Die Welt des Schweigens 3528200161

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Die Welt des Schweigens
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MAX*PICARD DIE

WELT

DES

SCHWEHIGENS

MAX PICARD Byte

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IM

EUGEN

KILGENS

RENTSCH

ERLENBACH-

VERLAG

ZURICH

Alle

Rechte

vorbehalten

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Printed

Copyright

in Switzerland

Buchdruckerei

Winterthur

1948

Rentsch

by Eugen

AG.,

Verlag

Winterthur

AG,

Erlenbach-Zirich

FUR ERNST

WIECHERT

AUG 9- 1971

LINGUA

FUNDAMENTUM

SANCTI

SILENTII

Inschrift eines Altars za Maria-Culm

(Aus Goethes Tagebiichern)

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EINLEITUNG

Das Schweigen besteht nicht nur darin, da der Mensch aufhért zu reden. Das Schweigen ist mehr als blo8 ein Verzicht auf das Wort, es ist mehr als blo ein Zustand, in den der Mensch sich versetzen kann, wenn es ihm paBbrt.

Wo das Wort aufhort, fangt zwar das Schweigen an. Aber es fangt nicht an, wei/ das Wort aufhért. Es wird nur dann deutlich. Das Schweigen ist ein Phanomen fiir sich. Es ist also nicht identisch mit der Aufhebung des Wortes, es ist nichts Reduziertes, es ist etwas Ganzes, etwas,

das durch sich selbst besteht, es ist zeugend wie das Wort und es formt den Menschen wie das Wort, nur nicht im

gleichen Mabe. Das Schweigen gehért zur Grundstruktur des Menschen. Der Leser soll jedoch durch dieses Buch nicht zu einer , Weltanschauung des Schweigens“ gebracht werden, er soll auch nicht dazu verleitet werden, das Wort gering za achten. Der Mensch ist durch das Wort erst Mensch, und nicht durch das Schweigen. Das Wort hat die Suprematie tiber das Schweigen. Aber das Wort verkiimmert, wenn es den Zusammen-

hang mit dem Schweigen verloren hat. Datum sei die Welt des Schweigens, die heute verdeckt ist, wieder deutlich gemacht, — nicht um des Schweigens willen, sondern um des Wortes willen.

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Man wundert sich vielleicht, daB man mit dem Wort

etwas aussagen kann iiber das Schweigen. Aber man wundert sich nur, wenn man das Schweigen als ein NichtSeiendes, als ein Nichts auffaBt. Das Schweigen ist jedoch ein Seiendes, eine Wirklichkeit, und das Wort vermag tiber jede Wirklichkeit auszusagen. Wort und Schweigen gehéren zueinander: das Wort wei vom Schweigen, wie das Schweigen vom Wott weil,

Io

DER

ASPEKT

DES

SCHWEIGENS

Das Schweigen ist nichts Negatives, es ist kein bloBes Nicht-Reden, es ist ein Positives, es ist eine volle Welt

fiir sich. Das Schweigen hat GréBe einfach dadurch, daB es da ist, es 2st und dadurch ist es gro, in seinem puren Dasein ist die GrdBe. Es gibt keinen Anfang vom Schweigen und auch kein Ende, es scheint noch aus jenen Zeiten zu stammen, da

alles noch ruhendes Sein war, es ist wie ungeschaffenes, immerwahrendes Sein. Wenn das Schweigen da ist, dann ist es, als habe es nie etwas anderes gegeben als es. Wo das Schweigen ist, da wird der Mensch vom Schweigen angeschaut ;es schaut den Menschen an, mehr

als der Mensch das Schweigen. Er priift das Schweigen nicht, aber das Schweigen priift thn. Man kann sich keine Welt vorstellen, in der nichts als das Wort ist, wohl aber eine Welt, in der nur das Schweigen ist. Das Schweigen hat alles in sich selbst, es wartet auf

nichts, es ist immer ganz da und fillt immer ganz den Raum aus, wo es erscheint.

Es entwickelt sich nicht, es nimmt nicht zu in der Zeit,

aber die Zeit nimmt zu im Schweigen. Hs ist, als sei die Zeit gesat worden ins Schweigen, als ginge sie in ihm Ifo

auf, das Schweigen ist wie der Boden, in dem die Zeit voll wird.

Das Schweigen ist nicht sichtbar und doch ist es deutlich da, es dehnt sich in alle Fernen und doch ist es nahe

bei einem, so nahe, daf man es spiirt wie den eigenen K6rper. Man kann es nicht greifen, aber man fihlt es unmittelbar wie einen Stoff, wie ein Gewebe. Es ist nicht mit dem Worte zu definieren, und doch ist es bestimmt und unverwechselbar.

Bei keinem anderen Phanomen als beim Schweigen sind Ferne und Nahe, Weite und GegenwéArtigkeit, Allumfassendes und Besonderes so sehr in einer Einheit beieinander. I

Das Schweigen ist heute das einzige Phanomen, das ,obne Nutzen“ ist. Es pat nicht in die Welt des Nutzens von heute, es ist nichts als dz, es scheint keinen anderen Zweck zu haben, man kann es nicht ausbeuten.

Alle andern groBen Phanomen sind von der Welt des Nutzens annektiert. Selbst der Raum zwischen Himmel und Erde ist nur noch wie ein heller Schacht, der dazu

dient, da die Flugzeuge durch ihn fahren. Das Wasser und das Feuer, die Elemente, sind hineingeholt in die Welt des Nutzens, sie werden nur bemerkt, insofern sie Teile dieser Welt des Nutzens sind, sie haben kein Dasein mehr fiir sich.

Das Schweigen aber steht auBerhalb der Welt des Nutzens, man kann nichts mit ihm anfangen, es kommt B het

im wahren Sinne des Wottes nichts heraus beim Schweigen, es ist , unproduktiv“, darum gilt es nicht. Und doch geht mehr Helfendes und Heilendes vom Schweigen aus als von allem, was nutzbar ist. Es, das Zwecklose, stellt sich neben das allzu Zweckhafte, plotzlich erscheint es neben ihm, es erschreckt dutch seine

Zwecklosigkeit, es unterbricht den Ablauf des allzu Zweckhaften. Es starkt das Unberiihrbare in den Dingen, es mildert den Schaden, den die Ausbeutung an den Dingen anrichtet, es macht die Dinge wieder ganz, in-

dem es sie von der Welt des zersplitternden Nutzens in die Welt des ganzen Daseins zuriicknimmt. Es gibt den Dingen von der heiligen Nutzlosigkeit, denn das ist das Schweigen selber: heilige Nutzlosigkeit.

Pi

Vor allem, dais man schone

Der Wildnis, géttlich gebaut Im teinen Gesetz.

(Holderlin)

Hier im Schweigen ist die /e/ige Wildnis, weil Wildnis und géttlicher Bau eines sind. Keine Bewegung gibt es hier, die durch das Gesetz geordnet werden mu: Dasein und Wirken sind beim Schweigen eins. Es ist, wie wenn bei einem Gestirn die ganze Bahn auf ein Mal in ein einziges Licht zusammengefaBt ware: so ist beim Schweigen Dasein und Wirken eines. 13

Das Schweigen gibt den Dingen, die in ihm sind, von der Macht seiner Seinshaftigkeit ab. Das Seinshafte der Dinge wird gestirkt im Schweigen. Das, was entwicklungshaft ist an den Dingen, ist im Schweigen wie nicht

vorhanden. Durch diese Macht des Seinshaften weist das Schweigen auf einen Zustand hin, wo iiberhaupt nur das Sein gilt: auf den géttlichen. Die Spur des Gottlichen in den Dingen wird durch den Zusammenhang mit der Welt des Schweigens bewahtt.

DAS

URPHANOMEN

DES

SCHWEIGENS

Das Schweigen ist ein Urphanomen, das heiBt: es ist eine primate Gegebenheit, die sich auf nichts zurtickfihren lat. Es ist durch nichts anderes ersetzbar, es

kann mit nichts vertauscht werden, es gibt nichts hinter ihm, auf das man es beziehen kann als den Schépfer selber. Das Schweigen ist urtiimlich und zugleich selbstverstandlich da wie die andern Urphinomene, wie die Liebe, wie die Treue, wie der Tod, wie das Leben selbst.

