwar davon, dass sie »alle … Kranken« zu Jesus gebracht haben und er sie heilte. Aber man beachte auch hier die erzählerischen Details: Lukas betont im Summarium Lk 4,40, dass Jesus »jedem Einzelnen« die Hände auflegt: »Als aber die Sonne unterging, führten sie alle zu ihm, die Kranke hatten mit mancherlei Krankheiten; der aber, jedem einzelnen von ihnen legte er die Hände auf ( k€st†w a'tn tÞ@ ce…ra@ ¥pitiqeffl@ hekasto¯ auto¯n tas cheiras epititheis) und heilte sie«. Die summarische Nennung von Heilungen ist von einer pauschalen Massenheilung immer noch deutlich zu unterscheiden. Obgleich nach Mk 1,33f. die »ganze Stadt« versammelt war, werden doch nicht pauschal »alle Kranken« geheilt. Vielmehr ist von »vielen« (polloÐ@ pollous) die Rede (vgl. Mk 6,13), was bestenfalls in einem semitischen Horizont als »alle« zu lesen ist (vgl. dazu Dormeyer, Einführung Markus). Die Evangelisten haben hier offenbar einem theologischen Problem Ausdruck verliehen, das uns auch heute noch beschäftigt. Man könnte daraus einen theologischen Widerspruch oder eine komplexe Zuordnung von Heil und Heilung konstruieren (Schrage 1998, 327-344). Die Texte verweigern beides: Wundererzählungen verleihen dem Unverständlichen, dem Grenzüberschreitenden Ausdruck. Sie erzählen, sie argumentieren nicht. Sie bleiben an Einzelheiten, an sprachliche Konkretionen gebunden. Sie entziehen sich einer einlinigen Bedeutungszuschreibung (so auch das Ergebnis bei Twelftree 2011a, 25372543: »What did the Miracles Mean?«). Es ist wie in der erzählten Zuwendung Jesu an Kranke. Selbst dort, wo man prima vista den Eindruck des Grundsätzlichen und Abstrakten hat, bleibt sie konkret und individuell. Entsprechend muss auch eine Hermeneutik der Wundererzählungen textgebunden bleiben. Aus ihnen eine stimmige »Wundertheologie« abzuleiten, wäre verfehlt. Sie müsste zu einer theologia gloriae werden, die für all die Menschen zum Spott würde, die eben nicht geheilt, auferweckt und leiblich restituiert werden (dazu Bach 2006; Grünstäudl/Schiefer Ferrari 2012); oder aber sie würde als kritische theologia negativa enden, die eine interne Wunderkritik vollzieht, bei der das Problemkind »Wunder« samt den frühchristlichen Erzählungen mit dem Bade ausgeschüttet würde (so z. B. Law 2011, dessen Skeptizismus sogar auf die Existenz Jesu ausgeweitet wird). Wunder werden im frühen Christentum erzählt. Sie sollen weitererzählt werden. Sie sollen irritieren und provozieren und damit zu Erkenntnissen und zum Handeln anstiften. Nirgends aber lesen wir vom Auftrag, aus Wundern eine prinzipielle, d. h. nicht narrative Wundertheologie zu entwickeln. Entsprechend muss auch das Verstehen der Botschaft der Wundererzählungen an ihre sprachliche Form gebunden bleiben. Verstehen als ein Prozess der Sinnstiftung kann deshalb am ehesten auf der Ebene der Pragmatik, der sprachlich evozierten Wirkung dieser Texte gefunden werden.

1.4.2 Zur Pragmatik und Funktion der Wundererzählungen: Welchen Sinn hat es, Wunder zu erzählen? Wenn Gattungen in erster Linie wiedererkennbare Kommunikationsmedien sind (Dormeyer 2004; Zimmermann 2007c; ders. 2011e), dann können wir sie nur verstehen, wenn wir ihre Absicht und Funktion verstehen. Ein funktionales Gattungsverständnis ist keineswegs per se neu. Schon die alte Formgeschichte hatte mit ihrem Diktum vom »Sitz im Leben« (dazu jetzt Byrskog 2007) auf die Funktion einer Gattung in typischen 45

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Gebrauchssituationen hingewiesen. Dies gilt auch für die Wundererzählungen (vgl. den Überblick bei Kollmann 2011, 65-68). So hat etwa van der Loos in seiner Untersuchung einen Abschnitt zu »Function and Significance of Jesus’ Miracles« integriert (s. van der Loos, 240-254). Hierbei unterscheidet er zwischen – »Miracles as proof of identity (of Jesus)«, was vorher schon mit dem dreifachen Amt (messianic, prophetic, priestly aspect) konkretisiert wurde – »Miracles as a display of mercy« – »Miracles as a means of arousing faith« – »Miracles as a sign and seals of Jesus’ Messianic activities which are to identify His divine mission« – »Miracles as a function of the kingdom of God«. Die Pragmatik der Wundergeschichten wurde hierbei ganz auf ihren propositionalen Gehalt konzentriert. Die Wundererzählungen haben demnach eine christologisch-theologische Funktion. Sie wollen etwas zur Kenntnis geben, der/die Lesende/Hörende soll Jesu messianische Identität und seine Botschaft der Gnade und des Reiches Gottes verstehen. Den Akzent auf die theologische Dimension legt dabei Nicholas T. Wright bei seiner Funktionsbestimmung der Wundererzählungen: »They were signs which were intended as, and would have been perceived as, the physical inauguration of the kingdom of Israel’s God, the putting into action of the welcome and the warning which were the central message of the kingdom and its redefinition« (Wright 1996, 196). Für Klaus Berger steht die christologische Funktion der Wundererzählungen im Vordergrund, indem Jesus in Überbietung alttestamentlicher Propheten (vgl. Berger 2010, 19-119) in den Wundern erst die Gabe Gottes und dann auch sich selbst zuteil werden lässt (a. a. O., 85). Die Wunder seien »überhaupt nur dann richtig zu verstehen, wenn man auch ihre christologische Bedeutung begreift« (Berger 2010, 144f.). Für Helmut Köster zählten Wundererzählungen zum bevorzugten Repertoire für die »Propaganda judenchristlicher Missionare«: »Als Handbücher solcher missionarischer Tätigkeiten müssen die meisten Sammlungen der Wundergeschichten Jesu entstanden sein, in denen Jesus der göttliche Mensch schlechthin war, so daß der Nachweis übernatürlicher Macht den Charakter einer verpflichtenden Botschaft hatte« (Köster 1980, 601f.). Auch wenn Köster hier noch ganz in der religionsgeschichtlich inzwischen widerlegten (z. B. Blackburn 1991) Frontstellung zwischen Jesus und den qe…oi ˝ndre@ (theioi andres – göttliche Männer) steht, trifft er doch einen wesentlichen Aspekt. Wundergeschichten haben eine Werbungsfunktion. In ähnlicher Weise hat auch Gerd Theißen diese »missionarische Intention« der Wundergeschichten als Teilaspekt der sozialen Intention benannt: »Die angesprochenen Menschen sollen dazu bewegt werden, sich der Gemeinde anzuschließen, die dem Unheil entronnen ist« (Theißen 1998, 257). Wundergeschichten üben darüber hinaus »auch innergemeindlich wichtige Funktionen aus« (vgl. dazu Kollmann 2011, 66f.). So kann die detaillierte Schilderung der Heiltechniken eine Vorbildfunktion für die Wunderpraxis der Apostel erfüllen. In den Normenwundern sieht Kollmann »legitimierende Wunder«, die die Diskussion über Normenumbrüche (z. B. zu Sabbat, Reinheit) »autoritativ entschieden« haben. Speisungswunder könnten auch im Lehrbetrieb, etwa bei der Eucharistiekatechese verwendet worden sein. Kollmann hat mit Recht auch auf den Unterhaltungswert der Wundererzählungen 46

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

hingewiesen. Auch hier wiederum kann die postulierte Nähe der Wundererzählungen zur erzählten Phantastik (s. 1.3.2) aufschlussreich sein. Die Wundergeschichten führen Unglaubliches vor Augen, sie wollen diese Mischung von Gänsehaut, Geheimnis und Belustigung erzeugen, wie wir es heute am Fantasy-Genre lieben. Auch dazu einige Beispiele: Der erschreckte Ausspruch der Jünger bei Jesu Seewandel verleiht gerade dem Schauer der Lesenden eine Stimme: »Sie meinten, es sei ein Gespenst und schrien« (Mk 6,49, vgl. Mt 14,26). Oder: Man mag schon ins Schmunzeln geraten, wenn der »Legion« heißende Dämon mit den Tausenden von Schweinen im See Gennesaret versenkt wird, wenn man weiß, dass die im jüdischen Krieg ihr Unwesen treibende »Legio X« ein Schwein/einen Eber als Wappentier hatte und ihren Beinamen »fretensis« einer erfolgreichen Seeschlacht bei Fretum verdankt (vgl. Zimmermann 2012, 92-96). Dass gerade auch die Wundergeschichten der späteren apokryphen Literatur scherzhafte Züge tragen, hat Plümacher in seiner Untersuchung zur »Wanzenerzählung« in ActJoh 60f. (dazu die Auslegung von Dormeyer in Bd. 2) gezeigt, wo der terminus technicus pafflgnion (paignion – Scherz, Luststück) explizit verwendet wird (Plümacher 2004b, 171-206). Auf einen ganz anderen Aspekt hat Glöckner hingewiesen, indem er den Zusammenhang zwischen der Funktion der Psalmen und den Wundererzählungen herausgearbeitet hat: »Viele Wundergeschichten sind zugleich Bitt- bzw. Gebetserhörungsgeschichten« (Glöckner 1983, 16). »In Aufbau und Struktur orientieren sich die Wundergeschichten besonders an Klage- und Dankliedern des Psalters« (ebd., 17). Schließlich wurde die soziale und therapeutische Funktion der Wundererzählungen benannt. Die amerikanische sozialgeschichtliche Jesusforschung hatte zwar meist die Wunder Jesu und weniger die Wundererzählungen im Blick, wenn etwa von Crossan die Hoffnungsdimension der Wunder für die unter politischem und religiösem Druck leidenden Menschen hervorgehoben wurde (Crossan 1993, 287-292). Manfred Köhnlein hat, ein Diktum Moltmanns aufnehmend (Moltmann 1968, 268), die Wundererzählungen selbst unter der Überschrift »Protest- und Hoffnungsgeschichten« (Köhnlein 2010) zusammengefasst, die gerade auch Rezipienten mit einbeziehen wollen: »Entscheidend bei der Interpretation der Wunder ist, sich von Fall zu Fall auf die erzählerische Dramatik neu einzulassen und dabei sensibel mitzugehen, mitzuhoffen, mitzuleiden, als sei der Ausgang der Situationen und Konflikte ungewiss. (…) Auf welches andere Leben wird gehofft und gegen welche Resignation wird protestiert?« (Köhnlein 2010, 17). Es wäre nun reizvoll, diese unterschiedlichen Funktionsbeschreibungen mit den Modellen der literaturwissenschaftlichen Pragmatik und Sprechakttheorie (dazu den Überblick bei Brinker 2001, 83-128) zu vernetzen, sei es in Anknüpfung an Bühlers Organon-Modell (s. dazu die exegetische Applikation in Zimmermann 2011c, 10-13), in dem die drei Basisfunktionen von sprachlichen Zeichen als 1) Darstellungsfunktion, 2) Ausdrucksfunktion, 3) Appellfunktion benannt werden, sei es unter Bezugnahme auf Searles fünf Illokutionsklassen: 1) Repräsentative, 2) Direktive, 3) Kommissive, 4) Expressive, 5) Deklarative Funktion (Searle 1975, 17-20). Entsprechend könnte man z. B. den Werbungsaspekt als »Appellfunktion« im Sinne Bühlers, oder die Bitt- und Klagedimension als »expressive Funktion« im Sinne Searles bezeichnen (Einzelheiten dazu in Zimmermann 2013a). Ich möchte im Folgenden zunächst nur in loser Anlehnung an diese Funktionsklassen die pragmatischen Aspekte der oben genannten Definition »Wundererzählung« als Strukturhilfe heranziehen: Die Wundererzählung soll zunächst 47

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

»Staunen und Irritation« auslösen. Durch die bewusst in der Erzählung inszenierte Widersprüchlichkeit wird die gewohnte Weltordnung in Frage gestellt. Wundererzählungen fordern heraus, sie sind Verunsicherungen, entziehen dem Rezipienten den Boden des Gewöhnlichen, ja vielfach sogar des Möglichen. Dabei mag diese wohldefinierte »Realität« von Ausweglosigkeit und Verzweiflung gekennzeichnet sein (z. B. bei unheilbar Kranken); teilweise spiegelt sich in ihr das kalkulierbare Sicherheitsbedürfnis, das die Alltagswelt verlässlich erscheinen lässt (z. B. in der Berechnung der Nahrungsversorgung oder der Sicherheit eines Bootes). Die provokante Irritation wird sprachlich durch den faktualen Erzählmodus wie auch durch die Erzählperspektive und die sinnlich wahrnehmbare, aber unerklärbare »Veränderung an Menschen, Sachen oder Natur« auf Handlungsebene erzeugt. Es ist gerade diese bewusst aufgebaute Spannung zwischen Erzählmodus und Erzählinhalt, die dem Rezipienten keinen Ausweg lässt. Man ist geneigt, sich vorschnell auf die eine oder andere Seite zu schlagen, indem man den Referenzmodus bezweifelt oder den Erzählinhalt relativiert. Doch dabei würde man die spezifische Wirkung der Texte unterwandern, ja vor ihnen fliehen. Erst wenn der Rezipient bereit ist, das sichere Boot zu verlassen, diesen ›common sense‹ der Erfahrung von Wirklichkeit und rationaler Stimmigkeit aufzukündigen, ist er bereit für die Tiefenwirkung der Texte. Dabei mag die affektive Beteiligung an diesem Akt des verunsichernden Lesens ganz unterschiedlich sein: Einige mögen nur zaghafte erste Schritte, vielleicht Gedankenexperimente gegen die gewohnte Erklärbarkeit wagen; andere mögen einen Reiz darin verspüren, der Übermacht von Kausalität und Determiniertheit den Stachel einer wohltuenden Widerständigkeit entgegenzusetzen; wieder andere mögen sich eifrig in den Jubel über das Unglaubliche hineinnehmen lassen oder aber kopfschüttelnd von dieser sonderbaren Welt des Gelesenen distanzieren. Erzählfiguren innerhalb der Erzählung bieten mannigfaltig Identifikationsangebote für die ein oder andere Haltung. So oder so wird im Akt des Lesens eine innere Parteinahme herausgefordert, die, dem narrativen Duktus folgend, besonders auch für die repräsentativ-deklarative Funktion der Erzählungen öffnen soll: Das Unerklärliche wird nicht nur für möglich erklärt, sondern diese irritierende Spannung zugleich noch begründet. Die Wunderhandlung wird »textimmanent und/oder kontextuell auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt«. Dieses Deutungsangebot ist nicht nur informativ, sondern zugleich appellativ. So verfolgen die frühchristlichen Wundererzählungen die Absicht, den Rezipienten zu einer »Erkenntnis über Gottes Wirklichkeit« zu bringen. Gottes Wirklichkeit hält realistische Möglichkeiten der Veränderung in ausweglosen Situationen bereit. Im Erzählen kontrafaktischer Wirklichkeit wird somit Protest gegenüber der kausal und rationalistisch verengten Weltsicht ausgesprochen. Dies gibt Anlass zur Hoffnung der Veränderung auch der eigenen (oft begrenzten) Lebensumstände und Weltsicht. Die Wundererzählungen öffnen Räume für Visionen, sie werden zum Katalysator der Wirklichkeitsveränderung. Das Einstimmen in dieses theologische Grundbekenntnis erfolgt im Modus des Glaubens wie des Handelns. Aber dieser idealisierte Prozess des Verstehens mag seinerseits die Funktion der Erzählungen in unsachgemäßer Weise finalistisch ›gleichschalten‹. Vielfach geht den Rezipienten der Weg von der Irritation zum Handeln zu schnell und sie melden Protest an. Wundererzählungen polarisieren – und genau das mag auch eine ihrer pragmatischen 48

Grundfragen zu den frühchristlichen Wundererzählungen

Stoßrichtungen sein. Die Erzählungen selbst führen diese polarisierende Wirkung immer wieder anhand von Handlungsfiguren vor Augen, die auf der einen Seite jubeln – auf der anderen aber fassungslos und wütend zurückbleiben. Schließlich stellen sich Fragen zu einem gefahrvollen Gebrauch der Texte: Verleiten die Wundererzählungen nicht zu illusorischen Allmachtsphantasien? Wann bilden die Erzählungen nur noch Wunschträume ab, werden zu Projektionsflächen von Vertröstung und Scheinwelt? Und wann werden sie geradezu zum therapeutischen oder politischen Programm hochstilisiert, das mit menschlicher Härte durchgesetzt werden muss, um Gottes Willen auf die Erde zu zwingen? Wundererzählungen lösen Verstehensprozesse aus. Sie erfüllen spezifische Funktionen, die streng an ihre narrative Form gebunden sind. Mit jedem Versuch, diesen Prozess des Verstehens besser, tiefer verstehen zu wollen, arbeitet man allerdings bereits gegen die Wundererzählung selbst an. Wunder sind gerade als unverstehbare, irritierende Ereignisse inszeniert und erzählt (s. o.). Sie gebieten Einhalt gegenüber der »Wut des Verstehens« (Schleiermacher, vgl. Hörisch 1998). Alle Verstehensversuche der Funktionsweise des Unverständlichen nehmen den Wundererzählungen damit das Wunderhafte und machen es zum Erklärlichen. Ganz egal, welche Wege diese Deutungsversuche gehen, arbeiten sie immer gegen den erzählerisch gerade inszenierten Widerspruch an. Es ist, als würde man die Erzählung einem fremden Zweck, nämlich der rationalen Erklärbarkeit unterwerfen, während sie doch gerade diesem allzu schnell geschlossenen Weltbild narrativ zu entrinnen versuchen. Ein hermeneutischer Zirkel, dem die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten kaum entgehen kann, wohl aber die praktische, lebensweltliche Rezeption: Auch das Verstehen, die Hermeneutik der Wundererzählungen, muss narrativ erfolgen. Sinnhorizonte dieser Texte lassen sich mit religionsgeschichtlichen Vergleichen, sprachlichen Deskriptionen oder pragmatischen Analysemustern eröffnen, aber nicht einfangen oder gar festlegen. Auch wer die Sinnstiftung der Texte zu einer Wundertheologie extrahiert, verrät die Sprachform, in der uns die Wundererzählungen gegeben sind. So entspricht es ganz der Intention der frühchristlichen Wundergeschichten, wenn die Stiftung EKHN die Wundererzählungen der Bibel zum Anlass nimmt, »zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller einzuladen, sich dem alten Stoff zu widmen und ihn neu zu erzählen« (Bünau/Steinacker 2012, 11). Die neutestamentlichen Wundererzählungen sind Einladungen zum Nach- und Weitererzählen (so auch Herzer 2008, 251). Sie sind eine Sprachlehre des Glaubens, indem sie in einen Erzählmodus einweisen, der in unserer Welt zunehmend verloren gegangen ist und für die christliche Wirklichkeitswahrnehmung und -veränderung wesentlich bleibt. Sie fordern zum subjektiven Erzählen wie auch zum kollektiven Hören und Singen auf, ganz wie es im Lied in Anknüpfung an den Psalmdichter (Ps 9,2; vgl. Ps 66,16; 145,6) heißt: »Erzählen will ich von all seinen Wundern und singen seinem Namen« (EG 172: Ich lobe meinen Gott).

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2. Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung 2.1 Weichenstellungen: Die Vorentscheidungen und Begrenzungen 2.1.1 Wo kommt das Thema ›Wunder‹ überhaupt vor? Die Wunderüberlieferung des frühen Christentums manifestiert sich in unterschiedlichen Schriften und Teilgattungen (dazu auch Kollmann 2011, 58-62): Da gibt es zunächst »Erzählungen«, die von Wunderhandlungen als Ereignissen der Vergangenheit berichten. Ferner gibt es zusammenfassende »Summarien«, die in der Regel rückblickend Wunderhandlungen eines Wundertäters benennen. Mit gewissem Recht kann man auch Prophezeiungen zu diesem Typus rechnen, in denen z. B. in der Heilsverkündigung des Jesaja künftige Wunderereignisse aufgelistet werden (vgl. dazu Zimmermann, Hinführung Lukas). Schließlich findet sich aber auch noch ein Meta-Diskurs, der »über« Wunder (z. B. in Logien) oder über Wundertäter (z. B. der unbekannte Wundertäter in Mk 9,38-40 par. Lk 9,49f.) verhandelt. Stefan Alkier hat gezeigt, dass selbst in den Paulusbriefen ein lebhafter Diskurs über Wunder nachgewiesen werden kann, wenn man die Suche nicht auf narrative Texte begrenzt und stattdessen ein semantisches Feld als Ausdruck eines semiotischen Diskursuniversums beschreibt (Alkier 2001a, 86-88.284-307). Die Vielfalt der Texte und Textsorten wird noch um einiges reicher, wenn man die Artefakte der ersten Jahrhunderte einbezieht. Für das Kompendium wurde eine notwendige Reduktion vorgenommen: Eine äußerst wichtige Blendeneinstellung besteht bereits darin, dass es nicht um »das Wunder« geht, sondern um »Wundererzählungen«, d. h. um narrative Texte, die in der Regel von der Handlung eines Wundertäters erzählen (s. o. Gattungsdefinition). Die im Kompendium dargebotenen Übersetzungen und Kommentare beziehen sich ausschließlich auf derartige Wundererzählungen. Darüber hinaus werden jedoch in den Hinführungen zu den Quellenbereichen auch andere relevante Texte mit Wunderbezug besprochen oder zumindest erwähnt (s. auch die Tabellen). In der Regel werden hier auch die »Summarien« aufgeführt, mit denen ein Evangelist übergreifend von den Wundern eines Wundertäters spricht. Eine weitere Begrenzung besteht darin, dass keine Wundergeschichten aufgenommen werden, die unmittelbar von Gott als Wundertäter erzählen. Dies mag zunächst irritieren, da doch zumindest für das paulinische Christentum Gott »als der Wundertäter schlechthin gilt« (Alkier 2001a, 294) und auch in den Evangelien Wunderhandlungen mit göttlicher Kraft verbunden werden. Ist nicht jedes Wunder letztlich eine Tat Gottes, wie es etwa in Alkiers Definition zum Ausdruck kommt: »Wunder sind von Gott oder mit Gottes Kraft gewirkte, menschliche Möglichkeiten übersteigende Geschehnisse« (Alkier 2001a, 306)? Wir teilen im vorliegenden Kompendium durchaus die Überzeugung, dass Wunder konstitutiv auf Gott bzw. göttliche Kraft verweisen (s. Definition). Allerdings konzentrieren wir uns auf Erzählungen, in denen ein menschlicher Wundertäter auftritt. Wenn Jesus der Wundertäter ist, können wir natürlich mit Recht fragen, ob diese Ent50

Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung

scheidung aus der Perspektive des Trinitätsdogmas berechtigt und sinnvoll ist. Ist es nicht Gott selbst, der in Jesus handelt? Gleichwohl wird auch in den Texten zwischen einem Handeln des Sohnes und einem Handeln des Vaters unterschieden. Diese Differenzierung steht auch nicht im Widerspruch zu einer ökonomisch gedachten Trinitätslehre (im Gegensatz zur immanenten). Doch sollten wir besser die Texte nicht mit der anachronistischen Vorstellung der späteren Trinitätslehre überfrachten. Man kann auf der Ebene der erzählten Handlung zwischen Geschichten unterscheiden, in denen ein menschlicher Wundertäter auftritt, und denen, in denen ein direktes Eingreifen Gottes ohne Interaktion von menschlichen Figuren stattfindet. Nur erstere werden zum Gegenstand der Untersuchung. Diese Entscheidung bringt eine gravierende Weichenstellung mit sich. Die Auferstehung Jesu – zweifellos das wirkmächtigste und maßgeblichste Wunder des Christentums – wird nicht mit aufgenommen, da hier kein (menschlicher) Wundertäter eine Handlung vollzieht. Damit werden zugleich alle Wunderberichte, die im Zusammenhang mit dem Auferstandenen stehen, ausgeschlossen (so z. B. das plötzliche Verschwinden Jesu nach dem Brotbrechen mit den Emmausjüngern in Lk 24,31; oder das Eintreten des Auferstandenen durch verschlossene Türen in Joh 20,19). Ferner werden Wunderzeichen nicht eigens besprochen, die im Bereich der Vorzeichen/Prodigien (s. dazu Dormeyer, Weltbild) liegen. Daher wurden die Begleitwunder beim Tod Jesu (Sonnenfinsternis, Zerreißen des Tempelvorhangs, Öffnung der Gräber, vgl. Mt 27,45.51-53) oder bei der Auferstehung (Totenstarre der Wachen, Mt 28,4) nicht aufgenommen (aber EvPetr 9,3610,42, s. u.). Auch die Epiphanien, d. h. visuelle Erscheinungen von Engeln oder visionäre Erlebnisse wie z. B. die Verklärungsszene (Mk 9,2-8 par.) wurden nicht berücksichtigt. Damit entfallen auch die wunderbaren Ereignisse wie z. B. die Träume und Visionen in den Geburtsgeschichten. Neben diesen Begrenzungen gibt es aber auch Ausweitungen. Aufgrund der geringeren Anzahl von Wundererzählungen im Vergleich zu Gleichnissen haben wir uns für häufigere Mehrfachbesprechungen entschieden. D. h., eine Wundererzählung wird nicht nur in der ersten postulierbar ältesten literarisch vorliegenden Fassung kommentiert (z. B. Mk), sondern vielfach auch in den synoptischen Parallelüberlieferungen. Mit dieser Entscheidung wurde zum einen hinsichtlich der Texte die Achtung vor den Erzählvarianten in ihren jeweiligen Makrokontexten zum Ausdruck gebracht (da das Projekt nicht die Höherwertung der ältesten Fassung vertritt und auch gegenüber der verlässlichen Rekonstruierbarkeit einer Ursprungsform skeptisch bleibt). Im Blick auf den Gebrauch des Kompendiums in homiletischen oder pädagogischen Zusammenhängen kommt die Mehrfachbesprechung auch dem Bedürfnis der Nutzer(innen) entgegen, denn vielfach sind es die matthäischen oder lukanischen Erzählvarianten, die in der Predigtordnung oder im Lehrplan benannt sind. Zum anderen wurde in hermeneutischer Hinsicht der Maxime der Vielstimmigkeit einmal mehr Rechnung getragen, indem durch unterschiedliche Ausleger(innen) auch mehr Deutungshorizonte des Textes entfaltet werden konnten. Dennoch konnten und wollten wir nicht jeden synoptischen Text drei- oder viermal kommentieren, sondern haben die Auswahl vom Grad der Abweichung gegenüber anderen Fassungen abhängig gemacht.

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

2.1.2 Von der »Schönheit der Kompromisse« (Gandhi) Grenzziehungen haben immer nur einen heuristischen Wert, wenn es um Lebensphänomene oder um Kulturerzeugnisse wie Texte geht. So gibt es Grenzfälle, über deren Einbeziehung und Ausgrenzung gestritten werden kann und wir uns dem Vorwurf aussetzen, die eigene Kriteriologie nicht konsequent angewandt zu haben. Um deutlich zu machen, dass die hier getroffenen Entscheidungen keineswegs als dogmatische Norm misszuverstehen sind, möchte ich einige dieser Grenzfälle offen benennen und Gründe für ihre Einbeziehung darlegen: So stellt sich die Frage, ob der Seewandel Jesu (Mk 6,45-52 par.) nicht eine Epiphanie darstellt, die nach oben genannter Weichenstellung entfallen müsste. In gewisser Weise ist dies zutreffend, denn es geht hier um ein visuelles Erleben der Jünger. Jesus handelt nicht direkt, sondern wird zunächst ›nur‹ gesehen. Gleichwohl kann man in Jesu Gehen auf dem Wasser (Mk 6,49) auch eine Handlung an der Natur sehen, denn die der üblichen empirischen Erfahrung zugängliche Eigenschaft des Wassers, für einen schweren Gegenstand aufgrund der Gravitationsgesetze durchlässig zu sein, wird hier außer Kraft gesetzt. Stärker noch zählt das Argument, dass Jesus in der matthäischen Version der Erzählung auch als Wundertäter im eigentlichen Sinn präsentiert wird, weil er den erst mutigen, dann ungläubigen Petrus aus dem Wasser zieht und somit vor dem Ertrinken rettet (Mt 14,22-33). Ein sperriger Text ist ferner das Auffinden der Münze im Maul des Fisches (Mt 17,24-27). Mit V. 27 wird zwar die wunderbare Entdeckung der Münze angekündigt, aber der Vollzug nicht selbst berichtet. Auch die Forschung ist geteilter Meinung, ob dieser Text zu den Wundererzählungen gerechnet werden soll: Bultmann zählt ihn zu den biographischen Apophtegmata (Bultmann 1995, 34f.), Dibelius zur Novelle mit legendarischen Motiven (Dibelius 1971, 97.103); van der Loos hingegen ordnet den Text den Naturwundern zu (van der Loos 1965, 680-687), Theißen sieht darin seiner Definition gemäß ein Normenwunder (Theißen 1998, 148f., 319; ebenso Knoch 1993, 403409) und Bauckham ein Geschenkwunder, das in einer Notsituation Abhilfe schafft (Bauckham 1986, 233-235). Jede dieser Entscheidungen ist hinsichtlich ihrer Vorentscheidungen in Frage zu stellen. Wir haben uns für die Aufnahme entschieden, weil der Text Motive des Phantastischen aufweist und die in Aussicht gestellte Handlung im Auftrag Jesu Irritation auslöst. Ob ein Leser oder eine Leserin diese Entscheidung teilen mag und den Text als »Sonderform der Wundererzählung« (so Luther zur Stelle) gelten lässt, ist ihm/ihr selbst überlassen. Nach der Ausschlussregel von Auferstandenenerzählungen müsste auch der wunderbare Fischfang nach Joh 21,1-11 ausgegrenzt werden, weil hier der Auferstandene der Wundertäter ist. Der Text weist aber eine unmittelbare Parallele mit Lk 5,1-11 auf, d. h. das im Lukasevangelium berichtete Ereignis aus dem Leben des irdischen Jesus begegnet bei Johannes als ein Erlebnis mit dem Auferstandenen. Aufgrund dieser Parallele wurde eine Einbeziehung befürwortet. Schließlich mag es widersprüchlich erscheinen, dass die kanonische Auferstehungsszene nicht aufgenommen wird, wohl aber diejenige aus dem Petrusevangelium (EvPetr 9,36-10,42). Man kann die Steigerung des Wunderbaren etwa durch die Selbsttätigkeit des Steins oder des wandelnden Kreuzes erkennen, aber der Text bleibt hinsichtlich der gegebenen Definition problematisch: Ein Wundertäter wird nicht genannt, die 52

Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung

erzählten Ereignisse (etwa das Hinaufragen zum und Hinüberragen über die Himmel) sind ganz im Bereich des Visionären angesiedelt und könnten als Epiphanie gelten. Man hätte deshalb mit gutem Recht diesen Text auch weglassen können. Da das Kompendium allerdings auch den Wunsch hat, im Bereich der apokryphen Texte unbekanntere Quellen vorzustellen, ist der Text als einziger Wundertext aus dem Petrusevangelium mit aufgenommen worden. Zugleich wird somit innerhalb des Teils der apokryphen Jesuswunder ein Bogen zwischen Geburt und Auferstehung geschlagen, da aus gleichen Gründen auch ein Text zu den wunderbaren Begleitumständen der Geburt Jesu aus dem Protevangelium aufgenommen wurde (dieser Text enthält aber zusätzlich ein Heilungswunder, das bereits der Säugling Jesus vollbringt). Waren wir schon beim Gleichniskompendium im Teil der apokryphen Texte (vgl. Agrapha) großzügiger, so sollte dieses integrative Gestaltungsprinzip auch für die im Kanon fehlenden Texte beim Wunderkompendium gelten (vgl. PsMt 23f.; EvNik 1,5f.).

2.1.3 Kanonische und apokryphe Texte Bei der Frage der Anordnung des Stoffes folgt das Kompendium der Wundererzählungen der Grundentscheidung des Gleichniskompendiums, kanonische und apokryphe Texte in einem Band zu besprechen. Damit ist keine theologische Entscheidung über die Gültigkeit des Kanons gefällt. Auf historischer und literaturwissenschaftlicher Ebene können die kanonischen Texte durchaus auf eine Ebene mit apokryphen Texten gestellt werden. Im Blick auf ihre Bedeutung für die Erinnerungsgemeinschaft der Kirche ist jedoch der Kanon eine nicht diskutierbare normative Größe. Wenn Kanon hierbei als erinnerungsgeschichtliche Kategorie verstanden wird (vgl. Assmann 1999, 103-129, vgl. auch Becker/ Scholz 2012), erübrigen sich dogmatische Streitigkeiten, die aus je unterschiedlicher Parteinahme den Kanon zementieren oder einreißen wollen. Es zeugt geradezu von dogmatischer Hybris, wenn historische Wissenschaft sich anmaßen wollte, die geschichtliche Entwicklung zum Kanon wie auch die bleibende ökumenische Bedeutung desselben ungeschehen machen zu wollen. Wer die unterschiedlichen hermeneutischen Perspektiven der Auslegung differenziert (vgl. dazu Zimmermann 2011c, 6-13, Schaubild 12), kann jedoch ohne Mühe die historische Einbeziehung von apokryphen Schriften befürworten und zugleich in rezipientenorientierter Dimension die Würdigung und Beibehaltung des Kanons vertreten. Befreit von diesem hermeneutisch verengten Grundsatzstreit können aber apokryphe und kanonische Wundertexte in einen fruchtbaren Dialog treten, der es dann auch erlaubt, etwa aus der Perspektive der späteren Entwicklungen der apokryphen Apostelakten den inhaltlichen Wert kanonischer Wundererzählungen neu zu würdigen. Während die Gattung »Parabel« doch als Erinnerungsmedium weitestgehend auf die Person Jesu begrenzt blieb und damit recht früh auch die Literaturproduktion dieser Textsorte zum Erliegen kam, zeigt die Gattung »Wundererzählung« eine enorme Ausweitung und Erfolgsgeschichte im Laufe der ersten Jahrhunderte, die dann direkt in die Wundererzählungen der Heiligenlegenden übergeht (vgl. etwa Leben und Wunder der Heiligen Thekla). Da dieser Trend bereits mit der kanonischen Apostelgeschichte des Lukas einsetzt, haben wir uns entschlossen, neben dem hier vorliegenden Band 1 (Die Wunder Jesu) noch einen Band 2 (Die Wunder der Apostel) hinzuzufügen.

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

2.2 Gesamtstruktur des Kompendiums: Die Anordnung des Stoffs Die Wundererzählungen können nach unterschiedlichen Kriterien geordnet werden, wie übergreifende Untersuchungen zeigen, wobei die Gruppierungen nach Sachkriterien (z. B. Heilungs- und Naturwunder nach Bultmann 1995, 223-230), nach Untergattungen (z. B. Normenwunder, Geschenkwunder, s. Köhnlein 2010, 207-227.259-274) oder nach Quellenbereichen (z. B. Eve 2009, Kap. 5 »Miracle in Mark«) beliebt sind (Einzelbelege s. o. 1.2.2). Vielfach werden auch Mischformen der Anordnung angeboten (z. B. Knoch 1993; Eve 2009; Köhnlein 2010). Wir haben uns auch diesmal wie beim Gleichniskompendium für eine konsequente Anordnung nach Quellenbereichen entschieden. Hierbei wird wiederum die Logienquelle Q als eine zwar nur als Intertext zwischen Matthäus und Lukas vorhandene, doch aber in der Forschung weitgehend als Text anerkannte Quelle (vgl. Heil 2009, 11-28) eigens ausgewiesen, auch wenn diesmal nur zwei Perikopen unter der Kategorie »Wundererzählungen« in Q nachweisbar sind. In der Anordnung folgen wir einem losen zeitlichen Raster, das mit Q und Markus beginnt, in kanonischer Reihenfolge Matthäus, Lukas und Johannes anfügt und mit einer Auswahl an apokryphen Wundererzählungen der Jesustradition endet. Mehr noch als beim Gleichniskompendium finden sich Mehrfachbesprechungen von Erzählungen, denen vermutlich der gleiche Stoff zugrunde liegt. Damit wird einerseits die Vielfalt der bereits kanonischen Textüberlieferung gewürdigt. Nicht nur die postulierte älteste literarische Fassung eines Textes (z. B. in Q oder Markus), sondern gerade auch die wahrscheinlich später abgefassten Texte haben mit dem gleichen Recht Anspruch auf Wahrnehmung und Auslegung als maßgebliche Texte der Heiligen Schrift. Zugleich wird mit dieser Entscheidung der praktische Gebrauch des Kompendiums erleichtert, denn in Predigtreihen und Lehrplänen finden sich oft die matthäischen oder lukanischen Fassungen des Textes als Referenztexte. Falls die Abweichungen bei Mehrfachüberlieferungen gering sind, wurde auf eine eigene Besprechung im Sinne der Begrenzung des Gesamtumfangs verzichtet. Ebenso musste bei den apokryphen Jesuswundern eine Auswahl getroffen werden, die zwischen bekannten (Lehmspatzen, KThom 2) und unbekannten Erzählungen vermittelte und auch unterschiedliche Quellenbereiche erfassen und damit vorstellen wollte (z. B. EvNik).

2.3 Vielfalt der »Sehepunkte«: Das Auslegungsraster Die eingangs (s. Vorwort) als Programm des Kompendiums beschriebene Vielfalt der Stimmen und Perspektiven sollte durch ein einheitliches Auslegungsraster vor dem Auseinanderfallen bewahrt werden. Um das Kompendium auch innerhalb seiner einzelnen Teile doch als ein Gesamtwerk erkennbar werden zu lassen, haben sich alle Autorinnen und Autoren auf ein einheitliches Grundraster der Auslegung eingelassen (s. Tabelle).

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Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung (a) Überschrift (b) Eigene Übersetzung der Wundererzählung (c) Sprachlich-narratologische Analyse (d) Sozial- und realgeschichtlicher Kontext (e) Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund (f) Verstehensangebote/Deutungshorizonte (g) Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte (h) Literatur zum Weiterlesen Auslegungsraster der einzelnen Kommentare

Die unterschiedlichen Teile der Untersuchung repräsentieren jedoch ihrerseits wieder eine Vielfalt der Zugänge, sind – um es mit Chladenius zu sagen (vgl. dazu Zimmermann/Luther 2013) – »Sehepunkte«. Die unterschiedlichen Perspektiven der Exegese dürfen in diesem Sinne nicht als lineare Schrittfolge missverstanden werden. Sie können zwar aufbauend gelesen werden, stellen jedoch je für sich eigene Zugänge mit unterschiedlichen Methoden dar. Dabei sind drei Sehepunkte kategorial zu differenzieren (vgl. dazu Zimmermann 2011c, 3-24; appliziert auf die Wundererzählung Mk 5,1-20 in Zimmermann 2012): ein sprachlicher Fokus (hier: Übersetzung und Sprachlich-narratologische Analyse), ein historischer Fokus (hier: Sozial- und realgeschichtlicher Kontext und Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund) sowie ein rezeptionsästhetischer Fokus (hier: Deutungshorizonte und Aspekte der Wirkungsgeschichte). Während die ersten vier Annäherungen eher analysieren und enzyklopädisches Wissen zusammentragen, geht es bei den Deutungshorizonten um die Synthese bestimmter Aspekte, die zu einer sinnstiftenden Auslegung führt. Im Folgenden sollen zum leichteren Verständnis die methodischen Leitfragen und Grundlagen der jeweiligen Auslegungsschritte erläutert werden: Zu (a) Überschrift Die Überschrift der einzelnen Auslegungen setzt sich aus maximal drei Elementen zusammen: Kreativer Titel (klassischer Titel) Stellenangabe (Parallelen) also z. B.: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es darf noch Fisch dazwischen sein (Die Speisung der Viertausend) Mk 8,1-10 (Mt 15,32-39) Zum kreativen Titel: Der Kreativ-Titel soll einen Leseanreiz schaffen. »Kreativ« meint dabei, dass der Titel einerseits durchaus schon die Pointe der Auslegung andeuten kann (ohne dabei die mögliche Vielzahl der Deutungen vorschnell engzuführen) und andererseits durch seine provokante/sperrige/paradoxe/ungewohnte etc. Formulierung das Interesse des Lesers oder der Leserin weckt. 55

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Zum klassischen Titel: »Klassischer Titel« meint die Überschriften, die z. B. durch die Lutherbibel gängiges Allgemeingut geworden sind, wie z. B. »Der Hauptmann von Kafarnaum«, »Die Auferweckung der Tochter des Jaïrus« etc. (dies ist bei vielen Texten z. B. der apokryphen Tradition nicht gegeben). Zur Stellenangabe: Ist ein Wunder mehrfach überliefert, so folgt die Angabe der Paralleltexte dem Gesamtaufriss des Kompendiums, d. h. Q – Mk – Mt – Lk – Joh – Apg – apokryphe Evangelien – apokryphe Apostelakten. Dies gilt allerdings nur, wenn auch die Parallelstelle an dieser Stelle im Kompendium in Übersetzung dargeboten und besprochen wird. Wird eine Parallelstelle eigens kommentiert, dann kann man über die Tabellen im Anhang den Fundort auffinden. Zur Tabellennotation: Innerhalb der tabellarischen Auflistung der Wunderstellen am Ende der Hinführungen zu den Quellenbereichen (analog am Ende des Bandes) werden nur die aufgeführten Erzählungen nummeriert, auch dann, wenn diese Texte nicht bei diesem Quellenbereich besprochen werden. Auf diese Weise kann man sich sofort einen Eindruck verschaffen, wie viele Wundererzählungen in einem Quellenbereich vorkommen (z. B. 20 bei Lukas). In der Tabelle werden zusätzlich auch Wundersummarien, -motive und -verweise aufgeführt, so dass ein Gesamtüberblick über die Wunderthematik in einer Quellenschrift gegeben wird. Zu (b) Eigene Übersetzung der Wundererzählung Textbasis und Ursprachen: Analysiert und übersetzt wird die nach gängigem Konsens der neutestamentlichen Forschung älteste literarische Fassung des Textes. Für die Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes wird der Text des NA, 27. Auflage zugrunde gelegt. Bei Q-Texten gilt die kritische Q-Rekonstruktion des internationalen Q-Projects (Robinson/Hoffmann/Kloppenborg 2000; vgl. Hoffmann/Heil 2009), bei Wundern der apokryphen Literatur (insbesondere Bd. 2) wird die jeweilige Textbasis in der Einleitung des Quellenbereichs oder im Kommentar selbst benannt. Die Übersetzung ist schon Teil der Interpretation. Historische Semantik und moderne Übersetzungstheorie haben gezeigt, dass es eine rein ›lexikalisch-literarische‹ Übersetzung nicht gibt, auch wenn sie noch so lange eingeübt wurde. Die Übersetzungen versuchten hierbei immer, dem griechischen oder lateinischen Text selbst gerecht zu werden und nicht einer bestimmten Übersetzungs- und Lexikon-Tradition (vgl. dazu ZNT 26, 2010). Das ›rechte Maß‹ zwischen Textgemäßheit und Verständlichkeit durften jeder Autor und jede Autorin selbst bestimmen. Die Übersetzung ist hinsichtlich einer »gerechten Sprache« ein besonders kritischer, aber auch bereits besonders intensiv diskutierter Punkt. Die Vielfalt der Autor(inn)en bedingte auch hier eine Variationsbreite, die im Sinne des Gesamtwerks durchaus erwünscht war. So wurden die Autor(inn)en nicht auf bestimmte Bekenntnisse verpflichtet, allerdings haben wir dazu angehalten, bezüglich Frauen ausgrenzender oder abwertender Übersetzungen besonders sensibel zu sein. Zu (c) Sprachlich-narratologische und pragmatische Analyse unter Einbeziehung des literarischen Kontextes Die literaturwissenschaftliche Herangehensweise an die Texte gebot es, der sprachlichen Analyse gebührenden Raum zu geben. Wundergeschichten als Erzählungen lassen sich mit narratologischem Instrumentarium besonders gut analysieren. Die Theoriebildung im Bereich der Narratologie ist in den letzten Jahren entscheidend vorangekommen (vgl. 56

Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung

Martínez/Scheffel 2009) und wurde vielfach gewinnbringend auf biblische Texte appliziert (vgl. den Überblick bei Finnern 2010). Besonders im englisch- und französischsprachigen Raum sind auch verschiedene Lehrbücher publiziert worden, die gute methodische Orientierung für eine Applikation narratologischer Analysetechniken im Bereich der Exegese bieten (vgl. Fokkelman 1990; Tolmie 1999; Marguerat/Bourquin 1999; Resseguie 2005). Autoren und Autorinnen haben sich in unterschiedlicher Intensität auf diese Vorarbeiten gestützt und narratologische Methoden einschließlich des gebräuchlichen Fachvokabulars bei ihren sprachlichen Analysen angewandt. Gleichwohl wollten wir auch hier auf Lesbarkeit und Verständlichkeit achten, so dass der exegetische Ertrag jeweils im Zentrum bleiben sollte. Da jeder Autor und jede Autorin unterschiedlichen Rahmentheorien verpflichtet sind und je nach Text auch unterschiedliche methodische Zugänge hilfreich sind (z. B. Figurenanalyse; Zeit-/Raumanalyse, Perspektivenanalyse), haben wir keine einheitliche Rahmen-Theorie vorgeschrieben, die hier vorgestellt werden könnte. Die narratologische Methodik schließt bekannte und bewährte Analyseschritte keineswegs aus. Die Perikopeneinteilung, die mit der Überschrift und Übersetzung vorgegeben ist, gebot es, diese Einschnitte zu diskutieren. Gleichwohl war uns immer bewusst, dass hierbei eher eine pragmatische Entscheidung und keine (Vor-)Entscheidung über Einzeltexte oder gar Vorstufen von Texten gegeben war. Der analysierte Text ist immer nur ein Ausschnitt aus dem Makrotext der gesamten Quellenschrift. Entsprechend war es die Aufgabe, den herausgelösten Text in seinen Kontext einzubinden und von dieser Einbettung aus zu verstehen. Folgende elementare Leitfragen können benannt werden, die in vielen Kommentaren textspezifisch beantwortet wurden: Abgrenzung und Kontexteinbindung  Wodurch sind Anfang und Ende der Wundererzählung kenntlich gemacht?  Wer handelt hier? Wer sind die Adressat(inn)en? (innerhalb der erzählten Welt)  Welche Situation/Szene geht der Erzählung voraus, welche folgt ihr? Gehört sie thematisch in einen größeren Themenkomplex, oder liegt sie funktional auf einer bestimmten Erzähllinie des »Evangelisten«?  Welchem größeren Redezusammenhang gehört das Wunder ggf. an und welche Stellung nimmt es darin ein? Narrative Merkmale  Welche Zeit- und Raumangaben werden gemacht? In welchem Verhältnis stehen Erzählzeit und erzählte Zeit?  Welche Figuren oder Gegenstände kommen innerhalb der Erzählung vor, und wie werden diese zueinander in Beziehung gesetzt? (Figurenkonstellationen; Haupt- und Nebenfiguren; wer ist aktiv?; wer ist passiv?)  Wie ist der Handlungsverlauf gestaltet (ggf. Einleitung, Spannungsbogen, Höhepunkt, Schluss)? Worin besteht die (Mini-)Sequenz der Handlung bzw. eine Zustandsveränderung?  Welche Erzählperspektive wird eingenommen? Wird eine Erzählstimme (z. B. durch Kommentierung) hörbar?

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

Pragmatische Merkmale  Wo werden Leser(innen)erwartungen erfüllt, wo überrascht der Text (sowohl seine Hörer[innen] innerhalb der erzählten Welt als auch dann natürlich in einem zweiten Schritt uns als heutige Leser[innen])?  Gibt es Leerstellen innerhalb der Erzählung, die Leserwirkung haben? Gibt es (Leser[innen-])Kommentare? Offene Fragen?  Werden Imaginationen hervorgerufen oder Gefühle geschildert?  Mit welchen sprachlichen Merkmalen soll gerade die Irritation ausgelöst werden, die das ›Wunderbare‹ an dem erzählten Ereignis verstärkt?  Wodurch werden Leser(innen) zur Einsicht geführt? Wozu fordert sie der Text auf (Handlungsappell)?

Zu (d) Analyse des sozial- und realgeschichtlichen Kontexts Um die Darstellung der Wundererzählungen und ihre intendierte Wirkung verstehen und deuten zu können, ist die möglichst genaue Kenntnis der sozial- und realgeschichtlichen Kontexte notwendig. Die Wahrnehmung der gewohnten Welt des Textes, wie z. B. die üblichen Therapieverfahren, ist Voraussetzung, um die bewusste, narrativ angelegte Brechung dieser Ordnung profilierter benennen zu können. Eine präzise Rekonstruktion der Kontexte einzelner Texte ist aus den oben diskutierten geschichts- und erkenntnistheoretischen Begrenzungen nicht möglich. Entsprechend wurde hier eher enzyklopädisch vorgegangen, indem eine ›mögliche Welt‹ (re)konstruiert wird, wie sie uns durch antike Quellen zugänglich ist. Um ein breites Panorama zu bieten, wurden viele themenverwandte außer- und vorchristliche Textquellen aus Judentum und griechisch-römischer Welt herangezogen. Häufig werden auch zentrale Textpassagen als Zitate präsentiert. Ferner wurden nach Möglichkeit außertextliche Quellen, z. B. archäologische Funde/Münzen hinzugezogen. Hinsichtlich des Umfangs der Darstellung von Realia wurde nicht zu eng auf den eigenen Auslegungsduktus eingegrenzt. Unter der Maxime von Deutungsangeboten sollte ein enzyklopädisches Wissen ausgebreitet werden, das einem Leser auch andere als in der Auslegung selbst favorisierte Schlüsse erlaubt. Auch im Blick auf den zeitlichen oder geographischen Rahmen sollten an dieser Stelle nicht zu enge Eingrenzungen hinsichtlich der jeweils gültigen Datierung oder Verortung der Schrift vorgenommen werden. Bei der Auswahl der behandelten Realien spielte auch das postulierte Vorwissen moderner Leser(innen) eine Rolle, deswegen wurden Aspekte bevorzugt dargestellt, die die Fremdheit der antiken Lebenswelt vor Augen führen. Um Dopplungen zu vermeiden, haben wir uns entschieden, übergreifende Themenartikel (z. B. Krankheitsbilder) den Einzelauslegungen voranzustellen. Das Kompendium wurde ferner mit einem Stichwortverzeichnis ausgestattet, über das auch das Auffinden von Querverweisen möglich ist. Zu (e) Analyse des traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergrunds In diesem Punkt geht es um Deutungstraditionen bzw. Diskurswelten von bestimmten Phänomenen. Auch jenseits einer symbolischen Interpretation der Wunderhandlung stehen Wundererzählungen und ihr Repertoire immer schon in einem Deutungszusammenhang. Sogar Ereignisse sind immer schon Zeichen, mehr noch ihre literarische Darstellung. So gibt es Krankheiten, die eng mit kultischer (Un-)Reinheit zusammenhängen 58

Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung

(z. B. Blutfluss; Aussatz), andere werden traditionsgemäß mit bestimmten theologischen Konnotationen versehen (Blindheit – Unglaube) oder es wird ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde postuliert (s. Mk 2; Joh 9). In der traditionsgeschichtlichen Analyse sollte herausgearbeitet werden, wie das Motivrepertoire oder einzelne Semanteme der Wundererzählung traditionell verwendet wurden. Gefragt wurde hierbei, ob es stereotype Deutungsmuster innerhalb der jüdischen oder griechisch-römischen Literatur gab bzw. wie das frühe Christentum selbst solche Überdeterminationen geprägt hat. Gibt es z. B. zum Brot Unterbereiche oder Einzelmotive, wie etwa Brot als Lebensgabe, Manna-Tradition, der Brotspender/Gott als Schöpfer? Nicht nur der allgemeine Nachweis von Bedeutungsfeldern, sondern auch die spezifische Verwendung wurde hier untersucht: Welche Kenntnis dieser Tradition unterstellen der implizite Autor oder die implizite Autorin dem impliziten Leser oder der impliziten Leserin? Bietet er/sie damit evtl. sogar auf Textebene unterschiedliche Tiefendimensionen im Verständnis der Wundererzählung an? Inwiefern steht die Erzählung mit ihrer Verwendung der Motive innerhalb dieser Tradition? Inwiefern verändert sie sie aber auch vielleicht (z. B. durch Neuakzentuierungen, Paradoxien etc.)? Z. B. ist nicht mehr Gott derjenige, der über das Wasser geht, sondern Jesus. Wie verhalten sich Tradition und Innovation? Gibt es innerhalb des jeweiligen Autors oder der Autorin eine einheitliche Verwendung/Neu- und Umgestaltung der Motivtradition? Wie wird das Material im Urchristentum neu-/um-/fortgeschrieben? Mit welcher Rahmentheorie man diese Tiefenbedeutung der Motive beschrieb (wie z. B. klassische Motiv-/Traditionsgeschichte, historische Semantik, Bildfeldtheorie oder Diskurs- und Zeichentheorien), war dem Autor oder der Autorin überlassen. Zu (f) Deutungshorizonte s. den eigenen Punkt 2.4. Zu (g) Wirkungsgeschichtliche Aspekte Im letzten Punkt der Auslegung soll die Wirkungsgeschichte des Textes in Auswahl skizziert werden. Diese zeigt sich bereits in der frühchristlichen Zeit, weshalb auch Parallelüberlieferungen an dieser Stelle eingebracht werden, sofern sie nicht eine eigene Kommentierung im Kompendium haben oder schon unter (f) thematisiert wurden. Im Sinne der Unabgeschlossenheit der Deutung soll dieser Punkt am Ende stehen und die heutigen Leser(innen) gleichsam einladen, ihre eigene Deutung für heute und sich selbst zu finden. Parallelüberlieferungen sollen an dieser Stelle auch übersetzt und in ihrem Kontext kurz analysiert werden (nur im Einzelfall ist es notwendig, die Parallelüberlieferung mit einem größeren Eigengewicht zu untersuchen). Die aufgrund des Umfangs notwendig sehr begrenzte Auswahl an wirkungsgeschichtlichen Zeugnissen wurde je nach Text vom Autor oder der Autorin selbst bestimmt. Dabei wurden wirkungsgeschichtliche Zeugnisse in Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte wie auch gegenwärtige Artefakte einbezogen. Hier ging es allerdings immer nur um Kostproben, nicht um den Anspruch, summarisch Leitlinien etc. aufzuzeigen. Zu (h) Literatur zur Weiterarbeit Schließlich wird an jeden Kommentar eine kleine Literaturliste angefügt, die Titel nennt, die zur weiteren Beschäftigung mit dem Text einladen. Je nach Länge des Beitrags werden 59

Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

hier ca. 5-15 Titel genannt, die einschlägige, aber auch interessante und entlegenere sowie auch englischsprachige Literatur umfassen. Die in Klammern in einem Beitrag genannte Literatur kann im Gesamtliteraturverzeichnis am Ende des Buches aufgelöst werden.

2.4 Einladung zum Wundern: Die Deutungshorizonte Die Auslegungen wollen nicht die maßgebliche Deutung einer Wundererzählung bieten. Sie verstehen ihre Aufgabe darin, dass sie aus den eher analytischen oder enzyklopädischen Teilabschnitten der vorgängigen Interpretation nun sinnstiftende Auslegungen zusammenfügen und anbieten. Dabei wurden jeder Autor und jede Autorin angehalten, mindestens drei in sich kohärente und mögliche Auslegungen vorzustellen. Dies war auch für die beteiligten Wissenschaftler(innen) eine Herausforderung, weil man innerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion eher bemüht ist, andere Deutungen zu kritisieren, um die favorisierte eigene Deutung umso klarer profilieren zu können. Die Autorinnen und Autoren sollten jedoch gerade abweichende und auf ihre je eigene Weise schlüssige Auslegungsvarianten stark machen und somit als Sinnstiftungsangebote einem Leser oder einer Leserin vor Augen führen. Auf diese Weise sollten nicht nur die verschiedenen Verstehenspotenziale der Texte entfaltet werden, sondern zugleich ein Rezipient und eine Rezipientin eingeladen werden, in diese hermeneutische Suchbewegung einzusteigen. Die Vielfalt der Deutungshorizonte soll die Leser(innen) des Kompendiums ihrerseits zu Deutung anstiften. Wahrheitsfähige Exegese kann nie vorgeschrieben, sondern immer nur selbst in den je eigenen Kontexten und Lebenswelten vollzogen werden. Zur Erleichterung der Einordnung dieser unterschiedlichen Deutungen haben sich die Auslegungen in loser Weise an klassische Auslegungsperspektiven und ihre Terminologie angelehnt (vgl. etwa Kollmann 2006a, 92f.), wovon auch die folgende tabellarische Auflistung eine Auswahl präsentiert. Die Tabelle lässt bestimmte Affinitäten zur Forschungsgeschichte erkennen, denn einzelne Auslegungsperspektiven waren zu bestimmten Zeiten besonders ›in Mode‹ (so z. B. befreiungstheologische Deutung in den 1970er/ 80er Jahren). Gleichwohl zeigen sich auch jenseits dieser Schwerpunktzeiten immer wieder einzelne Aspekte in anderen Deutungen. Vielfach kommt es auch zu Überschneidungen. So kann man die Deutung von Theißen zwar ›sozialgeschichtlich‹ nennen, gleichzeitig versucht sie aber, durch Plausibilitätserwägungen (z. B. Teilen des Brotes erscheint wie ein Wunder) rationale Erklärungen zu finden, ist also auch ›rationalistisch‹ und ›historisierend‹. Gemäß dem Fokus auf Formen und Motive ist sie aber auch ›formgeschichtlich‹, wie es der Titel seines Hauptwerks anzeigt (Theißen 1998). Das angefügte Raster erfüllt insofern v. a. eine heuristische Funktion, indem es hilft, unterschiedliche Perspektiven auf die Wundererzählungen klarer wahrnehmen zu können. Jede einzelne Wundererzählung erfordert ihre spezifischen Zugänge, so dass neben wiedererkennbaren bekannten Deutungsmustern auch neue und kreative Horizonte eröffnet werden. Das bestehende Raster sollte und soll somit fortgeschrieben und weiterentwickelt werden. Die Auslegung von Wundererzählungen ist ein nicht abschließbarer Vorgang (vgl. auch Hultgren 2009). Es ist, wie es Hans Robert Jauß formuliert hat, ein 60

Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung

»Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten; ohne Offenheit, die ihre radikale Negativität im Wissen des Nicht-Wissens hat, wäre Erfahrung im Sinne von Erkenntnis dessen, was man noch nicht weiß oder anders erwartete, nicht möglich« (Jauß 1997, 393). Die durch die Deutungshorizonte offen gehaltene Auslegung der Wundererzählung verliert sich damit nicht in einem postmodernen Deutungsverzicht, sondern zielt auf die je und je kontextuelle Auslegung eines Rezipienten oder einer Rezipientin, die wundersame Erfahrungen und Erkenntnisse in sich bergen mag.

Ruben Zimmermann

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung Deutungsfokus Historisierende Deutung

Fragestellung

Methode

Stärke/Sinn des Ansatzes Grenze/Anfragen

Was ist wo und wie passiert? Welches historische Ereignis ist Referenzbereich der Erzählung? Welchen Stellenwert hat die Faktizität des Ereignisses für den Text? Wie kann das Erzählte mit dem heutigen (modernen) und antiken (aufgeklärten und mythologischen) Weltbild meinem und damaligem ›gesunden Menschenverstand‹ und der Naturgesetzlichkeit/Naturregelmäßigkeit vereinbar sein?

Historisch-kritische Rückfragen; Kontext- und Wirkungsplausibilität (Theißen/ Winter)

Formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Deutung

Welche gattungsspezifischen Elemente weist die Erzählung auf? Wo gibt es ähnliche Erzählungen in der antiken Umwelt des Neuen Testaments?

Form- bzw. Gattungskritik; Traditions-/Motivgeschichte; Religionsgeschichtlicher Vergleich

Überlieferungsund redaktionsgeschichtliche Deutung

Welche ÜberliefeLiterar- und Rerungs- und Bearbeidaktionskritik tungsstadien sind im Text erkennbar? Welche theologischen Akzentverschiebungen werden darin sichtbar?

Dieser Fokus nimmt die Faktualität der Erzählung ernst; greift Bedürfnis der Leser(innen) nach historischer Klärung auf; historische Basis als Bürge für die Wahrheit des Erzählten Deutung will erklären, dass die Erzählung auch mit modernem Weltbild vereinbar sein könnte; durch das postulierte einheitliche Wirklichkeitsverständnis sowohl in Antike und Gegenwart als auch in den unterschiedlichen Wissenschaften wird Ganzheitlichkeit und Relevanz der Erzählung proklamiert Nimmt die sprachliche Gestalt des Textes ernst; sensibilisiert für gattungstypische Merkmale; zeigt die Nähe, aber auch Differenz der frühchristlichen Wundererzählungen zur zeitgenössischen Parallelliteratur; kann die Funktion der Gattung als Kommunikationsmedium herausarbeiten Arbeitet die Tradierung bzw. Fortschreibung und damit aktualisierenden Aspekte heraus; zeigt, wie der Text unter veränderten Kontexten und Kommunikationsbedingungen relevant bleiben konnte

Rationalistische Deutung

Logik und Vernunftgemäßheit; Frage nach Kompatibilität mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (z. B. zur Gravitation; zum Hirntod)

Historischer Positivismus ist geschichtstheoretisch problematisch. Wird die ›Wahrheit‹ der Wundergeschichte nicht mit der historischen Faktizität verwechselt, die für die Gegenwart keine Relevanz hat? Die im Text z. T. bewusst herausgeforderte Widersprüchlichkeit des Erzählten mit der Vernunft wird nivelliert; rationalistische Welterklärung reduziert die Wirklichkeit.

Klassifikatorisches Gattungsbewusstsein ist überholt; Idealismus der Gattungspoetik, als ob man Texte in Reinform produziert hätte; relativiert u. U. die Einzigartigkeit der Erzählung

Methoden führen zu divergenten Ergebnissen; Modell der reinen Anfänge; vereinfachende Literaturtheorie mit reduziertem Konzept von Kohärenz und Spannungsfreiheit; Gefahr der Engführung auf Unterschiede zu den Quellen Sozialgeschicht- Welche soziale Sozial- und real- Sensibilisiert für die Zeit- Vernachlässigt die zeitliche (befreiLebenswelt steht hinter geschichtliche und Kontextbedingtheit übergreifende Dimension ungstheologidem Erzählten? Wie Analyse; der Texte; gewichtet die des Textes; nimmt nur besche) Deutung werden besonders die Soziologische pragmatische Dimension schränkte RezipientenMarginalisierten ange- Analyse der Texte als »Mutmach- gruppe in den Blick sprochen und zum geschichten« Handeln ermutigt?

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Das Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen – eine Leseanleitung Deutungsfokus Feministische Deutung

Fragestellung

Methode

Wo und wie kommen Frauen, ihre Lebenswelt und -probleme in der Erzählung vor? Was will die Wundergeschichte besonders Frauen vermitteln?

Verschiedene exegetische Methoden, jeweils mit Fokus auf Frauen im Text und außerhalb

Stärke/Sinn des Ansatzes Grenze/Anfragen

Lenkt den Blick auf Frauen und ihre spezifischen Fragen/Probleme/Stärken; sensibilisiert für die Gender-Perspektive, die oft bereits im Text angelegt ist (Kerygmatisch-) Was ist die theologiHistorische Se- Bei diesem Fokus wird die Theologische sche Kernaussage der mantik (theotheologische Botschaft Deutung Wundererzählung? logische Tiefen- herausgearbeitet; vielfach Welche theologischen dimension der liegt hier die primäre InThemen, welche Bot- Motive); Prag- tention der Erzählung, die schaft für Glauben an matik; kanomeist kein historischer Gott und Christus und nische Lektüre Bericht und keine bellefür die glaubende Getristische Unterhaltung meinschaft werden besein will. handelt? Wie werden Definitionsgemäß kommt sie durch die Erzählung in der Wundererzählung problematisiert und Gottes Wirklichkeit zum vorangetrieben? (im Vorschein. engeren Sinne theo-loDer Erkenntnisgewinn im gische sowie christoloGlauben wird profiliert. gische, pneumato-logische, eschatologische, ethische usw. Deutungsaspekte) (Tiefen-) Die Wundererzählun- z. B. Tiefenpsy- Hier wird die allgemeinPsychologische gen (aber auch das chologische Aus- anthropologische, zeitDeutung ihnen zugrunde liegen- legung nach übergreifende und perde Wunderwirken Je- Drewermann sönliche Dimension des su) zeigen etwas über (Trennung von Textes zur Geltung geden Menschen, sein Subjekt-/Objekt- bracht. Dasein, seinen Glaustufe; Amplifika- Kann der Text selbst im ben, seine Ängste und tion etc.) Rezeptionsvorgang eine Hoffnungen usw. ›therapeutische Dimension‹ haben? SymbolischDie verwendeten Zei- Historische Se- Anerkennt die Untersemiotische chen und Motive ste- mantik; schiedlichkeit der WirkDeutung hen in einem weiteren Metaphern- und lichkeitszugänge; prinziDeutungszusammen- Symboltheorien; pielle Offenheit; kann hang von Wirklichkeit; Diskursanalyse, antikes und modernes ihre Bedeutung erSemiotik Weltbild in seinem Eigenschließt sich nur in wert nebeneinander ausdiesem enzyklopähalten; einfache Alternatidischen Kontext ven wie ›historisch – fiktional‹, ›echt – unecht‹ werden aufgebrochen Die eigene … … … Deutung

Die bewusst positionelle Perspektive kann einseitig und blind für widerständige Textindizien werden.

Die Wunderhandlung selbst wurde und wird bei dieser Perspektive vernachlässigt oder relativiert. Wird die theologische Botschaft wirklich jenseits des Wunders oder nicht gerade durch das Wunder vermittelt?

Individuelle Dimension überlagert soziale oder gar politische Dimension des Textes; blendet die historische Kontextualität und Begrenzung des Textes aus

Kann eine klare Textaussage verhindern; ist u. U. zu theorielastig und voraussetzungsreich; blendet Frage nach der Einheit der Wirklichkeit aus.



Tab. Deutungshorizonte von frühchristlichen Wundererzählungen

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3. Basisliteratur zu frühchristlichen Wundererzählungen 3.1 Monographien und Sammelbände (der letzten 50 Jahre) H. van der Loos, The Miracles of Jesus, NT.S 9, Leiden 1965. F. Mußner, Die Wunder Jesu. Eine Hinführung, München 1967. R. Pesch, Jesu ureigene Taten? Ein Beitrag zur Wunderfrage, QD 52, Freiburg i. Br. et al. 1970. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 1974 (zitiert im Buch als 81998). A. Suhl (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament, WdF 295, Darmstadt 1980. H. C. Kee, Miracle in the Early Christian World. A Study in Sociohistorical Method, New Haven/ London 1983. E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2: Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, Olten 1985 (61990), 43-309. H. C. Kee, Medicine, miracle and magic in New Testament times, Cambridge 1986. D. Wenham/C. L. Blomberg (Hg.), Gospel Perspectives, Bd. 6: The Miracles of Jesus, Sheffield 1986. R. Latourelle, The Miracles of Jesus and the Theology of Miracles, New York/Mahwah 1988. B. Blackburn, Theios Ane¯r and the Markan Miracle Traditions: A Critique of the Theios Ane¯r-Concept as an Interpretative Background of the Miracle Traditions Used by Mark, WUNT 2/40, Tübingen 1991. W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, FRLANT 163, Göttingen 1994. J. P. Meier, Miracles, in: ders., A Marginal Jew – Rethinking the Historical Jesus 2: Mentor, Message, Miracles, New York 1994, 509-1038. G. A. Boyd, Cynic, sage or Son of God?, Wheaton 1995. S. L. Davies, Jesus the Healer: Possession, Trance, and the Origins of Christianity, New York 1995. W. Weiss, »Zeichen und Wunder« – Eine Studie zu der Sprachtradition und ihrer Verwendung im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1995. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter – Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996. M. Smith, Studies in the cult of Yahweh – New Testament, Early Christianity, and Magic, Leiden 1996. G. Theißen/A. Merz, § 10: Jesus als Heiler: Die Wunder Jesu, in: diess., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 (42010), 256-285. H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien, SBB 39, Stuttgart 1998. D. v. d. Goltz, Krankheit und Heilung in der neutestamentlichen Forschung des 20. Jahrhunderts, Diss. Masch. Erlangen 1998. K. Berger, Darf man an Wunder glauben?, GTB 1450, Gütersloh 1999. J. C. Cavadini (Hg.), Miracles in Jewish and Christian Antiquity. Imagining Truth, Notre Dame 1999. W. Cotter, Miracles in Greco-Roman Antiquity: A Sourcebook for the Study of New Testament Miracle Stories, New York 1999. G. H. Twelftree, Jesus: The Miracle Worker – A Historical & Theological Study, Downers Grove 1999. J. J. Pilch, Healing in the New Testament, Minneapolis 2000.

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Basisliteratur zu frühchristlichen Wundererzählungen

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3.2 Themenhefte von Zeitschriften Zeitschrift für Pädagogik und Theologie, Themenheft »Wunder«: ZPT 51/1 (1999). Zeitschrift für Neues Testament, Themenheft »Wunder und Magie«: ZNT 7/4 (2001). Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht, Themenheft »Wunder«: ru 33/4 (2003). entwurf, Themenheft »Wunder«: entwurf 4 (2006). Katechetische Blätter, Themenheft »Wunder«: KatBl 135/4 (2010). Bibel heute, Themenheft »Gesundheit und Krankheit«: BH 182 (2010/2). Recherches de Science Religieuse, Themenheft »Le récit de miracle«: RSR 98/4 (2010).

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Frühchristliche Wundererzählungen – eine Hinführung

3.3 Auswahl an Aufsätzen (chronologisch) R. Bultmann, Zur Frage des Wunders, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1933, 214-228. D. E. Aune, Magic in Early Christianity, ANRW II/23.2 (1980), 1507-1557. G. Maier, Zur neutestamentlichen Wunderexegese im 19. und 20. Jahrhundert, in: D. Wenham/ C. Blomberg (Hg.), Gospel Perspectives, Bd. 6: The Miracles of Jesus, Sheffield 1986, 4987. W. Speyer, Der numinose Mensch als Wundertäter, in: ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Ausgewählte Aufsätze, WUNT 50, Tübingen 1989, 369-394. B. L. Blackburn, The Miracles of Jesus, in: B. D. Chilton/C. A. Evans (Hg.), Studying the Historical Jesus: Evaluations of the State of Current Research, NTTS 19, Leiden 1994, 353-394. G. N. Stanton, Jesus of Nazareth: A Magician and a False Prophet who Deceived God’s People?, in: J. B. Green/M. Turner (Hg.), Jesus of Nazareth: Lord and Christ – Essays on the Historical Jesus and New Testament Christology, Carlisle 1995, 164-180. J. Frey, Zum Verständnis der Wunder Jesu in der neueren Exegese, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (1999), 3-14. T. E. Klutz, The grammar of exorcism in the ancient Mediterranean world: Some cosmological, semantic, and pragmatic reflections on how exorcistic prowess contributed to the worship of Jesus, in: C. C. Newman/J. R. Davila/G. S. Lewis (Hg.), The Jewish roots of christological monotheism, Leiden 1999, 156-165. J. H. Neyrey, Miracles, In Other Words: Social Science Perspectives on Healings, in: J. C. Cavadini (Hg.), Miracles in Jewish and Christian antiquity – Imagining truth, Notre Dame Studies in Theology 3, Notre Dame 1999, 19-56. S. Alkier, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001), 2-15. C. Strecker, Jesus und die Besessenen – Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theißen (Hg.), Jesus in Neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. A. Lindemann, Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, WuD 27 (2003), 179-200. G. H. Twelftree, The History of Miracles in the History of Jesus, in: S. McKnight/G. Osborne (Hg.), The Face of New Testament Studies: A survey of Recent Research, Grand Rapids 2004, 191-208. H.-G. Gradl, Was ist ein Wunder? Biblische Verstehenshilfen für ein theologisches Sorgenkind, in: K. Fitschen/H. Maier (Hg.), Wunderverständnis im Wandel. Historisch-Theologische Beiträge, Annweiler 2006, 31-54. B. Kollmann, Glaube – Kritik – Deutung. Gängige Deutungsmuster von Wundergeschichten in der Bibelwissenschaft, BiKi 2 (2006), 88-93. G. Theißen, Die Wunder Jesu. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: W. H. Ritter/M. Albrecht (Hg.), Zeichen und Wunder, Göttingen 2007, 30-52. G. H. Twelftree, Jesus the Exorcist and Ancient Magic, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte (Hg.), A Kind of Magic. Understanding Magic in the New Testament and its Religious Environment, London/New York 2007, 57-86. J. Herzer, Neutestamentliche Wundergeschichten als hermeneutische Herausforderung, in: M. Bezer/U. Liedke (Hg.), Wort Gottes im Gespräch, Leipzig 2008, 233-251. G. H. Twelftree, Miracle Story, in: C. A. Evans (Hg.), Encyclopedia of the Historical Jesus, New York/London 2008, 416-420.

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Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung mit Vorzeichen und Machttaten Gottes/von Gottheiten 1. Das geozentrische Weltbild und die Existenz von Dämonen Das geozentrische Weltbild, das die Erde als Scheibe oder Kugel zum Mittelpunkt hat, beherrscht sowohl das kosmologische Denken des Alten Testaments als auch der Antike. Das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos (3. Jh. v. Chr.) konnte sich damals noch nicht durchsetzen. Nach Plato bildet der Kosmos eine Kugel, innerhalb derer Mond, Sonne und weitere »Planeten« auf festgelegten Bahnen um die Erde kreisen (Plato Tim. 38b-39d). Die Planeten und Fixsterne sind wie die Erde göttliche Wesen; die Erde kreist um die Achse des Himmelsglobus und erzeugt so Tag und Nacht (Plato Tim. 40a-d). Die Erkenntnis der Natur hat dementsprechend drei Wurzeln: die Empirie, die Naturphilosophie und die Religion. Die Physik Platos, insbesondere dann die Physik des Aristoteles, umfasst die empirische Beobachtung, die philosophische Deutung der Naturdinge (fusik€ physika) und die religiöse Metaphysik als die Lehre von den ersten Ursachen des Wirklichen. Die Religion liefert zusätzlich zum physikalischen und metaphysischen Weltbild den Glauben an das spontane, unregelmäßige Einwirken von Göttern und Dämonen auf die erfahrbare Wirklichkeit. Dämonen sind nach Sokrates »Götter oder doch […] Söhne von Göttern« (Plato apol. 27d). Sie können den Menschen begleiten, schützen und lenken (Plato apol. 28e), aber auch quälen wie den Cäsarmörder Brutus (Plut. Brut. 36; 48). Dämonen beherrschen den Luftraum über der Erde, auf der Erde und unter der Erde. Im Frühjudentum findet eine Unterscheidung zwischen Engeln und Dämonen statt. Die Engel gehören zum Hofstaat Gottes und bringen Gottes Botschaft und Herrlichkeit in die Welt (Dan 8 f.; Lk 1 f.), während die Dämonen sich außerhalb der Herrschaft Gottes aufhalten und Schaden stiften. Der urgeschichtliche Mythos von den Riesen, die als Söhne aus der Verbindung von Engeln mit Menschentöchtern hervorgegangen sind (Gen 6,1-4), liefert eine Ätiologie. Um diese Giganten zu vernichten, schickte Gott die Sintflut; doch die Geister der ertrunkenen Giganten sind unsterblich; sie leben als Dämonen weiter: »Die Geister der Riesen, [die Nefilim (?)] sind gewalttätig, sind verdorben, brechen herein, kämpfen, zerstören auf Erden, schaffen Leid, verzehren keine Speise und dürsten nicht und sind nicht wahrzunehmen. Und diese Geister werden sich erheben gegen die Menschenkinder und die Frauen, weil sie (von ihnen) ausgegangen sind« (äthHen 15,11f., Übers. Uhlig).

2. Die Wundergeschichten von Epidauros und das griechische Arztwesen In den biblischen und antiken Wundergeschichten vermischt sich der Götter- bzw. Dämonenglaube der jüdischen und griechisch-römischen Kultur mit dem regelgeleiteten naturphilosophischen Weltbild (dazu u. a. Böcher 1972b, 9-33; Weiser 1975, 78-105; Kollmann 1996, 154-215; Busch 2006a, 17-22: »Antike Magie als Konsensphänomen«). 69

Themenartikel

Nach dem frühjüdischen Weltbild ist »Krankheit« eine Kraft, die unregelmäßig von Gott geschickt und abgezogen werden kann, die aber auch von Strafengeln und Satan im Auftrage Gottes über einen Menschen gebracht werden kann (Hi 2). Wie die Krankheit, so ist die gesamte Natur ein Kräftefeld, das von Gott und im Auftrage oder mit Duldung Gottes von bösen Dämonen beherrscht und gelenkt wird. So fehlt dem frühjüdischen Denken weitgehend das Wissen um die Naturkausalität. Aufgrund der Erfahrung konnte man den Ablauf der Natur nach Wahrscheinlichkeiten bestimmen, die aber jederzeit durch göttliches oder dämonisches Wirken aufgehoben werden konnten (vgl. den Weltuntergang Mk 13,24-27). Jesus ist also ein Mensch, der im Bunde mit Gott (Mk 1,14f.) oder mit Satan (Mk 3,22-30) die Kräfte des Kosmos und des Menschen beherrscht. Auch dem Hellenismus war die Durchbrechung von Naturgesetzen im modernen Sinne unbekannt, wohl gab es von Naturphilosophie und Erfahrung begründete Regeln für den Ablauf des Kosmos und des menschlichen Lebens. Das Wunder bedeutet ein Eingreifen der Gottheit, das nach den bekannten Regeln der Weltordnung unerklärlich bleibt. Die Gottheit kann unterschiedlich eingreifen. Sie kann direkt handeln, z. B. in Vorzeichen, Träumen und Wundern, sie kann indirekt handeln durch einen Wundertäter, z. B. in den Heilungswundern. Im 6./5. Jh. v. Chr. treten in Griechenland die ersten Wundertäter auf, u. a. Empedokles und Pythagoras, und in Epidaurus werden Kult und Tempelbezirk für den Heilgott Asklepios eingerichtet. Das Korpus der Wunderheilungen im Asklepieion von Epidauros aus dem 4. Jh. bildet die älteste Sammlung von antiken Wundergeschichten (Herzog 1931). Die Heilstätten des ›Asklepieion‹ machen die Therapie eines Kranken vom Wohlwollen des Heilgottes Asklepios abhängig (Krug 1993, 120-188). Die Priesterärzte wie der berühmte Hippokrates vom Asklepieion in Kos und Galen vom Asklepieion in Pergamon sorgen natürlich unter diesem Schutzschild dafür, die Medizin erfahrungsorientiert auszubauen (Busch). Im Corpus Hippocratum wird die »heilige Krankheit« Epilepsie als Krankheit mit natürlichem Ursprung entmythologisiert (Hippocr. morb. sacr.; Müri 1986, 253-269). Doch wenn die Medizin versagt, stehen außerhalb von Asklepieien, Arztpraxen und Wanderärzten eine Fülle von Wundermitteln und magischen Sprüchen bereit, Heilungen zu erwirken (Luc. philops.; Luc. Alex.; Antike Zaubersprüche) So genießen in der Antike die Wunderheiler aus Syro-Palästina ein hohes Ansehen (Luc. philops. 16; Hengel 1969, 467-469). Kelsos behauptet sogar die Existenz vieler Wundertäter neben den christlichen Wundertätern (Or. Cels. 1,68; 2,48.55). Es werden aber nur wenige Ausnahmen gewesen sein. Die Wundergeschichten der Asklepiosheiligtümer haben eine Doppelstruktur als literarische Form und soziale Handlung (Theißen 1974, 229-299). Der literarische Text hat eine syntaktische, semantische und pragmatische Dimension. Die soziale Funktion, die aus dem Zusammenwirken von Kunst (tffcnh techne¯), Institution und Charisma entsteht, beschreibt wissenschaftlich den empirischen Träger der Heilung; hinzu treten die religionsgeschichtliche und die existentielle Funktion; sie interpretieren die Heilungsvorgänge metaphorisch. Theißen rekonstruiert für die Antike sechs Formen wunderhafter Heilungstätigkeit (Theißen 1998, 231):

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Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung Kunst (techne¯) Institution Mantik

Charisma

Wahrsagekunst Orakelstätten Propheten

Wunderpraxis Zauberkunst

Heilstätten

Wundercharismatiker

Nun hat sich Theißen bei der Beschreibung der sozialen Funktion zu sehr an den rationalistischen Vorbehalten der bisherigen Medizinhistorie orientiert. Die ärztliche Kunst mit Institution und Charisma fehlt völlig; die Wunderpraxis wird von vornherein der Zauberkunst zugeordnet und mit der Mantik parallelisiert. Beim Motiv »Heilende Mittel« gesteht Theißen dagegen Epidauros eine »archaische Medizin« zu (Theißen 1974, 72). Die Besucher der Asklepios-Heilstätten werden mehrheitlich den unteren Schichten zugeordnet (Theißen 1974, 233-236). Dem widerspricht der Befund von Herzog; Wohlhabende haben zusammen mit Armen das Heiligtum aufgesucht (Herzog 1931, 5965.130-161). Die Ausgrabungen der Asklepieien in Epidauros, Korinth, Kos und Pergamon und die Auswertungen der Wunderberichte zeigen, dass Zauberkunst durch ärztliche Kunst in Verbindung mit religiösen Techniken, z. B. Traumdeutung (Artemidor; Aristides) zu ersetzen ist und dass das »Städtische und Ländliche Medizinwesen« (Herzog 1950; von Bendemann 2007, 117-123) hinzuzufügen ist. So lässt sich das Schaubild von Theißen präzisieren und zu neun Formen wunderhafter Heilungstätigkeit erweitern: Kunst (techne¯)

Institution

Mantik

Wahrsagekunst

Orakelstätten Propheten

Wunderpraxis

Ärztliche + religiöse Kunst Heilstätten

Städtische und ländliche Medizin Ärztliche + religiöse Kunst Arztpraxis

Charisma

Wundercharismatiker Wanderarzt

Die Zauberkunst ist eine Sonderform der magischen Volksmedizin außerhalb der Asklepieien und des Polis-Arztwesens und scheidet daher aus (Kollmann 1996, 117; Busch 2006a). Die Parallelität zur Mantik ist gegeben, da einige epidaurische Wunderberichte tatsächlich mantische Weisungen, also Orakel, enthalten, die entweder nicht auf Krankheiten bezogen sind, z. B. Hilfe zum Wiederfinden von Verlorenem oder Verstecktem (Herzog 1931, 112-123), oder für eine Heilung die Gründung eines neuen Asklepieion an einem anderen Ort fordern (a. a. O., 21f.).

3. Wundertätigkeit im wissenschaftlichen Denken der Antike Die Wundergläubigkeit wird von den antiken Philosophen, von den Platonikern, Peripatetikern und Stoiker nicht als Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken aufgefasst; Sokrates erbittet beim Leeren des Giftbechers von seinen Schülern das Opfer eines Hahnes für Asklepios (Plato Phaid. 118a). Palaiphatos (4. Jh. v. Chr.) erzählt »Unglaubliche Geschichten (per½ ⁄pfflston storfflon peri apiston historion)« über Nebenfiguren der griechischen Götter und über Heroen und entmythologisiert sie in rationalistischer Weise. Die Existenz und das Wirken der Hauptgötter bestreitet er aber nicht im Unterschied 71

Themenartikel

zu Euhemeros (4. Jh. v. Chr.). Der komödiantische Spott von Aristophanes »Plutos« und die prinzipatzeitliche Satire »Philopseudés« von Lukian karikieren zwar die Misserfolge des Asklepioskults, können aber die Angewiesenheit auf göttliche Heilungshilfe nicht erschüttern (Herzog 1931, 61f.). Herzog vergleicht die christlichen Gnadenorte mit Epidauros (Herzog 1931, 47f.), Kasas/Struckmann ziehen die neuzeitlichen Kurorte zum Vergleich heran (Kasas/Struckmann 1990). Müri wiederum rubriziert die Epidauros-Texte unter »Am Rande der Medizin. Tempelmedizin« und rückt sie zu Unrecht nahe an »Zaubersprüche« (Müri 1986, 430-443). Das Corpus Hippocraticum (CH) gilt auch für die Therapien in den Asklepieien. »Heilige Berichte« des Rhetors Aelius Aristides schildern ausführlich den ständigen Übergang von ärztlicher Behandlung zu therapeutischen Sondermaßnahmen aufgrund von Weisungen des Heilgottes Asklepius im Asklepieion von Pergamon (Aristides). Der Glaube an Dämonen schließt nicht das erfahrungsorientierte Wissen um Krankheiten und Gefahren aus und bleibt ein wesentlicher Faktor des damaligen Weltbildes. Ob das Markusevangelium bei der Darstellung der Heilwunder im Unterschied zu den anderen Evangelien die Heilwunder bereits rein erfahrungsorientiert auslegt (von Bendemann 2007, 123-127), muss weiter diskutiert werden. Wenn die Dämonologie im kritischen philosophischen Diskurs negiert wird wie von Cicero (de divinatione), bleibt ihre Entmythologisierung auf eine kleine kognitive Minderheit beschränkt. Nun geschehen Wunder nicht nur im Bereich der Medizin und Magie, sondern auch auf dem Feld geschichtlichen Handelns. Die hermeneutische Perspektive zu Wundergeschichten muss über den Bereich Krankheit, Glaube und Heilung hinausgehen.

4. Die Wundergeschichten in der Geschichtsschreibung und im Neuen Testament Herzog hatte für die Wunderheilungen in Epidauros zu Recht festgestellt, dass bei ihnen nicht gefragt ist, »ob die Heilung als den Naturgesetzen und der Vernunft widersprechend (⁄dÐnaton adynaton) oder nur als unerwartet (par€doxon paradoxon) oder gar als normale Heilung durch den Gott als Arzt aufgefaßt wird« (Herzog 1931, 51). Genau diese Unterteilung kennt aber die antike kritische Historiographie für die Wunder. Polybios akzeptiert unerwartete Ereignisse als Wunder, kritisiert aber der Wahrscheinlichkeit widersprechende Wunder bei den pathetischen Geschichtsschreibern (Polyb. 16,12,3-6: ¥kt@ to‰ dun€tou ektos tou dynatou). Auch Palaiphatos unterscheidet bei seiner Mythenkritik zwischen unmöglichen (⁄dÐnaton) und daher unglaublichen Geschichten und historisch möglichen und daher wahren (⁄lhqffi@ ale¯the¯s) Ereignissen, z. B. in der historia über Daidalus: »Es wird über Daidalos gesagt, dass er Statuen schuf, die von selbst liefen. Es scheint jedenfalls mir unmöglich (⁄dÐnaton) zu sein, dass ein Standbild von allein geht. Was wahr (⁄lhqffi@) ist, verhält sich so:« (Palaiphat. 21). Es folgt dann eine rationalistische Erklärung der angeblichen Einführung von Spielbein und Standbein für die griechischen Standbilder durch Daidalus. Auch Totenerweckungen werden für lächerlich und unmöglich erklärt, stattdessen wird wie später bei Philostratos (3. Jh.) eine Erweckung aus einer Ohnmacht angenommen (Palaiphat. 26; Philostr. vit. ap. 4,45; vgl. Mk 5,21-43).

72

Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung

Die Wunder und Zeichenhandlungen in den Evangelien und in der Apostelgeschichte widersprechen daher nicht von vornherein der griechischen Geschichtsschreibung, sondern gehören mit ihren außergewöhnlichen (par€doxo@ paradoxos) und unmöglichen (⁄dÐnaton) Wundern in den Zweig der pathetischen oder mimetischen Geschichtsschreibung hinein; denn diese verwendet und akzeptiert ja ebenfalls neben außergewöhnlichen auch unmögliche Wunder (Plümacher 2004a, 33-85). Der Chorschluss der Gelähmtenheilung nach Lukas könnte sogar in der kritischen pragmatischen Geschichtsschreibung stehen: »Wir sahen Außergewöhnliches (par€doxa paradoxa) heute« (Lk 5,26b). Allerdings ist die pathetische Geschichtsschreibung fast völlig verloren gegangen. Wenige Fragmente sind erhalten geblieben. Nur in der erhaltenen griechisch-römischen Bios-Literatur, in der frühjüdischen Geschichtsschreibung (Flav. Jos.; Phil.; 1-4 Makk; Historische Erzählungen der zwischentestamentlichen Literatur), in der neutestamentlichen Erzählliteratur und in deren Apokryphen werden die Konturen dieser Geschichtsschreibung erkennbar (Ehlen 2004, 75-95). Die gegenwärtige Diskussion um »faction«, gemeint ist »real fiction«, also die auf Realität bezogene Fiktionalität eines Dokumentarfilms oder einer anschaulichen Geschichtsschreibung, zeigt eine Parallele zur antiken Diskussion auf (Backhaus/Häfner 2007, 1-5), darf aber nicht mit dieser gleichgesetzt werden (Dormeyer 2009, 11; Eisen 2010). Die neutestamentlichen Naturwunder und Begleitwunder gehören nicht zum medizinischen Bereich der antiken Heilwunder, sondern zu den Wundern der pathetischen Geschichtsschreibung. Sie fehlen im Spruchevangelium Q, das ja keine historiographische Erzählbiographie wie die Erzählevangelien bietet (Hüneburg 2001a, 227f.). Das Fehlen der Naturwunder in Q, z. B. in der Liste der Wundertaten Jesu Q 7,22, macht darauf aufmerksam, dass bereits die frühe Evangelienbildung wie die antike Prosaliteratur die Alltagserfahrung als Kriterium für die Möglichkeit und Unmöglichkeit eingesetzt hat. Die moderne kognitive Unterscheidung zwischen psychosomatisch möglichen Heilungen von Krankheiten und unmöglichen, die modernen Naturgesetze durchbrechenden Naturwundern hat in dieser antiken und neutestamentlichen Diskussion ihre Grundlage (Theißen/Merz 1996, 256-286; Eibisch 2009, 14-39; Frey 1999, 3-14). Paulus dagegen berücksichtigt mit seinem theozentrischen, alttestamentlichen Wunderbegriff diese Diskussion nicht (Alkier 2001a, 284-305). »Für das paulinische Christentum konnte aber eine präzise Bestimmung dafür erarbeitet werden, was als Wunder gelten kann: Wunder sind von Gott oder mit Gottes Kraft gewirkte, menschliche Möglichkeiten übersteigende Geschehnisse« (Alkier 2001a, 306). Aufgrund der Theozentrik dieser Wundertheologie vermeidet es Paulus, Geschichten von menschlichen Wundertätern zu erzählen. So können in diesem Kompendium keine Texte aus den paulinischen Briefen aufgenommen werden. Paulus kennt zwar das Charisma der Wunderheilungen in der Gemeinde von Korinth (1Kor 12,9), doch er berichtet keinen Einzelfall. Wunderheilungen gehören zu dem umfassenderen Bereich von Gottes Schöpfungs- und Geschichtshandeln. Die einzelnen Wundertäter, zu denen auch Paulus gehört (2Kor 12,12; Röm 15,19), erfahren keine besondere Nennung und Würdigung. Nur die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus durch Paulus und weitere namentlich genannte Mitarbeiter und Gemeindemitglieder zählt. Das Evangelium bewirkt durch Gottes Machttat rettenden Glauben (Röm 1,4.15-17; 1Kor 2,4; 4,20). Die Machttat Gottes bewirkt die Auf73

Themenartikel

erweckung der Glaubenden (1Kor 6,14; 15,43). Nach 2Kor 12,12 kennt Paulus allerdings die personale Wundertradition von den Aposteln. Ob er sie für Jesus kennt, muss offen bleiben. Die Evangelientradition hingegen geht vom sichtbaren Anbruch der Königsherrschaft Gottes im irdischen Jesus aus. Jesus und in seiner Nachfolge die Apostel sind Wundertäter in Konkurrenz zu anderen Wundertätern; aber nur in Jesu und seiner Nachfolger Wundern wird die heilende Kraft der angekommenen Königsherrschaft Gottes sichtbar (Q 11,19f.). Die Evangelien und die Apostelgeschichte nehmen die biblische und antike Erwartung von besonders bevollmächtigten Wundertätern auf. Sie gehen durch diese Verbindung mit den biblischen und antiken Heilungsvorstellungen eine engere Enkulturation mit dem damaligen Weltbild ein als die Theozentrik von Paulus. Beide Auslegungswege von Heilungen sind hermeneutisch berechtigt. Der Verzicht auf Heraushebung einzelner Wundertäter stellt anthropologisch den unbedingten Gottesglauben in den Mittelpunkt und ermöglicht die Ausblendung von Wundergeschichten (Bultmann 1965-66, 214-229). Allerdings muss auch Paulus wie die Evangelientradition für die Verursachung von Krankheiten einen Engel Satans = Dämon annehmen, der ihn, Paulus, »mit Fäusten schlägt« (2Kor 12,8). Paulus selbst und auch kein anderer Christ können ihn vertreiben. Für die menschlichen Grundfragen nach dem Sinn von Krankheit, Tod, Mangel, Not und weiteren geschichtlichen Ausnahmesituationen ist die Konzentration auf Gott theologisch sicherlich richtig, kann aber auch zur Verengung der Wahrnehmung von Welt führen. Gottes Herrschaft hat sich im Handeln des irdischen Jesus und seiner Nachfolger gezeigt, u. a. im Wunderhandeln zur Aufhebung von Krankheit, Tod, Mangel und Not. Paulus nimmt diese personale Heilungstradition für sich nicht in Anspruch. So sind für die neutestamentliche Wundertheologie von Anfang an zwei Möglichkeiten grundgelegt, entweder von einem Wundertäter oder nur von Gott selbst Wundergeschichten zu erzählen.

5. Göttlicher Mensch oder göttliche Vollmacht? Ist der Wundertäter ein göttlicher Mensch oder hat er eine göttliche Vollmacht? Bieler hatte 1935-1936 mit seiner zweibändigen religionsgeschichtlichen Analyse einen deutlichen Zusammenhang zwischen antiken und christlichen Persönlichkeiten der Geschichtsschreibung mit Wunderkraft aufgezeigt: Er geht in Band I zunächst von dem Wortgebrauch qe…o@ ⁄nffir (theios ane¯r – göttlicher Mann) aus. Hesiod, Platon, Aristoteles und die spätere Philosophie gebrauchen diese Wortverbindung und das isolierte Adjektiv qe…o@ (theios – göttlich) im weiten und im engen Sinne. Im weiten Sinne kann es jedem Menschen zukommen, im engen Sinne bezeichnet es eine philosophische Lebensweise besonderer Persönlichkeiten (Bieler 1976, I, 9-20). Beim »Wissen und Können« zeigen sich dann bei diesen wunderbare Fähigkeiten wie »Schweben in der Luft« und »Wandeln auf dem Wasser« (Bieler 1976, I, 94-97) und beim öffentlichen Wirken eine wunderbare Herrschaft über die Natur und die Krankheiten (Bieler 1976, I, 103-116; Betz 1983). Nun kann Bieler diese wunderbaren Fähigkeiten nicht mehr mit dem öffentlichen Auftreten aller berühmten Philosophen begründen, sondern muss eine Auswahl treffen. Diese reflektiert er aber nicht mehr. Pythagoras, Empedokles, Jesus, die Apostel und 74

Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung

Apollonius von Tyana werden die Hauptzeugen. An dieser ungeschichtlichen Zusammenstellung ist zu Recht Kritik geübt worden. In Band II wird Bieler systematischer. Er wendet sich der antiken Biographie zu. Hauptpersönlichkeiten sind Sokrates und Vergil; doch Sokrates hat keine Wunder gewirkt und die Vergilvita mit einem Baumwunder nach Donatus ist spätantik (Bieler 1976, II, 82-103). Daher geht Bieler zur griechischen Sage über. Er bespricht zunächst die Heroen Asklepios und Aristaius, die im Gefolge des Heilgottes Apollon qe…oi ˝ndre@ (theioi andres – göttliche Männer) mit Wunderkraft sind (Bieler 1976, II, 105-109). Für Asklepios ist dieser Befund unbestritten, gilt aber nur für Heilwunder. Es schließt sich die »römische Gründungs- und Königssage« an. Sachlich unscharf spricht Bieler von »Pseudohistorie«, die für die Gründung Roms eine »Fiktion« schafft: Äneas, Romulus und Numa sind als Stadtgründer qe…oi ˝ndre@ mit wunderbaren Fähigkeiten (Bieler 1976, II, 109-113). Der Verweis auf Plutarchs Romulus- und Numa-Biographien führt in die richtige Richtung der pathetischen Geschichtsschreibung. Doch ist der Begriff qe…o@ ⁄nffir noch weiter sinnvoll für den griechischen Wundertäter, da das Syntagma üblicherweise den Philosophen ohne Wundermacht bezeichnet? Nach du Toits zutreffender Analyse gehört das Adjektiv qe…o@ drei unterschiedlichen semantischen Feldern an: 1. Garant einer Erkenntnistradition, 2. Steigerungsform der Qualität »fromm«, 3. Relation zwischen Mensch und Gottheit (du Toit 1997, 401f.). Ist es daher sinnvoller, qe…o@, lat. divus, mit ¥xousffla (exousia – göttliche Vollmacht) zu umschreiben, wie es das Neue Testament macht (Busch 2006a, 160-162)? Mit göttlicher Vollmacht sind bei Plutarch auch historische Gründer wie Alexander und Cäsar ausgestattet. Vor Alexander weicht das Meer zurück (Plut. Alex. 17), Cäsar wird vom Sturm am zu frühen Übersetzen nach Brundisium gehindert (Plut. Caes. 38,1-7; Wördemann 2002, 106-135). Numa kann wunderbar eine Volksmenge bewirten (Plut. Num. 15). Vespasian wird bei Sueton zum Wundertäter, um sein Prinzipat zu legitimieren (Suet. Vesp. 7,2 f.; Dormeyer 2002, 222-224; von Haehling 2008). Auch Pythagoras gilt als Wundertäter; er kann mit wunderbarem Vorherwissen die Zahl gefangener Fische voraussagen und ihre Freilassung erwirken (Iamb. vit. Pyth. 8,36), und er kann ab und zu seinen goldenen Schenkel zeigen (D.L. 8,11; Cancik 2009, 531). Das Verständnis von qe…o@ und divus als Vollmacht würde die herrscherlichen Gründergestalten aus historischer Zeit in unmittelbare Nähe zu Jesus von Nazaret rücken, der wiederum das kritische Gegenprogramm entwirft. Mit dem Arzt Jesus aber, in dem die Königsherrschaft Gottes anfanghaft sichtbar wird, lässt sich kein Herrscher und Philosoph vergleichen (Mk 2,17 par.). Denn die Herrschaft Jesu Christi geht weit über den Herrschaftsanspruch der philosophischen Medizin des Corpus Hippocraticum, der Asklepieien, der philosophischen Wunderärzte und der Herrscher hinaus.

6. Vorzeichen in der antiken Geschichtsschreibung und im Neuen Testament In der antiken Geschichtsschreibung bleiben die Heil- und Naturwunder seltene, besondere Ereignisse (vgl. Plut. Num. 15). Dagegen ist von Vorzeichen ständig die Rede. David Engels vermeidet bewusst in seiner umfassenden Dissertation »Das römische Vorzeichenwesen (753-27 v. Chr.). Quellen, Terminologie, Kommentar, historische Entwick75

Themenartikel

lung« einen antiken terminus technicus für Begleitwunder und behilft sich weiter mit dem unscharfen deutschen Begriff »Vorzeichen«: »Das einfachste, oft aber leider am wenigsten trennscharfe … Kriterium zur Bezeichnung eines Ereignisses als ›Vorzeichen‹ ist die terminologische Erfassung des Phänomens durch den antiken Gewährsmann … Die entsprechenden Termini sind hier prodigium, ostentum, portentum, monstrum und omen (in geringerem Maße manchmal auch signum, miraculum und dirum) und die dazu gehörigen Verba, im Griechischen shme…on, o§wn@ und tffra@« (Engels 2007, 57). Semeíon und teras lassen sich nun nicht nur den westantiken Texten, sondern auch der griechischen Bibel mit der Bedeutung Vorzeichen/Machttaten zuordnen (vgl. 2Kor 12,12; Röm 15,19). Gleichzeitig können diese Begriffe einen Bezug zu einem namentlich bekannten Wundertäter erhalten. Engels führt daher für den Sinngehalt Vorzeichen die Kategorie unbewusster Träger ein: Das Objekt des Vorzeichens ist ein unbewusster Träger (Engels 2007, 47-51). Der Unterschied zwischen Wunderhandlung und Vorzeichen liegt dann darin, dass der Inhaber der Wundervollmacht ein bewusster Träger und damit Subjekt seiner Vollmacht ist, während der Träger des Vorzeichens ein unbewusstes Objekt des Wundervorgangs ist. Nach Plutarch ereignen sich als Vorzeichen wunderbare (qaumasitaton thaumasiotaton – sehr wunderbar) Vorgänge nach Cäsars Ermordung: Cassius begeht unbeabsichtigt mit dem Morddolch Selbstmord; als das größte der göttlichen Wunder erscheint ein Komet (tn dþ qefflwn ˆ te mffga@ komffith@ ¥f€nh to¯n de theio¯n ho te megas kome¯te¯s ephane¯ – von den göttlichen Zeichen erschien der große Komet) und die Sonne verdunkelt sich (Plut. Caes. 69,3 par. Mk 15,33). So gibt es weiterhin Vorzeichenreihen bei Plutarchs fragmentarischer biographischer Geschichtsschreibung »Galba und Otho« (Plut. Galba 18 f.; Otho 8; Holzbach 2006, 138144.173f.) und bei Dio Cassius. Dieser hat sogar »eine kleine Schrift über Träume und Vorzeichen« verfasst (Dio Cass. 73,23,1). Mit der Schrift will er den Herrschaftsanspruch des späteren Kaisers Severus Alexander (222-235) unterstützen: »Ich hatte eine kleine Schrift über die Träume und Vorzeichen verfaßt und herausgegeben, die Severus auf die Erlangung der Kaiserwürde hoffen ließ. Als er das von mir übersandte Exemplar gelesen hatte, antwortete er in einem ausführlichen und anerkennenden Schreiben. Diesen Brief empfing ich gegen Einbruch der Dunkelheit und bald danach schlief ich ein; im Schlafe nun gebot mir die himmlische Macht, an die Abfassung einer Geschichte zu gehen. Und so kam ich dazu, die Schrift in Angriff zu nehmen, mit der ich jetzt beschäftigt bin« (Dio Cass. 73,23,1f.). Nach Dio Cassius führt das Aufzeichnen von Träumen und Vorzeichen direkt zur Abfassung einer universalen »Römischen Geschichte«. In ihnen zeigt sich die indirekte Lenkung dieser Geschichte durch die Götter oder eine Gottheit (vgl. Mt 1 f.; Lk 1 f.). Vorzeichen gehen auf das unregelmäßige, direkte Einwirken einer Gottheit auf den Kosmos mit kosmischen Kräften ein (u. a. Erdbeben Dio Cass. 45,17,4; Mt 27,54; 28,2; Apg 4,31; 16,26; tödliche Blitze Dio Cass. 41,14,1), mit Sachen (u. a. Aufspringen von Tempeltüren Dio Cass. 61,35,1; Zerreißen des Tempelvorhangs Mk 15,38; Herabstürzen von Statuen Plut. Ant. 60; Einsturz des Turms von Schiloach Lk 13,4f.), auf Tiere (Abweichungen im Vogelflug und bei den Eingeweiden von Opfertieren, das störrische Verhalten und spätere Sprechen von Bileams Esel Num 22-24; Tötung von Soldaten durch Wölfe Dio Cass. 48,46,3; tödlicher Schlangenbiss Apg 28,1-6) und auf Menschen (u. a. Träume Dio Cass. 73,23,2; Zerreißen eines wahnsinnigen Frevlers am Kaiserkult durch eine Menschenmenge Dio Cass. 50,10,2; tödliche Krankheit für einen Gottesfrevler Apg 76

Weltbild, Wunder und Geschichtsschreibung

12,23; Flav. Jos. Ant. 19,343-350; Tötung durch einen Gottesfrevler Lk 13,1-3; Erscheinungen von Verstorbenen Dio Cass. 51,17,4-5; Mt 27,52f. Diese Vorgänge sind zwar Zeichen göttlicher Einwirkung, die die damalige Vorstellung von Naturordnung, nicht Naturgesetzen, durchbricht, doch sie bedürfen der mantischen Deutung. In Griechenland und Rom ist die Zeichendeutung institutionalisiert, z. B. im Orakelwesen, beim Augur (Vogelflugdeuter u. a.) und beim Haruspex (Eingeweidebeschauer), im Alten Testament ist das Orakelwesen umstritten (Engelken 2001) und im Neuen Testament eine Randerscheinung (vgl. die Nachwahl des Matthias Apg 1, 1526). Gott lässt sich für empirisch beobachtbare Zeichen nicht instrumentalisieren (vgl. Mk 8,10-13/Mt 16,1-4/Lk 16,16.29). Wohl sind im Alten Testament von Gott bewirkte Machttaten reichlich bezeugt. Unter sie fallen sowohl Wunderhandlungen bevollmächtigter Wundertäter wie Mose (Ex; Num), Elija und Elischa (1Kön 17,1-2Kön 14,21) als auch Vorzeichen wie ein Steinhagel auf ein feindliches Heer mit anschließendem Stillstand von Sonne und Mond (Jos 10,1214; Schwienhorst-Schönberger 2001). Solche Vorzeichen werden später in der jüdischen Apokalyptik im Übermaß vermehrt, finden Eingang in die neutestamentlichen Passionserzählungen und füllen in großer Anzahl die Visionen der Offenbarung. Im Neuen Testament gehören zu den göttlichen Vorzeichen weiterhin die alttestamentliche Himmelsstimme, Wolke, Engelserscheinung, Erdbeben u. Ä. Die Geistverleihung wird zum besonderen Zeichen der angebrochenen endzeitlichen Königsherrschaft Gottes. Jesus erhält bei der Empfängnis und beim öffentlichen Auftreten den Geist. Gott erweckt Jesus vom Tode und nimmt ihn in den Himmel auf. Diese Machttaten bilden keine Handlung eines menschlichen Wundertäters. Sie gehören in den Bereich der göttlichen Epiphanien. Dazu gehören dann auch nach Ostern die Erscheinungen des Auferstandenen (Dormeyer 1993, 184-188). Da die Machttaten durch Gott in den Paulusbriefen, in den Evangelien, in der Apostelgeschichte und in der Offenbarung sich deutlich von den Wunderhandlungen eines Wundertäters unterscheiden lassen, in denen der Wundertäter als bewusstes Subjekt und nicht als unbewusstes Objekt agiert, werden sie nicht in dieses Kompendium aufgenommen. Ausnahmen sind das Strafwunder an Hananias und Sapphira, die drei Befreiungswunder in der Apostelgeschichte (Apg 5,1-11.17-26; 12,1-11; 16,23-40) und in den apokryphen Evangelien das Wunder der Öffnung des Grabes und der Auferstehung des Herrn (EvPetr 9,35-10,42). Nur die Apostelgeschichte enthält Strafwunder an Menschen: Apg 5,1-11; 13,8-12; 19,13-17. In Apg 13,8-12 bewirkt Paulus als Wundertäter die Strafe der Erblindung, und in Apg 19,13-17 verprügelt der Dämon die unbefugten jüdischen Exorzisten, so dass zwei Wundergeschichten von menschlichen Wundertätern vorliegen. In Apg 5,1-11 greift hingegen der Geist ohne Aufforderung von Petrus überraschend und todbringend ein. Der plötzliche Tod des Ehepaares Hananias und Sapphira wird zum Warnzeichen. Da dieses Warnzeichen sich während eines Verhörs durch Petrus ereignet, wird auch diese Verhörgeschichte mit göttlicher Machttat als Petrusgeschichte mitbehandelt, zumal sie auch als ein durch Petrus veranlasstes Strafwunder interpretiert werden kann. Auch die drei Befreiungswunder in der Apostelgeschichte, die mit den Befreiungswundern des DionysosMythos vergleichbar sind (Ziegler 2008, 150-194), werden als mögliche Selbsthilfewunder der Apostel (Apg 5,17-26), des Petrus mit der Gemeinde (Apg 12,1-11) und des Paulus (Apg 16,23-40) aufgenommen. Auch das Graböffnungs- und Auferstehungswunder im apokryphen Petrusevangelium lässt sich als Grenzfall charakterisieren (EvPetr 77

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9,35-10,42). Gottes Wirken zeigt sich darin, dass er eine laute Stimme im Himmel erschallen und den Himmel sich öffnen lässt; zwei himmlische Gestalten steigen vom Himmel herab zum Grab Jesu; der Stein vor dem Grabeingang rollt von selbst weg, und die beiden jungen Männer gehen ins Grab hinein. Die Wachsoldaten sehen dann, dass drei Männer herauskommen und das Kreuz ihnen folgt. Das Haupt des Mittleren überragt die Himmel. Offenkundig hat der Gekreuzigte seine Auferstehung als Sohn Gottes selbst inszeniert. Die Himmelsstimme befragt ihn und erhält vom Kreuz eine Antwort. Das sprechende Kreuz ist der Abschluss des Auferstehungswunders durch den gekreuzigten Herrn.

Detlev Dormeyer Literatur zum Weiterlesen K. Brodersen, Die Wahrheit über die griechischen Mythen. Palaiphatos’ »Unglaubliche Geschichten«, Stuttgart 2002. H. Cancik, Das Geschichtswerk des Lukas als Institutionsgeschichte. Die Vorbereitung des Zweiten Logos im Ersten, in: J. Frey/C. K. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin 2009, 519539. D. Dormeyer, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, in: T. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 69, Göttingen 2009, 1-35. D. Engels, Das römische Vorzeichenwesen (753-27 v. Chr.). Quellen, Terminologie, Kommentar, historische Entwicklung, PAwB 22, Stuttgart 2007. R. v. Haehling, Der römische Kaiser – ein Wunderheiler?, in: L. Hauser/F. R. Prostmeier/C. Georg-Zöller (Hg.), Jesus als Bote des Heils. Heilsverkündigung und Heilserfahrung in frühchristlicher Zeit, FS. D. Dormeyer, SBB 60, Stuttgart 2008, 226-237. M. Holzbach, Plutarch: Galba-Otho und die Apostelgeschichte – Ein Gattungsvergleich, Religion und Biographie 14, Münster 2006. D. Wördemann, Der bios nach Plutarch und das Evangelium nach Markus. Eine Untersuchung zur literarischen Analogie des Charakterbildes des Helden und des Christusbildes im Evangelium Jesu Christi, SGKA.NF 1,19, Paderborn 2002.

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Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen In der kulturellen Umwelt, in der sich das frühe Christentum entwickelte, gab es ein facettenreiches Spektrum von Vorstellungen davon, was Krankheiten sind, durch welche Ursachen Krankheiten entstehen bzw. in welcher Weise man Krankheiten therapieren kann. Auch wenn Frühformen medizinischer Studien sich bereits in der ägyptischen und verschiedenen altorientalischen Traditionsbildungen beobachten lassen, so werden die Wurzeln der abendländischen Medizin mit den Namen Asklepios und v. a. Hippokrates von Kos und den von ihnen inspirierten Schulbildungen verbunden. Um diesen Sachverhalt für das Verständnis der Jesus zugeschriebenen Heilungen angemessen erfassen zu können, sollen im Folgenden zunächst die für die hellenistisch-römischen Kontexte im hohen Maße relevanten Asklepios-Kulte und deren mythologische Hintergründe skizziert werden (1.). Daraufhin wird erläutert, in welcher Weise man die hippokratischen Traditionen, die ihrerseits aus den Asklepios-Traditionen hervorgegangen sind, als die Anfänge einer schulmäßig betriebenen Heilkunde verstehen kann (2.). Neben diesen medizinhistorischen Aspekten gilt es, sich aber auch zu vergegenwärtigen, welches soziale Ansehen Ärzte im Imperium Romanum zur Zeit des frühen Christentums hatten bzw. in welche soziale Situationen Kranke geraten konnten (3.). Vor diesem Hintergrund soll schließlich angedeutet werden, in welcher Weise im frühen Christentum der Umgang mit dem Phänomen Krankheit von den skizzierten antik-mediterranen Gegebenheiten beeinflusst wurde (4).