Es ist schon vor diesen allen dagewesen, und in ihnen allen ist Schweigen darin. Aber das Schweigen ist das Erstgeborene der Urphanomene. Es umhiillt die anderen Urphanomene, die Liebe, die Treue, den Tod, und

es ist mehr Schweigen in ihnen als AuBerung, es ist in der Liebe, in der Treue, im Tod mehr Schweigen, als

Liebe, Treue und Tod iiberhaupt sichtbar werden. Es ist auch mehr Schweigen in einem Menschen, als er in seinem Leben verbrauchen kann. Das macht jede AuBerung des Menschen geheimnisvoll. Das Schweigen in einem Menschen reicht tiber sein Leben hinaus. In diesem Schweigen ist der Mensch mit den vergangenenund mit den kiinftigen Generationen verbunden.

Vor den Urphanomenen sind wit wie wieder an den Anfang gestellt, wir haben die ,,bloB abgeleiteten Phanomene“‘, (Goethe) mit denen wir sonst leben, verlassen, es ist wie ein Tod, wir sind allein gelassen, einem neuen T}

Anfang gegentiber, den wir nicht kennen, — daher haben wir Angst: ,,Vor den Urphanomenen, wenn sie unseren Sinnen enthiillt erscheinen, fiihlen wir eine Art Scheu,

bis zur Angst“ (Goethe). Im Schweigen steht der Mensch also wieder vor dem Uranfanglichen, alles kann noch einmal von vorne anfangen, alles kann wieder neu geschaffen werden. In jedem Augenblick kann der Mensch dutch das Schweigen beim Uranfanglichen sein. Verbunden mit dem Schweigen nimmt der Menschnicht nur teil am Urhaften des Schweigens, sondern an allem Urhaften. Das Schweigen ist das einzige Urphanomen, das immer fiir den Menschen bereit ist. Kein anderes Urphanomen ist so sehr in jedem Augenblick gegenwartig wie das Schweigen. Die Sexualitét ist das andere Urphaénomen, das der Mensch zu jeder Zeit zur Verftigung hat. Da das Urphanomen des Schweigens heute vernichtet ist, so halt sich der Mensch allzusehr an das Urphanomen der Sexualitat, und er merkt nicht, daB die Sexualitat jedes Ma verliert und falsch wird, wenn sie nicht in der Reihe

der anderen Urphanomene geborgen und in Ordnung gehalten ist. Das Schweigen ragt wie etwas Urzeithaftes in den Larm der Welt von heute hinein. Nicht wie ein Totes,

sondern wie ein lebendes Urtier lagert es da. Noch sieht man den breiten Riicken des Schweigens, aber immer

tiefer versinkt das ganze Urtier im allgemeinen Gestriipp des Larmes von heute. Es ist, als versinke das Urtier allmahlich in der Tiefe seines eigenen Schweigens. Trotz16

dem erscheint manchmal aller Latrm von heute nur wie Insektengesumm auf dem breiten Riicken des Urtiers, des Schweigens.

2

Picard,

Schweigen

17

DIE

ENTSTEHUNG AUS

DEM

DES

WORTES

SCHWEIGEN

Das Wort kam aus dem Schweigen, aus der Fiille des Schweigens. Die Fiille ware durch sich selbst gesprengt worden, wenn sie nicht hatte indasWortabflieBen k6nnen.

Das Wort, das aus dem Schweigen entsteht, ist wie durch einen Auftrag da, es ist durch das Schweigen, das ihm voranging, legitimiert. Wohl ist es der Geist, der

dem Wort die Legitimation gibt, aber das Schweigen, das dem Worte vorausging, ist das Zeichen, daB der Geist hier schépferisch wirkt: er holt aus dem trachtigen Schweigen das Wott. Noch immer, wenn ein Mensch anfanet zu sprechen, entsteht das Wort wieder aus dem Schweigen. So selbstversténdlich entsteht das Wort aus dem

Schweigen und so unauffallig, als ob es nur das umgekehrte Schweigen ware, der Revers des Schweigens. Und das ist auch das Wort: die Riickseite des Schweigens,

wie das Schweigen die Riickseite des Wottes ist. In jedem Wott ist etwas Schweigendes, als ein Zeichen davon, woher das Wort kam, — in jedem Schweigen ist auch etwas Redendes, als ein Zeichen davon, daB

aus dem Schweigen die Rede entsteht. Das Wort hangt also wesentlich mit dem Schweigen zusammen. 18

Erst wenn ein Mensch zu einem anderen redet, erfahrt dieser, daB das Wort nicht mehr dem Schweigen,

sondern dem Menschen gehért; durch das Du des anderen Menschen erfahrt er es, durch das Du erst gehort das Wort ganz dem Menschen und nicht mehr dem Schweigen. Wenn aber zwei Menschen miteinander reden, so ist

immer ein Dritter dabei: Das Schweigen, es hért zu. Das macht ein Gespriach weit, daf die Worte sich nicht im

engen Raume der Redenden bewegen, sondern daB sie von weither kommen, dorther, wo das Schweigen zuh6rt, — dadurch werden sie voller. Aber nicht nur das:

die Worte sind wie vom Schweigen her geredet, von jenem Dritten her, es wird dem Zuhdrenden mehr gegeben, als vom Redenden selber kommen kann. Der dritte Redende in einem solchen Gesprich also ist das Schweigen. Am Schlusse der platonischen Dialoge ist es jedesmal, als ob das Schweigen selbst redet, — die Men-

schen, die geredet haben, sind Zuh6rer des Schweigens geworden. i

Im Anfang der Schépfung, wird uns erzahlt, redete Gott selbst mit dem Menschen. Es war, als ob der

Mensch noch nicht recht wagte, das Wort zu reden, er getraute sich noch nicht recht, das Wort zu haben, es wat, als ob Gott, indem er mit dem Menschen redete,

ihn an das Wort gew6hnen wollte. , Vergegenwartigen wir uns die Schénheit, Machtund

19

Manniegfaltigkeit der Sprache, wie sie sich tiber den ganzen Boden der Erde erstreckt, so etscheint in ihr etwas

fast Ubermenschliches, kaum vom Menschen selbst Ausgegangenes, vielmehr unter dessen Handen hie und da Verderbtes und in seiner Vollkommenheit Angetastetes“ (Jakob Grimm). Undurchdringbar bleibt der Ursprung der Sprache, wie jedes Geschépfes, weil der Ursprung aus der vollkommenen Liebe des Schépfers kam. Nur wenn der Mensch andauernd in der vollstandigen Liebe lebte, kénnte er den Ursprung der Sprache und des Geschdpflichen erfahren. Ill

Am Unbestimmten, weithin Schweifenden, Vorwelt-

lichen des Schweigens entspringt das deutliche, umgrenzte, ganz und gar gegenwirtige Wort. In tausend unnennbaren Gestalten zeigt sich das Schweigen, im lautlosen Aufgehen des Morgens, im lautlosen Hinhalten der Baume an den Himmel, im wie

im Verstohlenen sich abspielenden Niedertauchen der Nacht, im schweigenden Wechsel der Jahreszeiten, im Fallen des Mondlichts, das wie Regen des Schweigens in die Nacht hinabrieselt, vor allem aber im Schweigen des Innern, — ohne Namen

sind diese Gestalten

des

Schweigens: um so deutlicher und sicherer wird das Wort, das aus diesem Namenlosen als Gegensatz entspringt. Keine gréBere Naturwelt gibt es, als die Naturwelt 20

des Schweigens; keine gréBere Geisteswelt gibt'es, als die Geisteswelt der Sprache, die sich an det Naturwelt des Schweigens formt. Das Schweigen steht als eine Welt da, am Welthaften des Schweigens lernt das Wort, sich selbst als eine Welt zu formen: Welt des Schweigens und Welt des Wortes stehen einander gegeniiber. Das Wort ist also entgegengesetzt dem Schweigen, aber nicht in Feindschaft entgegengesetzt, — es ist nur die andere Seite des Schweigens. Man hért durch das Wort das Schweigen hindurch, das rechte Wort ist nichts anderes als die Resonanz des Schweigens.

IV

Der Ton der Musik ist nicht wie der Ton des Wottes dem Schweigen entgegengesetzt, er ist dem Schweigen parallel. Es ist, als fiihren die Téne hin tiber das Schweigen,

als wtitden sie geschoben vom Schweigen auf seiner Flache. Musik ist Schweigen, das, traumend, anfangt zu ténen. Nie ist das Schweigen mehr hérbar, als wenn der letzte Ton der Musik vergangen ist. Die Musik ist weithinschweifend, und sie kénnte auf

ein Mal den ganzen Raum besetzen, aber das geschieht nicht, sie nimmt den Raum langsam ein, scheu, in Rhythmen, immer kommt sie wieder auf die gleichen Melodien zuriick, daf es ist, als hatten die TGne sich gar nicht 21

fortbewegt, und so vermag es zu scheinen, als sei sie iiberall und doch zugleich an einem begrenzten Ort, und eben dies: da auf die sanfteste Weise die Weite und die Nahe des Raumes, und das Begrenzte, beieinander sind, Seele eine Wohltat: sie kann weithin Musik und wird doch tiberall behiitet

durch die Musik das Grenzenlose eben dies ist der schweifen in der und sicher wieder

heimgebracht. Das ist auch der Grund, weshalb die Musik beruhigend wirkt auf Nervése: die Musik bringt der Seele eine Weite, in der sie, die Seele, ohne Angst sein kann. Vv

Die Sprache ist also Welt, kein bloBes Anhangsel einer Welt, sie hat eine Fiille, die hinausgeht tiber alles Zweckhafte: es ist mehr in ihr, als fiir die bloBe Verstandigung

notwendig ware. Die Sprache gehort zwar dem Menschen, aber sie gehért auch sich selbst an, es ist mehr Schmerz und Freude und Trauet in ihr, als der Mensch daraus fiir sich holen kann, es ist, als hatte die Sprache fiir sich selbst, unabhangig vom Menschen, auch noch Schmerz, Trauer,

Preude und Jubel. Die Sprache dichtet auch manchmal wie von selbst und wie fiir sich selbst, sie dichtet, zum Beispiel: ,,der

Sommervogel“,

der durch den Sommer der Sprache

fliegt, aber siehe, seine Fligel tragen ihn auch durch den

Winter hin zu den ,,Eisblumen“ am Fenster, die die Sprache hat wachsen lassen fiir ihn im tddlichen Winter, age

und sie tragen ihn hin noch zum

,,Maienblust“, der

bliht, als ob es keinen Winter der Sprache gibe.

VI

Das Schweigen kann sein ohne das Wort, jedoch nicht das Wort ohne das Schweigen. Das Wort ware ohne Tiefe, wenn ihm der Hintergrund des Schweigens fehlte. Trotzdem ist das Schweigen nicht mehr als das Wort,

im Gegenteil: das Schweigen fiir sich allein, die Welt des Schweigens ohne das Wort, ist nur ein Vorschdpfungshaftes, sie ist Schopfung, die nicht fertig ist, drohende Schdpfung sogar. Erst dadurch, daB das Wort aus dem Schweigen entsteht, kommt das Schweigen aus

der Vor-Schépfung in die Schdpfung, aus dem Geschichtslosen in die Geschichte des Menschen, in seine

Nahe, es wird Teil des Menschen und rechtmabiger Teil des Wortes. Aber darum vor allem ist das Wort mehr als das Schweigen, weil nur im Wort die Wahrheit Gestalt wird. Der Mensch also wird erst durch das Wort. ,,Ist es

Zufall, daB die Griechen das Wesen des Menschen bestimmt haben als Gov Adyov eywv? Die spatere Aus-

legung dieser Definition des Menschen im Sinne von animal rationale, verniinftiges Lebewesen, ist zwar nicht falsch, aber sie verdeckt den phanomenalen Boden, dem

diese Definition des Daseins entnommen ist. Der Mensch zeigt sich als Seiendes, das redet“ (Heidegger).

Das Schweigen bekommt

seine Erfiillung erst da23

durch, daB das Wort aus ihm entsteht, es bekommt erst

durch das Wort Sinn und Wiirde. Das Schweigen wird durch das Wort aus einem Wilden, Vormenschlichen, zu einem Gezihmten, Menschlichen.

Der physiognomische Aspekt der Sprache ist so: sie ist wie Lavablécke, aus der Flache des Schweigens hervorgebrochen, zerstreut auf ihr herumliegend und durch die Flache des Schweigens verbunden. Und wie die Masse des Meeres gréfer ist als die Masse des Festlandes, so ist auch die Masse des Schweigens

grdBer als die Masse der Sprache, — aber wie trotzdem das Festland mehr Daseinsmacht hat als das Meer, seien-

der ist als es, so ist auch die Sprache michtiger als das Schweigen, sie hat eine gréfere Seinsintensitat.

Mil

Das Schweigen ist ganz und gar eingewirkt in das Wesen des Menschen. Aber immer ist es nur die Basis, iiber der das Héhere erscheint:

Im Geiste des Menschen stellt sich das Schweigen dar als das Wissen um den Deus absconditus, den verborgenen Gott. In der Seele des Menschen ist das Schweigen da als die stumme Harmonie mit den Dingen und auch als die hoérbare Harmonie, als die Musik.

Im Koérper des Menschen zeigt sich das Schweigen als die Schénheit.

24

Aber wie die Schénheit mehr ist als die bloBe Materie des KGrpers, und die Musik mehr ist als die bloBe Un-

hérbarkeit der Seele, und der geoffenbarte Gott mehr als der Deus absconditus, so ist das Wort mehr als das

Schweigen. VUl

Niemals ware der Mensch selbst imstande gewesen, aus dem Schweigen das Wort zu schaffen. Das Wott ist so sehr etwas ganz und gar anderes als das Schweigen, dafi niemals der Mensch selbst den Sprung vom Schweigen ins Wort hatte machen kénnen. Und dies: daB zwei einander entgegengesetzte Phainomene, wie das Schweigen und das Wort, so miteinander verbunden sind, als geh6rten sie zueinander, auch dies kann niemals durch den Menschen, sondern nur durch

einen géttlichen Akt geschaffen worden sein. Wort und Schweigen nebeneinander, — das ist eine Spur jenes gott-

lichen Zustandes, in dem Wort und Schweigen eines sind. Es konnte gar nicht anders sein, als daB aus dem Schweigen das Wort wurde. Denn, indem das géttliche Wort selbst, indem Christus aus Gott, dem ,,verwehenden Schweigen“, zu den Menschen herab kam, war tibet

alle Zeiten hinweg die Verwandlung des Schweigens ins Wort vorgezeichnet. Das Wort, das vor zweitausend Jahren erschien, war schon seit dem Anfang der Zeiten unterwegs zu den Menschen und machte datum von 25

allem Anfang an einen Rif vom Schweigen ins Wort. So ungeheuer wart das Ereignis vor zweitausend Jahren, daB alles Schweigen von jeher aufgerissen war vom Wort. Das Schweigen zitterte im voraus und brach auseinander.

26

SCHWEIGEN,

WORT

UND

WAHRHEIT

.

Das Wort ist mehr als das Schweigen, und zwar datum, weil in thm die Wahrheit sich kundgibt. Im Schweigen ist auch Wahrheit, aber es ist nicht charakteristisch fiir das Schweigen wie fiir das Wort, da die Wahrheit in ihm ist. Im Schweigen ist die Wahrheit nur insofern, als es teilnimmt an der Wahrheit, die in der Ordnung des Seins tiberhaupt ist. Im Schweigen ist die Wahrheit passiv, sie schlaft in ihm, im Wort aber ist die Wahrheit wach,

in ihm wird tiber Wahrheit und Liige aktiv entschieden. An sich, per naturam, ist das Wort nur kurz, es ist nur wie ein Rif im Schweigen. Dauer bekommt es erst dutch die Wahrheit, durch die Wahrheit wird es eine Welt fiir sich, und weil durch die Wahrheit die Dauer ins Wort kommt, vergeht das Wort nicht. Das Schweigen, aus dem das Wort kam, verwandelt sich nun in das Geheimnis, das um die Wahrheit ist.