1. Asklepios-Traditionen und Asklepios-Heiligtümer Die Asklepios-Traditionen und die an Asklepios-Heiligtümer praktizierten Therapieformen sind ein eindrückliches Beispiel für die sukzessive Entwicklung eines antiken Heilwesens (grundlegend hierzu Riethmüller 2005). Asklepios ist das prominenteste Beispiel einer Vielzahl von Gestalten, die in der antik-mediterranen Welt als numinose Heiler verehrt wurden. Griechischer Mythologie zufolge gilt Asklepios als ein Halbgott, insofern er der Sohn des Gottes Apollon und der menschlichen Königstochter Koronis sei (Pind. Pyth. Od. 3,1-3). In die besondere Stellung eines numinosen Heilers gelangte er jedoch nur aufgrund eines ›familiären Dramas‹, wie es sich in den Begegnungen zwischen den Göttern der griechischen Mythologie und ihren menschlichen Partnern bzw. Partnerinnen oftmals zugetragen haben soll. Demnach wurde Koronis von Artemis, der Zwillingsschwester Apollons, getötet, weil sie sich mit einem sterblichen Menschen einließ, obwohl sie bereits von Apollon ein Kind erwartete. Als der Leichnam der Koronis auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, rettete den mythologischen Traditionen zufolge der Götterbote Hermes den noch ungeborenen Asklepios. Hermes sorgte wiederum dafür, dass Asklepios von dem Zentauren Cheiron aufgezogen wurde, dem Asklepios die medizinischen Kenntnisse verdankt, die er selbst von Apollon übermittelt bekommen hat. Durch diese mythologische Vorstellung wird Asklepios somit zu einer Mittlerfigur stilisiert, der den Menschen das göttliche Wissen über die Kunstfertigkeit des Heilens nahebringt. Gleichwohl wird diese Mittlerschaft für den Asklepi0s der mythologischen Tradition zugleich zu seinem Schicksal, da er aufgrund einer zu 79

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Abb. 1: Verbreitung der Kultorte des Asklepios in der Ägäis

Abb. 2: Anlage des Asklepiosheiligtums in Epidauros (1:3000): 1 Bad aus der griechischen Zeit; 2 Palaistra mit (in römischer Zeit) eingebautem Odeion; 3 Propylon; 4 Sog. jüngere Liegehallen mit der Stoa des Kotys (?); 5 Ältere Liegehallen; 6 Artemis-Tempel; 7 Asklepios-Altar; 8 Asklepios-Tempel; 9 Eukoimeterion oder Abaton, d. i. Halle für den Heilschlaf der Genesungssuchenden; 10 Tholos; 11 und 12 Thermen der römischen Kaiserzeit; 13 Kaiserzeitliches Heiligtum ägyptischer Gottheiten.

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Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen

Abb. 3: Darstellung des Asklepios als Arzt

erfolgreichen Tätigkeit (insbesondere aufgrund einer Totenauferweckung) schließlich von Zeus getötet wird. Neben diesen mythologischen Traditionen bleibt die historische Gestalt des Asklepios relativ schwer zu greifen. Dieses zeigt sich einerseits schon daran, dass in Griechenland gleich mehrere Städte und Regionen um die Ehre konkurrierten, der Ort der Geburt bzw. der Bestattung des Asklepios zu sein. Andererseits wurde Asklepios erst sukzessive zu einer halbgöttlichen Gestalt stilisiert. In den ältesten erhaltenen literarischen Überlieferungen wird er nämlich viel mehr als eine für seine medizinischen Kenntnisse berühmte menschliche Person verehrt. Eindrücklich zeigt sich dies in den entsprechenden Erwähnungen Homers. So wird Asklepios z. B. in Hom. Il. 4,194 beiläufig als Vater des Machaon erwähnt und dabei als ›unvergleichbarer‹ bzw. ›untadeliger‹ Arzt bezeichnet (»Aber es prüfe der Arzt die blutende Wund’, und lege Linderung drauf, um vielleicht die dunkele Qual zu bezähmen. Sprach’s, und rief Talthybios schnell, den göttlichen Herold: Auf, Talthybios, eil’ und rufe mir schleunig Machaon, Ihn, Asklepios Sohn, des unvergleichbaren [bzw. untadeligen] Arztes [⁄mÐmono@ §ht»ro@ – amymonos ie¯te¯ros]«). Dass er dabei als ein Halbgott der Menschheit ein göttliches Wissen über richtige Therapieformen übermittelt hat, wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Das Motiv einer durch den Zentauren vermittelten Belehrung wird stattdessen in Bezug auf Achilles erwähnt (vgl. Hom. Il. 11,833f.). Doch auch unabhängig von diesen Phänomenen kann festgehalten werden, dass in griechischen und kleinasiatischen Regionen Asklepios gewidmete Kultstätten eine sukzessiv wachsende Bedeutung erlangten (vgl. die beiliegende Karte Abb. 1). AsklepiosHeiligtümer waren Stätten einer strukturierten Form von Krankenheilungen, die einen großen Zulauf aus unterschiedlichen Regionen erleben konnten (die bedeutendsten bzw. bekanntesten Kultstätten befanden sich in Epidauros, Athen, Knidos, Naupaktos, Pergamon, Sikyon und auf Kos bzw. der Tiberinsel in Rom). Auch wenn die durch Inschriften und literarische Erzählungen bekannten Therapieformen zwar regional bedingte Dif81

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ferenzen aufweisen konnten, lassen sich einige zentrale Charakteristika des Kultes herausarbeiten. Asklepios-Heiligtümer konnten ein relativ großes Areal umfassen, in dessen äußeren Gebieten die neu eintreffenden Patienten auf den Heilungsritus vorbereitet wurden (vgl. die beiliegende Skizze der Anlage in Epidauros Abb. 2). Letzterer bestand v. a. in einem Inkubationsschlaf, der im Tempelareal der Anlage vorgenommen wurde. Diesen Vorstellungen zufolge erschien Asklepios im Schlaf den Kranken, nahm medizinische Handlungen vor und erteilte den Leidenden zuweilen sogar Ratschläge für eine gesündere Lebensführung. Wenn Kranke wiederum Genesung erfuhren, so war es ihnen aufgetragen, die erfahrenen Wohltaten inschriftlich zu bezeugen. Aus solchen archäologisch vielfach erhaltenen Inschriften geht wiederum hervor, dass die vermeintlich durch eine Epiphanie des Asklepios vermittelten Ratschläge schlicht frühe Formen schulmedizinischer Praktiken sind (exemplarisch sei verwiesen auf die aus dem 2. Jh. v. Chr. stammende Inschrift des Apellas: »Ich, M. Iulius Apellas, … wurde von dem Gott hergerufen, da ich oft in Krankheiten fiel und an Verdauungsstörungen litt. … Als ich im Heiligtum angekommen war, befahl er mir, zwei Tage lang das Haupt zu verhüllen, an denen dann Regengüsse kamen; Käse und Brot zu mir zu nehmen, Sellerie und Lattich … allein zu baden und dem Bademeister eine attische Drachme zu geben; dem Asklepios zu opfern. … Er befahl mir auch, das aufzuschreiben. Mit dankbarem Herzen und gesund geworden verabschiedete ich mich« [zur Übersetzung und Kommentierung vgl. F. Steger 2004, 154f.]). Eine Vielzahl vergleichbarer inschriftlicher Zeugnisse dokumentieren, dass die Grenzen zwischen Hoffnungen auf Heilungswunder und einer Inanspruchnahme medizinischen Wissens in den Anfängen naturheilkundlicher Forschung fließend verlaufen konnten. Hierzu passt es, dass z. B. bei dem berühmtesten Asklepeion der Antike in Epidauros medizinische Instrumente gefunden wurden, die entsprechenden Beschreibungen im Corpus Hippokratikum ähneln (Krug 1993, 73-75). Dieser archäologische Befund korreliert seinerseits damit, dass Asklepios ikonographisch oft als Arzt dargestellt wurde (vgl. Abb. 3). An diesen Phänomenen zeigt sich, in welcher Weise die Asklepios-Traditionen und die hippokratischen Traditionen sich wechselseitig beeinflussen konnten und so die Anfänge der abendländischen Medizingeschichte initiierten.

2. Hippokrates und das Corpus Hippocratikum Die Wurzeln der abendländischen Medizin sind untrennbar mit dem Namen Hippokrates von Kos (460-370 v. Chr.) und den von ihm inspirierten Schulbildungen verbunden (grundlegend hierzu Golder 2007). Wie nahe die Anfänge dieser Traditionsbildungen und die Asklepios-Kulte einander standen, zeigt sich wiederum daran, dass Hippokrates aus dem Geschlecht der Asklepiaden stammt, die sich selbst in ein Verwandtschaftsverhältnis zu Asklepios gestellt haben. Neben seinem Vater Heraklides wurde er u. a. von dem vorsokratischen Naturphilosophen Demokrit von Abdera (ca. 459-380 v. Chr.) unterrichtet, was sich auch in seinem wissenschaftlichen Wirken widerspiegeln sollte (v. a. in der hippokratischen Körpersäftelehre). Hippokrates wirkte einerseits als wandernder Arzt in unterschiedlichen griechischen und kleinasiatischen Regionen, andererseits leistete er aber auch einen entscheidenden Beitrag für die Ausbildungen medizinischer Schulbildungen. Bereits im 4. Jh. v. Chr. können mindestens fünf hippokratische Schulen unterschieden werden, deren Lehren im so genannten Corpus Hippocratikum schriftlich 82

Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen

manifestiert wurden. Eine Vielzahl der v. a. in einem ionischem Dialekt abgefassten Schriften sind bereits im 5. und 4. Jh. entstanden. Auch wenn unklar ist, welche Schriften auf Hippokrates selbst zurückgeführt werden können (möglich erscheint dies v. a. für die Schriften Epidemien I, III, VII; Prognostikon; Über die heilige Krankheit; Über die Umwelt; De fracturis/De articulis), wurden in hellenistischer Zeit eine Vielzahl medizinischer Werke in Alexandrien zu einer Sammlung kompiliert und dem Traditionsgaranten Hippokrates zugeschrieben. Diese Sammlung wurde wiederum systematisch erweitert und kommentiert (die ältesten Kommentare sind mit den Namen Bacchius und Euphorion verbunden). Entsprechende Sammlungen und Kommentierungen wurden auch im Imperium Romanum kontinuierlich fortgeführt. Wie sehr sich diese Prozesse auch zur Zeit der Entstehung des frühen Christentums weiter vollzogen haben, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in dieser Phase erstmals der so genannte hippokratische Eid erwähnt wird, nämlich von dem römischen Arzt Scribonius Largus, der zum Hofstatt des Kaisers Claudius gehörte und damit zwischen 41 und 54 nach Jesu Geburt gewirkt haben muss. Noch Galenos von Pergamon (129-199/216 n. Chr.), der neben Hippokrates bedeutendste Arzt der Antike, kommentierte detailliert das Corpus Hippocratikum und erweiterte es durch eigene Forschungsergebnisse. Gattungsgeschichtlich betrachtet bildet das Corpus Hippocratikum jedoch keine einheitliche Größe, da es wissenschaftliche Lehrbücher, Sammlungen von Arbeits- bzw. Forschungsnotizen oder auch Vorträge umfassen kann. Innerhalb der hippokratischen Traditionen bildeten sich unterschiedliche Schulbildungen aus, von denen die koische und die knidische Schule besondere Bedeutung erlangten. Die koische Schulbildung ging von einer Allgemeinerkrankung mit individuellen Abwandlungen aus, die knidische Schulbildung von lokalisierbaren Einzelerkrankungen. Im Kontrast zu vorgegebenen Heilungstraditionen zeichnen sich diese Schulbildungen dadurch aus, dass sie sich von magisch-religiösen Vorstellungen distanzieren und naturphilosophische Erklärungsmodelle von Krankheitsphänomenen zu entwickeln versuchen (vgl. Hippocr. genit.1: »Das [Natur-]Gesetz beherrscht alles«, vgl. hierzu Golder 2007, 120f.). Ein Charakteristikum hippokratischer Traditionen besteht in der kosmologischen und anthropologischen Vorstellung, dass zwischen dem menschlichen Körperbau und der individuellen charakterlich-psychischen Konstitution einerseits und zwischen dem einzelnen Körper und dem Weltganzen andererseits ein Zusammenhang besteht (u. a. Hippocr. vict.1,10: »Alles im Körper ist eine Nachbildung des Weltganzen«; Hippocr. hebd. 12: »Ich werde nun zeigen, dass sowohl die Gesamtwelt als auch alle ihre Körper bei einer Störung das Gleiche erleiden« bzw. Hippocr. virg. 1: »Der Ausgangspunkt der ärztlichen Kunst ist … die Zusammensetzung der ewigen Dinge [d. h. des Makrokosmos]; denn es ist unmöglich, die Natur der Krankheiten zu erkennen – das ist es ja gerade, was zu finden Sache der ärztlichen Kunst ist –, wenn man nicht die Natur in ihrer Unteilbarkeit von Anfang an kennt, aus der heraus sie sich entwickelt haben« [zu dieser als Solidarpathologie zu bezeichnenden Vorstellung vgl. Golder 2007, 132f.]). Einen zweiten integralen Bestandteil hippokratischer Schultraditionen bildet die aus der vorsokratischen Naturphilosophie entlehnte Körperflüssigkeitenlehre, der zufolge Krankheitssymptome das Bestreben des Körpers dokumentieren, kranke Säfte unschädlich zu machen und auszustoßen (als die wichtigsten Substanzen gelten dabei Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle). Der Arzt kann durch Verordnungen zur Lebensführung, durch die Verabreichung von Heilmitteln oder auch durch operative Eingriffe den Heilungsprozess des Körpers unterstützen. In dieser Hinsicht gehen aus den sukzessiv wachsenden 83

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hippokratischen Traditionen auch die Anfänge einer pharmakologischen Forschung hervor. Exemplarisch sei diesbezüglich verwiesen auf Pedanius Dioskurides, dessen um ca. 60-78 n. Chr. entstandenes Hauptwerk Per½ ˜lh@ §atrikffi@ (Peri hyle¯s iatrike¯s; lat. De materia medica) die im Corpus Hippocratikum verwendeten Heilmittel beschreibt bzw. analysiert und der in dieser Hinsicht zu einem Wegbereiter abendländischer Pharmakologie wurde.

3. Die Lage von Kranken im Imperium Romanum zur Zeit des frühen Christentums Um die Eigentümlichkeit der frühchristlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Krankheit angemessen erfassen zu können, gilt es, sich nicht nur die traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Asklepios- und Hippokrates-Traditionen zu vergegenwärtigen. Ebenso bedeutend ist die Frage, in welche soziale Lage Menschen durch Krankheiten geraten bzw. welches soziale Ansehen Ärzte im Imperium Romanum zuweilen haben konnten. In der römischen Literatur des 1. und 2. Jh. begegnet eine breite Fülle von Ausführungen über Ärzte und Krankenfürsorge (vgl. Avalos 1995). Bis auf wenige Ausnahmen lässt sich dabei eine Hochachtung des Hippokrates und der hippokratischen Traditionen beobachten. Dieses Lob geht jedoch oft einher mit einer Klage, die sich in unterschiedlichsten literarischen Formen dokumentiert, nämlich die Klage über eine Vielzahl fachlich unfähiger und profitgieriger Ärzte. Ein Grundmotiv ist dabei, dass zumeist nur wohlhabende Menschen sich eine ärztliche Fürsorge leisten konnten. Beispiele honorarfreier Behandlungen gab es, aber nur sehr selten. Stattdessen beklagt z. B. Seneca als einer der bedeutendsten Vertreter der kaiserzeitlichen Stoa, dass die schlechte Lage von Kranken einen sozialen Sprengstoff bildet, dessen Konsequenz noch nicht abzusehen seien. Er moniert, dass es aus reiner Profitgier eine Vielzahl vermeintlicher Ärzte gab, bei denen sich bei eingehender Prüfung herausstellte, dass sie nicht einmal lesen konnten. Von einem besonders delikaten Beispiel hierfür erzählt der zeitgenössische Dichter Martial, nämlich von einem gewissen Diaulus. Martial zufolge wurde Diaulus genötigt, aufgrund offensichtlicher Unfähigkeit seine ärztliche Tätigkeit einzustellen. Daraufhin soll Dialaus als Totengräber tätig gewesen sein. Süffisant merkt Martial an, dass er eigentlich das Gleiche tue wie vorher, insofern er Menschen unter die Erde bringe. Dass eine solche Polemik nicht frei erfunden ist, dokumentieren auch viele Grabinschriften, in denen beklagt wird, dass der Verstorbene das Opfer unfähiger Ärzte geworden sei. Ein weiteres Zeugnis, welches für die soziale Situation von Kranken im Imperium Romanum zur Zeit des frühen Christentums aufschlussreich ist, wurde von Lucius Iunius Moderatus Columella (4-70 n. Chr.) verfasst. In seinem 12 Bücher umfassenden Werk De re rustica libri XII (Über die Landwirtschaft) bietet Columella die ausführlichsten erhaltenen Beschreibungen so genannter ›Valetudinarien‹. Letztere sind für die vorliegende Fragestellung von Relevanz, insofern in medizinhistorischen Diskursen diskutiert wird, ob Valetudinarien als Vorläufer antiker Hospitäler bzw. Krankenhäuser verstanden werden können. Die Verbreitung solcher Valetudinarien lassen sich archäologisch in unterschiedlichen Regionen des Imperium Romanum nachweisen. Columella zufolge wurden Valetudinarien von reichen Gutsbesitzern finanziert und dienten dazu, Sklaven medizi84

Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen

nisch zu versorgen. Diese Versorgung diente jedoch ausschließlich der Wiedergewinnung von Arbeitskraft. Menschen, bei denen keine Aussicht auf Heilung bestand, wurden Columella zufolge schlicht ihrem Schicksal überlassen. Ferner berichtet Columella, dass in Valetudinarien auch Fremde bzw. Reisende aufgenommen wurden, die aus unterschiedlichen Ursachen einer medizinischen Versorgung bedurften. Eine Inanspruchnahme der Valetudinarien konnte jedoch massive finanzielle Entschädigungsforderungen nach sich ziehen.

4. Frühchristliche Adaptionen und Auseinandersetzung mit antik-mediterraner Heilkunde Bereits in den alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen als den wichtigsten traditionsgeschichtlichen Wurzeln des frühen Christentums lässt sich ein facettenreiches Spektrum unterschiedlicher Verständnisse des Phänomens Krankheit und der Therapien von Krankheiten beobachten (ausführlich hierzu Kollmann 1996). So kann z. B. einerseits das vermutlich nachexilisch entstandene Diktum Ex 15,26 (»Ich bin der Herr, dein Arzt«) als eine implizite Kritik an altorientalischen Heilungsvorstellungen verstanden werden, die eine kulturelle Assimiliation zu vermeiden versucht (Lohfink 1988). Andererseits findet sich in der wesentlich jüngeren, durch die Septuaginta tradierten Schrift Jesus Sirach eine äußerst positive Adaption hellenistisch-römischer Heilkunde: Sir 38,1 Ehre den Arzt (tfflma §atrn tima iatron) mit gebührender Verehrung/Honorar, damit du ihn hast, wenn du ihn brauchst; 2 denn der Herr hat ihn geschaffen, und die Heilung kommt von dem Höchsten, (…) 4 Der Herr lässt die Arznei aus der Erde wachsen (kÐrio@ ˛ktisen ¥k g»@ f€rmaka kyrios ektisen ek ge¯s pharmaka), und ein Vernünftiger verachtet sie nicht. (…) 6 Und er hat solche Kunst den Menschen gegeben, um sich herrlich zu erweisen durch seine wunderbaren Mittel. 7 Damit heilt er und vertreibt die Schmerzen, und der Salbenmischer/Apotheker macht Arznei daraus (murey@ ¥n toÐtoi@ poiffisei me…gma myrephos en toutois poie¯sei meigma), 8 damit Gottes Werke kein Ende nehmen und es Heilung durch ihn auf Erden gibt.

Die im 2. Jh. v. Chr. entstandene Schrift Jesus Sirach dokumentiert somit ein traditionsbewusstes palästinisches Judentum, welches hellenistischen Bildungstraditionen positiv gegenübersteht und eine schöpfungstheologisch reflektierte Akzeptanz naturheilkundlicher Praktiken propagiert, die als ein Segen Gottes verstanden werden. Vergleichbare Auseinandersetzungen mit den skizzierten naturheilkundlichen Entwicklungen lassen sich auch in unterschiedlichen Traditionskreisen des frühen Christentums erkennen. Dabei gibt es ein Themenfeld, an dem diese Entwicklungen sachgemäß besonders eindrücklich zu Tage treten. Frühe Jesus-Traditionen erzählen nicht nur von Heilungen Jesu, sie betonen ebenso, dass Jesus auch seine Nachfolger dazu beauftragte, ihrerseits Kranke zu heilen. Und an den frühchristlichen Interpretation dieses Auftrags lässt sich eindrücklich beobachten, wie im frühen Christentum entsprechende Vorstellungen der hellenistisch-römischen Umwelt adaptiert und modifiziert wurden (dies gilt auch für Erzählungen von Wundertätern wie Philopseudes, Alexander von Abunoteichus oder Apollonius von Tyana).

Enno Edzard Popkes 85

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Literatur zum Weiterlesen H. I. Avalos, Illness and health care in the ancient Near East. The role of the temple in Greece, Mesopotamia, and Israel, HSM 54, Atlanta 1995. M. Dörnemann, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter, STAC 20, Tübingen 2003. H. C. Kee, Medicine, Miracle and Magic in New Testament Times, SNTS.MS 55, London 1986. A. Krug, Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike, München 1985 (21993). T. Lehmann (Hg.), Wunderheilungen in der Antike: von Asklepius zu Felix Medicus (Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung der Humboldt-Universität zu Berlin und des Medizinhistorischen Museums der Charité; Berliner Medizinhistorisches Museum; 10. November 2006-11. März 2007), Oberhausen 2006. E. Seidler/K.-H. Leven, Geschichte der Medizin und Krankenpflege, 7., erw. Auflage, Stuttgart 2003.

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Krankheitsbilder und soziale Folgen: Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Taubstummheit Blindheit, Lähmung, Aussatz und Taubheit oder Taubstummheit nehmen in den Wundergeschichten der Jesustradition breiten Raum ein. In der Antwort Jesu auf die Täuferanfrage gilt die Heilung dieser Leiden als Charakteristikum seiner Wunderpraxis schlechthin (Mt 11,5 par.). Die angesprochenen Krankheiten oder Behinderungen lassen sich nicht allein in medizinisch-diagnostischen Kategorien erfassen, sondern betreffen den Menschen in seiner Gesamtheit. Durch Krankheit wird die gewohnte Ordnung der körperlichen Funktionen, der seelischen Befindlichkeit und der sozialen Bezüge durchbrochen. Die Beschreibung einer verlässlichen medizinischen Diagnose in den Krankenheilungsberichten der Evangelien gestaltet sich schwierig (vgl. Hengel/Hengel 1959, 331361) und bleibt über weite Strecken hypothetisch. Die Wundergeschichten sind keine Dokumente aus dem Bereich der empirischen Medizin. Sie zeigen kaum Interesse an einer detaillierten Beschreibung des Krankheitsbilds und einer Ätiologie der Leiden. Präferenz hat vielmehr die Frage nach Heilung und Erlösung. Die Krankheit wird in der Regel nur kurz dargestellt, um vor dem Hintergrund der Schwere des Leidens die Bedeutung der wunderbaren Heilung hervorzuheben. Dennoch ist der Versuch einer Erhellung der Krankheitsbilder nicht gänzlich aussichtslos, auch wenn man dabei kaum über die Mutmaßungen hinauskommt, die bereits in älteren medizingeschichtlichen Untersuchungen zum Thema (Ebstein 1965; Seng 1926; Fenner 1927) angestellt wurden. Daneben sind auch die religiösen Implikationen und sozialen Folgen der Leiden in den Blick zu nehmen.

1. Blindheit Von Blindenheilungen ist in der Evangelienüberlieferung besonders häufig die Rede. Jesus gibt dem Blinden von Betsaida (Mk 8,22-26), dem blinden Bartimäus aus Jericho (Mk 10,46-52 par.) und einem Blindgeborenen aus Jerusalem (Joh 9,1-7) das Augenlicht zurück. Zudem bietet Matthäus als Ersatz für die von ihm ausgelassene Heilung des Blinden von Betsaida einen weiteren Blindenheilungsbericht (Mt 9,27-31) und erweitert bei der zur Beelzebulkontroverse führenden Dämonenaustreibung aus der Logienquelle das Leiden des Besessenen um das Motiv der Blindheit (Mt 12,22). Anders als in vielen Blindenheilungsberichten aus der Umwelt des Neuen Testaments bleibt das Krankheitsbild in den Evangelientraditionen mehr als unscharf. Im Tobitbuch, das in der römisch-katholischen Tradition zum alttestamentlichen Bibelkanon zählt, wird das Augenleiden des Protagonisten mit einem einschlägigen Fachbegriff aus der antiken Medizin als Leukom, eine weiß aussehende Vernarbung der Hornhaut, bezeichnet und auf die ätzende Wirkung von Vogelkot zurückgeführt (Tob 2,10). Einzelne Blindenheilungsberichte aus Epidauros beschreiben exakt den Zustand des nicht mehr funktionsfähigen Auges oder berichten von Verwundungen, die zum Verlust der Sehkraft führten (vgl. Herzog 1931, 95-97). In den Evangelien dagegen werden die Heilungsbedürftigen stereotyp als blind (tufl@ typhlos) charakterisiert, ohne dass Details zu 87

Themenartikel

Art oder Ursache der Sehstörungen mitgeteilt würden. In den Fällen, wo Jesus sich volkstümlicher Praktiken bedient und eine Speicheltherapie zur Anwendung bringt (Mk 8,2226; ähnlich Joh 9,1-7), scheint eine natürliche Ursache der Sehunfähigkeit vorausgesetzt zu sein, die sich durch Heilmittel beheben lässt. Ein Blick auf die Anwendungsbereiche von Speichel in der antiken Volksmedizin eröffnet vorsichtige Rückschlüsse auf das Krankheitsbild in den neutestamentlichen Erzählungen. In der Naturkunde des Plinius d. Ä. (23-79 n. Chr.) wird bei Augenentzündungen, blutenden Augen und Augenfluss zum Auftragen von Speichel geraten. Der medizinische Schriftsteller Marcellus Empiricus (4./5. Jh. n. Chr.) bezeugt die Verwendung von Speichel als Heilmittel gegen Rauheit der Augen, Augenflecken und grauen Star. Der Arzt Paulus von Ägina (7. Jh.) empfiehlt Speichel gegen Augenschwielen und führt seine Heilkraft auf eine reinigende Wirkung zurück (vgl. Belegstellen bei Kollmann 1996, 235). In der Bartimäusgeschichte, wo Jesus allein durch ein charismatisches Wort die Heilung bewirkt, könnte dagegen eine psychogene Sehstörung vorliegen. Ein derartiges Krankheitsbild, bei dem die Seele durch ein Verdrängen angstbesetzter Vorstellungen in ein »Nicht-Sehen-Wollen« die Augen verschließt, ist in der modernen Augenheilkunde als gar nicht einmal so seltenes Phänomen bekannt.

2. Lähmung Neben Blindheit nehmen Lähmungen breiten Raum in den Heilungswundern der Jesustradition ein. Auch hier lässt sich aufgrund der spärlichen Informationen keine zuverlässige medizinische Diagnose erheben. In Mk 2,1-12 und Joh 5,1-9 handelt es sich um Lähmungen derart schweren Grades, dass die Betroffenen sich nicht mehr eigenständig fortbewegen können. Die durch Luthers Bibelübersetzung etablierte und sich nach wie vor gewisser Beliebtheit erfreuende Bezeichnung des Gelähmten (paralutik@ paralytikos) von Kafarnaum als »Gichtbrüchiger« ist eine anachronistische Deutung des Leidens vor dem Hintergrund späterer Fürstenkrankheit, die nicht den geringsten Anhalt am Text hat. Die Charakterisierung des Kranken in Mk 3,1-6 als Mann mit einer verdorrten Hand bedient sich eines traditionellen bildlichen Ausdrucks für Lähmungen, die auf eine Auszehrung des Körpers zurückgeführt wurden. Gleichzeitig ruft der Begriff die Erinnerung daran wach, dass Gott sowohl Jerobeam (1Kön 13,4-6) als auch Simeon (TestSim 2,11-14) zur Strafe vorübergehend die Hand verdorren ließ. Die Lähmung in Lk 13,10-17 wird als Verkrümmung charakterisiert und ist von solcher Intensität, dass die davon betroffene Frau sich nicht mehr vollständig aufzurichten vermag. Wenn es heißt, dass die Frau einen »Geist der Schwäche« hat, wird die Lähmung auf das Wirken eines Dämons zurückgeführt. Eine verlässliche medizinische Diagnose kann man nicht stellen, auch wenn beispielsweise Skoliosis hysterica, eine psychosomatische Lähmung im Bereich der Wirbelsäule, in Erwägung gezogen wurde (Fenner 1927, 54f.; Grundmann 1971, 279). Die einer Steigerung des wunderhaften Elements dienenden Angaben zur Krankheitsdauer in Joh 5,1-9 und Lk 13,10-17 implizieren, dass es sich nicht um angeborene Lähmungen handelt. Jesus vollzieht die Gelähmtenheilungen durch charismatische Worte, die von einer Handauflegung begleitet sein können. Dies legt die Vermutung nahe, dass es sich um die Heilung psychogener Lähmungen handelt, wie es auch für die zahlreichen Gelähmtenheilungen im Asklepiosheiligtum von Epidauros vorauszusetzen 88

Krankheitsbilder und soziale Folgen

sein dürfte. Psychogene Bewegungsstörungen sind in der neurologischen Psychosomatik ein bekanntes Phänomen (vgl. Nowak 2002, 199-210; Henningsen 2006, 117-129).

3. Aussatz Über die Heilung von Aussatz finden sich in der Jesustradition zwei Erzählberichte (Mk 1,40-45 par.; Lk 17,11-17). Wenn das Neue Testament die Aussätzigen als leproffl (leproi) bezeichnet, kann ihr Leiden nicht mit dem gleichgesetzt werden, was wir heute unter Lepra verstehen. Das Adjektiv lepr@ (lepros) hat die Bedeutung »rau«, »schuppig«, »schorfig«. Die moderne Medizin bezeichnet mit dem Begriff Lepra die so genannte Hansen-Krankheit, die als bakterielle Infektionskrankheit die Haut und das periphere Nervensystem befällt. Sie führt zu Verunstaltungen und Verstümmelungen des Körpers. Bis zur Mitte des 20. Jh. gab es keine wirksamen Medikamente gegen dieses Leiden. Die Hansen-Krankheit war der Sache nach bereits in der Antike bekannt. Sie wurde im 4. Jh. v. Chr. infolge des Indienfeldzugs von Alexander dem Großen in den Mittelmeerraum eingeschleppt und begegnet in der antiken Medizin unter der Bezeichnung Elephantiasis. Ein aus dem 1. Jh. n. Chr. stammendes Leichentuch mit Skelettresten aus einem Grabfund in Jerusalem deutet darauf hin, dass der darin eingehüllte erwachsene Mann sich mit Tuberkulose und der Hansen-Krankheit infiziert hatte (Gibson 2010, 53f.). Unter Lepra verstehen die Schriften des Hippokrates hingegen Schuppenflechte oder andere harmlose Hautveränderungen (Wohlers 1999a, 295f.). Auch die in Lev 13 aufgelisteten Krankheiten, die im hebräischen Text unter den von der Septuaginta mit lepr€ (lepra) wiedergegebenen Begriff zaraat eingeordnet werden, haben nichts mit der in der Antike tödlich verlaufenden Hansen-Krankheit zu tun (vgl. Grmek 1989, 160-168). Vielmehr handelt es sich um Schuppenflechte und verwandte Hautkrankheiten, die grundsätzlich heilbar sind, wie es die Anordnungen von Lev 13 ausdrücklich voraussetzen. Daneben scheinen unter den Begriff zaarat/lepra aber auch lebensbedrohliche Krankheiten subsumiert worden zu sein, wie es die alttestamentliche Beschreibung des Aussatzes von Mirjam (Num 12,10-12) nahelegt. Für die neutestamentlichen Wunderberichte lässt sich keine präzisere Diagnose des dort als lepra begegnenden Krankheitsbildes erheben. Die Berichte haben kein Interesse an Details, während in der rabbinischen Tradition dutzende Arten von Aussatz beschrieben und voneinander unterschieden werden (Billerbeck 1928, 745-763). Bei den Aussätzigen in der Lebenswelt Jesu dürfte es sich ganz überwiegend um Personen handeln, die an harmlosen Hautveränderungen litten. Die Variante von Mk 1,40-45 im Papyrus Egerton 2 (Schneemelcher 1990, 84f.) berichtet allerdings, der Aussätzige habe sich sein Leiden beim gemeinsamen Wandern und Essen mit anderen Aussätzigen zugezogen, und geht damit von einer ansteckenden Krankheit aus.

4. Stummheit und Taubstummheit Unter Stummheit versteht man die Unfähigkeit zu sprechen oder sich in normaler Sprache zu artikulieren. Stummheit hat oftmals genetische Ursachen, wird aber auch durch psychische Einflüsse (seelisch bedingtes Schweigen) oder physiologische Deformationen des Sprachapparats (z. B. Schädigung der Stimmbänder) hervorgerufen. Eine Sonder89

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form ist die umgangssprachlich mit dem veralteten Begriff der Taubstummheit bezeichnete Hörstummheit (Audimutitas). Dieses Leiden entsteht aufgrund einer angeborenen oder in der frühen Kindheit eingetretenen Erkrankung des Gehörs. Trotz eines von Natur aus voll funktionsfähigen Sprachapparats wird das Sprachvermögen nicht ausgeprägt, da die dazu notwendige akustische Kontrolle der Lautäußerungen nicht möglich ist. Die eigentlich vorhandenen Stimmwerkzeuge bleiben dadurch ungenutzt. Auch beim Verlust des Gehörs im Erwachsenenalter kann es aufgrund der fehlenden Kontrolle der sprachlichen Äußerungen durch das Gehör mit der Zeit zu einer starken Beeinträchtigung des Sprachvermögens kommen. Die Begriffe Stummheit oder Taubstummheit werden von Betroffenen als unangemessen empfunden, da sie trotz eines stark eingeschränkten Sprachvermögens in der Lage sind, sich durch Laute zu artikulieren oder durch Gebärdensprache mit anderen zu kommunizieren. In der Antike konnten beide Krankheiten auf das Wirken böser Geister zurückgeführt werden, wie es sich in der Jesusüberlieferung widerspiegelt. Die Heilung von Stummheit in Lk 11,14 par. vollzieht sich als Dämonenaustreibung. Jesus vertreibt den »stummen Geist« (daimnion kwfn daimonion ko¯phon). Als Krankheitsbild kommt seelisch bedingtes Schweigen (totaler Mutismus) in Betracht, das durch Traumata ausgelöst werden kann, häufig aber auch in Kombination mit Depressionen oder Psychosen auftritt. Möglicherweise denkt der Text aber auch nur an vorübergehende Sprachunfähigkeit während eines epileptischen Anfalls, wie sie Mk 9,17 vorausgesetzt ist. In Mk 7,31-37 wird der Kranke als »taub und lallend« (kwf@ ka½ mogil€lo@ ko¯phos kai mogilalos, 7,32) charakterisiert. Dabei scheint der Bericht davon auszugehen, dass die Zunge des Mannes durch einen bösen Geist gebunden ist. Das eigentliche Wunder besteht in der Heilung der Taubheit. Die Wiedererlangung des Hörvermögens ermöglicht die Kontrolle der sprachlichen Artikulation und zieht den normalen Gebrauch des Stimmapparats nach sich.

5. Religiöse und kultische Implikationen Das Verständnis von Krankheit hängt vom Weltbild der jeweiligen Gesellschaft ab und ist im Kulturvergleich erheblichen Differenzen unterworfen. Die religiösen Implikationen und kultischen Folgen von Krankheit oder Behinderung in der Lebenswelt Jesu sind von weitreichender Bedeutung für das Leben der Betroffenen. Es ist ein frühes Phänomen des gesellschaftlichen Umgangs mit Krankheit, dass mit der Stigmatisierung von Kranken eine Schuldzuweisung einhergeht. Der Vorwurf, das Leiden sei unwissentlich oder wissentlich selbst verursacht, lenkt vom Gesunden weg und wälzt Schuld auf den Erkrankten ab (Obermayer-Pietsch 2007, 273). Verbreitet war auch die Vorstellung, dass Krankheit oder Behinderung die an den Kindern vollzogene Strafe Gottes für ein anstößiges Verhalten der Eltern beim Geschlechtsverkehr darstellte (bNed 20a). Inwieweit kranke oder behinderte Menschen für ihre Situation selbst verantwortlich sind, wird im antiken Judentum ambivalent beurteilt. Die Bücher Hiob und Tobit durchbrechen das in alttestamentlicher Zeit vorherrschende Verständnis von Krankheit als einer von Gott verhängten Strafe für Fehlverhalten und stellen heraus, dass auch der untadelige Gerechte von Leid betroffen sein kann (Hi 2; Tob 1f.). Dennoch liegt in den Tagen Jesu die Vorstellung eines kausalen Zusammenhangs von Krankheit und Sünde nach wie vor schnell auf der Hand (vgl. Mk 2,5; Joh 5,14; 9,3). Die Heilungsberichte der Evangelien weisen dies z. T. aus90

Krankheitsbilder und soziale Folgen

drücklich zurück und sehen mehrheitlich den kranken oder behinderten Menschen ohne eigenes Verschulden dem Machtspiel feindlicher Mächte ausgesetzt, von denen er durch die überlegene Kraft des Wundertäters befreit wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt der religiösen Deutung und Bewältigung von Krankheit ist die Hoffnung, dass Gott in der eschatologischen Heilszeit körperliche Leiden und Gebrechen wie Blindheit, Lähmung oder Stummheit hinwegnehmen wird (Jes 29,18f.; 35,5f.; 61,1). Eine zentrale Rolle für das religiöse wie soziale Leben spielt die Beeinträchtigung der Kultfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung. Blinden und Lahmen wurde vermutlich der Zugang zum Jerusalemer Tempel verwehrt (2Sam 5,8). Mit Aussatz war der auch zu sozialer Ausgrenzung führende Verlust der kultischen Reinheit verbunden, die erst nach Bestätigung der erfolgten Heilung durch einen Priester wiederhergestellt werden konnte. Körperlich versehrte Personen waren zudem grundsätzlich nicht zum Priesterdienst zugelassen. In Lev 21,16-21 werden zwölf körperliche Gebrechen oder Defekte genannt, die Ausschlusskriterien für den Priesterdienst darstellen, allen voran Blindheit und Lähmung. Die behindertenfeindliche Priesterauslese nach Prinzipien der Gesundheit und körperlichen Makellosigkeit ist von dem aus dem Hofzeremoniell entlehnten Gedanken getragen, dass das Auge Gottes nicht durch den Anblick verunstalteter Menschen beleidigt werden darf (Gerstenberger 1993, 289). Wohl von ähnlichen Denkvoraussetzungen her ist auch das Opfern blinder oder lahmer Tiere am Tempel verboten (Dtn 15,21). Das halakhische Dokument 4QMMT aus Qumran begründet den Ausschluss von Blinden und Tauben vom Priesterdienst damit, dass sie wegen ihres eingeschränkten Seh- bzw. Hörvermögens nicht in der Lage seien, den Inhalt der Gesetze zu erfassen und dementsprechend die kultischen Handlungen ordnungsgemäß durchzuführen. In der stark vom Ideal der priesterlichen Reinheit geprägten Qumrangemeinde wurde Gelähmten, Blinden, Tauben, Stummen oder mit einem anderen Makel behafteten Personen die Aufnahme verweigert (1QSa 2,3-8). Nach der Kriegsrolle aus Qumran ist dieser Personenkreis auch vom endzeitlichen Krieg der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis ausgeschlossen (1QM 7,4f.).

6. Soziale Folgen Körperliche Leiden wie Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Stummheit haben für die Betroffenen auch in sozialer Hinsicht einschneidende Folgen. Die Betrachtung aussätziger Personen als kultisch unrein zog deren Ausgrenzung aus der Gesellschaft nach sich. Männer, die trotz der Zugehörigkeit zu einer der Priesterklassen aufgrund einer Behinderung den Tempeldienst nicht ausüben dürfen, sind im antiken Judentum auch sozial stigmatisiert. Zudem kann der Kranke oder Behinderte in der Regel nicht für sich selbst sorgen, sondern ist ökonomisch von anderen abhängig. Daher werden Blinde im Alten Testament mit Schwangeren, Wöchnerinnen, Armen oder Waisen auf eine Stufe gestellt, die der Unterstützung durch ihr Umfeld bedürfen (Jer 31,8; Hi 29,12-16). Grundsätzlich herrschte im antiken Judentum eine vorbildliche Sozialfürsorge. Die Zuwendung gegenüber Kranken und Gebrechlichen zählte zu den fest vorgeschriebenen Liebeswerken (Billerbeck 1928, 573-578). Auch in der Endzeitrede Jesu wird die Bedeutung des Krankenbesuchs eingeschärft (Mt 25,36). Die Tora enthält rechtliche Regelungen, die dem Schutz Behinderter vor Willkür und Anfeindung dienen (Lev 19,14; Dtn 91

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27,18). Im weisheitlichen Denken ist das Engagement für behinderte Menschen als ethisches Postulat greifbar (Spr 31,8; vgl. Hi 29,15). Bei körperlichen Leiden wie Lähmung, Blindheit oder Taubstummheit waren die Betroffenen in der Regel sozial integriert, wie es sich auch in den neutestamentlichen Wundergeschichten widerspiegelt. Der Gelähmte aus Kafarnaum (Mk 2,1-12), der Taubstumme aus der Dekapolis (7,31-37) und der Blinde von Betsaida (8,22-26) werden von ihren Angehörigen oder Freunden zum Wundertäter gebracht. Dennoch beeinträchtigen v. a. Stummheit und Taubheit das Sozialleben der davon betroffenen Menschen in hohem Maße, da nur eine erheblich eingeschränkte Kommunikation mit der Umwelt möglich ist. Taubstumme wurden rechtlich in vielerlei Hinsicht mit geistig Behinderten auf eine Stufe gestellt (Preuss 1992, 33f.). Zudem ziehen körperliche Behinderungen eine starke Beeinträchtigung oder den völligen Verlust der Arbeitsfähigkeit nach sich, so dass viele der mit diesen Leiden behafteten Personen ihr Dasein als Bettler fristeten. Anschauliche Beispiele sind der blinde Bartimäus, der in Jericho bettelnd am Straßenrand sitzt (Mk 10,52), oder der Gelähmte, der im Jerusalemer Tempel um Almosen bittet (Apg 3,2). Mit der massiv eingeschränkten Erwerbsfähigkeit sind nicht nur sozialer Abstieg und Armut verbunden, sondern auch ein Verlust der Menschenwürde. Die Variante von Mk 3,1-6 im apokryphen Nazoräerevangelium bringt dies auf den Punkt, wenn dort der an der Hand gelähmte Mann sagt: »Ich war Maurer und verdiente mit (meinen) Händen (meinen) Lebensunterhalt; ich bitte dich, Jesus, daß du mir die Gesundheit wieder herstellst, damit ich nicht schimpflich um Essen betteln muß« (Frey 2012, 641). Wo Ärzte zur Verfügung standen, konnte die Inanspruchnahme ihrer Dienste in den finanziellen Ruin treiben (Lk 8,43). Auch Wunderheiler ließen sich in aller Regel entlohnen (Hippocr. morb. sacr. 1,32; Luc. philops. 16). Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als selbstverständlich, wenn Jesus und die Apostel unentgeltlich Heilung gewährten (Mt 10,8; vgl. Kollmann 1996, 362-375). An Aussatz leidende Menschen waren in der Lebenswelt Jesu in besonderer Weise der Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung ausgesetzt. Anders als Blinde, Lahme, Taube oder Stumme galten sie nach der Tora als kultisch unrein und mussten außerhalb der Gesellschaft leben (Lev 13,45f.). Josephus bestätigt diese Praxis für die neutestamentliche Zeit (Flav. Jos. Apion. 1,281; Flav. Jos. Bell. 5,227). Die in dieser Hinsicht besonders rigide Tempelrolle aus Qumran enthält das Postulat, in jeder Stadt Quartiere für kultisch unreine Personen einzurichten, wobei explizit Aussätzige und menstruierende Frauen genannt werden (11QT 48,23-26). Da man nicht über die medizinischen Kenntnisse verfügte, zuverlässig zwischen infektiösen und nicht infektiösen Formen des Aussatzes zu unterscheiden, waren von dieser Ausgrenzung auch oder sogar ganz überwiegend Personen betroffen, die an harmlosen Hautveränderungen litten.

Bernd Kollmann Literatur zum Weiterlesen R. v. Bendemann/J. N. Neumann, Krankheit und Gesundheit/Lebenserwartung, in: K. Scherberich (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 64-68. M. D. Grmk, Diseases in the Ancient Greek World, Baltimore/London 21995.

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Krankheitsbilder und soziale Folgen

J. N. Neumann, Behinderung, in: K. Scherberich (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 68-71. B. Obermayer-Pietsch, Krankheit, Heilung, Wunder – aus medizinischer Perspektive, in: J. Pichler/C. Heil (Hg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 261-280. S. M. Olyan, Disability in the Hebrew Bible: Interpreting Mental and Physical Differences, Cambridge et al. 2008. M. Wohlers, »Aussätzige reinigt« (MT 10,8). Aussatz in antiker Medizin, Judentum und frühem Christentum, in: S. Maser/E. Schlarb (Hg.), Text und Geschichte, FS D. Lührmann, Marburg 1999, 294-304.

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Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale Jesu exorzistische Tätigkeit lässt sich auf den ersten Blick nur schwer mit dem so eingängigen Bild seiner heilenden Zuwendung zu den Kranken und Ausgegrenzten verknüpfen. Dennoch ist es unbestritten, dass die Dämonenaustreibungen zu Jesu historischem Wirken zu zählen sind und von ihm zutiefst mit seiner Botschaft von der sich auf Erden ausbreitenden Königsherrschaft Gottes verbunden wurden. Das zentrale Logion Jesu, das diesen Zusammenhang offenlegt, findet sich in der Spruchquelle (Q 11,20): »Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen hinauswerfe (¥kb€llw ekballo¯), ist das Reich Gottes bereits zu euch gekommen!« Das hier verwendete Verb »hinauswerfen«, das vermutlich der früheste Beleg für den Gebrauch im Zusammenhang mit einem Exorzismus ist (Twelftree 2007a, 93), begegnet in der griechischen Literatur und in der Septuaginta (LXX), um das Vertreiben von Feinden, die bestimmten Zielsetzungen im Weg stehen, auszudrücken (z. B. Aristoph. Plut. 430; Plato Gorg. 468d). In der LXX geht es dabei speziell um diejenigen, die die Pläne Gottes für sein erwähltes Volk stören und deswegen weichen müssen (z. B. Ex 23,30; Dtn 33,27f.). Auf derselben Linie liegt die Verwendung von ¥kb€llw (ekballo¯) in Q 11,20: Das Weichen der Dämonen macht geradezu empirisch erfahrbar, dass sich ein universaler Herrschaftswechsel vollzieht: Wo sich das Reich Gottes und dessen neue Ordnungsstruktur ausbreiten, ist für Dämonen kein Lebensraum mehr. »Mit jedem Dämon, der ausgetrieben wird und damit seinen Machtbereich freigibt, wächst der Machtbereich der Herrschaft Gottes auf Erden« (Ebner 2004, 143). Schritt für Schritt müssen die Dämonen das Land verlassen und stürzen – wie es beispielsweise Mk 5,1-20 legendarisch verdichtet – in einer Massenpanik zusammen mit der Schweineherde von Gerasa ins offene Meer hinab. Zentral für die jesuanischen Dämonenaustreibungen ist dabei die apokalyptisch geprägte Vorstellung, dass Satan durch Gott selbst bereits vorgängig entmachtet wurde (vgl. Mk 3,27): In einem Himmelskampf ist der Anführer der Dämonen besiegt worden, was Jesus in einer Vision offenbart wurde: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen« (Lk 10,18; vgl. auch Offb 12,7-10). Durch den Sturz Satans, der nach traditioneller Auffassung Ankläger der Menschen vor Gott ist (vgl. Hi 1,6-2,6), sind die ihm unterstellten Dämonen »herrenlos geworden« (Kollmann 2011, 72) und können in der Folge von einem vollmächtigen Exorzisten ausgetrieben werden. Die apokalyptische Vorstellung von der bereits erfolgten Entmachtung Satans unterscheidet das dämonistische Weltbild Jesu von dem des Paulus, für den die Überwindung der gottfeindlichen Kräfte noch aussteht (vgl. 1Kor 15,24-27; ähnlich Offb 12,710). In all diesen Vorstellungen spiegelt sich die jüdische Idee vom zukünftigen Vernichtungsgericht über den Teufel/Satan/Belial und die damit einhergehende Wiederaufrichtung der Königsherrschaft Gottes wider, welche das Ende von Krankheit und Leid bedeutet (vgl. TestLev 18,12-14; AssMos 10,1; vgl. Kollmann 1999, 537).

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Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale

1. Textbefund Der neutestamentliche Textbefund stellt sich folgendermaßen dar (vgl. Trunk 1994, 33; Twelftree 1993, 55f.): Das Markusevangelium enthält vier exorzistische Einzelüberlieferungen (Mk 1,23-27; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-27) sowie drei Summarien, die von Exorzismen Jesu berichten (Mk 1,34; 1,39; 3,11f.). Matthäus und Lukas übernehmen aus Markus jeweils drei Einzelüberlieferungen (Matthäus lässt Mk 1,23-27, Lukas Mk 7,24-30 aus) und fügen aus der Logienquelle Q eine kurze, schematische Dämonenaustreibungserzählung (Mt 9,32f./12,22f. par. Lk 11,14) sowie ein Gleichnis, das von der Ausfahrt eines Dämons und dessen Umherwandern in der Wüste berichtet (Mt 12,43-45 par. Lk 11,24-26), hinzu. Die markinischen Summarien haben die Seitenreferenten dabei selbstständig umgestaltet, um sie in ihr jeweiliges Gesamtkonzept einzupassen. Exorzistische Einzelüberlieferungen Mt

Mk

Lk



1,23-27

4,33-37

8,28-34

5,1-20

8,26-39

15,21-28

7,24-30



17,14-18

9,14-27

9,37-43

9,32f. / 12,22f.



11,14

(12,43-45)



(11,24-26)

Neben den Einzelüberlieferungen und Summarien begegnet der Themenbereich Dämonen/Exorzismen auch in der Wortüberlieferung (Spruchgut). Hier ist beispielsweise das Jesuslogion Lk 13,32 einzustellen. Am prominentesten ist aber sicherlich die Beelzebulperikope Mk 3,22-27, die auch in einer längeren Q-Version (Lk 11,13-23 par.) vorliegt. Darin muss sich Jesus des Vorwurfs erwehren, er würde mit Beelzebul, dem »Herrscher der Dämonen«, gemeinsame Sache machen. Ähnlich wie im Wort vom Satanssturz (Lk 10,18) verweist Jesus in seiner Replik darauf, dass der Kampf im Himmel bereits ausgekämpft wurde und »der Starke gebunden ist« (Mk 3,27 par.). In dieser Fluchtlinie erweisen sich die Dämonenaustreibungen als geradezu logische Konsequenz der Entmachtung Satans im Himmel. Jesus selbst versteht sich mit seiner exorzistischen Tätigkeit dabei als »Werkzeug Gottes« (Kollmann 1996, 191). Die Durchführung von Exorzismen beschränkt sich jedoch nicht allein auf Jesus, sondern er beruft und beauftragt seine Jünger explizit dazu, es ihm gleichzutun (Mk 3,15; 6,7 par.; Mt 10,8; vgl. auch die Beauftragung durch den Auferstandenen im sekundären Markusschluss Mk 16,17). Tatkräftig setzen die Jünger diesen Auftrag um und treiben – zumeist erfolgreich (vgl. aber Mt 17,16!) – die Dämonen aus (Mk 6,13; Lk 10,17-20). Nachösterlich wird diese Anweisung an die Jünger dann auch auf die Missionstätigkeit der christlichen Gemeinden ausgeweitet (vgl. Apg 5,16; 8,7f.; 16,16-18; 19,11f.; 2Kor 12,12). In der Bergpredigt werden charismatische Pseudopropheten erwähnt, die sich in einer fiktiven Endgerichtsszene darauf berufen, im Namen Jesu Dämonen hinausgewor95

Themenartikel

fen zu haben (Mt 7,22). Da sie aber keine Übereinstimmung zwischen Bekenntnis, Haltung und Tat erkennen lassen, wird sie diese Tätigkeit im Endgericht nicht retten können. Auch ein Exorzist, der nicht zum Jüngerkreis gehört, verwendet bei seinen Austreibungen den Namen Jesu (Mk 9,38-41 par. Lk). Dasselbe versuchen sieben jüdische Exorzisten (Apg 19,13-16), die jedoch dramatisch scheitern (vgl. Trunk 1994, 33). Für die Apostelgeschichte ist zu konstatieren, dass die Exorzismen hier deutlich zurücktreten. Etwas ausführlicher wird lediglich die Dämonenaustreibung des Paulus in Philippi erzählt (Apg 16,16-18). Eine gewisse Steigerung lässt sich in den summarischen Notizen erkennen: Allein schon der Schatten des Petrus (Apg 5,15) oder die Tücher des Paulus (Apg 19,12) wirken dämonenvertreibend (vgl. Weber 1999, 24). Der Befund, dass Paulus nach Darstellung der Apostelgeschichte exorzistisch tätig war, ist insofern bemerkenswert, als er sich in seinen Selbstzeugnissen dazu nicht explizit äußert: Paul has neither a clear reference to Jesus being an exorcist, nor an unmistakable statement that he, a self-confessed follower of Jesus, performed exorcisms. Further, Paul does not appear to mention exorcism as part of his expectations for members of his churches. Also, Paul has little to say about demons or evil spirits, at least in the way that is familiar to us from the Synoptic Gospels (Twelftree 2007b, 57; ausführlich a. a. O., 57-77).

Daraus kann zwar keineswegs geschlossen werden, Paulus hätte keine Dämonenaustreibungen durchgeführt (vgl. etwa 1Kor 12,9-11.28-30; 2Kor 12,12), aber in seinen Gemeindeschreiben sah er offensichtlich nicht die Notwendigkeit, dies ausführlich zu thematisieren. Im Johannesevangelium finden sich keine exorzistischen Einzelüberlieferungen oder Summarien. Dass die dämonische Vorstellungswelt jedoch vorhanden ist, zeigt die anschauliche Erzählung von der Einfahrt Satans in Judas (Joh 13,27; vgl. auch Lk 22,3). Auch der Vorwurf der Besessenheit Jesu ist anzutreffen (Joh 7,20; 8,48f.52; 10,20f.), was ohne das Wissen um dessen exorzistische Tätigkeit kaum vorstellbar ist. Da die johanneische Anthropologie jedoch wesentlich auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen für oder gegen Jesus als das »Licht der Welt« (Joh 8,12) abzielt, stören Dämonen als »graue« Zwischenwesen diese Polarität, insofern sie als eine Art parasitäre Besetzer den menschlichen Entscheidungsspielraum blockieren (detaillierter bei Poplutz, Hinführung Johannes).

2. Terminologie In den synoptischen Evangelien werden Dämonen zumeist als »unreiner« bzw. »böser Geist« (pne‰ma ⁄k€qarton pneuma akatharton bzw. pne‰ma ponhrn pneuma pone¯ron) oder schlicht als »Geister« (pneÐmata pneumata) bezeichnet. Das häufigste Lexem ist jedoch das als Lehnwort ins Deutsche übernommene »Dämon« (dafflmwn daimo¯n, Mt 8,31, bzw. das dem Volksglauben entstammende Diminutiv daimnion daimonion, 11x Mt, 11x Mk, 23x Lk). Wie dieser Begriff etymologisch zu erklären ist, ist unsicher. Zumeist wird er vom Stamm DAI- abgeleitet: dafflomai (daiomai) heißt »teilen«, verteilen«, so dass die frühe Assoziation an den Totengott als »Zerteiler« der Leichen möglich ist (vgl. Foerster 1935, 2). Aber auch die Herleitung von 96

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daffimwn (dae¯mo¯n), »kundig«, »einsichtsvoll«, ist denkbar. Fest steht, dass das Lexem in der griechischen Philosophie und Literatur über eine große Bandbreite an Bedeutungen verfügte (vgl. Frey-Anthes 2007, 2) und keinesfalls, wie es der heutige Sprachgebrauch nahelegt, vorschnell negativ konnotiert werden sollte. Da dafflmwn (daimo¯n) auch das menschliche oder allgemeine »Geschick« bzw. »Schicksal« meinen kann (so besonders bei den Tragödiendichtern, vgl. Eurip. Alces. 561f.; Sophoc. Oed. R. 828), könnte der Begriff ursprünglich auch so etwas wie »Zuteiler des Geschicks« bedeutet haben (vgl. ter Vrugt-Lenz 1976, 600f.). Die frühesten Belege finden sich bereits bei Homer und Hesiod: Homer verwendet dafflmwn (daimo¯n) neutral zur Bezeichnung unbekannter (Il. 15,418.467; 19,188) oder olympischer Götter (Il. 3,413-418), während für Hesiod die Dämonen aus dem »goldenen Geschlecht« hervorgegangen sind und als Beistand für den Menschen fungieren (op. 122-126): Aber sobald nun dieses Geschlecht die Erde bedeckte, wurden sie nach dem Willen des Zeus, des erhabenen, alle zu Dämonen (dafflmwne@), zu freundlichen, die hier auf Erden die sterblichen Menschen behüten. Hüter sind sie des Rechts und achten auf grausame Taten, während sie, in bergende Luft gehüllt, die Länder durchschreiten, Reichtum spendend; auch darin bestand ihr königliches Vorrecht.

Platon führt dies zusammen und legt den Grundstein für alle folgenden Dämonologien: Dämonen sind den Göttern untergeordnet (Tim. 40de; vgl. jedoch apol. 27cd), sollen aber ebenfalls Verehrung erfahren (nom. 717a). Der dafflmwn (daimo¯n) sorgt im Innersten eines jeden Menschen für Wohlbefinden (e'daimonffla eudaimonia) oder Unwohlsein (dusdafflmwn dysdaimo¯n; Tim. 90c) und lenkt das Leben und den Totengeist des Einzelnen (Phaid. 107d; Frey-Anthes 2007, 3; dazu auch Ferguson 1984, 33-67). Neben diesen verschiedenen Bedeutungen kann mit dafflmwn (daimo¯n) auch ganz allgemein etwas noch Unbekanntes oder Übermenschliches umschrieben werden, für das man keine adäquate Erklärung findet. So berichtet Philostratos folgende Szene, in welcher sich der pythagoreische Wundertäter und Philosoph Apollonius von Tyana (gest. 96-98 n. Chr.) wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht verantworten muss: Man hatte sich gegen ihn einen Ankläger verschafft, der schon vielen zum Verderben geworden war und zahlreiche Olympische Siege dieser Art vorzuweisen hatte. Dieser Mann hielt eine Anklageschrift in der Hand, die er wie ein Schwert gegen Apollonios schwang, mit den Worten, sie sei ganz scharf gewetzt und werde ihn dem Verderben preisgeben. Als nun Tigellinus dieses Schriftstück auseinanderrollte, fand er darin nicht die geringste Spur einer Schrift vor, sondern sah nur ein unbeschriebenes Buch vor sich. Er kam deshalb auf den Gedanken, dass hier ein Dämon im Spiel sei. Ein ganz gleicher Vorgang soll sich auch später unter Domitian ereignet haben (vit. ap. 4,44,5-16).

Diese Stelle ist deshalb interessant, weil eine völlig unerklärliche Sache im Umkehrschluss auf den Einfluss eines Dämons zurückgeführt wird. Zwar können Dämonen auch sichtbar werden, doch im Allgemeinen kann man sie eher an ihren Wirkungen als an ihrer Gestalt erkennen: »This is why magicians were usually content to notice some sign that the demon had departed and did not normally expect to see the actual demon leaving« (Hull 1974, 40). 97

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Insgesamt lässt sich die Begriffsübertragung vom unpersönlichen »Geschick« über Götter und Untergötter als »Zuteiler des Geschicks« bis hin zur Vorstellung einer persönlichen Schutzgottheit als »angestammtem Dämon« (Pind. Olymp. 13,105), unter welchem das menschliche Leben bzw. bestimmte Lebensabschnitte stehen, relativ gut nachvollziehen. »On a popular level, Greeks close to the early Christian period applied the term increasingly often to the many forces intermediate in character between deities and nature« (Keener 2011, 771). Während das Alte Testament, das im Hebräischen kein Äquivalent für dafflmwn (daimo¯n) kennt, dem Dämonenglauben kritisch gegenüber steht und ihn eher polemisch im Kontext der Diffamierung heidnischer Götter und Götzen aufnimmt (vgl. Dtn 32,17; 2Chr 11,15; Ps 106,37; vgl. aber auch Tob 3,8; 6,17f.; 8,3!), bewegen sich Philo und Josephus ganz in der griechischen Tradition und weisen ein großes Bedeutungsspektrum von dafflmwn (daimo¯n) auf (vgl. Foerster 1935, 9f; Ferguson 1984, 81-86). Für Philo, der von der Beseelung des gesamten Kosmos ausgeht (somn. 1,136), sind Engel und Dämonen prinzipiell von derselben Art (gig. 6,16; somn. 1,141), sie können beide gut oder böse sein (gig. 16-18). Der angestammte Aufenthaltsort der Dämonen ist dabei die Luft nahe der Erde, d. h. die Region, die zwischen der Götter- und der Menschenwelt liegt. Bei Josephus kann dafflmwn (daimo¯n) zwar auch einen guten Schutzgeist meinen (Ant. 16,210), allerdings wirkt sich der negative Sprachgebrauch der LXX und des Neuen Testaments aus. Mit dem Diminutiv daimnion (daimonion) werden zumeist die Totengeister böser Menschen (Bell. 7,185) oder die Rachegeister Ermordeter (Ant. 13,317) bezeichnet. Bei Josephus gibt es somit eine starke Tendenz, Dämonen als die im Volksglauben verwurzelten bösen Geister zu verstehen (vgl. dazu Bietenhard 2000, 1536-1539; Foerster 1935, 2-12).

3. Dämonenglaube Der antike Volksglaube versteht Dämonen als geistige Wesen, die zwischen der Götterund der Menschenwelt angesiedelt sind und unmittelbaren Einfluss auf das menschliche Leben ausüben können. Obwohl Dämonen mit den normalen Sinnen nicht wahrnehmbar sind, sind sie eine Erfahrungswirklichkeit: »Das Dämonische wird in erster Linie als Äußerung einer übermächtigen Kraft erfahren und ist mehr an seiner Wirkung als an seiner Gestalt zu erkennen« (Trunk 1994, 7). Evolutionspsychologisch lässt sich der Geisterglaube auf die archaische menschliche Angst vor unkontrollierbaren Feinden zurückführen: »Auch aufgeklärte Zeitgenossen können das nachempfinden, wenn sie nachts allein durch den Wald gehen, wenn es im Gebüsch knackt und durch die Wipfel unheimlich rauscht. Dann sind wir wieder im Dschungel, in dem wir die Raubtiere nicht sehen – die uns sehen können« (Theißen 1992a, 73f. mit Verweis auf Konrad Lorenz: »Das Gespenst ist die Projektion des nächtlich jagenden Raubtiers«). Mit dieser Grunderfahrung mag es zusammenhängen, dass sich Dämonen nicht nur mit Vorliebe in Wüsten (vgl. Q 11,24; auch Mk 1,12f. par.), Ruinen (vgl. Offb 18,2; bBer 3ab) oder in Gräbern (vgl. Mk 5,2-5 parr.) aufhalten (vgl. Wanke 1981, 271), sondern dass sie in der Antike auch oft mit Tiernamen versehen werden (so auch im Alten Testament, vgl. Jes 34,14; 13,21; dazu Görg 1991, 376; Riede 2003, 293f.). Dass rasende und bissige Hunde 98

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als »besessen« gelten (vgl. Trunk 1994, 345), ist als Grenzphänomen ebenfalls hier einzustellen. Neben dem tief verwurzelten Geister- und Dämonenglauben, der einer als bedrohlich erfahrenen Umwelt entspringt, ist die zweite dämonologische Grunderfahrung im von Außenstehenden wahrnehmbaren Kontrollverlust einer Person zu suchen. Ein solcher Kontrollverlust, der mit verschiedenen Merkmalen wie Veränderungen im Aussehen und in der Stimme bis hin zu epileptischen Anfällen oder dem Auftreten einer Komplementärpersönlichkeit einhergehen kann, wird als »Besessenheit« gedeutet. Für das Neue Testament ist dieser Aspekt zentral, denn im Allgemeinen ist von Dämonen nur dann die Rede, wenn es um das Phänomen der Besessenheit und dessen Bekämpfung geht. Eine ausgeprägte Dämonenfurcht tritt im Neuen Testament fast vollständig zurück, und es gibt es keinen profilierten Toten- oder Gespensterglauben. Wie im Alten Testament werden Dämonen in erster Linie mit dem heidnischen Kult in Verbindung gebracht (vgl. 1Kor 10,20f.; 2Kor 12,2 [?]; Offb 9,20), während zwischen Gott und Menschen allein die Engel vermitteln. Da auch hinter jeder Form von Zauberei der Verkehr mit Dämonen steht, wird diese strikt abgelehnt (vgl. Gal 5,20; Offb 9,20f.; 18,23; 21,8; 22,15). Das bedeutet keineswegs, dass die neutestamentlichen Autoren die Existenz oder Wirkmächtigkeit von Dämonen bestreiten (vgl. Eph 6,12; Jak 3,15). Vielmehr ist eine »Unterscheidung der Geister« zwingend notwendig (vgl. 1Joh 4,1; 1Kor 12,10), und es wird gerade für die Endzeit mit einem verstärkten Auftreten dämonischer Mächte gerechnet (1Tim 4,1; Offb 16,13f.). Hierarchisch gesehen sind die Dämonen Satan untergeordnet, dessen Engel sie sind (vgl. Eph 2,2; Mk 3,22f.; vgl. Bietenhard 2000, 1539f.; Belege bei Böcher 1981, 279). Dabei besteht kein Zweifel, dass die Dämonologie Jesu bzw. des Neuen Testaments im antiken Judentum vorgeprägt ist (vgl. besonders TestXII, Jub, Qumrantexte). Die volkstümliche Vorstellung von Besessenheit lässt sich mit Hilfe der heute noch gängigen Redensart »Was ist denn in dich gefahren?« gut auf den Punkt bringen: Ein Dämon »fährt« durch die Körperöffnungen (Mund, Nase, Ohren usw.) in ein Tier oder einen Menschen ein, übernimmt die Kontrolle und bringt die Balance seines »Wirts« durcheinander. Aus diesem Grund hatten Ohren- und Nasenringe ursprünglich wohl eine apotropäische Funktion (vgl. Ebner 2004, 127). Dämonen verhalten sich wie Parasiten, die einen Wirt benötigen, um auf der Erde überleben zu können (vgl. Q 11,24-26; Mk 5,12). Diesen Wirt machen sie krank. Viele Krankheitsbilder, die in der Antike keiner präzisen Ursache zugeordnet werden konnten, wurden auf Dämonen zurückgeführt, v. a. so genannte dissoziative Störungen oder epileptische Anfälle (dazu Alexander 1980, 61-146). Entmythologisierend versuchte diesbezüglich bereits der griechische Arzt Hippokrates (ca. 400 v. Chr.) zu wirken, der die (ihm zugeschriebene) Schrift De morbo sacro (»Von der heiligen Krankheit«) mit den Worten einleitet: Hinsichtlich der so genannten heiligen Krankheit verhält es sich folgendermaßen: Kein bisschen scheint sie mir göttlicher zu sein als die anderen Krankheiten, noch heiliger, sondern die anderen Krankheiten haben eine Natur, woher sie entstehen, eine Natur und Ursache hat auch diese. Dass sie ein göttliches Werk sei, glauben die Menschen infolge ihrer Ratlosigkeit und weil es sehr verwunderlich ist, dass sie den anderen Krankheiten überhaupt nicht gleicht (1,2f.).

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Die Einlassungen Hippokrates’ wurden von der Allgemeinheit lange Zeit nicht aufgenommen. Und so ähneln beispielsweise die Besessenheitssymptome, die in Mk 9,1726 beschrieben werden (Krämpfe, Schaum vor dem Mund, Zähneknirschen, Delirium, aus dem Haus rennen, Schreie), recht genau den Symptomen, die Hippokrates aufzählt (1,33-38; 7,1-12). Doch während Hippokrates die Natur als geschlossenes System versteht, das von der übernatürlichen Welt radikal getrennt ist, gehen Heiler davon aus, dass Krankheiten Folge einer göttlichen Intervention in der Menschenwelt sind. Hippokrates attackiert sie deswegen scharf (vgl. Graf 1996, 33f.). Dass sich eine dämonologische Deutung gerade bei epileptischen Anfällen anbietet, liegt phänomenologisch gesehen sicherlich an dem unvermittelten Ausbruch und den unkontollierbaren Zuckungen und Krämpfen, denen der Kranke hilflos ausgeliefert ist. Dies wird dann als »Introjektion«, d. h. als »Einwohnung eines dem Individuum gegenüber äußerlichen Geistes in dessen Inneres« (Strecker 2002, 56), dämonistisch gedeutet. In verschiedenen Mysterienkulten und der Mantik, aber auch in prophetischen und charismatischen Zusammenhängen kann eine solche »göttliche Einwohnung« im Rahmen der jeweiligen rituell-kultischen Kontexte gezielt gesucht werden. Für Außenstehende bleibt dies zumeist unverständlich und wird häufig mit »Wahnsinn« in Zusammenhang gebracht (vgl. Alexander 1980, 98f.). Die Entlastungsfunktion des dämonologischen Weltbildes ist darin zu suchen, dass die existentielle Erfahrung weltlicher und menschlicher Kontingenz eine Deutungs- und Handlungsebene erhält: Das, was schädigt, bedroht oder ängstigt, gerät durch dessen Dämonisierung in den Zugriffsbereich des Menschen. Die Benennung einer negativen Erfahrungswirklichkeit als »Dämon« macht das diffus Verstörende greifbar und öffnet es für konkrete und gesellschaftlich akzeptierte Bekämpfungsstrategien wie Magie, Zauberei oder Exorzismen. Dabei ist aber die strenge Wechselwirkung zwischen Dämonenglaube und Besessenheit zu beachten. Konkret: Nur in einem dämonologischen Milieu wird das Phänomen der Besessenheit (und die Möglichkeit ihrer Bekämpfung) als soziale Ausdrucksform psychopathischer Konflikte angeboten und akzeptiert. Das wiederum heißt: »Symptome der Besessenheit können sozial erlernt sein« (Theißen 1998, 248). Anders ausgedrückt: »Da der Dämonenglaube mit der Einwohnung von Geistern rechnet, fördert er zweifellos die Bereitschaft zur Dissoziation. Mythologische und religiöse Überzeugungen evozieren Phänomene sui generis« (Trunk 1994, 19). Kulturanthropologisch kann man Besessenheit somit als eine »Performance« verstehen (Strecker 2002, 58; auch Graf 1996, 185-188): In dramatischer Form inszenieren Besessene öffentlich bestimmte Rollenmuster, die in der jeweiligen Gesellschaft als Indiz für Besessenheit gelten. Dabei bestimmt das kulturelle Muster das Verhalten und umgekehrt formt das Verhalten das kulturelle Muster. Eine Ursache für das gehäufte Auftreten von Besessenheitsphänomenen zur Zeit Jesu könnte in der römischen Fremdherrschaft zu finden sein: »Vom Kolonialismus betroffene Völker befinden sich in einer latent schizoiden Lage. Sie sind zwischen Hass und Bewunderung gegenüber der Besatzungsmacht hin und her gerissen, schwanken zwischen Widerstand und Unterwerfung. Gesellschaften im Zustand der Besatzung rufen daher in überdurchschnittlichem Maße mentale Störungen hervor, die als Beherrschung durch Dämonen interpretiert werden können« (Kollmann 2011, 70).

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4. Austreibungsrituale Ein Exorzismus (von ¥xorkfflzein exorkizein – beschwören) ist die rituelle Vertreibung eines Dämons, welche unter Anrufung überlegener Gegenkräfte geschieht. Neben der exorzistischen Beschwörung, die den Dämon durch einen Eid bindet, kennt die Antike auch die Möglichkeiten, Dämonen durch mechanische Mittel (Aderlass, Peitsche, Schläge, Lärm, Gerüche etc.) oder durch Übertragung auf ein anderes Lebewesen (Substitution) zu vertreiben (vgl. Trunk 1994, 21). Einen eindrucksvollen Einblick in die Praxis eines exorzistischen Rituals gewährt der jüdische Historiker Flavius Josephus (geb. 37/38 n. Chr.) in seinen »Jüdischen Altertümern«, einer Art »Weltgeschichte des jüdischen Volkes«, die er 93 n. Chr. in Rom fertigstellte: Gott lehrte ihn [sc. König Salomo] auch die Kunst, Dämonen zu beherrschen, zum Nutzen und zur Heilung für die Menschen. Er verfasste Spruchformeln, mit denen die Krankheiten besprochen werden, und hinterließ Arten von Beschwörungen, durch welche die darin Bewanderten die Dämonen verjagen, so dass sie nicht mehr zurückkehren. Und diese Heilung bewirkt bis heute bei uns sehr viel. Denn ich habe einen gewissen Eleazar kennengelernt, einen von meinen Stammesverwandten, der in Anwesenheit von Vespasian, dessen Söhnen, Obersten und einer Anzahl Soldaten die von den Dämonen Ergriffenen von diesen befreite. Die Art der Heilung aber war folgende: Er hielt an die Nase des Besessenen einen Fingerring, der unter dem Siegel eine von den Wurzeln hatte, die Salomo bezeichnet hatte, und zog dann dem daran Riechenden durch die Nasenlöcher den Dämon heraus. Als der Mensch sogleich niederstürzte, beschwor er den Dämon, nicht mehr in ihn zurückzukommen. Dabei erwähnte er ›Salomo‹ und sagte Spruchformeln auf, die jener verfasst hatte. Da aber Eleazar die gerade Anwesenden überzeugen und ihnen beweisen wollte, dass er über diese Fähigkeit verfüge, stellte er ein wenig davor einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Fußwaschbecken auf und befahl dem aus dem Menschen ausfahrenden Dämon, dieses umzustoßen und die, die es sahen, erfahren zu lassen, dass er den Menschen verlassen habe. Das geschah auch in der Tat, und so wurde Salomos Weisheit und Einsicht kund (Ant. 8,45-49).

Eleazar, dessen Ritual aufs Engste mit Salomo, dem von Gott mit einem besonderen Charisma zur Beherrschung der Dämonen ausgestatteten König (vgl. 1Kön 5,9-13; Weish 7,17-21), verknüpft ist (Ant. 8,42), wendet hier heilende Mittel (magischer Siegelring mit einer Wurzel) sowie Zauberformeln an, die bewirken, dass der Dämon zunächst den Besessenen zu Boden reißt und dann spektakulär und sinnfällig aus diesem ausfährt (8,48). Gutes Anschauungsmaterial bietet auch der Spötter Lukian von Samosatha (geb. 115-125 n. Chr.) in seiner Schrift »Die Lügenfreunde« (Philopseudeis). Anhand einer sehr pointierten und ironischen Textpassage, die von einer tiefen Wunderkritik getragen ist, lässt sich die spezifische Exorzismustopik nachvollziehen: Alle kennen den Syrer aus Palästina, der auf diesem Gebiet ein Experte ist. Wie vieler Menschen hat er sich angenommen, die vor dem Mond niederfielen, die Augen verdrehten und den Mund mit Schaum füllten! Dennoch hat er sie wieder auf die Beine gestellt und sie weggeschickt, wieder klar im Kopf, nachdem er sie für ein großes Honorar von ihren Schrecknissen befreit hatte. Sobald er nämlich an die Liegenden herantritt, fragt er,

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woher die Dämonen in den Körper eingefahren sind. Der Kranke selbst schweigt, der Dämon aber antwortet – in Griechisch oder in einer fremden Sprache, je nachdem, woher er ist –, wie und woher er in den Menschen eingefahren ist. Der Syrer aber treibt den Dämon aus, indem er ihm Eide aufbürdet und, falls er nicht gehorcht, ihn bedroht. Ich für meinen Teil habe sogar schon einen ausfahren sehen mit schwarzem und rußigem Teint (philops. 16).

Die wichtigsten Elemente, die auch für das Verständnis der neutestamentlichen Exorzismen von Bedeutung sind, sind hier versammelt: Nicht nur gleichen die Symptome der Besessenheit (Sturz [vgl. Lk 4,35; Flav. Jos. Ant. 8,47], »Mondsucht« [vgl. Mt 4,24; 17,15], Verdrehen der Augen, Schaum vor dem Mund) der Darstellung in De morbo sacro 1,33-38; 7,1-12 oder Mk 9,17-22; sondern der gesamte Exorzismus erweist sich wie im Neuen Testament als dialogisches Geschehen zwischen Exorzist und Dämon, welches hier ganz ohne magische Hilfsmittel auskommt. Der besessene Mensch, der vollständig an den Dämon ausgeliefert ist, ist zum Schweigen verdammt und stellt lediglich das »Schlachtfeld« der kämpferischen Auseinandersetzung zwischen Exorzist und Dämon dar (Theißen 1998, 97). Bereits Campbell Bonner hat in seinem bahnbrechenden Artikel aus dem Jahr 1943 die wichtigsten Techniken eines Exorzismus herausgestellt: Ein wiederkehrendes Element ist dabei die Befragung des Dämons, welche darin gründet, dass der Exorzist den Kampf nur gewinnen kann, wenn er über ein besonderes Wissen verfügt, etwa über den Einfahrweg des Dämons in den Menschen, der dann auch der mögliche Ausfahrweg sein könnte. Da Exorzisten und Dämonen grundsätzlich mit denselben »Waffen« kämpfen, hebelt Jesus das wunderbare Wissen der Dämonen über ihn (»Namenszauber«) häufig mit einem Schweigebefehl aus (fimw phimoo¯; Mk 1,25; Lk 4,35). Dieser könnte sich zwar möglicherweise ganz der redaktionellen christologischen Reflexion verdanken (so Kollmann 1991, 267-273), korrespondiert jedoch gattungsmäßig gut mit dem Aussprechen besonderen Wissens, das der dämonischen Gegenwehr dient. In jedem Fall zeigt sich in der Art der synoptischen Darstellung die deutliche Überlegenheit Jesu über die Dämonen: Nicht nur treibt Jesus die Dämonen ohne Anrufung einer höheren Macht aus, sondern er kann sie auch erfolgreich mit einem Befehl zum Schweigen bringen, was diesen umgekehrt nicht gelingt (Hull 1974, 70): »The fact that Jesus can confidently command demons and expect instant obedience indicates that he already thought himself in possession of the necessary supernatural powers requisite for accomplishing such feats« (Aune 2006, 393). Die Austreibung selbst wird durch Beschwörungen bzw. Bedrohungen bewirkt (vgl. Mk 1,25-27 par.; 9,25f. par.) und durch die Ausfahrt des Dämons, welche zugleich eine letzte Gefährdung des Besessenen darstellen kann (Mk 9,26f.), öffentlich demonstriert (Bonner 1946, 38-49). Eine Besonderheit der jesuanischen Exorzismustechnik ist die Verwendung des Verbs ¥pitim€w (epitimao¯ – anherrschen, bedrohen; vgl. Mk 1,25 par. Lk 4,35; Lk 4,41; Mk 9,25 par.; vgl. auch Mk 4,39 [Seesturmstillung als erweiterter Exorzismus]; Lk 4,39 [Heilung der Schwiegermutter des Petrus vom Fieber]), welches das in exorzistischen Formularen übliche »Beschwören« des Dämons ersetzt. Da dieses Verb ansonsten nicht in exorzistischen Kontexten der griechisch-römischen Umwelt und – abgesehen von einer eventuell äquivalenten Erwähnung im Genesis-Apokryphon von Qumran (1QGenAp = 102

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1Q20) – auch in jüdischen Texten nicht begegnet, scheint es sich hier um einen Begriff palästinischer Provenienz zu handeln, der möglicherweise die Verwendung durch den historischen Jesus reflektiert (Aune 2006, 392). Im Alten Testament ist ¥pitim€w (epitimao¯) JHWH vorbehalten, der die chaotischen Mächte in ihre Schranken weisen kann (vgl. Ps 103,7LXX). Eine wichtige Quelle für unsere Kenntnis der Exorzismusformulare sind die griechischen magischen Papyri (Papyri Graecae Magicae = PGM), die zwischen dem 2. bis 6. Jh. n. Chr. niedergeschrieben wurden (mit einem Schwerpunkt im 3. bis 4. Jh. n. Chr.), jedoch z. T. auf eine längere Entwicklungsgeschichte zurückblicken. Als exemplarischer Text für die magischen Papyri sei hier ein Auszug aus dem in Theben aufgefundenen Pariser Papyrus angeführt (PGM 4,3007-3086; 250-350 n. Chr.; Übers. Trunk 1994, 397-399), der so etwas wie ein »Handbuch für angewandte Magie« (a. a. O., 295) darstellt: Für dämonisch Besessene ein erprobtes Mittel des Pibeches. Nimm Öl von unreifen Oliven mit der Pflanze Mastigia und dem Fruchtmark des Lotos und koche es mit nichtfarbigem Majoran und sprich dazu: ›[Zauberworte] komm heraus, weg vom NN [Zauberworte nach Belieben]‹. Als Schutzmittel aber schreibe auf ein Zinntäfelchen: ›[Zauberworte]‹ und hänge es dem Leidenden um als ein Schreckmittel gegen jeglichen Dämon, das er fürchtet. Stelle (den Besessenen dir) gegenüber und beschwöre. Die Beschwörung aber lautet so: (1) ›Ich beschwöre dich bei dem Gott der Hebräer, Jesus, [Zauberworte], im Feuer Erscheinender, der inmitten von Flur und Schnee und Nebel; Tannetis soll herabsteigen, dein unerbittlicher Engel, und einbannen den herumflatternden Dämon dieses Geschöpfes, das Gott geschaffen hat in seinem heiligen Paradies; denn ich flehe zum heiligen Gott bei Ammon [Zauberworte]. (2) Ich beschwöre dich [Zauberworte]. (3) Ich beschwöre dich bei dem, der Osrael geoffenbart wurde in einer Lichtsäule und einer Wolke bei Tag und sein Volk gerettet hat gegen Pharao und gebracht hat gegen Pharao die Zehnzahl der Plagen, weil er ihn nicht hörte. (4) Ich beschwöre dich, jedweden dämonischen Geist, dass du redest, wer auch immer du bist; (5) denn ich beschwöre dich bei dem Siegel, das Salomon auf die Zunge des Jeremia legte, und er redete. Rede auch du, wer auch immer du bist, einer im Himmel oder in der Luft, ein irdischer, ein unterirdischer oder ein unterweltlicher, ein ebusäischer, chersäischer oder pharisäischer, rede, wer auch immer du bist. (6) Denn ich beschwöre dich bei dem lichtbringenden, unbezwinglichen Gott, der kennt, was im Herzen jeglichen Lebens ist, der aus Staub schuf das Geschlecht der Menschen, der die Wolken herausführt aus dem Verborgenen und zusammenballt und beregnet die Erde und segnet die Früchte, den preist jede himmlische Macht von Engeln, Erzengeln … [es folgen weitere Beschwörungen]‹. (14) Ich beschwöre aber dich, der du diese Beschwörung übernimmst, Schweinernes nicht zu essen, und dir wird unterworfen werden jeglicher Geist und Dämon, wer auch immer er ist. Beim Beschwören aber hauche einmal von den Enden der Füße an und sende den Hauch bis zum Gesicht, und er (der Dämon) wird eingebannt werden. Wahre (das) als Reiner; denn der Spruch ist hebräisch und bewahrt bei reinen Männern.

Der Text bemüht alttestamentliche und jüdisch-apokryphe Traditionen (v. a. im Zauberspruch), aber auch Elemente des antiken Volksglaubens (Vorbereitung des Amuletts, An103

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hauchen). Besonders die Beschwörungen (»Ich beschwöre dich bei …«), die Namensbefragung zum Zweck der Machtgewinnung (»Ich beschwöre dich, jedweden dämonischen Geist, dass du redest, wer immer du auch bist …«) sowie der Ausfahrbefehl (»Komm heraus, weg vom NN«) sind verbreitete exorzistische Motive (ausführlich dazu Trunk 1994, 391-410). Da magische Rituale im Kern konservativ sind (zum Thema Magie und Zwang vgl. Graf 1996, 198-203), kann man die hier vorgestellten Texte mit weiteren inner- und außerbiblischen Beispielstellen zusammenführen, um auf diese Weise wesentliche Elemente des antiken Austreibungsrituals herauszuarbeiten. Folgende Motive, die in unterschiedlicher Ausprägung verwirklicht sind, sind hervorzuheben (vgl. Theißen 1998, 9498; Aune 2006, 392f.): (1) Kennzeichnend ist das Ausgeliefertsein des Besessenen an den Dämon, das sich vor dem Exorzismus durch körperlichen Kontrollverlust und beim Exorzismus im Moment des Ausfahrens des Dämons sinnfällig bemerkbar macht. Beispiele: Apg 19,16: »Und der Mensch, in dem der böse Geist hauste, sprang auf sie los, überwältigte sie und setzte ihnen so zu, dass sie nackt und zerschunden aus dem Haus fliehen mussten.« Mk 5,2-5: »… ihm begegnete aus den Gräbern ein Mensch in unreinem Geist, der die Behausung in den Grabstätten hatte, und auch mit einer Kette konnte keiner mehr ihn binden, weil er oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war und zerrissen worden waren von ihm die Ketten und die Fußfesseln zerrieben, und keiner vermochte ihn zu bändigen …« Mk 9,18: »… und wo immer [der stumme Geist] ihn ergreift, reißt er ihn nieder, und er schäumt und knirscht die Zähne und erstarrt …« (vgl. Mk 1,23-26). Luc. philops. 16: »Der Kranke selbst schweigt, der Dämon aber antwortet …« Philostr. vit. ap. 4,20,7-14: »Apollonius blickte ihn [den jungen Mann] scharf an und sprach: ›Nicht du selbst begehst diesen Frevel, sondern der Dämon, der dich antreibt, ohne dass du es weißt.‹ In der Tat war in dem Knaben, ohne dass man es wusste, ein Dämon; denn er lachte, wo niemand lachte, und brach dann wieder ohne Grund in Tränen aus. Dazu sang er und hielt Zwiegespräche mit sich. Die Leute schoben dies seiner ausgelassenen Jugend zu. In Wirklichkeit aber war er einem Dämon ausgeliefert, weshalb er in seinem Übermut wie betrunken erschien.« Flav. Jos. Ant. 8,47: »Als der Mensch sogleich niederstürzte …« Flav. Jos. Ant. 6,166: »Den Saul aber bedrängten gewisse Leiden und Dämonen, die Erstickungsanfälle hervorriefen …«

(2) Der Exorzismus wird als Kampf zwischen Exorzist und Dämon dargestellt, der mit Beschwörungen, der Formulierung von überlegenem Wissen, der Anrufung einer höheren Macht, aber auch mit magischen Hilfsmitteln geführt werden kann. Generell kämpfen beide Parteien mit denselben Waffen und folgen oftmals einem fest geprägten Schema. Dabei ist zu beachten, dass die Exorzismen Jesu ein sehr reduziertes Technikrepertoire aufweisen und weder Beschwörungen oder Herabrufungen Gottes (geschweige denn von Geistern) noch die Verwendung magischer Hilfsmittel kennen. Auch wenn von Exorzismen erzählt wird, die ganz ohne Technik auskommen (Mt 9,32f.; 12,22), bestehen sie in den längeren Variationen aus mehreren knappen Befehlen: Jesus herrscht 104

Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale

die Dämonen an (¥pitim€w epitimao¯), befiehlt ihnen zu schweigen (fimw phimoo¯) und erteilt den Ausfahrbefehl (¥xffrcomai exerchomai; auch »Apopompe¯« genannt); ggf. kann dann noch der Einfahrbefehl in ein anderes Lebewesen (e§sffrcomai eiserchomai; auch »Epipompe¯« genannt) und die Formulierung eines Rückkehrverbots folgen. Beispiele: Anherrschen/Bedrohen (¥pitim€w epitimao¯ – anherrschen, bedrohen): Mk 1,25: »Und Jesus herrschte ihn [sc. den Dämon] an und sprach …« Mk 9,25: »Er herrschte den unreinen Geist an und sprach zu ihm …« Lk 4,41: »Und er herrschte sie [sc. die Dämonen] an …« ActBarn 19,4: »Und Barnabas herrschte diesen Ort an …« vgl. auch Lk 4,39: »Und er beugte sich über sie [sc. die Schwiegermutter des Petrus], herrschte das Fieber an …« vgl. auch Mk 4,39: »Und aufgeweckt, herrschte er den Wind an und sprach zum Meer …« »Namenszauber« und Schweigebefehl: Mk 5,9: »Und Jesus fragte ihn: ›Was ist dein Name?‹ Und er spricht zu ihm: ›Legion ist mein Name, denn wir sind viele‹.« Mk 1,24: »Ich weiß, wer du bist: Der Heilige Gottes!« Mk 1,25: »Schweig!« (vgl. auch Mk 4,39!) PGM 4,3041: »Rede auch du, wer auch immer du bist …« PGM 13,242-244: »Wenn du einem Besessenen den Namen sagst und Schwefel und Erdharz an seine Nase führst, wird der Dämon sofort sprechen und weggehen.« Beschwörung ([¥x]¡rkfflzw [ex]orkizo¯ – beschwören, eidlich binden): PGM 4,3019: »[Exorzist:] Ich beschwöre dich bei …« (vgl. PGM 3,36; 4,289; 7,242 u. ö.) Mk 5,7: »[Dämon!:] Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich nicht!« Luc. philops. 16: »Der Syrer aber treibt den Dämon aus, indem er ihm Eide aufbürdet und, falls er nicht gehorcht, ihn bedroht.« Luc. philops. 31: »Da tritt der Dämon an mich heran […], struppig, langhaarig und schwärzer als die Finsternis. Nachdem er herangetreten war, nahm er den Kampf mit mir auf, indem er mich von allen Seiten anfiel, ob er mich irgendwo überwältigen könnte, und wurde bald ein Hund, ein Stier oder ein Löwe. Ich aber nahm die schauerlichste Beschwörungsformel zur Hand – ich redete in ägyptischer Sprache – und trieb ihn unter Zauberformeln in die Ecke des finsteren Zimmers.« Flav. Jos. Ant. 8,45: »Er [sc. Salomo] verfasste magische Formeln, durch die die Krankheiten beschwichtigt werden, und hinterließ Arten von Beschwörungen, durch welche die darin Bewanderten die Dämonen verjagen …« Ausfahrbefehl (˛xelqe exelthe – komm heraus): Mk 1,25: »Komm heraus aus ihm!« (vgl. 9,25) Mk 5,8: »Komm heraus, unreiner Geist, aus dem Menschen!« PGM 4,3012: »Komm heraus, weg vom NN!« PGM 4,1244-1248: »Komm heraus, Dämon, wer du auch immer bist, und verlasse den NN, jetzt, jetzt, sofort, sofort! Komm heraus, Dämon, da ich dich fessele mit stählernen, unauflöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos im Verderben!« Einfahrbefehl (e§sffrcomai eiserchomai – einfahren, hineingehen): Mk 5,13: »Und er erlaubte es ihnen [in die Schweine einzufahren]. Und die unreinen Geister kamen heraus und fuhren in die Schweine …«

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Rückkehrverbot: Mk 9,25: »Sprachloser und stummer Geist, ich befehle dir: Geh heraus aus ihm und geh nicht mehr in ihn hinein!« Flav. Jos. Ant. 8,47: »Er aber [sc. Eleazar] beschwor den Dämon, nicht mehr in ihn zurückzukommen. Dabei erwähnte er ›Salomo‹ und sagte Spruchformeln auf, die jener verfasst hatte.«

(3) Die Demonstration, d. h. die Darstellung der Ausfahrt des Dämons, bezeugt in literarischen Texten, dass der Exorzismus erfolgreich war. Hier zeigt sich zumeist in Form eines letzten Aufbäumens die gefährdende Macht, die der Dämon über den Besessenen ausübt. Beispiele: Mk 9,26: »Und der Geist schrie und zerrte ihn heftig und fuhr aus; und er wurde wie tot, so dass viele sagten: ›Er ist gestorben.‹« Lk 4,35: »Und als der Dämon ihn mitten unter sie geworfen hatte, fuhr er von ihm aus, ohne ihm Schaden zu tun.« Mk 5,12: »Und die unreinen Geister kamen heraus und fuhren in die Schweine. Und die Herde stürmte den Abhang hinunter in das Meer, etwa 2000, und sie ertranken im Meer.« Luc. philops. 16: »Ich für meinen Teil habe sogar schon einen ausfahren sehen mit schwarzem und rußigem Teint.« Philostr. vit. ap. 4,20,19: »Als nun Apollonius zu dem Dämon wie ein Herr zu einem verschlagenen, heimtückischen und schamlosen Sklaven sprach und ihm befahl, sichtbar auszufahren, da rief dieser aus: ›Das Standbild dort werde ich umwerfen!‹ Er wies dabei auf eine Statue bei der Königshalle, wo die ganze Szene auch stattfand. Diese geriet wirklich in Bewegung und fiel um.« Flav. Jos. Ant. 8,48f.: »Da aber Eleazar die gerade Anwesenden überzeugen und ihnen beweisen wollte, dass er über diese Fähigkeit verfüge, stellte er ein wenig davor einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Fußwaschbecken auf und befahl dem aus dem Menschen ausfahrenden Dämon, dieses umzustoßen und die, die es sahen, erfahren zu lassen, dass er den Menschen verlassen habe. Das geschah auch in der Tat.«

5. Hermeneutische Schlussbemerkung Die exorzistische Tätigkeit Jesu und seiner Jünger ist für die meisten Rezipient(inn)en der modernen westlichen Welt widerständig. Doch die Evangelisten verfassten ihre Schriften für ein Milieu, in dem der Glaube an übernatürliche Kräfte und der Zusammenhang von dämonischen Bindungen und Krankheiten weit verbreitet waren und es somit keinen Grund gab, an der Faktizität von Exorzismen zu zweifeln. Es kann nun nicht darum gehen, im Umgang mit der christlichen Überlieferung verschiedene Weltbilder – das Weltbild der Bibel und das Weltbild unserer Zeit – einander gegenüberzustellen (dazu Bittner 2007, 146-157), zumal wir auch heutzutage von einer gleichgeschalteten Weltdeutung weit entfernt sind: Nicht nur stehen sich beispielsweise die dominierenden empirisch-naturwissenschaftlichen Auffassungen im Westen und der Glaube an numinose Mächte wie Geister und Dämonen in den Stammesreligionen indigener Völker gegenüber; vielmehr ist in den letzten Jahrzehnten auch in Europa und Nordamerika ein Trend zu esoterisch-ganzheitlichen und neonaturreligiösen Ansätzen einerseits, sowie zu exorzistischer Ausbildung und Praxis im Kontext der 106

Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale

römisch-katholischen Kirche andererseits zu beobachten. Das moderne Weltbild ist pluriform. Auch an der Auslegung der Wunder Jesu ist dies nicht spurlos vorübergegangen, und man kann nach den Etappen der Entmythologisierung und Historisierung nun durchaus von einer »neuen Faszination für das Wunderbare« sprechen (Zimmermann 2011a, 121). Aufgrund der Beobachtung, dass es Lücken in der Wirklichkeitsdeutung gängiger Medizin und Naturwissenschaft gibt, wird heutzutage verstärkt versucht, auch die Wunder Jesu auf eine neue Theoriebasis zu stellen – etwa mit Hilfe von Psychosomatik, Parapsychologie oder Gehirnforschung (a. a. O., 121). Um der Gefahr zu entgehen, ausschließlich westlich-neuzeitliche Kategorien an die exorzistischen Überlieferungen anzusetzen, ist es sicherlich möglich und vielleicht sogar angezeigt, einen »cross-cultural standpoint« einzunehmen. Besonders Craig Keener hat sich in seinem monumentalen zweibändigen Werk »Miracles« diesbezüglich ausgesprochen und macht sein Vorgehen phänomenologisch fest: »Whether one accepts the historically and culturally widespread explanation of invasive spirits or prefers the modern Western materialist rejection of such explanations’ tenability, the transcultural character of the experience of possession behavior is impossible to evade« (Keener 2011, 789). Dass Phänomene der Besessenheit ebenso wie Exorzismen im Kontext der verschiedensten Gesellschaften tradiert werden, bietet die Möglichkeit, die Überlieferung der Dämonenaustreibungen Jesu und seiner Jünger in diesen breiteren Kontext einzustellen. Welche Implikationen und Konsequenzen damit einhergehen, wird kritisch zu diskutieren sein.

Uta Poplutz Literatur zum Weiterlesen D. E. Aune, Magic in Early Christianity, in: ders., Apocalypticism, Prophecy and Magic in Early Christianity. Collected Essays, WUNT 199, Tübingen 2006, 368-420. H. Frey-Anthes, Unheilsmächte und Schutzgenien, Antiwesen und Grenzgänger. Vorstellungen von »Dämonen« im Alten Israel, OBO 227, Fribourg 2007. F. Graf, Gottesnähe und Schadenszauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. J. M. Hull, Hellenistic Magic and the Synoptic Tradition, SBT 28, Naperville 1974. C. Keener, Miracles, The Credibility of the New Testament Accounts, Bd. 2, Grand Rapids 2011, 769-856. B. Kollmann, Jesu Schweigegebote an die Dämonen, ZNW 82 (1991), 267-273. C. Strecker, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann/B. J. Malina/G. Theißen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. G. H. Twelftree, In the Name of Jesus: Exorcism Among Early Christians, Grand Rapids 2007.

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Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter Jeder Versuch, Jesus als historische Figur mit anderen antiken Wundertätern zu vergleichen, steht in einer doppelten Spannung: einerseits in der Gefahr, in Apologetik zu verfallen, d. h. aus einer christlichen Perspektive heraus die Wunder Jesu als prinzipiell anders oder qualitativ höherwertig zu betrachten als vergleichbare Taten, die von anderen Menschen berichtet werden. Andererseits besteht die Gefahr darin, Jesu Wundertätigkeit zu stark zu relativieren und ihr einen zu geringen Stellenwert zuzuschreiben, da man angesichts der vielen antiken Parallelen kein Spezifikum mehr darin zu erkennen im Stande ist. Beide Haltungen sind Jesus nicht angemessen, wie zu zeigen sein wird. In diesem Beitrag soll der Wundertäter Jesus von Nazaret religionshistorisch gewürdigt werden in seiner Einbettung in sein historisches Umfeld, wozu der Vergleich mit zeitgenössischen Wundertätern gehört, und in seiner Individualität, wozu nach der spezifischen Ausprägung der Wundertätigkeit bei Jesus und deren Stellenwert im Gesamtrahmen seines Auftretens gefragt werden muss. Zunächst folgen einige allgemein historisch orientierende Informationen und methodische Vorüberlegungen.

1. Wundertäter der Antike: ein orientierender Überblick Zunächst muss der weitverbreiteten, aber unhaltbaren Überzeugung widersprochen werden, es gebe in der Literatur der vor- und frühchristlichen Antike viele Wundertäter, die man in Darstellung und überlieferten Taten leicht mit Jesus vergleichen könne. Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt, abgesehen von den christlichen Aposteln, die aus methodischen Gründen natürlich außer Betracht bleiben müssen, kaum Personen der Antike, von denen so wie von Jesus zahlreiche verschiedene Wunder in einiger Ausführlichkeit und mit zumindest diskutablem Anspruch auf Historizität berichtet werden. Die wenigen Fälle, die es gibt, sollen im Folgenden überblickartig vorgestellt und dann im weiteren Verlauf des Exkurses in ausgewählten Aspekten besprochen werden. Für den Bereich des antiken Judentums muss zunächst auf die in den heiligen Schriften Israels begegnenden Wundertäter und ihre Wunder hingewiesen werden. Diese bieten ein von allen geteiltes Reservoir von Erzählungen und Deutungsangeboten, das zur Interpretation jeglicher neuer Wundererfahrung herangezogen werden konnte. Insbesondere die Wunder, die im Rahmen von Exodus und Landnahme von Mose und Josua vollbracht wurden, und die Elija und Elischa gewidmeten Wunderzyklen sind in der jüdischen Literatur der hellenistisch-römischen Zeit und in den frühchristlichen Schriften überall präsent (Koskenniemi 2005). Daraus ergeben sich spezifische Probleme bei der historischen Analyse. In den meisten Fällen ist es nämlich schwer oder unmöglich zu bestimmen, in welcher Phase der Überlieferung einer Wundererzählung Bezüge zur alttestamentlichen Wundertradition hergestellt wurden, ob etwa schon der Wundertäter selbst sich im Licht einer bestimmten biblischen Tradition stilisierte, ob seine ersten Anhänger ihn im Licht einer solchen wahrnahmen oder ob die Bezüge erst im Zuge der schriftlichen Tradierung hergestellt wurden. 108

Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter

Im Judentum Palästinas gab es in den Jahrhunderten um die Zeitenwende offensichtlich Exorzisten und andere Wundertäter (Q 11,19, Mk 9,38-41; Flav. Jos. Ant. 8,4648, dazu Duling 1985; Flav. Jos. Ant. 14,22-24), doch erhielten deren Wunder nur in Ausnahmefällen so viel öffentliche und überlokale Aufmerksamkeit, dass sie in zeitgenössischen Quellen erwähnt werden. In keinem einzigen Fall überliefert eine vorchristliche oder dem Neuen Testament zeitgleiche Quelle Informationen über einen Wundertäter, von dem mehr als ein Wunder berichtet wird; jedoch erweitert sich das Feld, wenn man spätere rabbinische Quellen über Personen hinzunimmt, die im weiten Sinne als Zeitgenossen Jesu gelten können. Zwei Gruppen von Wundertätern haben in der Forschung besondere Aufmerksamkeit als mögliche historische Parallelen gefunden: die rabbinischen Wundercharismatiker und die so genannten Zeichenpropheten. Es ist v. a. den Arbeiten von Geza Vermes zu verdanken, dass Choni der Kreiszieher und Chanina ben Dosa als jüdische Wundertäter des 1. Jh. v. Chr. bzw. n. Chr. wiederentdeckt wurden (Vermes 1973b, 51-64). Vermes vertrat die These, dass Jesus von Nazaret wie Choni und Chanina ben Dosa zu einer v. a. in Galiläa beheimateten jüdisch-charismatischen Bewegung der Chassidim gehörten, die mehr auf praktische Frömmigkeit denn auf Thoragelehrsamkeit und Beachtung von Reinheitsnormen Wert legte und persönlichem Charisma, das sich u. a. in Wundertaten entfalten konnte, viel Raum ließ. Seither hat die Forschung herausgearbeitet, dass Vermes den teilweise erst aus dem 4.-6. Jh. stammenden Quellen wohl etwas zu viel historische Glaubwürdigkeit für das 1. Jh. v./ n. Chr. zugesprochen hatte. Differenzierte traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen haben zu sehr divergierenden Einschätzungen über die sozioreligiöse Einordnung der beiden historischen Personen und die Überlieferungsgeschichte der ihnen gewidmeten Erzählungen geführt (Green 1979; Freyne 2000; Becker 2002 und die Bewertung bei Kollmann, Magie in diesem Band). Angesichts der Tatsache, dass im Falle des Regenwunders von Choni dem Kreiszieher Josephus eine gewisse Kontrolle der Tradition ermöglicht (s. u.), wird man überzogenen Skeptizismus (z. B. Avery-Peck 2006) für unangebracht halten dürfen und im Einzelfall nach vor- bzw. frührabbinischen Traditionselementen innerhalb der Überlieferung suchen, die dann mit der nötigen Vorsicht zum Vergleich mit der Jesustradition herangezogen werden können (vorbildlich Becker 2002). Bei den so genannten Zeichenpropheten handelt es sich um eine Gruppe von Endzeitpropheten, die in den Jahrzehnten vor dem jüdischen Krieg auftraten und von deren Wirken Josephus, aber auch das Neue Testament (Apg 5,34-39; 21,37 f.) in kurzen Notizen berichten (Barnett 1981; Gray 1993). Charakteristisch ist jeweils, dass diese Propheten eine große Volksmenge um sich scharen und sie zu einem heilsgeschichtlich signifikanten Ort führen mit dem Versprechen, ein eschatologisches Zeichen zu »zeigen«, welches in der Regel an die Geschichte Israels anknüpfte und offenbar das Fanal zur Befreiung von der römischen Herrschaft sein sollte. So versprach der unter Cuspius Fadus (44-46 n. Chr.) auftretende Theudas das von Josua und Elija überlieferte Wunder der Spaltung des Jordans zu wiederholen (Jos 3; 2Kön 2,8). Diese Inszenierung einer neuen Landnahme misslang aufgrund des militärischen Eingreifens des Prokurators (Flav. Jos. Ant. 20,97-99; vgl. Apg 5,36). Ebenso kläglich endeten unter dem Prokurator Felix (5260 n. Chr.) der Versuch eines neuen Exodus mit Versprechen von »Zeichen der Freiheit« in der Wüste (Flav. Jos. Ant. 10,167 f.; Bell. 2,259) und das Versprechen eines ägyptischen Propheten, die Mauern Jerusalems einstürzen zu lassen (wie einst die Mauern Jerichos in Jos 6, Flav. Jos. Ant. 20,169-172; Bell. 2,261-263; Apg 21,38). Die von Theudas und »dem 109

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Ägypter« hervorgerufenen Bewegungen wurden nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte von jüdischer und römischer Seite als Vergleichsfolie für die Jesusbewegung ins Spiel gebracht; Theudas steht dabei neben Judas Galiläus, der traditionell nicht unter die Zeichenpropheten gerechnet wird (Apg 5,37). Der historische Zusammenhang dürfte jedoch enger sein als bisher erkannt. Judas Galiläus, der von Josephus als Gründer der »vierten Philosophie« der Juden bezeichnet wird, hatte mit seinem Aufruf zur Steuerverweigerung 6 n. Chr. den Aufstand gegen den Zensus des Quirinius hervorgerufen und kann in der Tat als wichtigster theologischer Lehrer der Widerstandsbewegung gegen die Römer gelten. Er vertrat nach Flav. Jos. Ant. 18,4 f. einen revolutionären Synergismus, Gott werde (nur dann) bereit sein, ihnen zur Freiheit zu helfen, wenn die Juden sich dem römischen Befehl zur Steuerzahlung entschlossen widersetzten und damit zeigten, dass sie allein Gott als Herr anerkennen. Josephus nennt zwar kein von Judas angekündigtes Zeichen, aber er muss angesichts der militärischen Überlegenheit der Römer wunderbares Eingreifen Gottes erwartet haben. Was ihm vor Augen gestanden haben könnte, sind die militärischen Siege der Israeliten bei der Landnahme, die sie mit der Hilfe Gottes erfochten, oder auch spätere kriegerische Eingriffe Gottes zugunsten seines Volkes in an sich aussichtsloser Lage. Die von den Zeichenpropheten angekündigten Zeichen und ihr Vorgehen, Menschenmassen zu mobilisieren, passen jedenfalls in den ideologischen Zusammenhang des erstmals von Judas Galiläus formulierten Grundsatzes, dass ein eschatologisches Eingreifen Gottes durch menschliche Aktionen vorbereitet werden müsse. Der größte Unterschied zwischen den Zeichenpropheten und Jesus liegt darin, dass diese die von Gott erwarteten Wunder nur ankündigen (»zeigen« wollen), nicht selbst wundertätig werden. Sie verbindet der explizit eschatologische Kontext, innerhalb dessen die Wunder bei Jesus geschehen (bei den Propheten: geschehen sollen). Auch wird man in der Verheißung eines wunderbaren neuen Tempels nach der Zerstörung des alten durch Jesus eine verwandte Ankündigung eines Zeichens sehen können (Mk 14,57f.; 15,29; Theißen 1998, 242f.). Wenden wir uns nun dem paganen Kontext zu. Hier wurde die Diskussion über Wundertäter, die Jesus verwandt sind (oder denen er im Laufe der christlichen Überlieferungsgeschichte angeglichen wurde), traditionell unter der Fragestellung geführt, ob man Jesus als »Theios Aner« (qe…o@ ⁄nffir theios ane¯r), als göttlichen Menschen nach Analogie v. a. des Apollonius von Tyana verstehen müsse (Bieler 1976; Betz 1983). Von diesem die hellenistische Welt durchziehenden neopythagoreischen Philosophen des 1. Jh. werden in der Vita Apollonii des Philostrat, der einzigen ausführlichen erhaltenen Quelle aus dem frühen 3. Jh., eine ganze Anzahl von Wundern berichtet, darunter Exorzismen, Heilungen, eine Totenerweckung, Entfesselungswunder, aber auch prognostische Fähigkeiten, das Vermögen, an zwei Orten zugleich zu sein und dabei große Entfernungen (Meere) zu überwinden, sowie Erscheinungen nach dem Tode. Die Frage, ob Philostrat die christlichen Evangelien kannte und als ungenannte, aber zum Verständnis unverzichtbare Folie seines Apolloniusbildes voraussetzt, ist leider nicht schlüssig zu beantworten, hat aber natürlich eminente Konsequenzen für die Beurteilung der gebotenen Stoffe. Man wird nur mit großer Zurückhaltung und bei deutlichem Vorliegen präphilostratischer Traditionen Vergleiche mit der frühen Jesusüberlieferung anstellen können (Petzke 1970; sehr kritisch Koskenniemi 1994, 2006). Was den heuristischen Wert des Forschungskonstruktes vom »Göttlichen Menschen« und dessen Anwendbarkeit auf Jesus und die Entwicklung der Christologie betrifft, so mahnen neuere Untersuchungen 110

Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter

zu großer Skepsis (Blackburn 1991; Du Toit 1997). Sinnvoll ist es jedoch nach wie vor, einzelne traditionell unter das Theios-Aner-Konzept subsumierte (Gruppen von) Wundertäter(n) daraufhin zu untersuchen, ob ihre Wundertätigkeit zur Erhellung der Taten Jesu beitragen kann. Für den Bereich der antiken Magie und die über Jahrhunderte weitergegebenen Wundertraditionen über Pythagoras und Empedokles sei auf den Themenartikel von B. Kollmann in diesem Band verwiesen. Interessant ist insbesondere auch der Vergleich mit den römischen Kaisern (Riemer 2006), weshalb im Folgenden der von Tacitus in hist. 4,81 überlieferten Wundertätigkeit des Vespasian einige Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.

2. Wundertäter als historische Personen und literarische Figuren Wir kennen alle antiken Wundertäter nur aus den schriftlich tradierten Erzählungen und sonstigen literarischen Traditionen über sie, mit anderen Worten, sie begegnen uns als literarische Figuren. Art und Umfang der jeweils zur Verfügung stehenden Quelle(n) bestimmen dabei, ob und mit welchem Maß an Verlässlichkeit historische Rückschlüsse auf die historischen Personen und ihr Verhalten möglich sind. Ein direkter Augenzeugenbericht über einen Exorzismus in Gegenwart des Feldherren Vespasian und seiner Offiziere durch Eleasar, wie er von Josephus niedergeschrieben wurde (Ant. 8,45-49, zitiert und besprochen bei Poplutz, Dämonen in diesem Band), erlaubt historisch verlässlichere Aussagen als etwa die rabbinischen Erzählungen zu den Wundern, die von Choni oder Chanina ben Dosa berichtet werden, da bei letzteren der historische Abstand zwischen Ereignis und schriftlicher Fixierung erheblich größer ist und der gestaltende Einfluss der langen Kette von Tradenten viel höher veranschlagt werden muss. Trotzdem ist selbst bei Augenzeugenberichten natürlich damit zu rechnen, dass subjektives Erleben, Wahrnehmung innerhalb eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses, Darstellungsinteressen und die allgemeinen Gesetze der Gestaltgebung von Erinnerungsinhalten die Beschreibung geprägt haben und damit auch präjudizieren, was und wie viel vom tatsächlich Vorgefallenen historisch erschließbar bleibt. Grundsätzlich gilt für alle Wundererzählungen, dass sie, wie in der Einleitung dargelegt, »im Redemodus grundsätzlich faktuale Erzählungen sind, die … fiktionalisierende Erzählverfahren in unterschiedlichem Maße einschließen«, wobei in einigen Fällen der Anspruch auf reale Begebenheiten zu referieren zu Recht erhoben wird, in anderen nicht. Historische Befragung von Texten hat ein eigenes legitimes Erkenntnisinteresse, die Rückfrage nach den Ereignissen und Erlebnissen, die den Prozess der literarischen Fixierung der Erinnerung in Gang gesetzt haben, wobei die jeweiligen Wirklichkeitskonzepte der Tradenten berücksichtigt werden müssen. Die Unterscheidung in Ereignisse, Erlebnisse und Wirklichkeitskonzepte (s. dazu die Einleitung 1.3.1) ist wichtig, sollte aber m. E. integrativ und nicht alternativ gehandhabt werden. Historische Rückfragen nach Ereignissen und deren Interpretation im Rahmen eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses werden stimuliert durch die Uneinheitlichkeit, manchmal selbst Widersprüchlichkeit der Überlieferung. Wäre uns nur das Johannesevangelium bekannt, müssten wir schließen, dass Jesus ein großer Heiler, aber kein Exorzist war, denn unter den Zeichen des vierten Evangeliums findet sich kein Exorzismus. Sind die zahlreichen Exorzismen und die Jesusworte über das Austreiben von Dämonen in den synoptischen Evangelien dann Erzählungen ohne historischen Refe111

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renzpunkt oder hat Johannes die exorzistische Tätigkeit Jesu verschwiegen? In Fragen wie dieser kann man durch Anwendung von quellenkritischen und allgemein historiographischen Methoden zu konsensfähigen Urteilen kommen (Theißen/Winter 1997; Theißen/ Merz 2011, 35-124. 257-284). Es ist angesichts der breit und früh unabhängig bezeugten und in verschiedenen Gattungen begegnenden Texte über Exorzismen Jesu und der Jesusanhänger (Summarien, Jesusworte, Einzelerzählungen im Markusevangelium, Logienquelle, Sondergut des Lukas und Matthäus) plausibler anzunehmen, dass der Johannesevangelist (oder der Trägerkreis der johanneischen Tradition) einen wichtigen Teil der Wundertätigkeit Jesu dem Vergessen anheim fielen ließ(en), als anzunehmen, dass die übrige Jesustradition Exorzismen in großer Zahl frei erfunden hat. Hypothesen über die historischen Gründe für die Zurückhaltung des Johanneskreises den Exorzismen gegenüber werden weniger konsensfähig sein, sind aber trotzdem legitime historische Hypothesen, die z. B. anknüpfen können bei der Frage, wie gewichtig oder auch anstößig die Rolle der Dämonen im Wirklichkeitsbild verschiedener Gruppen von Rezipienten der Wunderüberlieferung ist. Historische Plausibilität lässt sich immer nur in größerem oder geringerem Ausmaß erreichen. So wird sich der Realitätsbezug einer einzelnen Wundergeschichte in vielen Fällen nicht mit hinreichender Sicherheit begründen lassen. Kritische Auswertung einer Vielzahl von Quellen erlaubt jedoch oftmals konsensfähige Urteile auf höherer Ebene. Dass Jesus Exorzismen und Heilungen vollbracht hat und in Diskussionen über seine Wundertätigkeit verwickelt wurde, kann angesichts der Fülle unabhängiger, relativ zeitnaher Quellen als historisch gesicherte Erkenntnis gelten. Ein historisch plausibles Gesamtbild von Jesus als Wundertäter muss natürlich viel mehr Einzelfragen klären, die teilweise weniger sicher zu entscheiden sind, und hat auch mit dem selektiven und fragmentarischen Charakter unserer Kenntnis sowohl von Jesus als auch seiner Umwelt zu kämpfen. Diese Lücken in unserem Wissen können durch quellengeleitete Hypothesen, argumentativ verantwortete historische Verallgemeinerungen und Analogieschlüsse, sowie durch Erkenntnisse zeit- und kulturübergreifender Analysen vorsichtig ergänzt werden. Die literarischen Konstrukte von Jesus als Wundertäter, die in den einzelnen urchristlichen Quellen entfaltet werden (s. dazu die Einleitungen in die Quellenbereiche), werden im Folgenden ergänzt um ein Konstrukt historischer Imagination, das historisch plausibel sein will. Die angestrebte historische Plausibilität hat v. a. zwei Zielrichtungen: Die Rekonstruktion von Jesu Wundertätigkeit soll verständlich und individuell erkennbar sein im jüdischen Kontext seiner Zeit und sie soll die christliche Wirkungsgeschichte verständlich werden lassen, die Vielfalt der urchristlichen Bilder von Jesus als Wundertäter als Auswirkung der Wundertätigkeit und Wunderreflexion Jesu verständlich machen. Größtmögliche Annäherung an die historische Faktualität wird dabei angestrebt; es kann jedoch aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht anders sein, als dass auch hierbei neue fiktionalisierende Darstellungen geschaffen werden oder alte Fiktionen sich wiederum unerkannt behaupten.

3. Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmungen der Wundertäter Bei allen wichtigen antiken Wundertätern können wir beobachten, dass ihre Einordnung und Bewertung in der Außenwahrnehmung umstritten und historischen Veränderungen unterworfen ist. In machen Fällen erlauben die Quellen sogar Aussagen über die Selbst112

Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter

wahrnehmung des Wundertäters im Vergleich zur Außenwahrnehmung. Bevor wir dies bei Jesus untersuchen, seien einige Beispiele aus dem historischen Umfeld genannt. Apollonius von Tyana wurde von etlichen Autoren des 2. Jh. als Scharlatan, Betrüger und Magier betrachtet (Luc. Alex. 5, Dio Cass. 77,18; Moeragenes nach vit. ap. 1,3 u. a.). Die große Darstellung seines Lebens durch Philostrat steht ganz im Dienst der Bestreitung dieses magischen Apolloniusbildes zugunsten seiner Charakterisierung als Erneuerer der pythagoreischen Philosophie. Gerade die Wunder stehen dann auch in deutlicher Parallele zu einigen von Pythagoras bewirkten Erweisen seiner übermenschlichen Fähigkeiten. Wir dürfen wohl annehmen, dass die philostratische Tendenz in historischer Kontinuität steht zum Selbstverständnis des historischen Apollonius, der als neopythagoreischer Reformer und Wundertäter auftrat, Einzelheiten sind jedoch schwer mit zureichender Sicherheit zu rekonstruieren (vgl. Petzke 1970; Dzielska 1986; Koskenniemi 2006). In der Beschreibung der alexandrinischen Wunder des Kaisers Vespasian durch Tacitus (hist. 4,81) tritt eine deutliche Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung Vespasians und der Erwartungshaltung der Hilfesuchenden zutage. Letztere, zwei Alexandriner aus dem Volk, sind aufgrund einer ihnen durch den Gott Serapis erteilten Weisung davon überzeugt, dass Vespasian ihre Krankheiten, Blindheit und Lähmung der Hand, durch seinen Speichel bzw. die Berührung mit seiner Fußsohle heilen kann. Vespasian dagegen fühlt sich zunächst nicht zum Wundertäter berufen, führt aber schließlich die erfragten Manipulationen mit dem gewünschten Heilungserfolg aus, nachdem er sich zuvor bei Ärzten der prinzipiellen medizinischen Möglichkeit der Heilungen zu versichern versucht hatte. Eine wiederum andere Bewertung bekamen die Wunder im Rahmen der pro-flavianischen Propaganda: Im Zusammenhang mit der Verbreitung (quasi-)messianischer prophetischer Orakel, die auf eine Vorhersage von Vespasians Weltherrschaft gedeutet wurden (Flav. Jos. Bell. 6,312-314; Tac. hist. 5,13; Suet. Vesp. 4.5), dienten sie der ideologischen Untermauerung seines zunächst noch ungefestigten Thronanspruchs (Eve 2008; Riemer 2006, 40-42). In den kurzen Darstellungen der Zeichenpropheten durch Josephus wird die Diskrepanz zwischen dessen Fremdbeurteilung und der Selbstbewertung der Propheten oft deutlich. Theudas wird von Josephus als Goet (gh@ goes) (Verführer, Zauberer, Magier?) eingeführt, bezeichnete sich selbst aber nach derselben Quelle als Prophet (Flav. Jos. Ant. 20,97). Analoges gilt bei teils anderer Terminologie für die von Felix bekämpfte Gruppe von Propheten (Flav. Jos. Bell. 2,258-260), den Ägypter (Ant. 20,169; Bell. 2,261) und den durch die Ereignisse als Pseudoprophet erwiesenen Propheten, der unter Heilsversprechungen Menschen noch kurz vor der Zerstörung durch die Römer in den Tempel lockte (Bell. 8,285). In den rabbinischen Traditionen über die Wundertäter Choni und Chanina ben Dosa lassen die Texte auf vielerlei Weise den Prozess der »Rabbinisierung« dieser ursprünglich solitären Charismatiker erkennen (Green 1979; Freyne 2000; Becker 2002; Avery-Peck 2006). Für den Vergleich mit Jesus sind zwei Charakterisierungen besonders wichtig, nämlich die Bezeichnung als Prophet und als Sohn. Zweimal wird Chanina im babylonischen Talmud gefragt, ob er ein Prophet sei, was er – vermutlich im Einklang mit dem rabbinischen Grundsatz, dass die Zeit der Propheten vorbei ist – verneint (bBer 34b; 50a). In beiden Texten geht es um die bereits in der ältesten Chaninatradition mBer 5,5 (s. u.) vorausgesetzte prognostische Fähigkeit, die Gesundung/Rettung eines/r abwesen113

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den Kranken vorherzusagen, die bereits im Alten Testament zum prophetischen Repertoire gehört (1Kön 14,1-18) und auch bei Jesus keine geringe Rolle spielt (Mk 7,29-30; QMt 8,13; Joh 4,50-53). Auch wenn die literarische Fassung der Prophetenfrage an Chanina nicht alt ist und sich nur im babylonischen, nicht im Jerusalemer Talmud findet, wird man hier einen Reflex der vorrabbinischen Tradition sehen dürfen, der Chanina selbstverständlich als Prophet galt, wobei insbesondere Züge Elias (v. a.: der Gebetsgestus nach 1Kön 18,42) und Elisas hervorgehoben werden (Becker 2002; Lichtenberger 2008). Sehr umstritten ist die Frage, wie man die in den Texten zum Ausdruck gebrachte Anerkennung der besonderen Gottesbeziehung der Wundertäter einordnen soll. Schon Josephus nennt Onias/Choni »gottgeliebt« (qeofilffi@ theophile¯s, Flav. Jos. Ant. 14,22). In der viel ausführlicheren Mischnavariante des Regenwunders (mTaan 3,8) wird Choni als »Haus-Sohn« bezeichnet: A. Bei jeder Notlage, die über die Allgemeinheit kommt, bläst man [den Shofar], außer [bei] einem Übermaß an Regen. B. Es geschah, dass man zu Choni dem Kreiszieher sagte: Bete, dass Regen falle! C. Er sagte zu ihnen: Geht und holt die Öfen für Passa herein, damit sie nicht aufweichen. D. Und er betete, aber es fiel kein Regen. E. Er zog einen Kreis und stellte sich hinein. F. Und er sagte: Herr der Welt, deine Kinder haben ihr Angesicht auf mich gerichtet; denn ich bin wie ein Haus-Sohn vor dir. G. Ich schwöre bei deinem großen Namen, dass ich mich nicht von hier wegbewege, bis dass du dich über deine Kinder erbarmst. H. Es begann der Regen zu tröpfeln. I. Er sagte: Nicht danach habe ich verlangt, sondern [um] Regen für Gruben, Zisternen und Höhlen. J. Er fiel mit Toben. K. Er sagte: Nicht danach habe ich verlangt, sondern [um] Regen des Wohlgefallens, des Segens und der Ergiebigkeit. L. Er fiel ordentlich, M. bis die Israeliten von Jerusalem zum Tempelberg wegen des Regens hinaufgingen. N. Man sagte zu ihm: Wie du um ihn gebetet hast, dass er falle, so bete [jetzt], dass er sich verziehe! O. Er sagte zu ihnen: Geht und seht, ob der Stein der Irrenden sich aufgelöst hat! P. Es sandte zu ihm Shim’on ben Shetah. Q. Er sagte zu ihm: Es wäre nötig, dich zu bannen, aber kann ich dir das antun? Denn du verhälst dich vor dem Ort (Gott), wie sich ein Kind (Sohn) seinem Vater gegenüber verhält, und er tut ihm nach seinem Willen. R. Und über dich sagt die Schrift: »Es freue sich dein Vater und deine Mutter, und es frohlocke, die dich geboren hat!« (Prov 23,25; mTaan 3,8, Übersetzung nach Becker 2002, 298f.).

Während im Urteil des Pharisäers Shim’on ben Shetah (Q) der ambivalente Ausdruck »Haus-Sohn« genutzt wurde, um Choni als (anmaßenden) Sohn zu kritisieren, gibt er innerhalb der Erzählung (F) wohl dessen Status als Bevollmächter des Herrn des Hauses (Gott) wieder. Chanina ben Dosa wird in einer verwandten Tradition von Rabbi Yohannan ben Zakkai als (Haus-)Sklave vor Gott bezeichnet im Gegensatz zum Fürsten, als den Yohannan sich selber beschreibt (bBer 34b). Der Sinn dieser Metaphorik ist offenkundig: Der gesellschaftlich untergeordnete Sklave hat unter Umgehung des Hofprotokolls immer Zugang zum Herrscher und kann Gunstbeweise zugunsten von Dritten (hier zugunsten des kranken Kindes von Rabbi Yohannan) erwirken. Spätere rabbinische Traditionen erwähnen eine tägliche Himmelsstimme, die Chaninas Genügsamkeit preist und seine Ehrenstellung vor Gott zum Ausdruck bringt: »An jedem Tag ertönt eine BatQol und spricht: Die ganze Welt wird wegen meines Sohnes Hanina ernährt, und mein Sohn Hanina begnügt sich mit einem Kab Johannesbrot von Sabbatvorabend zu Sabbatvorabend« (bTaan 24b; es folgt ein Brotgeschenkwunder im Ofen von Haninas Frau, zur Bat-Qol vgl. auch bBer 17b; bCHul 86a). Während man es mit Becker (Becker 2002, 377) 114

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für möglich halten kann, dass die relativ späte Tradition von der Himmelsstimme eine Reaktion auf die erheblich früher bezeugte Bat-Qol der Evangelien ist, die in Aufnahme entwickelter nachösterlicher Christologie Jesu Gottessohnschaft bei der Taufe bezeugt, wird man doch in der terminologisch noch nicht festgelegten, durch Familienmetaphern ausgesagten Nähe des Wundertäters zu Gott (Haus-Sohn, Diener) eine vorrabbinische jüdische Überzeugung sehen können, die eine Nähe zum Vollmachts- und Erhörungsbewusstsein Jesu erkennen lässt, der lehrt, den Vater um alles zu bitten und der Erhörung gewiss zu sein, und der als Prophet der Gottesherrschaft vollmächtig Wunder vollbringt (s. u.). Die beschriebene Variabilität, Plastizität und Perspektivität in der Selbst- und Fremdbeurteilung antiker Wundertäter lässt sich auch in der Jesusüberlieferung vielfältig beobachten. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Traditionen, die auf die frühe Phase der Überlieferung zurückgehen und einen Reflex des historischen Jesus bieten können.

4. Jesus als Exorzist und prophetischer Wundertäter im Vergleich Der vermutlich älteste Vergleich Jesu mit antiken Wundertätern stammt von Jesus selbst und wählt jüdische Exorzisten als Vergleichsgröße (zur Beelzebulkontroverse vgl. Twelftree 1993, 98-113; Hüneburg 2001a, 181-214; Labahn 2001). Über Anlass und Gesprächspartner bestehen zwischen Q 11,14 f. und Mk 3,22 leichte Divergenzen, doch im Kern stimmen die Traditionen darin überein, dass Jesus mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, er sei von Beelzebul besessen (so Markus) und treibe die Dämonen mit Beelzebul, dem Herrscher der Dämonen, aus (Markus und Logienquelle). Jesus reagiert darauf mit einer Reihe von Argumenten. V. a. das Doppellogion Q 11,19 f. wirft ein Licht auf die Frage der Einordnung Jesu ins Spektrum antiker Wundertäter. »Und wenn ich mit Beelzebul die Dämonen austreibe, mit wem treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie selbst eure Richter sein. Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist die Königsherrschaft Gottes schon bei euch angekommen«. Im ersten Teil des Wortes reiht sich Jesus ein in eine Gruppe, deren Tätigkeit er bei seiner Zuhörerschaft als bekannt voraussetzt und die er zu Zeugen anruft gegen seine Verleumdung. Nicht das Wunder selbst ist erklärungsbedürftig, es steht nicht isoliert in der Erfahrungswelt der Zuschauer, umstritten ist, woher die Macht zum Wundertun kommt und welche Bedeutung das Wunder hat. Was den Aspekt der Herkunft der Wundermacht betrifft, stellt Jesus sich auf eine Stufe mit zeitgenössischen jüdischen Exorzisten; wie sie tut er es unter Verwendung einer Macht, die auf Gott (und nicht auf Beelzebul/Satan) zurückgeführt werden kann. Nur das jüdische Bedürfnis, die Alleinherrschaft Gottes über seine Schöpfung unter allen Umständen zu wahren und die Verteidigung gegen den Vorwurf des Teufelsbündnisses stehen hier zur Debatte, man sollte also nicht schließen, dass Jesus mit dem Verweis auf die mit Gottes Hilfe exorzierenden Söhne seiner Gegner andeutet, seine Exorzismen seien in allen technischen und inhaltlichen Aspekten mit den ihren zu vergleichen. Soweit wir überhaupt Informationen über jüdische Exorzismen um die Zeitenwende haben, fallen eher die Unterschiede ins Auge. Während zeitgenössische jüdische Exorzisten Gebrauch machten von Beschwörungstexten und geheimen Ritualen, die auf Salomos Weisheit zurückgeführt wurden (s. dazu Poplutz, Dämonen und Kollmann, Magie in diesem Band), stellt Jesu Hinweis auf den »Finger Gottes« seine Exorzismen in einen prophetisch-heils115

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geschichtlichen Referenzrahmen (Labahn 2001). Seine Wunder stehen in Kontinuität zu den Wundertaten des Mose beim Exodus, welche die ägyptischen Zauberer zu dem Bekenntnis zwangen: »Das ist der Finger Gottes« (Ex 8,15). Das Wort von der Ankunft der Gottesherrschaft in den Exorzismen gibt ihnen einen zentralen Ort innerhalb der endzeitlichen Verkündigung Jesu (s. u.). Hier soll zunächst die prophetische Deutungslinie weiterverfolgt werden. Der Prophetentitel findet sich als Interpretament der Wundertätigkeit in voneinander unabhängigen Strömen der urchristlichen Tradition als Fremdund als Selbsteinschätzung Jesu und geht wohl auf sein eigenes Selbstverständnis zurück. Nach der Auferweckung des jungen Mannes in Naïn akklamiert das Volk: »Ein großer Prophet ist erweckt worden unter uns« (LkS 7,16); der Blindgeborene bekennt, nach seiner Heilung befragt, über den Heiler: »Er ist ein Prophet« (Joh 9,17). In LkS 13,31-33 bezeichnet Jesus sich als Propheten, dessen Aufgabe im Austreiben von Dämonen und Vollbringen von Heilungen besteht und der schließlich, wie jeder rechte Prophet, in Jerusalem umkommen wird. Wo aber Jesus aufgrund der Skepsis derer, die seinen familiären Hintergrund kennen, keinen Glauben findet und keine Wunder tun kann (Mk 6,5a; 5b mildert das peinliche Versagen Jesu nachträglich ab), sagt er von sich selbst: »Nirgends gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und seiner Familie« (Mk 6,4; vgl. Lk 4,23-27; Joh 4,44; P.Oxy. 130-135; EvThom 31). Auch Vielzahl und Art der von Jesus erzählten Wunder können bei den Zeitgenossen Erinnerungen besonders an Elija und Elischa wachgerufen haben (man denke an die Heilung von Aussätzigen, von verstorbenen Kindern). Die Tatsache, dass manche der an Elija und Elischa gemahnenden Züge in der Wunderüberlieferung vermutlich erst sekundär hinzugewachsen sind (etwa in den Speisungserzählungen, s. u.) spricht nicht gegen ein ursprünglich prophetisches Selbstverständnis des Wundertäters Jesu, sondern ist im Gegenteil Zeichen der Kontinuität in der urchristlichen Überlieferungsgeschichte. Selbst außerchristlich ist wahrscheinlich ein Reflex des im Volk verbreiteten Verständnisses von Jesus als an Elischa erinnernden Wundertäter zu finden: Josephus nennt Jesus einen »Täter außerordentlicher Wundertaten« (Ant. 18,63) und verwendet eine ähnliche Terminologie für Elischa (Ant. 9,182). Ein Zug beim historischen Jesus scheint einem Selbstverständnis als wundertätiger Prophet auf den ersten Blick zu widersprechen: die Verweigerung eines legitimierenden Zeichens, die in verschiedenen Traditionen reflektiert wird und auf Jesus zurückgehen wird. In der alttestamentlich-prophetischen Tradition sind legitimierende Zeichen durchaus geläufig, dabei kann es um prognostische Fähigkeiten gehen, die Alltägliches (1Sam 10,1-7) oder politische Entwicklungen betreffen (2Kön 7,1-2; 19,29; Jes 7,10-16), oft begegnen eindrucksvolle Naturwunder (1Sam 12,17-18: Gewitter und Regen; 1Kön 13,3: Zerbersten eines Altars; 1Kön 18,38; 2Kön 1,10.12: Feuer vom Himmel; 2Kön 20,8-11: Manipulation des Laufes der Sonne sichtbar am Schatten). Nach Mk 8,11-12 hat Jesus ein legitimierendes Zeichen »vom Himmel« kategorisch abgelehnt; nach Q 11,16.29 hat er auf die Frage nach einem Zeichen geantwortet, dieser Generation werde kein anderes Zeichen gegeben als das »Zeichen des Jona«, ein möglicherweise bewusst rätselhaftes Wort, das viele Deutungen zulässt und gefunden hat, am ehesten aber ursprünglich zu deuten ist auf das Ausbleiben des von Jona angekündigten Gerichts nach der Buße der Niniviten, das in der Gegenwart Jesu seine Entsprechung fand im vorläufigen Ausbleiben des von Johannes (Kurzform: Jona) angekündigten Gerichts angesichts der durch den Täufer ausgelösten Umkehrbewegung (Theißen/Merz 2003). Wahrschein116

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lich wird man die Verweigerung eines in seiner Eindeutigkeit zwingenden Zeichens auch in einem Zusammenhang sehen müssen mit einem anderen gegenüber der prophetischen Wundertradition auffälligen Zug der Jesusüberlieferung, dem bewussten Verzicht auf Strafwunder, der deutlich in einem Zusammenhang steht mit dem jesuanischen Gebot der Feindesliebe. LkS 9,52-55 ist hier die plastischste einer Reihe von im Kern auf Jesus zurückgehenden Traditionen (Mk 6,11 par.; Q 10,10-12), die die Kritik alttestamentlich-prophetischer Traditionen in dieser Hinsicht deutlich herausarbeitet (Öhler 1997, 195-198). Jesus verbietet seinen Jüngern, in Nachahmung des Propheten Elija Feuer vom Himmel fallen zu lassen als Strafe für die Abweisung der sich auf dem Weg nach Jerusalem befindenden Propheten. Das hat ihn und seine Nachfolger allerdings nicht daran gehindert, denen, die in der Gegenwart das aus Predigt und Wundern bestehende Heilsangebot ausschlugen, für die Zukunft ein unbarmherziges Gericht anzukündigen, wovon Traditionen wie Q 10,10-12.13-15; 11,31 f. zeugen. Aber greift das Verständnis Jesu als eines »großen Propheten, mächtig in Tat und Wort« (Lk 24,19) nicht zu kurz? Sagt er doch, in seiner Gegenwart sei »mehr als Jona« und »mehr als Salomo«, Prophetenmacht und Weisheit der biblischen Vergangenheit reichten nicht an die gegenwärtige Erfahrung heran (Q 11,31 f.). Auch preist er die Augenzeugen selig, die nun sehen dürfen, was »Propheten und Könige« der Vergangenheit vergebens zu sehen wünschten (Q 10,23f.). Unzweifelhaft steckt in einer solchen Aussage eine implizite Christologie, ein noch nicht in einen Titel gegossener (implizit messianischer) Überbietungsanspruch. Dieser Überbietungsanspruch wird jedoch von Jesus nicht auf seine Person hin reflektiert, sondern hängt zusammen mit der Qualifizierung der Gegenwart als Heilszeit, in der endzeitliche Hoffnungen erfüllt werden, durch Jesus selbst, der jedoch sein Wundercharisma wie seinen messianischen Anspruch mit seinen Jüngerinnen und Jüngern geteilt hat (Theißen 2003).

5. Der eschatologische Horizont der Wundertätigkeit Jesu Es besteht große Einigkeit in der Forschung darüber, dass die Wundertätigkeit Jesu im Rahmen seiner eschatologischen Verkündigung von der erfahrenen und erwarteten Ankunft des Reiches Gottes zu verstehen ist. Exorzismen und Heilungen erhalten dabei eine unterschiedliche Bewertung, Erstere symbolisieren den Kampf- und Durchsetzungsvorgang, Letztere heben den Erfüllungscharakter hervor. Die Exorzismustätigkeit wird von Jesus als Teil des endzeitlichen Kampfgeschehens interpretiert, mit dem sich das Reich Gottes auf Erden durchsetzt. »Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist die Königsherrschaft Gottes schon bei euch angekommen« (Q 11,20). Die im Zusammenhang mit dem Beelzubulvorwurf erzählte Parabel vom Starken (Mk 3,27 par.; Merz 2007), dessen Haus erst ausgeraubt werden kann, nachdem er selbst gebunden wurde, ist zu verstehen auf dem Hintergrund jüdischer Vorstellung von der Bindung des Satans in der Endzeit (1Hen 10,4f.; 54,3-5; 69,27f.; Jub 10,5-11; 48,15.18; TestLev 18,10-14). Jesus inszeniert mit den Exorzismen, verstanden als Befreiung der von Satan gebundenen (vgl. Lk 13,11.16) bzw. von Dämonen beherrschten Menschen auf Erden, was sich parallel im Himmel zuträgt. Eine Vision vom Satanssturz (Lk 10,18; Müller 1977) machte Jesus der kosmischen Wende gewiss, die ihre Auswirkungen in der Macht Jesu und der in seinem Namen exorzierenden Jünger über die Dämonen und alles auf Erden von ihnen Be117

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herrschte hat (Lk 10,17-20). Während nach Eric Eves überzeugender Analyse die zeitgenössische jüdische Literatur entweder die kosmisch-(un)heilsgeschichtliche Dimension der Dämonologie beleuchtet (1Hen, Jub) oder sich auf individuelle Dämonenabwehr und -austreibung konzentrierte (Qumran und exorzistische Praktiken), erhalten allein bei Jesus individuelle Exorzismen kosmische und heilsgeschichtliche Bedeutung (Eve 2009, 26-39). Insofern damit Jesus und die in seinem Auftrag wundertätigen Apostel mit Gott zusammenwirken an der Durchsetzung des Reiches Gottes, kann daher von einem thaumaturgischen Synergismus in der Jesusbewegung gesprochen werden (s. u.). Unter auffälligem Fehlen der für den historischen Jesus so wichtigen Exorzismen werden die Heilungen in der Antwort Jesu auf die Täuferanfrage interpretiert, die von der überschießenden (da historischen?) Erwähnung von Aussätzigen abgesehen eine Zusammenstellung von Heilserwartungen aus dem Jesajabuch bietet, mit Jes 26,19; 29,18f.; 35,5f. und 61,1f. als Kernstellen: Geht und verkündet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen wieder und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote werden erweckt und Armen wird eine frohe Botschaft verkündet. Und selig ist, wer nicht an mir Anstoß nimmt (Q 7,22 f.).

Dass von den Wundern im Passiv berichtet wird, kann auf Gott als eigentlichen Täter, in dessen Auftrag der Wundertäter wirkt, weisen (passivum divinum/eschatologicum). Denkbar ist auch, dass Jesus so formulierte, weil er nicht der einzige Wundertäter und Verkündiger in der Reich-Gottes-Bewegung war, was die mehrfach bezeugte Beauftragung der Jüngerinnen und Jünger belegt. Das ändert nichts daran, dass Jesus als der primäre Träger des Wundercharismas derjenige ist, der das mögliche Ärgernis (7,23) evoziert. Damit muss die Nichtanerkenntnis der Jesuswunder als von Jesaja angekündigte Zeichen der Heilszeit gemeint sein und implizit die Abweisung dessen, der sie vollzieht, als Mandatar Gottes. Aus Qumran kennen wir einen eschatologischen Psalm (4Q 521), der in ähnlicher Weise auf dieselben und verwandte Jesajatexte rekurriert, um das kommende Heil zum Ausdruck zu bringen (Puech 1992a; Becker 1997; Zimmermann 1998, 343-389). In ihm ist Gott handelndes Subjekt, auch »sein Gesalbter« wird am Anfang genannt und könnte derjenige sein, der de facto die Handlungen vollzieht. Von der Heilszeit heißt es u. a. Er befreit die Gefangenen, er öffnet (die Augen) der Blinden, er richtet die Ge(beugten) auf (Z. 8)

sowie: Und wunderbare Dinge, die nicht geschehen sind, wird der Herr tun, wie (er geredet hat). (Dann wird) er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden. … (Elend)e wird er (satt machen), (Vertrie)bene wird er führen – und Hunger(nde) reich machen (4Q 521, Z. 11-13, Text nach Zimmermann 1998).

Da im unmittelbaren Kontext auch noch die Verheißung begegnet, die Frommen »auf dem Thron der ewigen Königsherrschaft« zu ehren (Z. 7, vgl. die Verheißung Jesu an seine Jünger in Lk 22,30/Mt19,28), und den Armen der Geist Gottes zugesprochen wird (Z. 6, vgl. Mt 5,3/Lk 6,20), kann man die Relevanz dieses aus der Zeit 100-80 v. Chr. stammenden Textes zur Illustration der in Palästina verbreiteten Heilserwartungen kaum 118

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hoch genug einschätzen. Das gilt unabhängig von Einzelfragen der Interpretation, die sehr umstritten sind, etwa ob 4Q 521 eine prophetische, messianische oder strikt theozentrische Konzeption zugrunde liegt (Hüneburg 2001a, 65-75; Hengel/Schwemer 2007, 332f.). Wichtig ist die große Übereinstimmung im Gesamtbild dessen, was man für die Heilszeit erwartete. Ein solcher Text kann daher auch gut erklären, wie man sich die über historisch Gesichertes hinausgehende Vervollständigung der Jesuswunder in der Überlieferungsgeschichte vorstellen muss. Sobald eine gewisse Übereinstimmung mit dem bekannten Erwartungsschema einmal erreicht war und Jesus als derjenige akzeptiert wurde, der die Erwartungen wahr machte, wird sich ein gewisser Automatismus eingestellt haben, mit dem man zunächst Wunder im Lichte des Erwarteten interpretierte und schließlich verbleibende Lücken zu füllen wusste. So werden manche Totenauferweckungen ursprünglich nicht ganz eindeutig von Heilungen unterscheidbar gewesen sein (vgl. Mk 5,35.39, eine ähnliche Unsicherheit Philostr. vit. ap. 4,45). Besonders die Entstehung der Brotvermehrungserzählungen könnte durch die Interpretation des Geschehens im Licht vorgeprägter Erwartungsschemata zu erklären sein, allerdings sind hier auch auf einer sehr frühen Stufe Einflüsse der urchristlichen Abendmahlstradition, der Elischatradition und wahrscheinlich des messianisch interpretierten Textes Ez 34 nachweisbar (Theißen/Merz 2011, 273-275; Eve 2009, 150-156; Chae 2006). Vielleicht sind auch die Sabbatheilungen Jesu im Kontext seiner eschatologischen Botschaft zu interpretieren, dann zugespitzt auf den Aspekt der eschatologischen Wiederherstellung des urgeschichtlichen Schöpfungszustandes: Zur Restitution der schöpfungsmäßigen Bestimmung des Sabbat als eines Feiertags, der von Gott zum Wohlergehen des Menschen vor dem Einbruch des Bösen in die Welt eingesetzt wurde und daher im zeitgenössischen Judentum ein Sinnbild für die eschatologische Heilszeit darstellt, hat Jesus am Sabbat nicht lebensbedrohlich erkrankte Personen geheilt und damit die Schöpfungsordnung über die Sinaitora gestellt (Mk 2,27; vgl. 10,2-9) (Kollmann 1996, 209; vgl. 247-254).

6. Wunder, Gebet und Glaube: thaumaturgischer Synergismus bei Jesus Obwohl von Jesus eine ganze Reihe Gleichnisse und Sprüche über das Beten überliefert sind und er seine Anhängerinnen und Anhänger mit dem Vaterunser ein auffällig kurzes, der Gruppe eigenes Gebet lehrte, wird in den Wundererzählungen nur ausnahmsweise einmal von einem Gebet Jesu berichtet (Joh 11,41 f.). Dies wird man als historisch zuverlässigen Reflex der Tatsache erklären dürfen, dass Jesus bei seinem Wunderwirken nicht erkennbar als Beter auftrat. Es bedeutet nicht notwendigerweise, dass er nicht betete oder das Gebet in diesem Zusammenhang nicht für wichtig gehalten hätte. Es gibt Hinweise darauf, dass das Gegenteil wahr sein könnte und dass die äußerliche Zurückhaltung im Zusammenhang der Wundertätigkeit spezifische Gründe hat. In der Polemik gegen die religiöse Elite begegnet zweimal der Vorwurf, diese missbrauche das Gebet in seiner Öffentlichkeitswirkung zu frommer Selbstdarstellung (Mk 12,41: lange Gebete verschleiern nicht vorhandene Frömmigkeit; Mt 6,5: Gebete an gut sichtbaren Orten). Jesus dagegen fordert – möglicherweise im Einklang mit einer etablierten Frömmigkeitspraxis (vgl. 2Kön 4,33; Philo cont. 25-27; TestJak 1,9) –, vorzugsweise unter Ausschluss der Öffent119

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lichkeit zu beten (Mt 6,6). Wenn die Erzählüberlieferung wiederholt berichtet, dass Jesus sich zum Beten an einsame Orte zurückgezogen habe (Mk 1,35; 6,46; Mt 14,23; Lk 5,16; 6,12; 9,18.28f.; Mk 14,32-42), könnte dies durchaus auf eine zutreffende Erinnerung zurückgehen (Luz 2002a, 425). Auch Mt 6,7 f. wird (vermutlich abzüglich der Polemik gegen Heiden) im Kern jesuanisch sein: Der Rat, sich kurz zu fassen, da der Vater alles weiß, was der/die Betende nötig hat, entspricht dem Geist vieler anderer Jesusworte und der wanderradikalen Praxis, im Vertrauen auf den Vater, der das tägliche Brot bereitstellen wird, kein Geld und nicht einmal Brot für eine Mahlzeit mit auf den Weg zu nehmen (vgl. Q 11,3.9 f.11-13; Mk 6,7 u. ö.). Wenn Jesus also anlässlich von Heilungen nicht demonstrativ betete, befolgte er zunächst einmal seine eigenen, den Jüngerinnen und Jüngern gegebenen Gebetsregeln und demonstrierte das Vertrauen in Gottes souveränes Bereitstellen des Nötigen. Vielleicht wollte sich Jesus aber auch bewusst abgrenzen von Wundertätern, die bekannt waren für ihre machtvollen und z. T. auch sehr langen Gebete (in bBer 50a betet Chanina 3 Stunden lang). Solche erfolgreichen Gebete standen nämlich beinah zwangsläufig in der Gefahr, als machtvolle Manipulationen verstanden zu werden mit der Potenz, die Souveränität Gottes zu untergraben. Das oben bereits besprochene, in der rabbinischen Tradition angesichts des wählerischen Forderns verdächtige Regenwunder des Onias/ Choni wird von Josephus eigentlich in Ant. 14,22 nur nebenbei erwähnt, weil dieses seinen Ruf als machtvoller Beter begründet hatte, den sich im innerhasmonäischen Streit Hyrkanus II gegen Aristobolus II zunutze machen wollte. Soll man annehmen, dass Hyrkanus wirklich glaubte, ein Fluchgebet des Onias könne Gott zu seinen Gunsten beeinflussen? Oder ging es ihm um die destabilisierende Wirkung des Gebetes auf Soldaten und Anhänger des in Jerusalem eingeschlossenen Aristobolus? Wie dem auch sei, Onias machte nach Josephus die böse Absicht zunichte, indem er, der von den anderen als überlegen anerkannte Beter (!), Gott mit lauter Stimme bat, die Gebete keiner der Konfliktparteien zu erhören, was die Soldaten ihm freilich dadurch dankten, dass sie ihn kurzerhand zu Tode steinigten (Ant. 14,23 f.). In den rabbinischen Traditionen über Choni, seine ebenfalls regenzaubernden Nachkommen und Chanina ben Dosa finden sich neben den bereits besprochenen zahlreiche weitere Reflexionen über den Zusammenhang von Wundern und (un)angemessenem Beten. Die meisten Texte reflektieren zwar rabbinische Gebetstheologie späterer Zeiten, doch sie arbeiten sich darin ab an der aus der vorrabbinischen Tradition stammenden Überzeugung von der Macht des Gebetes dieser Wunderrabbis, das nicht allein weiß, wann es erhört wird (mBer 5,5, s. u.), sondern auch giftige Schlangen zu töten vermag (tBer 3,20, bBer 33a) und bei Gott mehr zu bewirken wusste als das Gebet der größten Rabbinen (bBer 34b). Natürlich nehmen die rabbinischen Quellen ihre Protagonisten vor dem Verdacht magischer Manipulation in allen Tonarten in Schutz und können ihn doch nie ganz hinter sich lassen. Eine der schönsten diesbezüglichen Erzählungen ist die von einem Neffen des Kreisziehers Choni, zu dem die Rabbinen (!) bei Dürre Schulkinder schickten, die ihn am Gewand ziehen und mit den Worten »Abba, Abba, gibt uns Regen« bitten mussten, woraufhin dieser sich dann im Gebet zu Gott wandte und ihn bat: »Herr der Welt, tu es um dieser willen, die nicht unterscheiden können zwischen dem Vater, der Regen gibt, und dem Vater, der keinen Regen geben kann« (bTaan 23b). Zurück zu Jesus, bei dem also der Verzicht auf öffentliches Gebet beim Wundervollzug einen magischen Manipulationsverdacht nicht aufkommen lassen konnte (soll120

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te?!). Von ihm sind zugleich Worte überliefert, die ein Vertrauen in die Macht des Gebets ausdrücken, die den frühen Chanina moderat klingen lassen mit seiner Aussprache Dieser (Kranke) wird leben, und dieser wird sterben. … Wenn mein Gebet in meinem Mund flüssig geht, weiß ich, dass dieser angenommen ist; und wenn nicht, dann weiß ich, dass er verloren ist (mBer 5,5).

Jesus traut nach Mk 11,23-24 dem Gebet eines wahrhaft Glaubenden ganz ungeschützt zu, alles erreichen zu können: Wahrlich, ich sage euch, wer zu diesem Berge spräche: »Heb dich und wirf dich ins Meer!« und zweifelte nicht in seinem Herzen, sondern glaubte, dass geschehen werde, was er sagt, so wird es ihm geschehen. Darum sage ich euch: »Alles, was ihr bittet in eurem Gebet, glaubt nur, dass ihr es empfangt, so wird es euch zuteil werden« (vgl. auch Q 17,6; 1Kor 13,2).

Genau das in diesem Wort zum Ausdruck kommende unbedingte Vertrauen/der Glaube, von Gott alles Erbetene auch zu erhalten, wird nun von Jesus gegenüber mehreren Geheilten zur eigentlichen Ursache ihrer Heilung erklärt (»dein Glaube hat dich gerettet« Mk 5,34; 10,52) bzw. zur Voraussetzung dafür erklärt, dass er, Jesus, heilen könne (»dir geschehe, wie du geglaubt hast« QMt 8,13; 9,29; vgl. Mk 2,5; 7,29; Mt 8,10; 9,28 u. ö.). In höchster Zuspitzung findet sich diese Grundüberzeugung im Wort an den Vater des epileptischen Knaben »Alles ist möglich dem, der glaubt« (Mk 9,23), womit einem wahrhaft Glaubenden Anteilhabe an der Allmacht Gottes zugeschrieben wird. Dass diese Worte auf Jesus zurückgehen, wird im Allgemeinen nicht bestritten. Aber wie soll man sie deuten? Es ist vermutlich hilfreich, hier zwischen der dem erfolgreichen Wundertäter im Laufe der Zeit aufgegangenen allgemeingültigen Erfahrungsweisheit und ihrer theologischen Überhöhung und Deutung im Kontext der präsentisch-eschatologischen Wundererfahrung der Jesusbewegung zu unterscheiden. Erfahrung, vielleicht nicht nur in Nazaret (Mk 6,5a s. o.), lehrte Jesus, dass das Fehlen von Vertrauen in die göttliche Bevollmächtigung des Wundertäters Wunder unmöglich machte. Dass umgekehrt bei vertrauensvoller Haltung der Hilfesuchenden an anderen Orten Wunder geschahen, ohne dass Jesus selbst überhaupt irgendetwas dazu getan hätte, lässt die Erzählung von der Heilung der Blutflüssigen noch deutlich erkennen (Mk 5,25-34). Vespasian, der in Alexandrien zum Wundertäter wider Willen wurde, machte übrigens, wenn man Tacitus Glauben schenken darf, eine vergleichbare Erfahrung. Beim Leser wird der Eindruck erweckt, dass es zuerst und v. a. das von Tacitus als abergläubisch disqualifizierte Vertrauen der Kranken in die Aufträge des Gottes Serapis ist, das die Heilungen ermöglicht (Tac. hist. 4,81,1). Tacitus ist allerdings Politiker und Römer genug, um daneben auch »des Himmels Huld und eine gewisse Zuneigung der Götter für Vespasianus« in Rechnung zu stellen und die zweifelnde (!) Überlegung der Ärzte zu erwähnen, das »sei vielleicht der Wunsch der Götter und er, der Prinzeps, sei als Werkzeug der Götter auserwählt«. Doch letztlich zeichnet Tacitus den Vespasian als überzeugenden Manipulator der Abergläubigen, als auf seine (göttliche) fortuna vertrauenden Spieler, der nichts für unmöglich halten möchte und angesichts der zynischen Erkenntnis, »der Ruhm bei erfolgreicher Heilung werde dem Caesar zufallen, der Spott bei einem Misslingen den beiden Unglücklichen«, kühlen Blutes »mit fröhlicher Miene unter gespannter 121

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Aufmerksamkeit der ihn umgebenden Menge« das ausführte, »was man von ihm verlangte« – und mit seinem Wagestück Erfolg hat (Tac. hist. 4,81,2-3)! Es ist aus historischer Sicht nicht zu bestreiten, dass der Erfolg auch des Wundertäters Jesus von Nazaret menschlich betrachtet aufbaut auf den, wie das Tacitusbeispiel gut zeigt, weitverbreiteten und leicht manipulierbaren Hoffnungen der Elenden auf Rettung und ihrer Bereitschaft, einem halbwegs überzeugenden Charismatiker das Unmögliche zuzutrauen. Doch geht Jesus in seiner Einsicht in die Mechanismen des Wundergeschehens und mit der Deutung seiner Erkenntnisse im Licht der Reich-GottesErfahrung Wege, die ihn von allen anderen Wundertätern unterscheiden. Er sagt den Geheilten: »Dein Glaube hat dich gerettet« oder »deine Sünden sind dir vergeben« (Mk 2,9) und integriert sie damit aufs Neue in die Kontinuität der Glaubensgeschichte Israels und in die Gemeinschaft der an den einen Gott Glaubenden, der Schöpfer und Erlöser der Welt ist. In der Überzeugung, dass mit jedem vollzogenen Exorzismus die Herrschaft Gottes sich ausbreitet über die vormals Satan Unterworfenen und dass jeder Geheilte auch in seiner bzw. ihrer Gottesbeziehung geheilt ist, bekommen die irdischen Genesungen eine eschatologische Dimension. Die vielfältigen symbolischen Deutungen der Heilungsgeschichten in der neutestamentlichen Tradition gehen damit letztlich alle auf die präsentisch-eschatologische Deutung der Wunder durch Jesus selbst zurück. Jesus hat die wechselseitige Angewiesenheit von Wundertäter und Empfänger des Wunders erkannt und auch, dass beide im Glauben an die Möglichkeit des Wunders an der Allmacht Gottes partizipieren. Natürlich fragmentarisch und auf göttliche Hilfe und Vollendung angesichts menschlichen Unglaubens angewiesen (Mk 9,24), der eine mehr, der andere weniger. Doch alle, Wundertäter und Geheilte, sowie alle, die sich von den Wundern als Zeichen der Heilszeit zur Umkehr und zum Glauben bewegen lassen, wirken mit an der Ausbreitung der Gottesherrschaft. Man kann daher der Jesusbewegung einen thaumaturgischen Synergismus zusprechen, der dem ethischen Synergismus der Pharisäer (Flav. Jos. Bell. 2,163) und dem revolutionären Synergismus der Bewegung des Judas Galiläus (Flav. Jos. Ant. 18,5) an die Seite gestellt zu werden verdient.

Annette Merz Literatur zum Weiterlesen A. J. Avery-Peck, The Galilean Charismatic and Rabbinic Piety: The Holy Man in the Talmudic Literature, in: A.-J. Levine/D. C. Allison/D. Crossan (Hg.), The Historical Jesus in Context, Princeton 2006, 149-165. P. W. Barnett, The Jewish Sign Prophets – A.D. 40-70, NTS 27 (1981), 679-697. M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, WUNT 2/144, Tübingen 2002. W. Cotter, Miracles in Greco-Roman Antiquity: A Sourcebook for the Study of New Testament Miracle Stories, London 1999. E. Eve, The Healer from Nazareth. Jesus’ Miracles in Historical Context, London 2009. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter, FRLANT 170, Göttingen 1996. E. Koskenniemi, The Function of the Mircale Stories in Philostratus’ Vita Apollonii Tyanensis, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte (Hg.), Wonders Never Cease, London/New York 2006, 70-83.

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Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter

G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 42011, 256-284. G. H. Twelftree, The message of Jesus I: Miracles, Continuing Controversies, in: T. Holmén/ S. E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 3: The Historical Jesus, Leiden 2011, 2517-2548.

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Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus 1. Wesen und Funktion von Magie in der Antike Magie ist ein fester Bestandteil der antiken Kulturen und auch im Judentum zur Zeit Jesu breit bezeugt. Für eine Person, die über die Kunst der Magie verfügt, begegnen in den griechischen Quellen ganz überwiegend die Begriffe Magier (m€go@ magos) oder Goet (gh@ goe¯s). Diese Termini waren ursprünglich positiv besetzt, indem sie den zwischen Menschenwelt und Götterwelt vermittelnden Priester, Weisen, Seher oder Reiniger bezeichneten. Bereits im klassischen Griechenland vollzog sich aber ein Paradigmenwechsel mit dem Resultat, dass die Begriffe Magier oder Goet in der Außenansicht fortan in aller Regel negativ konnotiert sind. Es handelt sich bei diesen Personen nun nach weit verbreiteter Auffassung um zwielichtige Zauberer, Hexer, Scharlatane und Betrüger (Graf 1996, 24-36; Aune 2007, 236-245). Aus der Antike sind zahlreiche Personen bekannt, die in den Quellen als Magier bzw. Goeten bezeichnet werden oder der Sache nach als solche gelten können. Neben den mit ihnen verbundenen Traditionen sind in Form von Handbüchern und materiellen Relikten vielfältige Zeugnisse angewandter Magie erhalten, die einen anschaulichen Eindruck von den Betätigungsfeldern und Praktiken eines antiken Magiers oder Goeten vermitteln. Dabei zeigt sich die Verfolgung einer Vielzahl unterschiedlichster Ziele. Magie hat es nicht nur mit Heilung, Zukunftsschau und Kontrolle über die Natur zu tun, sondern wird auch zur Anwendung gebracht, um Erfolg in der Liebe, vor Gericht, im Glücksspiel oder im sportlichen Wettkampf zu erlangen. Zu den dafür eingesetzten Praktiken zählen neben Beschwörungen, Gebeten und Opfern auch Verfluchungen und sympathetische Rituale, die auf eine physische Schädigung von Konkurrenten ausgerichtet sind, um diese kaltzustellen. Als besonders wirksam dafür gelten Totengeister, die der Magier unter Kontrolle zu bringen und für seinen Schadenszauber dienstbar zu machen sucht. Lange Zeit glaubte man, Magie als ein dekadentes kulturelles Phänomen abtun zu können, das sich im Wesentlichen manipulativer Techniken bediene und leicht von Religion abgrenzen lasse. Magie galt in diesem Kontext entweder als primitive Vorstufe oder als degenerierte Fehlentwicklung von Religion. Neuere Untersuchungen zeigen dagegen, dass allen Versuchen, Magie entschieden aus dem Bereich von Religion auszugrenzen und das magische Wunder streng vom charismatischen Wunder abzusetzen, kaum Erfolg beschieden ist (vgl. Aune 1980, 1510-1516; ders. 2007, 231-274; Segal 1981, 349-375; Aubin 2001, 16-24). Idealtypisch lässt sich zwar der Charismatiker, der durch sein Verhältnis zu Gott legitimiert wird und kraft persönlicher Ausstrahlung Wunder wirkt, von dem Magier unterscheiden, dessen Wunder auf erlernter, unabhängig von der Person wirkender Kunst beruhen und der damit über eine nur technische Legitimation verfügt. In der Praxis verwischen sich aber die Grenzen, indem sich die Mehrzahl der Charismatiker auch magischer Praktiken bedient, während umgekehrt Magier ihre Kunst als Gabe der Götter betrachten und Gebete wie Opfer darbringen (vgl. Graf 1996, 85-89.192-198). Inwieweit etwas als Magie oder Religion eingestuft wird oder wo die Grenze zwischen abgelehntem magischem und anerkanntem charismatischem Wunder gezogen wird, ist 124

Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus

in hohem Maße eine Frage des subjektiven Standpunkts und der gesellschaftlichen Machtstellung. Auch die Ansicht, dass Magie asozial sei, während Religion positive Auswirkungen auf die Gesellschaft habe, bleibt ein Postulat. Bevorzugt Phänomene, die nicht mit dem gesellschaftlich vorherrschenden Religions- und Wissenschaftsverständnis konform sind, werden als Magie disqualifiziert und in Misskredit gebracht. Formeln wie »›your magic is my religion‹ and vice versa ›your religion is my magic‹« (Schäfer 1997, 22) oder »religion is official and approved magic; magic is unofficial and unapproved religion« (Crossan 1992, 305) bringen diesen Sachverhalt anschaulich auf den Punkt. Magie ist eine Form abweichenden, von den herrschenden Kreisen nicht gutgeheißenen religiösen Verhaltens. Sie befriedigt Bedürfnisse, die durch die dominanten religiösen Institutionen nicht abgedeckt werden, und stellt eine subversive Form des sozialen Protestes dar. Umstritten bleibt, ob sich Magie jenseits dieser funktionalen Bestimmung inhaltlich in irgendeiner Weise von Religion unterscheiden oder zumindest als nicht unproblematische Form religiöser Praxis erweisen lässt. Unübersehbar ist, dass Magie grundsätzlich nicht von einer Unverfügbarkeit der Gottheit ausgeht und diese durch Bitten gnädig zu stimmen sucht, sondern in beträchtlichem Maße die Zwangsbeeinflussung von Gottheiten zum Mittel der Religionsausübung erhebt. Dabei erweist sich Magie meist als synkretistisches Phänomen, indem Gottheiten aus unterschiedlichsten Religionen angerufen werden. Für viele Spielarten von Magie kommen weitere Problemaspekte, etwa die Durchsetzung fragwürdiger Wünsche oder die im Schadenszauber offen zu Tage tretende Vernachlässigung ethischer Reflexion, hinzu. Magie erweist sich damit nicht zwangsläufig, aber in vielen ihrer Spielarten als problembehaftete Form der Religionsausübung. Vor dem Hintergrund der negativen Reputation antiker Magier als zwielichtiger Zauberer, Betrüger und Scharlatane wird anstelle von Magie zuweilen der deutlich positiver besetzte Begriff Schamanismus bevorzugt. Schamanismus ist ein religiöses Phänomen, das von Ethnologen und Religionswissenschaftlern zuerst in Sibirien und Asien beobachtet wurde. Schamanen sind in so genannten primitiven Stammesgesellschaften hoch angesehene Mittler zwischen Menschenwelt und Götterwelt, die den Menschen direkten Kontakt zu den göttlichen Kräften vermitteln, indem sie beispielsweise durch Opferhandlungen und Reinigungsriten die höheren Mächte versöhnen oder den Seelen der Verstorbenen Geleit ins Jenseits geben (vgl. Eliade 1964; Stutley 2003). Als Medizinmänner bewirken sie Heilung, indem sie die verloren gegangene oder von bösen Geistern geraubte Seele zu ihrem angestammten Ort im menschlichen Körper zurückbringen und damit die ganzheitliche Harmonie wiederherstellen. Das neuzeitliche Phänomen des Schamanismus lässt sich der Sache nach bis in die Antike zurückverfolgen (vgl. Burkert 1962a, 36-55; Dodds 1973, 135-178) und zeigt sich bei Magiern und Goeten wie etwa Epimenides, Pythagoras oder Empedokles, die als Heiler, Seher oder Reiniger agierten und denen Macht über die Naturgewalten zugeschrieben wurde.

2. Magie und Schamanismus in der Umwelt Jesu Epimenides (7. Jh. v. Chr.), der die Seelenwanderung lehrte, über seherische Fähigkeiten verfügte und Naturkatastrophen durch Reinigungs- oder Opferriten abwandte, repräsen125

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tiert den Prototyp des griechischen Magiers mit schamanistischen Fähigkeiten. Für Pythagoras (6. Jh. v. Chr.) zeigt sich deutlich, dass es sich bei ihm um einen Schamanen handelte und die Wunder zum ältesten Kern der Pythagorasüberlieferung zählen (Burkert 1962b, 86-142). Nicht zu bezweifeln ist, dass Pythagoras die Seelenwanderung lehrte, von einer Präexistenz der Seele in früheren Lebewesen überzeugt war und sich einer Reinigung der Seele widmete. Das in der Seelenwanderungslehre des Pythagoras eingeschlossene Wissen um das vergangene und zukünftige Geschick der Seele im Jenseits setzt einen Zugang zum Bereich der Götter und Dämonen voraus, mit denen der Schamane in Verbindung tritt, indem seine Seele sich losgelöst vom Körper auf Jenseitsreise begibt. In diesem Zusammenhang werden Pythagoras Flugwunder, die ihm ein gleichzeitiges Erscheinen an unterschiedlichen Orten ermöglichten (Iamb. vit. Pyth. 28,134.136), und eine rituelle Hadesfahrt (D.L. 8,41) zugeschrieben. Letztere verfolgte wohl den Zweck, den Seelen der Verstorbenen Totengeleit ins Jenseits zu geben oder den Lebenden von dort Informationen über die Präexistenz ihrer Seele zu verschaffen. Neben der Vermittlung solchen Wissens, das einer Erkenntnis von Verfehlungen im vorherigen Leben und daraus resultierender Leiden diente, schloss die Wirksamkeit des Pythagoras Musiktherapie mit ein, um die Seele zu reinigen und ihr die Harmonie zurückzugeben (Iamb. vit. Pyth. 14,63; 25,111). Auch jene Wundergeschichten, die von der Macht des Pythagoras über wilde Tiere handeln (Iamb. vit. Pyth. 13,60-62), sind Ausdruck seiner Seelenwanderungslehre. Wenn sich menschliche Seelen auch in Tieren reinkarnieren, vermag ein Schamane mit jenen in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. Auf der einen Seite wurde Pythagoras als göttlicher Apollo verehrt (Arist. fr. 191), auf der anderen Seite als Anführer der Betrüger betrachtet (Heraklit [Diels-Kranz 22B 81]). Empedokles (5. Jh. v. Chr.) bewegte sich im Grenzbereich von Magie und Wissenschaft. Er teilte die pythagoreische Seelenlehre und war davon überzeugt, selber bereits in früheren Inkarnationen sowohl Mensch als auch Tier und Pflanze gewesen zu sein. In einem Fragment seiner Schrift »Über die Natur«, in der er von der Weitergabe seiner Fähigkeiten an Pausanias spricht, ist von Krankenheilungen, Kontrolle über die Naturgewalten und Zurückholen der Toten aus dem Hades die Rede (D.L. 8,59). Berühmt geworden ist Empedokles denn auch v. a. durch die Wiederbelebung einer Frau, bei der die Ärzte seit dreißig Tagen weder Atem noch Pulsschlag festgestellt und sie bereits für tot erklärt hatten (D.L. 8,60-62). Bei diesem wunderhaften Geschehen hat es sich wahrscheinlich um eine auf medizinischem Wege bewirkte Wiederherstellung der Atmungsfähigkeit gehandelt, da für Empedokles wissenschaftliche Reflexionen über die physiologischen Grundlagen von Schlaf und Tod samt deren Unterscheidung bezeugt sind. Die Frau war also nur scheintot und Empedokles vermochte dies zu diagnostizieren. Unter den Naturwundern des Empedokles ragt eine Tat heraus, die ihm den Beinamen »Windbezwinger« einbrachte. Er soll einst in Agrigent vom Berge aus einen Wind gestillt haben, der Krankheit und Unfruchtbarkeit verursachte (Clem. Alex. strom. 6.30,1). Überliefert ist von ihm aber auch die Reinigung eines Flusses von giftigen Ausdünstungen, woraufhin die Menge ihn wie einen Gott anbetete (D.L. 8,70). Andere betrachteten ihn dagegen als Goeten (D.L. 8,59). Im neutestamentlichen Zeitalter war Apollonius von Tyana (vgl. Bowie 1978, 1652-1699; Dzielska 1986) der bedeutsamste pythagoreische Magier oder Schamane. Seine Jugend verbrachte Apollonius am Asklepiosheiligtum von Aigai, wo er sich dem Pythagoreertum zuwandte (Philostr. vit. ap. 1,7-12). Später verfasste er eine allerdings 126

Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus

verloren gegangene Pythagorasbiographie (Iamb. vit. Pyth. 35,254-264). Der Hauptquelle für das Wirken des Apollonius, nämlich der Vita Apollonii des Philostrat, ist mit Skepsis zu begegnen, da sie erst aus dem frühen 3. Jh. stammt und der darin immer wieder als Gewährsmann und Weggefährte des Apollonius reklamierte Damis sich als literarische Fiktion erwiesen hat. In der Hauptsache geht es Philostrat darum, Apollonius vom Vorwurf zwielichtiger Magie freizusprechen. Dazu verschafft er der Weisheitslehre des Apollonius darstellerisches Übergewicht gegenüber den Wundern und sucht ein in der älteren Tradition verwurzeltes Bild von Apollonius als Magier (Philostr. vit. ap. 13) oder Goet (Dio Cass. 77,18,4) zu verdrängen. Neben der Vita Apollonii ist eine Vielzahl von Apolloniusbriefen überliefert, die jedoch ganz überwiegend nicht von ihm selber stammen. Hohe Glaubwürdigkeit verdienen allerdings diejenigen Schreiben, in denen Apollonius ein positives Verständnis von Magie als Gottesdienst entwickelt, für sich selber als Magier eine göttliche Natur reklamiert und eine Verankerung seiner Wunderwirksamkeit in der Pythagorastradition zu erkennen gibt (Apoll. ep. 17.23.52). Insbesondere aufgrund der Wunder genoss Apollonius hohes Ansehen. Bei Philostrat wird er expressis verbis als göttlicher Mensch bezeichnet (Philostr. vit. ap. 7,38). Die zahlreichen Wundergeschichten der Vita Apollonii (vgl. Petzke 1970, 125-134) dürften den von Philostrat erwähnten Lokaltraditionen über Apollonius zuzurechnen sein. Dabei werden Apollonius unterschiedlichste Wunder zugeschrieben, und zwar neben Heilungen (Philostr. vit. ap. 1,9; 6,43), einer Dämonenaustreibung (4,20) und einer Totenerweckung (4,45) unter anderem auch die Bewahrung von Städten vor Pest oder Erdbeben (4,10; 6,41), die Rettung eines unschuldig Verurteilten vor der Hinrichtung (5,24), die Bändigung eines liebestollen Satyrs (6,27) und die Selbstbefreiung aus Fesseln (7,38). Der letzte herausragende Vertreter des antiken Schamanentums pythagoreischer Prägung war Alexander von Abonuteichus, dessen historische Konturen sich hinter Lukians massiv verzerrender Darstellung seiner Person als Lügenprophet und Goet (Luc. Alex. 1) noch deutlich abzeichnen. Alexander vollzog Mitte des 2. Jh. n. Chr. in seiner Heimatstadt Abonuteichos mit großem Erfolg eine Synthese von Pythagoreismus und Asklepioskult. Das Wirken Alexanders an dem von ihm gegründeten Orakeltempel richtete sich schwerpunktmäßig auf Prophezeiungen, Heilungen und Abwendung von Naturkatastrophen (Luc. Alex. 22.24.36). Anschauliche Einblicke in die konkrete Praxis der antiken Magie, wie sie von Spezialisten in esoterischen Zirkeln gelehrt wurde, bieten magische Handbücher und materielle Relikte. Unter den magischen Handbüchern ragen die Papyri Graecae Magicae (Preisendanz/Henrichs 1973/1974; Betz 1992; Daniel/Maltomini 1990/1992) aus Ägypten heraus. Dabei handelt es sich um eine komplexe Sammlung magischer Rezepte und Ritualanweisungen, für die sich die eher abwertende Bezeichnung Zauberpapyri eingebürgert hat, wie sie von Karl Preisendanz durch den deutschen Untertitel seiner Edition geprägt wurde. Zu den materiellen Relikten der griechisch-römischen Magie zählen insbesondere Fluchtafeln, Vodoo-Puppen und Amulette (vgl. Gager 1992; Kotansky 1994). In der jüdischen Lebenswelt Jesu lassen sich magische Riten bis in die vorexilische Zeit zurückverfolgen. Im Buch Tobit wird dann einer Integration von hellenistischer Magie in das Judentum der Weg geebnet, indem die Kenntnis magischer Techniken aus der Umwelt auf den ausdrücklichen Willen Gottes zurückgeführt wird, der sie durch seinen Engel Raphael offenbar gemacht hat (Kollmann 1994, 289-299; Stuckenbruck 2002, 258269). Magie ist, sofern sie dem Glauben an den einen Gott der Bibel Rechung trägt, 127

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grundsätzlich legitim, wird allerdings unter dem Aspekt der Zwangsbeeinflussung Gottes und des Gebrauchs des Gottesnamens zu Beschwörungszwecken auch immer wieder als problembehaftet empfunden. In der griechisch-römischen Welt stand insbesondere die mit Mose in Verbindung gebrachte jüdische Magie in hohem Ansehen (Strab. geogr. 16,2,39; Plin. nat. 30,11). Zu den herausragenden Magiern im antiken Judentum zählt Choni der Kreiszieher (1. Jh. v. Chr.). Wie Epimenides (D.L. 1,109) soll er in einen jahrzehntelangen Schlaf gefallen sein (bTaan 23a). Berühmt wurde Choni mit seinem Regenwunder (mTaan 3,8), bei dem er wie Empedokles über die Fähigkeit verfügte, Regen hervorzubringen und wieder zu stoppen. Choni versuchte zunächst, es durch gewöhnliches Beten zu Gott regnen zu lassen, scheiterte aber. Erst die Anwendung magischer Techniken brachte den gewünschten Erfolg. Choni zog einen vermutlich der Dämonenabwehr dienenden magischen Kreis und bediente sich damit einer Technik, die in der antiken Magie in unterschiedlichsten Zusammenhängen bezeugt ist. Zudem leistete er einen Eid beim Namen Gottes, sich bis zum Eintreten des Wunders nicht von der Stelle zu rühren. Choni unternahm damit den Versuch einer Zwangsbeeinflussung Gottes, der als Verstoß gegen das erste Gebot aufgefasst werden konnte, und gab sich beim Eintreten des Wunders nicht einmal mit der Qualität des Regens zufrieden. Der pharisäische Gesetzeslehrer Simon ben Schatach, der in der rabbinischen Tradition als erbitterter Gegner von Magie porträtiert wird, vertrat die Auffassung, dass von Rechts wegen über Choni der Bann verhängt werden müsse. Was Choni davor bewahrte, war das tatsächliche Eintreten des Wunders. Dies wurde als Beweis für eine besonders intensive Gottesbeziehung und damit als göttliche Legitimation der umstrittenen Praktiken Chonis gedeutet. Abba Chilkia und Chanan, zwei Enkel Chonis, sollen ebenfalls Regenwunder bewirkt haben (bTaan 23a). Offenkundig wurden Fähigkeiten auf dem Gebiet des Wetterzaubers, die sich magischschamanistischem Vorherwissen künftiger Naturereignisse verdanken dürften, von Generation zu Generation weitergereicht. Während der historische Choni wegen seiner magischen Praktiken in Spannung zum Schriftgelehrtentum stand, kam es bei der Überlieferungsgeschichte der Choni-Stoffe in einem »process of rabbinization« zu einer Integration Chonis in das rechtgläubige Judentum (vgl. Green 1979, 619-647). Choni rückt auf eine Stufe mit dem Propheten Elia. Die Brisanz seines magischen Kreisziehens mit Zwangsbeeinflussung Gottes wird im Talmud durch einen Schriftbeweis entschärft, indem sie als Erfüllung von Hab 2,1 gilt (bTaan 23a). Zudem wird Choni, von dem keinerlei Gesetzesauslegung überliefert ist, zum bedeutendsten Schriftgelehrten seiner Generation hochstilisiert. Aus dem umstrittenen Magier ist ein anerkannter Rabbi geworden. In den Tagen Jesu galten die Essener als Experten auf dem Gebiet der magischen Heilung. Josephus zufolge erforschten sie die Schriften der Alten darauf hin, was Leib und Seele nützt, und maßen dabei zur Heilung von Krankheiten dienenden Wurzeln und den Eigenschaften von Steinen besondere Bedeutung bei (Flav. Jos. Bell. 2,136). Dies ist wohl so aufzufassen, dass Essenerkreise sich mit solchen magischen Büchern über die Heilkraft von Wurzeln und die Wunderwirkung von Steinen beschäftigten, wie sie im hellenistischen Zeitalter in der Umwelt des antiken Judentums vielfach bezeugt sind und im Zuge der Hellenisierung auch nach Palästina gelangt sein dürften (vgl. Hengel 1969, 440-442; Kollmann 1996, 128-131). Insbesondere ist dabei an das Buch des pythagoreischen ägyptischen Magiers Bolos von Mendes über die Kraft der Steine, an das astrologische Handbuch des Nechepso-Petosiris mit seinen Instruktionen 128

Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus

»zur Heilung des ganzen Körpers und aller Leiden gemäß dem Tierkreis durch Steine und Pflanzen« und an das erste Buch der Kyraniden zu denken, das Anleitungen zur Herstellung von Amuletten oder heilkräftigen Ringen aus Steinen mit darunter verborgenen Wurzeln enthält. Qumran am Toten Meer, das trotz aller Versuche einer archäologischen Neubewertung (vgl. Hirschfeld 2006) wohl eine Essenersiedlung war, kann als eine Art Hochburg jüdischer Magie gelten. Zumindest befinden sich unter den Schriften, die in den Höhlen am Toten Meer gefunden wurden, auch zahlreiche magische Texte. Bei der Schriftrolle 11Q11 handelt es sich um eine Zusammenstellung des bereits in alttestamentlicher Zeit zu Beschwörungszwecken verwendeten Psalms 91 mit weiteren, apokryphen Psalmen Davids, in denen auch Salomo erwähnt wird (vgl. Puech 1992b, 64-89; Sanders 1997, 216-233). In einem anderen Qumrantext (11Q5) ist davon die Rede, dass David 4050 Psalmen, darunter »vier Lieder zur Musik über den Geschlagenen« verfasst habe, wobei mit den Geschlagenen dämonisch Besessene gemeint sind. Wahrscheinlich wurde 11Q11 zu den angesprochenen Liedern Davids gerechnet, zumal Ps 91 im Talmud stereotyp als dämonenbannendes »Lied der Geschlagenen« gilt (Grözinger 1982, 166-170). Auch die Qumrantexte 4Q560 und 8Q5 dienten exorzistischen Zwecken (Naveh 1998, 252-261; Eshel 2003, 396-403). Da es sich bei den genannten Texten nicht um genuin essenische Dokumente handelt, partizipiert die Qumrangemeinde hier an magischen Praktiken, wie sie für weitere Teile des antiken Judentums repräsentativ sind. Eine andere Gruppe von Texten zur apotropäischen Dämonenabwehr (4Q444; 4Q510.511; 6Q18; vgl. Eshel 2003, 406-411) wurde dagegen wohl erst in Qumran komponiert. Im Fall von 4Q510 und 511 wurden die Exorzismen von einem Weisen (maskil) vollzogen, bei dem es sich um einen herausragenden Magier der Gemeinschaft gehandelt zu haben scheint. Der in der Zeit des Jüdischen Krieges aktive Exorzist Eleazar (vgl. Duling 1985, 125; Deines 2003, 365-394) ist Repräsentant einer magisch-medizinischen Heilkunst in der Tradition Salomos, von der sich in 11Q11 Spuren finden und die im Umfeld Jesu die Hauptströmung innerhalb der jüdischen Magie darstellt haben dürfte. Eine genaue Darstellung von Eleazars Wirken verdanken wir einem Augenzeugenbericht des Josephus, der im Zusammenhang mit Salomo auf ihn zu sprechen kommt (Flav. Jos. Ant. 8,42-49). Das geschilderte Ereignis trug sich zwischen 67 und 69 n. Chr. zu, als Josephus zunächst Kriegsgefangener und dann freiwilliger Begleiter des römischen Feldherrn und späteren Kaisers Vespasian war. Eleazar verwendete einen Siegelring mit darunter verborgener Wurzel, um den Dämon aus den Nasenlöchern des Besessenen herauszuziehen. Er bediente sich eines Instruments, das speziell zur Heilung von Epilepsie in der Antike breit bezeugt ist. Die unmittelbarsten Parallelen bieten drei Instruktionen aus den Kyraniden, einem magisch-medizinischen Kompendium aus Ägypten, wo mit heilkräftiger Wurzel versehene Ringe der Therapie von Epilepsie oder dämonischer Besessenheit dienen. Der römische Arzt Galen (2. Jh. n. Chr.) vermochte sich übrigens in wissenschaftlichen Versuchen von der Heilkraft bestimmter Wurzeln bei Epilepsie zu überzeugen und erklärte sich dies damit, dass Teile der Wurzel mit gesundheitsfördernder Wirkung eingeatmet werden (Galen. 11,859f.). Begleitend bringt Eleazar exorzistische Praktiken und dämonenbannende Schutzmaßnahmen zur Anwendung, indem er dem ausfahrenden Dämon ein Rückkehrverbot erteilt und ihn zum sichtbaren Beweis seines Entweichens ein Wasserglas umstürzen lässt. Das Rückkehrverbot vollzieht sich unter Aussprechen des Namens Salomos und einer Rezitation ihm zugeschriebener Beschwörungsformeln. Dabei 129

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dürfte Eleazar keine singuläre Erscheinung im antiken Judentum gewesen sein. Josephus erwähnt ihn exemplarisch im übergreifenden Sachzusammenhang der auf Salomo zurückgeführten Krankheitsbeschwörungsformeln und Exorzismusanleitungen, die als magische Handbücher kursierten und auch von anderen jüdischen Wundertätern verwendet wurden. Eines dieser Werke war das in der rabbinischen Tradition erwähnte »Buch der Heilmittel«, für das eine Verfasserschaft Salomos reklamiert wurde (Halperin 1981/82, 269-292). Auch der Kirchenvater Origenes bestätigt die Existenz angeblich von Salomo verfasster magischer Kompendien zur Dämonenaustreibung (Or. comm. in Matt. 26,63). Da die Essener Wurzeln zu Heilzwecken verwandten und in Qumran mit apokryphen Psalmen unter Erwähnung Salomos exorzistische Musiktherapie betrieben wurde, könnte es sich bei Eleazar um einen Essener gehandelt haben. Inwieweit die von Josephus als Goeten bezeichneten zelotischen Zeichenpropheten (vgl. Barnett 1981, 679-697) magische Praktiken anwandten, bleibt unklar. Mit dem als einer Art Hofastrologe wirkenden Barjesus Elymas (Apg 13,4-12), den als Exorzisten tätigen Skevassöhnen (Apg 19,13-17) und dem auf Liebeszauber spezialisierten Atomus (Flav. Jos. Ant. 20,142) sind uns weitere Magier des antiken Judentums namentlich bekannt. Zudem finden sich in den magischen Papyri aus Ägypten auch Instruktionen jüdischer Herkunft, allen voran das umfassende Exorzismusformular PGM 4,3019-3078, in dem der Krankheitsgeist beim Siegel Salomos beschworen wird. Auch etliche der magischen Praktiken des spätantiken Judentums, die in der rabbinischen Literatur (vgl. Bohak 2008, 351-425), in magischen Kompendien wie dem »Buch der Geheimnisse« (Rebiger/Schäfer 2009) oder auf Zauberschalen und Amuletten (Naveh/Shaked 1985) bezeugt sind, könnten bereits in den Tagen Jesu angewandt worden sein.

3. Forschungskontroversen um die Betrachtung Jesu als Magier Magische Praktiken waren in der jüdischen Lebenswelt Jesu allgegenwärtig und die Wunder Jesu wurden bereits in der Antike massiv mit Magie in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Frage nach Jesus als Magier in der Bibelwissenschaft erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus gerückt ist. Lange Zeit galt es als sicher, dass die durch das krafterfüllte Wort bewirkten und sich im Rahmen einer personalen Beziehung zu den Hilfsbedürftigen vollziehenden Wunder Jesu nicht das Geringste mit Magie zu tun hätten (vgl. etwa Grundmann 1935, 303). Samuel Eitrem vertrat dann die Auffassung, Jesus habe zumindest in Momenten der spirituellen Schwachheit von Techniken der magischen Volksmedizin Gebrauch gemacht (Mk 7,3137; 8,22-26), anstatt wie sonst allein durch das charismatische Wort zu heilen (Eitrem 1966, 30-70). Otto Böcher entwirft skizzenhaft ein Bild von Jesus als Wundertäter, der zwar durch das Selbstverständnis als Werkzeug Gottes und die eschatologischen Bezüge seiner Taten wichtige Alleinstellungsmerkmale aufweise, ansonsten aber dem dämonistischen Weltbild wie den exorzistischen Praktiken seiner Zeit verhaftet bleibe und in Mk 5,1-20 sogar als furchterregender Magier begegne (Böcher 1972, 166f.). John M. Hull stellt in seiner Untersuchung zu hellenistischer Magie und synoptischer Tradition heraus, dass zentrale Motive der neutestamentlichen Wunderberichte im magischen Weltbild der Antike verwurzelt sind (Hull 1974, 61-115), ohne dabei allerdings Rückschlüsse auf den historischen Jesus zu ziehen. 130

Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus

Somit blieb es Morton Smith vorbehalten, in ausgesprochen provokativer Form die Frage nach Jesus als Magier in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Bereits nach seiner Entdeckung des »Geheimen Markusevangeliums«, dessen Echtheit allerdings immer wieder bezweifelt wird (vgl. Kollmann 2009, 54-61), sah er das gesamte Wirken Jesu von obskuren magisch-esoterischen Praktiken geprägt (Smith 1973, 220-251). In seinem Buch »Jesus the Magician« versucht Smith dann, das in sich stimmige und glaubwürdige Bild einer Magierlaufbahn Jesu zu rekonstruieren (Smith 1978; vgl. dazu Bühner 1983, 156-175), wobei er unter Magie eine erlernbare Technik versteht, die im Wesentlichen aus Hypnose, Schauspielerei und Pharmakologie bestehe. Alle Komponenten begegneten bei Jesus als einem vom Geist besessenen Magier wieder, auch wenn die Evangelien aus apologetischen Motiven einer Zensur mit Unterdrückung magischer Züge Jesu unterworfen worden seien. Die indirekt aus den Evangelien erschlossene magische Laufbahn Jesu deckt sich weitgehend mit dem Bild, das Smith bereits vorher aus anderen antiken Quellen wie Kelsos oder dem Talmud gewonnen hatte. Eugen Drewermann hingegen meidet den Begriff Magie und zeichnet Jesus als einen Schamanen, der ähnlich wie Empedokles, Orpheus oder moderne Medizinmänner durch eine Wiederherstellung der Einheit von Körper und Seele Heilung bringt. Was andere Schamanen durch rituelle Praktiken zu vermitteln suchten, habe Jesus allerdings primär durch seine persönliche Ausstrahlung bewirkt (Drewermann 1990, 43-309). In vergleichbarer Weise spricht Pieter F. Craffert von Jesus als galiläischem Schamanen, der Kontrolle über Geister ausgeübt und Weisheit aus der göttlichen Welt vermittelt habe (Craffert 2008). Eine wichtige Weiterentwicklung des Ansatzes von Morton Smith bietet John Dominic Crossan, indem er Jesus als Kyniker und Magier begreift, der eine ideale Vision von einer besseren Gesellschaft besaß und über ein fest umrissenes soziales Programm aus »magic and meal« oder »miracle and table« verfügte. Durch Wunder und Tischgemeinschaften habe Jesus Menschen in unmittelbaren Kontakt zu Gott gebracht und das Reich Gottes vergegenwärtigt, wobei seinen Dämonenaustreibungen vor dem Hintergrund der Römerherrschaft als »kolonialen Exorzismen« symbolische revolutionäre Bedeutung zukomme (Crossan 1992, 303-353). Ich selbst habe versucht zu zeigen, dass Jesus als »magician of a special kind« mit antiken Magiern in nicht unerheblichem Umfang die Dämonologie, die Wunderpraktiken und die Wirkungsgeschichte teilt, ohne dass er einer der uns bekannten breiteren Strömungen der jüdischen oder paganen Magie zugeordnet werden könnte (Kollmann 2011, 3057-3085). Auf der anderen Seite wird Jesus nach wie vor auch immer wieder deutlich von der antiken Magie abgegrenzt. Geza Vermes sieht Jesus als herausragenden Vertreter einer auch von Choni und Chanina ben Dosa repräsentierten Bewegung jüdischer Chassidim, die durch unmittelbaren Kontakt zu Gott Wunder vollbrächten und nicht mit magischen Praktiken oder geheimen Kräften operierten (Vermes 1973a, 58-82). John P. Meier geht von einer fließenden Skala aus, die vom Idealtypus des Wundertäters am einen Ende bis zum Idealtypus des Magiers am anderen Ende reiche. Trotz vereinzelter magischer Spuren in der Wunderüberlieferung der Evangelien seien die Machttaten Jesu ungleich eher dem Bereich des Wunders als dem Bereich der Magie zuzuordnen (Meier 1994, 537-552). Andere Forscher räumen engere Bezüge Jesu zur Magie ein, sind aber überzeugt, dass diese ihn noch nicht zum Magier machten. So zieht David E. Aune eine Grenzlinie zwischen dem typischen Magier einerseits und magischen Praktiken andererseits, wie sie für die Gestalt des Schamanen, des Weisen, des Propheten oder 131

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des Messias belegt sein können. Jesus repräsentiere historisch wie soziologisch mit seinen aus dem Bereich der Magie entlehnten Wunderpraktiken nicht den Typus des Magiers, sondern die Figur des messianischen Propheten (Aune 1980, 1523-1539). Auch Gerd Theißen und Annette Merz attestieren Jesus trotz seiner in der Volksfrömmigkeit wurzelnden magischen Manipulationen bei Heilungen ein prophetisches und nicht magisches Selbstverständnis (Theißen/Merz 1996, 278). Graham H. Twelftree sieht zwar klare Parallelen der Techniken Jesu zur Welt der Magie, betrachtet Jesus aber als einen Exorzisten, der ungleich eher durch die Ausstrahlung seiner herausragenden Persönlichkeit als durch mechanische Techniken die bösen Geister vertrieb (Twelftree 1993, 143-165.190-207; ders. 2007, 81-86). Peter Busch bereichert die Diskussion um Jesus als Magier durch eine Unterscheidung zwischen der Außenperspektive und dem Blickwinkel der aktiv in die Magie involvierten Personen. Während die Wunder Jesu in der Außenwahrnehmung bei seinen Zeitgenossen den Eindruck von Magie erweckten und durchaus auch Berührungspunkte damit aufwiesen, hätten antike Magier Jesus niemals als einen ihrer Kollegen betrachten können, da er über keine professionelle magische Ausbildung verfügte und seine Aktivitäten sich im Wesentlichen auf Heilung beschränkten (Busch 2001, 25-31). Wolfgang Stegemann stellt in seiner kulturanthropologischen Deutung der Wunder heraus, dass Jesus mit seiner Heilkunst der Magie ungleich näher stand als der Medizin. Dennoch sei er kein Magier gewesen, sondern eine Art Volksheiler (folk healer), der signifikante Elemente der Weltsicht und Krankheitsvorstellungen mit seinen Klienten und deren Milieu teilte (Stegemann 2004, 84-88). Tom Holmén zufolge wäre Jesus selbst zwar nie auf den Gedanken gekommen, sich für einen Magier zu halten. Die Art und Weise, wie er in seinen Heilungen mit dem Problem von Sünde und Schuld umging, sei allerdings in seinem jüdischen Umfeld als unangemessen betrachtet worden und habe ihn in den Magieverdacht gerückt (Holmen 2011, 31793200). Ohne erkennbare Wahrnehmung der intensiven Diskussion um die Bewertung magischer Motive in der Jesusüberlieferung wird nach wie vor auch noch die alte These apodiktisch in den Raum gestellt, Jesus habe niemals magische Praktiken angewandt (vgl. Lohfink 2011, 202.213; Reiser 2011, 188).

4. Magische Motive und Praktiken in der Jesusüberlieferung Die Darstellung der Wunder Jesu in der Evangelienüberlieferung ist in hohem Maße von magischen Motiven durchzogen. Seinem Erscheinungsbild nach musste Jesus auf antike Menschen wie einer der vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bekämpften »Magier und Entsühner« wirken, die Krankheiten unter Ignorierung der natürlichen Ursachen mit zweifelhaften Methoden bekämpften und zudem behaupteten, Macht über die Naturgewalten zu besitzen (Hippocr. morb. sacr. 1,39f.). In der Beelzebulkontroverse wird Jesus der schwarzen Magie oder des Satanismus bezichtigt. Die Gegner Jesu erkennen seine Dämonenaustreibungen als unbestrittene Tatsache an, behaupten aber, dass er vom Beelzebul besessen sei und mit dessen Hilfe die bösen Geister vertreibe (Mk 3,22). Beelzebul ist eine Bezeichnung für den Satan, der in der jüdischen Dämonologie als Oberhaupt der bösen Geister gilt. Jesus entkräftet den Vorwurf des Beelzebulbündnisses durch die Bildworte vom in sich gespaltenen Reich als widersinnig. Da der Satan niemals gegen seinen eigenen Herrschaftsbereich des Bösen 132

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vorgehen würde, kommt nicht er, sondern allein Gott als die hinter Jesu Wundern stehende höhere Macht in Betracht (Lk 11,17-20 par.). Die Episode zeigt, dass Jesus bereits zu Lebzeiten aus dem Blickwinkel seiner Gegner als zwielichtiger Magier galt. Dämonenaustreibungen sind durch einen Machtkampf zwischen Wundertäter und bösem Geist gekennzeichnet. Die Logienüberlieferung der Evangelien enthält keine Hinweise auf Wunderpraktiken Jesu. Jesus spricht lediglich davon, dass er in Übereinstimmung mit anderen jüdischen Wundertätern seine Dämonenaustreibungen in der Macht Gottes bewirkte (Lk 11,19f.). In der Erzählüberlieferung finden sich dagegen konkrete Details, die Jesus in die unmittelbare Nähe antiker Magier rücken. Im Mittelpunkt der Berichte über Dämonenaustreibungen Jesu stehen die Bedrohung der bösen Geister und an sie gerichtete Ausfahrworte, die mit einer Namenserfragung, der Einschickung in ein anderes Objekt oder einem Rückkehrverbot verbunden sein können. Die Bedrohung des Krankheitsgeistes (Mk 1,25; 9,25) zählt zu den typischen Dämonenaustreibungstechniken der Antike. Allerdings ist dafür in hellenistischen Wundertraditionen einschließlich der magischen Papyri niemals das im Neuen Testament gewählte ¥pitim”n (epitima¯n) belegt (vgl. Kee 1967/68, 240-242). Dieses Wort dient in der Septuaginta der Übersetzung des hebräischen tpc (g‘r), welches seinerseits in jüdischen Traditionen vielfach im Zusammenhang mit Dämonenaustreibungen begegnet (Kollmann 1996, 202 mit Anm. 7). Locus classicus ist Sach 3,2 »Jhwh bedrohe dich, Satan«, das im antiken Judentum eine festgeprägte magische Formel gegen Dämonen oder den Satan persönlich darstellt. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht überraschend, wenn Jesus die Dämonen durch Rezitation von Sach 3,2 bedroht hätte. Dies stünde in Einklang damit, dass er Gott als eigentlichen Urheber seiner Dämonenaustreibungen betrachtete und dieses Charakteristikum mit anderen jüdischen Wundertätern teilte (Lk 11,19f.). Für das Ausfahrwort Jesu (Mk 1,25; 5,8; 9,25) hingegen finden sich in den griechischen magischen Papyri aus Ägypten unmittelbare Parallelen. Dort ist in drei Exorzismusformularen ein genau wie in den neutestamentlichen Berichten mit »Geh aus ihm heraus« (˛xelqe exelthe) formulierter Ausfahrbefehl an Krankheitsgeister belegt (PGM 4,1242.3007; 5,158). Mit der Namenserfragung in Mk 5,9 spiegelt sich eine weitere magische Praktik in der Jesusüberlieferung wider. Die Befragung von Dämonen mit dem Ziel, sie zum Sprechen zu bringen und das daraus resultierende Wissen zu einem gezielten Vorgehen gegen sie zu verwenden, ist in den magischen Papyri aus Ägypten belegt, wo der Dämon beim Siegel Salomos beschworen wird, zu reden (PGM 4,3037-3041). Die Einschickung der bösen Geister in ein anderes Objekt, wie sie Mk 5,13 begegnet, zählte auch zu den Techniken von Eleazar (Flav. Jos. Ant. 8,48) und Apollonius von Tyana (Philostr. vit. ap. 4,20). Wenn in Mk 9,25 das Ausfahrwort an den Dämon um ein Rückkehrverbot bereichert ist, spiegelt sich darin die Befürchtung wider, dass ausgetriebene Krankheitsgeister zurückkehren können und deshalb besondere Vorkehrungen zu treffen sind. Dies liegt auf einer Linie mit der »Exorzismusregel« Jesu (Mt 12,43-45 par.), die über das Wesen von Krankheitsgeistern belehrt und zur Vermeidung eines Rückfalls in die Besessenheit die Notwendigkeit nicht näher bestimmter antidämonischer Schutzmaßnahmen im Anschluss an die Dämonenaustreibung einschärft. In der antiken Magie dienten dazu meist Amulette. Insgesamt ergeben sich wiederum frappierende Parallelen zu Eleazar und Apollonius von Tyana, denn beide haben ebenfalls Dämonen mit einem Verbot der Rückkehr in den Besessenen belegt (Flav. Jos. Ant. 8,47f.; Philostr. vit. ap. 4,20). 133

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Bei seinen Heilungswundern bewirkt Jesus zwar oft durch das charismatische Wort die Wiederherstellung der Gesundheit, doch trägt er auch hier zuweilen Züge eines Magiers. Konkret gilt dies für die Heilungsberichte in Mk 7,31-37 und 8,22-26, wo Jesus im Grenzbereich von Medizin und Magie agiert. In beiden Fällen wird zunächst das Publikum entfernt, dann die Heilung durch volksmedizinische Praktiken mit magischem Einschlag vollzogen und schließlich ein Schweigegebot an den Geheilten gerichtet, das die Erinnerung an die Geheimhaltungsgebote in den magischen Papyri zum Schutz der machtvollen Techniken wachruft (Theißen 1974, 77f.). Wenn in Mk 7,35 die Zunge des Taubstummen gebunden ist, hat dies dämonistische Konnotationen und lässt Jesu Vorgehensweise als eine Art Gegenzauber erscheinen. Auf antiken Fluchtafeln werden Dämonen beauftragt, die Zunge von Feinden, insbesondere Prozessgegnern, zu binden, um diese am Sprechen zu hindern (vgl. Graf 1996, 11f.). Im Hintergrund der Heiltechnik Jesu steht die Vorstellung, dass der die Zunge bindende Dämon durch Speichel entkräftet wird. Das Seufzen Jesu signalisiert eine emotional-körperliche Erregung des Heilers. In der eng verwandten Erzählung Mk 8,22-26 hat der Speichel, der in der Antike ein weit verbreitetes Augenheilmittel darstellt (Plin. nat. 28,37.86; Marc. Emp. med. 8,43,166; bShab 108b), neben der magischen auch eine therapeutische Wirkung. In der Geschichte von der blutflüssigen Frau (Mk 5,25-34) ist der Heiler Jesus mit magischer Kraft geladen, die ohne sein Zutun durch einfache Berührung seines Gewandes wirksam gemacht werden kann. Die Naturwunder der Evangelien sind ebenfalls hochgradig von magischen oder schamanistischen Motiven durchzogen. In der markinischen Versuchungsgeschichte ist davon die Rede, dass Jesus in der Wüste mit (wilden) Tieren Kontakt hatte und ihm Engel dienten. Die Episode knüpft an traditionelle jüdische Endzeitvorstellungen an und will zum Ausdruck bringen, dass Jesus das paradiesische Zeitalter wieder herbeiführt, indem er wie Adam in Frieden mit den Tieren lebt und von den Engeln bedient wird (vgl. Gräßer 1986, 144-154). In einem hellenisierten Überlieferungsmilieu konnte damit allerdings konnotiert werden, dass es sich bei Jesus um einen Magier oder Schamanen handelte, der wie Pythagoras (Iamb. vit. Pyth. 14,63) oder Apollonius von Tyana (Philostr. vit. ap. 5,42) mit den Tieren kommunizierte und zudem Dienstengel als Hilfsgeister befehligte. In der Sturmstillungserzählung (Mk 4,35-41) begegnet Jesus als Magier, der über die schamanistische Befähigung zur Beeinflussung des Wetters verfügt. Wind und Wellen werden nach Vorstellung des antiken Menschen von Dämonen gesteuert, wie man es auch im Judentum annahm (1Hen 60,16; 69,22). Daher trägt die Sturmstillungsgeschichte Züge, die von den Dämonenaustreibungen her bekannt sind. Jesus bedroht den Wind und richtet einen Schweigebefehl an die Wellen. In jüdischen Parallelen zu Mk 4,35-41 beschränken sich die Aktivitäten des Wundertäters auf ein Gebet zu Gott, der die Sturmstillung bewirkt (bBM 59b; jBer 9,1). Im Kontrast dazu handelt Jesus in eigener Autorität und Kraft, wie es für griechische Magier bezeugt ist. Pythagoras soll gefährliche Winde beschwichtigt und die Wellen von Flüssen wie Seen beruhigt haben, so dass man sie ungefährdet überqueren konnte (Iamb. vit. Pyth. 28,135). Persische Magier stillten einen Seesturm durch Opfer und an den Wind gerichtete Beschwörungen (Hdt. 7,191). Auch der Seewandel Jesu (Mk 6,45-52) hat magische Konnotationen. Die Fähigkeit, über das Wasser zu laufen, wurde beispielsweise auch einem nicht näher bekannten hyperboreischen Magier zugeschrieben (Luc. philops. 16). Selbst die Ostererzählungen enthalten Motive, die aus magischen Traditionen bekannt sind. Ähnliche postmortale 134

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Erscheinungen, wie sie von Jesus in den Evangelien überliefert sind, weiß bereits Herodot über den Magier Aristeas von Prokonnesos zu erzählen (Hdt. 4,14f.). Selbstverständlich sind die neutestamentlichen Wundergeschichten keine historischen Protokolle. Bei den genannten Befunden ist damit zu rechnen, dass die Erzähler das Wirken des Wundertäters Jesus ein ganzes Stück weit in den Farben der antiken Magie ausmalten. Dennoch kann im Hinblick auf Dämonenaustreibungen und einzelne Krankenheilungen kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Jesus sich solcher Techniken bediente, wie sie für Magier typisch waren.

5. Wirkungsgeschichtliche Aspekte Dass Jesus ein Magier war, stellte in der antiken Außenwahrnehmung seiner Person eines seiner Markenzeichen schlechthin dar (vgl. Stanton 2004, 129-144). Im rabbinischen Judentum wurde Jesus als Zauberer betrachtet, der sich verbotener magischer Praktiken aus Ägypten bediente. Anders als dem umstrittenen Magier Choni gelang es ihm nicht, als religiöses Leitbild in das Judentum integriert zu werden. Auch pagane Autoren ziehen Verbindungslinien von Jesus zur geheimnisumwitterten ägyptischen Magie und setzen dabei voraus, dass er sich ethisch bedenklicher Methoden bediente und mit seinen Wundertaten keinesfalls in den Rang eines Gottes aufrückte (vgl. Gemeinhardt 2010, 471476). Höchster Wertschätzung erfreute der Name Jesu sich dagegen in den Kreisen antiker Magier. Jüdische Exorzisten versuchten, sich ihn bei Dämonenaustreibungen nutzbar zu machen (Mk 9,38; Apg 19,13). Wie Pythagoras (PGM 7,795) und Apollonius von Tyana (PGM 11a,1) gelang es auch Jesus, Einzug in die magischen Papyri aus Ägypten zu halten (PGM 4,1232f.3019f.). Am schärfsten ist das Bild von Jesus als zwielichtigem und betrügerischem Magier bei dem platonischen Philosophen Kelsos profiliert (vgl. Gallagher 1982; Remus 1983, 104-158). Dieser verfasste im späten 2. Jh. eine gegen das Christentum gerichtete Abhandlung mit dem Titel Alethes Logos, »Die wahre Lehre«. Dieses Werk (vgl. Lona 2005) hat zwar die christlichen Büchervernichtungen nicht überlebt, ist aber aus der Gegenschrift des Kirchenvaters Origenes zu großen Teilen bekannt, wo umfangreiche Passagen daraus zitiert werden. Bevor Kelsos vom Standpunkt der platonischen Philosophie aus mit dem Christentum abrechnet, schickt er seinen Ausführungen jüdische Kritik an der Person Jesu voraus, die ihm zu Ohren gekommen war. In diesem Zusammenhang erhebt Kelsos den Vorwurf, Jesus habe sich in Ägypten als ungebildeter Tagelöhner in die magischen Künste einweisen lassen und später aufgrund seiner Machttaten öffentlich zum Gott erklärt (Or. Cels. 1,6.28). In Wirklichkeit seien seine Wunder nichts anderes als die Taten eines Gott verhassten und nichtswürdigen Goeten (1,71). Sie begründeten keine Göttlichkeit, sondern stünden auf einer Stufe mit den Kunststücken ägyptischer Marktplatzgaukler, die gegen geringes Entgelt Dämonen austrieben, Krankheiten wegbliesen und andere scheinbare Wunder vollbrächten (1,68). Kelsos verarbeitet offenkundig ähnliche jüdische Tradition, wie sie auch in den Talmud eingeflossen ist. Dort wird behauptet, Jesus (Ben Pandera) sei wegen Zauberei hingerichtet worden (bSan 43a; vgl. Schäfer 2007, 130-152). Zudem erfolgt eine Identifikation Jesu mit dem Magier Ben Stada, der in Lydda zum Tode durch Steinigung verurteilt worden war, weil er zum Götzendienst ver-

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führt und am Sabbat magische Zeichen aus Ägypten auf seinen Körper tätowiert hatte (bSan 67a; bShab 104b; vgl. Maier 1978, 203-237). Auch aus Äußerungen der christlichen Apologeten wird deutlich, dass Jesus von den Gegnern des Christentums in die Schublade des zwielichtigen Magiers gesteckt wurde. Justin beklagt um 150 n. Chr., dass die Wunder Jesu als Trugbilder eines Magiers und Volksverführers gälten, der sich mit ihrer Hilfe als Gottessohn ausgegeben habe (dial. 69,7; 1 apol. 30). Arnobius muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Jesus sei Magier gewesen, der in ägyptischen Tempeln die Namen der mächtigen Engel und esoterische Geheimlehren unrechtmäßig an sich gebracht habe (adv. nat. 1,43). In den fiktiven Pilatusakten wird Jesus von den Hohepriestern und Schriftgelehrten vor dem römischen Statthalter als Goet verklagt, der mit Hilfe Beelzebuls die Dämonen vertreibe. Wenn Pilatus apologetisch in den Mund gelegt wird, dass Jesus sich bei seinen Exorzismen keines unreinen Geistes bedient habe (EvNik 1,2), spielt dies auf die in der antiken Magie weit verbreitete Rekrutierung von Hilfsgeistern an (u. a. PGM 1,1-42). Gewisser Beliebtheit erfreute sich bei paganen Autoren auch der von christlicher Seite energisch zurückgewiesene Vergleich Jesu mit Apollonius von Tyana (vgl. Gemeinhardt 2010, 474f.). Die Wirkungsgeschichte Jesu ist mit der antiker Magier über weite Strecken deckungsgleich. Für die Anhänger Jesu zeigt sich in den Wundern sein göttliches Wesen. Die Gegner Jesu bestreiten dies, indem sie ihn der betrügerischen Magie (Goetie) bezichtigen, wie sie nahezu allen prominenten Magiern oder Schamanen in der griechisch-römischen Welt vorgeworfen wird. Die Evangelien verfolgen daher in Analogie zu antiken Biographien wie der Apolloniusvita des Philostrat oder der Pythagorasvita des Iamblichus die Absicht, den Gottessohn nach außen vor dem Verdacht der zwielichtigen Magie in Schutz zu nehmen und nach innen einer missverständlichen Reduktion seiner Bedeutung auf die thaumaturgische Befähigung vorzubeugen (Smith 1993, 193.204f., zum Ganzen Kollmann 1996, 287-306). Insbesondere das Matthäusevangelium legt großen Wert darauf, die magischen Züge Jesu zu reduzieren und seine Lehre gegenüber dem Wunder aufzuwerten. Während Markus im Anschluss an die ersten Jüngerberufungen Jesu sogleich mit Wundergeschichten einsetzt, wird Jesus bei Matthäus zunächst in aller Ausführlichkeit als »Messias des Wortes« (Mt 5-7) vorgestellt, bevor sich die ersten erzählten Wunder anschließen (Mt 8-9). Zudem unterzieht Matthäus durch die Zurückdrängung dämonischer und magischer Motive das von seinen Quellen vermittelte Jesusbild einer grundlegenden Revision und Neuinterpretation. Ähnlich wie bei der rabbinischen Choni-Rezeption werden Aspekte des Wunderwirkens Jesu als Erfüllung der Schrift ausgewiesen (Mt 8,17; 12,18-21). Zudem spricht Matthäus von Krankheit (Mt 4,23), wo bei Markus noch von Besessenheit die Rede war (Mk 1,39), und unterschlägt in allen eigenständig formulierten Sammelberichten (Mt 14,14; 15,29-31; 19,1; 21,14) die Dämonenaustreibungen. Solche Wunderpraktiken, die Parallelen in den magischen Papyri aus Ägypten haben oder magisch missverstanden werden konnten, hat er nahezu vollständig aus der Jesusüberlieferung getilgt (vgl. Hull 1974, 128-141; Böcher 1988, 14-24; Trunk 1994, 201-212). Vermutlich versucht Matthäus damit bereits, der später dann im Talmud und bei Kelsos greifbaren jüdischen Polemik, Jesus habe seine Wunder durch betrügerische Magie bewirkt, die Grundlage zu entziehen. In vergleichbarer Weise könnte der im Umfeld der johanneischen Gemeinde von jüdischer Seite gegen Jesus erhobene Vorwurf der Besessenheit (Joh 7,20; 8,48-52; 10,20) den vierten

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Evangelisten dazu bewogen haben, bei seiner Darstellung des Lebens Jesu die Dämonenaustreibungen völlig zu übergehen.

6. Fazit: Jesus als Magier der besonderen Art Von der Dämonologie, dem Erscheinungsbild und der Wirkungsgeschichte her kann man den Wundertäter Jesus im weiteren Sinne dem Typus des Magiers oder Schamanen zuordnen. Dass diese religionsgeschichtlichen Kategorien kaum geeignet sind, um das Ganze der Person Jesu mit Gleichnisverkündigung, Gesetzesauslegung, prophetischen Zeichenhandlungen und vielem mehr zu erfassen, versteht sich von selbst. Die kontroverse Diskussion um Jesus als Magier wird durch den Paradigmenwechsel in der Bewertung von Magie deutlich entschärft. Die Betrachtung von Magie als primitiver Vorstufe oder degenerierter Fehlentwicklung von Religion erweist sich als Klischee. Wo die Grenze zwischen abgelehntem magischem Wunder und gutgeheißenem charismatischem Wunder gezogen wird, ist im Wesentlichen eine Frage des subjektiven Standpunkts und der gesellschaftlichen Machtstellung. Antike Magier oder Schamanen sind grundsätzlich seriöse Mittler zwischen den Welten, die in erster Linie wegen ihrer Nonkonformität mit dem vorherrschenden Religions- wie Wissenschaftsverständnis zur Zielscheibe des Spotts und zum Gegenstand staatlicher Verfolgung wurden. Magie entfaltet damit subversive Kraft und stellt den Absolutheitsanspruch der gesellschaftlich jeweils dominanten Denkrichtungen in Frage. Solche Aspekte, die Magie zu einer problembehafteten Form der Religionsausübung machen, insbesondere die Zwangsbeeinflussung von Gottheiten, die Durchsetzung fragwürdiger Wünsche und die Anwendung von Schadenszauber, erweisen sich für Jesu Wunder als bedeutungslos. Mit seinen Dämonenaustreibungen ist Jesus kein Repräsentant rationaler Heilkunst, sondern auf der Seite der Magie zu verorten. Er teilte das dämonistische Weltbild der Antike, führte Epilepsie wie auch andere Krankheiten auf das schädigende Wirken der dem Satan unterstehenden bösen Geister zurück und verfügte über spezielle Techniken auf dem Gebiet der Dämonenaustreibung, die er an seine Jünger weitergab. Das Erscheinungsbild Jesu in den Evangelien, auch wenn es ein ganzes Stück weit auf erzählerischer Ausschmückung beruhen mag, deckt sich im Hinblick auf die Wunderpraktiken in hohem Maße mit dem antiker Magier. Über weite Strecken ist auch die Wirkungsgeschichte vergleichbar. Dem Namen Jesu wird innerhalb wie außerhalb des Christentums magische Bedeutung beigemessen. In Analogie zu Pythagoras und Apollonius erfreut sich auch Jesus in den magischen Papyri aus Ägypten hoher Wertschätzung. Zudem teilt Jesus das Geschick nahezu aller prominenten antiken Magier oder Schamanen, von den eigenen Anhängern nicht zuletzt wegen der Wunder als übermenschliches Wesen verehrt, von den Gegnern hingegen der betrügerischen Magie bezichtigt und als Goet diskreditiert zu werden. Die Evangelien verfolgen daher in Übereinstimmung mit antiken Biographien wie der Apolloniusvita des Philostrat oder der Pythagorasdarstellung des Iamblichus teilweise die Absicht, magische Züge zu reduzieren und die Lehre aufzuwerten. Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen sind an der Klassifizierung Jesu als Magier oder Schamane auch deutliche Abstriche vorzunehmen. Mit dem, was in den Evangelien von Jesus an Wundern erzählt wird, deckt er nur ein ganz schmales Segment 137

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aus dem Betätigungsfeld eines antiken Magiers ab. Im Gegensatz zu professionellen Magiern lässt Jesus sich für seine Dienste nicht entlohnen. Zudem fügt Jesus sich in keines der magischen Raster seiner Zeit nahtlos ein. Die Initiation zum Magier war langwierig und setzte eine umfassende Einführung in die Geheimlehren voraus. Johannes der Täufer als einzig bekannter Lehrer Jesu kommt dafür nicht in Betracht, denn er bewirkte keine Wunder (Joh 10,41). Dem Talmud und paganen Autoren zufolge soll Jesus in Ägypten eine magische Schulung durchlaufen haben, was historisch allerdings fraglich ist, da es an die Legende vom Ägyptenaufenthalt der Heiligen Familie anzuknüpfen scheint. Auch zu den dominanten Strömungen der zeitgenössischen jüdischen Magie weist Jesus keine direkten Verbindungslinien auf. Im Gegensatz zu Choni hat er weder Regenwunder vollbracht noch sich des magischen Kreises mit Zwangsbeeinflussung Gottes bedient. Mit den zelotischen Zeichenpropheten verbindet ihn lediglich der eschatologische Horizont der Wunder. Von der auf Mose zurückgeführten Magie finden sich in der Jesusüberlieferung nicht die geringsten Spuren. Noch auffälliger ist die Tatsache, dass Jesus mit seinen Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen auch in keiner erkennbaren Beziehung zu der mit David und Salomo verbundenen magischen Heilkunst steht. Im Gegensatz zur Qumrangemeinde und zu Eleazar machte er bei seinen Dämonenaustreibungen nach Darstellung der Evangelien weder von Psalmen Davids noch von Beschwörungsformeln Salomos Gebrauch. Anders als die Essener hat er sich offenkundig auch nicht mit der Heilkraft von Wurzeln und Steinen beschäftigt, wie sie in magischen Handbüchern ägyptischer Herkunft beschrieben wird. Vieles deutet darauf hin, dass Jesus sich ohne Initiation in eine Magierschule in einer Art Berufungsvision (Lk 10,18) seiner besonderen Kräfte bewusst wurde und im Horizont der anbrechenden Gottesherrschaft als Wunderheiler aktiv wurde (Lk 11,20). Das sich mit Magie überlappende Phänomen des Schamanismus ist ebenfalls nur mit Einschränkungen geeignet, um die Bedeutung der Wunder Jesu zu erfassen, auch wenn Jesus in der Erzählüberlieferung mit schamanistischen Zügen ausgestattet wurde. Jesus hat nach unserem Wissen weder die für schamanistische Krankenheilungen konstitutive Lehre von der Seelenwanderung vertreten noch ekstatische Jenseitsreisen unternommen, um den Seelen der Verstorbenen Totengeleit zu geben oder den Seelen der Lebenden heilungsrelevante Informationen aus ihrer früheren Inkarnationen zu verschaffen. Auch deutet nichts auf eine Befähigung Jesu hin, mit den in Tieren oder Pflanzen wiedergeborenen Seelen zu kommunizieren, um aufgrund des dabei gewonnenen Wissens Naturereignisse vorherzusagen oder Naturkatastrophen durch Reinigungsriten abzuwenden. Griechische Schamanen wie Pythagoras oder Empedokles betrachteten sich als Grenzgänger und unsterbliche Mittler zwischen himmlischer und irdischer Welt, die das für die Menschheit bedeutsame Geheimwissen offenbar machten. Jesus vollzog seine Dämonenaustreibungen und Heilungen als Werkzeug Gottes im Horizont der sich Durchbruch verschaffenden Gottesherrschaft. Insoweit war er in der Tat ein Magier der ganz besonderen Art.

Bernd Kollmann

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Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus

Literatur zum Weiterlesen P. Busch, War Jesus ein Magier?, ZNT 4 (2001), 25-31. B. Kollmann, Jesus and Magic: The Question of the Miracles, in: T. Holmén/S. E. Porter (Hg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Bd. 4: Individual Studies, Leiden/Boston 2011, 3057-3085. G. N. Stanton, Jesus of Nazareth: a Magician and a False Prophet Who Deceived God’s People?, in: ders., Jesus and Gospel, Cambridge 2004, 127-147. G. H. Twelftree, Jesus the Exorcist and Ancient Magic, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte (Hg.), A Kind of Magic. Understanding Magic in the New Testament and its Religious Environment, London/New York 2007, 57-86.

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Wundererzählungen heute unterrichten (Didaktik der Wundererzählungen) 1. Wundergeschichten im Religionsunterricht Die Bibeldidaktik steht vor der Aufgabe, die Rezeptionsprozesse biblischer Texte im Religionsunterricht zu reflektieren. Dabei gibt es in der Bibeldidaktik verschiedene Modelle für die Begegnung zwischen Schülerinnen und Schülern und dem Text. Im Folgenden wird das Lesen (oder Hören) einer biblischen Geschichte als ein Kommunikationsvorgang beschrieben, genauer als eine Kommunikation, die zwischen einem Sender und Adressaten im Hinblick auf eine Sache und mittels eines Textes stattfindet (orientiert am Organon-Modell von Bühler 1999, 24-33; vgl. Zimmermann 2011c, 10-13). Geläufiger ist es, einen Lesevorgang als Begegnung zwischen Text und Leser zu modellieren (so z. B. Schulte 2008; Schambeck 2009, 122-134). Das hier gewählte Modell versucht demgegenüber, zwei Dinge hervorzuheben: (1) Die Textgruppe, um die es geht, wird durch ihre Sache, die »Wunder«, konstituiert. Die Frage ihres theologischen Gewichts und die Probleme ihrer unterrichtlichen Behandlung hängen wesentlich mit dieser Sache zusammen. (2) Die Bibel gewissermaßen als Sender des Textes zu verstehen versucht zu berücksichtigen, dass die Wundergeschichten im Religionsunterricht essentiell als Teil der Bibel wahrgenommen und auch in erster Linie deshalb thematisiert werden, weil sie in der Bibel als einer normativen Säule der christlichen Tradition zu finden sind. Im einzelnen Text redet die Bibel die Schülerinnen und Schüler an. Weil keines der beteiligten Elemente für sich steht, sondern jeweils in Zusammenhänge eingebettet ist (der einzelne Schüler ist z. B. Teil der Lerngruppe, in bestimmter Weise religiös sozialisiert und erzogen, hat bestimmte Interessen, …), ist im Schaubild unten jeweils »und ihre Welten« hinzugefügt.

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Das Modell soll den Rahmen für die folgenden Analysen und Überlegungen geben und helfen, sie zu strukturieren. Ich beginne mit der Sache, nehme danach den Text selbst, die Schüler und den biblischen Ursprung in den Blick, um dann noch einmal zur Sache zurückzukehren. Den Abschluss bilden knappe Überlegungen zu Methoden der Annäherung an Wundererzählungen.

2. Die problematische »Sache« der Wundergeschichten Was ist die »Sache« der Wundergeschichten? Eine erste Antwort lautet: bestimmte Ereignisse in einer erzählten Welt. Der Wundertäter »Jesus« ist zunächst eine erzählte Figur in den Evangelien. So wie diese Figur mit Menschen redet, umhergeht, isst und vieles mehr, so vollbringt sie auch die Taten, die gemeinhin als Wunder bezeichnet werden: Jesus heilt Kranke, treibt Dämonen aus, geht über das Wasser oder verwandelt Wasser in Wein – zunächst im Rahmen der erzählten Welt. Die Evangelien signalisieren allerdings, dass die erzählte Figur »Jesus« eine Gestalt der Geschichte ist, in der »realen« Welt gelebt hat, in der auch die Leserinnen und Leser leben (vgl. z. B. Lk 1,1-4). Der Anspruch, sich auf Ereignisse der realen Geschichte zu beziehen, schließt auch die Wunder ein. Er ist aus exegetischer Sicht zu differenzieren: Ein Evangelium ist nicht dasselbe wie eine moderne, geschichtswissenschaftliche Biographie; den Anspruch, »blos zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist« (Leopold von Ranke), haben die Evangelien nicht. Trotzdem bleibt der Bezug auf geschichtliche Ereignisse auch bei differenzierter Betrachtung im Kern bestehen. Im Falle der Wundererzählungen ist dieser Bezug mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert, die in der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas in den letzten drei Jahrhunderten begründet liegen und die nicht nur die Lehrkraft, sondern – mit zunehmendem Alter in zunehmendem Maß – auch die Schüler beeinflussen. Es erscheint vielen unter der Maßgabe der kritischen Vernunft unannehmbar, dass die Welt Schauplatz des Handelns übernatürlicher Mächte und Kräfte ist, so wie die Wundergeschichten dies zu schildern scheinen. Diese kritische Vernunft spielt auf verschiedenen Wegen auch in den Religionsunterricht hinein. Sie ist Teil unserer Alltagsplausibilität. Darauf hat in einem vielzitierten Wort Rudolf Bultmann hingewiesen: »Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht« (Bultmann 1948, 18). Die kritische Vernunft meldet sich auch zu Wort in der Rationalität der fachwissenschaftlichen Theologie, die die Ausbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern ebenso prägt wie die Ausgestaltung der Unterrichtsmaterialien. Sie ist schließlich in den Medien präsent, z. B. in den immer wieder zu den christlichen Hochfesten ausgestrahlten Fernsehdokumentationen zum historischen Jesus oder in entsprechenden Zeitschriftenartikeln. Die »Sache« der Wundergeschichten erscheint also im Lichte moderner Rationalität höchst problematisch. Die folgenden Überlegungen sollen die Problematik beleuchten und analysieren. Sie sind von dem Leitgedanken bestimmt, dass diese Problematik 141

Themenartikel

keine Komplikation in der Auseinandersetzung mit den Wundergeschichten darstellt, sondern zu ihrem theologischen Kern führt.