Ohne die Wahrheit ware das Wort nur ein allgemeiner Wortnebel tiber dem Schweigen, ohne sie wiirde es in ein undeutliches Gemurmel zusammenfallen, erst die

Wahrheit macht das Wort deutlich, fest. Die Linie, die das Wahtre vom Falschen trennt, ist der Halt, an dem sich das Wort fest macht. Die Wahrheit ist das Geriist,

an dem sich das Wort sichert. Dutch die Wahrheit wird das Wort selbstindig gegeniiber dem Schweigen, es witd eine Welt, wie wir schon gesagt haben, und das Wort

27

hat nun nicht nur eine Welt hinter sich, die des Schweigens, sondern auch eine bei sich, die der Wahrheit.

Der Zusammenhang mit dem Schweigen ist jedoch fiir das Wort der Wahrheit notwendig, denn ohne diesen Zusammenhang stiinde die Wahrheit tiberscharf da, hart. Es wate dann, als ob es nur eine eamze/ne Wahrheit

gabe, das Uberscharfe der einzelnen Wahrheit wiirde den Eindruck hervorrufen, als solle der Zusammenhang,

das System der Wahrheit, verneint werden. Wesentlich fiir die Wahrheit ist aber, daB sie nicht wie etwas Einzel-

nes dasteht, sondern in einem System zusammenhanet. Die Nahe des Schweigens bedeutet auch die Nahe der Verzeihung und der Liebe, denn die naturhafte Basis fiir die Verzeihung und die Liebe ist das Schweigen. Es ist wichtig, daB diese naturhafte Basis da ist, dann brauchen

die Verzeihung und die Liebe sich nicht erst das Mittel za schaffen, in dem sie erscheinen.

II

»Ls gibt keine Wahrheit“, sprach der eine, — der andere: ,,doch, du maBest es dir ja selbst als eine Wahrheit

an, dal} es keine Wahrheit gibt“.

Die logische Macht, die sich hier in einem Satze zeigt, ist ein Zeichen dafiir, da durch die Logik, die von vornherein in der Sprache ist, die Wahrheit sich von

selbst in ihr kundgibt. Durch ihre Struktur schon bringt die Sprache

dem

Menschen

die Wahrheit,

dadurch

schon drangt die Wahrheit zum Menschen hin, durch 28

die Struktur der Sprache ist dem Menschen die Wahtheit vorgegeben. Auch dies ist ein Zeichen dafiir, daB der Mensch die Sprache nicht durch sich selbst gewann, sondern daf

sie ihm gegeben wurde dutch ein Wesen, das die Wahrheit selbst ist.

Die Sprache entspricht also ihrer Struktur nach der Wahrheit, die in ihr erscheint. Darum dringt alles ins Wort, weil es im Wort Erfillung findet, Erhéhung durch die Wahrheit. Es besteht ein Gefialle vom Schweigen zum Wort hin, zu seiner Wahrheit, und die Macht

dieses Gefalles drangt die Wahrheit weiter aus dem Wort in die Tat der Welt. Die Wahrheit ist als eine objektive Gegebenheit in der

Logik der Sprache darin, und diese objektive Gegebenheit weist den Menschen auf etwas hin, das auBerhalb seiner

Person ist, auf das Objektive tiberhaupt. Der Mensch, indem er spricht, wird erinnert an die Gewifheit einer objektiv gegebenen Wahrheit. Durch dieses Objektive, das in der Sprache ist, ist mehr in ihr, als der Einzelne, als das Subjekt, daraus entnehmen kann, mehr als der Einzelne braucht, es ist so viel darin, daB es bis ans Ende der Tage aller Menschen reicht und dariiber hinaus. Wegen dieses Objektiven ist in der Sprache oft mehr ausgedriickt, als der Mensch in ihr aussagen will, und

der Mensch erfahrt darum durch die Sprache oft mehr, als er durch seine eigenen Gedanken in sie hineintut. Der Mensch wird also auch darum erhdht durch die Sprache, weil sie mehr ist als er selbst.

=?

Es gehort zum Wesen des Menschen, da er nicht im. stande ist, die Wahrheit ganz und gar in das Wort hineinzugeben. Er fillt den Raum des Wortes, der nicht ganz mit der Wahrheit angefiillt ist, mit der Traurigkeit aus. Die Traurigkeit kann ein Wort dann bis zum Schweigen hin dehnen, in dem es versinken will. Nur Christus vermochte das Wort ganz und gar mit der Wahrheit anzufillen, daher sind seine Worte unmelancholisch, der Raum des Wortes ist mit nichts ande-

rem als mit der Wahrheit ausgefillt, es hat keine Melancholie mehr in ihm Platz.

Ill

Ein chen, Glanz Det

Glanz ist um die Wahrheit. Der Glanz ist ein Zeidafi sie sich ausdehnen will, tiberallhin, — aller will sich ausdehnen. Glanz um die Wahrheit, das ist die Sch6nheit. Auf

diese Weise vermag die Wahrheit weithin zu dringen, der Glanz der Schénheit bereitet der Wahrheit den Weg, unauffallic, sie ist der Schrittmacher der Wahrheit, sie besetzt schon im voraus alles fiir die Wahrheit: die

Wahrheit ist schon tiberall da, in partibus infidelium. Die Schénheit ist auch im Schweigen, sie ist primar im Schweigen. Das Schweigen wiirde zuriicksinken vor Schwere, in seiner eigenen Dunkelheit versinken, abwarts, dem Abgrund zu, und vieles, was in die Helligkeit der Erde geh6rt, mit sich hinunterreiBen, wenn die Schénheit nicht auch beim Schweigen wire: die Schén20

heit macht das Schweigen locker, schwebend, so dai es auch ein Teil wird der Helligkeit der Erde. Die Schénheit nimmt dem Schweigen das Chthonische, sie bringt

das Schweigen hinauf ins Licht der Erde, zum Menschen. Der Glanz der Schénheit, der auf dem Schweigen liegt, ist der Vorglanz jenes Glanzes, der bei dem Worte der Wahrheit ist. Beim Gottmenschen ist Wort, Wahrheit und Glanz eine Einheit. Hier gibt es kein Hintereinander, nicht einmal ein Beieinander, sondern die vollkommene Einheit. Und in dieser Einheit ist auch alles Geschehen beieinander, der Anfang des Menschen, seine Siinde und seine Erlosung.

DAS

SCHWEIGEN

BEIM

WORT

Das Wort und das Schweigen gehéren zueinander. Das Wort ohne das Schweigen zu sehen, das ist, wie die

Narren Shakespeares ohne die Schwere der Shakespearschen Helden zu sehen, oder wie das Martyrium der Heiligen auf den mittelalterlichen Bildern ohne ihre Verklarung. Wort und Schweigen, Held und Narr, Martyrium und Verklarung, — das ist eine Einheit. Das Wort mu im Zusammenhang bleiben mit dem Schweigen, aus dem es sich erhob. Es gehért zum menschlichen Wesen, daB das Wort sich zuriickwende

zum Schweigen: es geh6rt zum menschlichen Wesen, sich zuttickzuwenden dorthin, woher man kam.