3. Die Wundergeschichten als Erzählungen Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit den Wundergeschichten ist ihre sprachliche Gestalt. Wesentliche Verstehensschwierigkeiten im Hinblick auf diese Texte haben mit ihrem Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit zu tun, mit dem Wunder als Ereignis. Genau besehen begegnet den Leserinnen und Lesern jedoch gar nicht primär das Ereignis, sondern ein Text. Welche sprachlich-literarischen Merkmale kennzeichnen die Wundergeschichten in besonderer Weise und können entsprechend Ausgangspunkt für Leseweisen und Lernwege sein? Grundlegend sind sie Erzählungen; die Narrativität ist ein fundamentales Merkmal. Wundergeschichten als Erzählungen zu lesen, ist Ausgangspunkt und Voraussetzung für viele Lernwege. Für die Didaktik der Wundergeschichten sind dabei insbesondere Identifikationsprozesse mit erzählten Figuren zentral. Bei Ingo Baldermann etwa, dessen Ansatz noch skizziert werden wird, stehen diejenigen im Vordergrund, denen in der Wundererzählung die Zuwendung Jesu gilt, also z. B. die Kranken in ihrem Leiden oder jene Menschen, deren Hunger Jesus mit Broten und Fischen stillt. Es gilt, sich in sie einzufühlen und aus ihrer Perspektive die Wundergeschichte wahrzunehmen, die von der Überwindung ihrer Not erzählt. Oder Jesus selbst kann mit seinem Handeln in den Blick genommen und als ein Handlungsmodell verstanden werden. So wie er sich den Marginalisierten oder Notleidenden zuwendet, sollen es auch die Leserinnen und Leser tun. Aus der Empathie mit den Notleidenden kann Verständnis für das Handeln Jesu erwachsen und Motivation seinem Bild zu folgen. Ethisches Lernen steht bei diesem Modell im Vordergrund (vgl. Kollmann 2011, 216-218). Identifikation spielt – neben anderen Faktoren – schließlich auch dann eine Rolle, wenn Wundergeschichten als Glaubensgeschichten gedeutet werden (vgl. Kollmann 2011, 214-216), d. h. als Erzählungen, in denen sich grundlegende Erfahrungen und Themen des Glaubens spiegeln wie Furcht und fehlendes Vertrauen auf die rettende Nähe Jesu (Mk 4,35-41) oder die Überzeugung, dass durch Jesus die Macht des Todes besiegt ist (Mk 5,21-24.35-43). Diese Themen und Erfahrungen verkörpern sich im Handeln oder Ergehen derjenigen, denen in den Geschichten das Wunder geschieht, oder im Staunen und Fragen derer, die als Anwesende seine Zeugen werden. Gut lassen sich alle drei Ansätze an der bekannten Geschichte von der Heilung des blinden Bettlers Bartimäus aufzeigen (Mk 10,46-52; dazu auch Kollmann 2001, bes. 63f.). Dieser weckt durch die Schilderung seiner Notlage, die durch die schroffe Abweisung seines Rufs nach Erbarmen noch verschärft wird, Mitgefühl, bekommt durch die Nennung seines Namens ein »Gesicht« und bietet sich so als Identifikationsfigur für Kinder an (V. 46-48). Er ist Beispiel eines beharrlichen, entschlossen die entscheidende Chance seines Lebens ergreifenden Vertrauens auf Jesus (V. 47-51), dem aufgrund dieses Glaubens Hilfe zuteil wird, so dass die Begegnung mit Jesus schließlich in die Jesus-Nachfolge mündet (V. 52). Dass darüber hinaus in dieser Geschichte Jesus als ein Handlungsmodell wahrgenommen werden kann, lässt sich daran festmachen, dass sein Zugehen auf Bartimäus eine Kehrtwende im Verhalten der Jesus begleitenden Menge

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Wundererzählungen heute unterrichten

gegenüber dem Blinden nach sich zieht. Wollten sie seine Hilferufe zunächst zum Schweigen bringen, so sprechen sie ihm nun Mut zu (V. 48f.). Es ist aber nicht nur die Identifikation mit erzählten Figuren der Wundererzählungen, die didaktisch fruchtbar gemacht wird. Stefan Alkier und Bernhard Dressler, deren Konzept unten ebenfalls noch vorgestellt wird, setzen entscheidend auf die poetische Kraft von Geschichten vor den Lesern oder Hörern eine erzählte Welt zu schaffen, die ihrer eigenen Lebens- und Alltagswelt gegenübersteht, und nutzen so didaktisch eine weitere Möglichkeit, die Wundergeschichten durch ihre Narrativität bieten. In der bibeldidaktischen Diskussion wird den Wundergeschichten teilweise ein metaphorischer oder symbolischer Charakter zugeschrieben. Diesen Charakter zu erkennen gilt als wesentliche Lernaufgabe, um eine auf historische Fragen enggeführte Wahrnehmung der Wundergeschichten zu vermeiden. Die Wundererzählungen werden in die Nähe von Gleichnissen oder metaphorischer Sprache gerückt, um diese Deutungsbedürftigkeit zu charakterisieren (Scholz 1994, 11-37, Pfeifer 2001, 47-55). Zunächst einmal ist dazu aus exegetischer Sicht festzuhalten, dass Wundergeschichten keine Gleichnisse sind, sondern in den Evangelien narratologisch betrachtet auf derselben Ebene liegen wie die Erzählungen über Streitgespräche, das letzte Abendmahl oder den Tod Jesu. Gleichnisse dagegen sind durch verschiedene sprachliche Signale klar als Gleichnisse ausgewiesen (dazu Zymner 1991, 87-96; Massa 2000, 224-231): Sie sind Erzählungen innerhalb der Erzählung; sie werden durch Formeln wie »Das Himmelreich gleicht …« eröffnet; beim Wort genommen, etwa als Erklärungen Jesu zum Thema Ackerbau oder Schafhaltung, wirken sie im Kontext thematisch deplaziert, so dass nach einem tieferen Sinn gesucht wird. All diese Merkmale fehlen den Wundergeschichten. Allerdings gibt es auch bei den Wundergeschichten exegetisch feststellbare Signale, die Leserinnen und Leser nach einer anderen Sinnebene suchen lassen als der, die Geschichte als Erzählung von einem Ereignis im Rahmen des (erzählten) Wirkens Jesu zu verstehen: Eine übertragene Deutung wird möglich, wenn das erzählte Geschehen einem kulturell vorgegebenen Bildfeld angehört. So ist etwa die metaphorische Verwendung von »blind sein« für andere Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse (z. B. etwas nicht verstehen oder blind sein vor Liebe) sowohl in der Antike wie in unserer modernen Umwelt geläufig und legt eine entsprechende Deutung von Blindenheilungen nahe (z. B. im Hinblick auf Mt 20,29-34). Aus der Möglichkeit metaphorischer Deutung aufgrund solcher Bildfelder kann allerdings nicht gefolgert werden, dies sei der einzig mögliche Sinn oder die Erzählung sei – wie ein Gleichnis – ausschließlich oder in erster Linie wegen dieser übertragenen Deutungsmöglichkeit erzählt worden. Die Beobachtung, dass von anderen Personen z. B. aus der jüdischen oder griechisch-römischen Welt ähnliche Wunder berichtet werden, ließ in der Exegese die Idee aufkommen, hier sei die Erzählung vom Wunder Jesu durch Einfluss aus der Umwelt im Zuge der Überlieferung verändert oder gar etwas auf Jesus übertragen worden, um so eine bestimmte Idee oder Glaubensvorstellung über Jesus zum Ausdruck zu bringen. Redaktionskritische Arbeit hat gezeigt, dass die Evangelisten ihre Vorlagen verändert und möglicherweise bestimmte Wundergeschichten sogar erst geschaffen haben. Die Beobachtungen zeigen, dass Wundergeschichten nicht nur um ihres Ereignisbezuges, sondern auch als Ausdruck des Glaubens weitererzählt worden sind. Es stellt sich aber auch die Frage, welche Gründe der Glaube an Jesus hat, warum und unter welchen Voraussetzun143

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gen es zu Motivübertragungen kommen konnte. Ohne Anhaltspunkt beim irdischen Jesus ist das kaum denkbar; dass Jesus Heilungen und Exorzismen vollbracht hat, gilt historisch heute vielen als wahrscheinlich und dürfte Haftpunkt für die Übertragungen sein. Auch die Auffassung, das Erzählte könne so nicht wirklich passiert sein, oder die Ansicht, als Nachricht von einem historischen Ereignis verstanden sei der Text für uns heute nicht relevant, kann dazu motivieren, nach einem anderen Sinn zu suchen, um dessentwillen die Geschichte weitererzählt wird. Der Auslöser liegt in diesem Fall also im Ereignisbezug der Geschichte. Dieser Mechanismus setzt zudem die Grundannahme voraus, der Text müsse etwas zu sagen haben (etwa weil er in der Bibel steht oder weil er vielen Menschen wichtig ist); andernfalls könnte man den »erfundenen« oder irrelevanten Text ja auch einfach übergehen. Sowohl vom Ereignisbezug wie vom biblischen Kontext der Wundergeschichten wird noch die Rede sein. Wundergeschichten sind Erzählungen, diese Einsicht ist auch für die Bibeldidaktik von elementarer Bedeutung. Narratologisch betrachtet legen sie nahe, die Wunder als Teil des Wirkens Jesu zu betrachten und in diesem Rahmen zu verstehen. Daneben gibt es auch Indizien für andere Sinnbildungsprozesse: sie metaphorisch zu deuten, sie als Ausdruck des Glaubens der Erzähler und ihrer Adressaten zu verstehen, ihnen im Kontext der Bibel oder des kirchlichen Glaubens einen tieferen Sinn zu geben. Diese Sinnbildungsprozesse basieren aber jeweils auf dem Verständnis der Wundergeschichten als Teil des Wirkens Jesu, das grundlegend ist.

4. Die Rezeption der Wundergeschichten durch Schülerinnen und Schüler Wie verstehen nun Kinder und Jugendliche diese Erzählungen? Neben den Gleichnissen gehören die Wundergeschichten zu jenen biblischen Texten, deren Rezeption durch Schülerinnen und Schüler vergleichsweise intensiv, wenn auch sicher noch nicht gründlich und breit genug untersucht ist (v. a. Blum 1997; Bee-Schroedter 1998; Büttner 2002; Hanisch 2007). Das Verständnis der Wundergeschichten hängt von den kognitiven und religiösen Entwicklungsprozessen ab, die Schüler(innen) durchlaufen. Die gängigen Theorien von Piaget, Fowler, Oser/Gmünder und anderen haben Implikationen für das Wunderverständnis von Kindern und Jugendlichen, die hier nur kurz und exemplarisch angedeutet werden können (für einen Überblick Kollmann 2011, 183-189; ausführlicher BeeSchroedter 1998, 194-253). So hängen wichtige Elemente der Wunderdeutung wie die Möglichkeit, Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden, historische Entstehungs- und Überlieferungsprozesse von Texten zu durchschauen und in ihren Konsequenzen abzuschätzen, Gattungen zu reflektieren oder übertragene Sinndimensionen zu entdecken, von kognitiven Fähigkeiten ab, die sich typischerweise im Laufe der Schulzeit in einer bestimmten Abfolge nach und nach erst entwickeln und deshalb nicht in allen Klassenstufen und bei allen Schülern gleichermaßen zur Verfügung stehen (Piaget). Wenn gefragt wird, wie der für die neutestamentlichen Wundergeschichten so wichtige »Glaube« mit dem Geschehen von Heilungen zusammenhängt, lässt die Theorie zum religiösen Urteil von Oser/Gmünder je nach Entwicklungsstand Unterschiedliches erwarten: Ist der Mensch von Gott und seinem Willen ganz abhängig (Stufe 1)? Dann kann er nur glaubend hoffen und warten. Kann er das Handeln Gottes im Sinne von »tu ich dir, dann 144

Wundererzählungen heute unterrichten

tust du mir« beeinflussen (Stufe 2)? Dann kann Heilung als Belohnung für den richtigen oder besonders starken Glauben gedeutet werden. Versteht sich ein Mensch in seinem Tun als unabhängig und frei gegenüber transzendenten Mächten (Stufe 3)? Dann erscheint es unsinnig Heilung durch ein Eingreifen Gottes zu erwarten. Um Gespräche mit Schülerinnen und Schülern angemessen planen, v. a. aber wahrnehmen und begleiten zu können, sind Kenntnisse der Theorien und Überlegungen zu ihren Folgen für das Wunderverständnis von Schülerinnen und Schülern hilfreich. Das lässt sich an Heike Bee-Schroedters Studie gut nachvollziehen, die exemplarisch das Wunderverständnis von drei Heranwachsenden im Alter von 9 bis 20 Jahren mit Hilfe von Theorien zum religiösen Urteil, zum Weltbild, zum sozialen Verstehen sowie zum Symbolverständnis zu erklären versucht (Bee-Schroedter 1998, 269-455). Bestimmte Aspekte des Wunderverständnisses und ihre Entwicklung sind in Einzelstudien näher untersucht worden. Gerhard Büttner hat Schüler(innen) der Klassen 19 mit einer Erzählung konfrontiert, in der Kinder Zeugen werden, wie die Jünger Jesu auf dem See Gennesaret durch einen Sturm in lebensbedrohliche Gefahr geraten (Büttner 2002, 115f.). Die Erzählung bricht ab, als Jesus hinzukommt und von den Kindern aufgefordert wird, etwas für seine Freunde zu tun. In Stile einer Dilemmageschichte steht die Frage im Raum, wie Jesus sich nun verhalten wird. Zumindest einige Schülerinnen und Schüler nehmen die Nähe der Situation zu anderen biblischen Geschichten wahr (zur Sturmstillung und zum Seewandel Jesu, auch zur Teilung des Schilfmeeres durch Mose) und bringen diese Assoziationen in das Gespräch über mögliche Auswege ein, so dass eine Nähe zu biblischen Wundergeschichten besteht. In der Auswertung der Ergebnisse (Büttner 2002, 125-261, zusammenfassend 266-268) wird von Büttner auf der einen Seite herausgestellt, wie sich die Erwartungen an die Art eines möglichen Handelns Jesu verändern. Während jüngere Schülerinnen und Schüler mit der Macht Jesu über den Sturm rechnen oder mit der Möglichkeit, er könne über das Wasser gehen um zu helfen, begegnen zum Ende der Grundschulzeit und zu Beginn der Sekundarstufe I zunehmend Vorstellungen, die ein Handeln Jesu oder Gottes erwarten, das ein Eigenrecht der Welt und ihrer Abläufe berücksichtigt und um ein Verstehen des Handelns bemüht ist, das zumindest partiell im Einklang mit »naturwissenschaftlichem« Wissen steht, wobei »hybride«, aus Sicht der Erwachsenen durchmischte Vorstellungen begegnen. Dazu gehört beispielsweise die Erwartung, Jesus lenke den Wind um, der dann das Boot an Land treibe. Die artifizialistischen Vorstellungen lösen sich auf und werden in den von Büttner untersuchten Gruppen in Klasse 8-9 weitgehend nicht mehr vertreten oder sind zumindest gebrochen (indem z. B. ironisierend darauf rekurriert wird). Handeln Gottes oder Jesu wird zunehmend als subjektorientiertes Handeln verstanden: Sie machen Mut, geben Hoffnung, stärken die Menschen in Not usw. Büttner betont die verbreitete Erwartung, dass von Jesus oder Gott Hilfe kommt, an der auch festgehalten wird, wenn das Wie dieser Hilfe immer unklarer wird. Diese Erwartung lässt sich mit der kognitiven Kategorie ›Finalismus‹ verbinden, d. h. mit der Erwartung von Kindern, was in der Welt geschehe, diene einem Zweck oder Ziel und werde letztlich zu einem guten Ende führen (Büttner 2002, 126f.; vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 181f.). Diese Sicht gerät durch die veränderte Sicht des Handelns Gottes und Jesu zunehmend in die Krise, was auf das Gottesbild zurückwirkt. Kinder sehen meist noch keine Theodizeeproblematik oder nehmen Gott in Schutz (Oberthür 2002, 120145

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128). Von Jugendlichen wird dann häufiger im Kontext der Theodizeeproblematik mit dem Fehlen von Wundern und einem Eingreifen Gottes gegen dessen Existenz, Gerechtigkeit oder Macht argumentiert (z. B. Blum 1997, 174, Zeile 156-165; vgl. auch Schambeck/Stögbauer 2007, 145-159). Sie haben oft ein naturalistisches, von den Naturwissenschaften und ihren Erkenntnissen geprägtes Weltbild, das keinen Platz für ein Handeln Gottes lässt (Fetz/Reich/Valentin 2001, 256-258). Allerdings zeigt eine andere Studie in einem stark christlich geprägten Milieu eine auffallend hohe Bereitschaft, hinter der Bewahrung in einer Notsituation ein Eingreifen Gottes zu erkennen (Hanisch 2007, bes. 142f.150-153), und verweist so auf den Einfluss der Sozialisation. Die Studie von Büttner macht auch auf die Frage des Verhältnisses von Jesus und Gott aufmerksam. Gehören beide anfangs für Kinder noch eng zusammen und hat Jesus als Sohn Gottes Anteil an dessen Macht, so differenziert sich das Verhältnis später aus und Jesus wird deutlicher als Mensch gesehen. Beachtlich ist die verbreitete, durch die neutestamentlichen Texte jedoch wenig gedeckte Vorstellung, Jesus bete, woraufhin Gott dann handle (Büttner 2002, 268f.; auch bei Blum 1997, 147.157; Oberthür 2006, 102). Auch dies zeigt noch einmal den ausgeprägt theo-logischen Zug, den die Wunderthematik aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen hat. Büttner untersucht im engeren Sinne nicht das Verstehen einer Wundergeschichte durch die Schülerinnen und Schüler, sondern anhand einer »wunderaffinen« Geschichte Erwartungen an helfendes Handeln Jesu und deren Hintergrund. Dagegen ist die Studie von Blum unmittelbar auf Wundergeschichten und deren Verstehen ausgerichtet. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass nicht wie bei Büttners »Dilemma-Geschichte« offen bleibt, was geschieht, sondern die Wundergeschichten mit der Behauptung eines wunderbaren Handelns Jesu konfrontieren. Blums Fokus ist darauf gerichtet, wie Schüler(innen) mit der in den Wundergeschichten augenscheinlich begegnenden Behauptung, Jesus habe Wunder gewirkt, umgehen. Dabei werden von ihm vier Deutungskategorien unterschieden, die bei den Schülerinnen und Schülern zu beobachten sind: (1) die Ablehnung der Möglichkeit von Wundern (vor dem Hintergrund naturwissenschaftlichen Denkens), (2) ein »apologetisch-wortwörtliches« Verstehen, (3) »natürliche« Erklärungen des Geschehens (im Sinne rationalistischer Wunderdeutungen), (4) »symbolisch-übertragene« Deutungen, worunter Blum all jene Deutungen fasst, die die Geschichten nicht als Erzählungen von Ereignissen verstehen, wie die drei vorausgehenden Deutungskategorien, sondern metaphorisch, kerygmatisch oder psychologisch deuten. Daneben beobachtet Blum »vermischte« Deutungen; »vermischt« sind Deutungen, bei denen verschiedene Wundergeschichten in unterschiedlichen Kategorien interpretiert werden (z. B. eine wortwörtlich-apologetisch, die andere symbolisch-übertragen) oder die zu einer Geschichte Äußerungen aus verschiedenen Kategorien aktualisieren (Blum 1997, 130-135). Blums Studie erfasst 10- bis 19-Jährige, setzt also später ein als Büttner und schließt auch Altersstufen jenseits der Klasse 9 ein. Der Schwerpunkt liegt auf der Altersgruppe zwischen 14 und 17 Jahren. Wichtige Beobachtungen sind (Blum 1997, 136-170, bes. 144.155): (1) Das von Blum so genannte apologetisch-wortwörtliche Verstehen kommt in allen Alterstufen vor, in der Altergruppe jenseits des 15. Lebensjahres jedoch deutlich seltener. Hier dürfte sich die von Büttner beschriebene Entwicklung einer Auflösung des artifiziellen Denkens abbilden und den von ihm beschriebenen Trend bestätigen. Dass 146

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der Typus nicht völlig verschwindet (vgl. auch Hanisch 2007, 145-149), könnte auf den Faktor Umwelt verweisen. (2) In allen Altersstufen kommen mehrere der Kategorien vor, in fast allen auch Probanden, die der Kategorie »vermischt« zugeordnet sind. Die zeigt noch einmal: Es ist mit einer Vielzahl von den Kindern und Jugendlichen plausiblen Deutungsmustern zu rechnen (vgl. auch Hanisch 2007, 145-147) und religionspädagogisch umzugehen. Die Diskussion der letzten Jahre und Jahrzehnte betont dabei stark, dass die Deutungen der Kinder und Jugendlichen zu würdigen und ernst zu nehmen, nicht als defizitär zu beurteilen sind. Dieser Ansatz wird in Konzepten wie einer entwicklungsorientierten Bibeldidaktik (Schweitzer 1999; Roose 2009) oder dem Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen aufgenommen (dazu M. Zimmermann 2012). Ein von Anfang an diskutiertes, aber nicht abschließend gelöstes (und wohl auch nicht wirklich »lösbares«) Problem ist die Balance zwischen dem Respekt vor der eigenen Sicht der Kinder und Jugendlichen einerseits und einem notwendig mit normativen Entscheidungen über Werte, Ziele und Kompetenzen verbundenen (religions-)pädagogischen Handeln andererseits (z. B. die »Bucher-Grom-Debatte« in KatBl 114 [1989], 654-662.790-793; 115 [1990], 170-190 oder Schweitzer 2007). (3) Die »symbolisch-übertragenen« Deutungen kommen erst ab einem Alter von 14-15 Jahren regelmäßiger vor. Dies wird eng mit der kognitiven Entwicklung zusammenhängen, da dieser Typus formal-operationale Fähigkeiten voraussetzt, die jüngeren Schülern in der Regel noch nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen (Blum 1997, 165-167.207f.). Teils wird daraus die Folgerung gezogen, entsprechende kognitive Fähigkeiten früh grundzulegen und gezielt zu fördern (Scholz 1994, 160-176), teils werden für jüngere Schülerinnen und Schüler andere Zugänge favorisiert, die nicht auf die Fähigkeit zu formal-operationalen Verstehensprozessen bauen (Blum 1997, 210-215). Seltener wird heute die Eignung der Wundergeschichten für jüngere Schüler grundsätzlich in Frage gestellt (zur Diskussion Ritter 1994; 1995) – zu Recht, steht hinter einer solchen Entscheidung doch eine problematische Festlegung auf einen bestimmten Deutungstypus als den vermeintlich »richtigen«. In den Studien zur Rezeption zeichnen sich Möglichkeiten und typische Modelle ab, wie sich Vorstellungen vom Handeln Jesu und Gottes in der Welt im Zuge der religiösen Entwicklung verändern, auch wenn die Form und das Ausmaß der Veränderungen sozialisationsabhängig sind und individuell sehr unterschiedlich verlaufen, was zu heterogenen Lerngruppen führt. Die Veränderungen stellen Schüler(innen) im Laufe der Schulzeit vor die Aufgabe, ihr Verständnis von Wundergeschichten neu zu orientieren. In dieser Neuorientierung spiegeln sich Grundfragen des Gottes-, des Christus- und des Weltverständnisses.

5. Die Wundergeschichten als Teil der Bibel Die einzelne Wundergeschichte ist Teil einer größeren Schrift und partizipiert an deren Inhalten, Merkmalen und Pragmatik. Umgekehrt wirkt es auf die Gesamtwahrnehmung einer Schrift zurück, wenn sie Wundergeschichten enthält. Für die exegetische Diskussion der Wundererzählungen spielt dieser Zusammenhang eine wesentliche Rolle (z. B. bei David Friedrich Strauß oder bei der redaktionsgeschichtlichen Deutung von Wunder147

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geschichten). Er ist auch jenseits wissenschaftlicher Zusammenhänge wirksam. Die Bibel bietet so einen wesentlichen Verstehenskontext für die Erzählungen von den Wundern Jesu: sei es, dass die Wunder auf das nahegekommene oder schon im Anbruch befindliche Reich Gottes gedeutet werden; sei es, dass der Schöpfungsglaube als Hintergrund der so genannten »Naturwunder« erkannt wird; sei es, dass nach der Person des Wundertäters Jesus gefragt wird. In allen Fällen wird – auch im Religionsunterricht – auf den biblischen Kontext rekurriert und dieser für das Verstehen der Geschichten fruchtbar gemacht. Isoliert von diesem Kontext werden die Erzählungen kaum je betrachtet. Wird die einzelne Wundergeschichte als Teil der biblischen Überlieferung wahrgenommen, dann ist die Bibel gewissermaßen zum Gesprächspartner der Schüler(innen) geworden und bringt dabei allerlei mit ein in dieses Gespräch, z. B. ihre Autorität als Heilige Schrift des Christentums oder die Geschichte ihrer Rezeption. Umgekehrt begegnen die Schülerinnen und Schüler der Bibel mit bestimmten Erwartungen oder Voreinstellungen. Dieses weite Feld hier zu erschließen ist nicht möglich. In den Blick genommen werden sollen nur einige Aspekte, die in der bibeldidaktischen Diskussion um die Wundergeschichten thematisiert werden. In Ingo Baldermanns Bibeldidaktik sind Sprache, Verlauf und Ziel des Gesprächs über die Wundergeschichten in der Bibel selbst begründet, für ihn ist biblische Didaktik »zuallererst die der Bibel eigene Didaktik, ihre Art zu reden. Wir fragen danach, weil wir die Bibel nicht mehr als das Buch einer Lehre nehmen, die so und nicht anders Geltung beansprucht, sondern als ein Buch des Lernens, das auf immer neuen Wegen Menschen die Augen öffnen will für Erfahrungen, die Hoffnung stiften« (Baldermann 1996, Vorwort). Im Rahmen solcher Wege liest er auch die Wundergeschichten als Hoffnungsgeschichten (exegetisch anknüpfend an Gerd Theißen) und bettet sie in einen Bogen ein, der Kinder an das für die Verkündigung Jesu zentrale »Reich Gottes« heranführen soll (Baldermann 2002, 11-51; 1996, 69-81). Das »Reich Gottes« ist dabei für Baldermann eine Vision, ein Traum von der Art Träume, die die Kraft haben, Wirklichkeit zu verändern, weil sie Hoffnung und Sehnsucht wecken. Baldermann beginnt das Gespräch zwischen Bibel und Schülern mit Sätzen, die er in den Seligpreisungen der Bergpredigt findet: »Weinende werden lachen, Hungernde werden satt, Sanftmütige werden die Erde besitzen«. Solche Sätze sind für Baldermann eine elementare Form biblischer Sprache; die Begegnung mit elementaren Sätzen ist der erste Schritt auf verschiedenen Wegen seiner biblischen Didaktik, auch bei der Arbeit mit den Psalmen, die der Wunderdidaktik vorausgeht. Die elementaren Sätze werden auf Wortkarten geschrieben, die Kinder loten sie im Gespräch oder gestalterisch in Collagen und Bildern aus, es werden analoge eigene Sätze gebildet und vieles mehr. Die Sätze dienen der Alphabetisierung der Kinder, d. h. sie sollen eine Sprache bieten, in der die Kinder ihre eigenen Erfahrungen wiederfinden und in Worte fassen können. Erzählungen sind demgegenüber eine komplexere Sprachform. In ihnen werden die Erfahrungen und Hoffnungen, die die Sätze formulieren, mit narrativen Mitteln entfaltet und fortgeschrieben. Deshalb kommt es darauf an, sich in die Erzählung hineinzubegeben, sich mit den Figuren zu identifizieren, den im Zuge der Geschichte geschehenden Transformationsprozess (etwa von Krankheit zu Heilung oder von Hunger zu Sättigung) nachzuvollziehen. Baldermann initiiert und beobachtet dabei Verschränkungen der Sprachformen: Um Gefühle der erzählten Figuren auszudrücken, greifen Kinder auf elementare Sätze z. B. aus dem Psalmen zurück. In diesem Ineinandergreifen der Sprachformen wird ein Element dessen sichtbar, was Baldermann mit bi148

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blischer Didaktik als Didaktik der Bibel meint. Im Hinblick auf das Reich Gottes dienen die Wundergeschichten dazu, den Traum, der sich in den elementaren Sätzen der Seligpreisungen artikuliert, mit dem Wirken Jesu zu verknüpfen, denn sie erzählen davon, wie durch ihn Leid überwunden wird oder Hungernde satt werden. Mit den elementaren Sätzen der Psalmen oder der Seligpreisungen lässt sich die Hoffnung artikulieren, es möge einer kommen, der Trauer, Hunger, Krankheit und Gewalt beseitigt. Die Wundergeschichten erzählen davon, wie wirklich bereits einer gekommen ist und dies getan hat. Der Bogen kann dann weiter gespannt werden über Gleichnisse bis zu den Osterzählungen als Geschichten der Hoffnung gegen den Tod (Baldermann 2002, 81-152; ders. 1996, 198-233). So werden die Wundergeschichten auch theologisch in größere Zusammenhänge einer biblischen Didaktik des Erlernens von Hoffnung eingebettet. Nicht nur Sprache, Verlauf und Ziel des Gesprächs, auch die Autorität des Gesprächspartners Bibel wird von Baldermann in den Blick genommen. Im Zusammenhang seiner Reflexion des Erzählens legt er Wert darauf, den Unterschied zwischen biblischen Geschichten und Märchen zu markieren, die auch auf die Kraft der Phantasie setzen, Hoffnungen artikulieren können und Ähnliches, und macht ihn in der geschichtlichen Erfahrung fest, die diese Erzählungen vermitteln. »Wohl braucht die Hoffnung die Kraft der Phantasie und die Bilder der Träume, um sich zu entfalten; sie braucht sie wie das Licht und die Luft; doch der Boden, in dem sie Wurzeln fasst, ist allein die glaubwürdig vermittelte Erfahrung … Wo wir Hoffnung vermitteln wollen, wird nach der Autorität dieser Hoffnung gefragt. Es kommt darauf an, dass wir sie an der richtigen Stelle und in der richtigen Weise geltend machen« (Baldermann 2002, 46). Baldermann will die Autorität durch die Authentizität des Erzählens gewährleisten. Die Forderung nach Authentizität entfaltet er in zwei Richtungen: einerseits im Sinne eines authentischen Redens von den Leiden und Hoffnungen derer, von denen erzählt wird, andererseits im Sinne einer Authentizität des Erzählers, der nicht neutral und distanziert erzählen darf, wenn die Begegnung gelingen soll, sondern sich mit seiner eigenen Person, mit dem, was die Geschichte in ihm bewegt, in das Erzählen einbringen muss (Baldermann 2002, 4648; ders. 1996, 99f.). Baldermann setzt also einerseits auf die Erfahrungen, die er auch bei den Kindern durch die elementaren Sätze ins Bewusstsein gebracht hat. Sie finden ihre Entsprechungen in den Erfahrungen, die die Texte vermitteln. Andererseits gewährleistet die Person der Lehrerin oder des Lehrers, die die Wundergeschichte im Unterricht als »ihre/seine« Geschichte neu erzählt, deren Autorität. Sie wird zur biblischen Nach-Erzählerin, die das Erzählte auch mit der eigenen Erfahrung verbürgt. Baldermanns Bibeldidaktik ist von positiven Erfahrungen mit der Begegnung zwischen Schülern und Bibel bestimmt. Sie ist v. a. in der Grundschuldidaktik verankert und bewährt. Während Wundergeschichten auf Grundschüler erfahrungsgemäß oft noch Faszination ausüben, scheint die Relevanz der Texte im Jugendalter zu schwinden. Bei kirchlich sozialisierten Jugendlichen werden Glaubenskonflikte sichtbar (z. B. in den Interviews von »Riccarda«, aber auch von »Thomas« bei Blum 1997, 189-194 bzw. 180184). Die Krise ist mit der Entwicklung des Wunderverständnisses der Kinder und Jugendlichen in Verbindung zu bringen. Es tut sich ein Graben auf zwischen dem Autoritätsanspruch einerseits und den Möglichkeiten, einen Zugang zu den Texten zu gewinnen andererseits, gerade in der Sekundarstufe I. Schülerinnen und Schülern dieses Alters die Bibel nahezubringen, ist schon schwierig genug. Besteht nicht berechtigt die Sorge, die Schwierigkeiten mit den Wundergeschichten könnten auf das Verhältnis zur Bibel 149

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insgesamt negativ zurückwirken? Müssen es dann angesichts der hermeneutischen Schwierigkeiten ausgerechnet die Wundergeschichten sein (Wegenast 1999, 44-45)? Die Frage ist berechtigt und kann aus guten Gründen im konkreten Fall auch mit »Nein« beantwortet werden. Es gilt zwar, die Grenzen von »Vermeidungsstrategien« zu reflektieren: Weder die Texte noch die Verstehensschwierigkeiten verschwinden, weil sie im Religionsunterricht nicht thematisiert werden. Plausibel kann das Ausblenden dieses Teils der Bibel aber z. B. als vorübergehende Strategie sein, wenn zu einem späteren Zeitpunkt bessere Voraussetzungen zu erwarten sind (Englert 2005, 192-194). Legitim ist es auch als Entscheidung von Lehrerinnen und Lehrern, die mit diesem Teil der Bibel im Religionsunterricht angesichts der hermeneutischen Schwierigkeiten schlicht nicht klarkommen (Modelle des Umgangs mit schwierigen Bibeltexten bei Fricke 2005, 259-279). Zu suchen ist ein Weg, das Gespräch zu führen, auch wenn es Kommunikationsprobleme und Verständnisschwierigkeiten gibt und man keinen Draht zueinander findet. Baldermann setzt auf Entsprechungen als Grundlage für die Beziehung zum Kommunikationspartner »Bibel«. Auch wer Wundergeschichten im Religionsunterricht z. B. als Ausdruck von Glaubenserfahrungen liest, sucht solche Entsprechungen. Der Gedankengang von Stefan Alkier und Bernhard Dressler nimmt bei der gegenteiligen Annahme seinen Ausgangspunkt, was ihn gerade angesichts der beschriebenen Kommunikationsschwierigkeiten attraktiv erscheinen lässt. Sie notieren die Diskrepanz zwischen unserer Erfahrungswelt und den biblischen Erzählungen und betrachten die Bibel als »fremde Welt«. Wenn wir als Leserinnen und Leser diese Welt betreten, müssen wir »unbedingt damit rechnen, dass die Gesetze und Regeln, die in diesen fremden Welten herrschen, andere sind als die, die unsere Welt bestimmen« (Alkier/Dressler 1998, 166). In dieser fremden Welt gibt es eben Dämonen, kann Jesus mit dem Wort oder der Berührung heilen und dem Sturm gebieten, mag dies auch in unserer Welt nicht so sein. Ziel der Reise in die fremde Welt ist die Begegnung mit ihr – Reisen bildet. Dabei ist zwar jeder Versuch, die fremde Welt zu verstehen, notwendig an das eigene Wissen, die eigenen Erfahrung usw. gebunden, die die Reisenden mitbringen. Doch soll die Reise in eine fremde Welt nicht dazu führen, dass wir sie nur okkupieren, dann gilt als oberste Regel der Respekt vor den Gesetzen dieser Welt: »Wir dürfen in die biblischen Geschichten nicht unser kulturelles Wissen, nicht unsere Rationalismen und auch nicht unsere Empfindungen eintragen, wenn die biblischen Erzählungen wirklich biblische Erzählungen bleiben sollen und wir sie nicht unnötigerweise erzählen lassen, was wir eh schon wissen und immer schon gedacht haben« (a. a. O., 183). Die fremde Welt mit dieser Haltung zu betreten ermöglicht eine wirkliche Begegnung, bedeutet jedoch nicht notwendig, ihre Gesetze unkritisch in die eigene Welt zu übernehmen. So betrachtet ist an den Irritationen und Schwierigkeiten in der Begegnung mit den Wundergeschichten etwas zu gewinnen. Die Wundergeschichten werfen ihrer Sache wegen und im Kontext der Bibel »große« Fragen auf – danach, wo und wie Gott handelt in der Welt, wer Jesus war und ist oder was angesichts des Leids, der Krankheit und der Behinderung von Menschen zu hoffen ist (Beispiele bei Reiß 2010, 131-137). Man kann im Religionsunterricht nicht ständig diese »großen Fragen« behandeln und sie brechen auch nicht allein anhand der Wundergeschichten auf. Die Wundergeschichten wegen der Anstößigkeit ihrer Erzählung als Anlass und Provokation zum Fragenstellen und zum eigenen Reflektieren zu nehmen wäre jedoch eine Chance, ihnen einen Ort zu geben, der die Verstehensschwierigkeiten aufnimmt und ihnen zugleich theologisch gerecht 150

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wird. Die »Sache« und die Welt der biblischen Wundergeschichten bieten Lernchancen, wenn man sich den Widerständen stellt, die sie hervorrufen, und deren Gründe thematisiert.

6. Die Wunder als Ereignisse – noch einmal zur »Sache« der Wundergeschichten Der Ansatz, die Bibel mit ihren Wundergeschichten als fremde Welt zu lesen, bietet reizvolle Möglichkeiten, blendet aber durch den Blick auf die erzählte Welt aus, dass die fremde Welt zu unserer eigenen in Beziehung steht. Dass die Wundergeschichten faktuale Erzählungen sind, war Ausgangspunkt der vorausgehenden Überlegungen. Die Wundergeschichten beanspruchen, von etwas zu erzählen, das sich im Rahmen unserer Geschichte zugetragen hat. Dies holt das Konzept der fremden Welt nicht ein. Die Frage, was gewesen ist, wird in der theologischen Wissenschaft mit dem Mitteln historischer Forschung zu beantworten versucht, sie bietet das Instrumentarium, das der modernen wissenschaftlichen Vernunft entspricht. Die Exegese kommt dabei durchaus zu intersubjektiv nachvollziehbaren Ergebnissen. Es herrscht ein weitgehender Konsens, dass auch in kritisch-historischer Sicht wahrscheinlich von einem Kernbestand »wunderbarer Taten« Jesu auszugehen ist, v. a. von Heilungen und Dämonenaustreibungen. Verschiedene Erklärungen für diese Heilungen und Exorzismen werden diskutiert. Es ist aber auch deutlich, dass der Glaube der Überlieferer an Jesus auf die Erzählungen eingewirkt hat und es zu mehr oder weniger ausgeprägten Veränderungen der Erzählungen in Zuge der Überlieferung gekommen ist. All das ist nach wissenschaftlichen Maßstäben diskutierbar und hilft, den Ereignisbezug der Wundergeschichten besser zu verstehen, Glaube und Rationalität besser zu vereinbaren. Damit ist ein wesentlicher Grund gegeben, in elementarer Form historisches Fragen von Schülern einerseits und wissenschaftlichen Kenntnisstand zur historischen Erforschung der Wunder Jesu andererseits in religionsdidaktischen Zusammenhängen zu berücksichtigen und einzubinden. In einer ersten Form kann dies über die Textauswahl geschehen, z. B. durch die Beschränkung auf Heilungserzählungen. »Grundsätzlich haben Heilungswunder als Reflexe des historischen Wirkens Jesu den Vorteil, dass dort die für die Wunderdidaktik so problematische Kluft zwischen Glaubensbotschaft und Wahrheitsgehalt des Erzählten bei weitem nicht so tief wie bei den Totenerweckungen oder Naturwundern ist« (Kollmann 2011, 193). Die Frage, ob das Erzählte wirklich passiert ist, lässt sich hier gegebenenfalls zumindest grundsätzlich bejahen, ohne in Konflikte mit der rationalen Vernunft zu kommen oder diese Aussage später gegenüber den älter gewordenen Schülern zurücknehmen zu müssen. Auch die von Werner H. Ritter vorgetragene Unterscheidung zwischen Jesusgeschichten und Christusgeschichten beruht auf diesen exegetischen Erkenntnissen (Ritter 2008, 281 f. und 294-296; ähnlich Oberthür 2006, 100). Weiterführende Fragen, wie das denn geschehen könne, kann man – diese Linie weiterverfolgend – mit rationalistischen Erklärungsmustern zu beantworten versuchen. Psychologische, psychosomatische und ähnliche Erklärungsmuster für Heilungen und Exorzismen sind ja auch in der wissenschaftlichen Exegese verbreitet (z. B. Theißen 2007a, 38-48). Michael Fricke berichtet aus einem Gespräch mit Drittklässlern über die Teilung des Meeres durch Mose (Ex 14), dass die von ihm referierte rationalistische Deutung – der Wind habe das Wasser weggedrückt, 151

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so dass die Hebräer gerade noch hindurchgehen konnten, und als der Wind dann nachgelassen hätte, seien die Ägypter ertrunken – von den Schülerinnen und Schülern dankbar aufgenommen wird. Sie machen die befriedigende Erfahrung, dass sie ihrem Verstand trauen können und mit ihrem kritischen Fragen auch im Religionsunterricht recht haben. Die Erfahrung hat aber auch einen Preis, der zumindest vorläufig zu zahlen ist, bis ein neuer Anlauf auf die Erzählungen unternommen werden kann: Die Erfahrung der Macht Gottes, die das biblische Wunderverständnis wesentlich bestimmt, ist verschwunden. »Des war ja gar kein Wunder! Ist ja bobsi zu kapieren! Ich glaub’ schon an die Geschichte, Schilfmeer, Ebbe, das gibt’s ja heute noch, dass man einfach durchs Meer latschen kann, in Hamburg« (Fricke 2005, 533). Natürlich darf und muss das Verstehen nicht an diesem Punkt stehen bleiben. Die hier gebotene Erklärung ist auf Dauer nicht zufriedenstellend. Ein rationaler Zugang zu den Wundergeschichten ist eine Spiralbewegung, die das Sich-Wundern, welches die Macht Gottes ahnen lässt, immer wieder verliert und neu gewinnt. In höheren Klassen kann der Versuch einer historischen Urteilsbildung gemeinsam mit den Schülern unternommen werden. Ausgangspunkt des Lernweges können Fragen der Schüler sein. Methodisch wichtig ist die Rückbindung an den Text und seine argumentativ begründete Interpretation, die die Gründe für das jeweilige historische Urteil sichtbar macht. Auch die Lehrkraft ist wie die Schüler nur Leserin des Textes. Sie hat durch ihre theologische Ausbildung einen Vorsprung an Wissen und Erfahrung im Umgang mit den Texten, aber auch sie weiß nicht, wie es wirklich war. Die historische Betrachtung der Taten Jesu folgt bestimmten Regeln, die nicht nur für die wissenschaftliche Arbeit relevant sind, sondern unvermeidlich auch den unterrichtlichen Umgang mit den Wundergeschichten bestimmen, falls er sich auf das historische Fragen einlässt. Es sind nicht nur Regeln, die beachten muss, wer wirklich auf dem Weg historischer Forschung bleiben und nicht unversehens abzweigen will. Was vielleicht noch wichtiger ist: Die Regeln bestimmen und begrenzen die Art und Weise, wie der Gegenstand wahrgenommen wird – so wie die Route zur Anfahrt auf eine Stadt bestimmt, von welcher Seite sie sich mir zeigt. (1) Historische Arbeit ist auf Quellen und deren Bewertung angewiesen. Quellen sind immer perspektivisch, selektiv, bereits Deutungen des Wahrgenommenen. Einen anderen, gar einen unmittelbaren oder »unverfälschten« Zugang zum Geschehen gibt es nicht. Wer sich auf die historische Frage einlässt, muss bereit sein zur mühsamen Arbeit mit historischen Quellen und ihrer kritischen Analyse. (2) Historische Urteile sind Wahrscheinlichkeitsurteile. Die Antworten sind selten ein klares Ja oder Nein. Sicherheit ist die Ausnahme, der Zweifel ein Grundprinzip des Arbeitens. Wer historisch fragt, muss mit Urteilen wie »eher nicht«, »vermutlich«, »recht sicher« und ähnlich klarkommen. Solche Urteile sind im Falle der Wundergeschichten möglicherweise nicht leicht auszuhalten, denn sie rühren an Grundpfeiler des Gottesglaubens und des Weltbildes. (3) Historisches Urteilen folgt dem Analogie- und dem Korrelationsprinzip: Als historisch wahrscheinlich gilt den Menschen, was ihren sonstigen Erfahrungen entspricht (Analogie). Dass Vögel fliegen, glauben sie viel eher, als wenn einer dasselbe von Pferden behauptet. Ereignisse und Sachverhalte werden aus innerweltlichen Ursache-WirkungsZusammenhängen heraus verstanden (Korrelation). Wer historisch zu arbeiten beginnt, gerät deshalb schnell auf Pfade, die den Wundern das Wunderbare nehmen. Heilungen Jesu mit Placebo-Effekten zu erklären, wie sie die moderne Medizin und Psychologie 152

Wundererzählungen heute unterrichten

erforschen, macht sie rational nachvollziehbar. Auf die Sehnsucht nach dem rettenden Handeln Gottes bieten Geschichten von Placebo-Heilungen jedoch keine befriedigende Antwort. (4) Historisches Urteilen ist perspektivisch, hängt ab vom Standpunkt des Forschenden, der sein Weltbild und seine Plausibilitäten einbringt. Wer historisch fair urteilen will, muss sich des eigenen Standpunktes, seiner Eigenheiten, Prägungen und Grenzen – auch im Unterschied zu dem der biblischen Erzähler – bewusst werden. Zu den Kompetenzen, die ein historischer Zugang zu den Wundern Jesu im Religionsunterricht anstrebt, gehört langfristig nach Möglichkeit auch ein zunehmendes Verständnis für die Eigenarten, Merkmale und Grenzen dieses Zugangs, allerdings ist ein solches methodenkritisches Denken kognitiv anspruchvoll. Die Frage nach dem Ereignisbezug der Texte ist also mit historischen Mitteln behandelbar – in gewissen Grenzen auch im Unterricht. Unbeschadet der Möglichkeit einer historischen Rückfrage nach dem Wunderwirken Jesu stellt sich allerdings auch die Frage, ob sie sinnvoll und fruchtbar ist. Sowohl auf exegetisch-theologischer wie auf religionspädagogischer Seite wird dies von nicht wenigen verneint oder skeptisch gesehen (z. B. Scholz 1994, 156-160; Baldermann 1996, 206; Englert 2005, 188-192). Wie begrenzt die Perspektive ist, die sich historische Forschung durch ihre eigene Methodik aufzwingt, ist sichtbar geworden. Die historisch befragten Wundergeschichten taugen nicht als Beweis für die Gottessohnschaft Jesu oder die göttliche Herkunft der Botschaft, die er verkündet. Historisch nachvollziehbar ist, wie und woraufhin der Glaube entsteht, nicht aber, ob er recht hat. Jedoch scheint es mir zweifelhaft, dass der Ereignisbezug der Texte ohne schwerwiegende theologische Folgen ausgeblendet werden kann – und sich ihm zu stellen impliziert auch, sich ihm mit den Mitteln historischer Vernunft zu stellen (vgl. Münch 2013). Im Kern sind die Wundererzählungen Geschichten über das Handeln Gottes in der Welt, genauer gesagt von einem besonderen Handeln Gottes, das sich von dem unterscheidet, was in der Theologie als Schöpfungshandeln Gottes einerseits und als göttliche Vorsehung andererseits verhandelt wird. Welche Folgen hat es für das Gottesbild, wenn von Gott angenommen wird, er habe gar nicht – wie in der Exodusüberlieferung erzählt und erinnert – zugunsten der Seinen rettend eingegriffen und könne dies womöglich auch nicht (vgl. Meurer 2010)? Welchen Grund hat die Hoffnung auf Jesus, wenn für belanglos erklärt wird, ob er sich den Menschen heilend und befreiend zugewandt hat und ob darin wirklich Gottes Macht sichtbar geworden ist? Diese Fragen können hier nicht weiter diskutiert werden. Sie sollen aber andeuten, weshalb die Frage nach den Wundern als Ereignissen aus theologischer Sicht alles andere als erledigt ist und auch aus religionspädagogischer Sicht aufgegeben bleibt. Die großen Fragen brechen beim Besuch in den fremden Welten auf, sie stellen sich aber nach der Heimreise auch in der eigenen Welt. Deshalb lohnt die Reise – auf verschiedenen Routen.

7. Methoden Abschließend sollen die vorausgehenden Überlegungen zumindest ansatzweise noch einmal in methodischer Rücksicht bedacht werden. Welche Unterrichtsmethoden und Zugänge eignen sich, um sie zur Geltung zu bringen? 153

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Der Text selbst ist zunächst durch seine Narrativität gekennzeichnet. Aufgabe der Methoden ist es hier zum einen, die Erzählung zur Wirkung zu bringen. Das kann z. B. heißen: Die Geschichten werden gut erzählt. Die Verfahren und Konzeptionen des Erzählens biblischer Geschichten gehören zum Standardrepertoire der Religionsdidaktik (einführend z. B. Adam 2010). Prozesse der Identifikation können durch biblische Erzählfiguren unterstützt werden, durch szenische Rollenspiele oder durch Standbilder. Mit zunehmenden sprachlichen Fähigkeiten ist es möglich, die Geschichte aus der Perspektive einer bestimmten Figur neu zu erzählen, einen Tagebucheintrag über die Ereignisse verfassen zu lassen und Ähnliches. Zum anderen können v. a. bei älteren Schülerinnen und Schülern narrative Merkmale durch einfache analytische Verfahren erhoben werden, etwa mit Hilfe von Fragen zum Text oder durch Vergleiche verschiedener Versionen der Erzählung (z. B. synoptischer Parallelen; zu Methoden biblischer Textarbeit Berg 2010). Sofern in den Wundergeschichten metaphorische und symbolische Dimensionen zur Geltung gebracht werden sollen, führt dies in Methodenfragen hinein, wie sie in der Symboldidaktik (vgl. die Standardwerke zur Symboldidaktik von Halbfas 2010; ders. 1990/1991; Biehl 1989; ders. 1993; Früchtel 1991; Oberthür 2009) und im Zusammenhang mit der Förderung metaphorischen Verstehens reflektiert werden (z. B. Oberthür 1995). Ein Verständnis für Metaphern und Symbole wird erfahrungsorientiert aufgebaut: Es muss bei jüngeren Schülerinnen und Schülern z. B. erprobt und erfahren werden, was es bedeutet blind zu sein, um ein Verständnis für die Metapher »blind sein« grundzulegen. Neben Methoden des sprachlichen Umgehens mit der bildhaften Rede treten Formen der kreativen, gestalterischen Auseinandersetzung mit ihnen, etwa das Malen zu Bildworten oder das Gestalten von Collagen. Langfristig ist es aber auch notwendig, einen kritisch-reflektierenden Umgang mit Metaphern und Symbolen zu erlernen, wozu analytische Methoden einerseits und diskursiver Austausch in der Lerngruppe andererseits gehören. Um die Schüler(innen)und ihre Welten in den Unterrichtsprozess einzubeziehen, sind zunächst grundsätzlich Unterrichtsformen erforderlich, die ihnen das Wort geben und Raum zur eigenständigen Reflexion (Gespräche im Stuhlkreis, verschiedene Formen von Diskussionen, …). Darüber hinaus stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung, um die Wahrnehmung des Themas »Wunder« in der Lebenswelt der Schüler(innen) im Rahmen des Unterrichts sichtbar zu machen. Filme kommen hier beispielweise in Frage oder Liedtexte von Pop-Songs (dazu Kollmann 2011, 225-233; entwurf 4/2006, 45-57). Zeitschriftenartikel aus Stern, Spiegel, P.M. und anderen Medien können ebenso Ausgangspunkt und Anstoß für die eigene Reflexion zum Verständnis der Wunder sein wie moderne literarische Texte oder Karikaturen. Überblicke über klassische Positionen der Wunderdeutung aus Vergangenheit und Gegenwart z. B. in Form von prägnanten Zitaten bieten inhaltlich gewichtige »Gesprächspartner« zum Thema an (Material z. B. bei Biewald 2002, 46-55 und 66-74; eine Sammlung von Karikaturen zum Thema in Katechetische Blätter 135 [2010] Heft 4). Die Wundergeschichten als Teil der Bibel ernst zu nehmen ist methodisch nicht klar zu fassen. Es kann heißen, tatsächlich mit einer Bibel im Unterricht zu arbeiten. Es kann bedeuten, bewusst immer wieder den Kontext einer Wundergeschichte sichtbar zu machen und in die Arbeit am Text einzubeziehen. Bei Baldermann führt es, wie gesehen, zu charakteristischen Lernwegen und Arbeitsweisen, die auch jenseits der Auseinandersetzung mit den Wundergeschichten bei anderen biblischen Themen wiederkehren (z. B. die 154

Wundererzählungen heute unterrichten

Arbeit mit Wortkarten; dazu auch Oberthür 2010). Bei Alkier und Dressler werden methodische Fragen nur angerissen, laufen aber auf eine intensive, analytische und kreative Auseinandersetzung mit der erzählten Geschichte (z. B. aus der Erzählung ein Drehbuch machen) einerseits und reflektierende Diskussion (über das Gottes- und Weltverständnis) andererseits hinaus (Alkier/Dressler 1998, 184f.). Soll im Unterricht eine Auseinandersetzung mit den Wundern als Ereignissen tatsächlich unternommen werden, sind in elementarisierter Form exegetische Arbeiten notwendig und möglich, z. B. als synoptischer Vergleich. Für religions- und traditionsgeschichtliche Fragestellungen nach Parallelen oder Vorbildern der neutestamentlichen Wundergeschichten ist Quellenarbeit zu leisten. Sie ist angemessen anzuleiten und zu strukturieren. Sammlungen relevanter Quellentexte sind an verschiedenen Orten zusammengestellt (z. B. bei Biewald 2002, 56-65; http://www.uni-siegen.de/phil/antiketexte/ wunder/).

Christian Münch Literatur zum Weiterlesen R. Biewald, Wunder und Wundergeschichten, Leipzig 2002. R. Englert, »Das kann nicht wahr sein!« Wundergeschichten, in: U. Baumann et al., Religionsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2005, 183-198. B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, UT 477, Stuttgart 32011, 183-233. R. Lachmann, Wundergeschichten »richtig« verstehen? Bibeldidaktik zwischen historisch-kritischer Exegese, existentialer Interpretation und Rezeptionsästhetik, in: G. Lämmermann et al. (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne, FS K. Wegenast, Stuttgart et al. 1999, 205-218 W. Ritter/M. Albrecht, Wunder-Geschichten vom gelingenden Leben als Aufgabe der Religionspädagogik, in: dies. (Hg.), Zeichen und Wunder. Interdisziplinäre Zugänge, BThS 31, Göttingen 2007, 259-289. Themenhefte religionspädagogischer Zeitschriften zu den Wundergeschichten: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (1999), Heft 1; ru 33 (2003), 121-146; entwurf (2006), Heft 4; KatBl 135 (2010), Heft 4.

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Über Wundererzählungen heute predigen (Homiletik der Wundererzählungen) Kein Prediger, keine Predigerin kommt umhin, sich mit der Frage der Hermeneutik der biblischen Wundererzählungen und ihrer Umsetzung in der Predigt zu beschäftigen. Ein Blick auf die geltende Perikopenordnung im Bereich der evangelischen Kirche von 1977/ 78 zeigt, dass die hier getroffene Auswahl der gottesdienstlichen Lesungen die Fülle biblischer Wundererzählungen angemessen berücksichtigt. Wundergeschichten gehören zum Kernbestand der Evangelien und rangieren dort quantitativ noch vor den Gleichnissen Jesu. Die in den Evangelien erzählten Wunder machen etwa 1/3 ihres Textbestandes aus (Köhnlein 2010, 12). Dementsprechend gehören an 32 Sonn- und Feiertagen ein bis maximal vier Wundererzählungen, auch des Alten Testaments und der Apostelgeschichte, zum Proprium des evangelischen Gottesdienstes. Insgesamt finden sich in den sechs Reihen der Perikopenordnung etwa sechzig biblische Wundererzählungen. Für diesen Artikel nicht berücksichtigt sind die Marginaltexte, die vorgeschlagenen Texte für die unbeweglichen Feste und Gedenktage sowie für besondere Tage und Anlässe.

1. Wundererzählungen predigen – Lust und Last Geht man die Perikopenordnung durch, stellt sich immer wieder eine Frage: Wie lassen sich die Wundererzählungen formal von anderen biblischen Textgattungen abgrenzen, in denen Erfahrungen zur Sprache kommen, die ebenso jeder innerweltlichen Logik widersprechen? Wenn z. B. zu Ostern über Hannas Lobgesang gepredigt wird und damit von der Umwertung aller Werte (1Sam 2,1-2.6-8a), folgen die Predigenden Hinweisen auf Wunder, die Gott tut. Gleiches gilt für die Predigt der Schöpfungstexte (Gen 1,1-4a.2631a am Sonntag Jubilate, Reihe V) oder von Perikopen, die den Gott preisen, der Menschen heilt (Jes 42,1-4 [5-9] am 1. Sonntag nach Trinitatis, Reihe VI): Gottes Handeln in dieser Welt ist immer schon als wunderbar zu bezeichnen. Auch die Menschwerdung Gottes und die Rechtfertigung aus Glauben sind Ereignisse, die rational nicht zu begreifen oder zu erklären sind. Letztlich ist die Auferstehung Christi von den Toten das größte Wunder. Wer in dieses Bekenntnis einstimmt, erkennt den Anbruch des Reiches Gottes in Jesus von Nazaret und hat an dieser Geschichte Gottes Anteil (so die Argumentation des Paulus in 1Kor 15,12-20, Predigttext für Ostermontag, Reihe V). Bei näherer Betrachtung zeigt es sich: Wundererzählungen sind von »anderen« Texten nicht leicht abgrenzbar. Mit den einen wie den anderen bezieht sich die Predigt auf Taten Gottes, der tötet und lebendig, arm und reich macht, der erniedrigt und erhöht (1Sam 2,6 f.). In der Folge der dialektischen Theologie gelangte die Wunderfrage in den Zusammenhang der prinzipiellen Homiletik. Es ist bezeichnend, dass sich keine neuere Homiletik findet, die einen eigenen Abschnitt zu diesem Thema enthält. Rudolf Bohren (Bohren 1974, 317-326) überschreibt zwar ein Kapitel mit »Zeichen und Wunder«. Er bezieht dort das Wunder im eigentlichen Sinn allerdings nur auf das Predigtgeschehen: »Predigt als Absolution ist Wunder; in ihr wird Gottes Zukunft schon Gegenwart« (a. a. O., 318). 156

Über Wundererzählungen heute predigen

Ältere Homiletiker, durch die liberale Theologie geprägt, widmen den Wundergeschichten dagegen durchaus eigene Aufmerksamkeit (z. B. Fendt 1949, 71-74). Menschen den Erfahrungshorizont der Wunder Gottes zu öffnen, das ist der Reiz christlicher Predigt. Es gibt etwas, was jenseits aller menschlichen Erwartung liegt, was der Mensch sich nur auf wunderbare Weise schenken lassen kann. Eine solche Erfahrung »lässt sich nicht herbeiführen, sondern ist – wie das Wunder selbst – nur möglich als Folge eines Ereignisses, das in der Theologie Offenbarung Gottes genannt wird« (Jüngel 1977, 41). Sind Wunder im heutigen Sprachgebrauch Ereignisse, bei denen etwas Außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller menschlichen Erfahrung Widersprechendes geschieht, dann trifft das Predigen über die Wundererzählungen den Kern christlicher Rede von Gott überhaupt. Damit verbunden sind jedoch die Schwierigkeiten, die sich beim Predigen über Wundererzählungen auftun. Bei aller theologischen Klärung bleibt die Frage der Erschließung von Erzählungen, die »Wunderbares« im Sinne von »übernatürlichen Ereignissen« enthalten. Wie können Gottes wunderbare Machttaten so übersetzt werden, dass sie bei den Hörerinnen und Hörern nicht ungläubiges Kopfschütteln verursachen, sondern Glauben wecken? Der Weg der Auseinandersetzung mit übernatürlichen Ereignissen beginnt bereits im Neuen Testament. Für die Kontrahenten Jesu war es keineswegs ungewöhnlich, dass Jesus und seine Jünger sowie die Apostel Wunder wirken können, aber sie bestritten, dass diese Wunder auf der Kraft Gottes beruhen (so z. B. Mk 3,22-27, Mt 12,24). Die Kritiker des christlichen Glaubens in der Antike dagegen unterstellten, die Anhänger der neuen Religion seien Zaubertricks, Lügengeschichten und Ammenmärchen aufgesessen. In der Geschichte der Kirche, etwa bei Augustin oder auch später bei Martin Luther, wurde die Möglichkeit von göttlichen Wundern nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Erst seit der Aufklärung beschäftigte sich die Theologie mit der Vereinbarkeit von Wundererzählungen und naturwissenschaftlichem Weltbild. Daraus nun, dass in der Natur nichts geschieht, was nicht aus ihren Gesetzen folgt …, daraus folgt mit völliger Klarheit, dass das Wort Wunder nur mit Beziehung auf die menschliche Anschauung verstanden werden kann und nichts anderes bedeutet als ein Werk, dessen Ursache wir nicht nach dem Beispiel eines anderen gewohnten Dinges erklären können … (Spinoza 1994, 96).

Die von Gotthold Ephraim Lessing in Wolfenbüttel herausgegebenen »Fragmente eines Ungenannten« gaben den Anstoß zu erbittertem Streit um die biblischen Wunder. Einflussreich wurde dabei auch die Deutung, die David Friedrich Strauß den Wundergeschichten im 19. Jahrhundert gab. Er fasste sie als gedichtete Mythen auf, die eine bestimmte Idee ausdrücken wollten. Sie stellten eine Überbietung dessen dar, was im Alten Testament von den Propheten erzählt wurde, um die Messianität Jesu eindrücklich darzustellen (vgl. Theißen/Merz 2001). Diese Auseinandersetzung fand überwiegend auf der akademischen Ebene in einem theologischen und religionskritischen Diskurs statt. Sie zeigte jedoch Folgen in der Art, wie zu den biblischen Wundererzählungen gepredigt wurde. So wollte man dann z. B. im späten 19. Jh. gegen die Angriffe der Religionskritik und im Zusammenhang der 157

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Leben-Jesu-Forschung in den Predigten bezeugen, dass der »geschichtliche Jesus Anfänger und Vollender, erstes Subjekt und bleibendes Objekt unseres Glaubens ist« (Baumgarten 1911, V. Gleichsam programmatisch finden sich in Baumgartens Predigtsammlungen keine Predigten über Wundererzählungen). Von dieser Konzentration auf die Person Jesu Christi her eröffnete sich die Möglichkeit, das für den menschlichen Verstand Unerklärliche der Bibel rational zu deuten. Man zog dazu mit Hilfe des religionsgeschichtlichen Vergleichs Überlieferungen von anderen übernatürlichen Ereignissen heran und kam zu dem Ergebnis, dass im Umfeld der Antike Wunder »etwas ganz Normales« gewesen seien – eine zeitbedingte Hülle für die grundlegende Glaubenswahrheit. Damit im Zusammenhang standen und stehen Erklärungsversuche, die das Wunderhafte spiritualistisch bzw. symbolisch umdeuten. In diesen Kontext gehört auch die formgeschichtliche Analyse der Wundergeschichten, ausgelöst durch Rudolf Bultmann und Martin Dibelius, die diese als symbolische Veranschaulichungen der Gottheit Jesu interpretieren (vgl. z. B. die Wunderinterpretation Bultmanns in seiner Marburger Predigt über Lk 5,1-11: Bultmann 1956, 137-147).

2. Wundererzählungen predigen – zwischen Rationalisierung und Re-Historisierung Wer heute nun Wundererzählungen predigt, wird sich auf eine Gratwanderung einstellen müssen. Der Weg führt zwischen den verschiedenen Ansätzen einer offenen oder subtilen Rationalisierung (z. B. eine einseitige psychologische oder ethische Interpretation) einerseits und einer Re-Historisierung andererseits hindurch. Zunächst ist ernst zu nehmen, dass in den einschlägigen biblischen Erzählungen tatsächlich außerordentliche Machttaten im Mittelpunkt stehen. Damit ist ein Wirklichkeitsverständnis gegeben, das wir heute nicht mehr teilen. Es bleibt uns schwer zugänglich bzw. fremd. Wundererzählungen sind fremde Welten (vgl. Alkier/Dressler 1998, 164f.). Diese fremden Welten sind zu respektieren. Wir dürfen das Wirklichkeitsverständnis, das sich in den biblischen Wundererzählungen ausdrückt, nicht an unseren, durch die Aufklärung geprägten Bedingungen des Verstehens als den scheinbar besseren messen. Insofern sind alle Versuche, die Wunder offen oder subtil zu rationalisieren bzw. symbolisch zu interpretieren, kritisch zu sehen (vgl. Alkier 2001b, 2-15). Auch der Versuch, die Wunder Jesu oder der Apostel historisch zu deuten bzw. sie (fundamentalistisch) zu re-historisieren, führt in eine Sackgasse. Letztlich wird auf diese Weise der Gottesglaube so mit dem Glauben an die historische Faktizität von Wundern verbunden, dass Letzterer als eine Bedingung von Ersterem erscheint. Dies ist eine Kausalität, die schon im Neuen Testament energisch bestritten wird (durch Jesus selbst: Mt 4,1-11; Mt 12,38-42). Zum anderen sind die Bedingungen unseres Verstehens beim Predigen ebenso ernst zu nehmen wie das Selbstverständnis der biblischen Texte. Die Einsicht in die historisch-kulturelle Differenz, die zwischen uns und den biblischen Wundererzählungen besteht, und damit das Anliegen der Entmythologisierungstheorien bleiben für ein reflektiertes Verständnis der biblischen Wunder nach wie vor bedeutsam. Wundererzählungen provozieren. Sie stellen Fragen an die scheinbar ehernen Gesetze unseres Denkens und unserer Erfahrung. Das macht sie homiletisch interessant. Ihre Eigenart besteht darin, dass sie im Medium geschichtlicher und biographischer Er158

Über Wundererzählungen heute predigen

zählung »Anreize zur Hoffnung auf das sich nahende Reich Gottes wecken« wollen und »Protest gegen lieblose, verkrustete Zustände ausdrücken« (Köhnlein 2010, 12). Sie »regen auf und sie regen an« (Köhnlein 2010, 18) und tun das auf ihre Weise, indem sie konkrete Widerfahrnisse schildern. Daran ist im Gegensatz zu allen Symbolisierungstheorien festzuhalten. Diese Widerfahrnisse können wir jedoch historisch mit unseren Kategorien nicht einfach verifizieren. Deshalb sind sie weder als irrational noch als unwahr abzutun. »Sie wurden und werden offensichtlich erzählt, damit wir ein Gespür für das entwickeln, was jenseits unseres Ermessens liegt« (Grözinger 2009, 483). Sie sind Überschussgeschichten. Die Predigt über Wundererzählungen kann gegenwärtig mit einer neuen Offenheit unter den Zeitgenossen rechnen. In der Gegenwartskultur lassen sich vielfältige Phänomene wahrnehmen, die es nahelegen, von einer »zweiten Naivität« im Umgang mit Mythologien und einer neuen Sehnsucht nach dem Wunderbaren zu sprechen. Sie äußert sich vermutlich umso stärker, je weiter die Lebenswelt durch ökonomische Zwänge und technische Machbarkeit bestimmt ist und je stärker man die Grenzen wahrnimmt, die diese Denk- und Handlungsmuster bestimmen. Das Diktum Rudolf Bultmanns: »Für den Menschen von heute hat sich das mythologische Weltbild … erledigt« (Bultmann 1956, 145) erweist sich damit seinerseits als deutlich zeitbedingt. Ob jedoch diese Offenheit für außerordentliche, paranormale Erfahrungen das Verständnis der biblischen Wundererzählungen wirklich erleichtert, kann mit Recht gefragt werden. Auch hier liegt ja die Gefahr nahe, wiederum das in der eigenen Kultur Denk- und Vorstellbare zum Maßstab der Rezeption zu machen. Die Aufgabe der Predigt von Wundererzählungen wird es bleiben, die Hörer dazu zu motivieren, mit verschiedenen Welten umzugehen. Den Predigenden stellt sich die Aufgabe, diese verschiedenen Welten in ihrer Eigenart aufzunehmen, um sie dann aufeinander zu beziehen. Dabei geht es darum, den Wundererzählungen einen Geltungsbereich zuzuschreiben, ohne dabei Eindeutigkeiten zu versprechen, die kritischen Rückfragen nicht standhalten (vgl. Alkier 1996, 153-159). Im Lesen und Hören werden wir Teil der Erzählung und damit Teil eines Möglichkeitsraumes, in dem Gott sich zu erkennen gibt. Eine solche Predigt wäre ein Hinweis, zwar nicht an diese Erzählungen, aber mit und in ihnen zu glauben (vgl. Kreitzscheck 2004, 288). Sie sollte die Hörer(innen) in diese Geschichten verstricken, ohne ihre Fremdheit aufzulösen. So hält die Predigt unsere Welt- und Wirklichkeitsdeutung offen für Gott, der das Nichtseiende ruft, dass es sei. Dieses Bekenntnis des Glaubens, das der biblischen Verkündigung insgesamt zugrunde liegt, prägt auch die Wundererzählungen. Das Besondere dieser Erzählungen besteht darin, dass sie dieses Bekenntnis immer im Blick auf Situationen zur Sprache bringen, die nach menschlichem Ermessen von Aussichtslosigkeit geprägt sind. »Es soll dem Hörer verwehrt werden, weiterhin so zu leben, als wäre die Gebundenheit und Verfallenheit die letzte Wirklichkeit unseres Lebens« (Baldermann 1964, 96).

3. Wundererzählungen predigen – Um das Kommen des Reiches Gottes bitten Geschichten werden erzählt, damit sie wirken, was sie erzählen (vgl. bei Kreitzscheck 2004, 118-294, die Auseinandersetzung mit der Erzähltheorie Paul Ricœurs). Und so gilt 159

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auch für das Predigen von Wundererzählungen, was jenseits seiner Funktionalität für alles Erzählen gilt: Wir machen nicht nur etwas mit einer Erzählung, sondern eine Erzählung macht etwas mit uns. Diese Einsicht sollte sich jede Predigt über Wundergeschichten zu eigen machen, egal ob sie gänzlich narrativ oder stärker argumentativ angelegt ist. Und: Jede Wundergeschichte hat ihre eigene Gestalt, die in einen bestimmten Kontext eingefügt ist. Es gibt keine Predigt über die Wundererzählungen, sondern immer nur eine zu dem jeweiligen Text. Wer sich umsieht, wie gegenwärtig Wundererzählungen gepredigt werden, wird einer großen Bandbreite von sprachlichen Möglichkeiten und theologischen Entscheidungen begegnen. Dennoch lassen sich sowohl im Blick auf veröffentlichte Predigten als auch aus dem bisher Gesagten vier Kriterien benennen, die beim Predigen zu biblischen Wundererzählungen Berücksichtigung verdienen. Exemplarisch wurden für diesen Artikel vier aktuelle Predigten ausgewählt: Böhlemann, Peter (2003): Predigt zu Mk 7,31-37: http://www.predigten.uni-goettingen. de/archiv-5/030907-6.html/: (ohne Seitenzahlen), Zugriff: 24. 04. 2012 Brandes, Ekhard (2003): Predigt zu Joh 6, 1-15: http://www.predigten.de/autor.php3? wer=19 (ohne Seitenzahlen), Zugriff: 24. 04. 2012 Grözinger, Elisabeth (2009): Predigt zu Joh 6,1-15; Pastoralblätter 2009, 480-485 Schieder, Rolf (2009): Predigt zu Mk 7,31-37; http://www.berlinerdom.de/index.php? option=com_search, S. 1-5, Zugriff: 24. 04. 2012 1. Beim Predigen kommt es entscheidend darauf an, das Wunderbare als solches stehen und die andere Wirklichkeit und das fremde Selbstverständnis der Geschichten gelten zu lassen, dem Anstößigen nicht auszuweichen. Dass Wundergeschichten Ausdruck der Hoffnung auf das Reich Gottes sind (Schieder 2009, 2), ist darin theologisch zur Geltung zu bringen. So kommen in Predigten der Gegenwart die Wunder als »ein Vorschein, ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird« (Schieder 2009, 2), zur Sprache. Jesus erscheint in ihnen als der zentrale Bezugspunkt, z. B. als »wundersam begabter Gastgeber« (Grözinger 2009, 482) oder als der schlechthin »Dankbare« (Brandes 2003), durch den Gott das Wunderbare wirkt, das jedoch nicht so sehr die Grenzen der Naturwissenschaft, vielmehr die Grenzen unserer Erfahrung sprengt. Predigerinnen und Prediger warnen darum immer wieder davor zu spekulieren, inwieweit diese Geschichten historisch wahrscheinlich sind. Denn der Glaube basiert nicht auf dem Fürwahrhalten von Wundern, sondern ist ein personales Geschehen, in dem es um ein letztes Vertrauen geht (Böhlemann 2003). 2. Gleichzeitig ist beim Predigen dem Widerstand Rechnung zu tragen, den das Wirklichkeitsverständnis der Wundererzählungen weckt. Dieser Widerstand ist positiv aufzunehmen. Nicht durch Erklärungsversuche oder schnelle pädagogische oder ethische Nutzanwendungen, sondern als ernsthafte Provokation des Gottesglaubens. Wir müssen Gott in unseren Predigten nicht mit Hilfe von Wundererzählungen beweisen. Aber wir sollen ihn suchen. Es ist eine für die Predigt wichtige Erkenntnis, dass wir im Blick auf die Wunder, die Gott tut, immer die Bittenden bleiben (Schieder 2009, 3). Die biblischen Wunder160

Über Wundererzählungen heute predigen

erzählungen können so als Gestalten der zweiten Bitte des Vaterunsers: »Dein Reich komme« aufgefasst werden. Unsere Gegenwartskultur, vielleicht besser: unsere Gegenwartskulturen mit ihren Parallelwelten und dem Spiel mit paranormalen Phänomenen zeigen eine Sehnsucht nach Erlösung an. Vielleicht können Wundererzählungen, indem sie in der Sprache dieser Sehnsucht sprechen und gleichzeitig auf Gottes Handeln verweisen (Brandes 2003, Schieder 2009, 3), in diesem oft unverbindlichen Spiel der Möglichkeiten auch ein aufklärerisches Potential entfalten. 3. Die Machttaten Jesu und der Apostel sind in Erzählungen eingebettet. Predigende können sich diese Sprachform zunutze machen – alle vier Predigten enthalten erzählende Passagen – damit das »Mehr an Sein« (Jüngel 1986, 156) von den Hörenden entdeckt wird. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Sprache des Glaubens durch und durch metaphorisch ist, ist es wichtig, nach Metaphern zu suchen, die heutiger Wirklichkeit entsprechen. »Wenn es uns gelingt, zupackend zu glauben, dann ist das wunderbar …« (Schieder 2009, 4), heißt es z. B. in einer Predigt zu Mk 7,31-37. Jesus »spricht mit einem Taubstummen. Es ist die Sprache der Befreiung. Diese Sprache müssen wir von ihm lernen … Wir müssen sie hören und wir müssen sie sprechen, sonst bleiben wir gefangen« (Böhlemann 2003). Eine Wundererzählung (Joh 6,1-15) »kann uns die Augen dafür öffnen, … (dass) es bei Christus um mehr geht als um Brot, Fisch oder Macht« (Grözinger 2009, 484). Insofern sollte das Wunder nicht durch psychologische oder symbolische Deutung »erklärt« werden, sondern eine neue Dimension der Hoffnung (Schieder 2009, 4) oder auch des Protestes eröffnen. 4. Wundererzählungen als Überschussgeschichten beinhalten fast immer eine Ermutigung, sich nicht mit den aussichtslosen Verhältnissen abzufinden. Dies ist allerdings mit der Versuchung verbunden, auf dem Hintergrund der Wundererzählungen der Predigt eine ethische Zuspitzung zu geben. Diese Tendenz findet sich häufig in älteren Predigten (vgl. Klie 2004, 414). Aber auch in neueren Predigten lassen sich Ansätze ethischer Überhöhung entdecken. Wird das Handeln Jesu jedoch bruchlos auf unser Handeln übertragen, nivelliert man das Einzigartige der Taten Gottes. Die Predigt steht dann in der Gefahr, die Gemeinde zu überfordern, wenn auch wir solche Wunder tun könnten. Außerdem geraten entsprechende Passagen schnell zu belehrenden Ausführungen über das richtige Handeln in dieser Welt, die häufig Klischees bedienen. Wichtig bleibt, die Differenz zwischen dem Handeln Gottes und unserem Tun auszuhalten: »Können wir trotzdem etwas von Jesus aus dieser Wundergeschichte lernen? Können wir ihm nachfolgen, ohne selbst so zu tun, als seien wir der Messias?« (Schieder 2009, 4), wird darum zu Recht in einer Predigt gefragt. Die Spannung zwischen Gottes Wirken und unserem Tun wird gehalten, wenn die Predigenden versuchen, nicht einfach ethische Handlungsanweisungen zur Intention ihrer Predigt zu machen, sondern verantwortungsvolles Handeln durch ihre Predigt möglich werden zu lassen.

Wolf-Jürgen Grabner / Hanna Kasparick / Gabriele Metzner 161

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Literatur zum Weiterlesen H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen, Stuttgart 1998. L. Bormann, Zur Predigt neutestamentlicher Wundererzählungen, Pastoraltheologie 97 (2008), 11,3-13. B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten, Stuttgart 32011, 183-233. R. Lachmann, Wundergeschichten »richtig« verstehen? Bibeldidaktik zwischen historisch-kritischer Exegese, existentialer Interpretation und Rezeptionsästhetik, Bibeldidaktik in der Postmoderne (1999), 205-218. A. Lindemann, Wunder und Wirklichkeit. Anmerkungen zur gegenwärtigen exegetischen Diskussion über die neutestamentlichen Wundererzählungen, WuD 27 (2003), 179-200. W. Thiede, Gottes Reich steht nicht nur in Worten. Zur Schwierigkeit heutiger Predigt über Heilungswunder, PTh 98/5 (2009), 295-305.

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I. Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

Hinführung Es ist ein weitgehender sensus communis der exegetischen Wissenschaft, dass es unter den schriftlichen Zeugnissen des frühen Christentums eine so genannte Logienquelle gab, eine Sammlung von Worten Jesu, die nicht als eigenständiger Text erhalten geblieben ist, sondern die lediglich indirekt rekonstruiert werden kann. Diese Einschätzung basiert auf der im Zuge der Entwicklungsgeschichte der neutestamentlichen Wissenschaft ausgebildeten ›Zwei-Quellen-Theorie‹, der zufolge das Markusevangelium von den Verfassern des Matthäus- und des Lukasevangeliums als literarische Grundlage verwendet wurde und jeweils mit jener Sammlung von Jesus-Worten literarisch verbunden wurde. Doch obwohl bereits seit der Mitte des 19. Jh. die Existenz der Logienquelle in weiten Teilen der exegetischen Wissenschaft anerkannt wird (zur Skizze der verhältnismäßig seltenen, in jüngerer Zeit aber stärker werdenden Ablehnungen dieser Forschungshypothese vgl. u. a. Goodacre 2002; Kahl 2012, 20-46), wird nach wie vor kontrovers diskutiert, in welcher Weise dieselbe methodisch angemessen rekonstruiert bzw. religionsgeschichtlich verortet werden kann (zur Forschungsdiskussion vgl. Heil 2009, 11-30). Einfache Formen einer Rekonstruktion der Logienquelle gehen von der Prämisse aus, dass die Logienquelle im Wesentlichen jene Textbereiche umfasst, die im Matthäus- und Lukasevangelium literarisch nahezu identisch überliefert sind, obwohl sie im älteren Markusevangelium nicht vorliegen. Diese v. a. in der älteren Forschungsgeschichte zu beobachtenden Diskurse wurden durch den Fund der Nag-Hammadi-Kodizes auf eine neue Diskussionsbasis gestellt, in dessen Rahmen u. a. eine koptische Übersetzung des Thomasevangeliums gefunden wurde. Einerseits weist das wiederentdeckte Thomasevangelium gattungsgeschichtlich zuweilen markante Affinitäten zu den bereits vorliegenden Versuchen einer Rekonstruktion der Logienquelle auf, andererseits scheinen die durch das Thomasevangelium überlieferten Jesus-Traditionen zuweilen eine ursprünglichere bzw. theologisch weniger überarbeitete Gestalt zu besitzen. Aus diesem Grunde bildet das Thomasevangelium in allen jüngeren Entwürfen einer Rekonstruktion der Logienquelle eine zentrale Referenzgröße. Da jedoch die überlieferungs- und religionsgeschichtliche Verortung des Thomasevangeliums bereits für sich genommen überaus schwer zu bestimmen ist (Schröter1997, 83-85 bzw. 122-125), wurde das Spektrum unterschiedlicher Beurteilungen der Logienquelle noch facettenreicher. Eine crux interpretum, die für die Geschichte der Überlieferung von Wundern Jesu von besonderer Relevanz ist, tritt bei der Frage zu Tage, inwieweit es möglich ist, unterschiedliche Traditionsstadien der Logienquelle voneinander zu differenzieren. Diese Problematik impliziert die Frage, inwieweit das theologische Profil der Logienquelle sukzessive verändert wurde. In diesem Zusammenhang wurde verschiedentlich postuliert, dass Erzählungen von Wundern Jesu erst in einem relativ späten Redaktionsstadium in die Logienquelle integriert wurden. In ihren frühen Entwicklungsstadien würde die Logienquelle stattdessen Jesus v. a. als einen prophetisch-weisheitlichen Lehrer darstellen. Für diese v. a. im Kontext des ›International Q Project‹ verschiedentlich vertretene Einschätzung sei exemplarisch verwiesen auf Jacobson (1992, 112): »Q seems to have little interest in miracles«. In der Tat kann nicht in Abrede gestellt werden, dass in den vorhandenen Entwürfen einer Rekonstruktion der Logienquelle statistisch betrachtet wesentlich weniger Aussagen über bzw. Erzählungen von Heilungen und Exorzismen 165

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

Jesu vorliegen, als dies z. B. bei den synoptischen Evangelien der Fall ist. Es würde jedoch zu kurz greifen, aus diesem Phänomen zu folgern, dass die Logienquelle Erzählungen von Heilungen und Exorzismen keine Aufmerksamkeit widmet bzw. dass die wenigen Anspielungen überhaupt erst auf spätere literarische Ergänzungen zurückzuführen sind. Eine Ursache für das angesprochene Phänomen ist sicherlich die Gattung der Logienquelle, deren primäres Anliegen darin besteht, Worte, Diskussionen bzw. Streitgespräche Jesu zu überliefern. Dies entspricht formal betrachtet durchaus dem Thomasevangelium, das sich derartig auf Worte Jesu konzentriert, dass es nahezu keine Informationen darüber enthält, in welchen historischen und religionssoziologischen Kontexten Jesus wirkte. Im Gegensatz hierzu weist die Logienquelle durchaus Züge einer narrativen Einbettung der Worte und Taten Jesu auf, insofern z. B. das Wirken Jesu chronologisch und geographisch verortet wird und die religionssoziologischen Lebensumstände, in denen Jesus und seine Mitmenschen lebten, zur Geltung gebracht werden (grundlegend hierzu zuletzt Labahn 2010). Angesichts der Konzentration auf die Wort-Traditionen verwundert es gleichwohl nicht, dass diese historischen und narrativen Angaben bei weitem nicht so ausführlich gestaltet sind, wie dies bei den synoptischen Evangelien der Fall ist. Diesem Phänomen entspricht es, dass die Logienquelle offensichtlich bei ihren Lesern bzw. Hörern eine Kenntnis über eine Heilungstätigkeit Jesu schlicht voraussetzt und nicht eigens zu erläutern braucht. Dieser Sachverhalt lässt sich an nahezu allen Textpassagen der Logienquelle erkennen, in denen auf Jesu zugeschriebene Exorzismen bzw. Heilungen Bezug genommen wird (entsprechend Hüneburg 2001a, 9-11 bzw. 226-228). Wenn man den vorliegenden Entwürfen einer Rekonstruktion der Logienquelle Q folgt, so begegnet in der Kompositionsstruktur der Logienquelle der erste Text, in welchem auf Heilungen und Exorzismen Jesu Bezug genommen wird, in der so genannten Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum (Q 7,1-10). Dieser Tradition zufolge soll ein Zenturio, der zum Söldnerheer des Herodes Antipas gehört haben könnte, Jesus darum gebeten haben, einen seiner Angehörigen bzw. Leibeigenen zu heilen. Die primäre Aussageintention der unterschiedlichen Überlieferungsformen dieser Erzählung liegt einerseits darin, die Vollmacht Jesu zu illustrieren, der jenen Angehörigen per ›Fernheilung‹ allein aufgrund seines Wortes heilen konnte. Andererseits soll der vorbildliche Glaube eines Nichtjuden hervorgehoben werden, der Jesus mehr Vertrauen entgegenbringt als viele seiner jüdischen Zeitgenossen (vgl. die Erläuterung von Hüneburg zu Q 7,1.3.6b-9 in diesem Band). Für die vorliegende Fragestellung ist jedoch ein anderer Sachverhalt von Relevanz, der prima vista nicht zu erkennen ist. Wie bereits erwähnt, ist in den vorliegenden Versuchen einer Rekonstruktion der Logienquelle Q 7,1-10 der chronologisch erste Text, in welchem auf eine Heilungstätigkeit Jesu verwiesen wird. An diesem auf den ersten Blick unbedeutenden Aspekt kann ein methodisches Problem einer Rekonstruktion und historischen Einordnung der Logienquelle erläutert werden. Wenn man postuliert, dass die Logienquelle die älteste schriftliche Sammlung von Jesusworten war, so scheint dieselbe offensichtlich bei ihren Hörern und Lesern ein Wissen vorauszusetzen, welches aus der Sammlung selbst nicht erschlossen werden kann. Q 7,1-10 konstatiert, dass ein nicht-jüdischer Soldat gehobenen Ranges zu einem noch verhältnismäßig unbekannten jüdischen Wanderprediger kommt und diesem zutraut, seinen Angehörigen aufgrund seines vollmächtigen Wortes zu heilen. Die Logienquelle erörtert weder in diesem Kontext noch in vorhergehenden bzw. folgenden Textsequenzen, wie diese Erwartungshaltung über166

Hinführung

haupt entstehen konnte. Es wird weder erwähnt, dass Jesus Kranke heilte bzw. wie die Kunde von dieser Tätigkeit sich in Galiläa und im Umland verbreiten konnte. Beide Aspekte bilden aber eine sachliche Voraussetzung jener Begegnung zwischen dem Zenturio und Jesus, von der in Q 7,1-10 erzählt wird. Der skizzierte Sachverhalt führt konsequent zu einem weiteren Themenfeld, nämlich zu der Frage, inwiefern parallel zu den Sammlungen von Worten Jesu auch Sammlungen von Erzählungen von Heilungen und Exorzismen gestaltet wurden, die mündliche Überlieferungen aufnahmen und dann z. B. eine Basis der markinischen Wundererzählungen bilden konnten. Doch ohne auf dieses ebenfalls ausgesprochen kontrovers diskutierte Themenfeld im Folgenden weiter eingehen zu können, kann m. E. ein instruktiver Sachverhalt festgehalten haben. Die Kompositionsstruktur von Q 7,1-10 spricht nicht dafür, dass Erzählungen von Heilungen und Exorzismen für die Logienquelle theologisch irrelevant waren. Ihre Bedeutung ist vielmehr so grundlegend, dass sie nicht eigens erläutert werden muss. Wenn die Leser bzw. Hörer eines solchen Textes nicht bereits ein Vorwissen über eine entsprechende Tätigkeit Jesu gehabt hätten, hätte die Aussageintention von Q 7,1-10 nicht vermittelt werden können (zur theologischen Eigentümlichkeit von Q 7,1-10 im Kontrast zu den matthäischen und lukanischen Korrespondenztexten vgl. Hüneburg 2001a, 137-150, sowie die Kommentierungen dieses Textes und seiner synoptischen Parallelen in diesem Band). Die theologische Relevanz von Erzählungen über Wundertaten Jesu lässt sich auch an der so genannten Täuferanfrage (Q 7,18-23) erläutern, die in der Kompositionsstruktur der Logienquelle bezeichnenderweise im unmittelbaren Anschluss an die Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum angeordnet wurde. Dieser Tradition zufolge soll der inhaftierte Täufer durch seine Nachfolger über das Wirken Jesu Kenntnis bekommen haben. Aus diesem Grund sandte Johannes einige seiner Jünger zu Jesus, um ihn mit der Frage zu konfrontieren, ob er eine erwartete Heilsfigur ist (vgl. Q 7,19: »Bist du der Kommende oder sollen wir auf einen anderen warten?«). Für die vorliegende Fragestellung ist aufschlussreich, in welcher Weise Jesus auf die Frage reagiert haben soll. Die Antwort Jesu ist indirekt gestaltet, insofern er auf die von ihm vollbrachten Heilungen verweist (vgl. v. a. Q 7,22b: »Blinde sehen wieder, und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein, und Taube hören und Tote werden erweckt …«). Auch in der Logienquelle, die ja vermeintlich Jesu Heilungen und Exorzismen keine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, wird somit jene fundamentale Frage des Täufers mit einem Verweis auf die von Jesus vollbrachten Heilungen beantwortet. Diese Tradition lässt jedoch nicht nur die theologische Relevanz dieser Facette des Wirkens Jesu für das theologische Profil der Logienquelle erkennen, sie bringt vielmehr auch paradigmatisch zur Geltung, in welchem Verhältnis Erzählungen von Heilungen Jesu und theologische Deutungen der Person Jesu zueinander stehen können. Unstrittig ist, dass die bereits erwähnten Aspekte der Antwort Jesu eine Affinität zu unterschiedlichen eschatologischen Erwartungen aufweisen, die v. a. in jesajanischen Traditionsbildungen überliefert sind. Während sich zu den textgeschichtlich überlieferten Varianten von Jes 26,19LXX; 29,18LXX; 35,5f.LXX; 42,18LXX partiell wortwörtliche Entsprechungen erkennen lassen (s. die Tabelle in Zimmermann, Hinführung Lukas), so lassen sich zu Jes 42,7 und Jes 61,1 zumindest deutliche Allusionen beobachten (vgl. Stettler 2008, 173-200). Aus diesem Repertoire traditionsgeschichtlicher Bezugspunkte sollen im Folgenden zwei Aspekte genauer betrachtet werden, die in das Herz eines der faszinierendsten und zugleich kompliziertesten Phänomene frühchrist167

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

licher Traditionsbildungsprozesse hineinführen, nämlich in die sukzessive Ausgestaltung christologischer Deutungen der Person und des Wirkens Jesu. Im Zuge christologischer Reflexionsprozesse wurden unterschiedliche Facetten frühjüdischer Vorstellungen adaptiert bzw. miteinander in Beziehung gesetzt. An dem Q 7,22 zugrunde liegenden Verweis auf Jes 61,1 kann paradigmatisch erläutert werden, was von Gerd Theißen und Annette Merz mit der Unterscheidung von expliziter, implizierter und evozierter Christologie umschrieben wurde (Theißen/Merz 2011, 455). Die in Q 7,22 zufolge von Jesus formulierte Antwort auf die Frage des Täufers kann Assoziationen zu Jes 61,1 evozieren. Dieser Referenztext impliziert wiederum nicht nur ein vergleichbares Repertoire von Heilungen, die Menschen in einer erwarteten Heilszeit zuteilwerden, sondern auch Aussagen, mit welcher kommenden Gestalt diese Erwartung verbunden ist. Es handelt sich um eine Heilsgestalt, auf welcher der Geist Gottes ruht, die von Gott gesalbt ist und die Armen eine frohe Botschaft verkündet (vgl. Jes 61,1LXX: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat; um frohe Botschaft den Armen zu bringen, hat er mich abgesandt, um die zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind [§€sasqai to±@ suntetrimmffnou@ t» kardffl a iasasthai tous suntetpimmenous te¯ kardia], um den Gefangenen Freilassung zu verkündigen und den Blinden neue Sehkraft [ka½ tuflo…@ ⁄n€bleyin kai typhlois anablepsin]). Die intertextuellen Affinitäten können bei Lesern bzw. Hörern, die die Bezüge zwischen Q 7,22 und Jes 61 erkennen, eine theologische Deutung der Gestalt evozieren, der zufolge in den Heilungen und Exorzismen Jesu sich jene Heilstaten erfüllen, die mit der in Jes 61,1 prophezeiten Heilsgestalt verbunden werden. Diese bereits auf der Ebene der Logienquelle erkennbaren Deutungspotenziale werden in den jüngeren Entwicklungsstadien der synoptischen Evangelientraditionen in extenso ausgearbeitet. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in den lukanischen Erzählungen von den Anfängen der Tätigkeit Jesu, denen zufolge Jesus während eines Aufenthaltes in Kafarnaum in einem Synagogen-Gottesdienst Jes 61,1f. vorgelesen und auf sich selbst bezogen haben soll (Lk 4,18). Auch wenn im Gegensatz zu Lk 4,18 Jes 61,1 im Matthäusevangelium nicht explizit zitiert wird, kann man verschiedene Aspekte dieses Werkes als eine literarische Illustration von Jes 61,1 verstehen. Dies gilt besonders für die Einleitung der Bergpredigt und v. a. die Affinität der ersten und zweiten matthäischen Seligpreisung zu Jes 61,1f. Der matthäische Jesus handelt und verkündigt so, wie man es von der in Jes 61,1 verheißenen eschatologischen Gestalt erwarten könnte. In dieser Hinsicht kann man resümieren, dass die in Q 7,22 vorliegende Allusion zu Jes 61,1 als ein frühes Beispiel dafür verstanden werden kann, in welcher Weise Erzählungen von Heilungen und Exorzismen Jesu und Ansätze theologischer Deutungen seiner Person miteinander zusammenhängen konnten. Neben Jes 61,1 kann auf eine zweite mögliche Motivassoziation verwiesen werden, die noch näher an die spezifisch christlichen Neudeutungen frühjüdischer Messias-Erwartungen heranführt. Zur Zeit Jesu gab es keine klar umrissene Vorstellung einer Messias-Erwartung, sondern ein breites Spektrum unterschiedlicher Messias-Terminologien. Ebenso konnten messianische Erwartungen und messianische Begriffe, die in früheren Entwicklungsstadien entsprechender Vorstellungshorizonte oft noch separat voneinander verwendet wurden, in unterschiedlichster Weise verbunden und reformuliert werden (zum facettenreichen Spektrum entsprechender Erwartungen vgl. Theißen/Merz 2011, 465f.). Ein Proprium frühchristlicher Ausgestaltungen traditioneller Messiaserwartungen liegt zweifelsohne in der Zusammenführung messianischer Begriffe bzw. Motivfelder und den deutero- und tritojesajanischen Gottesknechtsliedern (paradigmatisch verwie168

Hinführung

sen sei auf die bereits von Paulus referierte Traditionsformel in 1Kor 15,3b: Crist@ ⁄pffqanen ¢pþr tn martin mn katÞ tÞ@ graf€@ Christos apethanen hyper to¯n hamartio¯n he¯mo¯n kata tas graphas). Diese Formel komprimiert in eindrücklicher Weise eine Neudeutung traditioneller Messiaserwartungen, die nur vor dem Hintergrund der Gottesknechtslieder verstanden werden kann, insbesondere des vierten Gottesknechtslieds (Jes 53,5f.8f.12). Für die vorliegende Fragestellung ist dabei von Relevanz, dass die jesajanischen Gottesknecht-Traditionen auch einen indirekten Bezug zur Wundertätigkeit Jesu implizieren bzw. entsprechende Assoziationen evozieren konnten. Bereits im Kontext des ersten Gottesknechtslieds wird in der literarischen Gestalt einer Gottesrede der Gottesknecht als derjenige gekennzeichnet, der den nichtjüdischen Völkern das Recht bzw. den Rechtspruch Gottes bringen soll und in dieser Funktion zum ›Licht der Völker‹ avanciert. Im unmittelbaren Kontext dieser Prädikationen wird jedoch auch eine Metaphorik verwendet, die im weiteren Sinne eine Assoziation zu den Jesus zugeschriebenen Blindenheilungen ermöglichen kann, nämlich die in Jes 42,7a dokumentierte Erwartung, dass der Gottesknecht die Augen der Blinden öffnen wird. Auch wenn die jesajanische Aussage in ihrem ursprünglichen Kontext primär eine Metapher für eine Gotteserkenntnis umschreiben soll, eignet sie sich dazu, eine Verbindung zu Hoffnungen einer messianischen Heilszeit herzustellen. Und dass eine solche Affinität zwischen den Gottesknechtsliedern und der Wundertätigkeit Jesu nicht nur in Q 7,22 impliziert erahnbar ist, sondern von frühchristlichen Theologen in dieser Weise gedeutet wurde, lässt sich z. B. an der matthäischen Deutung der Heilungstätigkeit Jesu erkennen, in welcher dieselbe explizit als ein Geschehen bezeichnet wird, das in den Gottesknechtsliedern prophezeit wurde (vgl. die Rezeption von Jes 53,4 in Mt 8,17). Auch dieser Sachverhalt kann somit als ein Beispiel einer evozierten Christologie verstanden werden, dessen Wurzel bereits in jener durch die Logienquelle tradierten Antwort erkennbar ist, mit der Jesus jene Frage des Täufers beantwortet haben soll. Auch dieser Aspekt lässt erkennen, welch zentrale Bedeutung Erzählungen von Heilungen und Exorzismen Jesu für frühchristliche Identitätsbildungsprozesse haben konnten. Eine weitere Tradition, an der die Bedeutung von Erzählungen von Heilungen Jesu für die Logienquelle erkennbar ist, liegt dem Textstück Q 11,14-20 zugrunde, welches zu den sowohl in der Logienquelle als auch im Markusevangelium tradierten Doppelüberlieferungen zu zählen ist. Dieser Text tradiert das für die Frage der Historizität der Heilungen und Exorzismen Jesu aufschlussreiche Detail, dass offensichtlich auch die Gegner Jesu eingestanden haben, dass Jesus Taten vollbrachte, die den Rahmen zeitgenössischer Erwartungshorizonte sprengten. Aus diesem Grund waren sie dazu genötigt, eine Erklärung für die Taten Jesu zu finden, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber Jesus vereinbar ist. Q 11,14 f. zufolge postulieren die Kontrahenten Jesu, dass Jesus nur aufgrund einer dämonischen Besessenheit selbst Dämonen austreiben konnte. Dass ein so massiver Vorwurf erst von Anhängern Jesu formuliert wurde, ist historisch kaum plausibel. Plausibler ist es, dass in der Tat über einen solchen Sachverhalt zwischen Jesus und seinen Kontrahenten im zeitgenössischen Judentum ein Konflikt entstand. Dabei gilt es ferner zu beachten, dass im Zusammenhang dieser Kontroverse ein Jesus-Logion begegnet, das nach einem ebenfalls verhältnismäßig großen Konsens im Kern auf Jesus selbst zurückzuführen ist, nämlich das Logion, demzufolge Jesus für sich in Anspruch nimmt, ›mit dem Finger Gottes‹ Dämonen auszutreiben. Auch wenn das Motiv des Fingers Gottes in alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen vorgezeichnet ist (Ex 8,15; 31,18; Dtn 9,10), 169

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

entspricht es nicht den gängigen Bildfeldtraditionen, die diesbezüglich zumeist von der Hand bzw. im Plural von den Fingern Gottes sprechen. Nicht von ungefähr nimmt ein jüdischem Denken so nahestehender Theologe wie der Verfasser des Matthäusevangeliums eine Modifikation dieses stark anthropomorph geprägten Motivs vor, indem er stattdessen von einer durch den Geist Gottes gewirkten Dämonenaustreibung spricht (Mt 12,28). Für die vorliegende Fragestellung ist jedoch von Bedeutung, dass die Fassung der Logienquelle ein sehr frühes Stadium dieser Tradition überliefert und wiederum fast wie selbstverständlich eine Wundertätigkeit Jesu voraussetzt, ohne dieselbe spezieller zu erläutern. Auch hier zeigt sich somit, dass in der Logienquelle die theologische Bedeutung der Erzählungen von Heilungen und Exorzismen Jesu schlicht vorausgesetzt wird (gleiches gilt z. B. für die in Q 10,13-15 vorliegenden Weherufe über Chorazin und Betsaida, die von den zuvor vollbrachten Wundertaten Jesu sprechen; zur Skizze weiterer indirekter Hinweise auf Wundertaten Jesu vgl. die Aufstellung bei Dormeyer 2012). Und was in Ansätzen bereits an den Traditionen der Logienquelle erkennbar bzw. sachlich notwendig vorausgesetzt wird, wird schließlich bei den synoptischen Evangelien mit unterschiedlichen Akzentsetzungen narrativ entfaltet und theologisch gedeutet (zu entsprechenden Kommentierungen von Q 7,1-10 bzw. Q 11,14-26 und deren Interpretationen in Mt 8,5-10.13b; Lk 7,1-10; Joh 4,46-54 bzw. Mt 9,32-34; 12,22-25; Lk 11,14-26 vgl. die entsprechenden Auslegungen in diesem Band).

Enno Edzard Popkes Literatur zum Weiterlesen M. J. Borg/T. Moore (Hg.), The Lost Gospel Q: The Original Saying of Jesus, Berkeley 1996. M. Casey, An Aramaic Approach to Q: Sources for the Gospels of Matthew and Luke, Cambridge 2002. D. Dormeyer, Narrativität und Theologie der Wunder in Q, in: C. Heil (Hg.), Built on Rock or Sand? Q Studies: Retrospects, Introspects, and Prospects, Leuven 2013 (im Erscheinen). Ders., Der Hauptmann von Kafarnaum (Q 7,1.3.6b-9?10?). Narrative Strategie mit Chrie, Wundergeschichte und Gleichnis, in: D. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor and Narrative in Q, WUNT, Tübingen 2013 (im Erscheinen). H. T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary, Leuven 2005. A. v. Harnack, Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907. M. Hüneburg, Jesus als Wundertäter in der Logienquelle: Ein Beitrag zur Christologie von Q, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 4, Leipzig 2001. Ders., Matthäus und Lukas als Erben der Wunderüberlieferung von Q, Leqach 1 (2001), 137-150. F. Neirynck (Hg.), Q-synopsis: The Double Tradition Passages in Greek, Studiorum Novi Testamenti Auxilia 13, 2. erweiterte Auflage, Leuven 1995. J. M. Robinson, LOGOI SOPHON: Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: ders./H. Köster, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 67-106. Ders./P. Hoffmann/J. S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospel of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German and French Translations of Q and Thomas, Leuven/Minneapolis 2000.

170

Wunder in der Logienquelle Nr.

Q-Faden

Titel

Parallelstellen

1

7,1-3.6b-9

Heilung per Befehl (Der Hauptmann von Kafarnaum)

Mt 8,5-13; Lk 7,1-10; Joh 4,46-54

7,22

Summarium

10,13-15 11,14 f.1722.24-26

Summarium Der umstrittene Exorzist Mk 3,20 f.22-30; (Jesu Macht über die bösen Geister) Mt 12,22-30; Lk 11,14-23

2

davon kommentiert im Kompendium Q 7,1-3.6b-9; Mt 8,5-13; Lk 7,1-10; Joh 4,46-54 Hinführung Q Hinführung Lukas Hinführung Q Q 11,14 f.17-22. 24-26; Lk 11,14-23

171

Heilung per Befehl (Der Hauptmann von Kafarnaum) Q 7,1.3.6b-9 (1) Und es geschah, als er diese Worte beendet hatte, ging er hinein nach Kafarnaum. (3) Ein Zenturio kam zu ihm, bat ihn und sprach: »Mein Knecht ist krank und leidet große Qualen.« Und er sprach zu ihm: »Soll ich (etwa) kommen und ihn heilen?« (6bc) Und der Zenturio antwortete und sprach: »Herr, ich bin nicht würdig, dass du unter mein Dach kommst, (7) gebiete mit einem Wort und lass meinen Knecht gesund werden. (8) Denn auch ich bin ein Mensch unter einer Macht und habe unter mir Soldaten. Und ich sage diesem: ›Geh‹, und er geht, und einem anderen: ›Komm‹, und er kommt, und meinem Sklaven: ›Tu dies‹, und er tut es.« (9) Als aber Jesus dies hörte, staunte er und sagte zu denen, die ihm nachfolgten: »Ich sage euch, in Israel habe ich solchen Glauben nicht gefunden.« (Unsicher ist, ob die Geschichte mit einer Bemerkung zur Heilung des Knechtes schloss.) Anmerkung zur Textrekonstruktion: Matthäus und Lukas stimmen hier am stärksten in den Redeteilen überein. Bei den narrativen Elementen weisen sie dagegen z. T. erhebliche Abweichungen auf. Das bedeutet aber nicht, dass Q nur die Wortüberlieferung enthalten hätte. Die unterschiedlichen Fassungen lassen sich vielmehr auf die Arbeit der Evangelisten zurückführen, die damit diese Geschichte in ihre Konzeption einbauen. Die Textrekonstruktion ist deshalb aber in unterschiedlichem Maße gesichert (Materialsammlung bei Johnson/Robinson 2002).