Das Wort des Menschen ist nicht nur durch die Wahrheit bestimmt, sondern auch durch die Giite: in Giite

wendet sich das Wort wieder zum Ursprung zuriick. Fs ist wichtig, daB das Wort durch die Giite mit dem Schweigen zusammenhanet, dadurch ist jedem Wort von vorneherein die Giite eingewirkt, das Wort hat dadurch in sich schon, in seiner Struktur, eine Neigune

zur Giite. In dem Wort, das mit dem gréBten Schweigen verbunden war, ist die gréBte Giite. Das Wort, das nur von einem anderen Wort herkommt,

ist hart und aggressiv. Ein solches Wort ist auch einsam, ein groBer Teil der Melancholie heute kommt daher, dali der Mensch das Wort einsam gemacht hat, indem er 32

es abtrennte VerstoRung Schuld zeigt Melancholie Schweigens.

vom Schweigen. Als eine Schuld ist diese des Schweigens im Menschen, und diese sich als Melancholie: der dunkle Rand det umgibt das Wort, nicht mehr der Rand des

Das Schweigen ist also beim Wort, auch nachdem das Wort aus ihm entstand. Die Welt des Wortes ist errichtet tiber der Welt des Schweigens. Das Wort hat nur dann die Sicherheit, sich weit in Satzen und Gedanken

zu bewegen, wenn unter ihm die Weite des Schweigens sich ausdehnt: an der Weite des Schweigens lernt es, selbst weit zu sein. Das Schweigen ist fiir das Wort wie ein Netz, das unter dem Seiltanzer gespannt ist. Der Geist, der im Wort ist und der unermeBlich ist, braucht unter sich die UnermeBlichkeit des Schweigens,

damit er tiber ihr die eigene UnermeBlichkeit wélben kann. Wohl vermag der Geist selbst, von sich aus, uner-

meBlich zu sein. Aber das Schweigen unter ihm hilft ihm, sich in der eigenen UnermeBlichkeit zu bewegen. Das Schweigen ist die naturhafte Basis fiir die Unermeflichkeit des Geistes. Das Schweigen ist iberhaupt die naturhafte Basis fur den Geist: das Unsagbare, das im Worte des Geistes ist, verbindet den Geist mit dem Schweigen, macht ihn

heimisch im Schweigen. Das Zusammensein mit dem Schweigen ist also not-

wendig fiir das Wort. Die durchsichtige, schwebende Art des Schweigens macht das Wort selbst durchsichtig 3 Picard, Schweigen

33

und schwebend, wie eine helle Wolke ist es iber dem

Schweigen, eine helle Wolke iiber dem See des Schweigens. Das Schweigen ist fir das Wort Natur, Erholung,

Wildnis. Das Wort frischt sich auf am Schweigen, es reinigt sich an ihm von dem Frevelhaften, das durch es entstand. Im Schweigen hilt die Sprache den Atem an und fillt sich wieder mit Urspriinglichkeit auf. Selbst wenn das Wort immer das gleiche ist, vermag es immer wieder als neu zu erscheinen, sobald es aus

dem Schweigen heraufkommt, — die Wahrheit, die immer mit dem gleichen Wort gesagt wird, erstarrt dadurch nicht. Auch der Geist vermag dem Worte Frisches, Jugendhaftes, Primares zu geben. Es gibt ein Frisches, Urspriingliches durch die Natur, durch die Verbindung mit dem naturhaften Schweigen, und es gibt ein anderes Frisches, Urspriingliches, das durch den Geist erzeugt witd. Das Vollkommene ist, wenn das Urspriingliche

des naturhaften Schweigens und das des Geistes in einem Menschen einander begegnen und sich verbinden, wie bei Dante und Goethe. »,Nun hast du hienieden geendigt, strenger, fester Geist, und in das letzte Abendgewitter auf deiner Brust quoll noch eine sanfte spielende Sonne und fiillte es mit Rosen und Gold. Die Erdkugel und alles Irdische, wor-

aus die fliichtigen Welten sich formen, war dir viel zu klein und leicht. Denn etwas Héheres als das Leben suchtest du hinter dem Leben, nicht dein Ich, keinen 34

Sterblichen,

nicht einen Unsterblichen,

sondern

den

Ewigen, den All-Ersten, den Gott — das hiesige Scheinen war dir so gleichgiltig, das Bose wie das Gute. Nun ruhst du im rechten Se‘z, der Tod hat vom

dunklen

Herzen die ganze schwiile Lebens-Wolke hinweggezo-

gen, und das ewige Licht steht unbedeckt, das du so lange suchtest; und du, sein Strahl, wohnst wieder im

Beuer. =(jean Paul,. Titan). Die Worte Jean Pauls sind wie runde Ballons, die unsichtbar von unten, vom Schweigen her, gelenkt werden, ja es ist, als ware alles, was in den Worten hier laut gesagt wird, schon vorher einmal im Schweigen gesche-

hen, das gibt den Worten das Sichere und Vertraute und Sublime. Traumwandlerisch macht das Wort jene Bewegungen nach, die vor ihm im Schweigen geschahen. Bei Goethe ist das Wort dem Schweigen gegeniiber bewuBter als bei Jean Paul. Der Sieg des Wortes tiber das Schweigen gilt vor allem, es ist kein Triumph darin, aber die schéne BewuBtheit, der Stolz des Menschen, der

weif, da er durch das Wort erst Mensch geworden ist, und der deshalb das Wort stolz fihrt.

II

Der Mensch lebt in der Mitte zwischen der Welt des Schweigens, aus der er kommt, und der Welt des anderen Schweigens, in die er geht, in die des Todes. Zwi-

schen diesen zwei Welten des Schweigens lebt auch das Wort des Menschen und wird von ihnen gehalten. Dar33

um hat das Wort ein doppeltes Echo: dorther, woher es kam, und dorther, wo der Tod ist.

Die Unschuld, die Naivitat, die Urspriinglichkeit erhalt das Wort vom Schweigen, aus dem es kommt, — die

geringe Dauer aber, das Verwehende, das Briichige und dies, daB das Wort niemals ganz der Sache entspricht, die es benennt, das kommt vom zweiten Schweigen her,

vom Tode. In der Sprache Jean Pauls sind die Spuren der beiden Welten des Schweigens deutlich: das Unschuldige, Urspriingliche, wud zugleich das fiir den Abschied Bereite, Verwehende. Heute ist das Wort fern von den beiden Welten des Schweigens, es entsteht aus dem Larm und verschwindet im Larm, das Schweigen ist heute keine Welt mehr fiir sich, es ist nur der Ort, in den hinein der Larm noch

nicht gedrungen ist, es ist nur eine Unterbrechung im Larm, die Larmapparatur funktioniert einen Augenblick nicht, — das ist das Schweigen heute: Larm, der

nicht funktioniert. Es gibt nicht mehr dies: hier das Wort und dort das Schweigen, sondern nur: hier Worte, die geredet werden, und dort solche, die noch nicht getedet wurden, aber die letzteren sind auch da, gegen-

wArtig, sie stehen herum, wie Werkzeuge, die nicht verwendet werden, drohend oder langweilig stehen sie da. Es fehlt in der Sprache auch das andere Schweigen, das vom Tode her, es fehlt der wirkliche Tod heute, der Tod ist heute keine Welt mehr fiir sich, er ist nur etwas 36

Negatives: das Aufhéren, das auRerste Ende von dem, was man Leben heiBt, — das ausgeleerte Leben, das ist

heute der Tod. Es ist der Tod, der selbst getdtet worden ist auf diese Weise. Fern ist der Tod von heute jenem Tode, von welchem folgender Satz gesprochen wurde: ,,Der Mensch stirbt nur einmal in seinem Leben, und da es ihm an Erfahrung gebricht, stirbt er verfehlt. Damit ihm das Sterben gelange, muf er es lernen, unter der Anleitung erfahrenerer Menschen zu sterben, die schon Sterbende waren. Diese

Erfahrung des Todes gibt die Askese“‘ (Florenskij). Wenn das Wort nicht mehr mit dem Schweigen verbunden ist, kann es sich nicht mehr regenerieren, es verliert von seiner Substanz. Wie von selber redend ist die Sprache heute, und, sich ausstreuend und sich entleetend, scheint sie auf ein Ende zuzueilen. Etwas Hartes,

Hartnackiges ist in der Sprache von heute, als ob sie sich anstrenge, daB sie trotz ihrer Leere doch bleibe, und etwas Verzweifeltes, als ob sie erwarte, dafi die Leere doch zum Ende fiihre, und dieser Wechsel von

Hartnackigkeit und Verzweiflung macht sie unruhig. Man hat die Sprache verwaisen lassen, indem man sie vom Schweigen wegnahm. Sie ist keine Muttersprache mehr, nur noch eine Waisensprache. Manchmal ist es wirklich, als schamte sich der Mensch der Sprache, die er von ihrer Herkunft getrennt hat: der Mensch getraut sich nicht mehr recht, das Wort zu einem anderen hinzubewegen, er redet mehr zu sich selbst, in sich hinein, als wolle er die Worte zerdriicken, vernichten, wegrauDi,

men, und die Worte, die nur noch Ruinen sind, hinab-

wetfen in die Leere des eigenen Innern. Nur in der Sprache des Dichters erscheint manchmal noch das wirkliche, mit dem Schweigen zusammenh4ngende Wort. Wie ein Revenant ist es: voller Trauer, dali es nut als ein Revenant da ist und daB es wieder verschwinden mu. Die Schénheit ist die dunkle Wolke, in

der ein solches Wott erscheint und wieder verschwindet.

Il

Das Wort versinkt wieder im Schweigen, es kann vergessen werden. Das Vergessen ist — so scheint es — auch darum beim Worte, damit das Wort nicht allzu heftig da sei; die Suprematie, die das Wort tiber das Schweigen hat,

wird dadurch gemildert. Das Versinken der Worte im Vergessen ist wie cin Zeichen, daf} einem die Dinge nur voriiberghend, auf Widerruf, gehéren.

Ein Wort versinkt im Schweigen, es wird vergessen: das Vergessen bereitet auch das Vergeben vor. Das ist ein Zeichen, dali die Liebe in die Struktur der Sprache eingewoben ist: das Wort versinkt im Vergessen des Menschen, damit er im Vergessen auch vergebe. Das Verschwinden eines Wortes, das Vergessen, bereitet auch auf den Tod vor: wie das Wort, durch das

der Mensch erst Mensch wird, verschwindet, so verschwindet, vergeht auch der Mensch selbst, — auch der

Tod ist eingewoben in die Struktur der Sprache. 38

Heute ist es, als sei das Vergessen dem Worte geraubt: jedes Wort ist im allgemeinen Wortgerausch (siehe Kap. Das Wortgerausch“), das um den Menschen ist, vor-

handen, das heiBt: alles taucht andauernd im allgemeinen Wortgerausch auf und verschwindet andauernd darin, es ist alles im allgemeinen Wortgerausch zugleich da und doch nicht da, es gibt keine Gegenwart des Wortes und auch kein Vergessen. Es wird hier nicht mehr vergessen unmittelbar durch den Menschen, sondern das Vergessen ist wie aujserhalb des Menschen verlegt, ins allgemeine Wortgerdusch. Das ist aber kein Vergessen, sondern nur ein Verschwinden im Wortgerausch, und darum gibt es hier auch kein Vergeben, denn das eben Verschwundene taucht immer wieder auf aus dem Wortgerdusch, man witd hier nie eine Sache oder ein Wort /os, wie man

auch nie eine Sache oder ein Wort /at, — daher die

Nervositat der Menschen von heute.

FV:

Wir haben gesagt, dai das Wort aus dem Schweigen komme und wieder zu ihm zuriickkehre. Es ist, als be-

fande sich hinter dem Schweigen das absolute Wort, zu dem hin, durch das Schweigen hindurch, das Wort des Menschen sich beweet. Es ist, als wiirde das menschliche Wort vom absoluten Wort gehalten. Weil es da ist, deshalb zerflattert das menschliche Wort nicht. Der Mensch miiBte sich das Wort immer von neuem erobern,

wenn es nicht im absoluten Wort gesichert ware. Alle oe

Worte des Menschen scheinen sich um jenes Wort herumzubewegen. Das Schweigen ist wie ein Besinnen auf jenes Wott. Die verschiedenen Sprachen sind wie verschiedene Vetsuche, das absolute Wort zu finden, es ist, als hatten sich die Worte verabredet, sich zu teilen in verschiedene

Sprachen, um von verschiedenen Seiten her zu versuchen, das absolute Wort zu erreichen: wie Expeditionen nach dem absoluten Wort erscheinen so die Sprachen. Gabe es nur eine einzige Sprache, so wiirde diese Sprache gegentiber dem Schweigen allzu triumphal dastehen. Die Sprache erschiene zu sehr als das Gewonnene, Eroberte, und das Schweigen zu sehr als das Besiegte, der Mensch konnte tibermiitig werden an diesem Eiinen, AuBerordentlichen, und er wurde auch tibermiitig, als er mit allen Menschen zusammen nur eine Sprache hatte: ,,Siehe, ein Volk sind sie und eine Sprache

sprechen sie. Das ist erst der Beginn ihres Tuns, fortan wird ihnen nichts unmédglich sein von allem, was sie planen“ (Genesis). Sobald aber viele Sprachen da sind, bezieht sich Sprache auf Sprache, keine ist die ausschlieBliche, jede ist eine unter vielen. Das AuBerordentliche ist nun nicht mehr, daB eine

einzige Sprache existiert, sondern dies: daB durch die Sprachen die Wahrheit vermittelt wird. /efxt gibt es eine neue Einheit der Sprachen, die dadurch entsteht, dafe durch alle

Sprachen die eine Wahrheit gesagt wird. 40

DER

MENSCH

ZWISCHEN UND

SCHWEIGEN

WORT

In dem Augenblick, bevor der Mensch redet, schwebt

das Wort noch tiber dem Schweigen, das es eben verlieB, es schwebt zwischen Schweigen und Wort. Das Wort ist noch im Ungewissen, wohin es sich wende: ob es wieder ganz zuriickkehre ins Schweigen, verschwinde in ihm, oder ob es sich deutlich entferne vom Schwei-

gen, indem es Laut wird. Die Freiheit des Menschen entscheidet, wohin das Wort sich begibt. Das gesprochene Wort ist, gegentiber dem Wort, das im Schweigen ist, nicht blo®B Mitteilung an einen anderen. Es ist qualitativ verschieden von ihm. Durch den Laut wird ein Wort nicht nur hervorgeholt aus dem Schweigen und anderen mitgeteilt, es wird auch hervor-

gehoben, vorangestellt den anderen Worten, die noch im Schweigen sind. Das gesprochene Wort isoliert einen Begriff mehr, als er im Schweigen isoliert ist, der Begriff ist in dem Augenblick, da er laut gesprochen wird, allein da, durch den Laut wird proklamiert, daB er, nur er,

jetzt gelten solle. Wohl ist auch ein Begriff, der im Schweigen ist, deutlich abgegrenzt von den anderen Begriffen, aber die Entscheidung, was gelten solle, ist noch nicht definitiv getroffen. Der Mensch riskiert sich selbst noch nicht, wenn er das Wort nur im Schweigen hat. Erst durch den Laut, oder wenn er das Wort schreibt, 4I

identifiziert sich der Mensch ganz und gar mit dem Wort. Das Wort, das im Schweigen ist, befindet sich in einer iiber das Sichtbare hinausgehenden Welt, — das eben ist

das Schweigen. Det Schimmer von Durchsichtigkeit, den das Wort hat, stammt vom Schimmer jener unsichtbaren Welt her, der auf das Wort fallt, wenn es schwei-

gend im Menschen ist.

I

Das Schweigen lést im Menschen die Traurigkeit aus, denn es erinnert ihn an den Zustand, wo der Fall in die

Siinde durch das Wort noch nicht geschehen war, das Schweigen macht den Menschen sehnsiichtig nach jenem Zustand vor dem Siindenfall, es macht ihn zugleich auch angstlich, denn im Schweigen ist es ihm, als konne jeden Augenblick wieder das Wort erscheinen und mit ihm der erste Fall in die Siinde nochmals geschehen. Darum betrachtet der Mensch den Dichter als einen Verwegenen, weil er, der Dichter, der mit nichts anderem als dem Worte umgeht, nicht daran zu denken scheint, daB aus dem Wort der Mensch in die Siinde fiel, aber er fiihlt

sich auch zum Dichter hingezogen, weil bei ihm das Wort noch urspriinglich ist, es erscheint ihm wie das etste Wort tiberhaupt, durch das er Mensch wurde, und

dadurch ist er begliickt. 42

iil

Schweigt der Mensch, so befindet er sich, zwar nicht

subjektiv, aber phanomenologisch in jenem Zustand, in dem der Schépfungsakt der Sprache bevorstand, das heiBt, wenn ein Mensch schweigt, so steht er vor einem

als das Bild des Menschen, der die Sprache erst erwattet. Im Schweigen hat der Mensch zwar das Wort, aber das Wort ist eher auf dem Wege, zu vergehen: der Mensch ist im Schweigen wie bereit, das Wort dem zuriickzugeben, von dem er es bekommen

hat, dem Schdpfer.