Sprachlich-narratologische Analyse Die Heilungserzählung folgt sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas auf die so genannte Programmatische Rede (die Grundform von Bergpredigt und Feldrede Q 6,20b–49). Matthäus schiebt lediglich die aus Mk 1,40-45 stammende Heilung eines Leprakranken ein. Die einleitende Bemerkung, dass Jesus seine Rede beendete und nach Kafarnaum hineingeht, schafft einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Rede und Heilungsgeschehen. Die betonte Herausstellung der Macht des Wortes Jesu stellt eine Beziehung her zu dem die Rede abschließenden Gleichnis vom Hausbau mit seinem Aufruf zum Vertrauen auf das Wort Jesu (Q 6,47-49). Dagegen ist zwar geltend gemacht worden, dass lgoi (logoi – Wörter/Rede) und lgo@ (logos – Wort) jeweils in völlig differierendem Sinn verwendet werden, insofern einmal Weisungen für die Nachfolge und einmal das vollmächtige Heilungswort gemeint seien (Haapa 1983, 73). Ein solcher Einwand übersieht aber, dass der Text nicht frei formuliert wurde, sondern aus einer Kombination von Traditionsgut besteht. Für diesen Zusammenhang spricht weiterhin die Anrede Jesu mit kÐrie (kyrie – Herr) durch den Zenturio, die zwar für sich genommen respektvolle Anrede im Alltag sein kann (Kloppenborg 1987, 117 A. 73), ihn im vorliegenden Kontext 173

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

aber zum Antitypos des in Q 6,46 abgewehrten folgenlosen Herr-Herr-Sagens macht. Das Wort des Zenturio, er sei nicht würdig, erinnert weiterhin an die gleichlautende Aussage Johannes’ des Täufers Q 3,16 am Anfang der Logienquelle. Zur nachfolgenden Täuferfrage: Bist du der Kommende?, die von Jesus mit dem Hinweis auf das Geschehen von Heilungen, Totenerweckung und Verkündigung an die Armen beantwortet wird (Q 7,18-23), ergibt sich eine Beziehung über die Wunderthematik. Die Einleitung verbindet weiterhin die Begebenheit in einer für Q singulären Weise mit einem konkreten Ort. Kafarnaum ist in der synoptischen Tradition so stark mit dem Wirken Jesu verbunden, dass dieser Ort in Mt 9,1 als »seine Stadt« bezeichnet werden kann. In Q scheinen die geographischen Angaben auf konzentrische Kreise um den Mittelpunkt Kafarnaum zu deuten (Reed 1995, 21). Der Name selbst begegnet dem Leser noch ein weiteres Mal – auch hier im Zusammenhang der Wunderthematik. In 10,15 wird ihm, wie auch schon vorher Chorazin und Betsaida, das Gericht angekündigt, weil sie nicht auf die in ihnen geschehenen Machttaten (dun€mei@ dynameis) Jesu reagierten. Die zahlreichen Bezüge deuten darauf hin dass hier ein bewusst gestalteter Zusammenhang vorliegt, in den diese Perikope eingebaut wurde. Dann aber ist zu vermuten, dass die Wunderthematik – obwohl lediglich zwei Geschichten erzählt werden – auch für das von Q entworfene Bild Jesu von Bedeutung ist. Zur Besonderheit von Q 7,1-10 gehören die Dominanz der Rede und das mögliche Fehlen einer Aussage zur erfolgten Heilung. Dieser Befund erklärt sich nur z. T. aus der Situation einer Fernheilung, bei der etwa die Lage von Hilfsbedürftigen auf der Ebene der erzählten Welt als Bericht im Munde eines Stellvertreters begegnet. Das mögliche Fehlen einer Bemerkung zum Vollzug der Heilung und die umfangreiche letzte Äußerung des Zenturio mit der darauf folgenden Reaktion Jesu scheinen vielmehr das Thema Wunder ganz aufzugeben und einen Schwenk zur Frage Glaube und Israel zu vollziehen. Deswegen hatte Bultmann (1995, 39) der Perikope den Charakter einer Wundergeschichte abgesprochen und sie im Anhang bei den biographischen Apophthegmata behandelt. In dieser Sicht sind ihm zahlreiche Exegeten gefolgt. So spricht Fleddermann in seinem Kommentar zu Q (Fleddermann 2005, 348) von »a double dialogue with a brief narrative introduction«. Jedoch haben die Dialogelemente ihren Ort im Zusammenhang eines fortschreitenden Geschehens. Insofern weist der Text eine narrative Grundstruktur auf, die durch eine Verknüpfung von Motiven entsteht, wie sie für Wundergeschichten kennzeichnend ist (vgl. dazu Theißen 1974, 57-83). Allerdings ist zuzugestehen, dass hier die virtuelle Gattungsstruktur in einer Weise aktualisiert wird, die einige Besonderheiten enthält. Die Erzählung zerfällt durch die wechselnde Personenkonstellation in zwei deutlich unterschiedene Sequenzen. In der ersten Sequenz stehen sich der Wundertäter Jesus und der Zenturio als Vertreter des Hilfsbedürftigen gegenüber. Das Geschehen konzentriert sich ganz auf diese beiden Personen. Der Hilfsbedürftige ist zwar einmal grammatisches Subjekt, spielt aber als Handlungsträger keine Rolle. Nicht einmal die genaue Art seines Leidens wird erwähnt. Betont wird lediglich dessen Schwere. Ebenso bleibt unklar, in welcher Beziehung er zum Zenturio steht. Die Bezeichnung pa…@ (païs) kann sowohl für Sohn als auch für Knecht/Bursche/ Sklave stehen. Eine Begründung für das Engagement des Zenturio ließe sich sowohl aus einer familiären Beziehung als auch aus dem Wert, den ein Sklave darstellt, erklären. 174

Heilung per Befehl Q 7,1.3.6b-9

Abwegig ist dagegen die von Th. Jennings und T.-S. S. Liew (Jennings/Liew 2004) geäußerte Vermutung, es handle sich um ein homoerotisches Verhältnis. Die Verwendung von pa…@ (païs) auch in solchen Zusammenhängen besagt angesichts seines breiten semantischen Feldes nichts. Ebenso wenig trägt der Hinweis auf das erst von Septimius Severus aufgehobene Heiratsverbot für römische Soldaten. Erbrechtliche und andere Regelungen für Soldatenkinder (origo ex castris) zeigen, dass offizielle Doktrin und Praxis hier durchaus auseinanderfallen. Außerdem ist nicht klar, ob es sich überhaupt um einen Offizier im aktiven Dienst handelt. Auch die in der lukanischen Rezeption eingefügte jüdische Gesandtschaft mit ihrer positiven Beurteilung des Zenturio steht diesem Gedanken entgegen. Eine Heilungsbitte ergibt sich nur implizit aus der Erwähnung der Notlage. Die Reaktion Jesu lässt sich sowohl als positive Aufnahme: »ich werde also kommen und ihn heilen«, wie auch als abweisende Frage: »Soll ich etwa kommen … ?« verstehen. Das syntaktisch nicht erforderliche und deshalb besonders hervorgehobene ¥gð (ego¯ – ich) wie auch das weitere Agieren des Zenturio sprechen eher für die letztere Variante (anders Catchpole 1992, 525-527). Worin könnte der Grund für eine solche Zurückweisung liegen? Bereits die Vorstellung des Hilfesuchenden allein mit seinem militärischen Dienstgrad dürfte im Hörer die Vorstellung von einem Heiden evoziert haben. Der Begriff Zenturio ist zwar ethnisch neutral (Catchpole 1992, 527), aber auch wenn man annimmt, dass es sich nicht um einen römischen, sondern einen herodianischen Offizier handelt, ergibt sich diese Assoziation. Die Armee Herodes’ des Großen rekrutierte sich zwar durchaus auch aus der jüdischen Bevölkerung. Unter den nachfolgenden Herodianern ging deren Anteil jedoch stark zurück. Als Führungspersonal begegnen nur Angehörige des Herodesclans oder Nichtjuden (vgl. Shatzman 1991 und Rocca 2008, 133-196). Auch Josephus erwähnt für die Zeit zwischen Makkabäeraufstand und dem 1. Jüdischen Krieg keine jüdischen Zenturionen (Burchard 1993, 279). Damit wird das für die zweite Sequenz wichtige Motiv des Gegenübers zu Israel vorbereitet. Es gewinnt hier seine Bedeutung als Grund für die Ablehnung Jesu. Allerdings wird dieser weniger in den Reinheitsvorschriften zu sehen sein, die es einem Juden verbieten, das Haus eines Heiden zu betreten (vgl. Apg 10,28; Joh 18,28; VitProph 10,4; bShab 17b; mOh 18,7; bPes 9a), da sie auch in Q eher einer kritischen Beurteilung unterliegen (vgl. Q 11,39), als vielmehr in der Sendung Jesu zu Israel (vgl. Q 13,34 f.; 22,28.30). Mit der Betonung seiner Unwürdigkeit (o'k e§m½ kan@ ouk eimi hikanos – ich bin nicht würdig) scheint der Zurückgewiesene die Reaktion Jesu zunächst zu akzeptieren. Im Licht der bisherigen Überlegung gilt sie aber nicht der persönlichen Inferiorität des Bittenden gegenüber dem Wundertäter, sondern beinhaltet die Anerkennung einer Vorrangstellung Israels. Trotzdem tritt er nicht den Rückzug an, sondern äußert jetzt seine Bitte explizit und artikuliert außerdem, auf welche Weise er sich Hilfe erhofft: Jesus soll nur ein Wort sprechen. Der Dativ lg†w (logo¯ – Wort) ist instrumental zu verstehen. Es wirkt, wie der folgende begründende Vergleich aus der militärischen Lebenswelt des Bittstellers deutlich macht, wie ein Befehl. Der Vergleich geht jedoch über diese Aussage noch hinaus. Der Zenturio kann seine Befehlsgewalt ausüben, weil er eine bestimmte Stellung innerhalb des militärischen Gefüges einnimmt. Das mit ka½ gÞr ¥gð (kai gar ego¯ – denn auch ich) ausgedrückte Entsprechungsverhältnis sagt dann etwas über die Herkunft der Vollmacht Jesu aus. Sie resultiert aus seiner Zugehörigkeit zu Gott. Gegen 175

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

diese Deutung wird allerdings eingewandt (so auch noch Hüneburg 2001a, 132), dass der Gedanke einer Übertragung der ¥xousffla (exousia – Vollmacht) Gottes auf Menschen zwar gut bezeugt ist, jedoch nicht mittels der Präposition ¢p (hypo – unter). Auch gibt es keine weiteren Belege für ein ¢p ¥xousfflan e nai (hypo exousian einai – unter Vollmacht sein) Jesu. Außerdem scheint die Aussage über die Unwürdigkeit eher auf eine Kontrastierung beider Personen zu zielen als auf eine solche Analogie. Alternativ vorgeschlagen wird deshalb, beide Teile als parallele Aussagen über die Macht des Befehls zu verstehen. Die Aussage wäre dann zu paraphrasieren: »Denn auch ich stehe unter der Macht meiner Vorgesetzten und muss deren Befehlen gehorchen, wie auch meine Untergebenen meinen Befehlen gehorchen«. Oder es sei ein Schluss a minori ad maius anzunehmen und zu lesen: »Wenn schon ich, obwohl unter Befehlsgewalt stehend, solche Macht habe, wieviel mehr dann du«. Solche Vorschläge müssen jedoch entweder Änderungen der Periodisierung bei der Übersetzung aus dem Aramäischen oder andere syntaktischen Beziehungen im Satz annehmen (zur Diskussion vgl. Wegner 1985, 83-85; Catchpole 1992 und Burchard 1993, 281-283). Insofern bleibt die Annahme, der Zenturio führe die Macht des Wortes Jesu auf seine Unterstellung unter die ¥xousffla (exousia) Gottes zurück, vorzuziehen. Dass es sich in dieser Form um eine singuläre Aussage handelt, kann kaum als Gegenargument dienen. Auch zielt, wie oben gezeigt, das Eingeständnis der Unwürdigkeit nicht auf eine Kontrastierung der beiden Personen. Das nun erbetene Wort ist von einigen Exegeten (Schulz 1972, 243.245; Twelftree 1993, 145 f.; Piper 2001, 322 f.) als Austreibungsbefehl (Apopompe) interpretiert worden. Bei der Geschichte handele es sich demnach um einen Exorzismus, der die Auseinandersetzung Jesu mit Dämonen – bzw. von Q 11,17 f. her gelesen – mit dem Satan zeigt. In der Exposition war jedoch keine Rede von dämonischer Besessenheit. Auch der Vergleich mit dem Befehlswort zwingt nicht dazu, einen personalen Adressaten als Befehlsempfänger anzunehmen. Das Wort steht hier vielmehr stellvertretend für die persönliche Anwesenheit und zielt allein auf ein Bekenntnis zu dessen Vollmacht. Die Zurückweisung wird so zum retardierenden Moment, durch das erzähltechnisch das Vertrauen des Bittstellers hervorgehoben wird. Die erste Sequenz entspricht damit in allen Zügen der üblichen Topik einer Wundergeschichte. An die Vertrauensäußerung knüpft die zweite Sequenz an, in der sich Jesus nun an die bisher noch nicht erwähnten Nachfolger wendet. Der Q-Zusammenhang legt es nahe, dabei an die Hörer der voranstehenden Rede zu denken. Sie erscheinen somit auch als Zeugen des vorangegangenen Dialoges. Nicht mehr der Zenturio, sondern sie sind jetzt das Gegenüber Jesu, ohne allerdings selbst aktiv zu werden. Staunen – sonst die Reaktion der Zeugen über das Wunder – ist hier die Reaktion Jesu auf das Verhalten des Zenturio. Dessen Auftreten wird als Glauben charakterisiert und der Haltung Israels gegenübergestellt. Die Verwendung des Aorists eron (heuron – finden) scheint über die Szene selbst hinauszuweisen auf die textexterne Situation der Tradenten von Q und auf deren Erfahrungen der Ablehnung zurückzublicken (vgl. das Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31-35). Die Gegenüberstellung erhält so einen israelkritischen Akzent. Diese auffällige Abweichung vom Gattungsmuster und die Einleitung mit »Ich sage euch« (lffgw ¢m…n lego¯ hymin) sprechen dafür, dass die Erzählung damit ihren Zielpunkt erreicht hat. Das führt zu der Frage, worin die besondere Qualität dieses Glaubens (tosaÐthn pfflstin tosaute¯n pistin) besteht, die ihn zum Vorbild werden lässt. Der Israelbezug des absolut gebrauchten Nomens pfflsti@ (pistis – Glauben) verweist zunächst da176

Heilung per Befehl Q 7,1.3.6b-9

rauf, dass es um das Vertrauen auf den Gott Israels geht. Die intendierte Differenz ergibt sich aus dem Erzählzusammenhang. Wenn die auf Jesus gerichtete Erwartung von Hilfe in einer nach menschlichen Maßstäben aussichtslosen Lage als Ausdruck solchen Glaubens bezeichnet wird, ist dieser in einer doppelten Weise bestimmt. Er besteht in der Einsicht, dass der Gott Israels in der Person Jesu heilvoll handelt, und auf menschlicher Seite einer dieser Einsicht antwortenden Haltung radikalen Vertrauens. Die Erzählung selbst lässt mit ihrer Fokussierung auf die Vollmacht des Wortes eine Charakterisierung dieser Erwartung als bloßen Wunderglauben nicht zu. Nur in dem umfassenden Verständnis von christologischer Erkenntnis und existentieller Neuausrichtung kann der Glaube des Zenturio zum Vorbild für die von Jesus angesprochenen Nachfolger – und damit die Leser von Q – werden. Der Zenturio wird zum Exponenten eines Glaubens außerhalb Israels. Eine bewusste Hinwendung zur Heidenmission ist, wie die negative Konnotierung der Heiden in Q 6,34 und 12,30 f. belegt, damit wohl nicht intendiert (anders: Horn 1991). Die Erzählperspektive ist innerjüdisch. Allerdings ist damit, auch wenn die Opposition textpragmatisch auf eine Kritik an Israel zielt, der Ansatz für eine darüber hinausgehende Entwicklung gegeben.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählung ist verbunden mit dem Ortsnamen Kafarnaum (Tell Hum). Damit ist sie am Nordwestufer des Sees Gennesaret, ca. 5 km vom Jordan entfernt, lokalisiert. Kafarnaum ist Zentrum der Wirksamkeit Jesu in Galiläa und neben Jerusalem der am häufigsten genannte Ort in den synoptischen Evangelien. Es handelte sich im 1. Jh. um ein größeres Dorf. Die Angaben zur Einwohnerzahl schwanken zwischen 600 und 1500. Wirtschaftlicher Schwerpunkt war neben der Landwirtschaft v. a. die Fischerei. Glasund Keramikfunde belegen Handelsbeziehungen und damit Einflüsse von außen. Das aus den Ausgrabungen gewonnene Bild weist auf eine sozial wenig differenzierte Bevölkerungsstruktur. Mit der Aufteilung des Reiches nach dem Tod Herodes’ des Großen 4 v. Chr. fällt Kafarnaum an Antipas. Da die Grenze zwischen den Tetrarchien des Antipas und des Philippus entlang des Jordan verläuft, wird Kafarnaum zum Grenzort. Mt 9,9 erwähnt ein telðnion (telo¯nion), eine Zollstation. Aus der Existenz einer solchen Zollstation und dem Auftreten des Zenturio wird häufig auf eine zugehörige Militärstation geschlossen. Das ist möglich, aber nicht zwingend, denn denkbar wären auch andere Gründe für die Anwesenheit eines Zenturio wie die Ausübung von Verwaltungsaufgaben, Landzuteilung an einen entlassenen Soldaten oder ein nur zeitweiliger Aufenthalt. Archäologisch nachgewiesen sind bisher weder ein Garnisons- noch Verwaltungsgebäude aus dieser Zeit. Bei dem Zenturio muss es sich im Rahmen der erzählten Welt um einen Soldaten des Antipas handeln. Eine römische Besatzung existierte in Galiläa erst nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes im Jahr 70. Allerdings werden nicht erst die späteren Rezipienten von Q, sondern – sofern Frenschkowski mit der Lokalisierung der Q-Redaktion in Jerusalem Recht hat (Frenschkowski 2001) – schon die Verfasser des Endtextes bereits einen römischen Zenturio vor Augen gehabt haben. Dadurch erhält die Erzählung einen besonderen Akzent. Zenturionen waren, im Unterschied zu den Stabsoffizieren, deren militärische Laufbahn ein Teil des cursus honorum darstellte, erfahrene Berufssol177

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

daten. Zwar war es auch Nachkommen von Offizieren und Personen aus dem Ritterstand (centuriones ex equite romano) möglich, gleich bei diesem Rang und mit besseren Beförderungsaussichen einzusteigen, der große Teil der Zenturionen waren jedoch langjährig gediente Soldaten (centuriones ex caliga), deren Karriereziel das nur für wenige erreichbare primipilat war. Ihre Ernennung erfolgte in republikanischer Zeit nach dem Votum der Truppe (ex suffragio legionis), später auf Vorschlag des Tribuns. Sie vollzog sich dann jedoch immer mit Wissen des Heerespersonalamtes und des Kaisers. Einsatzmöglichkeiten bestanden in der Legion, den Auxiliartruppen und der Verwaltung, insbesondere den technischen Diensten. In den Legionen waren sie Führer einer selbstständig agierenden Einheit und zugleich Ausbilder, die für die Ausrüstung verantwortlich waren und die Disziplinargewalt ausübten. Außerdem oblagen ihnen auch die Durchführung religiöser Riten. (Wegen dieser nur partiellen Vergleichbarkeit mit Dienstgraden und Dienststellungen heute wird hier auch auf die klassische Übersetzung mit Hauptmann verzichtet.) Der soziale Rang eines Legionszenturios war abhängig davon, in welcher Kohorte er diente. Die Zenturionen der ersten Kohorte galten als primi ordines und gehörten zum erweiterten Kommandostab (vgl. dazu Birley 1963/64). Trotz dieser nicht unerheblichen Differenzierungen erscheint der Zenturio nicht nur als organisatorisch wichtigster Rang, sondern auch als die markanteste Gestalt des römischen Heeres (vgl. Dobson 1974). Bereits äußerlich war er deutlich herausgehoben durch den querstehenden Helmbusch (crista transversa), den Stock aus Rebenholz (vitis) als Zeichen der Disziplinargewalt, den auf der linken Seite getragenen gladius, den Beinschienen (ocreae) und den militärischen Schmuck. Die Quellen betonen die militärischen Fähigkeiten, die Härte und Tapferkeit von Zenturionen (z. B. Caes. civ. 6,38,1-5; 40,7; 7,50,1-6; Polyb. 6,24). Wie die nomina gentilicia und Inschriften auf den Grabsteinen zeigen, stammten die Zenturionen zumeist aus dem ältesten und am stärksten romanisierten Teil der Mittelschicht. Das Zenturionat zielte damit auch auf den Erhalt des römischen Charakter des Heeres (Le Bohec 2009, 85). In der Person des Zenturio begegnet also nicht einfach die Gestalt eines Subalternoffizieres, sondern die sichtbare Verkörperung der militärischen Macht Roms. Der Gedanke der Unterordnung verbindet sich mit dem der Machtrepräsentation. Wenn Burchard (Burchard 1993, 282) feststellt, dass es bisher nicht geglückt sei, ¢p ¥xousfflan (hypo exousian) als Ausstattung mit Macht zu deuten, so trifft dies sicher auf den sprachlichen Befund zu. Jedoch dürfte das Wissen um einen solchen Zusammenhang in diesem speziellen Fall Teil der antiken Enzyklopädie gewesen sein. Insofern wird es sich bei den Rezipienten des Textes um eine eher negativ konnotierte Gestalt handeln.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Erwartung des Zenturio bewegt sich zunächst völlig im Rahmen seiner militärischen Vorstellungswelt von Befehl und Gehorsam (zur Bedeutung von Befehl und Gehorsam für den Erfolg der römischen Armee vgl. Flav. Jos. Bell. 2,577-580). Indem Jesus dieses Zutrauen in die Macht seines Wortes aber als Glauben bezeichnet und in Verbindung zu Israel bringt, stellt er es in den Horizont jüdischen theologischen Denkens. Dabei ergibt sich eine starke Beziehung zur Vorstellung vom schöpferischen Wirken Gottes. Es gehört zu den fundamentalen Elementen alttestamentlich-jüdischen Glaubens, dass Gott durch 178

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sein Wort wirkt. Bereits die Schöpfungserzählung Gen 1 beruht auf dem Grundmuster: Gott sprach – und es geschah so. Auch das spätere geschichtliche Wirken Gottes wird als Ergehen eines Befehls erzählt. Die Aussage von der Macht dieses Befehls verbindet sich etwa in Ps 33 mit der Vorstellung von Rettung aus dem Tod und Hungersnot (Ps 33,9.19). Auf die heilende Kraft dieses Wortes verweist auch Ps 107,20. Wenn es richtig ist, dass der Zenturio seine Unwürdigkeit erklärt, weil er als Heide die Sendung Jesu zu Israel und damit die Vorrangstellung des Gottesvolkes anerkennt, dann enthält seine nachfolgende Bitte aber zugleich auch die Erwartung, dass Jesus diese Grenze überschreitet. Diese Erwartung findet sich schon in Jes 55 und 56. Die Aussage zur Wirkmacht des Wortes (Jes 55,11) steht in einem Kontext, der die Überschreitung der Grenzen Israels thematisiert (Jes 56,1-8). Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zu Mt 15. Die Syrophönizierin anerkennt den heilsgeschichtlichen Vorzug Israels, vertraut aber zugleich darauf, dass auch Heiden zum Heil zugelassen sind. Da – mit ihrem Bilde gesprochen – auch Hunde letztlich zum Haushalt gehören, wird die Grenze zwischen ihnen und den Kindern relativiert. Der Glaube des Zenturio richtet sich dagegen auf die grenzüberscheitende Macht des Wortes Jesu. Der betonte Gegensatz zwischen dem Glauben des Zenturio und dem Israels nimmt eine Form der prophetischen Israelkritik auf, zu der auch der Topos der Beschämung Israels durch Repräsentanten der Heiden gehört. Während in Q 10,13.14 Sidon und Tyrus, den paradigmatischen Feinden Israels (Sir 48,12-15), in Umkehrung des Völkerorakels von Jes 23 und Ez 28,1-24 nur ein besseres Abschneiden im Gericht als den galiläischen Orten Chorazin und Betsaida angekündigt wird, erscheinen die Niniviten (Q 11,30.32) und die Südkönigin (Q 11,31) wie auch der Zenturio als positive Vertreter der Heiden. Mit dem Topos der Beschämung Israels durch vorbildhafte Heiden scheint Q v. a. an die Jonatradition anzuknüpfen. Nur angedeutet werden kann hier, dass sich die jüdisch-christliche Auseinandersetzung gerade auch in der wechselseitigen Rezeption der Jonageschichte niedergeschlagen hat. Bezüge zur Erzählung vom Glauben des Zenturio ergeben sich insbesondere in Jon 3. Die Niniviten reagieren 3,5 auf die Gerichtsansage Jonas mit Glauben (¥pfflsteusan … t†w qe† episteusan to¯ theo¯ – sie glaubten Gott) und daraus folgend mit Buße und Umkehr. Glauben erscheint auch hier als Vertrauen auf Rettung durch Gott angesichts einer ausweglosen Situation und Neuausrichtung des Lebens. Intertextuelle Verweise deuten darauf, dass auch Ninive als Gegenbild zu Israel gezeichnet werden soll. So kontrastieren Jon 1,5; 3,4 f.10 die Seeleute und die Niniviten mit Israel am Schilfmeer und am Sinai (Ex 14,10; 24,18; 14,31; 32,14) (Weimar 2009, 185-189). In Jon 3,8/Jer 36,3.7 stehen sich mit der Abfolge Prophetenwort – Volk – König die gegensätzlichen Reaktionen des Königs von Ninive und Jojakims gegenüber (Vanoni 1978, 146 f.). Ninive, das Urbild der Bedrohung und Unterdrückung Israels, wird so z. B. dafür die universale Heilszuwendung Gottes und zugleich zu einer ungeheuren Herausforderung des Gottesvolkes.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Erzählung ist, wie wir gesehen haben, mehrdimensional. Die kompositionskritische Betrachtung (Hüneburg 2001a, 135-139) weist auf ein deutliches christologisches Interesse der Logienquelle. Die erste Makrosequenz wird durch die Täuferverkündigung Q 179

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3,7b-9.16 f. und die darauf zurückgreifende Anfrage des Täufers Q 7,18-23 zusammen mit der anschließenden Rede Jesu über Johannes (Q 7,24-31) gebildet. Die Frage nach dem Kommenden gibt so den Interpretationsrahmen vor. Bei dem vom Täufer angekündigten Kommenden (¡ ¥rcmeno@ ho erchomenos) handelt es sich um eine eschatologische Richtergestalt. Der historische Täufer hatte wohl ursprünglich das Kommen Gottes zum Gericht erwartet. Die frühen Christen bezogen die Erwartung auf den wiederkommenden Christus. Als eschatologischer Richter erscheint Jesus aber erst in Q 19,38. Die Täuferanfrage und die Antwort Jesu lenken den Blick dagegen auf die Person des irdischen Jesus. Die Antwort mit ihren alttestamentlichen Bezügen verbindet Vorstellungen vom eschatologischen Handeln Gottes (Jes 26,19; 29,18; 35,5 f.; 42,18) mit der eines Gesandten (Jes 61,1 f.) und appliziert sie auf Jesus. Das Geschehen von Wundern und Verkündigung an die Armen erweist Jesus als den eschatologischen Mandatar Gottes, in dessen Wirken die Endzeit als Heil zur Gegenwart wird (vgl. dazu auch Q 11,20). Die Heilung wird zum exemplarischen Beleg (deshalb auch die unspezifische Angabe zur Krankheit) für die genannten Ereignisse. Auch die scheinbare Auflösung der Form einer Wundergeschichte erhält im Rahmen dieser konzeptionellen Verbindung ihren Sinn. Die Vollmacht Jesu äußert sich in seinem Wort, dass sowohl durch Heilungen wie auch durch Lehre Heil bewirkt. Der den Umkehrruf in der Täuferverkündigung begründende Gerichtsgedanke bekommt einen neuen Ort. Das Ergehen im Gericht entscheidet sich nun an dem Glauben, der als Vertrauen zu dieser umfassenden Vollmacht Jesu inhaltlich bestimmt ist (vgl. Q 7,23; 10,13-15 und die Kontrastierung der Kinder der Weisheit mit dieser Generation in Q 7,35). Dieser christologische Ansatz führt zur Auseinandersetzung mit Israel. Q weist zwar eine innerjüdische Perspektive auf, steht Israel aber kritisch gegenüber. Hintergrund ist die Verweigerung der Umkehr, die nach Q 10,13 gerade auch als Reaktion auf die Machttaten Jesu (dun€mei@ dynameis) erwartet wird. Dabei verläuft der Konflikt zwischen dieser Generation ( geneÞ a˜th he¯ genea haute¯) insgesamt oder verschiedenen Exponenten Israels und denen, die Jesus nachfolgen. Andererseits gewinnt die Heranziehung eines Heiden als Glaubensparadigma eine über die Beschämung Israels hinausgehende Bedeutung. Bereits der Täufer hatte in seiner Predigt vor einer auf der Abrahamskindschaft beruhenden Erwählungsgewissheit gewarnt. Sein Hinweis, Gott könne auch aus Steinen dem Abraham Nachkommen verschaffen, sichert die Verheißungstreue Gottes gegenüber Abraham, öffnet aber zugleich – zumindest prinzipiell – die Möglichkeit einer Überschreitung der Grenzen des vorfindlichen Israel. Q propagiert sicher noch keine Heidenmission, schafft aber, indem der Gegensatz jetzt nicht mehr in den religiös konnotierten ethnischen Zugehörigkeiten, sondern zwischen Nachfolgern und Gegnern Jesu gesehen wird, zumindest eine Offenheit dafür. Im Kontext der Verheißung von Q 22,30, dass seine Nachfolger (wie die Südkönigin und die Niniviten) zu Richtern über die Zwölf Stämme Israels bestimmt sind, wird diese Erzählung vom Glauben eines heidnischen Zenturio zu einer Provokation. Damit lässt die Erzählung zugleich aber auch zeitgeschichtliche Rückfragen zu. Die in ihr enthaltene Kritik am Fehlen solchen Glaubens in Israel schien durch die Verwendung der Aoristform bereits über den konkreten Fall hinauszuweisen. Unabhängig von der Frage, ob bzw. in welchem Maße die textinternen Konflikte die tatsächliche Situation Jesu spiegeln, wird etwas erkennbar von der textexternen Situation der Tradenten von Q. Die in der Logienquelle enthaltene z. T. äußerst schroffe Israelpolemik lässt vermuten, 180

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dass eine weitere Mission in Israel nicht mehr als möglich erscheint. Die hinter Q stehende Gruppe schaut bereits auf das Scheitern ihrer Israelmission zurück. Sie ist marginalisiert und muss mit Verfolgung rechnen (Q 6,22). Das Interesse bei der Komposition von Q ist dann darauf gerichtet, diese Situation zu verarbeiten und ihr einen Sinn zu verleihen. Die Jesusnachfolge und -verkündigung wird ins Recht gesetzt durch den zum Gericht wiederkehrenden Menschensohn-Richter.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Q ist in Matthäus und Lukas aufgegangen und nicht weiter als selbstständige Schrift tradiert worden. Die Erzählung vom Glauben des Zenturio hat deshalb ihre Wirkungsgeschichte in der Gestalt des matthäischen und lukanischen Textes entfaltet. Beide Evangelisten setzen jedoch unterschiedliche Akzente. So verstärkt Matthäus mit der Umformulierung der den Glauben Israels betreffenden Aussage Jesu (Mt 8,10) und der Umstellung des Spruches von der Völkerwallfahrt von Q 13,28 f. die israelkritische Tendenz. Lukas dagegen zeichnet durch die Einfügung des Gesandtschaftsmotives (Gagnon 1994) den Zenturio als eine dem Judentum nahestehende Gestalt und rückt sie so in die Nähe des Zenturio Cornelius (Apg 10). Das für ihn in der Apg wichtige Motiv der Vermittlung des Evangeliums hin zu den Heiden über die Synagoge und die Gottesfürchtigen begegnet so bereits am Beginn der Wirksamkeit Jesu (Gourges 2002). Es lässt sich aber auch zeigen, dass beide Evangelien keineswegs nur Impulse der Erzählung aufnehmen. Sie sind vielmehr in ihrem ersten Teil jeweils stark von der christologischen Q-Konzeption als Ganzes (Täuferpredigt mit Ankündigung des Kommenden – Predigt und Wunder – Johannesanfrage und Rede über den Täufer als Gegenüber zu diesem Geschlecht) beeinflusst worden (vgl. Hüneburg 2001b). Eine sehr nahe Parallele liegt mit der Erzählung von der Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten in Joh 4,46-54 vor. Fleddermann (2005, 347) hält Joh 4,46-54 zwar für eine relecture der Synoptiker, die von ihm angeführten Indizien können jedoch die Beweislast keinesfalls tragen. Die trotz aller Nähe erheblichen Unterschiede weisen vielmehr eher auf ein traditionsgeschichtliches als ein literarisches Verhältnis hin (Landis 1994, 38-56; Theobald 2009, 353-356).

Martin Hüneburg Literatur zum Weiterlesen D. R. Catchpole, The Centurion’s Faith and Its Function in Q, in: F. van Segbroeck et al. (Hg.), The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck, BEThL 100, Leuven 1992, 517-540. D. Dormeyer, Der Hauptmann von Kafarnaum (Q 7,1.3.6b-9?10?). Narrative Strategie mit Chrie, Wundergeschichte und Gleichnis, in: D. Roth/R. Zimmermann/M. Labahn (Hg.), Metaphor and Narrative in Q, WUNT, Tübingen 2013 (im Erscheinen). H. T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary, BiTS 1, Leuven 2005. M. Hüneburg, Jesus als Wundertäter in der Logienquelle: Ein Beitrag zur Christologie von Q, ABG 4, Leipzig 2001.

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Ders., Mt und Lk als Erben der Wundertradition von Q, Leqach 1 (2001), 137-150. S. R. Johnson, Q 7:1-10: The Centurion’s Faith in Jesus’ Word, Documenta Q, Leuven 2002. S. Landis, Das Verhältnis des Johannesevangeliums zu den Synoptikern: am Beispiel von Mt 8,513; Lk 7,1-10; Joh 4,46-52, BZNW 74, Berlin/New York 1994. R. A. Piper, Jesus and the Conflict of Powers in Q: Two Miracle Stories, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 317-349. U. Wegner, Der Hauptmann von Kafarnaum (Mt 7,28a; 8,5-10.13 par. Lk 7,1-10): ein Beitrag zur Q-Forschung, WUNT 2/14, Tübingen 1985.

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Der umstrittene Exorzist (Jesu Macht über die bösen Geister) Q 11,14 f.17-22.24-26 (14) Und er trieb einen Dämon aus, der einen Menschen stumm sein ließ. Und als der Dämon ausgetrieben war, begann der Stumme zu sprechen. Und die Volksmenge staunte. (15) Einige aber sagten: »Mit Beelzebul, dem Herrscher der Dämonen, treibt er die Dämonen aus!« (16) (17) Er aber durchschaute ihre Gedanken und sagte ihnen: »Jedes Königreich, das in sich geteilt ist, wird zur Wüste, und jedes Haus, das in sich geteilt ist, wird nicht bestehen bleiben. (18) Und wenn der Satan in sich geteilt ist, wie wird sein Königreich bestehen bleiben? (19) Und wenn ich mit Beelzebul die Dämonen austreibe, mit wem treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie selbst eure Richter sein. (20) Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft schon bei euch da. (21) Ein Starker kann nicht beraubt werden, (22) wenn aber ein Stärkerer ihn besiegt, wird er beraubt. (23) (24) Wenn der unreine Geist aus einem Menschen hinausgegangen ist, geht er durch wasserlose Gegenden und sucht einen Ruheplatz und findet ihn nicht. Dann sagt er: ›Ich will in mein Haus zurückkehren, von wo ich ausgegangen bin.‹ (25) Und er kommt und findet es gefegt und geordnet. (26) Dann geht er und nimmt mit sich sieben andere Geister, böser als er selbst, und sie gehen hinein und wohnen dort. Und der ›letzte‹ Zustand jenes Menschen wird schlimmer als der erste sein« (zur Textrekonstruktion und Übersetzung vgl. Hoffmann/Heil 2002, 63-65).

Sprachlich-narratologische Analyse Innerhalb der Konstruktion der Logienquelle begegnet der Text Q 11,14-26 am Beginn einer Zusammenstellung von Traditionsstücken, in denen der Konflikt Jesu mit seinen jüdischen Mitmenschen zur Sprache gebracht wird (Q 11,14-52). Da in keiner anderen Sequenz der Logienquelle die Konfliktpotentiale dieser Auseinandersetzungen derartig prägnant zu Tage treten, scheint diese Sammlung von Jesus-Logien eine bewusst gestaltete Texteinheit zu sein (vgl. Fleddermann 2005, 475-489). Entsprechend zeichnet sich der weitere Kontext der Sequenz durch eine sukzessive Steigerung der Dramaturgie aus, die schließlich in eine scharfe Verurteilung der Pharisäer und Schriftgelehrten mündet (Q 11,37-54). Bei diesem Text handelt es sich partiell um eine sowohl in der Logienquelle als auch im Markusevangelium tradierte Doppelüberlieferung (vgl. die Parallele zu Q 11,14-22 in Mk 3,22-27). Die Passage beginnt mit der Erwähnung eines Exorzismus, durch welchen Jesus einen stummen Menschen heilt. Auch wenn entsprechende Heilungen in den vorhergehenden Passagen der Logienquelle nur verhältnismäßig selten erwähnt wurden (vgl. u. a. die Erzählung von der Heilung des Knechts eines römischen Zenturio Q 7,1-10), wird in diesem Kontext wie selbstverständlich eine exorzistische Tätigkeit Jesu voraussetzt, ohne dass dieselbe spezieller erläutert wird. Hier zeigt sich somit, 183

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dass in der Logienquelle die theologische Bedeutung der Erzählungen von Heilungen und Exorzismen Jesu schlicht vorausgesetzt wird (zu diesem Phänomen vgl. Hüneburg 2001a, 9 f. bzw. 226-228). Die Person des Geheilten bzw. die Heilung selbst stehen in diesem Kontext jedoch nicht im Vordergrund des Interesses, sondern die Frage nach den Ursprüngen der therapeutischen Kraft Jesu. Eine nicht näher identifizierte Gruppe von Kontrahenten wirft Jesus vor, dass er nur deshalb Exorzismen vornehmen kann, weil er selbst von dämonischen Kräften inspiriert ist. Er sei einen Pakt mit Beelzebul, dem ›Herrscher der Dämonen‹, eingegangen (zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund dieser dämonologischen Vorstellung vgl. Poplutz, Dämonen in diesem Band). Auf diesen Vorwurf folgt die ausführlichste und facettenreichste Zusammenstellung von dämonologischen Aussagen, die sich in frühchristlichen Jesus-Traditionen finden lassen. Die Antwort Jesu in Q 11,17-26 kann in vier Abschnitte untergliedert werden. Nachdem in Q 11,17-20 zunächst der Selbstanspruch Jesu in Bezug auf jenen Vorwurf herausgearbeitet wird, folgen in Q 11,21f., Q 11,23 und Q 11,24-26 drei weitere Logien, die jeweils zu den in Q 11,14-20 dokumentierten Dämonenvorstellungen in Beziehung stehen. Zunächst versucht Jesus, den gegen ihn erhobenen Vorwurf als unsinnig zu erweisen, indem er betont, dass das Reich der Dämonen in sich zerrissen und dem Untergang geweiht sei, wenn Dämonen sich gegenseitig bekämpfen würden (Q 11,17f.). Er konfrontiert seine Kontrahenten mit der Gegenfrage, durch welche Kraft denn dann die exorzistische Tätigkeit ihrer eigenen Kinder inspiriert sei. Auf diese Frage, welche implizit die weite Verbreitung exorzistischer Tätigkeiten zur Zeit Jesu zum Ausdruck bringt (s. u. Abschnitt 2), folgt die Legitimierung seiner eigenen Taten. Jesus nimmt für sich in Anspruch, in der Autorität Gottes Menschen von dämonischer Besessenheit zu befreien und auf diese Weise den Anbruch der Gottesherrschaft einzuleiten (Q 11,20). Q 11,21f. ergänzt die bisherigen Ausführungen durch ein Bildwort, welches auf soziale Umstände der zeitgenössischen Lebenswelt verweist: Ein wehrhafter Mensch kann nicht beraubt werden, solange er nicht auf einen stärkeren Gegner trifft. Nach dieser allgemeingültig und unpersönlich formulierten These bezieht sich die folgende Aussage wiederum direkt auf das Wirken Jesu. Q 11,23 zufolge nimmt Jesu für sich in Anspruch, dass jede Person, die seine Mission nicht unterstützt, sein Gegner sei (zu der direkten Gegenthese in Mk 9,40 s. u.). Auf diesen resoluten Selbstanspruch folgt eine weitere Jesus-Tradition, die nur in der Logienquelle, nicht aber im Markusevangelium tradiert ist. Q 11,24-26 umschreibt die Gefahren eines Exorzismus im Geiste zeitgenössischer Dämonenvorstellungen. Demnach sucht nach einem erfolgreichen Exorzismus der ›unreine Geist‹ in Wüstengegenden nach einer neuen Wohnstätte (auch wenn im Gegensatz zu Q 11,14-20 der Begriff Dämon in Q 11,24-26 nicht vorliegt, basieren beide Text auf vergleichbaren religionshistorischen Vorstellungen [s. u.]). Bei einer erfolglosen Suche kann es jedoch dazu kommen, dass er zu jenem Menschen zurückkehrt, der von ihm bereits ›bewohnt‹ wurde, und dass das Maß der dämonischen Besessenheit dann noch schlimmer ist als zuvor. Dabei wird im Geist einer sehr anthropomorph geprägten Dämonologie betont, dass der erste Dämon sieben weitere Geister mit sich nimmt, die noch schlechter sind als er selbst.

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Sozial- und realgeschichtlicher Kontext In der Einleitung des Textes wird zunächst konstatiert, dass Jesus einen stummen Menschen heilt. Gleichwohl wird diese Person bzw. die mit seiner Behinderung einhergehende soziale Notsituation nicht genau thematisiert (interessanterweise betont demgegenüber die matthäische Gestaltung dieser Tradition, dass jener stumme Mensch zudem auch blind war, was eine wesentlich problematischere soziale Stellung mit sich bringt [vgl. Kollmann 1996, 251-253]). Für Q 11,14-26 steht hingegen die Frage nach den Ursachen der Heilungstätigkeit Jesu im Vordergrund des Interesses. Dabei wird das für die Frage der Historizität der Heilungen und Exorzismen Jesu hoch interessante Detail tradiert, dass offensichtlich auch die Gegner Jesu eingestanden haben, dass Jesus Taten vollbrachte, die den Rahmen zeitgenössischer Erwartungshorizonte sprengten. Aus diesem Grund fühlten sie sich dazu genötigt, eine Erklärung für die Taten Jesu zu finden, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber Jesus vereinbar ist. Sie postulieren, dass Jesus nur aufgrund einer dämonischen Besessenheit selbst Dämonen austreiben kann. Dass ein so massiver Vorwurf erst nachösterlich von Anhängern Jesu formuliert wurde, ist historisch kaum plausibel. Plausibler ist es, dass in der Tat über einen solchen Tatbestand zwischen Jesus und seinen Kontrahenten im zeitgenössischen Judentum ein Konflikt entstand, in dessen Kontext zugleich der Selbstanspruch Jesu zu Tage trat (vgl. Theißen/Merz 2001, 169f.). Für den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Erzählungen über Exorzismen Jesu ist zudem die Teilaussage Q 11,19 aufschlussreich. Wie selbstverständlich konstatiert dieses Logion, dass auch die Angehörigen der Kontrahenten Jesu Dämonenaustreibungen vornehmen. Dass körperliche Gebrechen bzw. Krankheiten auf eine dämonische Besessenheit zurückgehen, ist dieser Rückfrage zufolge somit nicht strittig. Strittig ist nur, in welcher Autorität bzw. durch welche Legitimation Jesus handelt. In Bezug auf den realgeschichtlichen Hintergrund ist ferner bemerkenswert, dass Q 11,24 die Vorstellung dokumentiert, dass Wüstengegenden von Dämonen bewohnt sein können. Dieses negative Bild solcher unwirtlichen Gegenden entspricht einer Vielzahl antik-mediterraner Zeugnisse aus unterschiedlichen religiösen Hintergründen (Keel 2003, 214 f.). Zu diesem Phänomen passt es auch, dass Jesu Askese während des Wüstenaufenthalts auch von einer satanischen Versuchung begleitet wird (vgl. Mk 1,13; Mt 4,111; Lk 4,1-13).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund In traditions- und religionsgeschichtlicher Hinsicht sieht sich der Leser von Q 11,14-26 mit einem eigentümlichen Phänomen konfrontiert. In nahezu allen Facetten der in diesen Versen vorliegenden dämonologischen Vorstellungen lassen sich traditions- und religionsgeschichtliche Vorgaben im Spektrum alttestamentlich-frühjüdischer Zeugnisse beobachten. Während das Motiv einer dämonischen Verursachung körperlicher Gebrechen und Krankheiten ein weitverbreitetes Glaubensgut war (vgl. Poplutz, Dämonen in diesem Band), ist auch die Q 11,24-26 zugrundeliegende Vorstellung, dass ein ausgetriebener Dämonen umherirrt und wieder zu seinem frühen Opfer zurückkehren kann, keine genuin jesuanische Vorstellung. Umso mehr verwundert es, dass es für ein zentrales Motiv 185

Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

dieser Tradition strenggenommen keine unmittelbare Vorgabe bzw. Vergleichsgröße gibt, nämlich für die namentliche Identifikation des vermeintlichen ›Dämonenfürsten‹. Nahezu alle begriffsgeschichtlichen Belege für den Namen ›Beelzebul‹ gehören nicht zur traditionsgeschichtlichen Vorgeschichte von Q 11,14-20, sondern zur Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte dieses Textes (zu diesem Phänomen vgl. Wolter 2008, 416f.). Auch eine etymologische Herleitung dieses Namens lässt sich lediglich indirekt herausarbeiten. Der Begriff bfbg lpb (b‘l zbwb – Beelzebub) begegnet in der hebräischen Bibel als Name der Stadtgottheit der Philister-Stadt Ekron, von dem 2Kön 1,2 zufolge der jüdische König Ahasja ein Orakel erbeten haben soll. Da dieser Name wörtlich ›Herr der Fliegen‹ heißen würde, scheint es sich um eine spöttische Umformung eines vom Konsonantenbestand her nahezu identischen Namens zu handeln, der eigentlich Baal Zebul (erhabener Fürst) geheißen hat. Im Zuge der Ausbildung eines monotheistischen Gottesbildes und der frühjüdischen Dämonologie wurde diese Gottheit zu einer dämonischen Gestalt depotenziert. Insofern es jedoch für den Namen ›Beelzebul‹ in den grundlegenden Traditionsbildungen frühjüdischer Dämonologie weder direkte noch indirekte Analogien gibt, scheint es sich bei dieser Vorstellung um eine lokal begrenzte Vorstellung zu handeln (zu diesen Herleitungen vgl. Trunk 1994, 46-50). Ferner gilt es zu beachten, dass im Zusammenhang dieser Kontroverse ein JesusLogion begegnet, bei dem ebenso wie in Bezug auf den gegen Jesus erhobenen Vorwurf ein verhältnismäßig großer Konsens besteht, dass es historisch auf das Wirken Jesu selbst zurückzuführen ist, nämlich das Logion, demzufolge Jesus für sich in Anspruch nimmt, ¥n daktÐl†w qeo‰ (en daktylo¯ theou), also ›mit dem Finger Gottes‹ Dämonen auszutreiben. Auch wenn das Motiv des Fingers Gottes in alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen durchaus an einigen wenigen Stellen begegnet (Ex 8,15; 31,18; Dtn 9,10), entspricht es eigentlich nicht den gängigen Bildfeldtraditionen, die diesbezüglich zumeist von der Hand bzw. im Plural von den Fingern Gottes sprechen (Hengel 1997, 87-106). Zudem ist es wenig plausibel, dass ein so stark anthropomorph geprägtes Motiv in Bezug auf Gott erst nachträglich von Nachfolgern Jesu geprägt wurde, um dann wieder metaphorisch korrigiert zu werden (zur entsprechenden Korrektur s. u.).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Hinsichtlich einer sozialgeschichtlichen Deutung gibt der Text einen Einblick in die Vorstellungswelten und sozialen Lebensumstände zur Zeit des Wirkens Jesu, der die Differenzen zur Lebenssituation der meisten heutigen Leser zu Tage treten lässt. Einerseits lässt der Vorwurf, der gegen Jesus erhoben wird, aber auch die Reaktion Jesu selbst erkennen, mit welcher Selbstverständlichkeit dämonische Besessenheit als Ursache für Krankheiten und körperliche Gebrechen verstanden werden konnte. An diesem Detail zeigt sich wie an vielen Erzählungen von Exorzismen Jesu, mit welchen hermeneutischen Herausforderung ein(e) Leser(in) dieses Textes konfrontiert wird, der/die ein menschliches Leiden nicht mehr auf der Grundlage eines solchen Weltbildes zu erklären gewillt ist (vgl. den entsprechenden Themenartikel in diesem Band). Ferner deutet das Bildwort Jesu von der Überwindung eines wehrhaften Mannes durch einen noch stärkeren Gegner implizit an, in welcher durch Gewalt und das ›Recht des Stärkeren‹ geprägten sozialen

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Umwelt Jesu Wirken insbesondere in Galiläa sich vollzog (zur religionssoziologischen Situation in Galiläa zur Zeit Jesu vgl. Ostmeyer 2005, passim). Das Motiv des Ringens bzw. Überwindens korrespondiert auch mit dem Ende der Texteinheit Q 11,14-26, welches eine weitere theologisch-hermeneutische Deutungsmöglichkeit impliziert. Das Motiv der Rückkehr eines Dämons, der eigentlich bereits ausgetrieben war, jedoch nach erfolgloser Suche nach einer neuen Wohnstätte in seine alte zurückkehrt und das Ausmaß der Besessenheit auf diese Weise massiv steigert, kann dahingehend gedeutet werden, dass ein erfolgreich vorgenommener Exorzismus für sich genommen noch nicht ausreichend ist. Es stellt sich die Frage, welche neue ›Erfüllung‹ das befreite Individuum findet. Es reicht nicht, »vom Dämon befreit zu sein«, sondern es muss auch »Chistus … in uns einziehen« (vgl. Bovon 2008, 180; zu entsprechenden religionsgeschichtlichen Vorstellungen, denen zufolge menschliche Individuen durch äußere Entitäten ›besetzt‹ werden vgl. Preisigke 1980, 210-247, demzufolge Jesus in Bezug auf sich selbst davon überzeugt ist, dass seine eigene Vollmacht seine Nachfolger in einer quasi-materiellen Weise erfüllt). Im Kontext der Erläuterungen der religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergründe der Texteinheit Q 11,14-26 wurde betont, dass dieselbe eindrücklich zu erkennen gibt, mit welcher Selbstverständlichkeit die Worte Jesu und die seiner Gegner ein dämonologisch geprägtes Weltbild voraussetzen. Gleichwohl gilt es zu beachten, dass die Komposition der Logienquelle eine implizite Kritik an einer solchen auf exorzistische Tätigkeiten konzentrierte Glaubenshaltung erkennen lässt. Der Gesamtkomplex Q 11,14-52 erweist sich aufgrund seiner Konzentration auf die Konflikte zwischen Jesus und seinen jüdischen Mitmenschen als eine bewusst gestaltete Texteinheit (vgl. Fleddermann 2005, 475 f.). Umso bemerkenswerter ist es, dass in den auf Q 11,14-26 folgenden Logien eine Forderung von glaubens- bzw. vertrauensbegründenden Zeichenhandlungen abgelehnt wird (vgl. Q 11,29-32). Stattdessen tritt die Bedeutung der innerlichen Haltung der Menschen (Q 11,33-36) und die Kritik an einer unangemessenen Praxis jüdischer Gesetzestraditionen in den Vordergrund des argumentativen Interesses (vgl. Q 11,37-54). Diese Komposition kann als Indiz gewertet werden, dass die zu Beginn der Texteinheit vorliegenden dämonologischen Ausführungen nicht das eigentliche Interesse dieser Logiensammlung bilden, sondern die eher weisheitlich orientierten Aspekte der Folgetexte Q 11,27-54 wie z. B. die lichtmetaphorischen Bildworte (Q 11,33) bzw. die Antithetik von ›Innerem‹ und ›Äußerem‹ (Q 11,39-41; zu diesen Erwägungen vgl. Kloppenborg 2008, 71f.). Besondere Beachtung verdient zudem ein Aspekt, der für die theologisch-christologische Dimension dieser Tradition von Relevanz ist. Das Motiv des ›Fingers Gottes‹, mit dem Jesus Dämonen auszutreiben für sich in Anspruch nimmt, ist ein stark anthropomorph geprägtes Motiv (zur Korrektur dieses Details Mt 12,28 s. u.). Da es zudem traditionsgeschichtlich nicht unmittelbar aus frühjüdischen Traditionen abgeleitet werden kann (s. o.), kann bzw. muss es einen Anhalt am Wirken Jesu selbst gehabt haben. In dieser Hinsicht wäre Q 11,20 ein Indiz für einen hohes messianisches Selbstverständnis Jesu, dass den Selbstanspruch eines jüdischen Wanderpredigers bzw. Weisheitslehrers deutlich übersteigt (Hengel 1997, 105f.).

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Die Wundererzählungen in der Logienquelle Q

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Zu dem Traditionsstück Q 11,14-26 gibt es unterschiedliche Parallelüberlieferungen, die jeweils eigene theologische Aussageintentionen verfolgen. Mk 3,22-26 ist ein Beispiel für Doppelüberlieferungen, die sowohl in der Logienquelle als auch im Markusevangelium begegnen. Dabei fällt auf, dass die in Q 11,15 nicht genauer identifizierten Gegner Jesu nun als Schriftgelehrte aus Jerusalem bezeichnet werden. Ferner fällt auf, dass die Antwort Jesu explizit als Gleichnis charakterisiert wird (Mk 3,23), was gattungsgeschichtlich durchaus plausibel erscheint. Des Weiteren ist bemerkenswert, dass der traditionsgeschichtlich schwierig einzuordnende Dämonen-Name Beelzebul nur in dem Vorwurf jener Schriftgelehrten vorkommt, während der markinische Jesus im Gegensatz zu Q 11,19 in seiner Antwort ausschließlich von der Überwindung des Satans redet (Mk 3,23.26). Ferner fällt auf, dass in Mk 3,22-26 das Motiv der Dämonen-Austreibung ›mit dem Finger Gottes‹ völlig fehlt (Q 11,19). Letzteres erfährt auch in der matthäischen Variante dieser Tradition eine Modifikation, die ansonsten sich weitestgehend an der Vorgabe der Logienquelle orientiert. Nicht von ungefähr nimmt ein dem jüdischem Denken so nahestehender Theologe wie der Verfasser des Matthäusevangeliums eine Modifikation dieses stark anthropomorph geprägten Motivs vor, indem er stattdessen von einem durch den Geist Gottes gewirkten Exorzismus spricht (Mt 12,28). Eine der bemerkenswertesten Parallelen zu Q 11,14-20 begegnet jedoch nicht in der synoptischen Tradition, sondern im vierten Evangelium. Ebenso wie in Q 11,14-20 begegnet auch im Johannesevangelium der Vorwurf einer dämonischen Besessenheit Jesu – und zwar gleich in drei unterschiedlichen Kontexten (Joh 7,20; 8,48b.52a; 10,20). Dieses Phänomen ist umso bemerkenswerter, wenn man berücksichtigt, dass es im Johannesevangelium kein Korrelat zur synoptischen Beelzebul-Tradition gibt bzw. dass eine exorzistische Tätigkeit Jesu überhaupt nicht erwähnt wird. Das in den synoptischen Exorzismus-Traditionen implizierte Motiv eines Kampfes zwischen Jesus und Dämonen ist jedoch keineswegs völlig ausgeblendet, sondern auf eine noch grundsätzlichere Ebene gehoben. Einerseits steht das gesamte Wirken Jesu unter dem Vorzeichen, dass durch das Kreuzesgeschehen die Macht des Satans gebrochen wird (vgl. die instruktive Einschätzung Twelftree 1999, 142 zu Joh 12,31f.: »In contrast to the synoptic focusing of Jesus’ battle with the Satan in the exorcisms, for the FE [Anmerkung E. E. P.: der vierte Evangelist] the whole of Jesus’ ministry is a battle with Satan that climaxes in the cross«). Andererseits fällt auf, dass der Verfasser des Johannesevangeliums den Vorwurf der dämonischen Besessenheit Jesu in Kontroversen um den Offenbarungsanspruch Jesu integriert. Der Vorwurf der Besessenheit Jesu muss im vierten Evangelium somit im Zusammenhang der Trennung der johanneischen Christen von der synagogalen Gemeinschaft bzw. der Auseinandersetzungen zwischen Jesus und ›den Juden‹ analysiert werden (vgl. Piper 2000, 264f.: »The language of demon possession is not in the fourth Gospel related to matters of magical healing, but to rivalry. It is reserved for demonising one’s opponents« (Kursivierung Piper).

Enno Edzard Popkes

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Der umstrittene Exorzist Q 11,14 f.17-22.24-26

Literatur zum Weiterlesen M. Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum: Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus, WUNT 2/144, Tübingen 2002, 431-442. H. T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary, Leuven 2005, 475-514. M. Hengel, Der Finger und die Herrschaft Gottes in Lk 11,20, in: R. Kiefer/J. Bergmann (Hg.), La main de Dieu. Die Hand Gottes, WUNT 94, Tübingen 1997, 87-106. J. S. Kloppenborg, Q, the Earliest Gospel: An Introduction to the Original Stories and Sayings of Jesus, Louisville 2008, 71f. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996. M. Labahn, Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 32, Leipzig 2010. G. H. Twelftree, Exorcisms in the fourth gospel and the synoptics, in: R. T. Fortna/T. Thatcher (Hg.), Jesus in Johannine tradition, Louisville et al. 2001, 135-143.

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II. Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Hinführung Es fällt die Fülle der Wundergeschichten im Markusevangelium auf: neun Heilungswunder, vier Besessenenheilungen/Exorzismen, fünf Naturwunder sowie sechs Sammelberichte (Summarien) mit Wundern. In der Erzählzeit des öffentlichen Wirkens Jesu ohne Taufszene, Passion und Auferweckung beträgt ihr Anteil 38 %, macht also knapp ein Drittel des Evangeliums aus (Knoch/Braungart 1993, 556). In keinem anderen Evangelium nehmen die Wundergeschichten so viel Raum ein. Hinzu kommen mehrere Gespräche über Wunder. Die Wunderthematik ist für das Markusevangelium zentral. Auch die Verteilung der Wundererzählungen lässt eine gezielte Komposition erkennen. In der ersten Hälfte des Evangeliums ballen sich 15 Wundergeschichten (Mk 1,1-8,26), in der zweiten Hälfte finden sich nur noch drei (Mk 8,27-16,8). Die Wundergeschichten selbst lassen sich deutlich in die antike Literaturgeschichte einordnen. Allerdings gibt es erzählerische Auffälligkeiten wie die Schweigegebote, die erst im Rahmen des gesamten Evangeliums verständlich werden.

Gattung und Form Die markinischen Wundererzählungen haben von den neutestamentlichen Gattungen die größte Nähe zu einer hellenistischen Gattung, und zwar zur hellenistischen Wundergeschichte (Weinreich 1969; Theißen 1998, 230-236; Weiser 1975, 149-158; Kunath 1978). Aber auch die alttestamentliche Tradition nimmt Einfluss auf die markinischen Wundergeschichten. Besonders in der Exodustradition und in den Erzählzyklen zu den Propheten Elija-Elischa sind Wundergeschichten enthalten (Ex 13-17; 1Kön 17,1-2Kön 13,21). Die dort berichteten Wunder wirken auf die markinischen Wundergeschichten ein (Mk 1,21-28.40-45; 5,21-43; 6,30-44; 8,1-10), verändern aber nicht wesentlich deren hellenistische Gestalt (Kertelge 1970, 53.209). Gattung, Form und Topik der markinischen Wundergeschichten fallen daher nicht aus dem Gattungskanon der hellenistischen Wundergeschichten heraus. Es lassen sich die Wunder unterteilen in neun Heilungswunder (Mk 1,29-31.40-45; 2,1-12; 3.1-6; 5,21-24a.24b-34.35-43; 7,31-37; 8,22-26; 10,46-52), in vier Exorzismen (Mk 1,21-28; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29) und in fünf Naturwunder, die sich wiederum in zwei Rettungswunder (Mk 4,35-41; 6,45-52), zwei Geschenkwunder (Mk 6,30-44; 8,1-10) und ein Strafwunder (11,12-14) aufspalten lassen. Die Komposition der erzählerischen Motive gibt den markinischen Wundergeschichten ein eigenständiges Profil. Theißen betont den »grenzüberschreitenden« Charakter der Motive »Überwindung der Erschwernis (Glaube)«, »Hilferufe«, »Bitten und Vertrauensäußerung«, »Admiration« und »Akklamation« im Gegensatz zu grenzbetonenden Motiven aus der Perspektive der um Hilfe bittenden Menschen (Theißen 1998, 86). Mit der Spannung von grenzbetonend und grenzüberschreitend und der Beachtung der Rollenperspektive (Wundertäter; Menschen) gelingt es Theißen, das Christliche der markinischen Wundererzählungen nicht nur an den inhaltlichen Ausgestaltungen einzelner Motive festzumachen, sondern auch für die Gesamtkomposition des Evangeliums zu 193

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

entwickeln. Der Vertrauensglaube an Jesus als den Bringer der Gottesherrschaft führt zur Überschreitung »der Schranken des Legitimen« (Theißen 1974, 137). Bereits Bieler hatte erkannt, dass »die Bedingung des Glaubens« nur in der christlichen Literatur ausgeprägt ist (Bieler 1976, I,113). Die handlungswirksamen Folgen dieses spezifisch christlichen Motivs »Glauben«, das ein variabler Teil der umfassenderen Motive »Bitten und Vertrauensäußerung«, »Hilferufe«, »Überwindung der Erschwernis« ist (Theißen 1974, 64 f.), werden besonders in den Heilungsgeschichten deutlich. Sie werden jeweils mit einer Bitte des Kranken oder seiner Helfer eingeleitet. Auch die Exorzismen haben als Einleitung entweder die Bitte der Helfer (Mk 7,24-30; 9,14-29) oder die Kontaktaufnahme der Besessenen, die allerdings der Dämon mit seiner Stimme zu stören versucht (Mk 1,21-28; 5,1-20). Die Naturwunder hingegen setzen mit einem Unverständnis der Jünger bzw. Jesu ein und tragen nachösterliche Motive zur hoheitlichen Gestaltung Jesu ein (Mk 4,38; 6,35-39.49 f.; 8,1-6; 11,12-14; Theißen/Merz 2001, 272-275). Der Wundervorgang in den Naturereignissen wird knapp oder unanschaulich erzählt. Diese Geschichten übertragen die Macht des Auferstandenen über Natur und Kosmos auf den irdischen Jesus zurück.

Schweigegebot an die Dämonen und Sohn-Gottes-Geheimnis Das »Schweigegebot« gehört als grenzbetonendes Motiv des Wundertäters zum Inventar der hellenistischen Wundergeschichte. Die Zauberpapyri kennen den Verstummungsbefehl (Theißen 1974, 143; Önnerfors 1991, 8 f.). Die Macht des Dämons oder der Dämonen muss gebrochen werden (Busch 2006a, 71-103). Die Endredaktion des Markus macht aus dem Verstummungsbefehl ein Schweigegebot über die Personenwürde Jesu (Theißen 1974, 152 f.). Jesus kann erst als Gekreuzigter in seinem wahren Wesen als leidender Christus und Sohn Gottes erkannt werden (Suhl 1980, 4 f.), deshalb ist von der Verklärung und den Wundern Jesu – vorerst – zu schweigen (Mk 9,9). Jesus setzt dem Verstehen als irdischer Wundertäter eine christologische Grenze, die erst in der Nachfolge zum Kreuz und im vollen Bekenntnisglauben an den leidenden Sohn Gottes (Mk 15,39) überschritten wird (Söding 1987, 251-280; Dormeyer 1993, 175 f.). Der erste Exorzismus im Markusevangelium (Mk 1,21-28) führt gleich das grenzbetonende Schweigegebot ein. Die Dämonen sollen nicht verraten, wer Jesus ist. Die Anrede »Heiliger Gottes«, die auf den Propheten Elija anspielt (1Kön 17,18), wird von keinem Zuhörer aufgegriffen, weil sie nicht verstanden wird. Denn noch tritt Jesus nicht so offenkundig mächtig wie Elija auf. Jesu Wunder können erst vom Kreuz her richtig interpretiert werden. Jesus muss leiden wie Elija, dessen Leiden aber vergessen worden sind. Das eindeutige Offenbaren eines machtpolitischen »Heiligen Gottes«, der als endzeitlicher Prophet und Sohn Gottes machtvoll die Wundertaten von Elija und Mose wiederholt, würde den Blick für das gegenwärtige vollmächtige Wirken und das kommende Leiden des Wundertäters Jesus verstellen. Der Titel »Heiliger Gottes« sowie der später von Dämonen geschriene Hoheitstitel »Sohn Gottes« (Mk 3,11) wird daher unter das Schweigegebot über die Personenwürde Jesu gestellt. Da die Dämonen ausgetrieben werden, bleibt das Geheimnis der Gottessohnschaft und Heiligkeit Jesu gewahrt. Geist und Heiligkeit erfüllen Jesus seit der Johannestaufe und verleihen ihm permanent vollmächtige Wunderkraft. Die Wunder dienen zwar der Veranschaulichung der angebrochenen 194

Hinführung

Königsherrschaft Gottes, in der es keine Krankheit und kein Leiden mehr gibt. Die Heilung kann aber nur im Dienst am einzelnen Menschen bewirkt werden; sie erfolgt nicht aufgrund politischer Königs-Gewaltherrschaft oder politisch mächtiger Pseudo-Prophetie (Mk 13,22). Im Gegenteil, diese erzeugen ja erst Unterdrückung, Leiden, Gewalt und letztlich die Tötung des Bringers der Gottesherrschaft (Mk 10,41-45). Diese Symbolik der Wunder Jesu wird allerdings von den Geheilten missverstanden. Daher legt Jesus auch ihnen das Schweigegebot auf. Erst in der Nachfolge bis zur Kreuzigung können sie die heilende Praxis Jesu richtig verstehen.

Die heilige Woche in Kafarnaum mit Exorzismus, Heilungswunder und Sammelberichten Mk 1,16-39 Die Berufung der beiden Brüderpaare (Mk 1,16-20), die Heilung des Besessenen in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,21-28), die Heilung der Schwiegermutter des Simon (Mk 1,29-31), der Sammelbericht über die Wundertätigkeit Jesu (Mk 1,32-34) und das Apophthegma vom Verkündigungsauftrag Jesu (Mk 1,35-38.39) finden insgesamt in Kafarnaum statt, dem ersten Aufenthaltsort Jesu. Sie gehören zur heiligen Woche, die die neue Lehre Jesu hauptsächlich mit Wundertaten und mit nur geringer Wortbelehrung eröffnet (Dormeyer 2002, 168). Jesus symbolisiert seine Vollmacht zur Realisierung der Königsherrschaft Gottes in Wundern und machtvollen Worten. So folgt nach der Dämonenaustreibung das erste Heilungswunder. Die Schwiegermutter des gerade berufenen Simon Petrus wird vom Fieber befreit (Mk 1,29-31). Jesus erweist sich für die Familien seiner Jünger genauso wirkmächtig wie Asklepios in seinem Heiligtum für seine Mysterienanhänger. Die Geheilte findet sich wie ihr Schwiegersohn sogar zum »Dienst« in der Nachfolge Jesu bereit und radikalisiert so den unverbindlichen Mysterienglauben der Griechen zu einer unbedingten Nachfolge Jesu als erste Jüngerin (zur neuen Position der Frau vgl. Mk 5,24-34; 7,24-30). Dann schließt ein Sammelbericht an. Er dient dazu, die Dämonenaustreibungen und Heilungen auf »alle Kranken und Besessenen« von Kafarnaum auszudehnen (Mk 1,32-34). Dies ist der erste von insgesamt sechs Sammelberichten im Evangelium – drei selbstständigen: 1. Mk 1,32-34; 2. Mk 3,7-12; 3. Mk 6,53-56 und drei unselbstständigen 4. Mk 1,39; 5. Mk 6,5; 6. Mk 6,13. Nach dem ersten selbstständigen Sammelbericht sind »viele« Leidende (V. 34) in der Bedeutung von »alle« (V. 32) geheilt worden. Nach semitischer Anschauung, die auch den Griechen verständlich ist, wird die Anzahl der Heilung Suchenden konkret mit »viele« bezeichnet, meint aber »alle« (vgl. Mk 14,22-24). Die Königsherrschaft Gottes ist machtvoll für ganz Kafarnaum gekommen. Das Schweigegebot wiederholt das Wundergeheimnis von Mk 1,25. Die Dämonen sollen nicht verraten, wer Jesus ist (Mk 1,34). Die bösen Dämonen werden zum Schweigen gebracht, weil sie weder fähig sind, sich zum Guten zu verändern und von sich aus den Menschen zu dienen und sie zu heilen, noch kompetent sind, den Menschen die richtige Einsicht über Jesu Wesen zu vermitteln und mit ihnen den gemeinsamen Weg zum Kreuz als neuer Lebenspraxis zu gehen. Die Dämonie als Fremdbestimmung kann mit ihren zutreffenden Bekenntnissen (»Heiliger Gottes« Mk 1,24; »Sohn Gottes« Mk 3,11; 5,7) nicht akzeptiert werden, sondern muss ständig aufgedeckt und abgebaut werden. Denn die verobjektivierten Bekenntnisse ohne Glauben isolieren einen vordergrün195

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

digen Aspekt eines Heilungsangebots und verhindern die Übernahme des gesamten Angebots Jesu. Dieser will nicht als omnipotenter Arzt, Prophet und Herrscher gepriesen werden, der er nicht ist, sondern er will das Unheilige mit Hilfe des Vertrauensglaubens der Kranken an ihn vernichten (von Bendemann 2007; Eibisch 2009). Die Dämonie lässt sich existentialtheologisch und sozialpsychologisch als Verdinglichung des Glaubens interpretieren. Der Glaube an böse Dämonen unterdrückt die Menschen und versetzt sie in Angst vor dunklen, unbezwingbaren Mächten in sich selbst und in der Welt. Jesus sucht nach den Heilungen wieder wie nach der Einsetzung zum Sohn Gottes die Einsamkeit auf (Mk 1,12 f.), um im Gebet den singulären Dialog mit Gott, dem Vater, zu führen (Mk 1,35-39). Jünger und Anhänger eilen ihm nach; Simon Petrus übernimmt zum ersten Mal die Führungsrolle und richtet an Jesus den Vorwurf, dass sein Rückzug in die Einsamkeit nicht verständlich sei, sondern die Suche aller nach ihm ausgelöst hat. Jesus deckt diese Suche als Missverständnis auf. Der Verkündigungsauftrag richtet sich auf ganz Galiläa und darüber hinaus auf die ganze Welt aus (Mk 13,10) und nicht nur auf Kafarnaum. Der Abschluss des Gesprächs ist der erste unselbstständige Sammelbericht: Mk 1,39. Jesus predigt in den Synagogen von ganz Galiläa und befreit ganz Galiläa von den Dämonen. Nach Josephus hat Galiläa 204 Dörfer und Städte (Flav. Jos. Vit. 235). Aufgrund der Fläche und Fruchtbarkeit lässt sich die Anzahl der Bevölkerung auf 150.000-200.000 Menschen schätzen (Bösen 1998, 58). Wenn Jesus an jedem Sabbat eine Synagoge aufsuchen würde, müsste er mehrere Jahre des öffentlichen Auftretens dafür benötigen. Der Evangelist eröffnet hier einen sehr langen, unbestimmten Zeitraum der ungestörten und erfolgreichen Verkündigung der angekommenen Königsherrschaft Gottes. Eigentlich dürfte es keine Beeinträchtigung geben, wenn nicht die unverständige Suche der Anhänger aus Kafarnaum ein Warnsignal für den Leser gesetzt hätte. So markiert der Rückzug in die Einsamkeit den Anfang des Fehlschlages des Programms Jesu. Der Dienst der Geheilten in seiner Nachfolge bleibt mit Ausnahme der Schwiegermutter des Petrus aus. Sie werden wieder in die Gewalt Satans zurückfallen (Mk 2,1-3,30; 15,8-15). Selbst Simon Petrus missversteht Jesus (Mk 1,36 f.). So bleibt Jesus als einziger Halt die Verbindung zu Gott. Aus dieser Rückbesinnung heraus gewinnt Jesus die Kraft, das Missverständnis zu überwinden und seine Tätigkeit über Kafarnaum hinaus auszuweiten. Aber er weiß, dass der anfanghafte Sieg über die Dämonen durch die negative Entscheidung der Hörer wieder eingeschränkt wird. Jesus scheitert am Kreuz durch die Menschen. In dem kleinen Kreis der Hörer aber, die sich für den Dienst in der Nachfolge entschieden haben, geht mit Missverständnissen die Gottesherrschaft machtvoll weiter (Schmidt 2010, 96-112). Ihre Macht muss den Unentschiedenen so lange verkündet werden (Mk 13,10), bis auch sie sich für Jesus bedingungslos entscheiden und ihm im Dienst nachfolgen. Die Woche voller Heil am See und in Kafarnaum endet mit einem Missverständnis, geht dann aber mit neuem Schwung für alle anderen Orte Galiläas weiter.

Weitere Wunder für ganz Galiläa, das Wundermissverständnis der Menschen und das Schweigegebot Mk 1,40-45 Eine einzige Heilungsgeschichte kennzeichnet Jesu ungestörtes, lehrendes, erstes Wandern durch Galiläa bis zum ersten Zusammenstoß mit seinen Gegnern (Mk 1,40-45; 2,1-3,6). 196

Hinführung

In Mk 1,42 wird die Krankheit als eine Kraft angesehen. Sie »geht von einem Menschen fort«. Der Übergang vom Erbarmen zum Erzürnen Jesu in V. 43 ist krass, aber unterstreicht die Bedeutung des anschließenden Schweigegebots. Jesus hat durch seine Heilungstat seinen göttlichen Auftrag geoffenbart. Losgelöst aber von seiner Verkündigung wird diese Tat zum Mirakel, verliert ihren Bezug zur Gottesherrschaft. Daher bedroht Jesus den Geheilten, um die Durchführung des Schweigegebots zu erreichen. Den geheilten Bartimäus dagegen, der Jesus nachfolgt, trifft nicht das Schweigegebot, weil er den Umkehrruf verwirklicht, die Heilung also in den richtigen Kontext stellt (Mk 10,46-52). Dieses Schweigegebot ist kein Verstummungsbefehl wie bei den Dämonen, sondern ein Auftrag zur Geheimhaltung. Jesus will nicht als außergewöhnlicher Wundertäter und Magier propagiert werden, sondern als Verkünder der Königsherrschaft Gottes, die schon jetzt eschatologisch die durch Krankheit gestörte Schöpfung heilt (vgl. Plin. nat. 17,267; weitere Texte bei Theißen 1974, 144 f.). Der Geheilte hier muss zunächst noch in der kultischen Frömmigkeit verbleiben. Er lässt sich von Jesus zum Priester schicken, der seine kultische Reinheit zu bestätigen hat, damit der Geheilte wieder von der Gemeinschaft als »rein« aufgenommen werden kann. Der Geheilte zeigt den Priestern seine Reinheit an und gibt ihnen Zeugnis von dem Vorgang. So jedenfalls muss der Leser die Leerstelle ergänzen, wenn er dem Geheilten für das Folgende die wiederhergestellte soziale Kompetenz zuerkennen will, andere aufzusuchen und ihnen etwas mitzuteilen. Gerade dieser Kontakt war ihm ja aufgrund des Aussatzes untersagt gewesen. Aber dieses Zeugnis wird dem Geheilten zum Selbstzweck. Gegen den Befehl Jesu verkündet er überall seine wunderbare Heilung und weckt damit falsche Erwartungen gegenüber Jesus. Die Tat Jesu findet nicht die erforderliche Nachfolge, sondern führt zum Missverständnis. Daher muss Jesus sich verbergen, ohne damit aber Erfolg zu haben; denn von überall strömt man zu ihm wie zuvor in Kafarnaum mit den unzureichenden Erwartungen auf unbegrenzt anhaltende, politisch machtvolle Wundertätigkeit. Das Schweigegebot für die Menschen findet sich auch noch in drei weiteren Heilungswundern: Mk 5,21-24a.35-43; 7,31-37; 8,22-26. Auch hier muss es jeweils den Zustrom der Menge aufgrund falscher Erwartungen verhindern und hat dieselbe Grenzfunktion im Hinblick auf ein Missverstehen der Wunder. Allerdings wird diese Grenze ständig übertreten.

Vertrauensglaube, Übertretung des Schweigegebots und die Sammelberichte Jesus wird in seiner Verkündigung und in seinen Taten als Wundertäter in ganz Galiläa und in den angrenzenden Gebieten offenbar. Daraus entstehen Konflikte. Die Heilung eines Gelähmten leitet den ersten Konflikt mit den Schriftgelehrten ein (Mk 2,1-12), eine weitere Heilung am Sabbat schließt die fünf galiläischen Streitgespräche mit Schriftgelehrten und Pharisäern ab (Mk 3,1-6). Die gebildeten Zeitgenossen einschließlich der Kernfamilie Jesu missverstehen die Wundervollmacht Jesu als das Werk der Dämonen und des Satans (Mk 3,20-35); der eigentliche Streitpunkt der Konflikte geht allerdings nicht über die Wunder, sondern über die neue Gesetzesauslegung Jesu mit der Vollmacht der angebrochenen Königsherrschaft Gottes (Mk 11,15-33). 197

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Das Volk erkennt ebenfalls nicht den symbolischen Offenbarungsgehalt der Wunder, so dass Jesus einigen Geheilten Schweigen auferlegt. Doch das Volk hat wenigstens einen Vertrauensglauben entwickelt. Das Schweigegebot muss daher von den Geheilten übertreten werden, auch wenn die Einsicht in die Notwendigkeit des Leidens des Wundertäters noch fehlt. Das unverständige, aber notwendige Übertreten sorgt für die vertrauensvolle, weitreichende Werbung für den Wundertäter (Koch 1975, 180-193). Alle Geheilten und das Volk erhalten durch die Übertretung die Chance, durch bedingungslose Nachfolge bis zum Kreuz vom Vertrauensglauben zum Bekenntnisglauben zu gelangen (Söding 1987, 251-280; Dormeyer 2002, 207-229). Jesus hat allerdings nicht alle Menschen geheilt, sondern nur eine begrenzte Zahl. Die Heilungen dienen als Symbole der verheißenen Herrschaft Gottes. Nach deren Ankunft beginnt der kosmische Friede wieder zu entstehen, werden die Krankheiten geheilt, wird die menschliche Gesellschaft nach dem Prinzip der Gottes- und Nächstenliebe strukturiert (Yarbro-Collins 1992, 39-72). Insbesondere die zwei folgenden Sammelberichte zeigen an, dass die Heilungen Jesu lange Zeit für Galiläa, Judäa und die heidnische Umgebung ein umfassendes Angebot bleiben (Mk 3,7-12; 6,53-56; Becker 2010). Nach dem Sammelbericht Mk 3,7-12 strömen viele Menschen aus Judäa mit der Hauptstadt Jerusalem und dem südlichen Teil Idumäa, aus Peräa, d. i. das Ostjordanland, das zum Herrschaftsgebiet des Tetrarchen von Galiläa, Herodes Antipas, gehört, und aus dem Gebiet der südphönizischen Küstenstädte Tyrus und Sidon nach Galiläa zu Jesus. Später wandert Jesus in das Gebiet des Südlibanon (Mk 7,24-31). Für den Evangelisten gehört dieses Gebiet zum Einzugsbereich der Verkündigung des Evangeliums in Galiläa (Mk 1,14 f.; Freyne 2005, 60-92). Die Betonung der Menge der Kranken in den Sammelberichten (Mk 1,32-34.39) wird so gesteigert. »Alle, die Krankheiten haben«, drängen sich aus ganz Palästina und Cölesyrien an Jesus heran, um ihn zu berühren (Mk 3,10). Aus der vertrauensvollen Bitte der einzelnen Kranken in den Therapien und Exorzismen wird jetzt ein bedrohlicher Massenauflauf, so dass Jesus auf ein Boot ausweichen muss. Das Wunderunverständnis der Menge steigert sich zu der Sucht, durch magisches Berühren des Wundertäters Heilung zu erlangen. Das gegnerische Missverständnis Jesu als dämonischer Magier (Mk 3,22-30) droht auf das Volk überzugreifen. Der Erfolg der Wunder tritt zwar ein, indem »viele«, die hier wieder »alle« meinen (vgl. Mk 1,32-34; 6,56), geheilt werden; doch es bleibt eine offene Leerstelle, ob die Heilung ein Berühren voraussetzt. Der Leser der nachfolgenden Einzelgeschichten wird nur bei der Heilung der blutflüssigen Frau einen Zusammenhang zwischen Berühren Jesu und Heilung erkennen können (Mk 5,24-30). Und das Nachfragen Jesu macht dort deutlich, dass das Heilen auch von seinem Zuspruch abhängt (Mk 6,56). Der Sammelbericht schließt mit dem Schweigegebot an die Dämonen ab (V. 11 f.). Auch hier muss der Leser ergänzen, dass Jesus die Dämonen ausgetrieben und die Besessenen geheilt hat. Zwischen den selbstständigen Sammelberichten (Mk 3,7-12 und 6,53-56) stehen sechs Wundergeschichten, die in zwei Blöcke zusammengelegt sind: Mk 4,35-41; 5,120.21-24.35-43.25-34 und Mk 6,30-44.45-52. Das angebrochene Heil der Königsherrschaft Gottes wird erweitert für den Bereich der Natur (Mk 4,35-41: Sturm auf dem See; 6,30-44: Speisung der Fünftausend; 6,45-52: Gang Jesu auf dem Wasser und Sturmstillung), für die Welt der Völker (Mk 5,1-20: Exorzismus in Gerasa), für den Bereich des Todes (Mk 5,21-24.35-43: Erweckung der Tochter des Jaïrus), für eine permanent kultisch unreine Frau (Mk 5,21-24.25-34). 198

Hinführung

Außerdem sind die unselbstständigen Sammelberichte 5 (Mk 6,5) und 6 (Mk 6,13) eingefügt worden. Sammelbericht 5 zeigt den Unglauben des Heimatortes Jesu an (Mk 6,1-6). Es fragten die Nazarener beim öffentlichen Auftreten Jesu in der Synagoge erstens nach seiner Weisheit (sofffla sophia) und zweitens nach seinen Wundertaten (dun€mei@ dynameis, Mk 6,2). Im Kontext des gesamten Neuen Testaments und Alten Testaments erhalten die beiden Fragen ihre zeitgeschichtliche Bedeutungsauffüllung. Kommt die Fähigkeit zum Wundertun eventuell von Beelzebul, dem obersten der Dämonen? – so fragten bereits die Schriftgelehrten aus Jerusalem (Mk 3,22). Kommt die Weisheit eventuell auch von Dämonen als magisches Wissen? (Apg 8,13-25) – so fragte die Familie (Mk 3,20 f.). Die dritte Frage liefert dann die Begründung für die aufkommenden Zweifel, ist also lediglich eine rhetorische Scheinfrage: »Ist er nicht der Bauhandwerker, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?« – deren Namen Nazarener, nachösterliche Tradition und Evangelist leider nicht für so bedeutungsvoll halten, dass sie sie erwähnen (Mk 6,3). Jesus antwortet nicht direkt auf die einzelnen Vorwürfe. Mit Grund. Denn magische Weisheit verwendet Geheimwissen, hält den Beobachter und Hörer draußen, verweigert ihm die Teilhabe (Kollmann 1996, 61-118). Jesu Weisheit ist das Gegenteil: kreative Weiterführung der alttestamentlichen Offenbarung, Heilungen und Exorzismen in der Öffentlichkeit, diskussionsfreudige Gesprächsrunden wie die vorrabbinische Weisheitslehre, schulbildende Lehre wie die des alttestamentlichen Weisheitslehrers Jesus Sirach (Sir 38,24-38; 51,2330). So konfrontiert Jesus die Nazarener mit einem Gegenvorwurf. Er bezeichnet sich als Prophet und hält ihnen die Missachtung seiner umfassenden Ausübung von Prophetie vor (Mk 6,4). Jesus hält wie Elija Weisheitslehre, Wundertätigkeit und Prophetie bewusst nicht auseinander. In der eschatologischen Zeit der Gottesherrschaft verschmelzen diese Heilsfähigkeiten in ihm zu einem einzigen Konzept zur Heilung aller Menschen. Die Nazarener nehmen auch nicht an dieser komplexen Rollenvermischung Anstoß, sondern daran, dass Jesus diese Rollen beansprucht. Der universale Anspruch Jesu wird aber von den Nazarenern, vom Landesherrn Herodes Antipas (Mk 6,14-16) sowie von den gesamten antiken Stadtherrschaften missverstanden. Wer den anderen als Mitbürger nicht in seiner Entwicklung freigeben will, kann auch selber von der Entwicklung des anderen nicht profitieren. Jesus kann daher den Nazarenern keine Wunder zukommen lassen (Mk 6,5). Doch es handelt sich bei dieser Enthaltsamkeit nicht um die Rache des gekränkten Propheten, sondern um die Folge des Unglaubens. Der Unglaube in Nazaret ist jedoch nicht total. Einige vermögen sich aus dem undifferenzierten Chor der Verweigerer herauszulösen. Sie erkennen Jesu neue Fähigkeiten an und bringen ihm Vertrauen entgegen. So kann er ihnen die Hände auflegen und sie heilen. Auch Nazaret hat wie das übrige Galiläa und später Jerusalem seine Chance zur Veränderung, zur Umkehr nicht völlig vertan. Der Sammelbericht Mk 6,13 bringt den Erfolg der Wundervollmacht der Jünger. Sie hatten bereits bei ihrer Berufung die Vollmacht erhalten, »Dämonen auszutreiben« (Mk 3,15). Bei der Aussendung (Mk 6,7-13) wird diese Vollmacht erneuert. Nun dürfen sie von ihr Gebrauch machen und haben vollen Erfolg. Die Vollmacht zum Exorzismus wird noch ergänzt um die Vollmacht zur Heilung von Kranken. Die Salbung mit Öl wird zusätzlich als Unterstützung angegeben. Nach Ostern werden die Jünger die Wundervollmacht Jesu weiterführen. »Speziell die Erwähnung von Öl als Heilmittel deutet darauf hin, daß christliche Wundertäter neben magischen Dämonenaustreibungskenntnissen 199

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

auch über pharmakologisch-medizinische Fertigkeiten verfügten und sich dabei vermutlich bestimmter Heilmittellehren der Antike bedienten« (Kollmann 1996, 319). Der selbstständige Sammelbericht Mk 6,53-56 steigert noch einmal das Berühren Jesu. Die Menschen strömen mit ihren Kranken weiter zu ihm und bitten ihn, dass die Kranken »wenigstens den Saum seines Gewandes berühren zu dürfen« (V. 55 f.). Jesus erlaubt hier die Berührung und heilt »alle«, die ihn berühren. Im Nachtrag zur Einzelgeschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau bedeutet die Berührung die Somatisierung des Vertrauensglaubens, aber keine magische Kausaltechnik. Die weiteren Wundergeschichten zeigen, dass das Berühren keine Vorbedingung für die Heilung ist, sondern allein der Vertrauensglaube die Heilung ermöglicht. Bis zur Mitte des Markusevangeliums (Mk 8,27) folgen noch vier Wundergeschichten, von denen die ersten drei als Block in heidnischem Gebiet stattfinden und das Thema vom Heil für die Völker vertiefen (Mk 7,24-30.31-37; 8,1-10). Es schließt sich ein Streitgespräch der Pharisäer über ein »Zeichen (shme…on se¯meion) vom Himmel« an (Mk 8,10-12). Sie fordern von Jesus ein eindeutiges, apokalyptisches, kosmisches Zeichen (Mk 13,4). Es soll Jesu Wundervollmacht beweisen, ohne seiner Botschaft von der angebrochenen Königsherrschaft Gottes vertrauen zu müssen. Jesus weist diese Forderung als Unglauben zurück und gibt kein Zeichen. Umgekehrt gilt, dass nicht jede Wundertat und jedes kosmische Zeichen auf eine christologische Vollmacht zurückgehen müssen, sondern verführerische Werke von Pseudopropheten und -christussen sein können (Mk 13,22). Die vierte Wundergeschichte, eine Blindenheilung, ereignet sich in der Grenzstadt Betsaida der überwiegend heidnischen Tetrarchie des Philippus; sie bildet den Abschluss des galiläischen Hauptteils (Mk 8,22-26). Diese Blindenheilung bringt symbolisch die ambivalente Wirkung der Wunder- und Lehrtätigkeit Jesu zum Ausdruck und bereitet mit ihrer symbolischen Dimension auf den Mittelteil vor (Mk 8,22-26). Noch sind Jünger und Volk mit Blindheit über den wahren Weg Jesu ans Kreuz geschlagen, gleichzeitig vertrauen sie Jesus bedingungslos (Mk 8,27-33.34; van Iersel 1993, 167-185; Fritzen 2008, 271-276). Die heilende Wundertätigkeit hat im öffentlichen Wirken Jesu in Galiläa (Mk 1,168,26) mit insgesamt 15 Wundergeschichten ihren Höhepunkt. Der Mittelteil, der Gang nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52), schließt sich mit zwei didaktisch ausgerichteten Wundern an (Mk 9,14-29; 10,46-52). Die Heilung des besessenen Jungen bringt eine intensive Diskussion über den Vertrauensglauben (Mk 9,14-29). Der Glaube bedarf des Vertrauens vonseiten des Menschen; dieses bleibt aber ständig bedroht (Mk 9,24). Die Unbedingtheit und Festigkeit des Vertrauensglaubens an Gott und seine Macht bleiben ein Geschenk Gottes (Mk 11,20-25). Er bewirkt letztlich, dass in Jesu Wunderheilungen und Exorzismen seine angebrochene Königsherrschaft erkannt und geglaubt wird. Es folgt das Schulgespräch über den »unbefugten Wundertäter« (Mk 9,38-41). Die Leserperspektive wird auf die jüdische Umwelt gelenkt, in der ebenfalls Wundertäter wirkten (vgl. QLk 11,19). Jesus erlaubt ihnen, ohne Nachfolge und Bekenntnis Dämonenaustreibungen in seinem Namen zu vollziehen (Mk 9,39). Es reicht aus, den christologischen Anspruch des Wundertäters Jesus und den Glauben seiner Anhänger zu respektieren (Mk 9,40 f.). Der Leser ist aufgefordert, sich von den Wundertaten im Namen Jesu entweder in den Vertrauensglauben des Volkes eingliedern zu lassen oder gar sich in den offenen Jüngerinnen- und Jüngerkreis berufen zu lassen. Eine zweite Blindenheilung (Mk 10,46-52) bereitet auf den 200

Hinführung

Schlussteil des Evangeliums (Mk 11,1-15,47) vor. Zur Nachfolge Jesu bedarf es der Öffnung der Blindheit des Unglaubens (Trummer 1998, 91-103). Insgesamt versinnbildlichen die neun Heilwunder, vier Dämonenaustreibungen und fünf Naturwunder die eschatologische Fülle, die Jesu wirkmächtige Verkündigung der Gottesherrschaft bringt. Im Schlussteil erneuert Jesus nicht mehr das Wunder-Angebot für Jerusalem. Lediglich das fünfte Naturwunder, die Verdorrung eines Feigenbaums, findet vor den Jüngern statt (Mk 11,12-14). Dieses Naturwunder löst aber keine heilende, sondern eine drohende Symbolik aus, die nur für die Jünger erkennbar ist (Mk 11,20-25). Jesus kann in Jerusalem nicht mehr heilen, weil Jerusalem im Unterschied zu Galiläa den Vertrauensglauben an Jesu anfanghafte Realisierung der Königsherrschaft Gottes nicht aufzubringen vermag. Wie die gewalttätigen Weinbergpächter die Pacht verweigern (Mk 12,1-12), verdorrt der Feigenbaum als Symbol für die nicht zur Umkehr bereiten jüdischen Führer. Sie bleiben blind und taub gegenüber dem sichtbaren Anfang der Königsherrschaft Gottes (Mk 4,10-12; 12,10 f.) und verhindern so die Umkehr Jerusalems zu Jesus. Das Volk, das sich nach der Verhaftung Jesu von ihm abwendet (Mk 15,8), verspottet gemeinsam mit den jüdischen Führern den Gekreuzigten mit der Aufforderung zur Selbsthilfe durch das Wunder des Herabsteigens vom Kreuz (Mk 15,29-32). Jesus verweigert aber im gesamten Evangelium eine Selbsthilfe durch Wunder. So erleidet er ohne Gebrauch seiner Wundervollmacht den Kreuzestod. Einer der Gegner, der römische Leiter des Hinrichtungskommandos, findet dagegen als Erster zum öffentlichen Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu. Aufgrund seiner gesamten Praxis war Jesus der Sohn Gottes (Mk 15,39). Die christologische Grenze für das Wundergeheimnis entfällt jetzt. Wer den Weg Jesu bis zum Kreuz mitgeht und den gekreuzigten Jesus als Sohn Gottes bekennt, vermag die Wunder richtig zu verstehen und als Repräsentation der angebrochenen Königsherrschaft Gottes öffentlich zu verkünden. Die Herrlichkeit der Wunder und der schimpfliche Kreuzestod gehören in paradoxer Weise zusammen. Für die Dämonen bleibt aber das Schweigegebot bestehen, weil sie zur Umkehr unfähige übermenschliche Kräfte sind und ihr übermenschliches Wissen auch nach Ostern mit Verstummen und Vertreiben ferngehalten werden muss (Mk 9,28 f.; Apg 8,6 f.; 16,16-18; 19,11 f.). Für das Auftreten Jesu als Wundertäter und Christus gibt es eine Parallele in der griechisch-römischen Herrscherpropaganda. Seit Augustus richteten sich die Hoffnungen der römisch-griechischen Welt auf den regierenden Kaiser, er möge die Gesundheit und den Frieden des Reiches, das sind salus und pax romana, bewahren und für alle erfahrbar machen. Parallel zur Abfassungszeit des Markusevangeliums betätigte sich der neue römische Kaiser Vespasian (69-79), der Sieger des Bürgerkriegs 68-69 n. Chr., als Wundertäter. Er ließ sich in Alexandrien von seinen Freunden und von den ägyptischen Serapis-Priestern bereden, seine Erwählung zum Kaiser/Cäsar, die die Angliederung seiner Familie an die Familie seiner vergöttlichten Vorgänger (Cäsaren) bedeutet, durch charismatische Wundertaten zu legitimieren (Theißen 1999; Kügler 1997, 169-173; Ebner/Schreiber 2008, 176 f.). Doch nur Jesus von Nazaret und nicht die römischen Cäsaren vermag in seinen Wundertaten die Herrschaft des einen Gottes anbrechen zu lassen. Der mit Wunderkraft bevollmächtigte Jesus Christus wird zum kritischen Gegenbild der politischen Herrscher mit vorgetäuschtem Wundercharisma (Haehling 2008).

Detlev Dormeyer 201

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Grundlegende Literatur zu den Wundererzählungen im Markusevangelium E.-M. Becker, Die markinischen Summarien – ein literarischer und theologischer Schlüssel zu Markus 1-6, NTS 56 (2010), 452-474. R. v. Bendemann, Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums, in: J. Pichler/C. Heil (Hg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 105-130; erweiterte Fassung: Christus der Arzt. Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums (Teil I) BZ 54/1 (2010), 36-53; (Teil II) BZ 54/2 (2010), 162-178. B. L. Blackburn, Theios ane¯r and the Markan miracle traditions. A critique of the theios ane¯r concept as an interpretative background of the miracle traditions used by Mark, WUNT 2/40, Tübingen 1991. E. K. Broadhead, Teaching with authority. Miracles and christology in the Gospel of Mark, JSNT.S 74, Sheffield 1992. W. J. Cotter, The Christ of the Miracle Stories. Portrait through Encounter, Grand Rapids 2010. D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 22002. T. Dwyer, The motif of wonder in the gospel of Mark, JSNT.S 128, Sheffield 1996. F. Eibisch, Dein Glaube hat dir geholfen. Heilungsgeschichten des Markusevangeliums als paradigmatische Erzählungen und ihre Bedeutung für diakonisches Handeln, RThSt 4, Reutlingen 2009. R. M. Fink, Die Botschaft des heilenden Handelns Jesu. Untersuchung der dreizehn exemplarischen Berichte von Jesu heilendem Handeln im Markusevangelium, SThSt 15, Innsbruck 2000. W. Kahl, Neutestamentliche Wunder als Verfahren des In-Ordnung-Bringens, Interkulturelle Theologie 37/1 (2011), 19-29. K. Kertelge, Die Wunder im Markusevangelium, StANT 23, München 1970. D. A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin 1975. A. Önnerfors, Antike Zaubersprüche. Zweisprachig, Stuttgart 1991. L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, SBB 5, Stuttgart 1974. K. M. Schmidt, Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptionskontexte des Markusevangeliums, StUNT / NTOA 74, Göttingen 2010. T. Söding, Glaube bei Markus. Glaube an das Evangelium, Gebetsglaube und Wunderglaube im Kontext der markinischen Basileiatheologie und Christologie, SBB 12, Stuttgart 1985. W. S. Suk, Die »reale« Welt in den Wundererzählungen des Markusevangeliums. Untersuchungen zu den Heilungen und Exorzismen Jesu, Diss. Kirchliche Hochschule Bethel, 2002. M. Tiwald, Von gesunden Kranken und kranken Gesunden … Rochierende Rollen im Markusevangelium, in: W. Grünstäudl/M. Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Behinderung – Theologie – Kirche 4, Stuttgart 2012, 81-97. G. van Oyen, Markan Miracle Stories in Historical Jesus Research, Redaction Criticism and Narrative Analysis, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte (Hg.), Wonders Never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment, London 2006, 87-99.

202

Wunder im Markusevangelium Nr.

Mk-Faden

Titel

Parallelstellen

1

1,21-28

Lk 4,33-36

2

1,29-31

3

1,32-34.39 1,40-45

Mächtig in Wort und Tat (Exorzismus in Kafarnaum) Fieberfrei auf dem Weg Jesu (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus) Summarium Nicht nur rein, auch gesund (Heilung eines Aussätzigen)

4

2,1-12

5

3,1-6

3,7-12 3,20 f.22-30

6

4,35-41

7

5,1-20

8

5,21-43

9

Mt 8,14 f.; Lk 4,38 f.

Mt 8,1-4; Lk 5,12-16; P.Egerton 2, Frgm. 1; P.Köln 255 Die Heilung eines Gelähmten und Mt 9,1-8; vieler Erstarrter Lk 5,17-26; (Die Heilung eines Gelähmten in Ka- Joh 5,1-18; farnaum) EvNik 6 Feiertagsarbeit? Mt 12,9-14; (Der Kranke mit der ›verdorrten Lk 6,6-11; Hand‹) EvNaz 4; EpAp 5,3 Summarium Der umstrittene Exorzist Q 11,14 f.17-22. (Jesu Macht über die bösen Geister) 24-26; Lk 11,14-23 Glaube in Seenot (Die Stillung des Sturms) Wessen Medium willst du sein? (Die Heilung des Besessenen von Gerasa) Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen (Die Tochter des Jaïrus und die blutflüssige Frau) Ablehnung Jesu in seiner Heimat Summarium Brot und Fisch bis zum Abwinken (Die Speisung der Fünftausend)

10

6,1-6 6,5.13 6,30-44

11

6,45-53

Vom Winde verweht (Jesu Erscheinen auf dem See)

6,53-56

Summarium

Mt 8,23-27; Lk 8,22-25 Mt 8,28-34; Lk 8,26-39; EpAp 5,9 f. Mt 9,18-26; Lk 8,40-56; EvNik 7; EpAp 5,4-7

Mt 14,13-21; Lk 9,10-17; Joh 6,1-15; ActJoh 93 Mt 14,22-33; Joh 6,16-25; EpAp 5,11

davon kommentiert im Kompendium Mk 1,21-28; Lk 4,33-36 Mk 1,29-31; Lk 4,38 f. Hinführung Mk Mk 1,40-45; P.Egerton 2, Frgm. 1

Mk 2,1-12; Lk 5,17-26; Joh 5,1-18 Mk 3,1-6; Mt 12,9-14; EvNaz 4 Hinführung Mk Hinführung Mk; Q 11,14 f.17-22. 24-26; Lk 11,14-23 Mk 4,35-41; Mt 8,23-27 Mk 5,1-20; Mt 8,28-34 Mk 5,21-43; Mt 9,18-26; Lk 8,40-56 Hinführung Mk Hinführung Mk Mk 6,30-44; Mt 14,13-21; Lk 9,10-17; Joh 6,1-15 Mk 6,45-53; Mt 14,22-33; Joh 6,16-25 Hinführung Mk

203

Die Wundererzählungen im Markusevangelium Nr.

Mk-Faden

Titel

Parallelstellen

12

7,24-30

Mt 15,21-28

13

7,31-37

14

8,1-10

15

8,10-12 8,22-26

16

9,14-29

Es ist genug für alle da! (Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin) Mit allen Sinnen leben! (Die Heilung eines Taubstummen) Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, es darf noch Fisch dazwischen sein (Die Speisung der Viertausend) Summarium (Zeichenforderung) Sehen und Verstehen (Die zweiphasige Heilung des namenlosen Blinden) Vermögen und Vertrauen, Dämonie und Exorzismus (Die Erzählung vom besessenen Jungen) Der fremde Wundertäter

Mt 20,29-34; Lk 18,35-43; Joh 9,1-41; EvNik 6 Mt 21,18-22

Lk 22,35

9,38-40 17

10,46-52

18

11,12-14.2025

Bedingungslose Nachfolge heilt Blindheit (Die Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho) Jesu Hunger nach Erfüllung der Zeit (Die Verfluchung des Feigenbaums)

15,29-32

Verspottung Jesu

204

davon kommentiert im Kompendium Mk 7,24-30; Mt 15,21-28

vgl. Mt 15,29-31

Mk 7,31-37

Mt 15,32-39

Mk 8,1-10



Hinführung Mk Mk 8,22-26

Mt 17,14-20(21); Lk 9,37-43a

Mk 9,14-29; Mt 17,14-20(21)

Lk 9,49 f.

Hinführung Mk Hinführung Lk Mk 10,46-52; Mt 20,29-34; Joh 9,1-41 Mk 11,12-14.2025; Mt 21,18-22 Hinführung Mk

Mächtig in Wort und Tat (Exorzismus in Kafarnaum) Mk 1,21-28 (21) Und sie gehen hinein nach Kafarnaum. Und sofort am Sabbat ging er in die Synagogenversammlung und lehrte. (22) Und sie gerieten außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten. (23) Und sofort war in ihrer Synagogenversammlung ein Mensch mit unreinem Geist, und er schrie auf (24) und sagte: »Was (ist zwischen) uns und dir, Jesus, Nazarener? Du kamst, uns zu vernichten!? Ich kenne dich, wer du bist, der Heilige Gottes.« (25) Und Jesus fuhr ihn an und sagte: »Verstumme und komm heraus aus ihm!« (26) Und der unreine Geist zerrte ihn, und mit lauter Stimme schreiend kam er aus ihm heraus. (27) Und sie erschraken alle, so dass sie sich untereinander befragten und sagten: »Was ist dies? Eine neue Lehre mit Vollmacht!? Und den unreinen Geistern befiehlt er, und sie gehorchen ihm.« (28) Und sein Ruf ging hinaus sofort überall in die ganze Umgegend Galiläas.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Erzählung in Mk 1,21-28 stellt eine äußerlich klar abgegrenzte narrative Einheit dar. Die voranstehende Berufungsszene ist mit der Notiz über die Nachfolge der beiden Zebedaiden (V. 20) inhaltlich abgeschlossen. Mehrere Indizien, nämlich der Ortswechsel vom See Gennesaret zur Synagogenversammlung in Kafarnaum, die Zeitangabe (am Sabbat) und das Auftreten neuer Erzählfiguren (Versammelte), markieren in V. 21 f. einen Neueinsatz, wenngleich aufgrund der nur indirekten Nennung Jesu und der Jünger mittels Proformen (V. 21) ein anaphorischer Bezug gegeben ist. In V. 28 bietet der Hinweis auf die Ausbreitung des Rufes Jesu in ganz Galiläa mit seinem Panoramablick einen klassischen Erzählschluss. Der neuerliche Ortswechsel in das Haus des Simon signalisiert in V. 29, dass eine neue Einheit beginnt. Insgesamt fügt sich der vorliegende Text einer größeren Erzählordnung ein, bei der einer eher privaten (Mk 1,16-20.29-31) jeweils eine öffentliche Begegnung mit Jesus (Mk 1,21-28.32-34) folgt. Mit Blick auf die innere Einheit fällt eine klare thematische Zweiteilung auf: Der eigentliche Exorzismusbericht beschränkt sich auf V. 23-28, während es in V. 21 f. allein um die Lehre Jesu geht. Dass der Exorzismusbericht in V. 23 mit derselben Wendung (»und sofort«) einsetzt wie die Lehrszene in V. 21, unterstreicht dessen eigenes Gewicht. Auch in narratologischer und grammatischer Hinsicht differieren die beiden Textpassagen. (1) In V. 21 f. wird die Handlung in komprimierter Form als szenisches Geschehnis dargeboten. Die Erzählzeit unterschreitet deutlich die erzählte Zeit. Die Mitteilungen über das Lehren Jesu erfolgen im Imperfekt. Die auftretenden Subjekte werden, wie bereits erwähnt, mittels Proformen nur indirekt benannt. Vom Handlungstyp her liegt eine Art »plot of revelation« (Marguerat/Bourquin 1999, 56 f.) vor: Auch wenn nicht die Er205

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

langung einer bestimmten Erkenntnis seitens der Hauptfigur im Fokus steht, geht es gleichwohl um die Gewinnung von Wissen über die Hauptfigur, markiert doch die Einsicht in die Vollmacht der Lehre Jesu den erzählerischen Wendepunkt. (2) Die Erzählung in V. 23-28 erscheint dagegen als episodisch geprägte Handlungssequenz. Aufgrund der direkten Rede nähern sich hier erzählte Zeit und Erzählzeit an. Der exorzistische Akt wird im Aorist erzählt, die agierenden Subjekte werden explizit benannt. Vom Handlungstyp her liegt ein »plot of resolution« (Marguerat/Bourquin 1999, 56 f.) vor: Der erzählerische Wendepunkt liegt in der konfliktlösenden Aktivität der Hauptfigur, nämlich der Exorzierung des Besessenen. Eine gewisse Inkohärenz besteht darin, dass die Zeugen direkt nach der Dämonenaustreibung in V. 27 seltsamerweise zunächst ihr Erstaunen über die vollmächtige Lehre Jesu bekunden, bevor sie auf den Exorzismus reagieren. Ungeachtet dessen besitzen die Verse aber einen klar strukturierten Aufbau. In drei syntaktisch weitgehend parallel konstruierten Erzählstücken (V. 23 f.; V. 25; V. 27), die durchweg in wörtliche Rede münden, der jeweils eine Redeeinleitung vorausgeht, die aus einem Verb (schreien, anfahren, erschrecken) und einer Partizipform von lffgw (lego¯ – sagen) besteht, treten zunächst der Besessene bzw. der unreine Geist, dann Jesus und schließlich die Versammelten in den erzählerischen Fokus. Zwischen dem zweiten und dem dritten Stück ist in V. 26 der Bericht über den exorzistischen Erfolg eingeschaltet. Es lässt sich festhalten, dass Mk 1,21-28 weitgehend stimmig komponiert ist. So sind die Lehrszene und der Exorzismusbericht über die Konstanz von Ort (Synagogenversammlung in Kafarnaum) und Zeit (Sabbat) miteinander verknüpft. Auch hinsichtlich der Personen besteht mit Blick auf Jesus und die Versammelten Konstanz. Zusätzlich verklammert sind die beiden Teile über den äußeren Rahmen, insofern der Aussage über das »Hineingehen« Jesu nach Kafarnaum in V. 21 als Gegenbewegung das »Herausgehen« des Rufes Jesu in die Gegend Galiläas in V. 28 entspricht. Eine interne Klammer (inclusio) bildet das Erstaunen über die vollmächtige Lehre Jesu in V. 22 und 27. Blickt man auf die Erzählfiguren, lässt sich überdies eine den Text insgesamt verbindende konzentrisch-chiastische Struktur erkennen (Iwe 1999, 23): A: Jesus kommt zur Synagogenversammlung und lehrt; B: Die Versammelten geraten außer sich; C: Der Besessene/unreine Geist tritt auf; D: Jesus konfrontiert den unreinen Geist; C’: Der unreine Geist fährt aus; B’: Die Versammelten erschrecken; A’: Jesu Ruf geht ins Umland. Narratologisch fällt weiterhin auf, dass die Erzählfiguren überwiegend als »flat characters« gezeichnet sind, die, wenn überhaupt, nur wenige, stark typisierte Charakterzüge aufweisen. So werden die Versammelten als Augenzeugen ganz auf die Reaktion des Erstaunens reduziert. Die Schriftgelehrten begegnen gar nur als Hintergrundfiguren, deren Erwähnung allein dazu dient, spätere Konflikte vorzubereiten. Der Person des Besessenen gehen jegliche individuelle Konturen ab, tritt doch nur der einwohnende unreine Geist als Handlungsträger auf. Als »round character«, d. h. als Figur mit ausgeprägten Charakterzügen, begegnet lediglich Jesus. Auf seine besondere Persönlichkeit deuten nicht nur die Aussagen des unreinen Geistes (V. 24), die Erzählung stellt insgesamt Jesu einzigartige Vollmacht in Wort und Tat als Wesenszug heraus. Das Gesamtprofil der Person Jesu wird indes erst im weiteren Erzählverlauf des Evangeliums greifbar, wobei auffällt, dass sich darin kaum widersprechende oder verändernde Züge finden, wie dies für »round characters« eigentlich typisch ist (Rhoads 1982, 418). Mit Blick auf den erzählerischen Schauplatz ist bemerkenswert, dass der Wortwechsel Jesu mit dem unreinen Geist das diesseitig-lokale Setting sprengt und für den kosmisch-transzendenten Raum öffnet. 206

Mächtig in Wort und Tat Mk 1,21-28

Der Hinweis auf das Gekommensein Jesu in V. 24 dürfte sich jedenfalls kaum auf Jesu Herkunft aus Nazaret oder seine Ankunft in der Synagogenversammlung beziehen, sondern seine göttliche Sendung anzeigen (Gathercole 2006, 150-152). Ebenso markiert die Wir-Form der Äußerung des Dämons in V. 24 wohl nicht die Gemeinschaft des unreinen Geistes mit dem besessenen Mann oder den Versammelten, vielmehr dürfte sie auf die dämonische Welt weisen (Iwe 1999, 74). Ob die Vernichtungsaussage als Frage (Marcus 2000, 188) oder Feststellung (Hooker 1991, 64) zu nehmen ist, lässt sich nicht sicher entscheiden. In pragmatischer Hinsicht sind zahlreiche erzählerische Leerstellen zu notieren, deren Füllungen den Rezipienten obliegt: Fielen Jesu Ankunft in Kafarnaum und sein Besuch der Synagogenversammlung auf den selben Tag? Was lehrte Jesus dort? Wie drückten die Versammelten ihr Erstaunen aus? Wer war der Besessene und was passierte mit ihm nach dem Exorzismus? Staunten auch die Jünger über Jesus? Sollten sie als Zeugen des Geschehens gar auf ihre eigene exorzistische Praxis vorbereitet werden (Mk 3,15), um dergestalt als Vorbild für Exorzismen in der mk Gemeinde zu fungieren (Iwe 1999, 41.57; Twelftree 2007a, 101-128)? V. a. aber liegt es an den Rezipienten, die diversen Rollen Jesu als Lehrer, Exorzist, Heiliger Gottes zu integrieren und mit der bereits in 1,1 ausgewiesenen Identität als Messias und Gottessohn zu korrelieren. Zusammen mit dem fragenden Staunen der Zeugen baut sich hier bezüglich Jesu Identität eine Rätselspannung auf, die das gesamte Evangelium durchzieht. Darin deutet sich an, dass die Erzählung im Markusevangelium programmatische Bedeutung hat. Nicht von ungefähr begegnen hier viele Schlüsselbegriffe der mk Jesusdarstellung zum ersten Mal (Überblick bei Iwe 1999, 28 f.), ebenso jene typische Figurenkonstellation, bestehend aus Jesus (samt Jüngern), ins Erstaunen geratenden Menschen und schriftgelehrten Kontrahenten, die Jesu Agieren im Evangelium immer wieder rahmt (Iwe 1999, 273-316).