Darum ist etwas Heiliges fast in jedem Schweigen. Im Schweigen also steht der Mensch da wie einer, der daran ist, das Wort wieder zuriickzugeben, — aber im nachsten Augenblick, wenn er redet, ist er wie einer, der

das Wort eben aus dem Schweigen empfangen hat. Im Schweigen ist der Mensch wie nicht mehr da, aber mit dem ersten Wort entsteht er wieder. Betrachtet man einen Menschen, der nach einem langen Schweigen wieder anfanet zu reden, dann ist es, als sei der Mensch eben vot einem durch das Wort entstanden, von neuem wird

der Mensch durch das Wort bestatigt. Aus dem Schweigen also kommt, wie durch einen schdpferischen Akt, immer wieder das ganz und gar

Andere, das Wort. Der Akt des Schépferischen witd dadurch der Grundstruktur des Menschen einverleibt. Das Schépferische durchsetzt so den Menschen, es ist deshalb nicht das Besondere an ihm, sondern das Selbstvetstandliche, das, wodutch er Mensch ist, wie durch 43

das Wort, das Schépferische ist selbstverstandlich bei ihm, wie das Wott.

Hat aber das Wort den Zusammenhang mit dem Schweigen nicht mehr, so ist an jener Stelle, wo einst das Schweigen war, nun die Leere, der Abgrund. Die Worte verschwinden in dieser Leere, wie einst imSchwei-

gen, sie werden in diese Leere eingesogen, und eine ungeheuete Angst entsteht im Menschen, dali er aufhéren werde, Mensch zu sein, wenn das letzte Wort im Ab-

gtund der Leere verschwindet.

Ty,

Hier also, im Schweigen, lebt der Mensch in der Mitte zwischen seiner Vernichtung — da das Schweigen der Anfang davon sein kann, das Wort tiberhaupt zu verlieren—und seiner Auferstehung. Hier ist auch det Glaube zentriert: im Schweigen ist es, als sei der Mensch bereit, das Wort aufzugeben, durch

das der Mensch ward, und demjenigen es zuriickzugeben, von dem er es bekam, von Gott, glaubend, da das Wort

ihm neu gegeben werde. Hier in dieser Mitte vernichtete sich wohl Pascal, ehe et wieder auferstand als der Pascal des ,,Mémorial‘‘ und der ,,Pensées“*. Er war jetzt, nach der Vernichtung, wie ein Mensch, der zum ersten Male das Wort bekam.

Fragmentarisch nur konnte er reden, jeder Satz im ,,Mémorial“ und in den ,,Pensées“ ist wie ein erster Satz

tiberhaupt. Es ist, als ob er immer dort wieder beginnen

A4

wollte, wo er selber wirklich begonnen wurde, es ist, als

wolle er immer wieder jenes Ereignis wiederholen, sich nicht von ihm wegbegeben, durch das er wie zum ersten Male das Wort erhielt und durch das er neu entstand. Diese Fragmente sind keine Fragmente, sondern die Summe der Auferstehung des Menschen.

4)

DAS

DAMONISCHE UND

DAS

IM SCHWEIGEN WORT

I

Im Schweigen ist nicht nur das Heilende, Freundliche, sondern auch das Dunkle, Chthonische, Schreckliche, Feindliche, das, was aus dem Untergrund des Schweigens hervorbrechen kann, das Hadeshafte, Damonische. ,Das ewige Schweigen der unendlichen Weltraume ruft

in meiner Seele Schauder hervor“ (Pascal). Das Wort, das aus dem Schweigen entsteht, ist in der Gefahr, vom Verderblichen, Damonischen des Schwei-

gens beriihrt zu werden. Etwas Unterirdisches, Drohendes vermag jeden Augenblick im Wort zu erscheinen und das Freundliche, Besanftigende, das auch aus dem Schweigen ins Wort kommen will, wegzuschieben. Aber dieses Drohende, Damonische vermag nur dann

ins Wort hineinzudringen, es hat nur dann Raum im Wort, wenn das Wort nicht mit dem Geiste gefiillt ist. Denn der Geist im Wort hat die Kraft, das Damonische

zu bezwingen. Das Schweigen wird entschreckt, das Schreckliche wird gebannt durch das Wort, in welchem

der Geist, das heift die Wahrheit und die Ordnung, ist. Das Damonische des Schweigens witd gezihmt durch den Geist, und, so gezihmt, folet das Schweigen wie ein gehorsames, niitzliches Tier dem Worte nach, es hilft dem Worte, indem es dem Wort von dem Urtiimlichen

und Nahrenden gibt, das in ihm ist. Man redet also in einer Sprache, die durch den Geist 46

vom Damonischen befteit ist. Der Mensch ist teilweise schon geschiitzt, gerettet durch die Sprache, in welcher der Geist wirkt. Im Geist, der im Worte ist, halt sich eine Spur des

gottlichen Logos auf, — dadurch bekommt das Wort die Macht, sich das Damonische zu unterwerfen.

Hat das Wort den Zusammenhang mit dem Geist verloren, so ist es allem Damonischen

und also auch

dem Damonischen, das aus dem Untergrundhaften des Schweigens zu ihm kommen kann, ausgeliefert. Das Schweigen schweigt nun nicht mehr fiir das Wort, sondern nur fiir sich selbst, drohend ist es jetzt da gegen-

tiber dem Wort, und eine Angst kommt in den Menschen, da} das Schweigen ihm das Wort, sogar den Laut des Wortes, wegnehmen werde. Der Mensch beniitzt manchmal das Elementar-Damonische des Schweigens: Wenn der Untersuchungsrichter stundenlang dem Verbrecher schweigend gegentiber sitzt, wird die naturhaft-damonische Macht des Schwei-

gens so gtoB, dali der Wille des Angeklagten nicht mehr imstande ist, das Verborgene zu verschliefen, das ele-

mentar-damonische Schweigen sprengt die Verhiillung, die der Wille versucht hatte, zustande zu bringen.

I

Die Entstehung der Sprache ist wohl ,,ein prahistotischer Akt, von dem man nichts wissen kann“ (Sche-

47

ler), aber es ist ein prahistorischer Akt wie die Unterwerfung der Titanen und der vorolympischen Gétter: ohne den Sieg der olympischen Gétter hatte das Finstere, Unterirdische die Erde beherrscht; ohne den Sieg des Geistes, der im Worte ist, iiber das Damonische im

Schweigen, hatte das Schweigen alles in Besitz genommen und dimonisch verwiistet. Einst hatte das Schweigen alles besetzt, die Erde gehérte ihm, es war, als ob die Erde dem Schweigen auf-

gesetzt sei, sie war nur Rand des Schweigens. Da kam das Wort, das damonische Schweigen sank zusammen, aber es schien, als mtisse trotzdem Stiick fiir Stiick der

Erde dem Schweigen entrissen werden, wie aus dem Urwald Stiicke ausgerodet werden. Aus dem Urwald des Schweigens entstand durch den Geist, der im Worte ist,

der freundliche Boden des Schweigens, der das Wort traet und nahrt. In der Nacht aber wird das Elementare des Schweigens manchmal wieder ganz und gar michtig. Es ist dann, als ob ein Uberfall auf das Wort vorbereitet werde, der Wald, der dunkle, sieht aus wie ein Ort, an dem sich

das Schweigen zum Uberfall sammelt, die hellen Mauern der Hauser erscheinen wie Grabsteine des Wortes, — da etscheint ein Licht oben im Zimmer eines Hauses, und

nun ist es, als werde das Wort wie zum ersten Male gesprochen, und der ganze KoloB des Schweigens liegt jetzt da wie ein unterwiirfiges Tier, das auf seinen Herrn, das Wott, wartet.