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Das am Nordwestufer des See Gennesarets gelegene Kafarnaum wurde im 19. Jh. archäologisch identifiziert und seit Ende der 1960er Jahre in mehreren Grabungen systematisch erschlossen (Jensen 2006, 169 f. mit Anm. 154). Während Josephus den Ort als Dorf (kwmffi ko¯me¯) bezeichnet (vit. 403), erscheint er in den Evangelien als pli@ (polis; Mk 1,33; Mt 9,1; 11,20; Lk 4,31). Der Begriff pli@ (polis) wird im Neuen Testament jedoch uneinheitlich gebraucht und kann auch für dörfliche Ansiedlungen stehen (vgl. Joh 7,42 mit Lk 2,4.11 zu Betlehem). In der archäologischen Forschung reduziert man die unter der Annahme einer Siedlungsfläche von 30 ha ehedem errechnete antike Einwohnerzahl von 12-15 000 (oder gar 25 000) Menschen inzwischen auf 600-1500 Einwohner, die sich auf eine Fläche von 6-10 ha verteilten (Claußen 2008, 238). Bei den Grabungen wurden keine Stadtmauern, imposanten Gebäude oder Fassaden, gepflasterte Straßen, Inschriften oder Luxusgüter gefunden; die meist einräumigen Innenhofhäuser der fraglichen Zeit waren einfacher Bauart (Crossan/Reed 2003, 103-111). Unklar ist, ob der Basaltfußboden, der unterhalb einer prächtigen, aus dem 4./ 5. Jh. stammenden Kalksteinsynagoge liegt, zusammen mit einigen Basaltwandresten als Relikt der in Mk 1,21; Lk 4,33; 7,5; Joh 6,59 erwähnten Synagoge zu identifizieren ist. Der Begriff sunagwgffi (synago¯ge¯) muss jedoch nicht zwingend ein Synagogengebäude 207

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

bezeichnen, er kann auch für die (Gemeinde-)Versammlung, also eine Menschenschar, stehen (Apg 13,43). In Lk 7,5 ist indes explizit von der Stiftung eines Baus durch einen Hauptmann – der römischer Soldat oder Beamter des Herodes Antipas gewesen sein mag – die Rede. Einige Forscher leiten aus diesem literarischen und dem archäologischen Befund die Existenz eines großen Synagogengebäudes in Kafarnaum zur Zeit Jesu ab (Runesson/Binder/Olsson 2008, 29-32). Andere bleiben skeptisch, indem sie die genannten Basaltwände auf Häuser des 1. Jh. und die Notiz in Lk 7,5 auf eine Projektion des Lukas zurückführen (Crossan/Reed 2003, 116) oder allenfalls einen gepflasterten Versammlungsplatz für möglich erachten (Claußen 2008, 239). Letzte Sicherheit ist in der »Synagogenfrage« nicht zu gewinnen. Wie auch immer: Synagogenversammlungen dienten zumal der Schriftlesung, der Lehre und Diskussion (Claußen 2002, 213-218) und bildeten so den idealen Kontext für das Auftreten eines charismatischen Lehrers. Das sozioökonomische Profil Kafarnaums samt des Auskommens seiner Bewohner wird kontrovers diskutiert. Strittig ist v. a., ob der Ort an einem Arm der Via Maris, einer wichtigen Handelsroute, lag und davon wirtschaftlich profitierte (Charlesworth/Aviam 2008, 114-118; Duling 2000, 140 f.), ebenso, ob das in den 1980er Jahren entdeckte römische Badehaus statt ins 2. Jh. n. Chr. (Crossan/Reed 2003, 113) nicht doch in die Zeit vor 70 n. Chr. datiert (Charlesworth/Aviam 2008, 116). Vom archäologischen Gesamtbild her dürften die von Landwirtschaft und Fischerei lebenden Bewohner jedenfalls nicht allzu bemittelt gewesen sein (s. aber Jensen 2006, 172-175). Dazu scheint sich die klassische strukturfunktionalistische These zu fügen, nach der Besessenheit in vielen Kulturen ein schichtenspezifisches Phänomen ist, das v. a. bei Ausgebeuteten und Unterdrückten begegnet (Theißen 1990, 248). Doch ist hier Vorsicht geboten, da sich der soziale Status des in Mk 1 auftretenden Besessenen nicht bestimmen lässt. Auch die übrigen neutestamentlichen Berichte über Besessene (Überblick bei Strecker 2010) indizieren nicht eindeutig Unterschichtzugehörigkeit oder, wie dies der strukturfunktionalistische Ansatz ebenfalls nahe legt (Lewis 1996, 43-74), eine Mehrzahl von Frauen.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Erzählung enthält viele geprägte Ausdrücke und Motive. Auffällig ist, dass Markus in V. 23.26.27 statt von einem Dämon (daimnion daimonion) von einem »unreinen Geist« (pne‰ma ⁄k€qarton pneuma akatharton) bzw. »unreinen Geistern« spricht. Auch wenn beide Begriffe im Evangelium austauschbar sind (3,15; 6,7.13; 7,25 f.), kommt dem Terminus »unreiner Geist« eigenes Gewicht zu. Blickt man auf das frühjüdische Zeugnis, wird ersichtlich, dass dabei nicht die Vorstellung leitend ist, ein Dämon würde unmittelbar Unreinheit auf Menschen transferieren. In der frühjüdischen Literatur (Jub, 1Hen) wurden unreine Geister vielmehr auf den getrennte Sphären vermischenden und darin unreinen Verkehr zwischen himmlischen und irdischen Wesen (Gen 6,1-4) zurückgeführt. Die Geister wurden mit Gefährdungen der religiösen Integrität Israels qua Exogamie und Götzendienst, mit Apostasie, Bedrohungen der religiösen Identität bei bestimmten Gruppen, aber auch mit ethisch unreinen Praktiken (Unzucht, Mord u. ä.) sowie physischem Leid assoziiert (Wahlen 2004, 24-67.171 f.). Man mag überlegen, ob die parallele Rahmung der Reinheitsdebatte in Mk 7,1-12 durch Exorzismen an jüdischen (1,21-28; 9,14-29) und nichtjüdischen Personen (5,1-20; 7,24-30) signalisiert, 208

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dass Reinheit für Markus nun in der Juden und Nichtjuden integrierenden Beziehung zu Jesus gründet (Wahlen 2004, 69-107.172 f.). Bemerkenswert ist sodann, dass die Worte des unreinen Geistes (V. 24) Jesus implizit in die Reihe der charismatisch-prophetischen Figuren des Judentums stellen. Zum einen klingt darin nämlich die Elija-Tradition an, findet sich doch in 3Kön 17,18LXX, der Begegnung Elias mit der Witwe in Sarepta, eine vergleichbare Koppelung der Abwehrfrage »Was ist zwischen uns (bzw. mir) und dir« mit einer Aussage über das Gekommensein eines Mannes Gottes (vgl. 4Kön 4,9 LXX: Elischa als heiliger Mann Gottes). Zum anderen mag in der doppelten Anrede Jesu als »Nazarener« und »Heiliger Gottes« ein die Samson-Tradition aufnehmendes Wortspiel vorliegen (Mußner 1960), insofern die Bestimmung Samsons als Nasiräer in Ri 13,7 und 16,17LXX im Codex Alexandrinus mit nazira…o@ qeo‰ (naziraios theou – Nasiräer Gottes), im Codex Vaticanus indes mit ¿gio@ qeo‰ (hagios theou – Heiliger Gottes) wiedergegeben wird. Von daher lässt sich der phonetisch an »Nasiräer« anklingende Herkunftsname »Nazarener« in der Koppelung mit »Heiliger Gottes« als Anspielung auf Jesu besondere nasiräisch-charismatische Kraft verstehen. Als messianischer Titel ist »Heiliger Gottes« in der jüdischen Tradition nicht belegt (s. aber 1Q30: Gesalbter der Heiligkeit), lediglich Aaron erscheint in Ps 106,16 als »Heiliger des Herrn«; im Neuen Testament begegnet der Titel nur noch in Joh 6,69 (s. aber auch Lk 1,35; Apg 3,14; 4,27.30; 1Joh 2,20; Offb 3,7). »Heilig« markiert in jedem Fall die Separation vom Profanen, von Unreinheit und Sünde (vgl. Lev 20,24-26; 1QS 9,5-9) und damit den größtmöglichen Kontrast zu dem unreinen Geist. Zu weit dürfte die These gehen, wonach die Worte des unreinen Geistes einen gegen Jesus gerichteten Abwehrzauber darstellen (Bauernfeind 1927, 3-18; Pesch 1984, 122): Eine eindeutig magisch-exorzistische Bedeutung der eher rechtlich geprägten Abwehrfrage (tffl m…n ka½ soffl ti he¯min kai soi) ist sonst nicht belegt (sie fehlt auch in Philo Deus 138; s. Bächli 1977), die Formel »Ich kenne dich, wer du bist« taucht in den antiken Zauberpapyri nicht in exorzistischen Kontexten als von Dämonen gebrauchte Beschwörungsformel auf, und Namensnennungen begegnen als magisches Mittel von Exorzisten, nicht aber von Dämonen (Scholtissek 1992, 97-102; Koch 1975, 56-61). Dass Exorzist und Dämon mit gleichen Mitteln kämpften, entspricht aber durchaus der Logik von Exorzismen (Theißen 1990, 96 f.), doch ist diese in antiken Quellen nur schwer eindeutig verifizierbar (Scholtissek 1992, 102 f.). Uneinigkeit besteht überdies hinsichtlich der Bedeutung des Verstummungsbefehls (V. 25). Dass dieser, wie häufig postuliert, zur antiken Exorzismustopik gehörte, ist anzweifelbar, da sich die vermeintlich einschlägigen Belege auf Fluchtafeln (defixiones) finden (PGM 7,396.966; 9,4), deren Objekt nicht Dämonen, sondern Menschen waren, die zudem nicht zum Schweigen gebracht, sondern »gefesselt« (fimo‰n phimoun), d. h. gegen ihren Willen dämonisch gelenkt werden sollten (Kollmann 1991). Ob es sich bei dem Verstummungsbefehl stattdessen um eine Verwerfung des Dämons als unwürdigen Zeugen, um einen Verweis auf seine Vernichtung, um eine Abwehr seiner Aussagen über Jesu übermenschliche Würde oder um den Bestandteil einer Geheimnistheorie handelt, nach der Jesu Identität nicht zu Lebzeiten offenbar werden darf, da sie sich erst von Kreuz und Auferstehung her erschließt, bleibt strittig. Klarheit besteht aber hinsichtlich des traditionsgeschichtlichen Hintergrundes der Bedrohung des Dämons durch Jesus in V. 25a. Das Verb ¥pitim€w (epitimao¯) nimmt die hebr. Vokabel tpc (g‘r) auf, die in der alttestamentlich-jüdischen Literatur das Drohen JHWHs gegenüber den Chaosmächten (Ps 17,12), seinen Feinden (Ps 119,21), Satan 209

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

und den bösen Mächten markiert (Sach 3,2; 1QM 14,9 f.; 1QGenAp 20,28 f.). Jesus erscheint so als an Gottes statt agierender Dämonenbezwinger. Dazu fügt sich das Staunen über seine »Vollmacht«. Der markinische Gebrauch des Begriffs ¥xousffla (exousia) lässt sich indes nicht direkt aus der biblisch-jüdischen Tradition oder nichtjüdischen Quellen ableiten (Scholtissek 1992, 29-80.125-127). Die Verankerung der Vollmacht in Jesu Lehre und Handeln entspricht aber der antiken Wertschätzung einer Kongruenz von Wort und Tat. Von Homers Zeiten an galt die Einheit von Rede und Tat als erstrebenswertes Ideal, dessen Realisierung man zumal von Herrschern und Helden erwartete (Hom. Il. 9,443). So sagt Cyrus bei Herodot über Krösus, er habe sich »in Wort und Tat als ein königlicher Mann erwiesen« (1,90,1), Thukydides beschreibt Perikles als Mann »mächtig in Wort und Tat« (1,139,4) und Xenophon fordert die Harmonie von Rede und Tat für den Reiterführer (Hipp. 8,22; vgl. insgesamt Barck 1976; Parry 1981). Der beschriebene Befund ist Anlass für diverse Thesen zur Scheidung von Tradition und Redaktion (Scholtissek 1992, 88-93). Die Lehrszene (V. 21 f.) wird dabei i. d. R. als größtenteils redaktionelle Bildung des Evangelisten bestimmt und der Exorzismusbericht (V. 23-28) auf die Übernahme mündlicher Tradition zurückgeführt. Zahlreiche Einzelheiten sind jedoch umstritten, v. a. ob Markus in V. 27 das Syntagma »eine neue Lehre aus Vollmacht« einfügte und die voranstehende Frage, die mutmaßlich in der Tradition als Personfrage: »Wer ist dieser« (tffl@ ¥stin o˜to@ tis estin houtos) formuliert war, in die Sachfrage »Was ist dies« (tffl ¥stin to‰to ti estin touto) umwandelte (Pesch 1984, 188; anders Theißen 1990, 97). Strittig ist ebenso, ob V. 28 von Markus gebildet wurde (Koch 1975, 45 f.) oder – abgesehen von dem nachklappenden Genitiv t»@ Galilaffla@ (te¯s Galilaias) – dem Traditionsstück zugehörte (Kertelge 1970, 51).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Christologische Deutung: In der Perikope kommt der christologische Schwerpunkt des gesamten Evangeliums darin eindrücklich zum Ausdruck, dass hier nicht der Inhalt der Lehre oder das konkrete exorzistische Handeln Jesu, sondern die göttliche Identität seiner Person im Fokus steht, und dies in richtungsweisender Form. So findet sich in V. 24 das erste von insgesamt drei Zeugnissen eines sich am vollmächtigen Wirken Jesu festmachenden messianischen Wissens der Dämonen (vgl. 3,11; 5,7), dem dann in 8,31; 9,30-32 und 10,32-34 jene drei Weissagungen Jesu kontrastierend gegenübertreten, die seine Identität an Leid und Tod binden (Mittmann-Richert 2003, 486.489 f.). Zudem eröffnet die Frage in V. 27 einen ganzen Reigen vergleichbarer Fragen nach der Identität Jesu und entsprechender Antworten (4,41; 6,2 f.14-16; 8,27-30; 9,7; 10,47 f.; 14,61 f.; 15,39; vgl. Müller 1995). Hinzu kommt, dass hier paradigmatisch jene spezifische Koppelung von Titelchristologie und narrativer Christologie begegnet, die das Markusevangelium insgesamt prägt, weisen doch nicht nur die dämonischen Anreden Jesu als »Heiliger Gottes« und »Nazarener« (vgl. die Titelkombinationen in 1,1; 8,29.31; 14,61 f. u. ö.; s. Müller 1995, 143) auf Jesu besondere göttliche Identität, sondern ebenso nichttitulare christologische Indikatoren wie das Sendungs- (V. 24) und das Vollmachtsmotiv (V. 27 f.). Diese werden im Evangelium mehrfach neu aufgegriffen (Sendung: 1,38; 2,17; 10,45; 11,9 f.; 12,1-2; Vollmacht: 2,1-12.23-28; 11,27-12,12). Zudem fällt die offenkundige Differenz zwischen dem Wissen der Dämonen (V. 24) und dem Nichtwissen der 210

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Menschen (V. 27) auf. In ihr manifestiert sich jene für das Markusevangelium typische Spannung, die in der Forschung unter den Stichworten »Messiasgeheimnis« oder »Geheimnistheorie« diskutiert wird (Collins 2007, 170-172). Die christologische Bedeutung der Perikope offenbart sich in einigen weiteren Vernetzungen: So ist als Inhalt der in V. 22 genannten Lehre Jesu zweifellos die in 1,14 f. eingeführte zentrale Botschaft Jesu vom Anbruch der Basileia vorausgesetzt. Daraus erklärt sich die Bestürzung der Versammelten über die Neuheit und Vollmacht der Lehre (V. 22.27), zumal der Exorzismus den Anbruch der Basileia theatralisch vor Augen führt. Jesu exorzistischer Erfolg über den unreinen Geist gründet wiederum nicht zuletzt in seiner messianischen Geistausstattung in der Taufe (1,10), die sich zuvor bereits im Widerstand gegenüber den Versuchungen Satans bewährte (1,12 f.). Die in Mk 1,21-28 erstmals in Lehre und Tat öffentlich demonstrierte Vollmächtigkeit Jesu prägt maßgeblich auch sein weiteres Auftreten (2,10.28; 3,15; 6,7; 11,27-12,12; 13,34; s. Scholtissek 1992, 137). Dabei lässt sich ein kompositorischer Bogen von der Notiz über die Ausbreitung des Rufs Jesu in Galiläa in V. 28 hin zur Ankündigung der Begegnung mit dem Auferstandenen in Galiläa in 14,28; 16,7 erkennen. Dieser indiziert: »In der Exousia Jesu offenbart sich die in der Auferstehung unverrückbar bestätigte Messianität Jesu« (Scholtissek 1992, 119). Psychologische Deutungen konzentrieren sich auf die Besessenheitsschilderung und korrelieren sie mit psychischen Krankheitsbildern. So deutet Dieter Trunk das Auftreten des Besessenen in Mk 1,23 f. als Ausdruck latenter Aggressivität gegenüber dem Charisma und der religiösen Autorität des Umkehrpredigers Jesus. Vor dem Hintergrund jüngerer psychopathischer Angriffe auf Prominente erschließt er das Vorliegen einer BorderlineStörung (vgl. Trunk 1994, 206 f. mit Anm. 19). Gerd Theißen erblickt in dem theatralen Auftritt des Besessenen den verborgenen Hilferuf eines Histrionikers, einer Person, die mittels öffentlicher Aufmerksamkeit Zuwendung zu erlangen sucht. Auf dieser Linie deutet er das in Mk 1,34 formulierte Schweigegebot an Dämonen dann als eine im Dienst der Heilung stehende Abwehr der histrionischen Symptomatik (vgl. Theißen 2007b, 244 f.). Solche Deutungen, die Jesu Exorzismen letztlich als Therapien psychischer Erkrankungen fassen, ordnen das fremde Phänomen der Besessenheit zwar vertrauten medizinischen Denkmustern zu, doch sind sie angesichts der wenigen substanziellen Angaben im Text spekulativ. Retrospektive medizinische Diagnosen gelten als heikel (Potter 2005). Ferner gilt es zu sehen, dass Krankheit und Besessenheit in einigen Summarien über Jesu Wirken nicht einfach in eins gesetzt, sondern je für sich benannt werden (Mk 1,32.33; 3,10 f.; Lk 13,32). Die Berichte über Jesu Exorzismen und Therapien sind überdies als je eigenständige Gattungen mit unterschiedlicher Motivgestaltung voneinander abzuheben (Theißen 1990, 94-102). Soziopolitische Deutungen interpretieren das Auftreten der Besessenen und Jesu Exorzismen generell als politisch-symbolisches Protestverhalten bzw. als subversive Praxis sozial und ökonomisch Marginalisierter (Horsley 1987, 188-190; Hollenbach 1993; Guijarro 2002). Über die Jesusforschung hinaus wird dieser Deutungsansatz auch zur Erhellung der Erzählabsichten der Evangelisten herangezogen. So postuliert Ched Myers, Markus’ narrativer Strategie zufolge repräsentiere der unreine Geist in Mk 1,21-28 das schriftgelehrte Establishment. Der Exorzismus in der Synagoge bringe die Verwerfung dieses Establishments als einer die römische Herrschaft stützenden politischen und ideologischen Autorität zum Ausdruck, während dann der Exorzismus in Mk 5,1-20 die Autorität der militärischen Besatzung zurückweise (Myers 1988, 138.143.192-194). Her211

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

man Waetjen meint gar, mit dem Auftreten des Besessenen in der Synagoge zeige Markus an, dass die Synagoge eine dämonisch beherrschte, inhumane, oppressive Institution sei. Der Exorzismus Jesu bedeute dementsprechend die Befreiung eines jüdischen Individuums aus dieser Entmündigung bewirkenden Institution (Waetjen 1989, 81 f.). Ohne soziopolitische Implikationen des Textes rundweg zu negieren, ist die These Waetjens kaum zu halten, zeichnet sich doch das Markusevangelium sonst nicht durch explizite Synagogenkritik aus. Ebenso ist Myers Versuch, die Bedeutung des Exorzismus in Mk 1,21-28 an den nur als Hintergrundfiguren eingeführten und nicht explizit prorömisch gezeichneten Schriftgelehrten festzumachen, problematisch. Aus kulturanthropologischer Perspektive lassen sich die geschilderte Besessenheit und Jesu exorzistische Aktivität als wirklichkeitstransformierende Performanzen verstehen. Die Besessenheit wird hier zumal in auffälligen somatischen Akten greifbar: im lauten Schreien (V. 23.26) und in Spasmen (V. 26). Besessenheit wird dergestalt nicht so sehr als innere Lenkung, denn als in der phänomenalen Wirklichkeit, nämlich im Körpererleben des Betroffenen und in der Wahrnehmung der Versammlung gründendes Geschehen dargestellt. Anders gesagt: Das dämonisch Böse kommt in Mk 1,23-28 in der körperlichen Entstellung erlebbar zur Aufführung. Jesu exorzistische Reaktion durchbricht diese Wirklichkeit. Durch den Exorzismus weicht die dämonische Wirklichkeit jener neuen Wirklichkeit der Basileia Gottes, die als Inhalt der Lehre Jesu in V. 21 f. vorauszusetzen ist (s. o.). In dieser Transformation der »Wirklichkeit« manifestiert sich eindrücklich Jesu Vollmacht in Wort und Tat (vgl. insgesamt Strecker 2002).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Dem ersten szenisch ausgestalteten Auftritt Jesu coram publico kommt auch bei den beiden synoptischen Seitenreferenten eine Signalfunktion zu, dies allerdings mit jeweils anderen Inhalten: Matthäus eröffnet Jesu öffentliches Agieren mit der Bergpredigt (5,17,29), Lukas setzt mit der programmatischen Antrittspredigt in Nazaret ein (4,16-21). Beide akzentuieren dergestalt Jesu Profil als Lehrer und bauen dieses Motiv im Evangelium weiter aus. Auch Markus weist das Lehren in seinem Evangelium als wichtige Praxis Jesu aus (10,1 u. ö.; s. Müller 1995, 150-156), gibt aber in Mk 1,21-28 von Anfang an deutlich zu verstehen, dass Jesu Lehre nicht isoliert von seiner wunderwirkenden, exorzistischen Kraft zu betrachten ist (vgl. 1,39; s. Achtemeier 1980). Matthäus ignoriert Mk 1,21-28 dagegen ganz. Er drängt überhaupt exorzistische und magisch anmutende Motive zurück. Dies belegen die Kürzungen der Aussagen über Dämonen in Mt 8,16; 12,15 f. gegenüber Mk 1,34; 3,11 sowie die Auslassungen der thaumaturgischen Heilungen Mk 7,33-37 und 8,22-26. Von daher wollte Matthäus den öffentlichen Auftritt Jesu wohl auch nicht mit einem Exorzismus eröffnen (weitere Einzelheiten bei Trunk 1994, 201212, bes. 204). Lukas rezipiert Mk 1,21-28 in 4,31-37. Er verortet die Szene freilich nach Jesu Antrittspredigt in Nazaret (4,16-30) und nimmt u. a. folgende Änderungen vor: Geographisch korrekt spricht er vom »Hinabgehen« nach Kafarnaum. Jesu Lehre und Exorzismus verknüpft er noch enger als Mk, indem er in beiden Vollzügen den lgo@ (logos) als wesentlich markiert (V. 32.36). Die Schriftgelehrten werden ignoriert, zumal die Lehrkonflikte erst später ab 5,17 folgen. Die ungewöhnliche Bezeichnung »Geist eines unreinen Dämons« (V. 36) hebt die Differenz gegenüber dem zuvor bereits 14-mal er212

Mächtig in Wort und Tat Mk 1,21-28

wähnten Heiligen Geist explizit heraus (Klutz 2004, 44). Die in das Dämonenwort eingefügte Interjektion ˛a (ea, V. 34) lässt die Konfrontation mit Jesus noch plastischer werden. Zugleich reduziert Lukas die Gewalt der von ihm nun ostentativ »in die Mitte« gerückten Dämonenausfahrt, indem er betont, sie sei ohne Verletzung geschehen (V. 35). Anfang des 3. Jh. berichtet Philostrat (vit. ap. 4,20), Apollonius von Tyana sei bei einem Lehrvortrag in Athen durch das Lachen eines wegen seines ungewöhnlichen Verhaltens stadtbekannten Jünglings unterbrochen worden, woraufhin er ihn musterte und den alsbald aufschreienden Geist erfolgreich mittels Bedrohung und Ausfahrtbefehl exorzierte. Ob die Vita Apollonii durch die Evangelien beeinflusst ist, bleibt strittig (Meier 1994, 580.604 mit Anm. 23 f.). Angesichts der Gründung der exorzistischen Vollmacht Jesu in der baptismalen Geistgabe (s. o.) sei abschließend notiert, dass spätestens ab dem 2. Jh. n. Chr. exorzistische Elemente im Taufritual begegnen (Clem. Al. exc. Theod. 77.83 f.; vgl. Sorensen 2002, 10-17.209-214).

Christian Strecker Literatur zum Weiterlesen J. C. Iwe, Jesus in the Synagogue of Capernaum. The Pericope and Its Programmatic Character for the Gospel of Mark. An Exegetico-Theological Study of Mk 1:21-28, Rom 1999. P.-G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin et al. 2001, 216-222. P. Müller, »Wer ist dieser?« Jesus im Markusevangelium, BThS 27, Neukirchen-Vluyn 1995, 2132. C. Myers, Binding the Strong Man. A Political Reading of Mark’s Story of Jesus, Maryknoll 1988. K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen zu einem Leitmotiv markinischer Christologie, NTA 25, Münster 1992, 81-137.

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Fieberfrei auf dem Weg Jesu (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus) Mk 1,29-31 (Mt 8,14 f.) (29) Und sofort als sie aus der Synagoge hinausgingen, kamen sie in das Haus von Simon und Andreas (zusammen) mit Jakobus und Johannes. (30) Die Schwiegermutter Simons lag fiebernd danieder. Und sofort informieren sie ihn über sie. (31) Und als er herangetreten war, ergriff er die Hand und richtete sie auf. Und das Fieber verließ sie. Und sie diente ihnen.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Wundergeschichte in Mk 1,29-31, die mit der Schwiegermutter des Petrus die erste weibliche Erzählfigur innerhalb des Markusevangeliums präsentiert, führt die Leserinnen und Leser von der Synagoge in Kafarnaum (Mk 1,21-28) in ein Haus dieses Ortes. Hier wie dort erweist sich Jesus als wundertätiger und vollmächtiger (Mk 1,27) Heiler, der sich unterschiedslos Mann (in der Öffentlichkeit) und Frau (im privaten Raum) zuwendet. Die kurze Erzählung lässt sich in drei Teile gliedern: Die recht breite Einleitung in V. 29 f. – durch das zweimalige »und sofort« (ka½ e'qÐ@ kai euthys) in V. 29a.30b gerahmt – stellt alle Personen wie auch den Handlungsort vor. Zudem werden Jesus und mit ihm die Leserinnen und Leser über die Situation im Haus informiert (V. 30). Dabei fällt auf, dass die Motivation für den Gang ins Haus zunächst unausgesprochen bleibt (Schenke 2005, 73) und daher kontextuell als Rückzug aus der durch die Wundertat Jesu aufgewühlten Öffentlichkeit verstanden werden kann (Mk 1,21-28). Die Heilung der Kranken scheint jedenfalls zunächst nicht angezielt zu sein. Im Zentrum der Erzählung steht V. 31ab, der durch einen internen Ortswechsel – Jesus tritt näher an die Kranke heran – von der Einleitung abgetrennt ist: Jesus, nur hier ist er allein das handelnde Subjekt, heilt die Kranke. Den Abschluss der Geschichte bilden die Versteile 31cd, die in zwei parallelen Sequenzen Reaktionen auf die Tat Jesu erzählen: Das Fieber verlässt die Frau, die ihrerseits reagiert, indem sie »ihnen« dient. Die sechs Erzählfiguren der Geschichte lassen sich zu drei Aktanten zusammenfassen, da die vier Begleiter Jesu zu einer Größe verschmelzen: Sie informieren Jesus über den Zustand der Kranken (V. 30), bitten aber eher nur indirekt um Heilung. Darin sind sie den vier Trägern eines Gelähmten in Mk 2,1-12 ähnlich. Die Heilung geht damit wesentlich auf die Initiative Jesu zurück, der die Rolle des Subjekts einnimmt. Ihm gegenüber steht als Objekt die passiv daliegende Schwiegermutter. Die Heilung bringt allerdings einen Rollenwechsel mit sich. Aus der liegenden Frau wird das handelnde Subjekt: Sie bedient (etwa bei Tisch) die Anwesenden. Dieser Rollenwechsel wird durch eine auffallende semantische Opposition gestützt. Gemeint sind die beiden Begriffe »daniederliegen« (kat€keimai katakeimai) und »dienen« (diakonffw diakoneo¯), die aus dem semantischen Feld, das von Verben der Bewegung geprägt ist, herausstechen. Beide Verben stehen in Opposition: Drückt das »Daniederliegen« die Passivität der Kranken am stärksten aus, so das »Dienen« ihre 214

Fieberfrei auf dem Weg Jesu Mk 1,29-31

Aktivität. Die Verben bilden zudem die einzigen Prädikate innerhalb von Sätzen, in denen die Schwiegermutter das grammatische Subjekt ist. Schließlich sind es nur diese beiden Verben, die im Imperfekt (die Form ˇgeiren [e¯geiren – aufrichten/erwecken] wird hier als Aorist verstanden) gebildet sind, wodurch die anhaltende Dauer von Krankheit und Dienst betont wird (duratives Imperfekt). Die im Zentrum der Perikope stehende Heilung vollzieht sich recht unspektakulär. Jesus tritt an die Kranke heran, ergreift ihre Hand und richtet sie auf (vgl. Mk 5,41; 9,27; zur Mehrdeutigkeit des Begriffs »aufrichten/erwecken« im Markusevangelium Venetz 2005, 70). Mehr geschieht auf der sichtbaren Ebene nicht. Weder von wunderwirkenden Worten, Gebeten oder heilenden Mitteln ist die Rede. All das ist offensichtlich nicht nötig, denn die Berührung führt – wohl als Kraftübertragung gedacht (vgl. Mk 5,30) – zur unmittelbaren Heilung. Der Text konstatiert, dass das Fieber die Frau verlässt. Als Beleg für die Heilung lässt sich der Dienst der Schwiegermutter verstehen, gleichsam der demonstrative Wiedereintritt in die Sphäre der Aktivität. Die Erzählung fügt sich nahtlos in ihren Kontext ein. Sie ist dabei durch die relative Einheit von Ort und Zeit mit der vorausgehenden Wundergeschichte wie auch mit dem anschließenden Heilungssummarium (Mk 1,32-34) verbunden. Denn Jesus bleibt bis zum Abend im Haus. An diesem Abend, in jüdischer Perspektive ist der Sabbat mit dem eigens erwähnten Sonnenuntergang (V. 32) beendet, kommt die ganze Stadt mit ihren Kranken und Besessenen zur gesondert erwähnten Tür des Hauses. Dort heilt Jesus und treibt Dämonen aus. Und auch wenn er noch in der Nacht Kafarnaum verlässt (Mk 1,3545), begegnet den aufmerksamen Leserinnen und Lesern das »Haus der Heilung« bald wieder. Schon in Mk 2,1 befindet sich Jesus wieder in diesem Haus und heilt vor großem Publikum – erneut wird die Tür des Hauses erwähnt (Mk 2,2; 1,33) – einen Gelähmten. Das Haus wird so zum zentralen Stützpunkt der Jesusgruppe in Kafarnaum, wird zum »Gemeindehaus«, zum Ort von Heilung und impliziter Lehre (vgl. Mk 9,33; Collins 1993, 5-18; Ebner 2008a, 26 f.; Klauck 1981, 60-62). Gattungskritisch betrachtet handelt es sich bei Mk 1,29-31 um eine Therapie. Aus dem Motivinventar für Wundererzählungen (Theißen 1998, 82 f.; Ebner/Heininger 2007, 73-75) werden der Auftritt des Wundertäters und einer Kranken realisiert, deren Notsituation (Fieber) charakterisiert wird. Die Information des Wundertäters durch die vier Schüler, die eine Doppelrolle als Begleiter des Wundertäters und (in dezenter Form) Stellvertreter der Hilfsbedürftigen spielen, leitet zum Zentrum der Wundergeschichte über. V. 31a kann dabei als Teil der szenischen Vorbereitung des Wunders verstanden werden: Jesus sondert sich vom Rest ab, indem er an die Kranke herantritt. Das Motiv der Berührung (V. 31b) macht die eigentliche Wunderhandlung aus. Umgehend folgen die Konstatierung des Wunders (V. 31c) und die Demonstration der Heilung durch die ehemals Kranke (V. 31d: Dienst). Sind diese Motive typisch, wenngleich auf das Allernotwendigste reduziert, so fällt im Sinne der Gattungsanalyse mindestens eine Leerstelle auf: Es fehlt jede Form von Reaktion (etwa Admiration oder Akklamation) durch die anwesenden Schüler, die ja unmittelbar vom Wundererfolg betroffen sind (auch ihnen dient die Geheilte), aber eigentümlich still bleiben.

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die sozialgeschichtliche Lektüre des Textes führt in die Welt des Hauses und der Familie. »Haus« (o§kffla/o ko@ oikia/oikos) kann in der griechisch-römischen Antike mehr als nur ein Gebäude meinen. Es ist auch Ausdruck für einen ganzen Familien- und Sozialverband: Eltern und Kinder, Großeltern, Brüder und Schwestern, Verwandte, sogar Sklaven können zusammen ein »Haus« bilden (vgl. Klauck 1981, 15-20). Auch im Haus, das Jesus in Mk 1,29 betritt, lebt ein größerer Familienverband. Das Haus wird in der erzählten Welt – und um die (nicht allein um die historische Faktizität) geht es auch bei einer sozialgeschichtlichen Analyse des Textes – als Besitz der Brüder (Mk 1,16) Simon und Andreas bezeichnet und könnte ihnen als gemeinsames Erbe zugefallen sein. So lässt sich vermuten, dass der Vater dieser beiden bereits verstorben ist, jedenfalls wird er im Kontext der Berufung in Mk 1,16-20 nicht erwähnt – und zwar im Gegensatz zum Vater der beiden Zebedaiden (Mk 1,20). In diesem Haus lebt zudem die Schwiegermutter des Petrus (über weitere Bewohner erzählt der Text nichts). Sie im Haus ihres Schwiegersohns anzutreffen macht eigentlich nur Sinn, wenn sie Witwe ist und die Tochter des Paares, eben die Frau des Petrus, im Sinne des alttestamentlichen Elterngebots (dazu Jungbauer 2002) die Versorgung übernommen hat (alternative Analysen bei Gnilka 2008a, 85 mit Anm. 11; Gundry 2000, 89). Nur ist diese Sorge für die Mutter/Schwiegermutter durch die Hausgemeinschaft angesichts des andauernden Fiebers an das Ende ihrer Möglichkeiten gekommen. In dieser Situation springt Jesus gleichsam in die Bresche und lässt der Schwiegermutter das zukommen, was ihr kein Angehöriger des Hauses geben kann: Gesundheit und damit Reintegration in die aktive Hausgemeinschaft, zu der sich Jesus als heilbringender Gast gesellt. Mit der Fiebererkrankung präsentiert der Text eine weitere Realie. Fieber (vgl. Horn 1969; Gundert 2005) ist ein in der Antike verbreitetes, z. T. als lebensgefährlich bewertetes Krankheitssymptom, das als solches noch keine Rückschlüsse auf benennbare Krankheiten ermöglicht, sofern nicht Fieber selbst als eigene Krankheit verstanden wird. Als eine mögliche Ursache für den Ausbruch von Fieber gelten im antiken Volksglauben Dämonen (Kollmann 1996, 223). Reste einer solchen dämonischen Konnotation lassen sich vielleicht noch in Mk 1,31 ausmachen, wenn es heißt, dass das Fieber die Frau verlässt. Damit findet eine gewisse Personifikation des Fiebers statt (vgl. Mk 10,28 f.; 13,34; 14,50).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Im Alten Testament, das eine Reihe von Wundergeschichten kennt (etwa die Heilung des Sohnes im Haus der Witwe von Sarepta aus der Elijatradition [1Kön 17]), aber von keiner einzigen Fieberheilung berichtet, ist vom Fieber (im Verbund mit anderen Leiden) v. a. als einer Strafandrohung Gottes die Rede (Lev 26,16; Dtn 28,22; Sir 40,9), die Gesetzesübertreter treffen kann. Dieser Zusammenhang von sichtbarer Fiebererkrankung und hintergründiger Schuldzuweisung findet sich in Mk 1,29-31 nicht. Hier ist Fieber keine (göttliche) Strafe, sondern eine heilbare Krankheit. Im Frühjudentum lässt sich hingegen eine Reihe von Fieberheilungen finden (zu Einzelheiten vgl. Horn 1969, 880-887). So kann der jüdische Gebetscharismatiker Chanina ben Dosa im Rahmen einer Fernheilung durch Gebet einen Jungen vom Fieber heilen (Kollmann 1996, 142-144.223; Gundry 2000, 90): 216

Fieberfrei auf dem Weg Jesu Mk 1,29-31

Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamliéls und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Chanina ben Dosa, dass er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: »Geht, das Fieber hat ihn verlassen.« (…) [Und] in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat (…) um Wasser zum Trinken (bBer 34b [Goldschmidt 1996]).

In die Welt der Götter und der Magie führen Fieberheilungen im hellenistisch-römischen Kulturraum. Diverse Arten von Amuletten (etwa die ausgerissenen Haare von Gekreuzigten; vgl. Plin. nat. 28,41,228 f.) sollen bei Fieber helfen; auch den Statuen von Heroen (Halbgöttern) wird ein besonderer Heilungserfolg bei Fieber zugeschrieben (vgl. kritisch Luc. philops. 18-20). V. a. im Westen des Imperium Romanum und speziell in Rom (Hauptheiligtum auf dem Palatin) wird zudem die Göttin Febris verehrt (Burke 1995, 2266-2271; Horn 1969, 889 f.). Sie ist die vergöttlichte Personifikation des Fiebers, im Besonderen des Malariafiebers. Als unheilbringende Gottheit zielt ihre kultische Verehrung darauf ab, sie zu deaktivieren. Überblickt man die religionsgeschichtlichen Kontexte insgesamt, so fällt auf, dass auf dem religiösen Markt viele Optionen vorhanden waren, um Fieber zu bekämpfen. Die markinische Geschichte fällt angesichts dieser Möglichkeiten schlicht aus. Wo andere Wundertäter intensiv beten oder magische Praktiken vollziehen, wo von Krankheit Bedrohte Amulette tragen, Statuen besuchen oder Febris verehren müssen, da kann Jesus aus eigener Kraft und mit minimalem Aufwand heilen. Das lässt sich als Überbietung und Zuspruch an die markinische Gemeinde, die vielleicht in Rom, also gleichsam im Bannkreis der Göttin Febris, zu verorten ist und auf Jesus als Retter setzt, verstehen.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Im Sinne einer historisierenden Deutung, die das Interesse an der möglichen Faktizität von Wundergeschichten ernst nimmt, wird nach dem historischen Haftpunkt für diese Erzählung gesucht. Ein solcher könnte darin bestehen, dass mit ihr die Erinnerung an eine historische Heilung der Schwiegermutter des Petrus durch Jesus bewahrt wird, die durch die spezifische Nennung einer sonst unbekannten Person an Plausibilität gewinnt und aufgrund des biographischen Interesses an der Figur des Petrus im frühen Christentum überliefert worden ist (vgl. mit unterschiedlichen Graden der historischen Gewissheit Gnilka 2008a, 83-85; Kollmann 1996, 222 f.; Pesch 1984a, 129.131). Tiefenpsychologische Exegese (Drewermann 2000, 202-209) versteht die Wundergeschichte als paradigmatische Erzählung eines Befreiungsprozesses aus den krankmachenden Zwängen des Alltags, des bürgerlich Normalen. Dieses scheinbar Normale ist für E. Drewermann in Wahrheit »ein völlig wahnsinniges ›Fieber‹« (Drewermann 2000, 206), an dem auch die Schwiegermutter des Petrus leide und das gerade im Anschluss an den Ausstieg des Schwiegersohnes aus dem gesellschaftlichen System, auf den die Schwiegermutter nur mit Ablehnung reagieren konnte, heftig um sich greife. Erst die direkte, befreiende Begegnung mit Jesus habe sie ihre Opposition zum scheinbar sorglosen Leben Jesu und seiner Anhänger überwinden lassen – eine Interpretation der Erzählung, die sich auch auf den Alltag heutiger Bibelleserinnen und -leser übertragen lässt und eine Identifikation mit der Schwiegermutter ermöglicht, wobei die tiefenpsycholo217

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

gische Ausdeutung zugleich zum kritischen und befreienden Korrektiv für in Alltagssorgen Verstrickte werden kann. Sozialgeschichtlich arbeitende und gendersensible Exegetinnen und Exegeten, die zugleich die Erzählung im literarischen Horizont des ganzen Markusevangeliums lesen und im Blick auf ihre pragmatische Funktion befragen, betten die Geschichte in den Diskurs um Nachfolge und Schülerschaft im Markusevangeliums ein (vgl. etwa Fander 1990, 32-34; Hentschel 2007, 200-202; Schottroff 1994, 300 f.313). Ausgangspunkt ist der explizit formulierte »Dienst« der Frau (Mk 1,31). »Dienen« (diakonffw diakoneo¯) ist ein Leitwort im Markusevangelium und kennzeichnet, auch über die engere Bedeutung als Tischdienst hinaus, die von Jesus favorisierte Form der Nachfolge, der sich Frau und Mann unterschiedslos zu stellen haben (Mk 9,35; 10,43.45). Dienen ist daher keine spezifisch weibliche Form der Jesusnachfolge. Dienst und Nachfolge gehören für Markus aufs Engste zusammen. Im Text des Evangeliums wird dies explizit als gelingend allerdings nur von Engeln und Frauen (und indirekt natürlich Jesus) erzählt, wobei die Schwiegermutter die erste menschliche Erzählfigur ist, die dem dienenden Vorbild der Engel (Mk 1,13) wie selbstverständlich und ohne vorherige Belehrung durch Jesus folgt (vgl. Dschulnigg 2007, 83 f.; Schenke 2005, 73 f.). Ihr Dienst ist dabei Reaktion auf und nicht Bedingung für die Heilung. Dass ihr Dienst zudem auf Dauer angelegt ist und sie in die Jesusnachfolge eintritt (Fander 1990, 28, spricht von einer »Berufungslegende«), zeigt das verwendete Imperfekt an. Insofern wird man sich unter den summarisch genannten, die Kreuzigung betrachtenden Frauen (Mk 15,40 f.), die bereits in Galiläa Jesus auf seinem Weg nachfolgten und dienten, auch die Schwiegermutter vorstellen dürfen, die damit am Anfang und am Ende des Gesamttextes, in dessen Verlauf sie aus dem privaten Raum des Hauses in die Öffentlichkeit tritt, einen dezenten Auftritt hat. Und vielleicht ist es genau diese Schwiegermutter, die in Mk 3,34 von Jesus auch als »Mutter« bezeichnet wird, weil sie den Willen Gottes tut; so könnte man jedenfalls die auffallende Singularformulierung im Gegenüber zu den »Brüdern« verstehen, zumal sich Jesus ab Mk 3,20 wieder im Haus befindet (vermutlich ist eben das Haus in Kafarnaum gemeint; Gnilka 2008a, 148). In dieser Perspektive ist die geheilte und dienend nachfolgende Schwiegermutter ein Vorbild für die in der Jesusnachfolge stehenden Leserinnen und Leser des Textes (vgl. Kinukawa 1995, 136-139; Mörtl 2007) wie auch für die Erzählfiguren des Markusevangeliums, die sich in der Nachfolge versuchen und damit ihre liebe Not haben. Denn gerade den männlichen Schülern Jesu fällt es schwer, Nachfolge und Bereitschaft zum Dienst zusammenzudenken (vgl. Mk 10,35-45). Für sie zählt, wer der Größte in ihrer Runde ist (Mk 9,34) – und sie müssen von Jesus gesondert lernen, dass man, um Größter sein zu wollen, der Diener aller sein muss (Mk 9,35). Und es gibt wohl keinen besseren Ort in der erzählten Topographie des Markusevangeliums, um dies zu lernen, als im Haus in Kafarnaum, dem Ort dieser Belehrung (Mk 9,33).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Erzählung ist von Matthäus mit signifikanten Unterschieden in sein Evangelium (Mt 8,14 f.) übernommen worden (zur lukanischen Rezeption vgl. den entsprechenden Beitrag in diesem Band):

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Fieberfrei auf dem Weg Jesu Mk 1,29-31

Mt 8,14 f. (14) Und als Jesus in das Haus des Petrus kam, sah er dessen Schwiegermutter niedergeworfen und fiebernd. (15) Und er berührte ihre Hand, und das Fieber verließ sie. Und sie wurde aufgerichtet und diente ihm. Diese Heilungsgeschichte ist nun Teil des von Matthäus gebildeten Wundergeschichtenkomplexes (Mt 8 f.). Im Blick auf diesen neuen kompositionellen Ort trägt sie zur Charakterisierung Jesu als wirkmächtigem Messias für sein Volk bei, der fähig ist, alle Krankheiten und Schwächen zu überwinden (vgl. Münch, Hinführung Matthäus in diesem Band; vgl. auch Luz 2007, 7 f.17-19). Die Erzählung selbst wird von Matthäus durch Kürzungen und Änderungen der markinischen Vorlage derart umgestaltet, dass es v. a. zu einer Konzentration auf den Wundertäter kommt. Im Einzelnen streicht Matthäus beinahe die gesamte Einleitung aus Mk 1,29. Jesus geht allein in das Haus des Petrus, der gegen Markus durchgehend Petrus und nicht Simon genannt und als alleiniger Hausbesitzer stilisiert wird. Zum vollmächtigen Heiler Jesus passt auch, dass er auf einen Blick das Problem der Schwiegermutter »sieht« (Mt 8,14: e—den eiden – er sah; als Verb zusätzlich eingetragen). Eine Vermittlung durch andere ist nicht nötig (Mk 1,30b entfällt). Dezenter fällt schließlich auch der Heilvorgang aus. Das markinische Partizip »ergreifen«, dem immer auch der Charakter des sich Bemächtigens eigen ist, ersetzt Matthäus durch das sanfter wirkende Verb »berühren« (¿ptomai haptomai). Auch den Abschluss der Erzählung hat Matthäus variiert. Der singulären Stellung Jesu entsprechend, wird der Dienst der Schwiegermutter nur noch auf ihn bezogen. Dass hinter dem ganzen Wundergeschehen schließlich Gott selbst steht und der Wundertäter Jesus mit diesem rettenden Gott aufs Engste verbunden ist, macht die Erzählung in V. 15 durch die Verwendung des Verbs »sie wurde aufgerichtet« (in Mk 1,31 richtet Jesus die Frau auf) deutlich, eine Form, die man als theologisches Passiv (vgl. Mt 9,25; 14,2), das Gott verhüllt als eigentlichen Handlungsträger anzeigt, deuten kann (Fiedler 2006, 205 f.). Insgesamt ist die matthäische Version der Heilungsgeschichte ein Beispiel dafür, wie durch Kürzungen der Vorlage eine Konzentration auf den Wundertäter Jesus erfolgt – letztlich ein Mosaikstein in der Entwicklung zu einer höheren Christologie. Mit dieser frühen Wirkungsgeschichte der markinischen Erzählung kommt die Rezeption nicht an ihr Ende. Im Rahmen der gegenwärtigen römisch-katholischen Leseordnung wird der Text etwa anlässlich von Gottesdiensten mit Kranken und zur Krankensalbung genutzt. Hier setzt sich eine schon in der Alten Kirche bewährte Praxis fort, entsprechende Wundergeschichten Kranken im Rahmen von Heilungsversuchen vorzulesen (Kollmann 1996, 361) oder auch auf christliche Fieberamulette zu schreiben (Horn 1969, 906).

Markus Lau Literatur zum Weiterlesen J. G. Cook, In Defence of Ambiguity: Is There a Hidden Demon in Mark 1.29-31?, NTS 43 (1997), 184-208.

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

M. Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium. Unter besonderer Berücksichtigung kultur- und religiongsgeschichtlicher Hintergründe, MThA 8, Alternberge 21990, 17-34. H. Kinukawa, Frauen im Markusevangelium. Eine japanische Lektüre, Luzern 1995, 136-139. B. Mörtl, Die Heilung der Schwiegermutter (Mk 1,29-31). Freude und Ärgernis?, in: J. Pichler/ C. Heil (Hg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 130-142. P.-B. Smit, Simon Peter’s Mother in Law Revisited. Or Why One Should Be More Careful With Mothers-In-Law, LectDiff 4/1 (2003).

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Nicht nur rein, auch gesund (Heilung eines Aussätzigen) Mk 1,40-45 (Mt 8,1-4 / Lk 5,12-16 / P.Köln 255) (40) Und es kommt zu ihm ein Aussätziger, der bittet ihn, fällt auf die Knie und sagt zu ihm: »Wenn du willst, kannst du mich reinigen.« (41) Und erbarmend streckte er die Hand aus, berührte ihn und sagt zu ihm: »Ich will; sei rein!« (42) Und sofort verließ ihn der Aussatz und er wurde rein. (43) Und Jesus drohte ihm und schickte ihn sogleich weg (44) und sagt zu ihm: »Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.« (45) Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und das Wort bekanntzumachen, so dass er (sc. Jesus) nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von überall her.

Sprachlich-narratologische Analyse Ein Aussätziger (lepr@ lepros) kommt zu Jesus und bittet ihn kniefällig: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Dass der Kranke mit seiner Bitte überhaupt zu Jesus kommt, ist in den vorangehenden summarischen Notizen 1,34.39 begründet: Jesus hat bereits vielen Kranken geholfen und in ganz Galiläa unreine Geister ausgetrieben (1,23; vgl. 1,26 f.; 3,11; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,25); deshalb wird er von den Menschen gesucht (V. 37). Die Erzählung kann in zwei Teile geteilt werden. Die ersten drei Verse (V. 40-42) enthalten die gängigen Elemente einer Wundergeschichte (Begegnung des Kranken und des Wundertäters, Vertrauenswort / Bitte, Geste und Wort des Wundertäters, Feststellung des Heilerfolgs, vgl. Theißen 1990, 57-81): 40 40 40 41 41 42 42

Und es kommt zu ihm ein Aussätziger, der bittet ihn, fällt auf die Knie und sagt zu ihm: Wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und erbarmend streckte er die Hand aus, berührte ihn und sagt zu ihm: Ich will; sei rein! Und sofort verließ ihn der Aussatz und er wurde rein.

Dieser erste Teil ist ganz auf die Begegnung des Aussätzigen mit Jesus konzentriert (die Jünger, die nach V. 36-38 bei Jesus sind, tauchen hier nicht auf). Das Kommen und Bitten des Aussätzigen sind im Präsens berichtet, die Reaktion Jesu im Aorist; das Verhalten Jesu in der Vergangenheit wird damit erzählend für gegenwärtiges Bitten geöffnet. Dass weder Ort noch Zeitpunkt der Begegnung erwähnt sind, unterstreicht den exemplarischen Charakter der Erzählung. Handlung und Rede der beiden Akteure sind eng auf221

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

einander bezogen: Dem Kommen und Hinknien des Aussätzigen entsprechen das Ausstrecken der Hand und die Berührung durch Jesus, und auch die Bitte und die Antwort Jesu entsprechen sich in ihrer Zweiteilung (Ausdruck des Wollens, Reinigung) unmittelbar. Auf diese Weise entsteht eine kleine Handlungssequenz, die alle Nebenaspekte ausblendet und sich ganz auf die beiden Akteure konzentriert. Als Motivation für Jesu Handeln wird sein Erbarmen genannt (einige Handschriften lesen »wurde zornig«; die schwache Bezeugung spricht aber nicht für diese Lesart); dem entspricht, dass die Bitte um Heilung indirekt als Vertrauensaussage formuliert ist. Vorausgesetzt ist dabei, dass Jesus die Heilung bewirken kann, wenn er nur will. Die Bitte wird damit zur christologischen Aussage. Die Rahmung der kleinen Erzählung wird mit Hilfe der Begriffe Aussätziger V. 40 und Aussatz V. 42 geschaffen. Die planvolle Komposition kommt darin zum Ausdruck, dass der Mensch in V. 40 ausschließlich als Aussätziger gekennzeichnet wird: Die Erkrankung kennzeichnet den Menschen insgesamt; bei der Konstatierung der Heilung wird dagegen zwischen Krankheit und Mensch differenziert (und sofort verließ ihn der Aussatz). Dreimal ist von Reinheit die Rede: Der Kranke bittet (nicht um Heilung, sondern) um Reinheit, Jesus sagt sie zu, abschließend wird sie zusammen mit dem Verschwinden des Aussatzes festgestellt und in V. 44 ist von Reinigung (kaqarism@ katharismos) die Rede, das besonders in LXX die kultische Reinheit bezeichnet (Hauck 1938, 433). Ein Zusammenhang von Aussatz und Unreinheit ist offensichtlich vorausgesetzt: Aussatz verunreinigt und schließt den Befallenen aus der kultischen und der sozialen Gemeinschaft aus (s. u.). Dass die religiösen und sozialen Folgen der Erkrankung bei den Leser(innen) des Evangeliums als bekannt vorauszusetzen sind, zeigt sich an der Bitte des Aussätzigen um Reinigung und daran, dass eine Erklärung dieses Sachverhalts fehlt. Aber weder der Kranke noch Jesus selbst halten sich an die vorgeschriebene Distanzierung. Besonders die Berührung des Kranken durch Jesus (V. 41) steht im Gegensatz zum üblichen Verhalten. Dass Jesus sich durch die Berührung selbst verunreinigt, wird nicht erwogen. Markus geht vielmehr davon aus, dass umgekehrt die Reinheit Jesu die Unreinheit des Aussätzigen zum Verschwinden bringt (Berger 1988, 240: »offensive Reinheit«; vgl. bereits Thom. cat. Matt. 8,1). Hinter der passiven Formulierung »und er wurde rein« V. 42 steht letztlich Gott selbst. Deshalb wird nirgendwo im Neuen Testament berichtet, dass Jesus nach einem solchen Kontakt ein Reinigungsritual durchgeführt habe. Vielmehr kann die wiederhergestellte Reinheit in V. 42 konstatiert (obwohl dies nur einem Priester zusteht) und damit die Reintegration in die soziale und religiöse Gemeinschaft bereits angedeutet werden. Mk 1,40-42 setzt offenbar die gängigen Einschätzungen von Aussatz voraus und steht zugleich in Distanz dazu. Im zweiten Abschnitt (V. 43-45) schließen sich ein Schweigegebot und die Aufforderung an, sich einem Priester zu zeigen und das von Mose angeordnete Opfer zu bringen. Ob der Geheilte dieser Aufforderung nachkommt, bleibt offen. An das Schweigegebot hält er sich jedenfalls nicht (V. 45): Er geht weg und verkündet, was geschehen ist. Die Folge ist, dass Jesus sich nicht mehr unerkannt bewegen kann; zwar sucht er entlegene Orte auf, aber von überall her kommen Menschen zu ihm (unzutreffend Malina 2001, 161: Als nunmehr Unreiner könne Jesus sich nicht mehr in Siedlungen aufhalten):

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Nicht nur rein, auch gesund Mk 1,40-45

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Und Jesus drohte ihm und schickte ihn sogleich weg und sagt zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis. Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und das Wort bekanntzumachen, so dass er (sc. Jesus) nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von überall her.

Dieser Teil der Erzählung erweitert die konzentrierte erste Szene in verschiedener Hinsicht: Der Aktionsraum wird ausgedehnt (wegschicken, fortgehen V. 43.45, einsame Orte und »von überall her« V. 45), zusätzliche Handlungsträger tauchen auf (Priester V. 44, »sie« V. 45) und auch neue Handlungen kommen ins Spiel (opfern nach dem Gebot des Mose V. 44, das Wort bekanntmachen V. 45). Dabei sind sowohl im Vergleich mit der ersten Sequenz als auch innerhalb der Fortführung selbst einige Beobachtungen auffällig: – Gerade hat Jesus sich dem Geheilten zugewandt; jetzt spricht er ihn drohend an (¥mbrim”sqai embrima¯sthai wie in Mk 14,5 im Sinne von »anfahren«) und schickt ihn weg (das Verb ¥kb€llein ekballein ist mehrdeutig; es kann – wie in Mk 5,40 – wegschicken oder hinauswerfen bedeuten; hinauswerfen ist hier wegen der fehlenden Ortsangabe aber unwahrscheinlich; dass in Mt 8,31 u. ö. auch das Austreiben von Dämonen mit diesem Verb bezeichnet wird, spielt hier keine Rolle). – Die Aufforderung, sich dem Priester zu zeigen und das Opfer darzubringen, steht in einem gewissen Gegensatz zu dem Schweigegebot (das auffällig formuliert ist: sage niemandem nichts …). – Ob der Geheilte das Opfer bringt, bleibt offen. Für die soziale Reintegration des Geheilten wäre dies unter den Bedingungen der Mosetora jedoch unabdingbar. – Welche Bedeutung die Wendung »ihnen zum Zeugnis« hat, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. – V. 45 schließt der Sache nach direkt an V. 44b an. Der Geheilte handelt in ausdrücklichem Widerspruch zu dem Gebot Jesu. Allerdings berichtet er nicht von seiner Heilung, sondern er »verkündigt« und »verbreitet das Wort«. Das Schweigegebot ist für die markinische Erzählkonzeption charakteristisch: Der unreine Geist in 1,24 erkennt in Jesus den Heiligen und Sohn Gottes (3,11) und soll davon schweigen (1,25; 3,12); der Aussätzige erfährt Heilung und wird zum Schweigen ermahnt (1,45); die Jünger erkennen Jesus als Christus (8,29), sollen aber nichts davon sagen; er wird ihnen als Gottessohn vorgestellt und wiederum sollen sie schweigen (9,79). Auf der anderen Seite halten verschiedene Bemerkungen fest, dass Jesu Ruf sich schnell verbreitet (1,28.45; 2,12 f.; 5,20). Mit diesen widersprüchlichen Hinweisen verfolgt Markus eine Erzählstrategie. Die Spannung kann so nicht stehenbleiben und tut es auch nicht: In 9,9 wird das Schweigegebot zeitlich begrenzt. Bis zur Auferstehung Jesu von den Toten sollen die Jünger schweigen, danach nicht mehr. Mit der Auferstehung tritt offenbar eine Än223

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

derung ein, die das Schweigen überflüssig macht, weil sich erst von der Auferstehung her in vollem Umfang erschließt, wer Jesus ist und was er für die Glaubenden bedeutet. Die Einbindung in das Gesamtwerk zeigt sich auch darin, dass in Mk 1 bereits von Unreinheit die Rede war: Die Dämonen, die Jesus in 1,23.26 f. ausgetrieben hat und nach 3,11.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,25 noch austreiben wird, werden als unreine Geister (pneÐmata ⁄k€qarta pneumata akatharta) bezeichnet. Und es gibt noch weitere Parallelen zwischen 1,23-28 (34.39) und 1,40-45 (Kertelge 1970, 72): Dem Dämon wird das Schweigen befohlen (obwohl er schon gesagt hat, was er weiß 1,24 f.), Jesus treibt die Dämonen hinaus (wie er den Geheilten in 1,43 von sich wegtreibt) und der Ruf Jesu verbreitet sich trotz des Schweigegebots überall. Eine Heilung vom Aussatz wäre von der Mosetora her ohne Begutachtung durch einen Priester und ohne kultische Reinigung unvollständig. Die Aufforderung gehört deshalb folgerichtig zur Erzählung mit ihrem Akzent auf der Reinigung dazu. Das Schweigegebot ist insofern nicht tangiert, als der Priester lediglich die eingetretene Heilung zu konstatieren und für die Durchführung des Opfers zu sorgen hat. Auffällig ist aber die Wendung »ihnen zum Zeugnis«. »Sie« können nur die Priester sein (obwohl in V. 44 vom Priester im Singular die Rede ist), »ihnen zum Zeugnis« kann sich nur auf die Heilung und die Aufforderung Jesu beziehen, die Heilung begutachten zu lassen. Das Zeugnis beinhaltet dann sowohl die Anerkennung der Heilungsmacht Jesu als auch seine Treue gegenüber der Tora. Es geht also nicht um ein Belastungszeugnis gegen die Juden (Kertelge 1970, 68 f.; Pesch 1984a, 146), sondern um ein Zeugnis für Jesus. In der unmittelbar folgenden Erzählung von der Heilung eines Gelähmten wird die Treue Jesu zur Tora von seinen Gegnern aber in Frage gestellt (2,6 f.). Dass der Geheilte sich dem Gebot widersetzt und von dem Ereignis erzählt, gehört zur Konzeption des Schweigegebots. Er bringt aber nicht lediglich die Nachricht von einer wunderbaren Heilung unter das Volk, sondern wird zum Verkündiger Jesu. Dies zeigen die Verben, mit denen umschrieben wird, wie (und was) der Geheilte erzählt: verkündigen (khrÐssein ke¯ryssein, vgl. 1,14.39 und 3,14; 5,20; 13,10; 14,9) und das Wort ausbreiten (diafhmfflzein tn lgon diaphe¯mizein ton logon, vgl. 2,2; 8,32 und 4,1320.33) bezeichnen sowohl die Verkündigung Jesu als auch die sich daran anschließende christliche Verkündigung. Der Text setzt die gängige Haltung gegenüber Aussatz und Aussätzigen voraus. Gleichwohl ist eine Distanz zur Mosetora nicht zu übersehen: Weder der Kranke noch Jesus halten sich an das Kontaktverbot aus Lev 13 f., und die Feststellung der Reinheit erfolgt, bevor ein Priester den Geheilten begutachtet hat. Diese Ambivalenz provoziert zum einen die Frage nach der Bedeutung Jesu, zum anderen die nach der Geltung der Mosetora. Grundlegend ist, dass Jesus das vom Aussätzigen geäußerte Vertrauen ausdrücklich betätigt. Wie im Alten Testament Gott gebietet – und es geschieht (Gen 1; Ps 33,9 u. ö.), so wird es hier von Jesus ausgesagt: Er handelt in Vollmacht (vgl. 1,27). Indem er sich als Herr über die Krankheit erweist, steht er zugleich über dem Gegensatz rein vs. unrein. In textpragmatischer Hinsicht kommt in der Vertrauensäußerung des Aussätzigen ein Bekenntnis der frühen christlichen Gemeinden zum Ausdruck, das aber im Blick auf das Verhalten der Gemeinden selbst Fragen anstößt: Wie sollen sich die von Markus angesprochenen Christen gegenüber den Vorschriften der Tora verhalten, wenn sie sich am Handeln und der Verkündigung Jesu orientieren wollen? Wie sollen sie mit Kranken umgehen und wie das von der Tora geordnete Verhältnis von Aussatz und Unreinheit neu 224

Nicht nur rein, auch gesund Mk 1,40-45

definieren? Und wie können sie in der Nachfolge Jesu die Zugehörigkeit von Kranken zur religiösen und sozialen Gemeinschaft bewerten? Indem die Erzählung präsentisch einsetzt, um eine Episode aus dem Wirken Jesu zu erzählen, holt sie das vergangene Wirken Jesu in die Gegenwart der Leserinnen und Leser hinein und gibt ihnen einen Handlungsimpuls für ihr eigenes Verhalten den Kranken gegenüber.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Der griechische Begriff lffpra (lepra) ist mit der modernen Bezeichnung Lepra nicht identisch. Die Lepra ist eine chronische Infektionskrankheit. Das verursachende Bakterium wurde erstmals durch den norwegischen Arzt Gerhard Armauer Hansen nachgewiesen, weshalb die Lepra auch Morbus Hansen genannt wird. Die verschiedenen LepraFormen unterscheiden sich durch die betroffenen Körperregionen und die Schwere des Verlaufs. Im Anfangsstadium ist eine Depigmentierung der Haut charakteristisch, diese Stellen werden dann durch die Zerstörung der versorgenden Nerven empfindungslos; hierdurch kommt es zu Verletzungen und Knotenbildung, die zu Entstellungen ganzer Körperregionen führen können. Alle Lepra-Arten werden durch Infektion übertragen, die Manifestationsrate ist aber eher gering. Die Inkubationszeit liegt meist zwischen 2-5 Jahren. Bei frühzeitiger Behandlung sind die Heilungschancen durch Antibiotika gut (Pschyrembel 2011, 911 f.). Bis in die Neuzeit herrscht große diagnostische Unsicherheit, wobei die falsch positiven Urteile überwiegen (Riha 2004, 7 f.10). Im Mittelmeerraum ist das Vorkommen der Lepra erst ab der hellenistischen Zeit gesichert (Nutton 1999; Bayer 1950). Möglicherweise ist sie im Zuge der hellenistischen Eroberungsfeldzüge in den Westen vorgedrungen, oder man sieht ihren Ursprung in Ägypten (z. B. Plin. nat. 26,7). Im griechischen Schrifttum wird sie wegen des äußeren Krankheitsbildes meist Elefantiasis genannt. Mit lffpra (lepra) ist bei den griechischen Schriftstellern dagegen ein weiter Bereich zwischen harmlosen Hautveränderungen und schwerwiegenderen Erkrankungen gemeint (zur Unterscheidung vgl. Isid. etymol. 4,8,11 f.). Aretaios (CD CMG 2,168 f.; 4,13) und Caelius Aurelianus (morb. chron. 4; zu den medizinischen Schriften der Antike Weissenrieder 2003, 4-56) beschreiben die Elephantiasis ausführlich. Als Ursache gelten Umwelteinflüsse, Blutstauungen oder ein Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten (Belege bei Weissenrieder 2003, 143 f.165). Caelius Aurelianus diskutiert verschiedene Therapieformen (4,1,3), referiert in 4,1,16 aber auch die Auffassung, dass man Erkrankte aus der Fremde töten und solche aus der eigenen Bürgerschaft verbannen und erst nach einer Besserung des Zustands zurückholen solle (ähnlich bereits Hdt. hist. 1,138); dies aber widerspreche dem menschenfreundlichen Charakter der Medizin. Erkenntnisse zur Übertragbarkeit gab es nur ansatzweise; wegen der langen Inkubationszeit war die Infektion schwer zu durchschauen (Nutton 1987). Auch die lffpra (lepra) genannten Hauterkrankungen werden in der Antike beschrieben: Galen. introd. 14, unterscheidet sechs verschiedene Arten; Philo (post. 47) bezeichnet mit dem griechischen Wort lepra einen »vielgestaltige und mannigfache« Symptomatik. Die Identifikation des biblischen Aussatzes mit der Lepra wurde erst von den Auslegern des Mittelalters vollzogen (so bei Johannes von Damaskus, vgl. Nutton 1999). 225

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Die Septuaginta verwendet das Wort lffpra (von lepr@ lepros – schuppig, schorfig) zur Übersetzung des hebräischen zara’at (von ptr sr‘ – schlagen). Damit wird eine ˙ Gruppe von Hauterkrankungen bezeichnet, zu denen morbus Hansen ursprünglich nicht gehört. Nach Lev 13 f. kann vptr sr‘t nicht nur Menschen, sondern auch Stoffe, Leder (13,47-59) und Häuser (14,37-54)˙befallen; der für die Lepra charakteristische Gefühlsverlust wird in Lev 13 nicht erwähnt und auch die mehrfache Beschreibung der erkrankten Haut als »weiß wie Schnee« passt nicht zur Lepra (Weissenrieder 2003, 134 f.). Aus diesen Gründen werden sr‘t / lepra heute überwiegend als Schuppenflechte (Psoriasis) ˙ und verwandte Erkrankungen der Haut (mit zunächst ähnlichen Symptomen wie bei der Lepra) verstanden. Wendungen wie »rohes Fleisch« in Lev 13,14 f. rechnen aber offenbar auch mit ernsthafteren Verläufen der Erkrankung. In neutestamentlicher Zeit kann man die Lepra deshalb nicht völlig ausschließen. Die lediglich auf äußerliche Phänomene beschränkte, unsichere Diagnostik erklärt jedenfalls, dass bereits harmlose Veränderungen der Haut unter den Verdacht einer leprösen Erkrankung geraten konnten. Im Alten Testament werden einige Fälle von zara’at beschrieben. Nach Num 12,10.12 befällt die Krankheit Mirjam wegen ihrer Kritik an Mose und sie wird »weiß wie Schnee« und »wie ein Totgeborenes«; Mose interveniert bei Gott und Mirjam wird nach siebentätiger Absonderung geheilt. In 2Chr 26,16-23 maßt König Usija sich an, im Tempel auf dem Räucheraltar zu opfern; er wird von Gott mit der Krankheit bestraft, muss abgesondert leben und später auch bestattet werden. 2Kön 5 erzählt die durch Elischa ermöglichte Heilung des Aramäers Naaman, während Elischas Diener Gehasi wegen seiner Habgier mit der Krankheit geschlagen wird. Wird bei dem Aramäer die Krankheit lediglich festgestellt, so hat sie in den anderen Fällen ihren Grund in einem Vergehen gegenüber Gott. Die Heilung Mirjams und Naamans erfolgt nicht durch medizinische Therapie, sondern geht auf Gott selbst oder eine prophetische Weisung zurück. In diesen Erzählungen kommen verschiedene Aspekte zum Vorschein: Die Krankheit befällt Menschen aufgrund einer Störung im Gottesverhältnis (vgl. Preuss 1992, 388 f.), sie macht (wie bei Mirjam und Usija) eine Absonderung erforderlich, Heilung ist möglich, kann aber nur von Gott kommen. Lev 13 f. überführt diese Aspekte in rechtliche Vorschriften. Die Krankheit bedarf genauer Beobachtung und der Einhaltung bestimmter Quarantänezeiten. Bei bestätigter Erkrankung ist die Aussonderung vorgeschrieben: »Wer aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein« (Lev 13,45 f.). Die Teilnahme am Kult und das Betreten des Tempels sind untersagt (Lev 13,4; vgl. 15,31). Sowohl die Feststellung der Erkrankung als auch eine mögliche Heilung müssen durch einen Priester bestätigt werden und erfordern ein Reinigungsritual. Die Vorschrift in 13,45 f. (vgl. die spätere Anwendung im Mischnatraktat Negaim) wird unterschiedlich streng ausgelegt. Rigoros war die Haltung der Qumran-Gemeinschaft: »Kein Mann, der mit irgendeiner Unreinheit des Menschen geschlagen ist, darf in die Versammlung Gottes eintreten« (1QSa 2,3 f.); am Endkampf gegen die Söhne der Finsternis darf »kein Hinkender oder Blinder oder Lahmer oder jemand, der ein dauerndes Gebrechen an seinem Fleische hat, oder einer, der geschlagen ist mit einer Unreinheit seines Fleisches«, teilnehmen (1QM 7,4 f.). Auch Josephus berichtet von einer rigorosen Interpretation der Mosetora (Bell. 5,6; Apion. 1,31; Ant. 3,11,3). Rabbinische Quellen zeigen dagegen besonders für ländliche Gegenden eine mil226

Nicht nur rein, auch gesund Mk 1,40-45

dere Praxis (Billerbeck 1926b, 751). Gleichwohl führte die Krankheit zu religiöser und sozialer Ausgrenzung: Die Erkrankten galten als tot (Num 12,12; Flav. Jos. Ant. 3,11,3), und eine Heilung kam einer Totenauferweckung gleich (Billerbeck, ebd.). Die Krankheit hat also eine medizinische und eine kultisch-religiöse Seite. Wegen der mit den Krankheitssymptomen verbundenen Ausgrenzung ist die Bezeichnung »Aussatz« deshalb der Sache nach angemessen. Weil eine Heilung nur von Gott kommen kann, wird die Beseitigung der Krankheit für die messianische Heilszeit erwartet. Im Neuen Testament belegen Mt 11,5 / Lk 7,22 / Mt 10,7 f. den endzeitlichen Charakter der Heilung

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Der Ausschluss von Aussätzigen aus der religiösen Gemeinschaft hängt mit der grundlegenden Bedeutung des Gegensatzes von rein vs. unrein für das alttestamentlich-jüdische Weltverständnis zusammen, das sich von vergleichbaren Phänomenen in der Umwelt des Alten und Neuen Testaments unterscheidet. In der Umwelt spielt kultische Reinheit eine unterschiedlich große Rolle (Ameling/ Heinze et al. 1999). In Ägypten wird der kultischen Reinheit, besonders der Priester, große Aufmerksamkeit gewidmet. Porphyrius referiert in abst. 4,6-8 den Bericht des ägyptischen Stoikers Chairemon aus dem 1. Jh. und die dort enthaltenen Reinheitsvorschriften (zurückgezogenes Leben, Reinigungsrituale, Speisevorschriften). Auch in Griechenland finden vor dem Betreten von Tempeln, vor Opfer und Gebet Reinigungsriten statt (Hom. Il. 6,266-269: »zum schwarzumwölkten Kronion ziemt es sich nicht, mit Blut und Schmutz besudelt zu beten«; weitere Belege bei Frenschkowski 2000, 899). Befleckung oder Unreinheit (mfflasma miasma) gelten als Störung der religiösen und gesellschaftlichen Ordnung, wobei u. a. Tod, Geburt, Menstruation, Geschlechtsverkehr und bestimmte Krankheiten als verunreinigend angesehen werden (Ameling/Heinze et al. 1999, 352). In der philosophischen Diskussion wird die ethische Interpretation von Reinheitsritualen zunehmend über die kultische gestellt. Dies ist schon bei Plato zu erkennen (Phaid. 67b.c) und tritt z. B. bei Cicero (n.d. 2,71) deutlich hervor: »Die beste und zugleich reinste, heiligste und frommste Götterverehrung besteht aber darin, dass wir sie stets mit lauterem und unverdorbenem Herzen und ebensolchen Worten anbeten«. Im Unterschied zu Reinheitsvorstellungen der Umwelt rückt Israel den Gegensatz rein vs. unrein ins Zentrum der Weltdeutung (Frenschkowski 2000, 900; Ego 2007). Der Tempel als Wohnort der Heiligkeit Gottes ist Ausgangspunkt der Reinheitsvorstellung. Alle Menschen, Tiere und Dinge, die in Kontakt mit dem Tempel kommen, müssen dieser Reinheit entsprechen (Lev 12,4.14; 15,31; Dtn 14,1 f.). An die Priester richten sich die Reinheitsforderungen in besonderem Maß (Lev 21 f.); sie sind es auch, die zwischen rein und unrein unterscheiden können (Lev 10,10; 20,25). Die Reinheitsterminologie kann man insofern als eine »Terminologie der Kultfähigkeit bezeichnen« (Paschen 1970, 42 f.). Vom Tempel her definieren sich abgestufte Bereiche von Reinheit, und zwar im Tempel selbst (vom Allerheiligsten bis zum Vorhof der Heiden) und dann im Blick auf Jerusalem, das jüdische Land und die heidnischen Gebiete mit ihren Göttern (Gen 35,2; Jer 2,23; 19,13, Ez 23,30; 36,25; Am 7,17). In exilischer und nachexilischer Zeit bekommt die Einhaltung von Reinheitsvorschriften eine doppelte Funktion: Innerjüdisch dient sie 227

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

der Stärkung und Wahrung von Identität und im Umgang mit Außenstehenden zur Abgrenzung (Dan 1,8; Kreuzer 2000, 901). In der Prophetie und unter weisheitlichem Einfluss bekommt die kultische Reinheit einen ethischen Akzent (Jes 1,16; 6,5; Ps 18,21.25; 24,3-5), für den das »reine Herz« Ps 51,12 als Metapher dient. Unreinheit steht demgegenüber für Sünde und Vergehen (Klgl 1,8 f.; 4,15; Ez 14,11; 18,6.11.15; u. ö.). Auch im Diasporajudentum werden die Reinheitsvorschriften stärker ethisch akzentuiert. Ihre bleibende Geltung wird betont, die räumliche Distanz zum Tempel macht aber Interpretationen nötig, z. B. die allegorische Interpretation der Speisegebote (vgl. Philo spec. 4,100-109). Die äußere Reinheit wird zum Symbol der Reinheit des Herzens (Philo Mos. 2,138; spec. 1,257 f.), in TestXII ist Unreinheit Synonym für ethische Verfehlungen (TestLev 16,1-5; TestIss 4,4; TestBen 8,3 f.). Vor diesem Hintergrund kann die Isolation von Aussätzigen moralisch begründet werden. Unreinheit und Sünde sind auch in Qumran weitgehend synonym (1QH 11,11; 16,10 f.; 1QM 13,2.5). Hier werden die ursprünglich für die Priester vorgesehenen Reinheitsvorschriften auf die gesamte Gemeinschaft übertragen. Nur in der Gemeinschaft kann es Reinheit geben (1QS 3,4-6; 5,14-20). Die Frage nach rein und unrein wird hier zum zentralen theologischen Anliegen (1QSa 2,3-9; CD 6,17; 1QM 7,3-6). Die Entstehung von Krankheiten wird vielfach auf die Einwirkung von Dämonen zurückgeführt (Böcher 1970, 152). Gott selbst kann sich der Strafdämonen bedienen (Ps 38,3; Hi 6,4; 1Sam 16,14-23; 2Sam 24,15 f.; Jes 37,36). Unrein heißen die Geister, weil sie unrein machen (Mk 9,25; vgl. Sach 13,2). Vor allem Blindheit, Stummheit, Epilepsie und Aussatz werden mit dämonischen Einflüssen in Verbindung gebracht, aber auch das Fieber (vgl. im Neuen Testament Mt 12,22-24; 9,32 f. par.; Mk 9,17.25; Mt 10,8; Mk 1,29-31; Lk 4,29). In den Exorzismen Jesu erkannten seine Nachfolger messianische Zeichen (Mt 11,5; Lk 7,22). Und zum Auftrag Jesu an seine Jünger gehört dementsprechend die Vollmacht, Dämonen auszutreiben (Mt 10,8). An diesen Zeichen und diesem Auftrag orientierten sie sich, wenn sie die grundlegende Trennung von rein und unrein in Frage stellten.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Einige Unklarheiten in der handschriftlichen Überlieferung von Mk 1,40-45 haben zu der Überlegung geführt, dass die Erzählung in der vormarkinischen Tradition anders gelautet habe. Man rechnete in einer solchen redaktionsgeschichtlichen Auslegung mit zwei ursprünglich selbstständigen Fassungen der Wundergeschichte, von denen eine mit dem Schweigegebot, die andere mit dem Auftrag, zum Priester zu gehen, geendet habe (Lohmeyer 1967, 45), oder mit einer allmählichen Erweiterung der Erzählung (Bultmann 1995, 227); andere scheiden V. 45 aus der ursprünglichen Fassung aus (Pesch 1984a, 140 f.; Gnilka 2008a, 91), sehen V. 43 als sekundäre Dublette von V. 41 an (Kertelge 1970, 68) oder rechnen mit einer parallel zur Erzählung umlaufenden Erklärung (Theißen 1998, 148). Da das Schweigegebot und seine Übertretung in der mk Erzählkonzeption eine wichtige Rolle spielen und beides hier hervorgehoben ist, muss man in V. 43-45 mit einer redaktionellen Überarbeitung rechnen. Vermutlich endete die Erzählung mit der Aufforderung, sich dem Priester zu zeigen und das vorgeschrieben Opfer zu bringen. Auch die Wendung »ihnen zum Zeugnis« (mehrfach in LXX, vgl. Gen 31,44; Dtn 31,26; Jos 24,27) gehört vermutlich zum ursprünglichen Text. 228

Nicht nur rein, auch gesund Mk 1,40-45

Die übliche Verortung dieser und anderer Heilungserzählungen und Exorzismen in der frühchristlichen Missionspredigt (Gnilka 2008a, 91; Eckey 2008, 107) ist zutreffend, aber noch nicht hinreichend. Das frühe Christentum war attraktiv, weil es in Erinnerung an Jesus herkömmliche Grenzen in Frage gestellt und (zumindest teilweise) überwunden hat. Deshalb wurden die Geschichten nicht nur weitererzählt, um die Größe und Bedeutung Jesu herauszustellen. Sie dienten ebenso als Handlungsanweisungen für den Umgang mit Menschen, die am Rand oder außerhalb der religiösen und sozialen Gemeinschaft standen, sie wirkten »meinungsbildend und handlungsleitend« (von Bendemann 2007, 124). Symbolisch-existenziale Deutungen verstehen den Aussatz in einem übertragenen Sinn. Schürmann (Schürmann 2001, 274) sieht in dem Aussätzigen »ein Bild aller Unreinheit … So kann sich jede Art Unreinheit angesprochen fühlen und in gleicher Weise Jesus nahen«. Damit verwandt ist die psychologische Deutung: Drewermann (Drewermann 2000, 210) spricht von dem Aussätzigen, der sich selbst als ansteckende Gefahr betrachten muss, und wechselt unversehens in den Plural: »Einen jeden von uns hat man in gewisser Weise gelehrt, sich so zu sehen«. Das Wunder liegt für ihn dementsprechend v. a. darin, dass der Aussätzige den Mut findet, »die Gesetze zu vergessen« und auf Mitleid, Barmherzigkeit und Verstehen zu hoffen (a. a. O., 211). Die Stärke dieser Deutungen liegt darin, die Frage von rein und unrein unabhängig von der konkreten Krankheit ansprechen und den Text über die geschilderte Situation hinaus aktualisieren zu können. Ihre Grenze kommt in den Blick, wenn der Text benutzt wird, um Menschen oder Menschengruppen als unrein abzuqualifizieren (wie es in der Auslegungsgeschichte oft der Fall war; s. dazu unten). Die rezeptionsästhetische Auslegung van Iersels (van Iersel 1993, 108-116) fragt v. a. nach der Art und Weise, wie der Evangelist die Leserinnen und Leser lenkt und ihnen damit das Verstehen erschließt. Da sie von Anfang an wissen, dass Jesus von Gott als Sohn eingesetzt wurde (Mk 1,1.9-11), ergibt sich eine Spannung zum Geheimhaltungsgebot, das zudem auffällig übertreten wird; die dadurch entstehende Dissonanz zielt auf genaueres Verstehen, zu dem im weiteren Verlauf des Evangeliums angeleitet wird. Van Iersel deutet auch eine biblisch-theologische Deutung an: Was bei der Heilung Naamans durch Elischa in 2Kön 5,1-14 verwehrt blieb (nämlich die Berührung durch den Propheten V. 11), das tut Jesus hier und zeigt damit, dass er »auf den Spuren von Elija und Elischa wandelt …, aber dennoch … der Stärkere ist«. In sozialgeschichtlicher Perspektive beschäftigt man sich v. a. mit der Krankheit, ihrer Diagnose und Therapie und mit den Konsequenzen, die sie mit sich brachte. Hierher gehören der medizinhistorische Vergleich biblischer Texte mit der antiken Fachliteratur und v. a. neuere Versuche einer kulturanthropologischen Deutung. Krankheit und Heilung einerseits, Reinheit und Unreinheit anderseits sind nicht zeitlos identisch, sondern wandelbar. Die Haut als »sensible(r) Grenzbereich zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹« (von Bendemann 2007, 110) erweist sich dabei als besonders beobachtetes Organ (während z. B. Magen- oder Kopfschmerzen in den neutestamentlichen Heilungsgeschichten keine Rolle spielen). V. a. werden Krankheit und Gesundheit im Rahmen bestimmter Verstehenskonzepte gedeutet. Sie betreffen zunächst die Entstehung von Krankheiten. Im jüdischen Kontext wird sie der (gelingenden oder misslingenden) Beziehung zwischen Mensch und Gott zugeordnet. Zeitgenössische Begründungen medizinischer Art aus der grie229

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

chisch-römischen Umwelt (z. B. die Humorallehre) spielen keine nennenswerte Rolle. Lediglich volksmedizinische Kenntnisse sind nachweisbar (Wohlers 1999b, 72-78). Daraus ergibt sich ein anderer Umgang mit Krankheit: Während nach Aristoteles das Ziel der Heilkunst die Gesundheit ist (e.N. 1,1 1094a), die in der griechisch-römischen Medizin durch Diagnostik und Therapie in der Regel erreichbar erscheint (»therapeutischer Optimismus«, Wohlers 1999b, 76), werden im Judentum zur Zeit Jesu Krankheit und Unreinheit in einem religiösen Krankheitskonzept verbunden (Wohlers 1999b, 7275.76-86). Im Falle des Aussatzes geht es dabei v. a. um die Reinheit, die allerdings die Gesundung der Haut voraussetzt. Beides lässt sich nicht voneinander trennen (Weissenrieder 2003, 136). Die Ausleuchtung solcher Konzepte und Hintergründe macht zum einen die Fremdheit der in Mk 1,40-45 vorausgesetzten Weltsicht deutlich und zeigt zum anderen, dass dieser Text keinen Zustand, sondern einen Wandlungsprozess im Verständnis von Krankheit und besonders von Aussatz im frühen Christentum anzeigt. Vor diesem Hintergrund aber eröffnen sich neue Aktualisierungsmöglichkeiten für die eigene Gegenwart, wie z. B. eine Interpretation im Rahmen eines salutogenetischen Modells, das nicht an der Schilderung von Krankheitsbildern ansetzt, sondern nach der Ermöglichung und Erhaltung von Gesundheit fragt (von Bendemann 2007, 127 f.).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die synoptischen Parallelen finden sich in Mt 8,1-4 und Lk 5,12-16. Matthäus 8,1-4 1 Als er aber von dem Berg herabstieg, folgten ihm viele Menschen. 2 Und siehe, ein Aussätziger kam heran, kniete vor ihm und sagte: »Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.« 3 Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: »Ich will, werde gereinigt.« Und sofort wurde der Aussatz gereinigt. 4 Und Jesus sagt zu ihm: »Sieh zu, dass du niemand (davon) sagst; geh vielmehr, zeige dich dem Priester und bring die Gabe dar, die Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.«

Lukas 5,12-16 12 Und es geschah, als er in einer der Städte war, siehe (da war) ein Mann voller Aussatz; als er Jesus sah, fiel er auf das Gesicht, bat ihn und sagte: »Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen.« 13 Und er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: »Ich will, werde gereinigt.« Und sofort verschwand der Aussatz von ihm. 14 Und er gebot ihm, niemand (davon) zu sagen, sondern »geh, zeige dich dem Priester und bring dein Reinigungsopfer dar, wie Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.« 15 Das Wort aber verbreitete sich von ihm, und viele Menschen kamen zusammen um zu hören und geheilt zu werden von ihren Krankheiten. 16 Er aber ging weg an einsame Stätten und betete.

Beide Seitenreferenten greifen die Markusvorlage auf. Die Erzählungen stimmen im Kernbestand überein, werden aber in die jeweilige Erzählabfolge eingefügt und dabei leicht und z. T. übereinstimmend verändert. Matthäus platziert die Erzählung ans Ende der Bergpredigt und den Anfang mehrerer Wundergeschichten und schafft so einen engen inhaltlichen Zusammenhang von Lehre und Heiltätigkeit Jesu (vgl. 4,23-25; 9,35). Indem er die Markusvorlage kürzt, das Ge230

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spräch zwischen Bittsteller und Jesus und das dreifache »reinigen« aber beibehält, verstärkt er den Gesprächscharakter der Episode (Held 1975, 204). Ein Aussätziger tritt an Jesus heran, kniet vor ihm hin und spricht ihn (wie bei Lukas) mit kÐrio@ kyrios – »Herr« an. Matthäus verwendet die Kyrios-Anrede bei den Jüngern (8,25; 14,28.30; 16,22; 17,4; 18,21) und Kranken, die Jesus um Hilfe bitten (8,2.6.8; 9,28; 15,22.25.27; 17,15; 20,30 f.33), nicht dagegen bei Außenstehenden. Dies unterstreicht die Vertrauensäußerung »wenn du willst«. Die Reaktion Jesu entspricht im Wesentlichen der bei Markus, allerdings fällt das Erbarmensmotiv (und damit die emotionale Seite des Geschehens) weg. Wie der Ausätzige übertritt auch Jesus mit der Berührung des Aussätzigen das Kontaktverbot. Gleichwohl setzt V. 3 gegenüber Mk 1,42 einen anderen Akzent: Dort wird die Reinigung des Aussätzigen festgestellt, hier die Reinigung des Aussatzes, und die Erzählung endet mit der Aufforderung an den nun vom Aussatz Befreiten, sich dem Priester zu zeigen und das Opfer zu bringen. Die abschließende Wendung »ihnen zum Zeugnis« lässt sich in diesem Zusammenhang verstehen: Der Auftrag an den Geheilten bestätigt, dass Jesus gekommen ist, das Gesetz zu erfüllen (5,17).

Abb. 4: Das Bild aus dem Limburger Evangeliar, um 1000, stellt die Szene vor dem Hintergrund ummauerter Städte dar; dies stimmt mit der Lk-Fassung überein. Die Begleiter des Aussätzigen erinnern an Mt 8,1.

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Lukas knüpft nach einem Einschub in 5,1-11 wieder an den markinischen Erzählfaden an, dem er in 3,31-44 gefolgt ist. Er gibt Mk 1,40-45 mit einigen leichten Veränderungen wieder, die teilweise mit Matthäus übereinstimmen (Busse 1977, 106 f.; Neirynck 1974, 64-68; Ennulat 1994, 50-52). Auch hier wird die Begegnung mit dem »Mann voller Lepra« (damit ist von Anfang an zwischen dem Mann und der Krankheit differenziert) als ein Ereignis aus einer größeren Zahl ähnlicher Ereignisse in einer der jüdischen Städte vorgestellt (vgl. 4,43 f.; 5,17 f.). Er bittet Jesus um Heilung, wobei der Bittgestus (»auf sein Angesicht fallen« 5,12; vgl. Gen 17,3.17LXX; Lev 9,24LXX; Num 16,4LXX u. ö.) gesteigert ist. Die Bitte ist als Vertrauensäußerung formuliert und durch die Anrede »Herr« unterstrichen. Geste und Wort Jesu stimmen mit der markinischen Fassung überein (V. 13), allerdings entfallen die Motivation durch das Erbarmen, und die Verben drohen und wegschicken sind durch gebieten (paraggfflein parangelein) ersetzt. Die Krankheit weicht auch hier sofort, die Aufforderung, sich dem Priester zu zeigen, stimmt nahezu wörtlich mit Mk überein. Anders als dort verbreitet sich die Nachricht von dem Geschehenen ohne Zutun des Geheilten. Die Folge ist aber vergleichbar: Eine große Menge kommt (das Imperfekt rückt die Einzelepisode in einen größeren Kontext), um Jesus zu hören und Krankheiten heilen zu lassen (V. 15). Jesus aber zieht sich in die Einsamkeit zurück (zur komplementären Gegenbewegung Wolter 2008, 218) und betet (V. 16). Der Geheilte spielt nach der eingetretenen Heilung keine Rolle mehr. Die Heilung der zehn Aussätzigen in Lk 17,12-14 folgt einem vergleichbaren Schema, allerdings mit dem Unterschied, dass die Aufforderung, sich dem Priester zu zeigen, dort der Heilung vorausgeht, die dann auf dem Weg zum Tempel eintritt. Diese Umstellung ermöglicht es, die Rückkehr des einen Geheilten als besonderen Ausdruck seines Glaubens darzustellen. Das Codex-Papyrusfragment P.Egerton aus Ägypten wurde 1935 von Bell und Skeat veröffentlicht. Es enthält Evangelienüberlieferung und wird auf ca. 200 n. Chr. datiert. Erhalten sind ein Streitgespräch Jesu mit Gesetzeslehrern und Obersten des jüdischen Volkes, das in den Versuch übergeht, Jesus zu steinigen (mit Ähnlichkeiten zu johanneischen Texten), die Heilung eines Aussätzigen und die Frage nach der Steuer (mit Übereinstimmungen zur synoptischen Tradition) sowie ein bruchstückhaftes, sonst unbekanntes Wunder Jesu am Jordan. Der Textbestand der Heilung des Aussätzigen muss teilweise rekonstruiert werden (Text bei Aland 1990, 60; Übersetzung in Schneemelcher 1990, 84 f.). Der 1987 von Gronewald veröffentlichte Papyrus Köln 255 (Gronewald 1987) fügt am Schluss »und sündige nicht mehr« hinzu. P. Köln 255 … Und siehe, ein Aussätziger kommt zu ihm und sagt: »Lehrer Jesus, ich bin mit Aussätzigen gereist und habe mit ihnen in der Herberge gegessen, jetzt habe auch ich Aussatz bekommen. Wenn du es willst, werde ich rein.« Der Herr aber sagt zu ihm: »Ich will es, sei rein.« Und sofort verschwand die Leprakrankheit von ihm. Der Herr aber sagt zu ihm: »Geh, zeige dich den Priestern … und entrichte entsprechend des Reinheitsgebotes, wie es Moses befohlen hat (und sündige nicht mehr …).« Die teilweisen Übereinstimmungen mit der johanneischen bzw. synoptischen Tradition haben zu verschiedenen Theorien geführt: Man vertrat eine Abhängigkeit von Joh und erklärte die synoptischen Anklänge durch mündliche Tradierung (Dodd 1954); Jeremias 232

Nicht nur rein, auch gesund Mk 1,40-45

(in Schneemelcher 1990, 82-85) dachte an eine freie Bezugnahme des Verfassers auf die vier kanonischen Evangelien; Crossan (Crossan 1985, 65-87) hält zumindest die Steuerfrage für älter als Mk 12,13-17 (so bereits Bell/Skeat 1935, 38); dies verweise auf mündliche und schriftliche Tradition neben der kanonisierten Überlieferung; Erlemann (Erlemann 1996) entdeckt hier das »missing link« zwischen synoptischer und johanneischer Tradition. Die Ergänzung »sündige nicht mehr« passt allerdings nicht in den Zusammenhang und widerspricht der Begründung am Anfang des Abschnitts. Die Rekonstruktion von Schmidt (Schmidt 1936) »Du suchst die Leprakranken auf und isst mit Zöllnern in der Herberge. Hab Erbarmen, mir geht es wie ihnen« geht davon aus, dass ein Reisen mit Leprakranken nicht möglich gewesen sei; den ersten Satz des Kranken auf Jesus zu beziehen ist aber vom Textbestand her nicht überzeugend. Der Text ist von den synoptischen Evangelien abhängig, und zwar am ehesten von Lukas (Neirynck 1974). Dafür spricht v. a. die Formulierung der Begründung: Der Bittsteller ist mit Aussätzigen gewandert (sunodeÐein synodeuein – mitgehen kommt im Neuen Testament nur noch in Lk 17,14; Apg 9,7 vor) und hat sich beim gemeinsamen Essen (sunesqfflein synesthiein – mitessen; nur noch in Lk 15,2; Apg 10,41; 11,3) in der Herberge (pandoce…on pandocheion, nur noch in Lk 10,34) angesteckt. Auch das Fallen auf das Angesicht lässt sich vergleichen (Lk 5,12), und die Aufforderung sich den Priestern zu zeigen, erinnert an die gleichlautende Aufforderung in Lk 17,14. Eine inhaltliche Verbindung besteht zwischen dem dankbaren Geheilten aus Samaria (17,16) und dem barmherzigen Samariter (10,30-37). Die Begründung in P.Egerton unterscheidet sich allerdings von den Synoptikern. Ursache für die Krankheit ist hier nicht Vergehen und Sünde, sondern ungewollte Ansteckung. Im Hintergrund wird ein anderes Krankheitskonzept erkennbar. Schon früh wird die Erzählung, v. a. der Aussatz, allegorisch (und in der Folge moralisch) gedeutet. Nach Origenes (lev. hom. 8,6-10) verweist der Aussatz der Haut auf den Aussatz der Seele (vgl. Thdt. quaest. 15,9). Methodius nimmt die Bestimmungen in Lev 13,14 als Grundlage einer christlichen Bußpraxis (vgl. Harnack 1892, 42); in de lepra 11,4, bezeichnet er Häretiker als aussätzig. Quodvultdeus kann sogar verschiedene Arten der Krankheit auf bestimmte häretische Gruppen aufteilen (Manichäer, Nestorianer, Donatisten etc.; Quodvult. prom. 2,6 = MPL 51,775). Beda Venerabilis (627-735), Matt. 8,3 (MPL 92,39) deutet dagegen Wort und Geste Jesu in Mt 8,2 f. auf die Häretiker (volo autem propter Photinum dicit, imperat propter Arrium, tangit propter Manichaeum / Ich bin hingegen der Meinung, dass er [sc. Jesus] wegen Photinus spricht, wegen Arius befiehlt, wegen der Manichäer berührt). Moralische Verfehlungen waren die Folge. Noch Hildegard von Bingen war der Auffassung, dass Aussatz von schwarzer Galle und diese wiederum durch Schlemmerei, Trunksucht oder sexuelle Ausschweifungen verursacht sei (Schipperges 1957, 95.243). Augustin (Simpl. App 4 = 120) versteht die Matthäusfassung der Erzählung im Zusammenhang mit der vorangehenden Bergpredigt: »aussätzig« ist, wer ihre Forderungen nicht einhält. Hieronymus (comm. in Matt. zu Mt 8,4 = MPL 25,50 f.) legt besonderen Wert auf den Glauben des Aussätzigen, der in seiner Bitte zum Ausdruck komme. Thomas von Aquin (cat. Matt. 8,1) sieht im Aussätzigen ein Bild für alle sündigen Menschen, Luther ein Beispiel für den Glauben, der ohne Verdienste allein auf Christus vertraut; im Gegenzug verbindet er die Mosetora fest mit der wörtlich und übertragen ver-

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

standenen Krankheit: »Moses regiert im Siechaus, ich will bey Christo sein« (Predigt vom 23. 1. 1530). Eine andere Interpretationslinie zieht ethische Konsequenzen für den Umgang mit Kranken: Gerade weil den Aussätzigen die Gemeinschaft verweigert wird, soll man sich ihnen zuwenden. Gregor von Nazianz (or. 14,6,10) schreibt: »Ganz besonders müssen wir unser Herz denen öffnen, welche von der heiligen Krankheit zugrunde gerichtet worden sind, selbst an Fleisch, Knochen und Mark … zerfressen werden und von ihrem armseligen, schwachen, treulosen Körper verraten sind«. Gregor von Nyssa berichtet von Basilius (Greg. Nyss. laud. Bas. 63, MPG 36, 580), der Aussätzige wie Brüder umarmt und ein Hospital für sie eingerichtet habe. Nach Gregor von Turin (vit. 1,4, MPL 71,1014) hat der heilige Romanus Aussätzigen die Füße gewaschen und sie dadurch vom Aussatz geheilt. Der Arme, mit dem der heilige Martin den Mantel teilte, soll ein Aussätziger gewesen sein (Sulp. Sev. vit. 18, MPL 20,170). Nach seinem Testamentum 13 führt Christus Franz von Assisi unter die Aussätzigen, in der Franziskus-Legende wird Christus selbst als Leprakranker dargestellt. Die in vielen Städten gegründeten Leprosorien (z. B. das 1326 gegründete Leprosorium in Münster, www.lepramuseum.de) bieten den Erkrankten eine Existenzmöglichkeit. Diese Deutung nimmt besonders den handlungsleitenden Aspekt der Erzählung wahr und versucht, ihn auf jeweils gegenwärtige Verhältnisse zu übertragen.

Peter Müller Literatur zum Weiterlesen R. v. Bendemann, Christus der Arzt – Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums, in: J. Pichler/C. Heil (Hg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 105-129. J. K. Elliott, The Conclusion of the Pericope of the Healing of the Leper in Mark 1:45, in: ders., New Testament Textual Criticism: The Application of Thoroughgoing Principles, Leiden 2010, 341-352. M. Frenschkowski, Art. katharós, Theologisches Begriffslexikon 1 (2000), 898-901.902-907. K. Kertelge, Die Wunder im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, StANT 23, München 1970, 62-75. V. Nutton, Art. Lepra, DNP 7 (1999), 72-73. R. Pesch, Die Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen, in: ders., Jesu ureigene Taten? Ein Beitrag zur Wunderfrage, QD 52, Freiburg i. Br. et al. 1970, 52-113. T. Schramm, Der Markus-Stoff bei Lukas. Eine literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung, SNTS.MS 14, Cambridge 1971, 91-99. K. Stock, La purificazione del lebbroso (Mc 1,40-45). Un dilemma fondamentale dell’opera di Gesù, in: E. Franco (Hg.), Mysterium regni, ministerium verbi (Mc 4,11; At 6,4). Scritti in onore di mons. Vittorio Fusco, Bologna 2001, 393-405. A. Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke, WUNT 2/164, Tübingen 2001, 5456.308-328. M. Wohlers, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, MThSt 57, Marburg 1999, 3-86.243-248.

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Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter (Die Heilung eines Gelähmten) Mk 2,1-12 (Mt 9,1-8; EvNik 6) (1) Und als er nach Tagen wiederum nach Kafarnaum hineinging, hörte man, dass er im Haus ist. (2) Und es versammelten sich viele, so dass kein Platz mehr war, auch nicht bei der Tür, und er redete zu ihnen das Wort. (3) Und sie kommen und bringen zu ihm einen Gelähmten, getragen von vieren. (4) Und weil sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menschenmenge, deckten sie das Dach ab, wo er war, und gruben es auf und lassen die Trage herab, auf der der Gelähmte lag. (5) Und als Jesus ihren Glauben sah, sagt er zu dem Gelähmten: »Kind, vergeben sind deine Sünden.« (6) Es saßen aber etliche der Schriftgelehrten dort und überlegten in ihren Herzen: (7) »Was redet dieser so? Er lästert; wer kann Sünden vergeben außer einem – Gott?« (8) Und sogleich als Jesus in seinem Geist erkannte, dass sie so bei sich selbst überlegen, sagt er zu ihnen: »Was überlegt ihr dieses in euren Herzen? (9) Was ist leichter – zu dem Gelähmten zu sagen: ›Vergeben sind deine Sünden‹ oder zu sagen: ›Steh auf und nimm deine Trage und geh umher?‹ (10) Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat Sünden zu vergeben auf der Erde, sagt er zu dem Gelähmten: (11) ›Ich sage dir, steh auf, nimm deine Trage und geh in dein Haus.‹« (12) Und er stand auf und nahm sogleich die Trage und ging hinaus vor allen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen und sagten: »So etwas haben wir noch nie gesehen!«

Sprachlich-narratologische Analyse In Mk 2,1-12 liegt eine mythisch geprägte Erzählung vor. In ihr bilden der körperliche und der spirituelle Zustand der Personen, zu denen Jesus in Beziehung tritt, eine Einheit. Die Person des Gelähmten befindet sich ebenso wie die Pharisäer und Schriftgelehrten in einem Erstarrungszustand, der eine körperliche und eine geistig-geistliche Ausdrucksseite besitzt. Die Einbindung der Erzählung in den Gesamtzusammenhang des Markusevangeliums wird bereits aus dem Einleitungsvers 1 ersichtlich. Das Subjekt des Satzes wird in der 3. Person Singular des Personalpronomens – »er« – als bekannt vorausgesetzt. Jesus wird mit Selbstverständlichkeit als Protagonist der anschließenden Handlung eingeführt. Auch die Ortsangabe »Kafarnaum« beinhaltet einen Rekurs auf zuvor Erzähltes. Sie verweist auf die Begebenheiten aus Mk 1,21-38: die Vernichtung eines unreinen Geistes durch Jesus in der Synagoge von Kafarnaum (1,21-28), die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (1,29-31), die summarisch mitgeteilte Heilung vieler Kranker und das Zum-Schweigen-Bringen einer großen Zahl von Dämonen (1,32-34) sowie Jesu Rückzug in die Einsamkeit und seinen Entschluss zum Aufbruch in benachbarte Ortschaften, um dort zu verkündigen. Der Bezug auf diese Aufsehen erregenden Begebenheiten macht die 235

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Verbreitung der Kunde von seinem Aufenthalt in einem Haus in Kafarnaum – insinuiert wird möglicherweise, dass es sich wie in 1,29 um das Haus der Familie des Petrus handelt – und das Zusammenströmen der Menschenmenge plausibel. Ein großes Auditorium bildet das Forum für Jesus, der den lgo@ (logos – Wort) verbreitet (V. 2). In dem Gedränge versuchen vier Männer, einen auf einer Bahre liegenden Gelähmten zu Jesus zu bringen. Unter erheblicher Anstrengung gelingt es ihnen, das Dach zu öffnen und die Trage vor Jesus herabzulassen. Dieser spricht dem Gelähmten, nachdem er optisch den Glauben der Träger konstatiert hat, die Vergebung seiner Sünden zu (V. 3-5). Die in V. 6 f. stumm vorgebrachte Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten bezieht sich auf die geistliche Handlung Jesu. Hätte Jesus den Gelähmten lediglich zum Gehen gebracht, wäre für seine Kritiker kein theologisches Problem entstanden. Besondere ärztliche Fähigkeiten hätten sie ihm durchaus zubilligen können. In der Sache stehen Jesu Gegner damit für einen mythoskritischen Einwand. Sie erwarten die Trennung von körperlicher und geistlicher Heilung. Jesus, der über die Gabe verfügt, in sie hineinzuschauen, geht auf ihren unausgesprochenen Vorwurf ein und nimmt ihn zum Anlass für eine Frage, die eine Alternative aufwirft (V. 9). Beide Hälften der Frage werden in Abhängigkeit von dem Verb »sagen« gestellt. Ist es leichter, das eine zu sagen oder das andere? Die Antwort hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Ist die Realität des Vollzugs der Sündenvergebung vorausgesetzt, dann ist dieser Akt, der Gott allein zukommt, der schwierigere. Nimmt man dagegen an, das Vergebungswort sei »nur« eine verbale Äußerung, deren Wirklichkeitsabdeckung niemand überprüfen kann, wird die Heilungskompetenz zum schwierigeren. In beiden Fällen gilt freilich: Wenn Jesus das eine von beidem vollziehen kann, sollte er auch das andere bewerkstelligen können. In der Erzählung tut Jesus parallel beides: Er sagt das eine (V. 5), und er sagt das andere (V. 11). Hat die formgeschichtliche Exegese in dieser Parallelführung nur eine Doppelung erblickt, die sie dazu verwendete, in V. 5 und V. 10 Einschnitte zwischen zwei Teiltexten auszumachen, so erscheint in der Gesamtinszenierung beides als Ausdrucksform von V. 2: »Er redetet zu ihnen das Wort« (vgl. Dormeyer 1974, 82). Jesu Handeln besteht darin, das eine mit dem anderen zu sagen und es dadurch zu bewirken. Sein Reden findet seinen Ausdruck in einem verbalen Handeln, das zugleich ein faktisches Tun ist. Insofern lautet die Antwort auf die Frage von V. 9: Unter dem Gesichtspunkt des tatsächlichen Geschehens gehören beide Handlungen als die zwei Seiten einer Medaille zusammen. Folglich sind sie als gleich schwer anzusehen. Aus der Perspektive des markinischen Jesus handelt es sich bei diesem Heilungsvorgang um ein einziges Gesamtgeschehen. Ein körperlich gelähmter Mensch, der sich im Rahmen der weltanschaulichen Voraussetzungen der erzählten Welt des Markusevangeliums durch seine Körperbehinderung in geistlicher Hinsicht in Frage gestellt fühlen muss, wird seiner intakten Gottesbeziehung vergewissert. Die Zusage der Sündenvergebung geht mit der körperlichen Wiederherstellung einher (V. 12a). Wie geistliche und körperliche Gesundheit in der Person des Gelähmten eine Einheit bilden und sich die eine Seite in der anderen abbildet, so stehen auch bei der Personengruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten Körperliches und Geistliches in einem Korrespondenzverhältnis. Eingeführt werden die jüdischen Autoritäten unter Hinweis auf ihre Körperhaltung. Sie sitzen, und in ihrer Reglosigkeit bleiben sie zudem stumm. Mitgeteilt werden die Gedanken, die sie »in ihren Herzen« bewegen (V. 6), die Abwehr 236

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gegenüber dem, was Jesus redet, und die Disqualifizierung seiner Worte als Gotteslästerung. Ihre unausgesprochene Rückfrage, die der Leserschaft über die Erzählstimme zugänglich wird, ist ein Einwand gegen Jesu Verhalten: Wer kann Sünden vergeben außer einem, Gott (V. 7)? Sie bestreiten die Legitimität des Zuspruchs der Sündenvergebung durch Jesus. Wie gegenüber dem gelähmten Mann ist es Jesus, der Herzenskenner, der das Wort an sie richtet und die Kommunikation mit ihnen eröffnet (V. 8.9). Er knüpft an ihre Gedanken an und fragt sie laut nach der Begründung ihrer Haltung (V. 8). Bewegungslos und schweigend verharren Pharisäer und Schriftgelehrte in ihrer theologisch motivierten Abwehr. In ihrer Verhärtung kommen sie dem vor Jesus liegenden Paralytischen gleich. Inhaltlich nehmen sie die Position ein, Gott vor einem nach ihrer Auffassung unerlaubten Übergriff durch Jesus zu schützen. Die Erzählung stilisiert sie zu Hütern der korrekten »Dogmatik«. Geistige Haltung und körperliches Erscheinungsbild entsprechen einander. Wie im Falle des körperlich Gelähmten wird auch von keinem der geistig-geistlich erstarrten Adressaten, an die Jesus das Wort richtet, eine Antwort gegeben. In der gesamten Szene bis einschließlich V. 11 bleibt Jesus der Einzige, der spricht. Die Tatsache, dass die Erzählung mit V. 12b nach erfolgter Heilung des Gelähmten einen Fortgang nimmt, wird formgeschichtlich unter Hinweis auf einen gattungstypischen Zug erklärt. Hier liege der viel zitierte »Chorschluss« vor (Dibelius 1971, 54), der das zustimmende Urteil der Zuschauer zum Ausdruck bringe. Damit ist jedoch der inhaltliche Höhepunkt der Erzählung nicht hinreichend erfasst. Bultmann konnte sich mit der Aussage des Erzählers, demzufolge »alle« außer sich gerieten und Gott lobten, nicht abfinden. Nach seiner Auffassung sind die jüdischen Autoritäten hierbei nicht mitzudenken (Bultmann 1995, 12; ebenso Dormeyer 1999, 231). Hält man in formgeschichtlicher Logik V. 12 für den authentischen Abschluss der ehemals vermeintlich selbstständigen Wundergeschichte V. 1 (3)-5 plus 11 f., ist dem Endredaktor in der Tat vorzuhalten, nach der Integration von V. 6-10 hier die Formulierung nicht dem neuen Zusammenhang entsprechend angepasst zu haben. Erblickt man, gängigen Erzählgesetzen folgend, die Pointe der Erzählung in dem Schlussvers 12, dann mündet die als Einheit gestaltete Szene (vgl. Zimmermann 2009a, 241) in das gemeinsame Gotteslob von Kritikern wie Zuschauern (ebenso Dschulnigg 2007, 95). Sie vereinen sich im ekstatischen Lobpreis Gottes. Es ist Jesus gelungen, den Widerstand gegenüber dem lgo@ (logos) aufzulösen. Nicht erstaunen kann, dass der Gelähmte bei diesem Finale nicht mehr dabei, sondern vor aller Augen davongegangen ist. Denn er hat seine geistlich-körperliche Heilung bereits erhalten. An seiner Person hat sich das Geschehen entzündet, das in der Heilung der Kritiker Jesu seine Vollendung findet. Die Erzählung stellt die Personen spiegelbildlich einander gegenüber. Der reglose Mann auf der Tragbahre wird seines bestehenden heilen Gottesverhältnisses vergewissert; und diese Zusage geht mit der Wiedergewinnung seiner körperlichen Bewegungsfähigkeit einher. Zugleich wird die Ausgrenzung überwunden, der der Kranke als Sünder unterliegt (Zimmermann 2009a, 244). Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die unter Hinweis auf ihre reglose Körperhaltung in die Handlung eingeführt und anschließend durch ihre innere Erstarrung als geistlich defizient charakterisiert werden, geraten in V. 12b schließlich ebenfalls in Bewegung – in körperlicher wie geistlicher Hinsicht. Auch sie erscheinen als Integrierte, die in eine lebendige Gottesbeziehung zurückgeholt wurden. 237

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Die zentrale Thematik von Erstarrung und Bewegung wird durch das Gegenüber zweier gegensätzlicher Verbsorten in der Erzählung unterstrichen. Dominieren in der rahmenden Passage V. 3-5 und 11 f. Verben der Bewegung und erzeugen Dynamik, stehen in den Versen 6-10 Verben der Ruhe im Vordergrund. Bei Beachtung der mythischen Strukturierung der Erzählung tritt rückblickend auch die Bedeutung der Lokalisierung des Erzählten hervor. Zu den Besonderheiten des Raumes in literarischen Texten gehört, dass es keine nicht-semantisierten Räume gibt. Der Raum steht immer im Zusammenhang mit den erzählten Figuren. Seine Präsentation folgt »den Regeln und Gesetzmäßigkeiten des Werkes« und ist mit Bedeutung behaftet. Die Interpretation fragt daher danach, was eine Raumangabe zur Charakterisierung der Personen und des dargestellten Geschehens beiträgt (Lahn/Meister 2008, 248-252, Zitat 248). Zu den besonderen Begleitumständen der in Mk 2,1-12 dargestellten Szene gehört die räumliche Umgebung. Das Geschehen spielt im abgeschlossenen Innenraum eines Hauses, das von außen nicht mehr zugänglich ist. Wegen der sich bereits am Eingang ballenden Menschenmenge ist kein regulärer Zutritt mehr möglich. Mit Mühe wird ein ungewöhnlicher Zugang über das Dach gebahnt. Die Handlung beginnt in einem Haus und führt mit dem Hinausgehen des geheilten Gelähmten ins Freie. Diese Raumkonzeption wirkt wie ein Spiegel des erzählten Geschehens. Die Erzählung handelt von der Verschlossenheit gegenüber dem lgo@ (logos) Jesu und davon, wie es Jesus gelingt, diese aufzubrechen, indem er einen Zugang zu den körperlich und geistlich gelähmten Personen gewinnt, die mit ihren verhärteten religiös-theologischen Überzeugungen in abgeschlossenen Denkgebäuden leben. Jesu Einsatz, durch den er den Gelähmten seiner im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs verloren geglaubten Gottesgemeinschaft vergewissert, und sein Zugehen auf die Schriftgelehrten, die sich in der Fixierung auf ihr Gottesbild verkapselt haben, ist für den begrenzten Zeitraum dieser Erzählung von Erfolg gekrönt. Auch Jesus hat sich analog dem Engagement der Träger einen Zugang zu den in ihren geistig-geistlichen Räumen lebenden gelähmten bzw. erstarrten Personen der Erzählung verschafft. Entsprechend führt die Perspektive am Schluss aus dem umschlossenen Raum in die offene Außenwelt. Bezeichnenderweise ist dabei das in V. 1 genannte Haupthindernis für den freien Zugang zu Jesus, die Zusammenballung vieler Menschen schon im Eingangsbereich, in V. 12 im Blick auf das Hinausgehen kein Thema mehr. Fazit: In Mk 2,1-12 vergewissert Jesus einen gelähmten Mann seiner bleibenden Gottesgemeinschaft und führt eine Gruppe von Menschen, die in ihrer Gottesvorstellung erstarrt sind, in eine lebendige Gottesbeziehung. Nicht die an den herausragenden Fähigkeiten Jesu orientierte personale Christologie, wie die Form- und Redaktionsgeschichte meinte, ist das Thema der Erzählung. Der erzählte Jesus von Mk 2,1-12 steht für die soteriologisch perspektivierte Theologie des Markusevangeliums. Die Christologie, die in der markinischen Jesusdarstellung ihren Ausdruck findet, ist von der Soteriologie geleitet.

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Die Heilung eines Gelähmten und vieler Erstarrter Mk 2,1-12

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Par€lusi@ (paralysis) impliziert von der Wortbedeutung her den Gedanken der Auflösung. Diese Art der Krankheit rührt nach antiker Vorstellung an die Sphäre des Todes. Die Bewegungsunfähigkeit aufgrund von Lähmung steht im Altertum für den Verlust von Kraft und Empfindung (vgl. Bolt 2003, 105 f.; Eckey 2008, 114). Die nur scheinbar nicht miteinander zu vereinbarenden Verben »abdecken« und »aufgraben« in V. 4 haben zu Debatten über die Dachform – hellenistisch-römisches Ziegeldach oder palästinisches Lehmflachdach – und in der Konsequenz über die Herkunft des Erzählers bzw. seine Kenntnisse der Wohnverhältnisse im ländlichen Raum Israels Anlass gegeben sowie zu dem wiederholten Versuch geführt, über die Scheidung von Tradition und Redaktion eine Verteilung auf zwei Textstufen vorzunehmen (Lührmann 1987, 57). Spekuliert wurde auch darüber, ob die Öffnung des Daches auf exorzistische Vorstellungen zurückgeht und dem Entweichen eines Krankheitsdämons Raum schaffen bzw. den regulären Zugang zum Haus vor ihm verbergen sollte (so seit Jahnow 1925, 155-158; bei Bultmann 1995, 237; Böcher 1972a, 72 f.; Gnilka 2008a, 97) bzw. ob auf diese Weise ein Eingang für Menschen geschaffen wurde, die als kultisch Unreine nicht die Schwelle überschreiten durften und daher von oben eingelassen werden mussten (vgl. Eckey 2008, 115).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die mythische Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit numinosen Mächten und die Vorstellung der Einheit von Materiellem und Spirituellem stehen auch hinter dem für viele Kulturen des Altertums charakteristischen Tun-Ergehen-Zusammenhang. Die Denkfigur der Verknüpfung von Krankheit und Sünde geht von dem Grundgedanken aus, dass jedes Handeln entsprechende Konsequenzen nach sich zieht. Der Tat-Folge-Zusammenhang ist dadurch gewährleistet, dass jede menschliche Handlung einerseits weltimmanentes Geschehen ist und andererseits das Verhältnis zum Göttlichen berührt. Insofern das Tun die Gottesbeziehung tangiert, hängt auch das Ergehen von der Art des Gottesverhältnisses ab. Krankheit resultiert in diesem Kontext aus Sünde, d. h. einer spirituellen Verfehlung, und verweist auf Schuld vor Gott. Als Strafe begriffen macht sie die Notwendigkeit der Vergebung sichtbar. Gesundung setzt die Wiederherstellung einer heilen Gottesbeziehung voraus bzw. geht mit ihr einher (Klumbies 2001, 161-165). Die Alternative, ob Jesus unberechtigterweise das Recht der Sündenvergebung für sich in Anspruch genommen oder lediglich auf die Sündenvergebung durch Gott verwiesen hat (vgl. Malbon 2009, 152), verliert unter soteriologischer Perspektive insofern an Bedeutung, als die Zusage Jesu darauf zielt, den Gelähmten gegen den äußeren Anschein seiner bleibenden Gottesgemeinschaft zu vergewissern. Alttestamentlich wird die Verbindung von Heilungs- und Vergebungsmotiv in Ps 103,3 ausgesprochen: Gott ist der, »der dir alle deine Sünde vergibt, der alle deine Krankheiten heilt«. Im Falle der Heilung gilt Gott als der Arzt (Ex 15,26). Gegen die Aufweichung der Alleinzuständigkeit Gottes für Krankheit und Heilung wendet sich das Ressentiment aus Sir 38,15: »Wer gegen den sündigt, der ihn gemacht hat, möge in die Hände 239

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des Arztes fallen.« Neutestamentlich zeugen auch Joh 5,14; 9,2 und Jak 5,14 f. von der Nähe, die zwischen Krankheit und Sünde bzw. Heilung und Vergebung gesehen wurde. Jesus als kardiognðsth@ (kardiogno¯ste¯s – Herzenskenner) in Mk 2,8 besitzt eine Fähigkeit, die im Alten Testament Gott zugeschrieben wird. Als Gottesprädikat begegnet die Vorstellung in 1Sam 16,7; 1Kön 8,39; 1Chr 28,9; Ps 7,10; 44,22; 139,2-4; Spr 15,11; Jer 11,20; 17,9 f. außerdem in Sir 42,18-20 und PsSal 14,8. Das Vorherwissen ist eine Qualität auch hellenistischer Wundertäter (Philostr. vit. ap. 1,19; 4,18; 7,9). Im Neuen Testament wird das Theologumenon in Lk 16,15; Apg 1,24; 15,8; Röm 8,27; 1Thess 2,4 verwendet. Offb 2,23 bezieht es auf den Sohn Gottes. Der Terminus ¡ u @ to‰ ⁄nqrðpou (ho hyios tou anthro¯pou – der Sohn des Menschen) in V. 10 eröffnet ein breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten. Unter etymologischer Perspektive führt der Rekurs auf den hebräischen und aramäischen Sprachhintergrund zu einem möglichen Verständnis im Sinne von »ein menschliches Wesen«, »jemand«. Die Bezeichnung »der Sohn des Menschen« könnte dann im vorliegenden Zusammenhang als Umschreibung des Personalpronomens »ich« verstanden werden. Ihre Verwendung schütze davor, Jesus mit seiner Aussage als unbescheiden dastehen zu lassen. Der Terminus schließe das »Ich« in den größeren Zusammenhang einer Aussage über menschliche Wesen und deren Möglichkeiten ein. Als Kontext wird mit der Verwendung des Ausdrucks auch das Wort über den richtenden Menschensohn aus Dan 7,9 abgerufen (Collins 2007, 187-189). Form- und redaktionsgeschichtlich orientierte Exegese hat auf der Grundlage der Scheidung von Tradition und Redaktion die Gesamterzählung in Einzelteile zerlegt, diese aus ihrem vorliegenden Kontext herausgelöst, in postulierten historischen Situationen der Geschichte des frühen Christentums verankert und in ein chronologisches Nacheinander gestellt. Die Endfassung des Textes wurde im Zuge dieses Verfahrens aus der Geschichte des Wachstums der Vorstufen und Einzelzüge erklärt (zur Darstellung im Einzelnen vgl. Klumbies 2001, 222-225). Im Rahmen dieses Modells gelten V. 1 und 2 als Einleitung in die Gesamterzählung. Der exakte Anfang sei jedoch nicht mehr zu ermitteln, da Tradition und Redaktion zu einem unentwirrbaren Knäuel verstrickt seien. Mit V. 3 beginne die eigentliche Erzählung. Allerdings umfasse sie in ihrer ältesten Grundstufe nur die Verse 3 bis 5 bzw. 5a und die Verse 11 und 12. Unter dem Gattungsaspekt handele es sich um eine stilechte Wundergeschichte. In diese habe ein früher Bearbeiter, vermutlich im ältesten Stadium der auf die mündliche Überlieferung folgenden Verschriftung, die konfliktuöse Szene V. 5b-10 (so Taylor 1966, 191; Kee 1977, 35-37.54; Hultgren/Fuller 1979, 107 f.; Doughty 1983, 162 f.) bzw. V. 6-10 (so v. a. Pesch 1989, 156; Scholtissek 1992, 152-166; Klauck 1981, 235 f.; auch Meiser 1998, 139) hineinkomponiert. Für denkbar erachtet wird auch, dass dieser Überarbeitungsvorgang erst vom Evangelisten Markus als dem Endredaktor der Szene vorgenommen wurde. Gattungsmäßig sei der Einschub als ein Streitgespräch zu bezeichnen. Ihren Haftpunkt habe die Konfliktszene an dem ursprünglich frei umlaufenden Logion V. 10 gefunden. Insgesamt liegt nach form- und redaktionsgeschichtlicher Auffassung in Mk 2,112 eine aus ursprünglich drei Einzelteilen bestehende Form vor, die sukzessive weiterentwickelt (vgl. Gnilka 2008a, 95-102; Pesch 1984a, 149-162; Klumbies 2001, 222-224) und entweder bereits in einem vormarkinischen Stadium der Überlieferung zusammengestellt (so Bultmann 1995, 12 f.; Higgins 1959, 126.130 f.; Budesheim 1971, 191-194) 240

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oder von dem Endredaktor des Markusevangeliums in ihre Schlussfassung gebracht wurde (so Johnson 1977, 55; Minette de Tillesse 1968, 117 f.; Weiß 1989, 134 f.). Jeder einzelnen Stufe des Überlieferungsprozesses wird ein dazu passender »Sitz im Leben« zugeschrieben. Auf diese Weise wird eine idealtypische historische Situation im frühen Christentum imaginiert, die sich aus den Anforderungen der christlichen Verkündigung in den Jahrzehnten bis zur schließlichen Veröffentlichung der Gesamtschrift ergibt. Das Heilungswunder führe in die frühe missionarische Propaganda zurück (Kertelge 1970, 78.87; Schille 1967, 25). Diese habe versucht, Glauben unter Hinweis auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten Jesu zu wecken. Das eingeschobene Streitgespräch spiegele die Auseinandersetzung mit Gegnern der christlichen Verkündigung wider. Möglicherweise habe das ehedem selbstständige Logion V. 10, das zentrale christologische Motive aufbewahre, die Bildung dieser nicht eigenständig »lebensfähigen« Zwischenszene inspiriert und sei in Verbindung mit dieser in die Wundererzählung eingeschoben worden. Die Endfassung dokumentiere den Abschluss der weiterentwickelten christologischen Reflexion der Überlieferung. Die Erzählung ziele darauf, die Vollmacht Jesu, des Menschensohnes, zur Vergebung der Sünden bereits auf Erden hervorzuheben. Für die Isolierung und Herauslösung von Mk 2,3-5b plus V. 11 und V. 12 aus dem Gesamtzusammenhang und die Identifikation der Erzählung als einer Wundergeschichte war die Überzeugung vom Vorliegen eines typischen Schemas ausschlaggebend. Durch den Vergleich mit motivisch ähnlich gelagerten Überlieferungen aus dem hellenistischen und jüdischen religionsgeschichtlichen Umfeld war die frühe Formgeschichte zu der Überzeugung gelangt, dass den Stoffen ein wiederkehrendes Muster unterlag. Es bestand aus den Elementen: 1) Exposition, 2) Begegnung der notleidenden Person mit dem Wundertäter, 3) Schilderung der Notlage, 4) Einleitung der Rettungsmaßnahme durch ein wunderwirkendes Wort oder einen wirksamen Gestus, 5) Feststellung des Erfolges, 6) Akklamation der Zeugen der Handlung, der so genannte »Chorschluss« (so seit Dibelius 1971, 54; mit Modifikationen auch Kahl 1994, 106 f.). Obwohl dieses Schema zur Formalbestimmung der betreffenden Erzählungen verwendet worden ist und beansprucht hat, eine Gattungsaussage vorzunehmen, besteht ein Handicap dieser Bestimmung darin, dass aus inhaltlichen Zügen auf die formale Gestaltung zurückgeschlossen wird und mit der schablonenartigen Anwendung des Schemas auf neue Überlieferungen das Raster sich selbst immer neu bestätigt. Der Preis für dieses Verfahren ist der Verlust der individuellen Züge der Erzählungen, die zugunsten der Schematisierung ausgeblendet werden. Zugleich wird bei der Anwendung dieses Verfahrens sichtbar, dass die scheinbar rein formalen Bestimmungen mit gravierenden inhaltlichen Vorentscheidungen befrachtet sind (s. u.). Die von der Idee des historisch zuzuordnenden Traditionswachstums geleitete form- und redaktionsgeschichtliche Exegese hat sich in der Regel von der rekonstruierten Grundstufe der Erzählung theologisch distanziert. Das darin enthaltene Jesusbild entspreche nicht dem christologischen state of the art. Jesus werde als qe…o@ ⁄nffir (theios ane¯r – göttlicher Mensch) dargestellt, der zu Zwecken der Missionspredigt in nichtchristlicher Umgebung als besonders qualifizierter Wunderheiler verkündigt wird. Dies sei zwar im Rückblick verständlich, werde aber bereits von der frühchristlichen Bearbeitungsstufe und insbesondere durch den Evangelisten Markus in eine andere Richtung gelenkt. Spätestens der Endredaktor habe eine Korrektur der frühen christologischen Fehlentwicklung vorgenommen (Weeden 1979, 238-242.253). Nicht der bloße Wunder241

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täter, sondern der vollmächtige Repräsentant Gottes, der die göttliche Sündenvergebung auf die Erde gebracht habe, stelle das kerygmatische Zentrum der Erzählung dar (V. 10). Die massive, geradezu als magischer Akt anzusehende Heilungstat würdige Jesus zum bloßen Mirakeltäter herab (Klein 1970, 54). Entsprechend sei es dem Einschub von V. 5b bzw. 6-10 zu verdanken, die Erzählung in sachgemäßer Weise zu ihrem christologischen Ziel geführt zu haben.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Liegt für die moderne Rationalität das Wunder in Mk 2,1-12 in der Wiederherstellung der Gehfähigkeit des Gelähmten, so geschieht in der mythischen Dimension das eigentlich Wundersame im Bereich des Numinosen: Dem Gelähmten wird die angesichts seines körperlichen Zustands nicht für möglich gehaltene bleibende Gottesgemeinschaft zugesagt; die erstarrten Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich in ihre Gottesvorstellung eingeschlossen haben und diese verteidigen zu müssen glauben, werden in die unverhoffte Bewegung einer dynamischen Gottesbeziehung geführt. Die formgeschichtliche Behandlung der Wundergeschichten impliziert unausgesprochen die Anwendung eines wenig problematisierten Wunderbegriffs auf die Erzählungen. Im Regelfall gilt die Durchbrechung von Kausalzusammenhängen als das Kriterium für den Wundergehalt einer Szene. Den Bemessungsmaßstab gibt die Überlegung ab, ob die Erzählungen kompatibel mit einem naturwissenschaftlich-analytisch bestimmten Weltbild sind oder dessen Voraussetzungen durchbrechen. Die Unterscheidung wirkt sich insofern als folgenreich aus, als die Erzählungen anschließend auf ihre historische Vorstellbarkeit hin bewertet werden. Heilungswunder wie Exorzismen gelten in diesem Rahmen als möglich. Totenerweckungen sprengen das Vorstellbare. Auf neorationalistische Art wird zwischen denkbaren Wundern Jesu und unvorstellbaren Taten getrennt. »Leichte« werden von »schweren« Wundern unterschieden (vgl. die Kritik von Alkier 2001b, 10-13). Die Exponierung des Logions V. 10 zur Pointe der Gesamtkomposition hat zur Folge, dass der Höhepunkt der Erzählung nicht in dem Schlussvers 12, sondern bereits vor Ende der Szene gesucht wird (so etwa bei Koch 1975, 50). Dieses Vorgehen steht freilich im Widerspruch zu dem bei der Interpretation von Gleichnissen anerkannten Gesetz des Achtergewichts. Die Ursache für die Heraushebung des Logions in V. 10 liegt in einer methodischen und in einer theologischen bzw. christologischen Vorentscheidung. Beide Prämissen sind das Ergebnis theologiegeschichtlicher Entwicklungen im 19. und 20. Jh., die Einfluss auf die Auslegungspraxis genommen haben. Demnach ist den Worten im Munde Jesu ein zeitlicher und sachlicher Vorrang vor den Erzählungen über Jesu Taten einzuräumen. Diese Weichenstellung ist ein Erbe der liberaltheologischen Jesusforschung des 19. Jh. Bultmann und die Formgeschichtler des 20. Jh. behielten die Prämisse bei, und die christologisch bestimmte Exegese unter dialektisch-theologischem Einfluss übernahm sie. V. 10 liefert für beide Interessenslagen wichtige Anhaltspunkte: Zum einen handelt es sich um einen – ein hohes Alter suggerierenden – Ausspruch im Munde Jesu, zum anderen enthält er gebündelt drei theologisch gefüllte Substantive bzw. Begriffszusammenstellungen, denen unter christologischer Auslegungsperspektive besondere Dignität zukommt: Vollmacht, Menschensohn, Sündenvergebung. 242

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Dass hier für beide ursprünglich konkurrierende theologische Richtungen das Zentrum der Perikope liegt, ließ die Hochschätzung von V. 10 breite Zustimmung finden. Neben der Preisgabe der Überzeugung, dass der Höhepunkt am Schluss einer Erzählung zu suchen ist, zieht die Erhebung von V. 10 zur Pointe der Endfassung im Rahmen der form- und redaktionsgeschichtlichen Exegese zwei weitere methodische Probleme nach sich. Das erste betrifft die Trennung zwischen Erzählstimme und Figurenrede. Die Figurenrede, zumal wenn es sich um Worte Jesu handelt, steht traditionell unter dem Präjudiz, sie lasse ein höheres Maß an historischer Authentizität erwarten. Die Erzählstimme wird demgegenüber traditionellerweise als eher sekundäre Sprachäußerung gewertet, der kommentierende Bedeutung zukomme. Das zweite Problem entsteht dadurch, dass die historisch auseinanderlegende Exegese die erzählte Welt, in der die Erzählfiguren ihren Aktionsraum besitzen, und die Erzählwelt, aus der die Erzählung als literarisches Produkt stammt, als zwei chronologisch zu unterscheidende Ebenen behandelt. Im Falle des Markusevangeliums werden auf diese Weise Inhalte, die in der Situation des beginnenden achten Jahrzehnts zu verorten sind, in historische Aussagen über die Jesuszeit um das Jahr 30 n. Chr. umgeformt. Der zugrunde gelegte Wunderbegriff speist sich aus den Axiomen eines modernen, aber auch bereits hellenistisch-aufgeklärten Weltbildes, für das die prinzipielle Unterscheidung zwischen Materiellem und Spirituellem und zwischen menschlichem Bereich und dem Numinosen konstitutiv ist. Für das Verständnis der Wundererzählungen im lukanischen Doppelwerk, das von hellenistisch-aufgeklärten Denkvoraussetzungen geprägt ist, erweist sich dieser Zugang als durchaus perspektivenreich. Im Umgang mit den von mythischen Prämissen durchdrungenen Wundererzählungen des Markusevangeliums droht er den Blick auf die Pointen jedoch gerade zu verstellen. Die generelle Anwendung des aufgeklärten Wunderbegriffs auf alle Evangelien hat zur Folge, dass die Exegese von Wundererzählungen sich auf dieser geistigen Grundlage offen oder unausgesprochen an dem Problem der Faktizität des erzählten Wunders abarbeitet. Neigt ein Teil der Untersuchungen dazu, die Basis der Erzählungen in einem pränarrativen faktischen Ereignis zu suchen, tendieren andere dahin, das Faktum zugunsten eines Kerygmas, also einer ihm beigelegten Bedeutung, soweit wie möglich zu relativieren (vgl. Luz 2007, 79-82). Erkenntnistheoretisch bildet in beiden Ausprägungen die Trennung zwischen Ereignis und Bedeutung den Hintergrund des Gedankens. Demgegenüber ist in Rechnung zu stellen, dass in dem vom Mythos geprägten Weltbild der Antike, das die Darstellung der Evangelien in Teilen bestimmt, gerade die wechselseitige Durchdringung von göttlicher und menschlicher Sphäre grundlegend ist. Die Welt wird nicht analytisch unter Absehung der göttlichen Wirksamkeit wahrgenommen. Vielmehr nehmen alle Geschehnisse auf der Erde und im zwischenmenschlichen Bereich ihren Ausgang bei Ereignissen im Bereich des Numinosen. Unter dieser Perspektive bilden die Einzelzüge in Mk 2,1-12, die analytisch-aufgeklärter Rationalität zufolge auseinanderlaufen, eine innere Einheit. Zur Unterscheidung von den klassisch als »Wundergeschichten« bezeichneten Erzählungen empfiehlt es sich für Stoffe, in denen wie in Mk 2,1-12 das eigentlich Wundersame in der Welt des Numinosen und der Durchbrechung der dort geltenden mythischen Regeln geschieht, von mythischen Sequenzen zu sprechen. Im Unterschied zu den Auslegungen, die das form- und redaktionsgeschichtliche Wachstumsmodell voraussetzen, stellt die Szene in V. 3-12 bei Beachtung der Verschrän243

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kungen, die auf die mythische Rationalität zurückzuführen sind, einen geschlossenen Erzählzusammenhang in zwei parallel laufenden Strängen dar. Beide Erzählfäden sind miteinander verknüpft. Der durch seine Behinderung körperlich bewegungsunfähige Mann, für den sich vier Personen einsetzen, wird von Jesus auf seine geistliche Verfassung angesprochen. Die Zusage, dass seine Sünden vergeben sind (V. 5b), demonstriert, dass es für den markinischen Jesus in dieser Szene um ein Krankheitsphänomen geht, das geistliche Ursachen besitzt. Die physische Lähmung des Mannes wird auf die ihr inhärente geistliche Dimension hin transparent gemacht. Zugrunde liegt die mythische Vorstellung, dass körperliche Erkrankung auf spirituelle Ursachen zurückzuführen ist. Der Zusammenhang von körperlichem Ergehen und geistlichem Tun wird bereits in V. 5a durch den Hinweis des Erzählers auf den im Umfeld des behinderten Mannes vorhandenen Glauben abgerufen. Im Positiven wie im Negativen gilt: Heilung wie Körperbehinderung setzt eine korrespondierende spirituelle Verfassung voraus. Die moderne rationale Überlegung, dass es sich bei diesem Glauben »nur« um das Vertrauen auf Jesu außergewöhnliche Heilungskräfte handele und ihm der christologische Vollsinn – jedenfalls in der Grundstufe der Erzählung – noch fehle, greift zu kurz: Mythisch strukturierte Wahrnehmung trennt nicht zwischen beidem; die auf den Heiler gerichtete Gewissheit äußert sich im Vertrauen auf dessen Kräfte. Im Verhältnis der Figurenrede zur Erzählerstimme ist für Mk 2,7-12 festzustellen, dass die Figurenrede im Dienst der Erzählerstimme steht. Sie befindet sich in Übereinstimmung mit den Darstellungsintentionen aller übrigen Aussagen. Der Erzähler lässt seine Figuren aussprechen, was ihm für die Richtung seiner Erzählung von Bedeutung ist. Hier gilt das Diktum Ricœurs: Der Erzähltext ist die »Rede eines Erzählers, der berichtet, was seine Figuren sagen« (Ricœur 1989, 150). Für die Beziehung zwischen erzählter Welt und Erzählwelt gilt, dass die Vorgänge aus der Zeit der Erzählwelt ihren Niederschlag in dem Bild von der erzählten Welt finden. Die Konstruktion der erzählten Welt ist von den Bedingungen der Erzählwelt her zu interpretieren. Mk 2,1-12 entfaltet die Auseinandersetzung um Sünde und Vergebung, um Glaube und Heilung als Erzählung über den Jesus der Zeit um das Jahr 30 n. Chr. Auf der Ebene des Markusevangeliums als eines literarischen Werkes der 70er Jahre fällt dieser Szene die Rolle einer ätiologischen Erzählung zu. Der Erzähler fundiert mit ihr eine theologische Überzeugung des beginnenden achten Jahrzehnts. Sein soteriologisch-christologisch gezeichneter Jesus führt hic et nunc Menschen in eine gelingende Gottesbeziehung, die diese aufgrund ihres Gottesbildes für verloren geglaubt oder die sich zum Schutz ihrer überkommenen Gottesvorstellung Jesus gegenüber verhärtet haben. Der christlichen Gemeinde des achten Jahrzehnts des 1. Jh. gilt Jesus als der Protagonist des Evangeliums, dem sie sich verpflichtet und das sie in seinem Auftreten begründet sieht. Unter der christlichen Erzählperspektive erscheint Jesus als ein Mensch, der normative Setzungen vornimmt. Gerade die Schlichtheit der ihm vom Erzähler in den Mund gelegten Selbstbezeichnung »Sohn des Menschen« wird zum adäquaten Ausdruck für die Besonderheit, die seine Person für den christlichen Erzähler und seine Gemeinde besitzt. Der Terminus dokumentiert und spiegelt darüber hinaus die rasante Entwicklung des Jesus-Christus-Glaubens wider, der aus unspektakulären Anfängen in der Lebensgeschichte Jesu zum hohen christologischen Bekenntnis der Gemeinde, deren Erzählwelt diese Jesusgeschichte entstammt, aufgestiegen ist.

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Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Mt 9,1-8 (1) Und er stieg in ein Boot und fuhr ans andere Ufer hinüber und kam in die eigene Stadt. (2) Und siehe, sie brachten ihm einen Gelähmten, der auf einer Trage lag. Und als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: »Sei guten Mutes, Kind, vergeben sind deine Sünden.« (3) Und siehe, einige der Schriftgelehrten sagten im Stillen: »Dieser lästert.« (4) Und als Jesus ihre Überlegungen sah, sagte er: »Warum überlegt ihr Böses in euren Herzen? (5) Was ist denn leichter – zu sagen: ›Vergeben sind deine Sünden‹ oder zu sagen: ›Steh auf und geh umher‹ ? (6) Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – da sagt er zu dem Gelähmten: ›Steh auf und nimm deine Trage und geh in dein Haus.‹« (7) Und er stand auf und ging weg in sein Haus. (8) Als das aber die Volksmengen sahen, gerieten sie in Furcht und priesen Gott, der den Menschen eine derartige Vollmacht gab. Die Matthäusversion der Perikope weist gegenüber der Markusvorlage einige Straffungen auf, wie sie für die matthäische Überlieferung von Wundererzählungen charakteristisch sind. Die ausführliche Schilderung der Menschenmenge in Mk 2,1 f. ist in Mt 9,1 ersatzlos gestrichen. Statt auf die Vielzahl der Anwesenden in einem Haus hebt die Matthäusfassung darauf ab, dass Jesus sich in seiner Heimatstadt befindet (9,1). Die Umstände, unter denen der Gelähmte laut Mk 2,3 f. zu Jesus gelangt, werden auf das bloße Faktum reduziert, dass »sie« – Menschen unbestimmter Anzahl – einen auf einer Trage liegenden Gelähmten zu Jesus brachten. Der Zusammenhang von Glaubensmotiv und Zuspruch der Sündenvergebung bleibt in 9,2 in Übereinstimmung mit der Markusvorlage stehen. Die Schriftgelehrten werden in 9,3 einzig als Träger der Aussage: »Dieser lästert« in die Handlung eingeführt. Alle näheren Ausführungen, insbesondere zu ihrer Körperhaltung, entfallen. Auch erspart es sich die Matthäusüberlieferung zu explizieren, worin der Gehalt der Schmähung besteht. Die Feststellung blasfhme… (blasphe¯mei – er lästert) spricht für Matthäus bereits vollständig für sich. Die Rückkoppelung der Vergebungsthematik an das Gottesverständnis unterbleibt. Bestand für die Leser des Markus immerhin noch Raum für die Überlegung, ob Jesus überhaupt das göttliche Recht zur Sündenvergebung für sich in Anspruch genommen hat und nicht eher nur die Sündenvergebung durch Gott selbst zugesagt hat, stellt die Matthäusfassung auf direktem Weg fest, dass Jesus sich mit dieser Aussage ein Problem einhandelt. Sein Blick in das Innere der Schriftgelehrten führt den matthäischen Jesus unmittelbar zu einem moralischen Urteil (9,4): »Warum überlegt ihr Böses in euren Herzen?« In der Formulierung der Alternativfrage nach dem Leichteren, dem Verweis auf die Vollmacht Jesu, der Aufforderung an den Gelähmten, aufzustehen, seine Trage zu nehmen und nach Hause zu gehen, folgt Mt 9,5 f. weitgehend Mk 2,9-11. Allerdings lässt der Matthäustext durch die Voranstellung der Wendung ¥p½ t»@ g»@ (epi te¯s ge¯s – auf der Erde) noch stärker als Mk 2,10 die Bedeutung der Sündenvergebung unter irdischen Bedingungen in der Gemeinde anklingen. Außerdem führt Mt 9,6 durch die Einfügung des Temporaladverbs totff (tote – da) eine chronologische Abfolge in die Handlung ein, die in der Markusvorlage mit ihrem Interesse an der Parallelführung der Handlungsstränge gerade nicht vorlag. Mt 9,7 lässt wie schon 9,5 den wiederholten Rekurs auf die 245

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Aufnahme der Trage weg. Der Geheilte geht nach Haus; dass dies »vor allen« geschah und »alle« außer sich gerieten, tilgt die Matthäusfassung und entledigt sich damit des Problems, ob die Schriftgelehrten hierin inkludiert zu denken sind oder nicht. Auch reduziert Matthäus das hohe Maß an Emotionalität durch die Streichung des ¥xfflstasqai (existasthai – außer sich geraten). Stattdessen wird wie bei der Kreuzigung und Auferweckung Jesu in Mt 27,54 und 28,4.8 die Furcht, die das Geschehen unter den Anwesenden auslöst, zum Movens für ihre anschließende Reaktion. Die Furcht verweist auf geschehene Offenbarung, und theologisch korrekt mündet die Erzählung in das Gotteslob. Dieses entzündet sich nun freilich gerade nicht an dem unerhörten Heilungsvorgang, sondern an der Vollmacht, die – über Jesus hinaus – als allen Menschen gegeben gefeiert wird. Signifikant für die matthäische Bearbeitung der Markusvorlage ist, dass Matthäus die Parallelführung sowohl des Handlungsstrangs als auch die von körperlicher und geistlicher Ebene auflöst und in eine zeitlich geordnete Abfolge zerlegt. Auf den körperlichen Defekt reagiert Jesus auf spiritueller Ebene mit der Zusage der Sündenvergebung, bezieht dafür den Widerspruch seiner Kritiker und lässt diese mit seinem souveränen Handeln quasi aus der Szene verschwinden. Jesus entscheidet die Machtfrage durch einen Erweis seiner Vollmacht für sich. Auch wenn damit offenbleibt, ob er auf diese Weise den Widerstand seiner Kritiker überwinden konnte, wird von einem solchen nichts weiter berichtet. Nur von dem Lobpreis der Menge erzählt V. 8. An Jesu Vollmacht, so die Pointe der matthäischen Erzählung, partizipieren die Christen, die in der Nachfolge Jesu ebenfalls solche ¥xousffla (exousia – Vollmacht) von Gott verliehen bekommen haben. Die Matthäus-Perikope erzählt die Geschichte der Herkunft des geistlichen Rechts zur Sündenvergebung in der Christengemeinde. EvNik 6 (1) Einer der Juden aber lief herbei und bat den Statthalter ums Wort. Der Statthalter sagt: »Wenn du etwas sagen willst, sage es.« Der Jude aber sagte: »Ich lag 38 Jahre auf einer Trage im Schmerz der Leiden danieder. Und als Jesus kam, wurden von ihm viele Dämonenbesessene und mit mannigfaltigen Krankheiten Daniederliegende geheilt. Und einige junge Männer hatten Mitleid mit mir, trugen mich mit der Trage weg und schafften mich zu ihm. Und als Jesus mich sah, erfasste ihn Erbarmen, und er sagte das Wort zu mir: ›Nimm dein Bett und geh umher.‹ Und ich nahm mein Bett und ging umher.« Die Juden sagen zu Pilatus: »Frage ihn, an welchem Tag es war, an dem er geheilt wurde.« Sagt der Geheilte: »An einem Sabbat.« Sagen die Juden: »Unterrichteten wir dich nicht so, dass er am Sabbat heilt und Dämonen austreibt?« Das Nikodemusevangelium bezieht sich motivisch auf die Heilung in Mk 2,1-12. Allerdings geschieht dies in Verfremdung und unter Verwendung anderer Motive sowie in deutlicher Verkürzung der markinischen Erzählung. Die in EvNik 6,1 überlieferte Szene dient im Kontext als Beleg für die Verteidigung Jesu durch Nikodemus vor Pilatus. Nikodemus behauptet, Jesus habe viele Zeichen und Wunder getan. Wie seinerzeit bei Mose seien diese Zeichen auf Gott zurückzuführen und nicht als Menschenwerk anzusehen (EvNik 5,1). Um die Aussage des Nikodemus zu stützen, meldet sich ein Jude zu Wort, der in Form einer Ich-Aussage vorbringt, dass er 38 Jahre lang unter Schmerzen bettlägerig gewesen sei. Dann hätten ihn einige junge Männer aus Mitleid samt seiner Bahre zu Jesus gebracht. Dieser habe ihn – ebenfalls aus 246

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Erbarmen – aufgefordert: »Nimm dein Bett und wandle«; und genau dieses habe er dann getan. Der lgo@ (logos) bezieht sich hier anders als in Mk 2,2 konkret auf den Heilungsbefehl. Nicht explizit ausgesprochen wird, dass es sich um eine Lähmung handelt. Die Zahl von 38 Jahren macht den Einfluss von Joh 5,1-18 auf die Szene deutlich (Joh 5,5). Dieser Eindruck findet seine Verstärkung dadurch, dass im Unterschied zur markinischen und matthäischen Fassung, aber in Übereinstimmung mit der johanneischen Überlieferung (Joh 5,9b–16) im Anschluss an die Heilung die jüdischen Ankläger Jesu erneut das Wort ergreifen und Jesus des Sabbatbruchs beschuldigen. Im Nikodemusevangelium dient die durch Jesus vollbrachte Heilung dazu, seine ihm von Gott verliehenen Fähigkeiten hervorzuheben. Er unterliegt jedoch weiterhin dem Vorwurf von jüdischer Seite, den Gotteswillen zu brechen – wie die Übertretung des Sabbatgebots zeige. Anders als in Mk 2,1-12 gelingt es Jesus nicht, den Widerstand seiner Gegner aufzulösen. Stattdessen hat die Widerstandslinie, die in Joh 5,17 f. artikuliert ist, in EvNik 6,1 einen Nachklang gefunden.

Paul-Gerhard Klumbies Literatur zum Weiterlesen S. Alkier, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001), 2-15. D. Dormeyer, Narrative Analyse von Mk 2,1-12, LingBibl 31 (1974), 68-89. A. Esselbach, Horizontalité/Verticalité: Deux dimensions de l’espace pour une mise en discourse de la foi (Le récit du paralytique – Mc 2,1-2,12), Sémiotique et Bible (2002), 21-37. O. Hofius, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage. Mk 2,1-12 und das Problem priesterlicher Absolution im antiken Judentum, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 57-69. S. Kottek/M. Horstmanshoff (Hg.), From Athens to Jerusalem. Medicine in Hellenized Jewish Lore and in Early Christian Literature, Rotterdam 2000. U. Luck, Was wiegt leichter? Zu Mk 2,9, in: H. Frankemölle/K. Kertelge (Hg.), Vom Urchristentum zu Jesus, FS J. Gnilka, Freiburg i. Br. et al. 1989, 103-108. C.-H. Sung, Vergebung der Sünden. Jesu Praxis der Sündenvergebung nach den Synoptikern und ihre Voraussetzungen im Alten Testament und frühen Judentum, WUNT 2/57, Tübingen 1993, 208-221. F. Vouga, Maladie et péché, foi et guérison. Jésus, l’ami de Job ou l’ami de ses amis? (Mc 2,1-12 et Jn 9,1-12), in: E. Cuvillier (Hg.), Sola fide. Mélanges offerts à Jean Ansaldi, Actes et Recherches, Genève 2004, 35-52. R. Zimmermann, Krankheit und Sünde im Neuen Testament am Beispiel von Mk 2,1-12, in: G. Thomas/I. Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 227-246.

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Feiertagsarbeit? (Der Kranke mit der ›verdorrten Hand‹) Mk 3,1-6 (1) Und er (Jesus) ging wiederum in eine Synagoge. Dort war ein Mensch mit einer ausgezehrten Hand. (2) Und sie belauerten ihn, ob er ihn am Sabbat heilte, damit sie ihn verklagen könnten. (3) Und er sagte zu dem Menschen mit der ausgezehrten Hand: »Tritt vor in die Mitte!« (4) Und er sagte zu ihnen: »Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder zu töten?« Sie aber schwiegen. (5) Und als er sie ringsum zornig anblickte, wurde er betrübt über die Verhärtung ihres Herzens und sagte zu dem Menschen: »Strecke deine Hand aus!« Und er streckte sie aus; und seine Hand wurde wieder gesund. (6) Und die Pharisäer gingen hinaus und fassten sogleich einen Beschluss mit den Anhängern des Herodes, ihn umzubringen.

Sprachlich-narratologische Analyse Der Text Mk 3,1-6 will im Rahmen der markinischen Jesusgeschichte Antwort auf die Frage geben, ob es Jesus erlaubt ist, am Sabbat zu heilen. Er will ebenso klären, wie es zur Ablehnung Jesu seitens jüdischer Autoritäten gekommen ist. Es geht damit um Jesu Vollmacht, die zu Konflikten Anlass gibt. Formal erinnert der Text an Wundergeschichten und Streitgespräche, doch vermag selbst die Näherbestimmung als »Chrie« (Berger 2005, 140-152; vgl. 362-367; Mayer-Haas 2005, 203-205) oder »Normenwunder« (vgl. Theißen 1974, 114-120; s. auch ders./Merz 2001, 266 f.) allenfalls anzudeuten, dass hier etwas Eigenes geschaffen wurde. Die Strukturelemente verweisen auf eine Mischgattung aus Wundergeschichte und Chrie mit pragmatischem Anliegen. Diese Gattungen existieren im Wissensschatz der Rezipienten. Zudem spielen beim Versuch, den Text heute zu verstehen, religionsgeschichtliche Aspekte eine große Rolle. Der Abschnitt ist durch Orts- und Personenwechsel klar vom Kontext abgegrenzt. Dennoch ist er bei Markus eng mit dem vorangehenden Erzählstoff verknüpft, was sowohl durch die anklingenden Auseinandersetzungen – speziell um den Sabbat – als auch durch das p€lin (palin – wiederum) in V. 1 zum Ausdruck kommt, das den Besuch einer Synagoge als ein wiederholtes und damit für Jesus übliches Geschehen beschreibt. Wie zuvor in 1,21-28 und 1,29-31 wird die Heilung Kranker durch Jesus an einem Sabbat beschrieben. Doch wird dies nun nicht mehr mit Staunen über Jesu Vollmacht goutiert, sondern Jesu Handeln wird ab Kap. 2 auch als anstößig erfahren. Insofern setzt sich der Sabbatkonflikt aus der vorangegangenen Erzählung (2,23-28) fort, der jetzt durch die Anklage noch gesteigert wird. Der Text gliedert sich in eine Exposition (V. 1 f.), die in die Handlung und das Problem einführt, in eine Durchführung (V. 3-5), in der Jesu Handeln exemplarisch dargestellt wird, und einen kontrapunktischen Ausblick (V. 6), der den Blick auf die übergeordnete Erzählebene des Evangeliums lenkt. Weder wird Jesus im Eingang mit Namen genannt (zuletzt 2,19), noch erfolgt eine 248

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Identifikation der Gegnerschaft in V. 2 – dies geschieht erst nachträglich in V. 6. Die dortige Kennzeichnung als Pharisäer stimmt zwar mit 2,24 überein, doch setzt die Erweiterung um die Herodianer noch einen neuen Akzent. Signifikant ist, dass die Erkrankung mehrfach genannt wird, wobei der Kranke geradezu als »Mensch mit der ausgezehrten (vertrockneten) Hand« definiert wird. Die verwendeten Lexeme xhr@ (xe¯ros – vertrocknet, ausgezehrt) und xhrafflnw (xe¯raino¯ – austrocknen) lassen entweder eine Dehydrierung bzw. ein Verdorren assoziieren (vgl. Mk 4,6; 11,20 f.) oder sie sind im Kontext von Heilung entweder positiv (5,29) oder – wie hier – negativ mit dem Erstarren verbunden (9,18). Letzteres lässt an die Verhärtung der Herzen von V. 5 denken, auch wenn ein anderes Lexem Verwendung findet. Nur scheinbar beginnt dann in V. 3 das Heilungsgeschehen damit, dass Jesus den Kranken in die Mitte treten lässt. Dies bringt ihn in den Fokus der Aufmerksamkeit und impliziert größtmögliche Beachtung. Andererseits irritiert dies auch, insofern der Kranke zum Demonstrationsobjekt zu verkommen droht. Denn nicht die Heilung beginnt, sondern Jesus eröffnet mit einer Doppelfrage – wie sie in Lehrgesprächen üblich war – eine Diskussion. Allerdings geschieht dies auch nur scheinbar, denn der Charakter der Fragealternativen ist rhetorischer Natur und lässt keinen Disput zu. Vielmehr werden die heimlichen Anklageabsichten aus V. 2 entlarvt. Innertextlich wird im Logion von V. 4 daher weder der Kranke noch die Gemeinde, sondern die Gegnerschaft angesprochen – selbst wenn bis dahin nicht klar ist, wer dies eigentlich ist. Der Text trägt hier insofern apologetische Züge, wobei der Gegenangriff als die beste Verteidigung erscheint, denn die Gegner können nur schweigen. Die Jünger, die im vorangegangenen Konflikt im Blickpunkt standen, spielen jetzt keine Rolle. Jesus besitzt vordergründig die Handlungsinitiative. Er gibt die Anweisungen an den Kranken und durchschaut sogar die Gefühlslage der Gegner (vgl. 2,6.8). Emotional tief bewegt erfolgt dann die eigentliche Heilung (V. 5), die freilich nur in ihrem Erfolg festgestellt wird, indem der Kranke seine – so wörtlich – wiederhergestellte Hand auf Jesu Befehl hin austreckt (zum Gestus vgl. Derrett 1984, 179-182). Die in der exegetischen Diskussion bedeutsame Frage, ob Jesus hier manipulativ eingriff oder nur durch ein Wort heilt, entzieht sich insofern der Beantwortung, auch wenn die passive Formulierung ein Handeln Gottes andeutet. Aus der Tatsache, dass keine Heilhandlung im Text berichtet wird, lassen sich daher keine Schlüsse im Blick auf die Sabbatheilungsproblematik ziehen. Diskutiert wird generell die Erlaubtheit einer Heilung – nicht jedoch, ob eine Handlung vorliegt oder nicht (vgl. Theißen/Merz 2001, 329). Die eigentliche Pointe liegt daher in der Vollmacht Jesu, die auf eindrucksvolle und ebenso geheimnisvolle Weise durch die Heilung demonstriert wird. Dennoch hat die Heilung fatale Folgen, denn die Konfrontation endet in V. 6 mit dem Beschluss, Jesus umzubringen. Dies stellt die Pointe eines zweiten Handlungsstrangs dar, der mit den Gegnern und deren Handeln verbunden ist. Insgesamt treten in diesem Abschluss deutlich redaktionelle Absichten des Evangelisten hervor, der einen Spannungsbogen bis hin zur Passion errichtet. Hierbei kann sich eine markinische Gestaltung dieses Verses auch auf die Verwendung von Vorzugsvokabeln (e'qÐ@ euthys – sogleich), evtl. auch die seltene Verwendung der Herodianer und das sumboÐlion didnai (symboulion didonai – einen Beschluss fassen) stützen. Dennoch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass es Markus ein Anliegen ist, Jesu torakonformes Verhalten zu betonen.

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Dies zeigen die Heilungen von 1,32-34, die erst nach Sonnenuntergang stattfinden, und 1,40-45 unmittelbar vor dem Konflikt. Insgesamt ist der Text parataktisch durch die Aneinanderreihung mit kaffl (kai – und) oberflächlich sehr einfach und kohärent strukturiert. Dies wird durch die Verwendung der üblichen Erzähltempora einschließlich verschiedener Partizipien und des praesens historicum variiert. Dabei sticht der dreimalige Gebrauch des lffgei (legei – er sagt[e] V. 3.4.5) besonders hervor, insofern damit in der direkten Rede sowohl zwei Imperative verbunden sind, die den Kranken zum Handeln auffordern, als auch die zentrale Doppelfrage in V. 4, in welcher die Alternative am Schluss des Pentateuchs (Dtn 30,15.19) anklingt (vgl. Derrett 1984, 175-178; Queller 2010). Auffällig ist darüber hinaus die zweimalige Nebensatzbildung (durch na [hina – damit] in V. 2 und ˆpw@ [hopo¯s – auf dass] in V. 6), mit denen die Absichten der Gegner erfasst werden. Dadurch entsteht nach der situativen Beschreibung in V. 1 um das Logion in V. 4 ein konzentrisch aufgebauter Verlauf, in welchem sich Gegner (V. 2/5a) und Kranker (V. 3/5b) abwechseln. Dies wird mit einem gegenläufigen Akzent in V. 6 abgeschlossen. Von Leserlenkung lässt sich dabei nur insofern sprechen, als Sympathien und Antipathien eindeutig auf Jesus bzw. die Gegner verteilt sind und dadurch bestimmte Erwartungen geweckt werden. Dies wird durch die vielfältige und starke Kontrastierung (gut/ böse; Leben retten/töten; sprechen/schweigen; starr/ausstrecken) noch unterstützt. Der Kranke bleibt dagegen blass, macht er doch stets das, was Jesus ihm sagt.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Unter dieser Perspektive interessiert zunächst die Erkrankung. Worin sie freilich besteht, bleibt unklar, da die Kennzeichnung deskriptiv ist. Dies war in der Antike üblich (vgl. 1Kön 13,4LXX; TestSim 2,12; der mitunter angeführte Text der dritten Stele von Epidauros [C 60.108; Herzog 1931, 32.138; dagegen LiDonnici 1995, 126] ist leider rekonstruiert) und deutet auf eine Art Atrophie bzw. eine Lähmung hin. Sie beeinträchtigt den Kranken wesentlich, doch ist sein Leben nicht unmittelbar bedroht (s. Kollmann, Krankheitsbilder in diesem Band; Seybold/Müller 1978, 125 f.). Evident ist jedoch, dass sich eine solche Krankheit v. a. in der erheblichen Minderung eigener Erwerbstätigkeit niederschlägt. Denn eine Erkrankung, die den uneingeschränkten Gebrauch der Hände unmöglich machte, zog meist die Angewiesenheit auf Hilfe und Almosen, oft auch Armut nach sich. Eine Verkrüppelung konnte zudem den Ausschluss vom Kult bzw. von Tätigkeiten, die kultische Reinheit voraussetzen, bedeuten (Lev 21,18; vgl. 1QSa 2,3-9; CD 15,16; 1QM 7,4). Nicht zuletzt trug die Tradition auch dazu bei, dass ein derartiges Geschick sogar als Strafe interpretiert wurde, wie 1Kön 13,46LXX und TestSim 2,11-14 zeigen. Weiterhin ist von Interesse, inwiefern in der Geschichte politische Implikationen mitschwingen. So spricht die Erwähnung der Herodianer in V. 6 (vgl. 12,13) durchaus dafür, auch wenn die Vorstellung einer festen Gruppe Fragen aufwirft. Herodianer hätten wohl kein großes Interesse an einem Sabbatkonflikt gehabt. Doch kann der Konflikt auch als ein Autoritätskonflikt begriffen werden, insofern Jesu Auftreten als eine Gefährdung des Anspruchs der Mächtigen verstanden wurde. Darüber hinaus kann die strikte Gegenüberstellung des Tötens und der Lebens250

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rettung im Jesuslogion V. 4 eine politische Bedeutungsnuance besitzen. Denn die Frage der Selbstverteidigung am Sabbat – d. h. auch des Tötens im Krieg – war ein großes Problem z.Zt. des Makkabäer-Aufstandes. Ließen sich die Frommen zunächst niedermetzeln, so stellt der Beschluss zur Selbstverteidigung am Sabbat (1Makk 2,29-48, bes. 41; Flav. Jos. Ant. 12,272-277) nach diesem Trauma eine wichtige und politisch höchst bedeutsame Entscheidung dar.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Der Erzählplot setzt voraus, dass eine Heilung erfolgt ist. Diese wird primär mit der besonderen Autorität Jesu in Verbindung gebracht, wobei sich Jesu Verständnis des Sabbats nicht mit der Auslegung seiner Gegner in Einklang bringen lässt. Doch bleibt eine gewisse Ambivalenz und Deutungsbedürftigkeit der Aussagen Jesu bestehen, die in den Verständniskontext ihrer jüdischen Umwelt eingepasst werden müssen. Das Jubiläenbuch (Kap. 2 und 50) und Texte aus der Qumranbibliothek bieten die striktesten Aussagen zur Sabbatobservanz im frühen Judentum (vgl. CD 10,14-11,18 – bes. 11,13 f.16 f.; 4Q265 6,5-7). Der Bruch des Sabbats galt dabei zwar als ein todeswürdiges Vergehen (Ex 31,15; vgl. Jub 2,25.27; 50,8.12), doch wird über den Vollzug von Strafen auch in den Qumrantexten nichts berichtet. Am Sabbat soll man laut der Damaskusschrift z. B. nicht dem Vieh nachgehen, um es zu weiden, auch nicht Geburtshilfe leisten, ja nicht einmal einen Menschen, der in eine Zisterne fällt, soll man mit einer Leiter, einem Strick oder einem Gerät heraufholen. Denn dazu müsste man ja ein Hilfsmittel tragen bzw. holen. Nur die Kleider am eigenen Leib dürfen als Kletterhilfe verwendet werden (vgl. CD 11,16 f. mit 4Q265 6,6 f.; Döring 2008, 230). Zwar wird in CD damit ein Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Leben gemacht, doch knüpfen die Texte Hilfeleistungen an enge Grenzen und die Gesetzesauslegung (Halakha) beginnt hier, kasuistische Züge anzunehmen. Von Heilungen sprechen diese Texte allerdings nicht, was ihre Vergleichbarkeit begrenzt. Jedoch zeigt sich, dass es frühjüdische Gruppen gab, welche lebensrettende Maßnahmen am Sabbat strikt regulierten, und dass keineswegs überall galt, dass Lebensgefahr das Sabbatgebot verdrängt. Hier unterscheidet sich die Qumrangemeinschaft, die ihre Ethik aus ihren priesterlichen Wurzeln speist, deutlich von den Pharisäern und den u. a. aus diesen hervorgegangenen Rabbinen, die meist sehr viel pragmatischer an ihre Entscheidungsfindung gingen. Erst bei den Rabbinen gibt es erheblich weitergehende Diskussionen. Ihnen ist primär daran gelegen, den biblischen Text – v. a. der Tora – so auszulegen, dass Tatbestände präzisiert und mögliche Ausnahmeregelungen festgelegt werden. Obwohl dies primär darauf angelegt ist, einen Sabbatbruch zu verhindern, scheute man sich nicht, gegenüber der biblischen Tradition erweiterte Regelungen zu treffen und konträre Meinungen festzuhalten. Für die Rabbinen steht dabei fest, dass Lebensgefahr das Sabbatgebot verdrängt und dass bestimmte Handlungen zur Rettung und Heilung möglich sind. So heißt es z. B. in mJoma 8,6: »Und weiter sagt Rabbi Matja ben Harash: Wer Halsschmerzen hat, dem ˙ darf man auch am Sabbat Medizin geben, weil er [möglicherweise] in Lebensgefahr ist, und jede Lebensgefahr bricht den Sabbat«. Weitere Regelungen finden sich z. B. in mShab

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2,5; 14,3 f.; 18,3; 19,1.5; 22,6; tShab 15[16],17 (vgl. Theißen/Merz 2001, 327-329; Doering 1999, 449). Auch wenn Heilungen am Sabbat nicht vor den Rabbinen thematisiert werden, lässt deren Sicht den Konflikt noch akuter erscheinen. Denn es ist deutlich, dass bei Jesu Heilungen nie Lebensgefahr für den Kranken bestand, weshalb aus rabbinischer bzw. pharisäischer Sicht sein Eingreifen am Sabbat keineswegs gerechtfertigt war. Deshalb erscheinen jedoch verschiedene Bemühungen, diesen Konflikt zu mildern, wenig überzeugend. Weder lassen sich Jesu Heilungen von dieser Konzession her verständlich machen (Dietzfelbinger 1978, 289), noch kann man sie so umdeuten, dass sie zu den magischen Praktiken – wie dem Flüstern über gefährlichen Dingen (z. B. tShab 7[8],23) – gerechnet werden können, welche die Rabbinen sogar am Sabbat erlaubten. Zudem zeigen sich die Rabbinen oft nur dort kulant, wo es sich um einen Mitnahmeeffekt einer alltäglichen Handlung handelt, nicht aber wenn ein Heileffekt bewusst angestrebt wird (Doering 2008, 232-234). Der Konflikt lässt sich auch nicht dadurch beheben, dass Heilungen nicht unter die 39 Handlungen fallen, die am Sabbat explizit verboten sind (mShab 7,2), oder dass man die Auffassung vertritt, es habe gar keine allgemein anerkannte Sabbat-Halakha gegeben, die Wunderheilungen verboten hätte (vgl. Mayer-Haas 2005, 212 f.; s. dazu auch Doering 1999, 449; ders. 2008, 232). Richtig dürfte vielmehr sein, dass der Konflikt gar nicht primär am Sabbatgebot hängt, sondern sehr viel grundsätzlicher die charismatische Vollmacht Jesu betrifft, die freilich im Konfliktpunkt Heilung am Sabbat fassbar wird. Insofern genügt keine Ausnahmeregelung, sondern Jesus vertritt ein grundsätzlich anderes Sabbatverständnis als seine Gegner (vgl. Dietzfelbinger 1978, 290). Eine letzte Möglichkeit, den Konflikt zu entschärfen, wird mitunter auch darin gesehen, die Authentizität der Szene und insbesondere des Logions zu bestreiten (vgl. Kahl 1998; s. auch Mayer-Haas 2005). Dies kann jedoch nicht pauschal geschehen. Viel spricht nämlich dafür, dass weder Jesu Heilungen am Sabbat erfunden wurden, noch dass die Konflikte (s. auch Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5 [bes. 9b-18]; 7,22 f.; 9 [bes. 14-17]) fingiert sind. Da zudem keine Sabbatheilung aus der Gemeinde berichtet wird, ist eine nachträgliche Bildung wenig überzeugend (vgl. Doering 2008, 219). Zwar heißt das keineswegs, dass die Darstellung in Mk 3,1-5 historisch authentisch ist, sie bildet aber eine historische Wirklichkeit ab, denn es geht um einen typischen Aspekt, der Anhalt im Wirken Jesu hat und Anlass zu Auseinandersetzungen gab (vgl. Becker 1996, 373; Doering 1999, 443-445). Am ehesten steht man noch mit dem Logion auf historischem Grund (so eine Vielzahl von Exegetinnen und Exegeten, s. bes. Doering 1999, 450.453 f.; ders. 2008, 231 f.; anders Mayer-Haas 2005, 206 f.). Formal wie sachlich besteht eine Nähe zu dem ebenfalls grundsätzlich und nicht christologisch argumentierenden Wort in Mk 2,27.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Sabbatkonflikte stellen im Leben des geschichtlichen Jesus keine Quantité négligeable dar, sondern rücken in einer historisch-theologischen Perspektive in den Fokus des Interesses. Jesus hat zwar sicher den Sabbat geachtet, doch ist die Tradition glaubwürdig, dass er am Sabbat Heilungen vollzog und darin das Sabbatgebot aus der Sicht seiner Gegner 252

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übertrat. Die beiden Sabbatlogia in Mk 2,27 und 3,4 können hier zur weiteren Klärung beitragen. Das Wort in Mk 2,27: »Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen« unterscheidet sich von anderen jüdischen Argumentationen darin, dass nicht kasuistisch argumentiert wird, sondern grundsätzlich auf der Basis der Schöpfungsordnung. Dies übersteigt auch andere konzessive Äußerungen seitens der Rabbinen (vgl. MekhEx 31,13) bei Weitem (vgl. Becker 1996, 374 f.; Dietzfelbinger 1978, 295 f.). Dennoch erfährt es erst durch den Kontext eine Deutung in Richtung auf eine grundsätzliche Ablehnung des Sabbats, den es ursprünglich wohl nicht hatte. Es geht Jesus nicht um die generelle Nicht-Einhaltung des Sabbatgebots oder um eine Emanzipation vom Sabbat selbst (vgl. Becker 1996, 375), sondern um die Wiederherstellung der Schöpfung mit der Wunder-Kraft der ankommenden Königsherrschaft Gottes. Das Wort in Mk 3,4: »Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses, Leben zu retten oder zu töten?« ist dagegen schwerer zu verstehen – zum einen aufgrund seiner scheinbar kasuistischen Formulierung, die aber bereits in der Eröffnung einer Alternative jede Kasuistik aufbricht (vgl. Lohse 1973, 68 f.), und zum anderen aufgrund der Heilungsproblematik, die Jesu charismatische Autorität mit in die Argumentation einbezieht. Die Geschichte selbst wirkt stilisiert und deutet an, dass Jesus nicht nur ausnahmsweise am Sabbat geheilt hat. Die Argumentation gewinnt dadurch an Schärfe, dass dem Gutes-Tun bzw. der Lebensrettung nicht die Unterlassung, sondern dass BösesTun und Töten gegenübergestellt wird. Der Punkt, auf den es jedoch ankommt, ist, dass einer religiösen Sinnentleerung des Sabbats am Ende der Tage ein »neuer« Sinn gegenübergestellt wird. Dies korrespondiert gut mit Mk 2,27, da dort der Mensch und kein religiöser Selbstzweck in den Mittelpunkt des Sabbats gestellt wird. Der Sinn der Äußerung ist freilich nicht einfach Humanismus. Denn der Mensch ist nur deshalb im Mittelpunkt, weil Gott den Sabbat für den Menschen gemacht hat. Diese Struktur »Gott für den Menschen« scheint diesbezüglich der theologische Kern im Denken Jesu zu sein (vgl. Dietzfelbinger 1978, 296). Die Provokation ist in Mk 3,4 jedoch eindeutig größer, da gängige Sabbatpraxis in eine Reihe mit »Böses-tun« (vgl. Jes 56,2) und sogar dem »Töten« gestellt wird. Es kommt ein radikales Ethos zum Ausdruck, das die detaillierten Ausnahmeregelungen kritisiert, da sie das Wesentliche übergehen. Dies lässt sich gut in die Jesusüberlieferung einzeichnen (vgl. z. B. die Antithesen der Bergpredigt; Dietzfelbinger 1978, 288). Dennoch bleibt die Frage, warum Jesus am Sabbat heilt, obwohl dies angesichts der üblicherweise mit der Sabbatobservanz verbundenen Heils- und Erwählungserwartungen sehr provokant erscheinen musste. Hier wird man nochmals Mk 2,27 bemühen müssen. Einem jetzigen Usus wird dort ein ursprünglicher Sinn gegenübergestellt. Israel erblickte diesen seit alters im segnenden Ruhen Gottes nach seinen Schöpfungswerken. Sollte nicht von hierher auch angesichts der leidenden Kreatur eine Verbindungslinie zum Auftreten Jesu, seinem Denken, seiner Verkündigung und seinen Taten gezogen werden können? Denn, wenn der Hauptinhalt der Verkündigung die unmittelbare Nähe der Gottesherrschaft ist und wenn deren Nähe in seinen Exorzismen greifbar wird (Lk 11,20 par.), warum sollten dann nicht auch die Sabbatheilungen sinnfällig und zeichenhaft auf den bevorstehenden Akt eschatologischer Zurechtbringung und Heilung der geschundenen Kreatur hinweisen? Zwar kann das in V. 5 für das Heilungsgeschehen verwendete Verb ⁄pokaqfflsthmi (apokathiste¯mi – wiederherstellen) nicht schlechthin im Sinne 253

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eschatologischer Wiederherstellung interpretiert werden – es kommt auch in anderen, medizinischen und nicht eschatologischen Kontexten vor (vgl. TestSim 2,13) –, doch ist es ebenfalls mit der Vorstellung des endzeitlichen Wirkens des Elia verknüpft (vgl. Mk 9,12; s. auch 8,25 sowie Mal 3,23LXX). Insgesamt kann Jesu Handeln zwar nicht im Sinne eines königlichen oder priesterlichen messianischen Verständnisses interpretiert werden, doch existieren prophetische Salbungs- und Vollmachtstraditionen (vgl. 4Q521, dazu Becker 2007), die ein prophetisches Verständnis unterstützen. Hier spiegelt sich insofern die besondere Gestalt des »messianischen« Selbstbewusstseins Jesu, denn es geht um die Selbstdurchsetzung Gottes und seines ursprünglichen Willens, den Jesus als dessen Liebe zum Menschen (Gott für den Menschen) in unvergleichlicher Weise neu artikuliert und zum Ausdruck bringt (Dietzfelbinger 1978, 297). Warum, so könnte man schließlich noch anders fragen, sollte die Nähe der Gottesherrschaft, die sich in den Heilungen Jesu andeutet, gerade vom Sabbat ausgeklammert werden, der nach jüdischem Verständnis der Tag schlechthin ist, der für ein solches Geschehen prädestiniert erscheint. Insofern sind die Sabbatheilungen integraler Bestandteil der Mission Jesu und sie haben als zeichenhafte Handlungen Anteil an deren apokalyptisch-eschatologischem Charakter (vgl. Becker 1996, 376-378; Doering 1999, 455-457; ders. 2008, 236-241). In einer sozialgeschichtlichen Auslegungsperspektive hinterlässt der markinische Text im Blick auf den Kranken ein unbefriedigendes Gefühl. Denn es geht nicht um eine Krankenakte, in der ein Befund notiert wird, oder um Krankenhausdrill, bei dem man den Heilplan akkurat zu befolgen hat, sondern um ein sehr persönliches Schicksal. Dies zeigt sich darin, dass sich Jesus gerade dieses Kranken annimmt und ihm am Sabbat heilt. Bereits die früheste Auslegungstradition hat hier ein Defizit im Blick auf die markinische Darstellung gesehen, denn sie versucht, dessen Geschick transparenter werden zu lassen. Während Markus soziale Implikationen des Krankheitsbildes nicht einmal andeutet, gehen Lukas und das EvNaz in unterschiedlicher Weise darauf ein. So ergänzt Lukas, dass es sich um die rechte Hand handelt (Lk 6,6), und das EvNaz gibt sogar den Maurer-Beruf des Kranken an (EvNaz 4), um damit das sich durch die Erkrankung stellende soziale Problem hervorzuheben (vgl. dazu Frey in diesem Band). Dass an der markinischen Stilisierung derartige Korrekturen angebracht wurden, aber auch das Factum, dass die Schuldfrage im Blick auf den Kranken vollkommen ausgeklammert wird, sind Aspekte, die der frühchristlichen Tradition offenbar wichtig waren. Jesu Heilen durchbrach nämlich einen Zirkel, bei dem die Kranken zuvor allzu oft alleine gelassen wurden. Auch das Schweigen der Gegner ist hier bezeichnend, denn es bringt nicht nur ihre Hilflosigkeit gegenüber der Argumentation Jesu zum Ausdruck, sondern auch die gegenüber dem Kranken. Insgesamt macht dieser Zug nicht nur die spröde Darstellung bei Markus bunter, sondern er entspricht dem Anliegen Jesu, das hinter den Sabbatheilungen noch zu erkennen ist. Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt zudem, dass die Wundergeschichten im Blick auf die Krankenpflege enorm wirksam geworden sind. Die Emotionen Jesu in V. 5 sind auf psychologische Implikationen hin nicht auswertbar, da es sich hierbei um traditionelle Ausdrucksformen handelt. Sie sind biblisch vorgeprägt und deuten Jesus im Sinne göttlicher Emotionalität (Derrett 1984, 178 f.). Hier zeigt sich, wie notwendig es ist, formale Strukturen traditionsgeprägter Narrativität zu beachten, da es andernfalls leicht zu Missverständnissen kommen kann (was bereits für Matthäus und Lukas Anlass war, entsprechende Emotionen zu streichen). 254

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Eigentümlich ist auch, dass der Kranke in der Geschichte emotional gar nicht vorkommt, selbst wenn es nicht an Versuchen fehlt, die Erkrankung psychologisch zu deuten, indem man sie mit hysterischen oder neurotischen Diagnosen in Verbindung bringt (Derrett 1984, 171-174). Das Fehlen scheint auch hier der Aussageintention geschuldet zu sein. Insofern tritt bei Markus eine Reflexion über den Kranken und sein Verhalten hinter den – v. a. im Gestus der ausgestreckten Hand – in der Tradition bereitgestellten Symbolgehalt zurück (Derrett 1984). Erst dort beginnt der Text zu sprechen, was jedoch entsprechend hörfähige Rezipienten voraussetzt. Bürstet man den Text daher einmal gegen den Strich, so bleiben noch die Gegner und der Umgang mit ihnen übrig. Sie sind ursprünglich unbestimmt und ihr Vorwurf ist wenig konkret. Ihre Identifikation mit Pharisäern ist zwar durchaus plausibel (vgl. Doering 1999, 447 f.), doch ordnet man die Gegner damit nur in eine Schublade ein, die ihre Maße primär aus dem Konflikt mit der frühen Christenheit erhält. Aus psychologischer Sicht lässt sich gegen die markinische Marginalisierung der Gegner freilich einwenden, dass hier eine gefährliche Isolierung erfolgt, wenn sie ohnmächtig schweigen und sich dies konsequent in einer Überreaktion zu entladen scheint. Bedenkt man nämlich das sich mit der Sabbatobservanz stellende Problem von einem kognitiv-psychologischen Ansatz her, der Religion als den Aufbau einer gedeuteten Welt begreift (vgl. Theißen 1993, bes. 38-49), so kann der Konflikt verständlicher werden. Denn es stehen sich zwei Deutungsansätze des Sabbats gegenüber, die beide dort ihre Stärke haben, wo sie die Dynamik der Entwicklung der Frage nach der Sabbatobservanz und die Antizipation des erwarteten Heils in ihre Auslegung einbeziehen. Umgekehrt werden beide dort problematisch, wo diese Dynamik in einem System von dogmatischen Aussagen zu erstarren beginnt, was meist mit dem Abbruch eines kritischen Dialogs einhergeht. Insofern ist aus jesuanischer Sicht nicht die Toraübertretung die entscheidende »kognitive Dissonanz«, die es zu minimieren gilt, sondern der gesamte Schöpfungszustand und v. a. das Leiden der Kreatur. Die hier sichtbar werdende Dynamik stellt eine massive Störung des traditionellen Gleichgewichts dar, bei der subjektiv die Autorität der Tora in Frage gestellt scheint, da nicht mehr der Gesetzesgehorsam, sondern eine eschatologisch motivierte Umkehr das Movens ausmacht. Neben den Heilungen stellt Jesu praktizierte Vergebung daher eine wichtige Veränderung in Richtung seines durch charismatische und auch mythische Aspekte gekennzeichneten Ansatzes dar, der flexibler auf die Nöte der Menschen einzugehen vermag. Insofern ist auch die Neubewertung der Kranken von großer Bedeutung. Einerseits treten einzelne Kranke in den Fokus des Interesses und andererseits sind sie nicht mehr Sünder, die zu Recht ihre Strafe erfahren, sondern heilbare und heilenswerte Menschen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die zuvor angesprochene Stilisierung des Textes zeigt sich nicht nur in der Sparsamkeit der Informationen über den Kranken und die Heilung, sondern auch in der Dominanz der Auseinandersetzung um die Heilungstätigkeit Jesu, die in V. 6 mit dem Tötungsbeschluss kulminiert. Es verwundert daher kaum, wenn gerade an dieser Stelle die anderen Synoptiker (Lk 6,6-11 und Mt 12,9-14) eigene Wege gehen, welche durch Ergänzun255

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gen und Erläuterungen, die z. T. weit über stilistische Korrekturen hinausreichen, Probleme der markinischen Darstellung zu umgehen suchen. Lukas identifiziert u. a. die Gegner von Beginn an als »Schriftgelehrte und Pharisäer«, die zudem an keinem Einzelfall, sondern der Regel (Streichung des a'tn [auton – ihn = den Kranken] aus Mk 3,2) interessiert sind. Weiterhin stellt er das Vorherwissen ihrer Gedanken dem Logion voran und macht daraus eine explizite Frage. Schließlich streicht er das Schweigen der Gegner wie deren und Jesu Seelenzustand und mildert den Tötungsbeschluss dadurch ab, dass die Gegner voll von Unverstand sind. Durch all diese Maßnahmen wird aus dem Sabbatkonflikt sehr viel deutlicher als bei Markus ein Wunder zur Demonstration der Herrschaft des Menschensohns (vgl. Busse 1979, 135-141; s. auch Bovon 2012, 271-277; Klumbies 1989). Matthäus dagegen verändert die Erzählung grundlegend, wobei er besonders das provokative, aber schwer verständliche Jesuslogion kürzt und zu einer Frage der Gegner macht, die Jesus dann durch ein Beispiel beantwortet (vgl. Lk 14,5). Mit dem Schluss a minore ad maius im Blick auf den Wert eines Menschenlebens entspricht dies der zeitgenössischen halakhischen Diskussion (vgl. CD 11,13 f.16 f.; 4Q265 6,5-7; tShab 14,3; bShab 128b; Doering 1997, 264-273; ders. 1999, 457-462), auch wenn damit der besondere Charakter dieses Jesuslogions ganz verloren geht (vgl. Starnitzke in diesem Band; s. auch Luz 2007, 236-242).

Michael Becker Literatur zur Weiterlesen M. Becker, Die »messianische Apokalypse« 4Q521 und der Interpretationsrahmen der Taten Jesu, in: J. Frey/M. Becker (Hg.), Apokalyptik und Qumran (Einblicke 10), Paderborn 2007, 237-303. C. Dietzfelbinger, Vom Sinn der Sabbatheilungen Jesu, EvTh 38 (1978), 281-298. L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999. Ders., Much Ado about Nothing? Jesus’ Sabbath Healings and their Halakhic Implications Revisited, in: ders./H.-G. Waubke/F. Wilk (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft. Standorte – Grenzen – Beziehungen, FRLANT 226, Göttingen 2008, 217-241. W. Kahl, Ist es erlaubt, am Sabbat Leben zu retten oder zu töten? (Marc. 3:4). Lebensbewahrung am Sabbat im Kontext der Schriften vom Toten Meer und der Mischna, NT 40 (1998), 313-335. A. J. Mayer-Haas, »Geschenk aus Gottes Schatzkammer« (bSchab 10b). Jesus und der Sabbat im Spiegel der neutestamentlichen Schriften, NTA.NF 43, Münster 2003, bes. 192-216. K. Queller, »Stretch Out Your Hand!« Echo and Metalepsis in Mark’s Sabbath Healing Controversy, JBL 129 (2010), 737-758.

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Glaube in Seenot (Die Stillung des Sturms) Mk 4,35-41 (Lk 8,22-25) (35) An jenem Tag, als es Abend geworden war, sagt er zu ihnen: »Lasst uns zum jenseitigen Ufer hinüberfahren.« (36) Da ließen sie die Menge gehen und nehmen ihn, wie er war, im Boot mit. Auch andere Boote waren bei ihm. (37) Auf einmal erhebt sich ein heftiger Sturmwind, die Wellen warfen sich aufs Boot, so dass sich das Boot zusehends mit Wasser füllte. (38) Er selbst aber war im hinteren Teil des Schiffes auf dem Kopfkissen und schlief. Also wecken sie ihn und sagen zu ihm: »Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?« (39) Da richtete er sich auf, befahl dem Wind und sprach zum See: »Schweig, gib Ruhe!« Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein. (40) Zu ihnen aber sagte er: »Warum seid ihr feige? Habt ihr noch keinen Glauben?« (41) Und da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: »Wer ist dieser nur, dass ihm selbst der Wind und die See gehorchen?«

Sprachlich-narratologische Analyse Die Erzählung von der Stillung des Seesturms schließt unmittelbar an die vorangegangene Gleichnisrede Jesu (Mk 4,1-34) an und eröffnet – mit der Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20), der blutflüssigen Frau (Mk 5,25-34) und der Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mk 5,21-24.35-43) – eine Reihe von vier Wundergeschichten, die räumlich mit Blick auf den See Gennesaret verbunden sind (Mk 4,35; 5,1.21). Kompositorisch lässt sich die Wundererzählung in vier Sequenzen untergliedern. Auf die Einleitung (Mk 4,35 f.) und die Schilderung der Situation (Mk 4,37 f.) folgt das eigentliche Wunder (Mk 4,39), das durch die eintretende Stille sogleich sinnlich wahrnehmbar wird und an das sich – mit der Frage Jesu und der Verunsicherung der Jünger – eine zweifache Reaktion (Mk 4,40 f.) anschließt. In der Forschungsgeschichte wurde die Erzählung verschiedenen Gattungen zugeordnet und als Exorzismus (Grundmann 1989, 137), Rettungswundererzählung (Theißen 1998, 107-111; Meier 1994, 928 f.), Naturwunder (Schmithals 1970, 56) oder Epiphaniegeschichte (Kertelge 1970, 93) verstanden. Jede Klassifikation hat etwas für sich, fängt entscheidende Aussagemomente ein und ergibt sich jeweils aus der besonderen Akzentuierung der Rolle einer der drei interagierenden Personen bzw. Gruppen: Jesus rettet die Jünger, indem er die dämonischen Naturmächte besiegt. Im Vorstellungskontext des Alten Testaments tut er damit, was allein JHWH vorbehalten war (vgl. Ps 65,8; 107,23-31), und lässt so seine gottgleiche Macht epiphan werden. Mit dem einleitenden Hinweis auf den Abend des Tages (Mk 4,35) fasst Markus das Reden und Tun Jesu zu einer festgefügten Einheit in einem prototypischen Tag zusammen. Die Verbindung zwischen Wort und Tat macht auch das Boot deutlich, das als 257

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

bisheriger Ort der Lehre (Mk 4,1) nun zum Ort des Geschehens wird und in dem sich Jesus und die Jünger gemeinsam befinden (Mk 4,36). Die einbrechende Dunkelheit stellt die mehrere Stunden dauernde Überfahrt an das östliche Seeufer vor eine bedrohliche Kulisse und macht den einsetzenden Sturm umso beängstigender und die Lage der Jünger umso verzweifelter. Der Sturm bricht unvermittelt los (Mk 4,37) und wird anschaulich im Stil eines Augenzeugenberichts geschildert. Die verwendeten Verben und Zeitformen regen die Vorstellungskraft an und lassen die Darstellung sehr lebendig wirken. Das Präsens versetzt den Leser in die Gleichzeitigkeit des Sturms (gfflnetai ginetai – entstehen) und in das sich zusehends (ˇdh e¯de¯) mit Wasser füllende Boot, das in der passivischen Formulierung (gemfflzesqai gemizesthai – voll werden) als reiner Spielball der Fluten erscheint. Das Imperfekt ¥pffballen (epeballen – sie warfen sich) verleiht dem bedrohlichen Rhythmus und der andauernden Kraft der wieder und wieder auf das Boot schlagenden Wellen auch formal Ausdruck. Der Kontrast zu diesem Untergangsszenario könnte größer nicht sein: Während der Sturm selbst erfahrene Fischer in Todesangst versetzt, schläft Jesus bequem – das soll wohl der eigens gesetzte Hinweis auf das Kopfkissen deutlich machen – und von all dem unberührt im hinteren Teil des Schiffes (Mk 4,38). Die Formulierung (als coniugatio periphrastica a't@ Æn kaqeÐdwn autos e¯n katheudo¯n – er selbst schlief) mag dabei sogar auf »einen länger andauernden Zustand« hinweisen (Lindemann 2009, 73). Der Schlaf ist das Kontrastbild zur Angst der Jünger, die ums nackte Überleben kämpfen. Ihre Furcht äußert sich in ihrer vorwurfsvollen Frage (Mk 4,38), ob Jesus kein Interesse an ihrem Schicksal zeige. Die Frage ist Appell und Hilferuf, denn mit dem Gebrauch der Negation o' (ou) statt mffi (me¯) erwarten die Jünger eine positive Antwort (Meier 1994, 926) und fordern Jesus damit eigentlich zum Eingreifen auf. Jesus reagiert unmittelbar auf die Anrede der Jünger (Mk 4,39) und richtet sich auf (diegerqeffl@ diegertheis). Die veränderte Körperhaltung verleiht der Wunderhandlung auch den entsprechenden physischen Ausdruck. Ist die Erzählung sonst durchwegs im Präsens historicum bzw. im Imperfekt gehalten, stehen der Befehl Jesu und die Schilderung der Folgen im Aorist, der die Entschiedenheit des Wirkens und die Unabänderlichkeit des Ereignisses unterstreicht. Die verwendeten Verben für den zweifachen Befehl gehören zum sprachlich typischen Repertoire der Exorzismen Jesu (vgl. Mk 1,25; 3,12; 9,25): Wind und See sind dämonische Personifikationen der Elementarmächte, die durch das Wort Jesu bezwungen werden. Die markante Schlussformulierung fasst die erfolgte Wunderhandlung zusammen: An die Stelle des heftigen Sturmwinds (la…lav meg€lh ⁄nffmou lailaps megale¯ anemou) tritt völlige Stille (galffinh meg€lh gale¯ne¯ megale¯). Erst nachdem die Gefahr gebannt ist, wendet sich Jesus an die Jünger und hinterfragt ihre ängstliche Haltung. Das Adjektiv deil@ (deilos) lässt verschiedene Übersetzungsnuancen zu. Abgeleitet von dffo@ (deos – Furcht) kann damit die Todesangst, die Verzagtheit oder – gerade in der Sicht Jesu – auch die Feigheit der Jünger bezeichnet werden. Mit der zweiten Frage führt Jesus die Aufregung der Jünger auf den ihnen immer noch fehlenden Glauben zurück (Mk 4,40). Das Adverb opw (oupo¯ – noch nicht) nimmt auf den bisherigen Verlauf des Markusevangeliums Bezug: Nach allem, was die Jünger von Jesus schon gehört und gesehen haben, fehlt ihnen immer noch der Glaube. Nach dem großen Sturm und der großen Stille ergreift die Jünger am Ende große Furcht (Mk 4,41). Der See liegt ruhig. Die Jünger sind aufgewühlt. Ihre Reaktion ist typischer 258

Glaube in Seenot Mk 4,35-41

Teil der theologischen Gebärdensprache des Markusevangeliums. Im furchtsamen Erstaunen und Erschrecken (als figura etymologica ¥fobffiqhsan fbon mffgan ephobe¯the¯san phobon megan) spiegelt sich die Größe des transzendenten Geschehens. Die Erzählung klingt offen in der Frage nach der Identität Jesu aus, die – deutlich durch das Imperfekt ˛legon (elegon – er sagte) – schon im Lauf des Evangeliums nicht so schnell verstummt und durch die im zeitlosen Präsens gehaltene Bestätigung der Wunderhandlung (¢pakoÐei hypakouei – er gehorcht) auch in die jeweilige Jetztzeit der Adressaten hineinreicht. Wie die Jünger sind nun der Leser und die Leserin auf der Suche nach Antworten und auf den weiteren Verlauf des Evangeliums verwiesen.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählung vom Seesturm knüpft an die natürlichen Gegebenheiten des Sees Gennesaret an. Der See liegt gut 200 Meter unter dem Meeresspiegel in einem tiefen Becken am nördlichen Ende des Jordantals. An der westlichen und östlichen Längsseite wird er von Bergen – den Ausläufern des Libanon-Gebirges und den syrischen Höhenzügen – flankiert, die »wie gleichmäßig hohe Wände« (Dalman 1967, 129) nah am Ufer aufragen. Gerade nach warmen Tagen, wie die Zeitangabe in Vers 35 voraussetzt, kann der Wind vom galiläischen Hochland in den Talkessel einbrechen, sich als Fallwind zum See hin beschleunigen und über der 170 Quadratkilometer großen Wasserfläche mit geringen Reibungsverlusten ausbreiten. Unversehens und kraftvoll peitscht dann der Wind die Wellen des sonst ruhigen, aber bis zu 40 Meter tiefen Gewässers bedrohlich auf. Setzt man mit Mk 2,1 und Mk 5,1 eine Überquerung des Sees vom westlichen ans östliche Ufer voraus und veranschlagt dafür die maximale Breite des Sees von etwa 12 Kilometern, erscheint die Schilderung nicht unrealistisch: Ein plötzlich einsetzender Sturm, der auch ein Anschwimmen gegen die Wellen unmöglich macht, kann das vom rettenden Ufer bereits weit entfernte Fischerboot in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Eine Vorstellung von der Größe und Beschaffenheit des in der Erzählung vorausgesetzten Boots vermittelt ein Zufallsfund aus dem Jahr 1986. Nahe dem Kibbuz Ginnosar an der Nordwestseite des Sees Gennesaret wurden im Uferschlamm die Reste eines etwa 2000 Jahre alten Holzboots entdeckt (Riesner 1986, 135-137). Bei einer Höhe von 1,2 Metern, einer Breite von 2,3 Metern und einer Länge von 8,2 Metern dürfte das Boot etwa 15 Personen Platz geboten haben und mit zwei Paar Rudern, einem Steuerruder und einem Segel ausgestattet gewesen sein (Eckey 2006, 385; Wachsmann 1988, 31 f.). Der für den Aufenthaltsort Jesu im Boot verwendete Begriff prÐmna (prymna) bezeichnet zunächst einmal nur den hinteren Teil des Schiffs. Um eine bessere Sicht für den Steuermann zu ermöglichen und die Nutzfläche des Boots zu vergrößern, konnte die Heckplattform erhöht sein. Womöglich setzt die Erzählung den relativ geschützten Raum unter einem solchen Heckpodest voraus, der sich zur Lagerung von Gütern oder für Ruhezwecke nutzen ließ (Wachsmann 1988, 33). Das im Text – zumal durch den Gebrauch des Artikels – eigens hervorgehobene Kissen (t proskef€laion to proskephalaion) dürfte dabei nicht das Sitzkissen des Steuermanns, sondern das üblicherweise zum Ausruhen mitgeführte Kopfkissen bezeichnen.

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Über die Bootsfahrt, den plötzlich auftretenden Sturm, die wunderbare Rettung aus Wind und Wellen und die Bedrohlichkeit des Wassers ist Mk 4,35-41 mit dem breiten Strom griechisch-römischer wie alttestamentlich-frühjüdischer Rettungswundererzählungen motivisch verbunden. Eine direkte literarische Abhängigkeit lässt sich – trotz aller energischen Versuche – kaum wahrscheinlich machen. Doch auch ohne unmittelbar prägende Einflussnahme der einzelnen Traditionen kann ein Blick auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede den besonderen Aussagewillen der Seesturmerzählung im Markusevangelium profilieren. Mancherorts wird in der hellenistisch-kaiserzeitlichen Literatur die Bewahrung in Seenot mit dem Erscheinen einer Gottheit – den Dioskuren (Hom. Hym. 33,8-17; Luc. nav. 9), dem Asklepios (Ael. Arist. or. 42,10) oder dem ägyptischen Gott Sarapis (Ael. Arist. or. 45,29.33) – verbunden (Pesch 1984a, 274) und damit als Transzendenzerfahrung beschrieben. Die Herrschaft über die Fluten des Meeres und der Mut gegenüber der stürmischen See gehören zur Fama politischer oder charismatischer Persönlichkeiten. So berichtet Cicero (Cic. Pomp. 48), dass den Vorhaben und Absichten von Pompeius »nicht nur die Bürger zustimmten, die Bundesgenossen Folge leisteten, die Feinde Gehör schenkten, sondern sogar Wind und Stürme günstig waren (etiam venti tempestatesque obsecundarint)«. Marcus Annaeus Lucanus (Ann. Luc. bell. civ. 5,508-677) und Dio Cassius (41,46,1-4) erwähnen jeweils eine Episode aus dem Leben von Julius Caesar, der sich selbstbewusst der bedrohlichen See stellen konnte, weil das Schicksal ihn und die gesamte Besatzung schützte. Mitten im Sturm fordert Caesar den furchtsamen Steuermann selbstbewusst zur Weiterfahrt auf: »Hab Mut, denn Du führst Caesar an Bord!« (Dio Cass. 41,46,3). Ähnlich soll Apollonius von Tyana mächtiger gewesen sein als der Sturm (Philostr. vit. ap. 4,13.15). Die Erzählungen unterstreichen den Wagemut, die Furchtlosigkeit oder die besondere Weisheit der einzelnen Personen und adeln rückblickend ihr Lebenswerk. In der Verfügungsgewalt über das widerstrebende Element Wasser spiegelt sich die besondere Gunst der Götter, die – wenn nicht der Person selbst wegen schon vorhanden – durch Bitten, Gebete, Beschwörungen oder sogar Menschenopfer erreicht werden konnte (vgl. Hdt. 7,191). Auch im alttestamentlich-jüdischen Traditionskontext erscheint das Meer als Chaosmacht: gewaltsam, unberechenbar und vom Menschen nicht zu beherrschen. Dahinter verbirgt sich die Erfahrung der zerstörerischen Naturgewalt, die dem guten Schöpfungswillen Gottes entgegensteht und mit widergöttlichen Mächten in Verbindung gebracht wird (Jes 27,1; Ps 74,13 f.; äthHen 60,7; 69,22). Nicht von ungefähr steigt in der so tief im alttestamentlichen Motivkosmos verwurzelten Offenbarung des Johannes ein Gott lästerndes Tier aus dem Meer (Offb 13,1). Am Ende steht die Erlösungsvision von der Vernichtung des Meeres (Offb 21,1). Das Meer ist Bild für den Feind (Ps 124,1-5), die Bedrohung des Lebens (Ps 32,6), die menschliche Hilflosigkeit oder den Tod (1QH 6,2224). Es ist hoheitliches Merkmal Gottes, über Wasser und Sturm zu gebieten und daraus zu retten (Jes 43,2; Ps 18,17 f.; 46,3 f.; 74,15; 89,10; 104,6-9; Hi 26,12; 38,8-11). Wenn Abraham Stille anstelle von Sturm bewirken kann, dann ist dies für Philo (congr. 93) Ausdruck der Macht Gottes. Der Talmud (jBer 9,13b) erzählt, dass ein jüdisches Kind zu JHWH betet, der daraufhin eine heidnische Schiffsbesatzung aus Seenot rettet. Nicht der Mensch, sondern Gott besitzt die Herrschaft über die stürmische See. Entsprechend 260

Glaube in Seenot Mk 4,35-41

wertet 2Makk 9,8 das Ansinnen Antiochus IV., den Wogen des Meeres gebieten zu wollen, als maßlose Arroganz. Wenn Pompeius trachtet, Herr über Erde und Meer zu sein, erkennt PsSal 2,29 darin die Gottvergessenheit des Herrschers. Vor diesem Hintergrund erschließt sich der profilierte Aussagewille von Mk 4,35-41: Wenn Jesus dem Wind befiehlt und die See zur Ruhe kommen lässt, dann tut er, was in einem alttestamentlichfrühjüdischen Verständnishorizont Gott vorbehalten war. In Jesu Wirken wird Gott epiphan (Pesch 1984a, 279). Gerade dies ist der markante Unterschied zur Jonaerzählung (Jon 1,1-16), die wegen der zweifellos vorhandenen ähnlichen Motive als direkte literarische Vorlage zur Seesturmerzählung begriffen wurde. Hier wie dort versetzt ein plötzlich auftretender Sturm (Jon 1,4 / Mk 4,37) die Seeleute in Angst (Jon 1,5 / Mk 4,38). Jona schläft im Inneren des Schiffes und muss erst geweckt werden (Jon 1,5 f. / Mk 4,38). Die wunderbare Rettung (Jon 1,15 / Mk 4,39) löst große Furcht bei den Betrachtern aus (Jon 1,16 / Mk 4,41). Dennoch wiegen die Unterschiede zu schwer, als dass von einer einfachen Jona-Typologie die Rede sein könnte. Der Sturm ist Folge der Flucht Jonas und eine Maßnahme Gottes gegen die Verweigerungshaltung des Propheten, während die Initiative zur Überquerung des Sees bewusst von Jesus ausgeht (Mk 4,35). Lassen sich der Rückzug und Schlaf Jonas als Verstärkungsmotive seiner Abwendung und Flucht verstehen, unterstreicht der Schlaf Jesu seine vom Sturm unberührte Souveränität. Das Wunder resultiert in Jon 1,14 aus der Hinwendung der Mannschaft zu JHWH im Gebet und dem Einlenken Jonas, der sich bereitwillig ins Meer werfen lässt (Jon 1,12.15). Dagegen bringt in Mk 4,39 Jesu Wort die Wende. Er wirkt das Wunder. Er ist nicht nur das Medium der Wirkmächtigkeit Gottes. Er steht im Zentrum der Erzählung, weil ihm der Wind und die See gehorchen. Damit wird eine soteriologische Grundaussage der alttestamentlichen Enzyklopädie Gottes auf Jesus übertragen, um die zentrale Frage nach seiner Identität zu beantworten.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Mit der besonderen Gewichtung der Person Jesu, der Rolle und Haltung der Jünger im Boot oder des offenen Symbolgehalts der Bilder von Sturm und Wellengang eröffnen sich unterschiedliche Interpretationshorizonte. Die Deutungsmöglichkeiten ergänzen sich wechselseitig und erschließen das vorhandene christologische, ekklesiologische und auch tiefenpsychologische Aussagepotential der Wundergeschichte. Die als Bekenntnis formulierte Schlussfrage fordert geradezu zur Auseinandersetzung mit der Person Jesu und zur christologischen Deutung des Wunders auf (Söding 1987, 445). Aus dem Staunen über das Wunder resultiert die Frage nach der Bedeutung des Wundertäters. Die Wundererzählung kommt dort an ihr Ziel, wo sie als Illustration des christologischen Anspruchs Jesu verstanden wird. Sie setzt das urchristliche Bekenntnis zu Jesus ins Bild. Anders als Caesar in seiner – letztlich doch scheiternden – Hybris (Plut. Caes. 38; Dio Cass. 41,46,4) beherrscht Jesus die Chaosmächte und rettet aus dem drohenden Untergang. Hier unterscheidet sich die Erzählung in ihrem christologischen Interesse von den antiken Sturmstillungstraditionen. Jesus ist kein vom Schicksal verwöhnter Held oder ein Sensationen wirkender Thaumaturg, dem Respekt oder Staunen oder politische Anerkennung gebühren (Strelan 2000, 178 f.). Das Wunder und seine Deutung fordern zur existentiellen Bindung auf: »Habt ihr noch keinen Glauben?« (Mk 261

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

4,40). Die Erzählung nimmt den Leser an die Hand und führt ihn immer weiter in den Offenbarungsverlauf des Markusevangeliums hinein und immer entschiedener an die Frage heran, wer Jesus ist (Stein 2008, 246). Die hier gegebene Antwort nimmt schon vorweg, dass er mehr ist als Jona (vgl. Pesch 1984a, 269), als Johannes, als Elija oder sonst einer der Propheten (Mk 8,28). Ihm gehorchen Wind und See, d. h. im alttestamentlichen Motivkosmos: Hier ist kein anderer als Gott selbst am Werk. Ein ekklesiologisches Verständnis der Erzählung setzt beim Motiv des Boots an. Schon in einer dem Stammvater Naftali zugeschriebenen Vision aus der frühjüdisch-hellenistischen Literatur steht das »Schiff Jakobs« für das in Bedrängnis geratene Volk Israel (TestNaph 6,1-10). Tertullian (bapt. 12) versteht das Boot, in dem sich Jesus mit seinen Jüngern befindet, als Sinnbild für die Kirche, die sich durch die Fluten der Welt bewegt und im Gebet an den Herrn wendet. Im Boot kondensiert sich das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde. Sie weiß sich um Jesus versammelt und von ihm herausgerufen, denn die Initiative zur Fahrt geht auf ihn zurück. Der Weg über das Meer symbolisiert wie im Zeitraffer den Weg der Jüngerschaft, der die Erfahrung der Gottesferne einschließt und die Anfechtung kennt (Kollmann 2011, 99). So kann das Bild des schlafenden Jesus jene irritierende Erfahrung der nachösterlichen Gemeinde oder die schon in den Psalmen betonte Not des Beters (Ps 10,1; 22,2 f.; 44,24 f.; 69,2-4; 102,2 f.) einfangen, dass Gott schweigt und abwesend scheint gerade im Abgrund menschlicher Not. Das Bild von Boot und Überfahrt ist damit offen für die verschiedensten Herausforderungen der Nachfolgegemeinschaft, die sie so plötzlich und peitschend stark wie der Sturm treffen können. Die frühe christliche Gemeinde mag eine Aktualisierungsmöglichkeit der Erzählung in der Tatsache erkannt haben, dass mit der Überfahrt an das östliche Seeufer (Mk 4,35) das Evangelium in dezidiert heidnisches Gebiet aufbricht. Lässt sich aus dem Sturm auch die Orientierungslosigkeit einer Gemeinschaft heraushören, die verunsichert vor dem Schritt in die Völkerwelt steht? Mit Blick auf den glücklichen Ausgang der Geschichte wird das Boot zum Hoffnungsspeicher und illustriert eine zeitlose Botschaft: Die Stabilität einer Gemeinde lässt sich nicht an der Beschaulichkeit der Fahrt erkennen, sondern an ihrer buchstäblichen Verankerung im Wort Jesu. Die Psalmen kleiden die unterschiedlichsten menschlichen Grenzerfahrungen ausdrucksstark ins Bild von Wellen, Wasser und Flut. Eine tiefenpsychologische Deutung der Seesturmerzählung geht von dieser Symbolkraft der Bilder aus. Nacht, Meer und Sturm werden als Chiffre für die Lebenssituation und innere Zerrissenheit des Menschen begriffen (dazu Drewermann 2000, 350-359). Schon in der griechischen Mythologie findet sich die Vorstellung, dass die Nacht aus dem Chaos geboren wurde und ihrerseits den Tod hervorbringt (Hes. theog. 123, 208 f.). Das Bild fängt die allgemein menschliche Erfahrung der besonderen Schutzlosigkeit und Bedrohung des Lebens in der Dunkelheit ein. In der von Finsternis umgebenen Fahrt über das Wasser erkennt der Mensch seine eigene Lebensreise. Mit an Bord sind die Furcht, die Machtlosigkeit gegenüber der ungefragt hereinbrechenden Katastrophe und das Gefühl, ins Bodenlose zu versinken. Das aufgewühlte Meer lässt sich aber auch als Bild für das eigene Herz verstehen: für die Stimmungen, die urplötzlich wechseln, die Abgründe, die sich auftun oder die Depressionen, die alles Handeln lähmen. Auf diesem Hintergrund fragt eine tiefenpsychologische Deutung nach der erlösenden Funktion der Wundererzählung. Gegen die Verdrängung fordert der anklagende Ruf der Jünger auf, die eigene Not nicht zu verstecken, sondern auszusprechen – voreinander und vor Gott. Der Angst der Jünger steht die Ge262

Glaube in Seenot Mk 4,35-41

lassenheit Jesu gegenüber. Der Blick auf ihn soll Vertrauen in einen Untergrund stiften, der trägt, auch wenn alles wankt. Ziel ist, »sich in Gott zu verankern und mitten im ›Sturm‹ das ›Schlafen‹ zu lernen« (Drewermann 2000, 358), denn es gibt Halt. Dem Schiff ist eine sichere Ankunft verheißen.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Gegenüber der Darstellung des Markusevangeliums zeichnet die Parallelüberlieferung der Seesturmerzählung in Lk 8,22-25 ein hoheitsvolleres Bild Jesu, glättet sprachlich die Markusvorlage und entschärft den vorwurfsvollen Ton des Gesprächs zwischen den Jüngern und ihrem Meister. Lk 8,22-25 (22) An einem jener Tage stieg er mit seinen Jüngern in ein Boot und sagte zu ihnen: »Lasst uns zum jenseitigen Ufer des Sees hinüberfahren.« So fuhren sie ab. (23) Während sie nun segelten, schlief er ein. Da stieß ein Sturmwind auf den See hinab, sie wurden überflutet und gerieten in Gefahr. (24) Sie wandten sich ihm zu, weckten ihn auf und sagten: »Meister, Meister, wir kommen um.« Er richtete sich auf und befahl dem Wind und den Wogen des Wassers. Da hörten sie auf, und es trat Stille ein. (25) Zu ihnen aber sagte er: »Wo ist euer Glaube?« Sie gerieten in Furcht, staunten und sagten zueinander: »Wer ist dieser nur, dass er selbst den Winden und dem Wasser befiehlt, und sie gehorchen ihm?« Die Erzählung steht relativ eigenständig im narrativen Verlauf des Lukasevangeliums. Eine präzise chronologische Einordnung, die im Markusevangelium die theologische Verbindung zwischen Lehre und Wirken Jesu verdeutlichte, fehlt. Lukas strafft die Erzählung und lässt einzelne Details – etwa den Aufenthaltsort Jesu im Heck des Schiffs, das Kopfkissen und den nicht weiter relevanten Hinweis auf die anderen Boote – weg. Der Fokus liegt auf den Jüngern. Über die Darstellung des Markusevangeliums hinaus hebt Lukas die Gefährlichkeit ihrer Lage (Lk 8,23), ihre Hinwendung zu Jesus (Lk 8,24) und ihre staunende Reaktion (Lk 8,25) eigens hervor. Der Schlaf Jesu wird unmittelbar vor dem Einsetzen des Sturms erwähnt und erscheint damit beinah als Grund der Bedrängnis: Der Wind setzt ein und die Not der Jünger beginnt gerade in dem Moment, da sie ihren Meister abwesend wähnen. Die anklagende Frage der Jünger in Mk 4,38 wird in der lukanischen Fassung zu einem bittenden Ausruf. Mit der Anrede Lehrer (did€skale didaskale) knüpft Markus an die vorausgegangene Schilderung der Lehre Jesu an. Die zweifache Anrede Meister (¥pist€ta epistata), die im Lukasevangelium ausschließlich von den Jüngern und meist im Kontext von Wundern gebraucht wird (Lk 5,5; 8,45; 9,33.49; 17,13), betont demgegenüber stärker die Autorität und die Verantwortung Jesu innerhalb der Jüngergruppe. Lukas gibt das Wunder selbst nicht als wörtliche Rede Jesu wieder. Die indirekte Schilderung der Wunderhandlung betont umso mehr die erhabene Macht Jesu, der ohne den doppelten Gebrauch eines Bannworts (Mk 4,39) mühelos Wind und Wellen gebietet. Die Zeichnung der Jünger ist positiver als in Mk 4,40 f. Ihnen fehlt der Glaube nicht generell, aber im Moment der Not versinkt er buchstäblich in den 263

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Fluten. Der Sturm wird zu einer Bewährungsprobe des Glaubens (Lk 8,25). Neben der Furcht ergreift die Jünger Staunen. In dieser ehrfurchtsvollen Reaktion auf das Geschehen deutet sich stärker als in Mk 4,41 schon eine Ahnung von der Identität Jesu an. Die spätere Wirkungsgeschichte der Seesturmerzählung ist zweifellos von der ekklesiologischen Deutung des Wunders bestimmt. Der Vergleich der Kirche mit einem Schiff gehört zum Grundrepertoire ekklesialer Metaphorik. Das Bild steht Pate für den architektonischen Begriff Kirchenschiff. Der Bau in Form eines Schiffskörpers und die Bezeichnung spiegeln das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde wider, die sich auf ihrem Weg durch die Zeit um den Herrn versammelt weiß. Einen musikalischen Ausdruck erhält die ekklesiologische Interpretation etwa im Kirchenlied von Martin Gotthard Schneider »Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit« (EG 609) aus dem Jahr 1962. In der christlichen Sepulkralkunst findet Mk 4,35-41 bereits früh auch eine auf den einzelnen Gläubigen bezogene Interpretation. Auf einer Grabplatte der Calixtuskatakombe in Rom symbolisiert das Schiff die Lebensreise des Verstorbenen in den ewigen Hafen. Stellvertretend für die vielen Beispiele aus der bildenden Kunst sei auf das Gemälde von Rembrandt »Christus im Sturm auf dem See Gennesaret« aus dem Jahr 1633 und eine Miniaturmalerei aus dem Hitda-Codex verwiesen.

Abb. 5: Sturm auf dem Meer (Hitda-Codex, um 1020)

Das Boot – klein wie eine Nussschale – wird überragt vom Mast, der die Form eines Kreuzes hat. Die Stillung des Sturms und die Offenbarung am Kreuz ergänzen und erschließen sich – gut markinisch – wechselseitig. Damit ist in Szene gesetzt, was die Stundenliturgie der Kartage nach dem Hymnus Crux fidelis von Venantius Fortunatus (Ende 6. Jh. n. Chr.) vom Kreuz sagt: »Du, die Planke, die uns rettet aus dem Schiffbruch dieser Welt«. Das Bild gibt damit eine Antwort auf die offen gebliebene Frage der Jünger am Ende der Wundererzählung. Diese offene Frage bleibt der wirkungsgeschichtliche und 264

Glaube in Seenot Mk 4,35-41

stets aktuelle Anker für den Leser in der Geschichte. Sie öffnet die Bilderwelt des Wunders für den Betrachter und ruft erneut zur Antwort auf – je stürmischer die See, desto entschiedener.

Hans-Georg Gradl Literatur zum Weiterlesen D. S. du Toit, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen, WMANT 111, Neukirchen-Vluyn 2006, 88-96. R. Glöckner, Gott beherrscht die Empörung des Meeres – Jesus stillt den Sturm auf dem See (Mk 4,35-41), in: ders., Neutestamentliche Wundergeschichten und das Lob der Wundertaten Gottes in den Psalmen, Mainz 1983, 60-79. G. Kittel, »Wer ist der?« Markus 4,35-41 und der mehrfache Sinn der Schrift, in: C. Landmesser et al. (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, BZNW 86, Berlin et al. 1997, 519-542. A. Reichert, Zwischen Exegese und Didaktik. Die markinische Erzählung von der Sturmstillung (Mk 4,35-41), ZThK 101 (2004), 489-505. R. Strelan, A Greater Than Caesar. Storm Stories in Lucan and Mark, ZNW 91 (2000), 166-179. I. Wallis, Relating Mark’s »stilling of the Storm« Pericope (Mark 4.35-41) to Discipleship Today. An Experiment in Resurrection Faith, Theol. 111 (2008), 346-351.

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Wessen Medium willst du sein? (Die Heilung des Besessenen von Gerasa) Mk 5,1-20 (EpAp 5,9 f.) (1) Und sie kamen an das Jenseitige (s.c. Ufer) des Meeres in das Land der Gerasener. (2) Und nachdem er aus dem Boot herausgekommen war, sofort empfing ihn aus den Grabmälern ein Mensch in einem unreinen Geist. (3) Der hatte seine Behausung in den Grabstätten. Und sogar mit einer Kette vermochte ihn bisher noch keiner zu binden. (4) Denn oft war er mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden, aber die Ketten wurden von ihm zerrissen und die Fußfesseln zerrieben, und niemand hatte die Kraft, ihn zu bändigen. (5) Und ununterbrochen bei Nacht und bei Tag krächzte er in den Grabstätten und auf den Bergen und schlug sich selbst mit Steinen. (6) Und als er Jesus von weitem sah, begann er zu rennen und huldigte ihm. (7) Und er krächzte mit lauter Stimme: »Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!« (8) [Jesus] hatte ihm nämlich gesagt: »Komm heraus, du unreiner Geist, aus dem Menschen!« (9) Und er fragte ihn: »Welchen Namen hast du?« Und er sagt ihm: »Legion habe ich als Name, denn wir sind viele.« (10) Und er bat ihn vielmals, dass er sie nicht außerhalb des Landes verlege. (11) Es war aber dort bei dem Berg eine große Schweineherde beim Weiden. (12) Da baten sie ihn: »Ordne uns ab in die Schweine, damit wir in sie hineinfahren!« (13) Und er gab ihnen die entsprechende Order. Und die unreinen Geister kamen heraus und fuhren in die Schweine hinein, und der Trupp stürmte im Gleichschritt den Abhang hinab – in das Meer, so um die 2000, und sie ersoffen im Meer. (14) Und die sie weideten, ergriffen die Flucht und gaben Bericht in die Stadt und in die Höfe. Und es kamen die Leute, um zu sehen, was geschehen war. (15) Und sie kommen zu Jesus und betrachten den Besessenen, wie er dasitzt, mit einem Mantel bekleidet und besonnen, den, der die Legion gehabt hat. Und Furcht ergriff sie. (16) Und es erzählten ihnen diejenigen, die gesehen hatten, wie es mit dem Besessenen geschah – und die Sache mit den Schweinen. (17) Und da begannen sie, ihn zu bitten, aus ihren Gebieten wegzugehen. (18) Und als er ins Boot stieg, bat ihn der, der besessen gewesen war, dass er zusammen mit ihm sein dürfe. (19) Und er ließ ihn nicht, sondern sagt ihm: »Mach dich auf in dein Haus und zu den Deinen und berichte ihnen alles, was der Herr dir getan hat und sich deiner erbarmt hat.« (20) Und er ging weg und begann, in der Dekapolis zu verkünden, was ihm Jesus alles getan hat. Und alle ergriff Staunen.

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Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

Sprachlich-narratologische Analyse Die Erzählung vom so genannten Gerasener, der im Text als »Mensch in einem unreinen Geist« vorgestellt wird, ist eingebunden in die Wundergeschichtenreihe, die in Mk 4,35 mit der Sturmstillung beginnt und in Mk 6,56 mit einem Summarium endet. Topographisch handelt es sich um einen »Ausreißer« ans »andere Ufer«. Das wird in Mk 4,35 als Ziel angekündigt (»lasst uns an das Jenseitige gehen«) und in Mk 5,1, dem Beginn unserer Einheit, erreicht (»und sie kamen an das Jenseitige«, jeweils mit e§@ t pffran eis to peran). In Mk 5,21 kommt Jesus »wieder« zurück: »Und nachdem Jesus hinübergefahren war wieder an das Jenseitige« (e§@ t pffran eis to peran). Gemäß der theologischen Landkarte des Markusevangeliums wird am »anderen Ufer« die heidnische Welt lokalisiert; in unserer Erzählung sofort an der Schweineherde erkennbar, die dort weidet (Mk 5,11). Der kurze Ausreißer, bei dem nur für Jesus erzählt wird, dass er aus dem Boot ausund wieder einsteigt (V. 2.18), während die Jünger offensichtlich im Boot sitzen bleiben, steht unter einem denkbar schlechten Omen (bei der Überfahrt wäre beinahe die ganze Mannschaft untergegangen: Mk 4,38) und wird tatsächlich auch abrupt gestoppt (Jesus wird des Landes verwiesen: Mk 5,17). Trotzdem bleibt er nicht ohne Folgen. Als Jesus nämlich zum zweiten Mal in die Gegend der Dekapolis kommt (Mk 7,31), kennt man ihn und erhofft von ihm Hilfe: Man bringt einen Taubstummen zu ihm, damit er ihm die Hand auflegt (Mk 7,32). In der Logik des Erzähltextes muss das mit dem Gerasener zusammenhängen, den Jesus bei seinem ersten Aufenthalt von den Dämonen befreit hat. Von ihm heißt es nämlich in Mk 5,20, dass er in der Dekapolis verkündet (khrÐssein ke¯ryssein) habe, was Jesus ihm getan hat. Dazu jedoch konnte es nur kommen, weil Jesus – scheinbar völlig unbarmherzig – dessen Bitte abschlug, »zusammen mit ihm sein zu dürfen« (Mk 5,18), was im Kontext konkret bedeutet: mit ihm ins Boot zu steigen, wo die Jünger (noch immer) sitzen, und sich mit Jesus aus dem Staub zu machen. Aufgrund dieser Abweisung jedoch tut der Gerasener, was laut Mk 3,14 einmal das Kennzeichen all derjenigen ausmachen soll, die Jesus ausgewählt hat, »damit sie zusammen mit ihm seien«, nämlich: »damit er sie aussende zum Verkündigen (khrÐssein ke¯ryssein)«. Allerdings: Lange bevor Jesus diesen zweiten Schritt der Aussendung zur Verkündigung in die Tat umsetzt (Mk 6,7.12), hat der Gerasener – in der Chronologie des Markusevangeliums gelesen – wegen oder trotz seiner Abweisung ihn ohne Beauftragung bereits durchgeführt. Und dabei ist er auch noch ungehorsam, und zwar auf der ganzen Linie: Jesus trägt ihm auf, »in sein Haus und zu den Seinen zu gehen und ihnen zu berichten, was der Herr ihm getan hat« (Mk 5,19). Der Gerasener jedoch geht in die (ganze) Dekapolis und verkündigt (khrÐssein ke¯ryssein), was Jesus ihm getan hat. Also: Der Gerasener gründet keine Lokalgemeinde, sondern wird Wanderprediger für ein ganzes Territorium. Damit ist er der Promotor einer Filiale von Galiläa in der Dekapolis. Ganz anders als die zur Verkündigung Beauftragten, die es im Erzähltext dann doch nicht tun (vgl. Mk 14,50) und außerdem penetrant unverständig bleiben (vgl. Mk 6,52; 8,17), zeigt er auf Anhieb und ohne jegliche Belehrung theologischen Tiefblick: Für ihn ist »der Herr« niemand anderes als Jesus. Das entspricht 1:1 dem Plan Gottes, wie er im Prophetenwort von Mk 1,2 f. im Evangelium angekündigt wird. Dort sagt Gott zu (seinem Sohn) Jesus: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der dir den Weg bereiten soll. Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg!« Von diesem programmatischen Anfang her gelesen, entpuppt sich der Gerasener geradezu als ein zweiter Johannes der Täufer, als 267

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

ein Bote, der dem Herrn den Weg bereitet – diesmal in der Dekapolis. Mehr kann man nicht erwarten! Anders gesagt: Die Verkündigungstätigkeit des Geraseners, der eigentlich keine Verkündigungslizenz hat, wird über das Prophetenwort in Mk 1,2 f. von Gott selbst legitimiert (anders Feneberg 2000, 144). Den Einzelzügen der Erzählung kommt man am bestem über eine Personenanalyse auf die Spur. Nach der szenischen Einleitung (V. 1) wird zunächst eine Interaktion zwischen Jesus und dem Gerasener erzählt (V. 2-13), in deren Zentrum ein Dialog steht (V. 7-12), der durch die referierte Erlaubnis in V. 13a inhaltlich abgeschlossen wird. Die Gesprächsteile erinnern stark an den Dialog im ersten Exorzismus des Markusevangeliums (Mk 1,23-26). Auch dort ist es ein »Mensch im unreinen Geist«, der die gleiche Abwehrformel als Dialogeröffnung »krächzt« (Mk 1,24: »Was haben wir mit dir zu tun?«/Mk 5,7: »Was habe ich mit dir zu tun?«) und Jesus mit einem ungewöhnlichen christologischen Titel anspricht (Mk 1,24: »Der Heilige Gottes«/Mk 5,7: »Sohn des höchsten Gottes«). Dient in Mk 1 die Exorzismuserzählung dazu, die Vollmacht der Lehre Jesu (Rahmenthema in V. 22.27) zu illustrieren, so wird in Mk 5 gezeigt, welche Auswirkung Jesu Rede auf den »Menschen im unreinen Geist« hat und wie andere darauf reagieren; genauer: wie davon erzählt wird und wie Menschen wiederum darauf reagieren (V. 14-20). Zum Einzelnen: Dem Dialog vorgeschaltet ist eine Rückblende (V. 3-5), der die Wiederaufnahme des Erzählgeschehens in V. 6 folgt. Die Auswirkung des Dialogs wird in V. 13 erzählt. Der Dialog selbst bringt ans Licht, was es mit dem »Menschen im unreinen Geist« auf sich hat: Man sieht und hört einen – und doch sind es viele (V. 9 f.). Der unreine Geist, in (!) dem der Mensch steckt (Burdon 2004, 162), ist eine ganze Legion! In der Rückblende von V. 3-5 wird also erzählt, was diese Legion mit dem Menschen anstellt: Sie macht ihn ungeheuer stark, so dass niemand ihn überwältigen kann (V. 3 f.); aber sie verursacht auch Autoaggression: Er macht sich kaputt (V. 5). Dass diese Autoaggression von der Geister-Legion hervorgerufen wird, in der der Mensch steckt, zeigt sich im folgenden Geschehen: Kaum hat die Geister-Legion auf Jesu Erlaubnis hin ihren sichtbaren Träger gewechselt, sitzt der Mensch plötzlich ganz besonnen da (V. 15), während die Autoaggression auf die Schweine übertragen wird: Sie stürzen sich in den Tod (V. 13). Der Dialog im Zentrum offenbart also nicht nur, was los ist, sondern er befreit zugleich den Menschen von seinem dämonisch-beherrschenden Ambiente. Die Städter, die in V. 14-17 die Interaktionspartner Jesu bilden, kommen verdeckt bereits im Rückblick V. 3-5 vor: Vergeblich wurde von ihrer Seite aus versucht, die Macht der Legion des »Menschen im unreinen Geist« zu bändigen. Als sie, herbeigerufen von den Schweinehirten (V. 14), den gleichen Menschen in völlig neuer Formation sehen: sitzend, bekleidet und besonnen, ohne Ketten, aber gebändigt, ergreift sie eine unspezifische göttliche Ahnung – wie in der vorausgehenden Perikope die Jünger im Boot (Mk 4,41): Sie fürchteten sich (V. 15). Als sie jedoch die Erzählung der Schweinehirten hören, bitten sie (parakalffw parakaleo¯) Jesus, das Land zu verlassen (V. 16 f.). Spiegelbildlich dazu verhält sich die Schlussszene mit Jesus und dem Gerasener (V. 18-20). Sie beginnt mit einer Bitte (V. 18: parakalffw parakaleo¯) – sie wird dem Gerasener abgeschlagen – und endet mit einer Erzählung: der Verkündigung des Geraseners in der Dekapolis. In diesem Fall kommen die Hörer zum Staunen. Sie wundern sich (qaum€zw thaumazo¯) über dessen Wundergeschichte (V. 20). Alles kommt also aufs Erzählen an! Obwohl die Reaktionen auf das Erzählte in den 268

Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

beiden Schlussszenen V. 14-17.18-20 konträr ausfallen, sind die Konditionen strukturell völlig gleich: Die Erzähler sind Augenzeugen, die Adressaten stammen aus der gleichen Gegend (die Hörer der Schweinehirten wohl aus der Stadt Gerasa, die Hörer des Geraseners wohl aus anderen Städten der Dekapolis) und sehen den vom Geschehenen Betroffenen jeweils mit eigenen Augen. Und doch reagieren sie konträr. An den Städtern jedenfalls wird gezeigt, dass die unbestimmte religiöse Ahnung erst durch die Erzählung der Schweinehirten zu einer definitiven Stellungnahme zu Jesus führt. Alles kommt aufs Erzählen an! Jesus hat zwar die Dämonen im Griff, nicht aber das, was über ihn erzählt wird – weder bei den Schweinehirten, noch beim Gerasener: Obwohl er eine klare Vorgabe bekommt, hält er sich – zum Glück! – nicht daran. Im Unterschied zum ersten Exorzismus in Mk 1 liegt der Schwerpunkt dieser zweiten Exorzismuserzählung auf der Skizzierung einer konträren Wirkungsgeschichte. In ein darauf bezogenes Aktantenschema gebracht ergibt sich: Augenzeugen (Schweinehirten/ Gerasener) erzählen am Geschehen nicht beteiligten Adressaten (Städter/Dekapolis) vom gleichen Ereignis (Heilung eines Besessenen). In einem Fall kommt es zur Ablehnung und Ausweisung Jesu, im anderen Fall zum Staunen. Diese im Erzähltext vorliegende Aktantenstruktur spiegelt die Adressatensituation des Evangeliums: Auch sie hören »nur« Erzählungen über Jesus, und das nicht einmal von Augenzeugen, sondern von Erzählern, die Erzähltes weitergeben. Und vermutlich hören sie auch unterschiedlich ausgerichtete Erzählungen. Wie sollen sie darauf reagieren? Wie können sie unterscheiden? Welcher Deutung sollen sie Glauben schenken? Aber vielleicht ist es gar nicht so schwer, sofern man der Analyse des Markusevangeliums folgt. Denn dann hat jede Deutung andere Konsequenzen. Man muss diese Konsequenzen im Blick haben, wenn man sich entscheiden will. Die Erzählung des Geraseners, nennen wir sie fama positiva, fokussiert auf Jesus und den Effekt seiner Handlung für den Gerasener (V. 20). Die Erzählung der Schweinehirten, nennen wir sie fama negativa, rechnet auf: was dem Besessenen geschieht – und die Sache mit den Schweinen (V. 16). In dieser Kombination geht es nicht nur um den Verlust der Schweineherde, sondern um die Geister-Legion, deren Macht man zwar nicht bändigen kann, mit der sich aber sozusagen in »geordneten Verhältnissen« ganz gut leben lässt: hier die Stadt, dort die Geister-Legion, draußen vor der Stadt, wo die Grabmäler sind. Nur das Krächzen des »Menschen im unreinen Geist« erinnert an die GeisterLegion vor der Stadt. Durch das Eingreifen Jesu hat sie sich selbst liquidiert. Der ehemals Besessene könnte in der Stadt Aufnahme finden. Die Verhältnisse müssten neu geordnet werden. Das wollen die Städter nicht. Besser: Die Schweinehirten beeinflussen durch ihre Erzählung die Städter, dass sie lieber Jesus ausweisen, als dass sie die Machtverhältnisse neu ordnen. Dass die Sache mit der Geister-Legion und den damit implizierten Machtverhältnissen auf sehr reale Hintergründe anspielt, kann auch der unbedarfte moderne Leser des Markusevangeliums erkennen, ohne dass er historische Wissensbestände nachschlagen muss. Er muss nur im Evangelium weiterlesen: Denn von einer Huldigung/Proskynese (V. 6) ist im Markusevangelium nur noch ein einziges weiteres Mal die Rede: als Spottgeste der römischen Soldaten gegenüber dem zum Tod verurteilten Jesus (Mk 15,19). Die zeitgeschichtliche Analyse wird diese Spur erhärten.

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext »Legion« – der Name sagt alles. Im 1. Jh. n. Chr. gibt es im Mittelmeerraum wohl niemanden, der dabei nicht an die römische Truppeneinheit denkt, deren Größe für die Kaiserzeit mit etwa 5000 Mann angegeben wird (10 Kohorten zu je 480 Mann, die sich jeweils aus 6 Zenturien zu jeweils 80 Mann zusammensetzen: Gilliver 2003, 25). Legionen sind die Eroberungsmaschinen der römischen Herrschaft. Sind die Länder erst einmal unterworfen und unter Steuerpflicht gebracht, dann garantieren sie die so genannte pax Romana. Anders gesagt: Sie stehen als Drohkulisse überall einsatzbereit, wo es brennt (im 1. Jh. n. Chr. z. B. an der Parthergrenze in der Euphratregion Nordsyriens) und sorgen im Notfall für Ruhe und Ordnung. Die Bevölkerung muss für die Versorgung aufkommen und Transportmittel zur Verfügung stellen. Die Legionen leben vom Land und seinen Erträgen. Insofern reagiert unser Legion-Dämon völlig gattungsgemäß, wenn er Jesus darum bittet, nicht außer Landes verlegt zu werden. Einen »normalen« Dämon kümmert das Land nicht, er braucht ein biologisches Wirtstier, das unsere DämonenTruppe dann auch sofort erspäht: die Schweineherde. Und es gehört zu den besonders amüsanten Erzählzügen unseres Textes, dass im Zusammenhang mit diesem »Umzug« Vokabeln ausgewählt werden, deren Obertöne militärische Operationen imaginieren lassen (in der Übersetzung kursiviert). Dabei erscheint Jesus in der Rolle des Oberbefehlshabers (er gibt eine Order – ¥pitrffpein epitrepein bzw. ihm obliegt es, eine Legion zu verlegen – ⁄postffllein apostellein) und der Legion-Dämon als Truppe, die im Gleichschritt Richtung Abhang stürmt (¡rm”n horman). Dabei lassen sich entsprechende Belege insbesondere auch in Spättexten des Alten Testaments (2/4Makk) sowie bei Philo und Josephus finden (Derrett 1979, 5). Dass es ausgerechnet Borstentiere sind, auf die es der Legion-Dämon abgesehen hat, macht vermutlich einen besonderen Clou der Erzählung aus: Denn der Eber war eines der Wappentiere der legio X Fretensis, die spätestens 14 n. Chr. nach Syrien verlegt wurde, unter dem Oberbefehl des späteren Kaisers Vespasian an der Niederschlagung des Jüdischen Aufstands beteiligt war, unter seinem Sohn Titus Jerusalem belagert und nach dessen Fall dort als Ordnungsgarant ihr Hauptquartier bezogen hat (Dabrowa 1993, 11-21). Der Legion-Dämon verkörpert sozusagen in den neuen Wirtstieren sein eigenes Identifikationsmerkmal. Denn Feldzeichen haben nicht nur taktische Funktionen als Orientierungshilfen während des Kampfes, sondern auch hohen symbolischen Stellenwert und Repräsentationscharakter. So hat Augustus die Rückgabe der an die Parther verlorenen Feldzeichen 22 v. Chr. propagandistisch als Startsignal für das Goldene Zeitalter stilisiert. Nachdem die Symbole der Feldzeichen nicht nur auf Inschriften und Münzen, sondern auch auf dem Baumaterial einer Legion erscheinen, nämlich als Stempel auf den Ziegelsteinen, fungieren sie gleichzeitig als optischer Platzhalter für die Truppenpräsenz in einer bestimmten Region. Aus der Legionsziegelei in der Nähe Jerusalems sind entsprechend viele Artefakte erhalten (Barag 1967). Außer dem obligatorischen Eber und gelegentlich einem Stier hatte die legio X Fretensis noch weitere Symbole, deren ausgesprochen maritimer Charakter auffällt: Neptun, Kriegsschiff, Delfin. Unter den Fundorten sind Neapolis, Gadara und Samaria-Sebaste, also der weitere Einzugsbereich Palästinas, interessant (Klinghardt 2007, 35-41). Diese ausgesprochen maritime Symbolik hängt mit der ruhmreichen Geschichte der Legion zusammen: Aufgrund ihres erfolgreichen Einsatzes bei den für den späteren Kaiser Augustus entscheidenden Seegefechten 36 v. Chr. im Fretum Siculum, der Meerenge zwischen Italien und 270

Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

Sizilien, erhielt sie ihren Namen. Noch 100 Jahre später präsentieren sich die NachfolgerLegionäre mit dieser offensichtlich identitätsstiftenden Symbolik: als siegreiche Eber zu Wasser und zu Land. Mk 5,1-20 erzählt von der geordneten Selbstvernichtung dieser Fretensis-Dämonen-Legion in ihrem ureigensten Element: der See. Sollte man bei »Herde« (⁄gfflh agele¯, V. 13) als Oberton »Truppe von Rekruten« (Derrett 1979, 5) mithören, dann ergibt sich auch noch ein ironischer Unterton: Die sich als »alte Hasen« dünken, sind blutige Anfänger! Was hat die legio X Fretensis mit Gerasa und der Dekapolis zu tun? Im 1. Jh. relativ wenig. Aber auch das hat seinen guten Grund: Der Begriff und die Vorstellung einer »Dekapolis« als eines Zehn-Städte-Verbundes stammt aus dem späten 1. Jh. n. Chr. Das Markusevangelium gehört zu einem der frühesten Belege. Der römische Enzyklopädist Plinius (23/24-79 n. Chr.) zählt folgende Städte auf: Damaskus, Philadelphia, Raphana, Skythopolis, Gadara, Hippos, Dion, Pella, Gelasa [= Gerasa] und Kanatha (Plin. nat. 5,74). Die Auflistungen variieren jedoch, und die Städte können zu unterschiedlichen Zeiten jeweils anderen angrenzenden römischen Provinzen zugeschlagen werden, ohne den Status einer »Dekapolisstadt« zu verlieren. Zu Recht umstritten ist deshalb die Behauptung einer administrativen Sondereinheit der Provinz Syria unter einem ritterlichen Statthalter ab 90 n. Chr. (mit Bezug auf IGRR I 824: Isaac 1998, 313-321; Lichtenberger 2007, 238; skeptisch: Gebhardt 2002, 29). Klar dagegen ist die politische Stoßrichtung, die bei der Bezeichnung »Dekapolis« mitschwingt (Wenning 1994): Diejenigen Städte im Ostjordanland, die Pompeius 63 v. Chr. aus hasmonäischer Oberherrschaft »befreit«, d. h. der von ihm neu gegründeten Provinz Syria unterstellt hat, wehren sich im 1. Jh. erneut gegen jüdische Herrschaftsgelüste; diesmal gegen die erstarkende Macht der Herodianer. Durch Münzprägungen, auf denen sie die Zeitrechnung mit der »Befreiung« durch Pompeius beginnen lassen, erklären sie bewusst ihre Zugehörigkeit zur Provinz Syrien, unterstellen sich also dem römischen Kaiser – und demonstrieren damit gegenüber den Herodianern ihre »Autonomie«. Sie verlagern die internen Machtrangeleien auf eine höhere Ebene: transformiert als Konkurrenzkampf um die Gunst Roms (Ebner 2010, 409-417). Als der von den jüdischen Landesherren unter der Decke gehaltene interne Widerstand gegen Rom innerhalb ihrer eigenen Territorien als Aufstand offen ausbricht, wird das für die Städte des Ostjordanlandes erneut zum Impuls, eindeutig Flagge zu zeigen. Dabei spielen verschiedene Faktoren zusammen: Die Städte des Ostjordanlandes (wie die Städte der Küstenebene) sind aufgrund ihrer wechselhaften Geschichte multiethnisch geprägt. Neben den griechisch sprechenden Syrern leben Juden und Nabatäer bzw. Araber, deren Bevölkerungsanteile z. T. sehr hoch sind. In Zeiten des Aufstandes flammen alte Rivalitäten zwischen Juden und Syrern neu auf und können gleichzeitig als bewusste Parteinahme für Rom plakatiert werden. Dabei gibt es unterschiedliche Konstellationen: Übergriffe der griechischen Bevölkerung auf die jüdische und umgekehrt (Flav. Jos. Bell. 2,457-465.477-479). Aber es gibt auch Juden, die zur griechischen Stadtbevölkerung halten und dann gegen die von außen eindringenden Juden kämpfen. Oder Griechen, die denjenigen Juden, die wegen der prekären Sicherheitssituation die Stadt verlassen wollen, freies Geleit geben bis zu den »Landesgrenzen« (zu jeder Stadt gehört agrarisches Umfeld mit kleineren Dörfern und Höfen; vgl. Mk 5,14). Letzteres ist in Gerasa geschehen (Bell. 2,480). Ersteres in Skythopolis: An der Darstellung des Josephus ist aufschlussreich, dass die Städter trotz des Loyalitätsbekenntnisses der Juden 271

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

auf Nummer sicher gehen: »Man wies sie an, sie möchten doch, sofern sie ihre Einmütigkeit bekräftigen und ihre Treue gegenüber den Fremdstämmigen (⁄lloeqne…@ alloethneis) beweisen wollten, mit ihren Familien in den Hain [außerhalb der Stadt] übersiedeln«. Als die heidentreuen Juden jedoch dort von den Städtern, die auch dem Frieden außerhalb der Stadt nicht trauen, nachts umstellt und angegriffen werden, rät der Anführer der Juden zum Selbstmord, tötet seine Familie und sich selbst (Bell. 2,466-476). Wenn im 1. Jh. n. Chr. von »Dekapolis« die Rede ist, dann wird damit einerseits die bewusste Abgrenzung ostjordanischer Städte von herodianisch-jüdischer Oberhoheit zum Ausdruck gebracht und andererseits die klare Loyalitätsbezeugung Rom gegenüber. Ein direktes römisches Engagement in Gerasa lässt sich erst ab 80 n. Chr. nachweisen, eine Truppenpräsenz bleibt auch danach fraglich. Klinghardt (Klinghardt 2007, 37) rechnet mit einer Vexillation (1000 bis 2000 Mann) der legio X Fretensis und könnte damit die Zahlenangabe von »ungefähr 2000« in Mk 5,13 einholen. Lau (Lau 2007) denkt an eine Anspielung auf einen überraschenden militärischen Erfolg am Anfang des Jüdischen Aufstandes; dabei wurden »etwa 2000« Römer niedergemacht, darunter auch Leute aus der legio X Fretensis (Flav. Jos. Bell. 2,499-506); Garroway (Garroway 2009, 62) zweifelt daran, ob normale Zeitgenossen über die präzisen Kopfzahlen römischer Militäreinheiten wirklich Bescheid wussten. Aber das ist für unseren Zusammenhang auch sekundär. In Mk 5 ist ja nicht von der legio X Fretensis an sich die Rede, sondern von deren dämonischer Besatzung. Und die findet in den Köpfen der Menschen statt. Nach antiker Auffassung »besetzen« Dämonen das Schaltzentrum ihres Wirtstiers und übernehmen fortan dessen Steuerung (Ebner 2007, 104-107). Deshalb ist von einem »Menschen in einem unreinen Geist« die Rede. Und deshalb spricht der Dämon auch lateinisch. Ethnologische Studien belegen, dass Besessene die Sprache der Unterdrückermacht sprechen (Theißen 1992b, 70 f.). Konkret: Pompeius hat die Städte des Ostjordanlandes von der jüdischen Oberherrschaft befreit. In Mk 5 befreit Jesus einen von der römischen Besatzung »besetzten« Menschen und wird anschließend von Städtern der Dekapolis »hinausgeworfen« – weil auch sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, von der römischen Besatzung gesteuert werden?

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Schilderung des »Menschen im unreinen Geist« in Mk 5,3-5 erinnert auffällig an Jes 65,1-7: In Gärten Schlachtopfer darbringen, in Grabstätten schlafen, das Fleisch von Schweinen essen, auf den Bergen Räucherwerk darbringen und auf den Hügeln Schmähungen gegen Gott ausstoßen, das alles sind hier typische Kennzeichen für Juden, die ihrem Gott den Rücken kehren. Heidnische Opferpraktiken werden übernommen und unreine Orte nicht gemieden. Dass Jes 65,1-7 als literarischer Text eingespielt und assoziiert werden soll, darauf deutet eine terminologische Unebenheit in Mk 5: Für »Grab« steht in V. 2 mnhme…on (mne¯meion), in V. 3.5 dagegen mn»ma (mne¯ma). Von der Wortbedeutung her sind beide Termini gleich. In Jes 65,4 jedoch liest man: ¥n to…@ mnffimasin (en tois mne¯masin – in den Gräbern) – genau wie in Mk 5,3.5, also innerhalb der Rückblende. Außerdem ergänzt die LXX-Fassung von Jes 65,3 beim Thema Opferdarbringung die Adressaten: to…@ daimonffloi@ ˘ o'k ˛stin (tois daimoniois ha ouk estin – den Dämonischen, die nicht existieren). Damit werden die Fremdgötter in die Kategorie der Dämonen gestellt, wie es für die LXX typisch ist. 272

Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

Viele Markuskommentare gehen – trotz des Verweises auf Jes 65,1-7 – scheinbar selbstverständlich davon aus, dass mit der Darstellung Mk 5,3-5 »das Wesen des Heidentums veranschaulicht werden soll« (Gnilka 2008a, 203) bzw. der Besessene »heidnisches Unwesen« verkörpere (Pesch 1984a, 286); von einem »Besessenen unter den Heiden« (Feneberg 2000, 140) ist die Rede. Die Lesefolie Jes 65,1-7 rät jedoch eher, einen assimilierten Juden zu assoziieren (Dormandy 2000, 335 f.). Das passt auch viel besser zum Duktus der gesamten markinischen Jesusgeschichte, die ihren Helden erst nach der grundsätzlichen Klärung der Reinheitsfragen in Mk 7,1-23 ausdrücklich einer Heidin – 2Ellhnffl@ (Helle¯nis) begegnen lässt, der Syrophönizierin in Mk 7,24-30. Und das passt auch viel besser zur Situation in der Dekapolis während des Römisch-Jüdischen Krieges, wo es tatsächlich Juden gab, die nicht nur mitten unter den griechischsprachigen Syrern lebten, sondern sich den griechisch-paganen Städten so sehr zugehörig fühlten, dass sie im Extremfall gegen ihre eigenen »Brüder« zum Kampf angetreten sind. Wenn sie dann, wie in Skythopolis, doch ausgesondert und vor die Stadt verbannt wurden, dann blieb in verzweifelter Lage kein anderer Ausweg als der Freitod. Und dabei muss bedacht werden, dass all diese Zwangssituationen letztlich ausgelöst worden sind durch den Loyalitätsbezeugungsdruck Rom gegenüber, dessen Legionen zwar nicht vor Ort standen, aber in den Köpfen »spukten«, weil sie jederzeit einsatzbereit waren, sofern sich irgendwo auch nur der leiseste Verdacht auf Aufruhr oder Abfall regte. Die Darstellung des Exorzismus rekurriert in V. 7-9 (in auffälliger Parallelität zu Mk 1,23-26) auf gattungstypische Motive, die generell von der Vorstellung eines Kampfes zwischen Exorzisten und Dämon sowie dessen Überwältigung geprägt sind (Theißen 1998, 94-98): Abwehrformel, Beschwörung, Namenszauber, Apopompe und schließlich Epipompe (V. 12). Angelagert, literarkritisch gesprochen: bei der Weiterschreibung hinzugefügt, sind jedoch Motive, die eine ganz andere Sprache sprechen: Jesus wird empfangen (V. 2: ¢pant”n hypantan), vor ihm wird die Proskynese vollzogen (V. 6) und mit ihm wird verhandelt: Jesus wird um die Gewährung bestimmter Konditionen gebeten (V. 10.12). Das alles sind Motive, die im Zusammenhang mit einem adventus stehen, der feierlichen Einholung eines Statthalters oder Kaisers durch die Stadtbevölkerung: Die Repräsentanten der Stadt ziehen den Vertretern Roms entgegen und machen ihnen ihre Aufwartung (Lehnen 1997). In diesem Zusammenhang nimmt kr€zein (krazein – krächzen V. 7) die determinierte Bedeutung von »akklamieren« an (Chaniotis 2009, 201). Im Kontext von Kriegshandlungen kann der adventus als rituelle Ergebungsgeste eingesetzt werden, die dann gleichzeitig die Basis für Verhandlungen und die Bitte um schonenden Umgang mit der Bevölkerung bietet (vgl. etwa die Darstellung für Tiberias in Flav. Jos. Bell. 3,453-461, wo von proskune…n (proskynein – anbeten) im Rahmen der Vorverhandlungen die Rede ist; von ¢pant”n (hypantan – begegnen) im Blick auf die feierliche Einholung Vespasians unter Akklamationsrufen (weitere Beispiele: Bell. 3,3034: Sepphoris; 4,112-114: Gischala; 7,100-103: Antiochia; Lehnen 1997, 314-316). Auf diesem Hintergrund ergibt sich für den Duktus des Exorzismus in Mk 5: Die Dämonen, also die römische Macht, die das Denken und Handeln der Menschen »besetzt« und steuert, erkennt Jesus sofort als Sieger an und versucht, durch entsprechende rituelle Unterwerfungsgesten mit ihm in Verhandlungen zu treten. In den Horizont apokalyptischer Theologie gestellt, wird hier narrativ entfaltet, was die Grundübersetzung Jesu ausgemacht hat: Der Himmelskampf zwischen Gott und Satan ist bereits entschieden. Der Anführer der Dämonen, Satan, ist im Himmel 273

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

bereits besiegt. Er ist gestürzt (vgl. Lk 10,18 und dazu nur: Theobald 2005). Zeitversetzt wird sich diese Niederlage auf Erden wiederholen – und zwar im Sturz der »kleinen Dämonen«, die man sich seit makkabäischer Zeit wie die militärischen Heere der Fremdherrschaft ebenfalls in Schlachtreihen gegliedert vorstellt (Maier 1976, 631). Sie haben ihren Rückhalt und ihre Führung im Himmel verloren. Die himmlische »Bindung« des Satans als Voraussetzung für die irdische »Ausraubung seiner Gefäße« wird in Mk 3,27 definitorisch auf den Punkt gebracht: »Niemand kann in das Haus des Starken hineingehen und seine Gefäße plündern, wenn er (1) nicht zuerst den Starken gebunden hat; (2) und dann wird er auch sein Haus ausplündern.« Die »Bindung« wird in der »Versuchungsperikope« Mk 1,12 f. als Sieg Jesu über den Satan dargestellt (Ebner 2007, 8692). Der zweite Akt des Anbruchs der Gottesherrschaft wird in Mk 5,2-13 narrativ entfaltet. Das »Ausrauben« wird als Selbstvernichtung dargestellt, die der »Sieger« Jesus lediglich noch erlauben muss: Die in ihrem Wappentier personifizierte Legion der römischen Besatzungsgeister stürmt geordnet – aber führungslos – in den Abgrund.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Drei Perspektiven sollen angedeutet werden: Die sozialgeschichtliche Auslegung von Mk 5,1-20 im Kontext von »Dekapolis-Erfahrungen« während des Römisch-Jüdischen Krieges propagiert eine Handlungsalternative zur zwanghaften Demonstration der RomLoyalität, die in der schwierigen multiethnischen Gemengelage der Dekapolis (und vermutlich auch der markinischen Gemeinde irgendwo im Römischen Reich) um der eigenen Sicherheit und des Friedens willen zu Absonderungen (Juden hier, Griechen dort) und Abschiebungsmanövern (vgl. V. 17) führen kann. Worüber sich die Menschen »wundern«, wenn ihnen der Gerasener alles erzählt, was Jesus ihm getan hat, ist dann schlicht und einfach: dass Jesus als Sohn des höchsten Gottes von diesem Besatzungsmachtdruck befreien kann. Besser: Die Besatzungsgeister selbst bezeugen in der Erzählung, dass bereits ein anderer das Sagen hat. Insofern hinken die Städter mit der Ausweisung Jesu, mit der sie Romtreue zeigen wollen, der Entwicklung hinterher. Die neue Königsherrschaft fasst bereits Fuß (V. 20) – durch eine »peaceful infiltration« (Garroway 2009; Dormandy 2000, 336; Lau 2007, 362-364). Wer im Markusevangelium weiterliest, stößt spätestens im Wegteil (Mk 8,27-10,52) auf die entscheidende konstruktive Gestaltungsalternative zur demonstrativen Romtreue: nämlich an den Strukturen einer Gegengesellschaft mitzubauen, wie sie in Mk 10,42-44 auf den Punkt gebracht werden. Im Horizont dieser Auslegung wird in Mk 5,1-20 die präsentische Eschatologie Jesu als Gemeindetheologie weitergeschrieben – und zwar eingezeichnet in konkrete gesellschaftspolitische Konflikte. Allzu leicht ausgesprochene und deshalb farblos gewordene Theologumena wie »Christus als Universalherrscher«, »Heilserfahrung« oder eben auch »präsentische Eschatologie« werden in die (historisch verankerte) Alltagsrealität zurückgeholt – und damit auch übertragbar für andere Zeiten. Die Deutung von Mk 5,1-20 als Missionslegende im Sinn des Beginns der christlichen Mission auf heidnischem Boden (Pesch 1972; Annen 1976) muss korrigiert – und neu fortgeschrieben werden: Auf der Folie von Jes 65,1-7 ist die Identifikationsfigur von Mk 5,1-20 ein assimilierter Jude, der in die Wirren der Mühlen zwischen Loyalität zu der Stadt, in der er lebt, und der Loyalität zu den eigenen Glaubensbrüdern gerät und aus 274

Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

dieser Zwangslage befreit wird, indem die Vision eines Zusammenlebens unter neuen Rahmenbedingungen in Aussicht gestellt wird. Die entscheidende Frage, die durch den narrativen Aufbau der Erzählung ins Zentrum rückt, ist deshalb: Für welche Seite lässt du dich als Medium gebrauchen? Verkündest du die Gesellschaftsvision Jesu und lässt dich davon anstecken (Gerasener)? Oder bleibst du ein Sprachrohr der jeweils herrschenden Großmacht samt der von ihr vorgeschriebenen Gesellschaftsordnung, deren Hauptkriterium für Anerkennung und Größe – so jedenfalls für das Imperium Romanum – Loyalität und Treue zum System sind? Dann gehörst du zu den Schweinehirten! Die tiefenpsychologische Deutung, wie sie Eugen Drewermann vorgeschlagen hat (Drewermann 2000, 360-365), hat inzwischen Schulbuchcharakter und bleibt attraktiv: der Gerasener als Paradigma einer gespaltenen Persönlichkeit, die unter innerer Zerrissenheit leidet und schizoid-paranoide Vorstellungen zeigt: Ich – das sind viele (vgl. Mk 5,9). Oder im Originalton: »Mein Ich – das ist ein Haufen von Komplexen (die Mutterbindung, die sexuelle Gehemmtheit, die oralen Schuldgefühle, die Riesenerwartungen und Ohnmachtsgefühle, der Vaterhaß und die kleinkindliche Sehnsucht nach Geborgenheit etc.), die alle irgendwie zusammenhängen und eine unheimliche Einheit bilden« (Drewermann 1990, 265). Die im wahrsten Sinne des Wortes therapeutische Hilfe Jesu besteht darin, diesen zerrissenen Menschen zum Eingeständnis seiner unverarbeiteten »Vielheit« zu bringen, ihn dann »die ganze ›Schweinerei‹ eines so zerstörerisch verinnerlichten Unlebens« sich entladen und austoben zu lassen – und zwar ohne die Aufsicht der Schweinehirten, die Drewermann als »die Kontrolle des Überichs« (Drewermann 1990, 269) interpretiert. Die rhetorisch eindrucksvoll ins Wort gesetzte Rede von der Persönlichkeitsspaltung hat tatsächlich Anhalt an unausgeglichenen grammatikalischen Strukturen (V. 10: »… er bat ihn, dass er sie nicht verlege …«) und Termini (V. 9: »Ich habe als Namen ›Legion‹«) im Erzähltext. Allerdings ist in der Perspektive einer historisch verorteten Psychologie nicht die Zerrissenheit bzw. die Spaltung der Persönlichkeit entscheidend, sondern ihr mentales »Total-Besetztsein«. Bei der exorzistischen Therapie geht es nicht eigentlich um das Ausleben von verdrängten Schattenseiten, ohne dass der Schweinehirt als »Überich« eingreifen kann, sondern die »Besatzung« wird regelrecht »abgespalten« und vernichtet (vgl. Mk 5,10-13). Psychotherapeutische Behandlung dagegen zielt gewöhnlich auf die Integrierung abgespaltener Persönlichkeitsteile ab (Merklein 1992, 1034). Die Therapie, die das Markusevangelium vorschlägt, besteht darin, in einen neu strukturierten Lebensraum einzutreten und ihn mitzugestalten. Bei aller Sympathie für die Aspekte, die Drewermanns psychologische Deutung benennen kann, bleibt am Ende doch die Frage stehen, ob der Erzähltext nicht stark zur Veranschaulichung psychotherapeutischer Praxis herhalten muss.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Jeweils unterschiedlich konturiert aufgenommen wird die Gerasener-Erzählung in Mt 8,28-34 und Lk 8,26-39 (vgl. dazu Vorholt zu Mt 8,28-34 in diesem Band). Innerhalb des Stakkato-Wunderkompendiums in EpAp 5, das 14 »Wunderfälle« in unterschiedlich geraffter Form aneinanderreiht, kommt der Gerasenerstoff im Mittelfeld des Interesses zu stehen: zwischen den Referaten derjenigen Wundererzählungen, in denen die Apostel,

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Die Wundererzählungen im Markusevangelium

die fiktiven Autoren der Schrift, ihre eigene Rolle beleuchten können (z. B. blutflüssige Frau) und den eingliedrigen Typenaufzählungen (»die Tauben macht er hören«). EpAp 5 Und der Dämon Legion, den ein Mann hatte, begegnete Jesus, schrie und sagte: »Bevor der Tag unseres Verderbens herangekommen ist, bist du gekommen, um uns zu vertreiben.« Und der Herr Jesus schalt ihn und sprach zu ihm: »Gehe aus diesem Manne heraus, ohne ihm irgend etwas zuzufügen!« Und er ging in die Säue hinein und versenkte sie im Meer, und sie erstickten (Übersetzung nach Müller 2012, 1067). Allerdings interessiert nicht der Gerasener, sondern nur der Dämon namens Legion. Auf Jesu Auseinandersetzung mit ihm ist das Erzählreferat fokussiert. Der Mensch Jesus und der Dämon Legion stehen sich gegenüber. Das macht auch den Mehrwert gegenüber den unmittelbar zuvor genannten Heilungen von Besessenen aus. In antidoketischer Abwehr soll damit gezeigt werden, dass Jesus eben weder ein »Geist« noch ein »Dämon« ist, wie die Jünger in EpAp 11 zunächst befürchten (Hills 2008, 57). Das Referat konzentriert sich auf die typischen exorzistischen Kampfmotive, wobei Formulierungen v. a. aus Mk 1,24 f. und den synoptischen Parallelen einfließen: Jesus ist gekommen (vgl. Mk 1,24), um die Dämonen noch vor dem dafür festgesetzten Tag zu vertreiben (vgl. Mk 1,24; Mt 8,29). Sein Hauptaugenmerk liegt darauf, dass der Dämon dem Mann (!), über den keine weiteren Angaben gemacht werden, keinen Schaden zufügt (vgl. Lk 4,35). Entsprechend fährt der Dämon in die Säue, die er sich als Wirtstiere selbst wählt, um an ihnen seine Wut auszulassen: Er versenkt sie im Meer. Sowohl die Szene mit den Städtern als auch die Missionstätigkeit des Geraseners, also der gesamte zweite Teil des synoptischen Stoffes, wird ausgeblendet. Gemäß EpAp 30 steht die Verkündigungstätigkeit unter dem strikten Copyright der elf Apostel (vgl. EpAp 2), so dass schon Paulus nur als gelehriger Apostelschüler erträglich wird (vgl. EpAp 31-33).

Martin Ebner Literatur zum Weiterlesen C. Burdon, »To the Other Side«. Construction of Evil and Fear of Liberation in Mark 5.1-20, JSNT 27 (2004), 149-167. J. D. M. Derrett, Contributions to the Study of the Gerasene Demoniac, JSNT 3 (1979), 2-17. R. R. Dormandy, The Expulsion of Legion. A Political Reading of Mark 5:1-20, ET 111 (2000), 335-337. J. Garroway, The Invasion of a Mustard Seed. A Reading of Mark 5.1-20, JSNT 32 (2009), 57-75. R. Glöckner, Gott rettet von den »Pforten der Unterwelt« – Jesus heilt den Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20), in: ders., Neutestamentliche Wundergeschichten und das Lob der Wundertaten Gottes in den Psalmen, Mainz 1983, 80-104. M. Johnson, Mark 5:1-20. The Other Side, IBSt 20 (1998), 50-74. M. Klinghardt, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20, ZNW 98 (2007), 28-48. M. Lau, Die Legio X Fretensis und der Besessene von Gerasa. Anmerkungen zur Zahlenangabe »ungefähr Zweitausend« (Mk 5,13), Bib. 88 (2007), 351-364.

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Wessen Medium willst du sein? Mk 5,1-20

H. Merklein, Die Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20). Ein Fallbeispiel für die tiefenpsychologische Deutung E. Drewermanns und die historisch-kritische Exegese, in: F. van Segbroeck et al. (Hg.), The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck, BEThL 100, Leuven 1992, 1017-1037. R. Wenning, Die Dekapolis und die Nabatäer, ZDPV 110 (1994), 1-35. A. T. Wright, Evil Spirits in Second Temple Judaism. The Watcher Tradition as a Background to the Demonic Pericopes in the Gospels, Henoch 28 (2006), 141-159. R. Zimmermann, Auslegungskunst. Sehepunkte zur Wundererzählung vom Besessenen aus Gerasa (Mk 5,1-20), BN 152 (2012), 87-115.

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Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen (Die Tochter des Jaïrus und die blutflüssige Frau) Mk 5,21-43 (21) Und nachdem Jesus in dem Boot wieder auf die andere Seite übergesetzt war, versammelte sich eine große Volksmenge bei ihm, und er war am See. (22) Und einer der Synagogenvorsteher namens Jaïrus kommt herbei, und fällt, nachdem er ihn gesehen hat, zu seinen Füßen nieder (23) und bittet ihn vielmals mit den Worten: »Mein Töchterchen liegt im Sterben. Komme und dann lege ihr die Hände auf, damit sie gerettet werde und lebe.« (24) Und er ging mit ihm weg. Und es folgte ihm eine große Volksmenge und drängte sich um ihn herum. (25) Und eine Frau, die sich seit zwölf Jahren im Zustand eines Blutflusses befand, (26) die vieles von vielen Ärzten erlitten hatte und die ihren ganzen Besitz ausgegeben hatte – und nichts nützte es ihr, sondern es ging ihr noch schlimmer –, (27) die davon gehört hatte, was um Jesus herum geschah, die war in der Menge von hinten herangekommen, und sie berührte sein Gewand. (28) Sie hatte sich nämlich gesagt: »Wenn ich auch nur seine Kleider berühre, werde ich gerettet werden.« (29) Und sofort vertrocknete die Quelle ihrer Blutung und sie wusste mit dem Körper: Sie ist von dem Leiden geheilt worden. (30) Und sofort als Jesus in sich die aus ihm herausfahrende Wunderkraft bemerkte, sagte er, wobei er sich in der Menge umdrehte: »Wer hat meine Kleider berührt?« (31) Und seine Jünger sagten zu ihm: »Du siehst die Menge, die sich um dich herum drängt, und du sagst: ›Wer hat mich berührt‹ ?« (32) Und er schaute sich um, um die zu sehen, die dieses getan hatte. (33) Aber die Frau – sich fürchtend und zitternd, darum wissend, was ihr geschehen war – kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. (34) Er aber sagte zu ihr: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden und sei bleibend gesund von deinem Leiden!« (35) Noch während er redet, kommen welche vom Synagogenvorsteher und sagen: »Deine Tochter ist gestorben. Was bemühst du den Lehrer noch weiter?« (36) Jesus aber, der die Äußerung vernommen hatte, sagt zum Synagogenvorsteher: »Fürchte dich nicht! Glaube nur!« (37) Und er ließ nicht zu, dass ihn jemand begleitete außer Petrus und Jakobus und Johannes, der Bruder des Jakobus. (38) Und sie kommen in das Haus des Synagogenvorstehers. Und er nimmt die Aufregung und die heftig Weinenden und Klagenden wahr. (39) Und nachdem er hineingekommen ist, sagt er zu ihnen: »Was regt ihr euch auf und weint? Das Kind ist nicht gestorben, sondern schläft.« 278

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

(40) Und sie lachten ihn aus. Er aber, nachdem er alle hinausgeworfen hat, nimmt den Vater des Kindes und die Mutter und seine Begleiter mit sich und geht dort hinein, wo sich das Kind befand. (41) Und nachdem er die Hand des Kindes ergriffen hat, sagt er zu ihr: »Talitha kum«, was übersetzt heißt: »Mädchen, ich sage dir, stehe auf!« (42) Und sofort erhob sich das Mädchen und ging umher. Sie war nämlich zwölf Jahre alt. Und sie gerieten sofort völlig außer sich. (43) Und er befahl ihnen eindringlich, dass niemand davon wissen solle, und sagte, ihr solle zu essen gegeben werden.

Sprachlich-narratologische Analyse In Mk 5,21-43 liegt in gattungstheoretischer Hinsicht eine Erzählung vor. Sie ist eingebettet in die Großerzählung des Markusevangeliums, in welchem in chronologischer Sequenzierung und in räumlicher Abfolge Begebenheiten während des Wirkens Jesu seit seiner Taufe bis zu seiner Tötung und Auferweckung narrativ geschildert werden. Insofern wird auch in der vorliegenden Episode davon erzählt, was sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort im Hinblick auf den Protagonisten Jesus zugetragen hat. Das in 5,21-43 Erzählte lässt sich innerhalb des markinischen Gesamtzusammenhangs nach vorne und hinten hin eindeutig als Perikope abgrenzen. Vers 21a weist Ortsund Zeitmarker auf, die eine Veränderung gegenüber der unmittelbar vorangehenden, in sich thematisch geschlossenen Perikope »Heilung des Besessenen von Gerasa« (5,1-20) anzeigen: Der durch die Konjunktion »und« eingeleitete temporale Genitivus absolutus mit einem Verb der Bewegung im Aorist (ka½ diaper€santo@ to‰ 3Ihso‰ ¥n t† ploffl†w p€lin e§@ t pffran kai diaperasantos tou Ie¯sou en to¯ ploio¯ palin eis to peran – und nachdem Jesus in dem Boot wieder auf die andere Seite übergesetzt war) zeigt einen Ortswechsel des Protagonisten in chronologischer Abfolge an. Mittels des Temporaladverbs »wieder« wird Bezug genommen auf 4,35 und 5,1: Jesus befindet sich am See von Gennesaret, über den er vorher übergesetzt war, um von dort wieder zurück an das Westufer zu gelangen. Die Perikope Mk 5,21-43 ist in sich inhaltlich geschlossen: Vers 21 ist ein Überleitungsvers, der die folgende Szene zum einen zeitlich und örtlich verortet und sie zum anderen mit der Benennung der sich um Jesus herumgruppierenden Volksmenge vorbereitet. Die eingangs angeführte Mangelsituation in Bezug auf die Situation der Tochter des Bittstellers Jaïrus – sie ist sterbenskrank und er bittet Jesus um Hilfe (V. 23) – ist am Ende nach einer Intensivierung (V. 35: sie ist gestorben) aufgehoben: Die Tochter steht auf und geht umher; sie lebt also und ihr soll zu essen gegeben werden (V. 42 f.). In diese Erzählung (5,22-24.35-43) ist eine weitere in sich geschlossene Erzählung eingeschaltet: die Erzählung von der blutflüssigen Frau (V. 25-34). Auch sie beschreibt eine narrative Entwicklung von einer anfänglichen Mangelsituation (V. 25 f.: eine Frau hat eine über Jahre anhaltende Blutung) hin zur abschließenden Aufhebung dieser Mangelsituation (V. 29) und der Schilderung von Reaktionen auf das Geschehnis (V. 30-34). Beide Episoden (E1: V. 22-24.35-43 und E2: V. 25-34) sind eng aufeinander bezo279

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

gen: E2 ereignet sich während eines Ortswechsels in E1, d. h. auf dem Weg Jesu vom Westufer des Sees Gennesaret hin zum Haus des Bittstellers Jaïrus. Die Jesus umgebende, ihn begleitende Volksmenge (V. 21b.24b) bereitet die Szene für das in E2 mitgeteilte Geschehen, denn die Frau berührt Jesus im Schutz jener Menge (V. 27.31). Umgekehrt wirkt auch das Geschehen von E2 auf das von E1 ein, denn durch Ersteres ergibt sich eine Verzögerung, die nach der Intention der Erzählung vielleicht den Grund für die Intensivierung der Mangelsituation in E1 darstellen soll – das Mädchen ist in der Zwischenzeit gestorben. Im Folgenden werde ich beide Episoden separat nach den vier Phasen des narrativen Schemas (vgl. Kahl 1994, 44-46) auf ihre Struktur hin analysieren, indem Handlungen auf ihre Funktionen hin befragt werden. Dieser Analyseschritt gibt mit der Herausarbeitung des narrativen Schwergewichts bereits einen wichtigen Hinweis auf Anliegen, die nach der Intention des Erzählers wesentlich sind. Das narrative Schema Mangelsituation

Vorbereitetheit

Haupthandlung

Reaktion

Beschreibung der Situation eines Subjekts, welches von einem erwünschten Objekt getrennt bzw. mit einem unerwünschten Objekt verbunden ist.

Beschreibung eines Vorgangs, durch den ein Subjekt willig bzw. fähig gemacht wird, die Mangelsituation aufzuheben.

Das willige und fähige Subjekte reagieren auf Subjekt versucht als ak- das Ergebnis der Haupttives Subjekt, durch eine handlung. Handlung die Mangelsituation aufzuheben.

Den Großteil der ersten Episode (V. 22-24.35-40) dieser Erzählung macht die Beschreibung der umzukehrenden Mangelsituation im Zusammenhang mit der Motivierung von Jesus aus: Der Synagogenvorsteher fungiert hier als Bittsteller. Seine Tochter liegt – zu Beginn der Episode – im Sterben (V. 23) und er möchte, dass sie »gerettet werde und lebe«. Der Synagogenvorsteher versucht, mittels zweier Handlungen Jesus dazu zu bewegen, sich seinen Wunsch zu Eigen zu machen: Er wirft sich Jesus vor die Füße und er bittet ihn mit vielen Worten, in die vorgeschlagene Rettungshandlung einzuwilligen (V. 22b.23). Die Ursache für die Situation, in der sich die Tochter befindet, wird weder an dieser Stelle noch im weiteren Verlauf benannt. Es wird auch nicht mitgeteilt, wie lange diese Situation schon andauert oder ob anderweitige Anstrengungen unternommen worden waren, der Tochter zu helfen. Ebenfalls wird nicht kommuniziert, mit welchem Wissen von Jesu Identität der Vater an ihn herantritt. Offensichtlich aber erwartet er, dass Jesus das anvisierte narrative Programm der Rettung zu erfüllen im Stande sein wird, und er schlägt bereits den Modus der Rettungshandlung vor: Jesus soll dem Mädchen die Hände auflegen, und dazu bedarf es der Überbrückung der räumlichen Distanz dorthin, wo sich das sterbenskranke Kind befindet (´na ¥lqn hina eltho¯n – damit du kommst, V. 23b). Die Umschreibung im Passiv »damit sie gerettet werde« (swq–» so¯the¯) lässt unbestimmt, in welcher Funktion exakt von Jesus Hilfe erwartet wird: als Träger einer numinosen Wundermacht oder als Mittler eines transzendent gedachten Träges einer numinosen Wundermacht, i. e. Gottes. Der Leser, die Zuhörerin der Erzählung erfährt an dieser Stelle auch – noch – nicht, wo exakt jener Ort ist: auf dem Feld, in einem Dorf, in einem Haus? 280

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

Entsprechend der Bitte reagiert Jesus, und er macht sich mit dem Vater auf den Weg (V. 24a). Diese Reaktion legt die Deutung nahe, dass Jesus in das an ihn herangetragene Handlungsprogramm eingewilligt hat; eine mündliche Zusage wird indes nicht geschildert und so erfahren wir auch nicht, warum Jesus sich darauf einlässt. Die eingeschobene Episode von der Frau mit dem Blutfluss (V. 25-34) fungiert im Handlungsablauf der ersten Episode narrativ als retardierendes Moment: Jesus wird auf dem Weg aufgehalten. In der Zwischenzeit hat sich, wie aus V. 35 hervorgeht, eine Verschlimmerung der Situation ergeben: Nach Auskunft von hinzugekommenen Informanten, die zum Synagogenvorsteher gehören, erfährt dieser – und mit ihm die Leser(innen) und Hörer(innen) der Erzählung –, dass seine Tochter gestorben ist. Wieder liegt eine Leerstelle vor, die die Rezipienten der Passage auszufüllen haben: Es ist nämlich unklar, woher die Informanten dieses Wissen um den aktuellen Zustand der Tochter haben. Ob das Verb »kommen« impliziert, dass sie etwa vom Haus des Synagogenvorstehers herkommen, wo sie zu Zeugen des Sterbens des Mädchens wurden, bleibt offen. Aufgrund der neuen Situation halten sie es für unnötig, weiterhin den »Lehrer«, gemeint ist Jesus, mit der Angelegenheit zu behelligen, und sie unterbreiten dem Synagogenvorsteher diese ihre Meinung (V. 35b). In ihrer Haltung kommt zum Ausdruck, dass sie Jesus die Umkehrung der neuen Mangelsituation nicht zutrauen. Jener aber lässt sich durch diesen Vorschlag zur Unterbrechung des anvisierten Handlungsprogramms nicht von dem Unternehmen abbringen. Er reagiert zum einen damit, dass er den Synagogenvorsteher ermutigt: Er soll sich nicht fürchten und einfach glauben (V. 36). Zum anderen separiert sich Jesus mit dreien seiner Jünger (V. 37: Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes) von der Menschenmenge, welche damit ihre Funktion für die Ausgestaltung des weiteren Verlaufs der Handlung verliert. Nur diese drei betreten mit Jesus – und offensichtlich mit dem Vater (vgl. V. 40) – das Haus des Synagogenvorstehers (V. 38a), und diese Personen werden dann nach Auskunft von V. 40 zusammen mit der Mutter die unmittelbaren Zeugen der Wundertat werden. Mit V. 37.38a ist die räumliche Distanz zum Subjekt, das sich in einer zu behebenden Mangelsituation befindet, beinahe überbrückt; denn das Mädchen befindet sich, wie die Leser und Hörer der Passage erst in V. 40a eindeutig erfahren, im Haus des Synagogenvorstehers. Bevor die für die Haupthandlung erforderliche unmittelbare Nähe zwischen Jesus als dem aktiven Subjekt und der Toten als dem Zustandssubjekt hergestellt wird, gilt es – nach V. 35 –, einen weiteren Widerstand zu überwinden (V. 38b-40a): Im Haus trifft Jesus auf weinende Frauen, die den Tod des Mädchens beklagen. Er hält ihre Aufregung für unnötig, wie aus seiner Anrede an sie in V. 39a hervorgeht, zumal – so Jesus in wörtlicher Rede – das Kind nicht gestorben sei, sondern schlafe (V. 39b). Die Frauen lachen ihn aus (V. 40a). Sie teilen seine Einschätzung der Lage nicht. Erst nachdem Jesus diese Frauen aus dem Haus hinausgeworfen hat (V. 40a), stellt er die unmittelbare räumliche Nähe zu dem Mädchen her (V. 40b). Damit ist die Haupthandlung, die in V. 41 erzählt wird, hinreichend vorbereitet. Sie besteht darin, dass Jesus die Hand des Kindes ergreift und er dem Mädchen daraufhin befiehlt, aufzustehen. Es sollte beachtet werden, dass das Motiv der Handergreifung wohl eine Ähnlichkeit, aber keine Identität mit der vom Synagogenvorsteher vorgeschlagenen Handlung der Handauflegung hat (vgl. V. 23). Die mögliche Signifikanz dieser Differenz wird unten traditionsgeschichtlich zu klären sein. Es handelt sich bei dem Motiv des Handergreifens aber auf keinen Fall um einen bloßen Gestus, mittels dessen Jesus dem Mädchen beim Aufstehen hilft. Die eingeschobene Episode von der Frau mit dem Blut281

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

fluss klärt die Funktion dieser Handlung: Als intentionaler Akt dient diese Berührung offenbar der Übertragung der Jesus innewohnenden Wunderkraft (vgl. V. 30: dÐnami@ dynamis). Zusammen mit dem – in griechischer Transkription wiedergegebenen – in aramäischer Sprache ergehenden Befehl Jesu an das Mädchen aufzustehen, ereignet sich das Wundergeschehen. Die griechische Übersetzung des Befehls ist übrigens nicht völlig korrekt: »ich sage dir« stellt einen Zusatz dar. Der Erfolg dieser Handlung stellt sich unmittelbar und vollständig ein. Vers 42a schildert, dass sich das Mädchen »sofort« (e'qÐ@ euthys ist im Makusevangelium ein typisches Temporaladverb, das insbesondere im Zusammenhang mit Wundergeschehnissen begegnet und dort die außergewöhnliche Wendung einer Mangelsituation anzeigt) erhob und umherlief. Ihre spontane Lebendigkeit bringt anschaulich zum Ausdruck, dass sie lebt. Damit ist der Wunsch des Vaters, welcher die Handlung in Gang setzte, zur Erfüllung gekommen (vgl. V. 23: »damit sie gerettet werde und lebe«). Der nachgeschobenen Altersangabe – 12 Jahre – kommt u. a. (s. u.) offensichtlich (vgl. g€r gar – denn, nämlich) auch erklärende Funktion in Bezug auf das Motiv des Umherlaufens zu, d. h. das Mädchen ist alt genug, umherlaufen zu können. Im Anschluss an die spontane Wiederherstellung des Lebens des Mädchens wird in den V. 42b.43 von drei Reaktionen berichtet: Erstens heißt es von den sechs erwachsenen Anwesenden allgemein, dass sie sofort, d. h. aufgrund des Geschehens völlig außer sich bzw. »in große Ekstase« gerieten (V. 42b: ka½ ¥xffsthsan [e'q±@] ¥kst€sei meg€l–h kai exeste¯san [euthys] ekstasei megale¯). Trifft das auch auf Jesus zu? Diese Frage muss hier offen bleiben (vgl. aber präzisierend Lukas in 8,56, der hier nur an die Eltern denkt). Zweitens legt »ihnen« Jesus nachdrücklich (poll€ polla) nahe, dass niemand von dem Geschehen erfahren solle (V. 43a). Damit richtet sich Jesus – da es nicht anders spezifiziert ist – an die Eltern und die drei Jünger (konkreter Lk 8,65: die Eltern). Gleichzeitig wird hierdurch zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der Haupthandlung doch um eine Totenauferweckung gehandelt hat. Eben dies will Jesus – der Grund dafür wird nicht mitgeteilt – geheim gehalten wissen. Aus dieser Perspektive erschließt sich auch der Sinn von V. 39b: Jesus wollte mit seiner Aussage vor den klagenden Frauen verschleiern, dass er tatsächlich eine Tote auferwecken würde. Drittens fordert Jesus – wohl die Eltern – dazu auf, dem Mädchen zu essen zu geben. Auch damit wird bestätigt, dass es lebt und weiterleben soll – die Haupthandlung ist also zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen. Der Fokus dieser Erzählung liegt nicht auf dem Wundergeschehen. Dieses wird in nur einem Vers (V. 41), der zwei Handlungen Jesu beschreibt, geschildert. Der größte Raum wird eingenommen durch die der eigentlichen Wunderhandlung vorangehenden Verse (V. 22-24.35-40). Sie dienen der Vorbereitung der Haupthandlung. Innerhalb dieser Phase ergibt sich in den V. 35-40 eine Verkomplizierung der Erzählung, ausgelöst durch die Nachricht von der Verschlimmerung der initialen Mangelsituation des Zustandssubjekts. Motivierte der Bittsteller in V. 23 Jesus dazu, in das Handlungsprogramm einzutreten, so kommt es hier zu einer bemerkenswerten Umkehrung: Nun motiviert Jesus – der vermeintliche Wundertäter! – in V. 36 den Bittsteller, indem er ihm Mut zuspricht und ihn dazu auffordert zu glauben. Der narrative Verlauf der zweiten Episode (5,25-34) hebt mit einer Zustandsbeschreibung an, die die Konjunktion eines Subjekts mit einem – aus der Perspektive dieses Subjekts, vgl. V. 28 – unerwünschten Objekt kommuniziert: Eine Frau ist seit 282

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

zwölf Jahren mit einem (ständigen) Blutfluss verbunden (V. 25), wörtlich: Sie befindet sich im Blutfluss (oªsa ¥n «Ðsei a´mato@ ousa ev rhysei haimatos). Die Zustandsbeschreibung wird intensiviert durch die Schilderung vorangegangener vergeblicher Versuche einer Heilung durch Ärzte, was in einer Verschlimmerung ihrer Situation resultierte (V. 26): Die Frau ist seit zwölf Jahren krank und darüber hinaus völlig verarmt, d. h. sie kommt in einem Zustand äußerster Lebensnot zu Jesus. Verse 27-28 schildern die Vorbereitung des Vorgehens der Frau, das darauf abzielt, ihren Zustand zum Besseren zu verändern: Zu diesem speziellen Vorgehen motivierte sie offenbar eine Kenntnis der Geschehnisse, die sich um Jesus herum ereigneten (V. 27a), wörtlich: Sie hatte Dinge (t€ ta ergänze ich mit der ursprünglichen Lesart von Codex Sinaiticus, Codex Vaticanus u. a.) um Jesus gehört. Es wird nicht mitgeteilt, was genau sie über ihn gehört und was sie veranlasst hat, jetzt den Plan fassen lässt, heimlich im Schutz der Jesus umgebenden Menge seine Kleider zu berühren (V. 28). Sie verspricht sich von ihrem Vorgehen, gerettet zu werden (swqffisomai so¯the¯somai). Vers 29a schildert die Aufhebung der anfänglichen Mangelsituation: Aufgrund der Berührung von Jesu Gewand vertrocknet der Blutfluss sofort. Diese Zustandsveränderung realisiert die Frau, indem sie sich körperlich ihrer Heilung bewusst wird (V. 29b). Was genau sich ereignet hat, so dass die Wunderheilung geschehen konnte, kommt im Folgenden zur Sprache: Gleichzeitig mit der Frau erkennt Jesus, dass eine »Kraft« (dÐnami@ dynamis) aus ihm ausgefahren ist (V. 30a). Seine Frage an die Menge danach, wer seine Gewänder berührt hat, setzt offenbar eine chronologische und kausale Verbindung zwischen der Berührung und dem Ausfahren jener Kraft voraus. An dieser Stelle bleibt offen, worum es sich bei dieser dynamis handelt, wohin sie ausgefahren ist bzw. ob jetzt Jesus dieser »Kraft« verlustig gegangen sei. Auf pragmatischer Ebene werden die Leser(innen) wohl der Intention der Erzählung gemäß schlussfolgern, dass diese Kraft aufgrund der Berührung in die Frau gefahren ist – und zwar unwillkürlich und selbstständig, d. h. der Wille Jesu war nicht involviert. Damit hätte die Frau diese Jesus innewohnende Kraft geradezu »gezwungen« zu agieren, d. h. auf ihre Berührung zu reagieren. Nicht Jesus ist hier das aktive Subjekt der sich im Verborgenen vollziehenden Wundertat, sondern die dynamis. Sie hat offenbar die ersehnte Heilung bewirkt. Die in V. 31 kommunizierte, einleuchtende Rückfrage der Jünger auf Jesu Frage nach der Person, die seine Kleider berührte, bringt die Menschenmenge ins Spiel. Dieser Hinweis lässt auf pragmatischer Ebene das Besondere der Berührung durch die Frau erahnen – die Berührung wurde intentional vollzogen. Obwohl die Jünger Jesus bei der Beantwortung seiner Frage nicht zu helfen vermögen, ist ihr sich in V. 31 äußerndes Unverständnis somit pragmatisch hilfreich. Jesus aber versucht sich selbst zu helfen, indem er sich in der Menge nach der Person, die ihn berührte, umblickt (V. 32). Letztlich aber verhilft ihm in unerwarteter Weise (dff de – aber) die Frau zu einer Beantwortung seiner Frage, indem sie – offenbar motiviert durch sein Suchen – zu Jesus kommt (V. 33). Ihre Furcht und ihr Zittern sind in ihrem Wissen um »das, was ihr geschehen war«, begründet. Sie fällt vor Jesus nieder und erzählt ihm die ganze Wahrheit. Worum es sich bei Letzterem handelt, kann nur gemutmaßt werden: Die Deutung liegt nahe, dass sie Jesus von ihrer Situation und ihrer Berührungstat berichtet, d. h. was sie im Verborgenen getan hat, macht sie jetzt offenkundig. Das Motiv vom Niederfallen ist eine Unterwerfungsgeste. Im Kontext des Furchtmotivs dürfte es den Versuch einer Beschwichtigung angesichts einer zu erwartenden Bestrafung bzw. negativen Sanktionierung ihres Tuns durch Jesus darstellen. Jesus aber spricht die Frau in einer Weise an, die ihrerseits unerwartet ist (dff 283

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

de – aber), indem er ihre Tat positiv bewertet (V. 34): Zunächst redet er sie als Tochter an. Implizit erscheint Jesus damit metaphorisch als ihr Vater, und durch diese Anrede wird eine enge Beziehung zwischen beiden Figuren angezeigt. Ihr Tun deutet Jesus als Ausdruck von Glauben, wobei Glaube hier nicht näher qualifiziert ist. Ihr Glaube wird als aktives Subjekt des im Verborgenen geschehenen Rettungshandelns gewürdigt: Er – weder Jesus noch die Kraft – hat sie gerettet, wobei das zugrunde liegende Verb (sffswken seso¯ken) im griechischen Perfekt auf das Resultat der Handlung abhebt: Die Frau ist jetzt gerettet. Als solche soll sie in Frieden weiterziehen und von ihrem Leiden bleibend geheilt sein. In dieser Episode steht die Handlung der Frau mit dem Blutfluss im Zentrum des geschilderten Geschehens, nicht etwa Jesu Wundervermögen. Dem entspricht die abschließende Würdigung der Kompetenz der Bittstellerin (ihr Glaube) durch Jesus, den – vermeintlichen – Wundertäter. In Mk 5,21-43 liegt eine Erzählung vor, in welcher zwei Episoden aus der Zeit des Wirkens Jesu geschildert werden, deren eine (»Die Frau mit dem Blutfluss«) in die andere (»Die sterbende Tochter des Jaïrus«) eingebettet ist, und die beide strukturell wie inhaltlich eng aufeinander bezogen sind. In beiden Episoden wird jeweils die wundersame Wiederherstellung von Leben in Gesundheit angestrebt und – durch die Involvierung von Jesus – auch erzielt. Der strukturelle Schwerpunkt beider erzählter Episoden liegt nach dem narrativen Schema auf der »Vorbereitetheit« der handelnden Personen, die eine Veränderung des jeweiligen unliebsamen Zustands herbeizuführen trachten. Diese Gewichtung wird inhaltlich bestätigt durch Reaktionen des aktiven Subjekts Jesus auf ihre jeweilige Vorbereitetheit, indem diese Funktion in beiden Fällen durch das Motiv Glauben aktualisiert wird, d. h. einmal durch eine positive Beurteilung eines vorliegenden Glaubens nach dem Wunderereignis (V. 34) und einmal durch die Ermutigung zum Glauben angesichts einer Erschwernis der bestehenden Mangelsituation vor dem Wunderereignis (V. 36). Mit dieser Fokussierung geht einerseits in strukturaler Hinsicht eine äußerst knappe Schilderung der jeweiligen Wunderhandlung einher und andererseits inhaltlich eine De-Fokussierung der Bedeutung des vermeintlichen Wundertäters, und zwar durch die folgenden Motive: a) die selbstständig wirkende Wunderkraft (dÐnami@ dynamis; V. 30), die dem »Wundertäter« wohl innewohnt, die aber unabhängig von seinem Willen »automatisch« auf die durch Glauben motivierte intentionale Berührung seitens der Kranken reagiert; b) die öffentliche Abweisung des Wunderaspekts durch den »Wundertäter« (V. 39b: »Das Kind ist nicht gestorben, sondern schläft«); c) die Aufforderung zur Geheimhaltung des im Verborgenen geschehenen Wunders (V. 43a). Unter Rekurs auf die Wunderheilungsthematik wird hier in zwei Varianten die Bedeutung des Glaubens als Voraussetzung des Heil- bzw. Gesundwerdens exemplifiziert. Das Glaubensmotiv wird im Übrigen in der sich unmittelbar anschließenden Perikope Mk 6,1-6a – unter einem negativen Vorzeichen – wieder aufgegriffen: In seiner Geburtsstadt Nazaret konnte (¥dÐnato edynato) Jesus unter Menschen, die nicht an ihn glaubten, sondern an ihm Anstoß nahmen (V. 3), keinen einzigen Wunderkrafterweis (dÐnami@ dynamis) erbringen (V. 5a, vgl. die Einschränkung dieser Aussage in V. 5b), so dass er sich über ihren Unglauben (⁄pistffla apistia) wunderte (V. 6a). 284

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählung Mk 5,21-43 ist am galiläischen Westufer des Sees von Gennesaret lokalisiert. Die griechische Umschrift des in aramäischer Sprache ergehenden Befehls Jesu an das Mädchen (V. 41) – taliqa koum talitha koum – ruft das Wirken Jesu in seiner Herkunftsregion in Erinnerung. Die Transkription ist nicht ganz korrekt, da der Imp. fem. Sg. im Aramäischen auf Jota ausgeht (vgl. die entsprechenden Verbesserungen in Codex Alexandrinus und anderen Codices). Es handelt sich dabei nicht um einen magischen Zauberspruch, wie in der Exegese zuweilen angenommen wurde: Zaubersprüche waren und blieben rätselhaft; der Ausspruch Jesu aber war den der Szene beiwohnenden Figuren verständlich, und als solcher begegnet er hier in Übersetzung (vgl. auch 7,34). Das Geschehen spielt sich mithin in einer Gesellschaft ab, die durch das Judentum geprägt ist. Darauf weisen auch die folgenden Merkmale hin: Bei dem Bittsteller handelt es sich um den Vorsteher einer Synagoge und sein Name Jaïrus (Jaïrus ist die latinisierte Wiedergabe des Griechischen) gründet im Hebräischen. Beim Synagogenvorsteher musste es sich weder um einen Schriftgelehrten noch um den Gemeindeleiter handeln. Seine Funktion bestand darin, den Ablauf der Versammlung am Sabbat zu organisieren und zu beaufsichtigen (vgl. Schürer/Vermes 1979, 434 f.). Auch die Stifter von Synagogen konnten mit diesem Titel belegt werden. Insofern konnte eine Synagoge auch mehrere Synagogenvorsteher haben (vgl. V. 22: »einer der Synagogenvorsteher«). Auf jeden Fall galt Jaïrus in seiner Gesellschaft als angesehene Persönlichkeit. Auf diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass er als Synagogenvorsteher vor Jesus in aller Öffentlichkeit »auf die Füße fällt und ihn anfleht« (V. 22). Nicht nur in der Synagoge diente Jaïrus als Vorsteher, auch in seinem Haus nahm er als Mann in einer patriarchalischen Gesellschaft typischerweise die Machtposition ein – und in seinem Haus befindet sich seine Tochter auf dem Sterbebett. Die in der Erzählung namenlose Tochter ist zwölf Jahre alt. Im antiken Judentum hat sie damit das Alter der Heiratsfähigkeit erreicht (vgl. Urban 2005b, 26). Im Text wird sie dennoch nicht als junge Frau, sondern mit Diminutiva begrifflich als Töchterchen (V. 23: t qug€trin mou to thygatrion mou) bzw. als Kindchen (V. 41 f.) gefasst. Aufgrund dieser Verniedlichungsformen macht es durchaus Sinn, wenn Markus in V. 42 die Altersangabe nachschiebt, um verständlich zu machen, dass das Mädchen bereits laufen konnte (vgl. in ähnlicher Funktion die Altersangabe in der Epidaurosinschrift A1: Als nach fünfjähriger Schwangerschaft Kleo einen Sohn gebiert, wäscht er sich und läuft mit der Mutter umher).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die kunstvolle und sicher beabsichtigte, vielfältige Verwobenheit beider Episoden auf struktureller wie motivischer Ebene lässt die ältere exegetische Vermutung zweifelhaft erscheinen, wonach es sich hier um die nachträgliche Verkopplung zweier ursprünglich separat umlaufender Einzelerzählungen gehandelt hätte. Vielmehr dürfte die Erzählung – ganz abgesehen von der Frage nach einer möglichen Historizität des Erzählten – in der vorliegenden Form komponiert worden sein. Im fünften Kapitel des Markusevangeliums geht es um die Überwindung von ritu285

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

eller und somit sozial relevanter Unreinheit, die Todesverfallenheit und gesellschaftliche Ausgrenzung und damit Berührungseinschränkungen bzw. bei Berührung die Einhaltung festgelegter Reinigungsriten anzeigt. Der Mann aus 5,1-20, der in Gräbern außerhalb der menschlichen Besiedlung haust, hat einen unreinen Geist (V. 8: t pne‰ma t ⁄k€qarton to pneuma to akatharton, vgl. V. 2). Die Themen Reinheit bzw. Heiligkeit vs. Unreinheit und Todesverfallenheit vs. Lebensrettung bilden den Subtext auch für Mk 5,21-43. Das Motiv der Berührung zwischen Jesus und der jeweiligen Unreinen erscheint in auffälliger Häufung und Variation: viermal mittels des Verbs »berühren« (¿ptesqai haptesthai), einmal mittels des Ausdrucks »die Hände auflegen« und einmal mittels der Wendung »die Hand ergreifen«. Innerhalb der hier vorausgesetzten jüdischen Enzyklopädie werden damit Toravorschriften bezüglich des Berührens in Bezug auf Frauen mit regelmäßigen oder unregelmäßigen genitalen Blutungen (Lev 12 und 15) und in Bezug auf Tote (Num 5,2; 9,6-23) aufgerufen. Weder die Frau mit den Blutungen noch Jesus hält sich an die Vorschriften, zumindest erwähnt Markus nicht, dass sich die Frau vor der Berührung die Hände gewaschen und nach ihrer Heilung die vorgeschriebenen Opfergaben an den Priester weitergeleitet hätte, und auch von Jesus wird nicht erzählt, dass er sich nach der Berührung des toten Mädchens abgesondert und gereinigt hätte. Damit werden gesellschaftliche, religiös begründete Konventionen unterlaufen. In einem Strang feministischer Exegese wird bestritten, dass in Mk 5 vorausgesetzt sei, dass die Frau mit den Blutungen innerhalb der Vorstellungswelt des antiken Judentums einen Tabubruch beging, indem sie Jesus heimlich berührte. Ulrike Metternich ist darin Recht zu geben, dass die für dieses Thema in Frage kommenden Quellentexte aus Lev, von Josephus und aus rabbinischen Quellen tatsächlich viel weniger eindeutig sind als es in der exegetischen Literatur zuweilen ungeprüft vorausgesetzt wird (vgl. Metternich 2000, 84-86). Zwar gilt eine Frau, wie sie in Mk 5,25-34 beschrieben wird, nach Lev 15,19-30 eindeutig als kultisch unrein, und dies trifft auch für die Zeit Jesu zu; aber in Lev 15 kommt nicht der Fall zur Sprache, der in Mk 5 vorausgesetzt wird, nämlich die Berührung einer Person durch eine Frau mit Genitalblutungen. Nur der umgekehrte Fall wird in Lev 15,19 (vgl. V. 25) erwähnt, d. h. die Berührung einer solchen Frau durch einen anderen Menschen. Als Argument für ihre Deutung, wonach in Mk 5 nicht impliziert sei, dass die Frau Jesus hätte verunreinigen können, verweist Metternich auf Lev 15,11. Dort heißt es im Kontext der Diskussion von Verunreinigungen von Männern durch genitalen Ausfluss (Lev 15,1-15) in Bezug auf einen solchen Mann: »Und wen er anrührt, ehe er die Hände gewaschen hat, der soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und unrein sein bis zum Abend«. Das aber heißt: Hat sich ein aufgrund von Genitalausfluss als unrein ausgewiesener Mann vorher die Hände gewaschen, dann darf er jemand anderen berühren, ohne dass seine Unreinheit auf den anderen übergeht (Metternich 2000, 82 f.). Diese Regel wird sicherlich analog auch für Frauen mit Genitalblutungen gegolten haben. Wenn dem so ist, dann ist der Schlussfolgerung von Metternich zu widersprechen, wonach es in Mk 5 nicht um den Sachverhalt einer potentiellen Verunreinigung Jesu und um einen Tabubruch von Seiten der Frau ginge. Denn um diese aufgrund von Lev 15 in der Tat naheliegende Deutung des Geschehens auszuschließen, hätte es in Mk 5 einer Notiz bedurft, aus der hervorgeht, dass sich die Frau vorher ihre Hände gewaschen hat. Ein solcher Hinweis aber fehlt, und daraus ist zu schließen, dass in Mk 5 aus der Perspektive des Erzählers mit Hilfe einer – eventuell bewusst gesetzten – Leerstelle die innerhalb der Matrix des antiken Judentums nächst286

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

liegende Deutung pragmatisch evoziert wird: Die Frau geht das Risiko ein, Jesus zu verunreinigen. Nach Zeugnissen des antiken Judentums hatten sich Frauen mit Genitalblutungen ausdrücklich vom Heiligtum des Tempels oder von priesterlichen Sakralhandlungen fernzuhalten (Metternich 2000, 98). Wenn es in Lev 12,4 heißt, dass eine solche Frau – hier im Fall von Wöchnerinnen – für einen gewissen Zeitraum nichts Heiliges berühren (pant@ gfflou o'c ¿vetai pantos hagiou ouch hapsetai) und auch nicht in das Heiligtum hineingehen darf, dann sind diese Bestimmungen in Bezug auf die markinische Schilderung der Berührung Jesu durch die als unrein geltende Frau zu würdigen. Mk 5,29 spielt mit »Quelle ihres Bluts« ( phg¼ to‰ a´mato@ a't»@ he¯ pe¯ge¯ tou haimatos aute¯s) deutlich auf Lev 12,7 an: Im dortigen Kontext heißt es in Bezug auf Wöchnerinnen, dass sie dem Priester nach einer gewissen Zeitspanne der Unreinheit Opfertiere zu bringen hatten, damit er diese als Ganzbrand- und Sündopfer darbringe. Dadurch entsühnte (¥xil€setai exilasetai) der Priester eine solche Frau und er reinigte sie auf diesem Weg »von der Quelle ihres Bluts« (kaqarie… a't¼n ⁄p t»@ phg»@ to‰ a´mato@ a't»@ kathariei aute¯n apo te¯s pe¯ge¯s tou haimatos aute¯s). Und auch von Frauen mit kontinuierlichem Blutfluss gilt nach Lev 15,28-30 – anders als von Frauen mit regulärer Menstruation (Lev 15,19-24) –, dass der Priester für sie u. a. ein Sündopfer darzubringen hatte mit dem Ziel der Entsühnung. Die Begrifflichkeiten Sündopfer und Entsühnung zeigen an, dass die Frau mit dem anhaltenden Blutfluss in Mk 5 nach alttestamentlich-jüdischem Verständnis sicher dem Verdacht ausgesetzt war, ihr Unheil gründe in der vorangegangenen Missachtung eines göttlichen Ge- oder Verbots. Und tatsächlich legt die markinische Bezeichnung ihrer Krankheit als Plage bzw. Geißel (V. 29 und 34: m€stix mastix) diese Deutung nahe. Mit dieser Begrifflichkeit wird in alttestamentlichen und antik-jüdischen Schriften insbesondere auf strafende Krankheitsschläge Gottes abgehoben, vgl. Ps 38,11LXX; 2Makk 7,37; 9,11; 1QapGen 20,16-17: »In jener Nacht sandte Gott der Allerhöchste ihm (dem Pharao) einen Plagegeist, der ihn und jeden Mann in seinem Haus plagte, einen bösen Geist«. Eine solche Frau war also mehrfach stigmatisiert: Als eine an einem anhaltenden blutigen Ausfluss Leidende war ihr Kontakt zu Mitmenschen gewissen Einschränkungen unterworfen und ihre Krankheit bezeugte ihre Sündhaftigkeit, und von einer solchen Person hielten sich Menschen tendenziell fern – nicht nur aus Angst vor Ansteckung, sondern auch aus Sorge, sich den Zorn Gottes zuzuziehen. In Ps 37,12LXX beklagt ein Kranker, der sich von Gott körperlich geschlagen weiß, sein Leid in Bezug auf Isolierung selbst innerhalb der Familie und des Feundeskreises: »Meine Freunde und meine Nächsten sind mir gegenüber hingetreten und haben sich hingestellt, und meine engsten (Angehörigen) haben sich in der Ferne hingestellt«. Selbst der in der Septuaginta für die Menstruation gebrauchte Begriff  ˝fedro@ (he¯ aphedros) bezeichnet das getrennte Sitzen. Und in der aus der Zeit Jesu stammenden Tempelrolle heißt es in 11Q19 48,14b-17a: »Und in jeder einzelnen Stadt sollt ihr Plätze einrichten für jene, die geschlagen sind mit Aussatz und mit Ausschlag und mit Krätze, damit sie nicht in eure Städte kommen und sie verunreinigen; und auch für die Ausflussbehafteten und für die Frauen, wenn sie in ihrer Menstruationsunreinheit und in ihrer Gebärunreinheit sind, damit sie nicht Unreinheit verursachen in ihrer Mitte durch ihre sexuelle Unreinheit«. Auch wenn es sich hier um die radikale Sondermeinung einer Splittergruppe handelt, bezeugt sie doch die antik jüdische Tradition einer tendenziellen Absonderung von Frauen während der Menstruation; dies gilt umso mehr im Fall einer Frau mit anhaltenden Blutungen. 287

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Im Diskursuniversum des Markusevangeliums gilt Jesus als gottgesandter Menschensohn (vgl. Boyarin 2012, 25-70), der seit der Johannestaufe mit dem Geist (Gottes) ausgestattet und deshalb der Heilige Gottes (1,24: ¡ ¿gio@ to‰ qeo‰ ho hagios tou theou) ist, der über göttliche Autorität verfügt (1,22 und 27: ¥xousffla exousia) und dem göttliche Kraft innewohnt (5,30: dÐnami@ dynamis). Insofern begeht die Frau – im Deutehorizont des antiken Judentums – potenziell sogar einen besonders schwerwiegenden Tabubruch: Als Unreine berührt sie – ohne sich vorher ausdrücklich die Hände gewaschen zu haben – nicht nur einfach einen anderen Menschen und setzt ihn dem Risiko einer unwissentlichen Verunreinigung aus; sie berührt den Heiligen Gottes. Sie ist sich der Problematik ihrer Tat bewusst; deshalb geht sie heimlich vor und fürchtet sich, als sie entdeckt wird. Gleichzeitig kommt in ihrem Vorgehen zum Ausdruck, dass sie begriffen hat, welches göttliche Heilpotenzial Jesus innewohnt. Und tatsächlich verunreinigt nicht sie Jesus, sondern sie wird von der ihm innewohnenden Gotteskraft geheilt und damit gereinigt. Die Jesus durchdringende Reinheit ist ansteckender als jedwede Unreinheit. Die mk Umschreibung des Zustands der Frau – sie ist im Fluss des Blutes (V. 25: oªsa ¥n «Ðsei ousa en rhysei) – macht transparent, dass sich Markus eng an die Begrifflichkeit und Vorstellungswelt von Lev 15LXX anlehnt (vgl. V. 19 und 25) und nicht etwa an medizinische Termini der griechisch-römischen Welt (Belege vgl. Weissenrieder 2002, 77-81). Mit dieser Umschreibung wird zum Ausdruck gebracht, dass der Blutfluss nicht ein zu separierender Aspekt der Frau wäre, sondern sie befindet sich im Blutfluss, d. h. in einem größeren Geschehen, das sie nicht kontrollieren kann und das Lebensverlust bedeutet, denn das Leben wird im Blut lokalisiert (Lev 17,11). Wenn dieses als Plage bzw. Geißel aufgefasste Geschehen von Gott initiiert worden ist, dann kann es auch nur durch göttliche Kraft ungeschehen gemacht werden, und eben dies ereignet sich nach Auskunft von Mk 5,30. Was der Psalmbeter (Ps 37LXX) von Gott erhofft, den Herrn seiner Rettung (V. 23: kÐrie t»@ swthrffla@ mou kurie te¯s so¯te¯rias mou), nämlich die verhängte Plage (V. 18) aufzuheben, Heilung (—asi@ iasis) und Frieden (e§rffinh eire¯ne¯) zu verleihen (V. 4), exakt dies vollzieht sich für die Frau mit dem Blutfluss, als sie Jesus berührt: Sie ist gerettet, körperlich geheilt, die Plage ist beseitigt und ihr wird zugesagt, dass sie in Frieden/ Schalom ziehen kann. Dass damit die Wiederherstellung ihrer Gottesbeziehung impliziert ist, macht die Anrede »Tochter« durch Jesus (V. 34) transparent. Die Lokalisierung der dynamis, d. h. der Wunder wirkenden Macht Gottes in Jesus lässt keinen Zweifel daran, dass Jesus im Markusevangelium als Menschen- und Gottessohn eine Position einnimmt, die im Alten Testament und im antiken Judentum sonst nur Gott zugeschrieben wird (vgl. dazu jetzt Boyarin 2012; vgl. auch die Funktion Jesu bei der Sturmstillung in Mk 4,35-41). Jesus erscheint hier als innerweltlicher Träger göttlicher Wunderkraft. Deshalb muss er sich auch nicht an die vorgeschriebenen Reinigungsriten halten – weder aufgrund der Berührung durch die Frau noch durch die Berührung des toten Mädchens (vgl. zu Letzterem die Vorschriften in Num 19,14-22 und in 11Q19 49). Dieser Jesus kann nicht verunreinigt werden. Seine (subjectivus und objectivus) intentionale Berührung bewirkt Lebensrettung. Was die Frau mit dem Blutfluss erkannt hat, bleibt dem Aktanten des Bittstellers in Bezug auf die Rettung des Mädchens bis zur erfolgreichen Wiederbelebung verborgen. Sowohl Jaïrus als auch seine Leute konzeptionalisieren Jesus als Rabbi (vgl. V. 35) und sie 288

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erhoffen sich, dass er als Mittler göttlicher Wunderkraft (vgl. Kahl 1994, 111-113) in Erscheinung trete. Darauf verweist auch die geforderte Geste der Handauflegung (V. 23; vgl. dazu die beiden antik-jüdischen Belege: 2Kön 5,11LXX; 1QapGen 20,28 f.). Jesus aber ergreift in V. 41 die Hand des Mädchens und er befiehlt ihr, woraufhin sie sofort lebendig wird. Das »völlige Außer-sich-Geraten« der Zeugen dieses Ereignisses (V. 42) belegt, dass sie mit dieser Wendung nicht gerechnet hatten und erst jetzt der Präsenz des Göttlichen gewahr werden. Das im Neuen Testament im Allgemeinen und im Markusevangelium im Besonderen durch s†ðzein so¯zein bzw. im Passiv sðzesqai so¯zesthai angezeigte Rettungshandeln deckt ein weites Bedeutungsspektrum ab, welches die Implikationen von körperlichem Gesundmachen (qerapeÐein therapeuein und §€esqai iaesthai) übersteigt. Aktive Subjekte wie Gott, Jesus bzw. die göttliche Wunderkraft (dynamis) vermögen es, aus Sündenschuld, aus Todesverfallenheit, von Krankheit, Dämonenbesessenheit, ewiglicher Verderbnis, aus Lebensgefahr zu erretten. S†ðzein (so¯zein) kann dabei in Wunderheilungserzählungen durchaus mit Gesundmachen bzw. Heilen identifiziert werden (vgl. Lk 8,50; Apg 4,8-12); es erschöpft sich aber nicht in Heilungsprozessen (vgl. ebenfalls Apg 4,8-12). Vielmehr gilt: Die konkrete Heilung exemplifiziert unter konkreten alltagsweltlichen Umständen innerhalb der weiterbestehenden Brüchigkeit menschlicher Existenz das erwartete allumfassende Heil Gottes. Eben dieses ist impliziert, wenn Lukas in der Erzählung vom geheilten Samariter in 17,11-19 zwischen der Gesundung und der heilvollen Errettung differenziert. Es erscheint signifikant, dass es in den neutestamentlichen Wunderheilungserzählungen niemals heißt: Dein Glaube hat dich geheilt – etwa als Wiedergabe von qerapeÐein (therapeuein) oder §€esqai (iaesthai). Die Aussage »dein Glaube hat dich gerettet« (sffswken seso¯ken) stellt die Gesundung in den weiteren Zusammenhang des allumfassenden göttlichen Heilsgeschehens – dem Evangelium, wie es an und durch Jesus transparent wurde (vgl. zur Struktur dieser Aussage auch Röm 1,16: das Evangelium als Kraft Gottes [dÐnami@ qeo‰ dynamis theou], die Rettung [swthrffla so¯te¯ria] bewirkt für jeden, der glaubt [pisteÐonti pisteuonti]). In systematisch-theologischer Begrifflichkeit gesprochen: s†ðzein (so¯zein) im Neuen Testament eignet eine spezifisch theologisch-soteriologische Bedeutung. Sie ist nicht auf Gesundung zu beschränken, vgl. etwa Lk 7,50, wo Jesus der so genannten Sünderin, die ihn salbte, die Sünden vergibt und ihr zusagt: »Dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden!« Sündenvergebung impliziert hier die Wiederherstellung einer intakten Gottesbeziehung als Voraussetzung intakter zwischenmenschlicher Beziehungen. Und eben dieser Aspekt von Rettung (swthrffla so¯te¯ria) wird durch den Zuspruch des Friedens in Lk 7,50 noch verstärkt, denn Frieden meint hier den Schalom Gottes. Eben dies gilt auch für die Erzählung von der Frau mit dem Blutfluss: Die vorher aufgrund ihrer Krankheit kultisch und in ihren sozialen Kontakten zumindest eingeschränkte, von den Ärzten als hoffnungsloser Fall aufgegebene, verarmte Frau ist durch die in sie fahrende Wunderkraft im allumfassenden Sinne wiederhergestellt: 1., sie ist körperlich geheilt und ihr Leben ist gerettet; 2., sie steht in einer heilsamen Gottesbeziehung, die vorher zumindest in Zweifel stand; und 3., sie ist in zwischenmenschliche Beziehungen re-integriert. Ihre intentionale Berührung Jesu nimmt alle drei Aspekte vorweg und aktiviert sie zugleich: Dadurch aktiviert sie die in Jesus innewohnende Wunderkraft, die dynamis; und der Gottes- und Menschensohn lässt sich von der ausgegrenzten unreinen Frau berühren und bekennt sich zu ihr unter Bezugnahme auf Familienmetaphorik. Das ist der Auftakt zu neuen 289

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

Beziehungen zu Gott und zu ihren Mitmenschen. Durch ihre Tat bekommt sie mehr geschenkt, als sie ersehnte, eben den allumfassenden Schalom Gottes. Jesus als rettender Heiler balanciert neu aus, was aus dem Lot geraten ist, und das betrifft in dieser Erzählung ganz konkret den Körper der Frau als auch den Sozialkörper (vgl. Weissenrieder 2002, 85). Es wird auch die Überzeugung des Verfassers des Markusevangeliums transparent, wonach Jesus großzügig mit der Zusage von Heil, Heilung und Schalom umgeht: Er wertet die Tat der Frau als Ausdruck von Glauben, obwohl davon in ihrer Vorbereitung auf die Begegnung mit Jesus gar keine Rede ist. Jesus gesteht ihr – wie auch sonst – gewissermaßen den benefit of the doubt zu. Der katholische Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann interpretiert die Perikope Mk 5,21-43 unter Rekurs auf tiefenpsychologische Einsichten, die insbesondere für psycho-somatische Vorgänge erhellend sein können. In seiner Analyse und Deutung bezieht Drewermann die beiden in Mk 5,21-43 geschilderten Episoden konsequent aufeinander: In beiden geht es um die Überwindung von Notlagen von Frauen; die Zahl 12 kommt hier und da vor; diese Zahl verweist in beiden Fällen auf Schwierigkeiten von Frauen in unterschiedlicher Lage, sich in einem patriarchalen System positiv mit der von ihnen erwarteten Gender-Rolle zu identifizieren; beide Wiederherstellungen geschehen im Verborgenen. Zwischen beiden Episoden besteht darüber hinaus eine »umgekehrt symmetrische Zuordnung« (Drewermann 1990, 280): Die Frau geht zu Jesus, um ihn zu berühren vs. Jesus geht zu dem Mädchen, um es zu berühren; dabei überwindet die Frau das Hindernis der sich um Jesus versammelnden Menge vs. Jesus vertreibt die zwischen ihm und dem Kind sich befindenden Trauergäste. All diese Motive deuten nach Drewermann darauf hin, dass den Leser- und Hörer(innen) der Erzählung hier intentional eine Lektüreanweisung an die Hand gegeben wird, wonach beide Episoden inhaltlich zusammen zu lesen sind: Das psychologische Geheimnis dieser Wundererzählung (…) besteht allem Anschein nach darin, daß man zu der Tochter des Jaïrus wirklich erst gelangen kann, wenn man die blutflüssige Frau von ihrer Unreinheit geheilt hat, und daß man umgekehrt die Heilung der blutflüssigen Frau im Grunde nur ›fortsetzen‹ kann, wenn man hinter ihr ein 12-jähriges Mädchen findet, das, unmittelbar am Beginn seines Reifens zur Frau, dem Tod sich näher fühlt als dem Leben; nicht nur literarisch, sondern vor allem psychisch sind beide Frauengestalten ineinander ›verschachtelt‹, indem beide ineinander leben: die Tochter des Jaïrus als die Kindheit der blutflüssigen Frau, und diese als tödliche Vision einer Zukunft, die man als Frau nur fliehen kann (Drewermann 1990, 295 f.).

Dem Mädchen diagnostiziert Drewermann eine hypnoide Starre, während die Frau unter einer Menorhagie leidet. Für beide Fälle können psychische Ursachen vermutet werden, die Drewermann ausführlich diskutiert. An dieser Stelle muss der Hinweis darauf genügen, dass sich nach Drewermann bei beiden Personen eine tiefgehende Angst im Zusammenhang mit ihrer Geschlechterrolle körperlich manifestierte. Eine Lösung der jeweiligen Symptomatik und Problematik ereignet sich aufgrund der körperlichen Begegnung mit Jesus »in einer äußersten Verdichtung seelischer Intensität« (Drewermann 1990, 290). Jesu Wärme, Hingabe- und Annahmebereitschaft sowie seine »tiefe Resonanz« bewirken »Wunder« von Heilung. Drewermann relativiert die Frage nach der Historizität dieser und anderer Erzählungen über wundersame Heilungen, die Jesus zugeschrieben werden. Entscheidend ist 290

Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

ihr symbolisches Verständnis »als verdichtete Gestaltbilder typischer Erfahrungen von Heil und Unheil in der Spannungszone zwischen Angst und Vertrauen« (Drewermann 1990, 308). Insofern sind sie für gegenwärtige Leser(innen) tiefenpsychologisch relevant. Das »Geheimnis aller Wunder Jesu ist es, daß der Mann aus Nazaret die Macht besaß, einzelne Menschen aus der Umklammerung ihres äußeren und verinnerlichten Milieus Gott zurückzugeben, auf daß nur der Allmächtige allein Macht habe über sie« (Drewermann 1990, 309). Drewermanns tiefenpsychologische Deutungen neutestamentlicher Wunderheilungserzählungen stellen einen beeindruckenden Versuch dar, im Neuen Testament beschriebene Krankheitszustände und Heilungsverfahren im Kontext gegenwärtiger Erkenntnisse der professionellen Psychologie plausibel und relevant zu machen. Die Ergebnisse seiner Analysen scheinen mir von besonderer Bedeutung zu sein – nicht nur für eine sich ganzheitlich verstehende Medizin, die auch die Dimension des Religiösen einbezieht, sondern auch für die kirchliche Praxis etwa in Bezug auf liturgische Praktiken der Individualsegnung von Kranken. Es sollte freilich nicht übersehen werden, dass die im Neuen Testament konstitutive Dimension des Wunders – als Verweis auf ein konkret sich manifestierendes Wirken Gottes – wie in der historisch-kritischen Exegese so auch in diesem tiefenpsychologischen Entwurf gewissermaßen wegrationalisiert wird. Dies bedarf der theologischen Reflexion, die allerdings auch nicht darüber hinwegsehen darf, dass es entscheidend darum geht, dass Menschen Heilung erfahren, wenn es denn sein soll – so oder so. Afrikanische Theologinnen haben feministisch-postkoloniale Deutungen der Perikope vorgelegt. Elizabeth Amoah, Religionswissenschaftlerin aus dem westafrikanischen Ghana, deutet die Erzählung von der blutflüssigen Frau im Kontext von Traditionen der Akan, der Ethnie, der sie angehört. Aufgrund der besonderen spirituellen Kraft, die dem Blut bei den Akan beigemessen wird, mussten sich vormals Frauen zur Zeit ihrer Menstruation vom Dorfleben fernhalten. Insofern stellen diese Regeln des Zusammenlebens im Vergleich zu den Forderungen von Lev 15 noch eine Verschärfung dar. Die Perikope ist deshalb von Bedeutung, weil sie von einer Frau zu erzählen weiß, die sich mutig über die religiösen Vorschriften hinwegsetzt, indem sie Jesus berührt, um geheilt zu werden. Diese Frauengeschichte ist inspirierend für alle Christen, aber sie bedeutet auch eine Herausforderung, da sie aktive Grenzüberschreitungen bestehender Gesetze und Regeln, die Menschen herabwürdigen, empfiehlt: »Wahre Erlösung wird wohl immer bestehende Gesetze und Regeln in Frage stellen. Aber es verlangt auch eine Anstrengung und Bewusstheit von der Person, die auf Erlösung hofft« (Amoah 1984, 9). Musa W. Dube, Neutestamentlerin aus dem südafrikanischen Botswana, nimmt in ihrer Deutung der Perikope eine postkoloniale Genderperspektive ein: Die blutflüssige Frau symbolisiert Mama Africa, die im 19. und 20. Jh. durch fremde kolonialistische Mächte und traditionelle patriarchale Strukturen beherrscht und ausgeblutet wurde. Selbst die Unabhängigkeit von fremden Mächten bedeutete keine Befreiung von destruktiven Herrschaftsansprüchen. Sie mündete nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch einheimische Despoten in Heilsversprechen des Neo-Kolonialismus im so genannten Global Village, resultierend in neuen wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Aber Mama Africa, jetzt mit HIV/AIDS infiziert, hält sich an den Ruf talitha kum, und sie setzt ihre Hoffnung auf den Heiler Jesus. Zu ihm, der kein Geld nimmt, streckt sie sich aus. Beide Interpretationsbeispiele aus Afrika stellen kontextualisierende Interpretatio291

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

nen der Perikope dar. Sie aktualisieren in unterschiedlicher Konkretion das aus sozioökonomischer Ungerechtigkeit zur vollständigen Partizipation am Leben befreiende Potenzial der Erzählung von Mk 5,21-43.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Von den beiden synoptischen Seitenreferenten hat insbesondere Matthäus (9,18-26) seine Vorlage erheblich gekürzt und überarbeitet. Während Markus etwa an der Beschreibung des Leidenswegs der Frau mit dem Blutfluss und an der Betonung ihres Engagements gelegen war, hebt Matthäus stark ab auf die rettende Bedeutung Jesu. Die Erzählung dient hier dem Zweck, Jesus als messianischen Wundertäter zu präsentieren. Er nimmt in der Erzählung über weite Strecken die Rolle des alleinig handelnden Subjekts ein. Euseb berichtet in seiner Kirchengeschichte (h.e. 7,18) von einem Denkmal, das er selbst in Cäsarea Philippi gesehen hat, und zwar am Eingang eines Hauses, das der Frau mit dem Blutfluss gehört haben soll. Es handelte sich dabei um ein Ensemble von zwei einander zugewandten Bronzestatuen: Eine Frau kniet als Bittstellerin mit ausgestreckten Händen auf einem Bein nieder vor einer männlichen Figur, die ein Doppelgewand um die Schulter trägt und eine Hand in Richtung der Frau ausstreckt. Damit hätten – so Euseb – die vormaligen Heiden nach ihrem althergebrachten Brauch von Dankesgaben für Retter der heilenden Begegnung Jesu mit der Frau mit dem Blutfluss gedacht. Dieses Denkmal hatte zudem heilende Wirkung, denn eine fremdartige Pflanze, die zu Füßen der Jesusfigur wuchs und bis zum Saum (kr€spedon kraspedon) des Bronzegewands reichte, diente als Gegenmittel (⁄lexif€rmakon alexipharmakon) gegen jedwede Krankheit. Die Statue wie auch ihre Beschreibung durch Euseb stellen eine Interpretation der synoptischen Erzählung über die Frau mit dem Blutfluss dar, wonach der Fokus auf Jesus als Retter (swtffir so¯te¯r) zu liegen kommt. Die Funktion der Frau wird auf ihre Rolle als Bittstellerin, die vor Jesus auf die Füße fällt, reduziert. Damit wird eine Tendenz, die in der matthäischen Fassung gegenüber der markinischen Version bereits angelegt war, in der Antike weiter ausgezogen.

Werner Kahl Literatur zum Weiterlesen E. Amoah, The Women Who Decided to Break the Rules, in: J. S. Pobee/B. v. Wartenberg-Potter (Hg.), New Eyes for Reading. Biblical and Theological – Reflections by Women From the Third World, Genf 1986, 3 f. R. R. Beck, Nonviolent Story. Narrative Conflict Resolution in the Gospel of Mark, Maryknoll 1996, 75-79. M. R. D’Angelo, Gender and Power in the Gospel of Mark: The Daughter of Jairus and the Woman with the Flow of Blood, in: J. C. Cavadini (Hg.), Miracles in Jewish and Christian Antiquity. Imagining Truth, Notre Dame 1999, 83-109.

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Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfließen Mk 5,21-43

E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2: Die Wahrheit der Werke und der Worte. Wunder, Vision, Weissagung, Apokalypse, Geschichte, Gleichnis, Olten/Freiburg 61990, 277-309. M. W. Dube, Fifty Years of Bleeding. A Storytelling Feminist Reading of Mark 5:24-43, in: dies. (Hg.), Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta/Genf 2001, 50-60. B. Kahl, Jairus und die verlorenen Töchter Israels, in: L. Schottroff/M.-T. Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden 1996, 61-78. W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting: A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective, FRLANT 163, Göttingen 1994. U. Metternich, »Sie sagte ihm die ganze Wahrheit«. Die Erzählung von der »Blutflüssigen« – feministisch gedeutet, Mainz 2000. C. Urban, Hochzeit, Ehe und Witwenschaft, in: K. Erlemann et al. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 2005, 25-30.

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Brot und Fisch bis zum Abwinken (Die Speisung der Fünftausend) Mk 6,30-44 (ActJoh 93) (30) Und die Apostel versammeln sich bei Jesus, und sie berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. (31) Und er sagt ihnen: »Kommt, ihr selber für euch allein, an einen einsamen Ort und ruht ein wenig aus.« Denn es waren viele, die da kamen und gingen, und nicht einmal zum Essen fanden sie Zeit. (32) Und sie fuhren mit dem Boot weg an einen einsamen Ort für sich allein. (33) Und viele sahen sie abfahren und erkannten sie, und sie liefen zu Fuß aus vielen Städten dorthin und kamen ihnen zuvor. (34) Und als er ausstieg, sah er eine große Volksmenge und erbarmte sich ihrer, denn »sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben« (Num 27,17), und er begann sie vieles zu lehren. (35) Und als es schon spät geworden war, traten seine Jünger an ihn heran und sprachen: »Der Ort ist einsam und es ist schon spät. (36) Schicke sie fort, damit sie in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen!« (37) Er aber antwortete und sprach zu ihnen: »Gebt ihr ihnen zu essen!« Und sie sagen zu ihm: »Sollen wir hingehen und für zweihundert Denare Brot kaufen und ihnen zu essen geben?« (38) Er aber sagt ihnen: »Wie viele Brote habt ihr? Geht, seht nach!« Und da sie es wussten, sagen sie: »Fünf, und zwei Fische.« (39) Und er gebot ihnen, dass alle sich lagerten, Mahlgemeinschaft für Mahlgemeinschaft, im grünen Gras. (40) Und sie legten sich nieder, Abteilung neben Abteilung, zu hundert und zu fünfzig. (41) Und er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, segnete und brach die Brote und gab sie seinen Jüngern, damit sie sie ihnen vorsetzten. Und die zwei Fische teilte er unter allen auf. (42) Und alle aßen und wurden satt. (43) Und sie hoben die Brocken auf, zwölf Körbe voll, auch von den Fischen. (44) Und es waren fünftausend Menschen, welche die Brote gegessen hatten.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Erzählung erweist sich als planvoll gestaltete Einheit. Sie zerfällt kompositorisch in drei Szenen, nämlich Exposition (6,30-34), Hinführung zum Wunder (6,35-38) und eigentliche Wundererzählung (6,39-44). Sprachlich ist die Erzählung in der Vergangenheitsform (Aorist oder Präteritum) gehalten, wechselt aber an einzelnen Stellen in das Praesens historicum und weist zudem viele Partizipialkonstruktionen auf. Der Evangelist eröffnet das Erzählgeschehen mit einer ungewöhnlich langen Einleitungsszene (6,30-34), die der kunstvollen Einbettung des Speisungswunders in den Rahmen der markinischen Darstellung des Lebens Jesu dient. Mit der Notiz von der Rückkehr der Zwölf, die einen Rechenschaftsbericht über ihre Aktivitäten abgeben, schlägt Markus den Bogen zur vorangehenden Aussendungsrede (6,6b-13). Er nimmt den Erzählfaden von der Aussendung des Zwölferkreises wieder auf, der durch den dazwischen geschalteten Bericht von 294

Brot und Fisch bis zum Abwinken Mk 6,30-44

der Hinrichtung des Täufers während eines Banketts am Hof des Herodes Antipas (6,1429) unterbrochen worden war. Gleichzeitig wird nun mit der wunderbaren Speisung ein positiver Gegenentwurf zu dem vom verhängnisvollen Tod des Täufers überschatteten Festmahl des Tetrarchen geboten (Mackay 1997, 122). Die Bemerkung, dass die Jüngerschar angesichts der Bedrängnis durch die Volksmenge nicht einmal Muße zum Essen fand, lässt ein den Rezipienten des Markusevangeliums bereits bekanntes Motiv (3,20) erneut anklingen und leitet unmittelbar zu der Speisungsgeschichte über. Der Aufbruch in die Einsamkeit ist durch den Wunsch Jesu begründet, dem Zwölferkreis nach allen Strapazen etwas Ruhe und Erholung zu gönnen. Der unbestimmt bleibende einsame Ort liegt irgendwo am See Gennesaret. Er wird mit dem Boot angesteuert, ist allerdings auf dem Fußweg noch schneller erreichbar. Die Abfahrt des Bootes war der Volksmenge nicht verborgen geblieben, und als Jesus mit den Jüngern den Zielpunkt der Überfahrt erreicht, wird er dort bereits von den Menschenmassen erwartet. Damit sind die Pläne Jesu durchkreuzt und er erbarmt sich des Volkes als Hirte. Der Verweis auf die Lehre Jesu ist ein Vorzugsmotiv des Markus und ordnet das Wunder der Verkündigung nach. Als Hinführung zum Speisewunder schließt sich ein Dialog zwischen Jesus und den Jüngern in fünffacher direkter Rede an (6,35-38). Die Erwähnung der späten Stunde unterstreicht die intensive Belehrung des Volkes durch Jesus und motiviert das Hinzutreten der Jünger, die sich um das leibliche Wohlergehen der Menschenmenge sorgen. Auf die Anweisung Jesu, der Menschenmenge zu essen zu geben, reagieren die Jünger mit Unverständnis, wie es im Markusevangelium immer wieder der Fall ist. Ihre Frage impliziert, dass der Kauf von Brot im Wert von 200 Denaren ihre finanziellen Möglichkeiten bei weitem überschritten hätte. Ein Denar war der übliche Tageslohn für einen Arbeiter (Mt 20,2). Der Betrag von 200 Denaren ist im Blick auf die Brotpreise in der Lebenswelt Jesu für die Sättigung von 5000 Personen durchaus realistisch bemessen (Jeremias 1962, 138). Dass die Jünger eine üppige Reisekasse mit sich führten und tatsächlich über das notwendige Geld verfügten (Ehling 2004, 49-55), ist im Horizont des von Besitzlosigkeit und unbegrenztem Vertrauen auf die Fürsorge Gottes geprägten radikalen Ethos der Jesusbewegung (Mk 6,8 par.; Mt 7,25-34 par.) eher unwahrscheinlich. Im weiteren Erzählverlauf fordert Jesus die Jünger zur Feststellung auf, was sie an Lebensmitteln bei sich haben. Mit dem Verweis auf fünf Brote und zwei Fische steigt der Spannungsbogen, denn dieser Proviant hätte selbst für die Jüngerschaft kaum zur Sättigung ausgereicht, geschweige denn für eine Volksmenge von 5000 Menschen. Die eigentliche Wundererzählung (6,39-44) beginnt mit einer vorbereitenden Anordnung Jesu an die Jünger. Sie sollen dafür Sorge tragen, dass die Volksmenge sich gruppenweise zu Tischgemeinschaften anordnet. Der Vollzug des Wunders geschieht unauffällig durch die Gesten Jesu. Die Segens- und Austeilungshandlung Jesu an den fünf Broten und den zwei Fischen orientiert sich an der traditionellen jüdischen Mahlpraxis (vgl. Billerbeck 1928, 611-639). Der Blick zum Himmel signalisiert, dass der Lobpreis über der Speise den Charakter eines Gebets hat. Der von der Erzählung nicht mitgeteilte, stillschweigend vorausgesetzte Lobspruch über dem Brot lautet »Gepriesen sei, der da hervorbringt das Brot aus der Erde« (mBer 6,1). Der Fisch war als Beigabe zum Brot normalerweise von einem eigenen Segensspruch befreit. Mit dem Brechen des Brotes vollzieht Jesus den Eröffnungsritus jüdischer Mahlzeiten und ordnet die Verteilung der Lebensmittel durch die Jünger an. Die Feststellung, dass alle satt wurden, dient der Konstatierung des Wunders. Mit dem durch exakte Zahlenangaben untermauerten Verweis 295

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

auf die Größe der speisenden Volksmenge und die dabei noch übrig bleibenden Nahrungsmittel erfährt das Wundergeschehen eine nochmalige Steigerung.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Brot und Fisch zählten in der Lebenswelt Jesu zu den Grundnahrungsmitteln der Menschen. Galiläa war um die Zeitenwende aufgrund seiner hervorragenden geologischen und klimatischen Bedingungen ein ungeheuer fruchtbares Land. Der Getreideanbau war seit frühester Zeit der bedeutsamste landwirtschaftliche Produktionszweig Galiläas. Die weitläufigen Domänen mit ihren Getreidefeldern befanden sich entweder als »Königsland« unmittelbar in der Hand der einander abwechselnden Herrscher über Palästina, von denen das Land als Lehen an Freunde oder verdiente Beamte vergeben werden konnte, oder bildeten als Privatland den Grundbesitz bedeutender und einflussreicher Persönlichkeiten. Die Großgrundbesitzer führten auf ihren professionell bewirtschafteten Domänen oder auch fernab davon in der Stadt ein unbeschwertes Leben, während die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern mit ihren Subsistenzwirtschaften, die überwiegend in den weniger begünstigten gebirgigen Lagen anzutreffen waren, um ihre Existenz kämpfen mussten. In vielen Fällen bestellten die Großgrundbesitzer den Boden nicht eigenhändig, sondern verpachteten ihn an Kleinbauern oder ließen ihn von Verwaltern mit Hilfe von Sklavinnen und Sklaven oder Tagelöhner(innen) gewinnbringend bewirtschaften. Das auf den Domänen angebaute Getreide gehörte zu den wichtigsten Exportgütern Galiläas. Die Hauptabnehmer waren die benachbarten hellenistischen Städte Tyrus, Sidon und Beirut. In Zeiten von Missernten und Nahrungsmittelknappheit zog die Landbevölkerung Galiläas bei den Verteilungskämpfen den Kürzeren, da die hellenistischen Städte finanzkräftig genug waren, um auch in solchen Situationen Getreide aufzukaufen (Theißen 1992b, 76-79). Mit Getreideprodukten, allem voran Gerstenbrot als dem im Vergleich zu Weizenbrot preiswerterem Essen der armen Leute (vgl. Flav. Jos. Bell. 5,427), wurde mehr als die Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs gedeckt (Bösen 1998, 50). Die große Mehrheit der antiken Weltbevölkerung lebte vegetarisch, da Fleisch ein der Oberschicht vorbehaltener Luxusartikel war. Der Kern jeder Mahlzeit bestand aus Brot, wobei die Qualität des für die breiten Bevölkerungsschichten erschwinglichen Brotes im Allgemeinen schlecht war (Berger 1993, 62-66). Die dominante Rolle des Brots als Hauptnahrungsmittel spiegelt sich darin wider, dass im antiken Judentum der Begriff »Brotbrechen« gleichbedeutend mit »eine Mahlzeit abhalten« war. Brot wurde, außer in der Paschazeit, in der Regel aus Sauerteig hergestellt, der es länger haltbar machte und dem Befall durch Schimmel entgegenwirkte. Die dünnen Brotfladen im Durchmesser von 2050 cm wurden in Backöfen, aber auch in Glutasche, auf glühenden Steinplatten oder in eisernen Pfannen gebacken (Dalman 1964, 29-141). Fisch stellte neben Obst und Gemüse für die kleinen Leute eine willkommene Zukost zum Brot dar. Der See Gennesaret war in der Antike für seinen immensen Fischreichtum berühmt. Der Fischfang, die Fischverarbeitung und der Fischhandel zählten in neutestamentlicher Zeit zu den wichtigsten Erwerbsquellen der Menschen in Galiläa. Die getrockneten und mit Hilfe von Salz konservierten Fische, wie sie wohl in der Speisungserzählung als Reiseproviant vorausgesetzt sind, wurden auch in andere Regionen des östlichen Mittelmeerraumes exportiert. Am Westufer drängten sich auf einer Strecke von 296

Brot und Fisch bis zum Abwinken Mk 6,30-44

etwa zwanzig Kilometern mit Kafarnaum, Gennesaret, Magdala und Tiberias vier Städte dicht aneinander, deren Einwohner überwiegend vom Fischreichtum des Sees ihren Lebensunterhalt bestritten. Unter den Jüngern Jesu befanden sich mit den beiden Brüderpaaren Petrus und Andreas sowie Jakobus und Johannes vier gelernte Fischer, die bis zum Eintritt in die Nachfolge mit dem entbehrungsreichen und harten Fischfang ihre Existenzgrundlage sicherten. Durch den sensationellen Fund des so genannten Jesusbootes, das 1986 während einer Dürreperiode mit extrem niedrigem Wasserspiegel im Uferschlamm des Sees Gennesaret entdeckt wurde, haben wir eine konkrete Vorstellung von den Booten, wie sie in neutestamentlicher Zeit beim Fischfang zum Einsatz kamen (vgl. Kollmann 2009, 83-86).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Geschichte von der wunderbaren Speisung ist das bekannteste Geschenkwunder Jesu. Geschenkwunder haben eine überraschende Bereitstellung materieller Güter zum Inhalt, die wie im Fall von Mk 6,30-44 durch eine Notlage motiviert sein kann, meist aber spontan mit demonstrativem Charakter erfolgt, um die Vollmacht des Wundertäters zu erweisen (vgl. Theißen 1998, 111-114). Die Speisungsgeschichte begegnet sechsmal in den Evangelien. Die allen Berichten zugrunde liegende Urtradition handelte davon, wie Jesus am See Gennesaret eine große Menschenmenge mit wenigen Broten und Fischen sättigte und noch Lebensmittel übrig blieben. Diese Tradition spaltete sich im Verlauf der Überlieferungsgeschichte in zwei Versionen auf, indem sie entweder als Speisung der 4000 (Mk 8,1-10 par.) oder als Speisung der 5000 (Mk 6,30-44 par.) erzählt wurde. Die Speisungsgeschichte weist einen alttestamentlich-jüdischen Traditionshintergrund auf. In der hellenistischen Literatur begegnet das Motiv der wunderbaren Bereitstellung von Speisen nur ganz vereinzelt, obwohl nach Darstellung des platonischen Philosophen Celsus ägyptische Magier in dieser Hinsicht Jesus in nichts nachstanden (Or. Cels. 1,68). Von Numa, dem legendären zweiten König Roms, wird erzählt, dass sich bei einem bescheidenen Gastmahl in seinem Haus die Tische aufgrund göttlichen Einwirkens plötzlich mit köstlichsten Speisen füllten (Plut. Num. 15,2 f.). Die magischen Papyri enthalten Instruktionen für die Rekrutierung eines Hilfsgeistes, der auf Befehl des Magiers Wein, Brot und andere Esswaren herbeischafft (PGM 1,103 f.). In alttestamentlichjüdischer Tradition gibt es dagegen eine Reihe von Speisevermehrungswundern, die unmittelbar mit Mk 6,30-44 vergleichbar sind. Ein motivgeschichtliches Vorbild für das Wunder Jesu ist die Manna- und Wachtelspeisung, durch die das Volk Israel während seiner Wüstenwanderung Nahrung in Fülle erhielt. Das Brotwunder des Elischa (2Kön 4,42-44) weist im Blick auf Aufbau und Handlungsablauf weitgehende Übereinstimmung mit dem neutestamentlichen Speisungsbericht auf. In der Elija-Elischa-Tradition begegnet zudem das Motiv einer wunderbaren Vermehrung von Mehl und Öl (1Kön 17,7-16; 2Kön 4,1-7). Von dem Charismatiker Chanina ben Dosa wird erzählt, wie er seiner Frau den leeren Backofen auf wunderbare Weise mit Brot füllte (bTaan 24b.25a). In der rabbinischen Tradition findet sich zudem die Legende, in der Zeit des Hohepriesters Simon des Gerechten habe im Tempel solcher Segen auf den beiden als Erstlingsgabe dargebotenen Broten und den Schaubroten gelegen, dass jeder Priester, der davon ein olivengroßes Stück aß, satt wurde und noch etwas übrig ließ (bJoma 39a). 297

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

In der Erzählung von der Speisung der 5000 klingt über diese Parallelen hinaus eine Fülle weiterer jüdischer Traditionen an (Schenke 1983, 94-111; Aus 2010, 74-115). In der Art und Weise, wie Jesus das Brot segnet und bricht, spiegelt sich der Eröffnungsritus jüdischer Mahlzeiten wieder (bBer 46a). Im Erbarmen Jesu (Mk 6,34) ist Gottes gütiges Erbarmen gegenüber seinem Volk (Jes 54,8) gegenwärtig. Bei der Charakterisierung der Menge als Schafe ohne Hirten handelt es sich um ein wörtliches Zitat aus Num 27,17. Das auch in Joh 10 verarbeitete Motiv von Jesus als dem Hirten aktualisiert die Erwartung des Messias als Hirte Israels (Ez 34,23-31; PsSal 17,40). Die Betonung des grünen Grases (Mk 6,39) deutet in Verbindung mit dem Hirtenmotiv auf eine christologische Rezeption von Psalm 23 hin. Die Anordnung der Mahlgemeinschaften in Abteilungen von 100 und von 50 Personen erinnert an die von Mose in der Wüstenzeit vorgenommene Lagerordnung der Israeliten (Ex 18,25), die in den Qumranschriften im Kontext von Endzeit und messianischem Mahl von Bedeutung ist (1QSa 1,14 f.; 1,27-2,1; 2,11-22). Mit dieser besonderen Gruppierung der an der wunderbaren Speisung beteiligten Personen wird die Menge als endzeitliches Gottesvolk charakterisiert, das Jesus als messianischer Hirte nährt und erhält, wie es Gott bei der Wüstenwanderung gegenüber Israel getan hat. Die Bereitstellung unermesslicher Mengen von Nahrung ist in apokalyptischen Traditionen des antiken Judentums charakteristisch für die Endzeit, von der man glaubte, sie werde in Analogie zur paradiesischen Urzeit alle Dinge im Überfluss bereithalten (Kollmann 1990, 204). Die Entstehung der Erzählung von der wunderbaren Speisung verdankt sich einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren. In alttestamentlich-jüdischer Tradition wurde das zukünftige Heil, unseren Vorstellungen vom Schlaraffenland vergleichbar, mit dem Bild üppigen Essens und Trinkens umschrieben (Jes 25,6). Jesus hat diese Zukunftshoffnungen in die Gegenwart hineingeholt, indem er die Gottesherrschaft nicht nur in den schillernden Farben eines großen Festmahls ausmalte (Lk 14,16-24), sondern auch deren Anbrechen durch seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern und Sündern zeichenhaft zum Ausdruck brachte. In dieser von Jesus erweckten und in tatsächlichen Mahlgemeinschaften umgesetzten Hoffnung auf eine im Anbruch begriffene neue Welt, in der materielle Nöte überwunden und alle Hungrigen satt werden, hat die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung ihre Wurzeln. Historischer Haftpunkt dürfte eine Mahlgemeinschaft Jesu am See Gennesaret sein. Bei der Ausgestaltung zum Wunder hat dann das Beispiel des Elischa, der 100 Personen mit 20 Broten satt werden ließ (2Kön 4,42-44), eine strukturbildende Vorbildfunktion ausgeübt. Jesus wird als Wunderprophet und endzeitlicher Heilsbringer proklamiert, der die Tat des Elischa bei weitem überbietet, indem er mit weitaus geringeren Speisemengen eine ungleich größere Anzahl von Menschen zu sättigen vermag. Die von der Erzählung widergespiegelte Sehnsucht nach unbegrenzten Mengen von Brot und Fisch ist auch vor dem Hintergrund konkreter Hungersnöte zu sehen, wie sie beispielsweise für die vierziger Jahre des 1. Jh. bezeugt sind (Apg 11,28; Flav. Jos. Ant. 20,51.101; vgl. Aus 2010, 1 f.).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Erzählung von der Speisung der 5000 eröffnet eine Vielzahl von Interpretationshorizonten. Markus als erster uns bekannter Interpret der Geschichte stellt die Brotvermeh298

Brot und Fisch bis zum Abwinken Mk 6,30-44

rung in den Kontext des Jüngerunverständnisses (6,52; 8,14-21) und weist das Wunder damit in seine Schranken. Noch weniger als die Dämonenaustreibungen und Heilungen vermögen die Naturwunder klare christologische Erkenntnis zu vermitteln, wie sie sich erst vom Ende der Geschichte Jesu her erschließt. Zudem wird durch die kompositorische Anordnung der Speisungsgeschichten 6,30-44 und 8,1-10 im topographischen Rahmen des Markusevangeliums ein weiterer wichtiger Aspekt deutlich. Markus gibt seinem Lesepublikum mit den beiden Brotvermehrungen einen versteckten Hinweis auf den Ablauf der Missionsgeschichte, indem die in Galiläa spielende Speisung der 5000 die Zuwendung Jesu gegenüber Israel versinnbildlicht und die am Ostufer des Sees Gennesaret in der Dekapolis angesiedelte Speisung der 4000 auf die Heidenmission anspielt (vgl. Pesch 1984a, 356). In der neueren Geschichte der Wunderhermeneutik konkurrieren rationalistische, kerygmatische, eucharistische, sozialgeschichtliche und tiefenpsychologische Deutungsmuster von Mk 6,30-44. Der Rationalismus suchte ab dem Ende des 18. Jh. der vernunftbetonten philosophischen Wunderkritik Rechnung zu tragen, indem er den Speisungsbericht so interpretierte, dass er nicht in Widerspruch zur Naturgesetzlichkeit geriet. Er beruhe auf Tatsachen und habe nichts der Vernunft Widersprechendes an sich, soweit man nur die in der Bibel nicht genannten natürlichen Ursachen erkenne. Entweder rechnete man mit großen Mengen von Brot und Fisch, die in Höhlen deponiert waren und herumgereicht wurden, oder man ging davon aus, dass Jesus mit seinem Beispiel die Reichen zum Teilen ihrer mitgebrachten Speisevorräte mit den Armen animiert habe (vgl. Schweitzer 1984, 82.92). Auch in Gerd Theißens romanhaftem Werk »Der Schatten des Galiläers« werden im Dialog zwischen Andreas und Johanna rationalistische Deutungsmuster in den Raum gestellt. Wenn dank der finanziellen Unterstützung der Jesusbewegung durch reiche Frauen (Lk 8,3) plötzlich Essen im Überfluss vorhanden war, sei es den armen Leuten, die solche Mengen von Lebensmitteln nicht kannten, wie ein Wunder erschienen. Zudem hätten angesichts des Überflusses viele ihre Brotreserven ausgepackt und mit anderen geteilt, da sie keine Angst mehr zu haben brauchten, zu kurz zu kommen (Theißen 2007b, 167). Die kerygmatische Deutung des Speisungswunders wurde durch David Friedrich Strauß vorbereitet. Er erklärte die Wunder zu Mythen, die Jesus unter Rückgriff auf alttestamentliche Traditionen zum Erweis seiner Messianität zugeschrieben wurden. Die Entstehung von Mk 6,30-44 sah er durch biblische Vorbilder wie Ps 107,4-9 oder das Wachtel- und Mannawunder der Mosezeit, v. a. aber durch die Speisevermehrungswunder der Elija-Elischa-Tradition inspiriert (Strauß 1835/36, 217-219). Die Betrachtung der Wunder Jesu als ungeschichtliche Mythen, die als Produkt des urchristlichen Messiasglaubens nicht auf ihre Geschichtlichkeit befragt, sondern theologisch interpretiert werden wollen, war damit etabliert. Insbesondere in der Bultmann-Schule wurde das Speisungswunder kerygmatisch gedeutet. Es erzähle aus der Perspektive des Osterglaubens im übertragenen Sinn vom Hungerstillen und Sattwerden in der von Jesus als endzeitlichem Heilsbringer herbeigeführten neuen Welt Gottes. Brot und Fisch gelten vor diesem Hintergrund als »die das wahre Leben spendende Gottesspeise, die auch im Tod noch am Leben erhält, das faßbar und schmeckbar gewordene Wort des Erbarmers« (Schmithals 1979, 326). In eine ähnliche Richtung geht die eucharistische Deutung des Geschehens. Sie betrachtet Mk 6,30-44 als Kultlegende, die eine Rückprojektion der kirchlichen Mahlfeier 299

Die Wundererzählungen im Markusevangelium

in das Erdenleben Jesu biete, oder geht zumindest von einer späteren Übermalung des Speisungsberichts mit eucharistischen Motiven und kerygmatischen Sinnfüllungen aus, welche die Bedeutung des Abendmahls erschließen wollten (van Iersel 1964/65, 167-194; vgl. Heising 1966, 61-68). Der Speisungsbericht gilt in diesem Kontext als Glaubenszeugnis und lebendiges Bekenntnis der Gemeinde zu dem auferstandenen Christus, der auf wunderbare Weise in der Abendmahlsfeier präsent ist und geistliche Speise in Fülle gibt. Der sozialgeschichtliche Ansatz von Gerd Theißen betont dagegen, dass Wundererzählungen v. a. Hoffnungsgeschichten der kleinen Leute sind und nicht nur kerygmatisch »von oben« interpretiert werden wollen. Sie wirkten symbolisch der Not entgegen, ließen die Zuversicht den Sieg über die Resignation davontragen und spornten dazu an, im alltäglichen Leben die Negativität des Daseins auch durch praktische Handlungen zu überwinden. Indem sie Einspruch gegen die realen Verhältnisse erheben, auf die Überwindung von Not drängen und für eine alternative soziale Praxis werben, könnten Wundergeschichten Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung und Veränderung unserer Lebenswirklichkeit erschließen. Im Wunder zeigt sich demnach der Entwurf einer alternativen Lebenswelt, der nach Verwirklichung ruft. Dies gilt auch für Geschenkwunder wie die Speisung der 5000 (Theißen 1998, 114). Die Erzählung bringt die Sehnsucht nach genügend Lebensmitteln für alle Menschen zum Ausdruck und klagt ein, dass Hungernde satt werden müssen. Dies schließt handlungsorientierte Impulse für eine verantwortliche Gestaltung unserer Wirklichkeit mit ein. Die Speisung der 5000 ist ein Hoffnungsbild gegen die Verzweiflung und gleichzeitig ein Appell zur Bekämpfung des Hungers in der Welt. Schon in der liberalen Theologie des 19. Jh. wurde die Geschichte der Brotvermehrung als Aufforderung gelesen, den Be