48

i

In dem folgenden Gedicht von Matthias Claudius witd die Macht des Wottes tiber die Damonie der schweigenden Nacht deutlich:

Der Mond ist aufgegangen,

die goldenen Sternlein prangen am Himmel hell und klar; der Wald steht schwarz und schweiget,

und aus den Wiesen steiget der weisse Nebel wunderbar.

In diesem Gedicht ist das damonische Schweigen der Nacht bezwungen durch die Helligkeit des Wortes. Mond und Sterne, Wald, Wiesen und Nebel finden einander

im klaren Scheine des Wortes. So klar wird die Nacht im Scheine dieses Wortes,

dal Mond,

Sterne, Wald,

Wiesen und Nebel den Weg bis hin zum Tag finden, aus dessen Licht das Wort fiel. Das Schweigen ist nun nicht mehr dunkel, es ist durchsichtig gemacht vom Glanze des Wortes, der auf das Schweigen fallt. Durch das Wort hért das Schweigen auf, in der damonischen Isolierung zu sein, es wird seine, des Worttes, freundliche Schwester.

4

Picatd,

Schweigen

49

WORT

UND

GEBARDE

Es ist falsch, das Wort von der Gebiarde herzuleiten

(Condillac, Maine de Biran, Bergson). Die Gebarde geh6rt einer ganz und gar anderen Kategorie an als das Wort, sie ist nicht losgelést von den Affekten, durch die sie vetursacht witd, sie ist vermischt mit ihnen, ein Teil von ihnen, und sie driickt meistens ein Wo//en aus. Das

Wort hingegen driickt ein Sei aus, ein Ganzes, nicht bloB ein Willenshaftes, das nur ein Teil des Seins ist. Es ist mehr Seinshaftes im Wort als affekthafter Wille. Das

Wort ist sogar ein so ungemeines Sein, daB es selbst Sein schafft. Die Gebarde hingegen hat keinen Vorrat an

Sein, von dem sie anderen Phanomenen abgeben k6nnte, im Gegenteil, sie ist vorbeistreifend, huschend, nicht daseiend. Niemals hatte der Mensch von der Gebarde her stufenweise hin zum Wort gelangen kénnen, denn die Ge-

barde hat etwas Unerléstes, sie ist sogar das deutlich Un-

erldéste; nur durch einen besonderen schdpferischen Akt kann etwas Freies aus ihr entstehen. Wort und Gebirde

nebeneinander,

— der physiognomische

Aspekt zeigt

schon den Unterschied: das Wort ist klar, freiy souverin, sich iiber sich selbst erhebend, alles hinter sich zatticklassend, nur das Schweigen nicht, aus dem es kommt; die Gebirde hingegen ist unfrei, unerlést,

noch ganz und gar vermischt mit der Materie, mit der sie sich darzustellen

versucht,

sie ist innerhalb

der Materie gebunden an sie, nicht in Freiheit auf die 5O

Materie zugehend wie der Geist im Wort. ,,Die Ge-

barde hat die Dumpfheit der physiologischen und psychischen Reflexe, aus denen sie geboren ist und die sie wiederum auszulésen vermag (worauf eben ihre Verstandlichkeit beruht), sie hat nicht die Helligkeit des Wortes.“‘(Bauhofer). Wohl geht beim Kinde die Gebarde dem Wort voraus, — aber nicht das ist das We-

sentliche, sondern daB das Wort beim Kind tiberhaupt erscheint und so, als ob gar keine Gebirde vorausgegangen ware. Nicht darauf kommt es an, da beim Kind die Gebirde dem Wort vorausgeht, sondern darauf, daB

der schépferische Akt der Erlésung von der Gebirde sich bei jedem Kind noch einmal vollzieht. Die Sprache ist ganz und gar seinshaft, so sehr, daB

alles Genetische unwichtig ist, ja wie verschluckt erscheint von der Macht dieses Seinshaften. Selbst wenn die Sprache geworden ware, so kame dieses Werden

nicht in Betracht, es ware gar nicht da, es wate vom Seinshaften ganz aufgesogen. Das beobachtende Auge irgendeines geistigen Wesens, welches die Tierwelt allmahliches Entfalten und zu Form bemerkte, wiirde, lernte, den SchluB machen:

unserer Sichtbarkeit und ihr Vervollkommnen von Form ehe es den Menschen kennen die Stimme, welche am Vo-

gel so herrlich erténte, gehe beim Saugetier allmahlich dem Erléschen entgegen, und ein Wesen, das noch jenseits des Affen stiinde, mtisse ginzlich lautlos sein. Dies ist aber Gfters und fast immer die Weise der oberen

schaffenden Kraft, daB sie Segnungen und Wunder eines 51

hodheren Lebens da ausstreut und hervorkeimen laBt, wo das alte Leben verloschen und erstorben erschien, und

daf} sie ihre neuen Schdpfungen aus dem Toten hervortuft (Gili ay soemuibert): Die Sprache gehért zum menschlichen Sein selber, sie ist ein Teil von ihm, mit ihm verschmolzen. ,,Die Spra-

che muB, meiner vollsten Uberzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als bloBen sinnlichen AnlaB, sondern als artikulierten,

einen Begriff bezeichnenden Laut versteht, muB schon die Sprache ganz und im Zusammenhang in ihm liegen“ (W. v. Humboldt). Die Sprache kann nur von einem anderen Seienden hergeleitet werden, und zwar von einem Seienden, das

noch michtiger ist, als das Seiende der Sprache.

DIE

ALTEN

SPRACHEN

In den Fabeln vom goldenen Zeitalter wird erzahlt, daB die Menschen die Sprache aller Tiere, der Baume, Blumen

und Graser verstanden. Das ist wie eine Erinnerung daran, da in der ersten Sprache, die eben aus der Fille des Schweigens kam, selbst noch die Fiille war, die alles enthielt.

Diese Sprache, wie ein Vogel stieg sie auf von der Flache des Schweigens gegen die Wélbung des Himmels, — aber sie war Vogel und Himmel zugleich. Sie uberwdélbte alle Laute der Erde, alle Stimmen der

ganzen Natur kamen in ihr zusammen. Wie alles, was von der Erde hochsteigt, aufgenommen wird von der Wolbung des Himmels, so wurden alle Stimmen der Erde aufgenommen von dem einen Himmel der Sprache, jede Stimme ging in ihn ein und wurde ein Teil von ihm, und darum wurde jede Stimme in ihm verstanden. Er, dieser Himmel der Sprachen, war die Heimat aller Stimmen, alle kamen bei ihm zu sich selbst und zu den

anderen. Diese Sprache stand unmerklich da, trotz ihrer Machtigkeit, unmerklich wie das Schweigen selbst.

II

Die alten Sprachen sind radial gebaut, immer von einer Mitte aus beginnend — und diese Mitte ist das Schwei-

53

gen — und wieder zu ihr zuriickkehrend, immer von neuem ansetzend, von dieser Mitte aus, sie ist wie ein

Springbrunnen, dessen Strahlen in einem Bogen vom Zentrum ausgchen und, zu ihm zuriickkehrend, wieder

in ihm verschwinden. ,1n waseren Schriften scheint der Gedanke aus den Be-

wegungen eines Mannes zu entstehen, der geradewegs vorwa4rts schreitet. In den Schriften der A/en hingegen scheint er aus der eines Vogels zu entstehen, der schwebt und kreisend vorwarts kommt“ (Joubert). Eine Mischung von Scheu und Machtigkeit ist in der frithen Sprache: Scheu, weil sie eben erst aus dem Schweigen heraustrat, und Machtigkeit, weil sie sich

festmachen mufte, damit sie nicht wieder weggewischt werde, verschwinde. in Kocher voll stahlerner Pfeile, ein festgewunde-

ner Ankertau, eine eherne Posaune, deren wenige gellende Téne die Luft zerreiBen: das ist die hebraische Sprache ... sie kann nur wenig sagen, doch was sie sagt, ist wie das Schlagen der Hammer auf den Ambo‘ (Renan, Israel). Fast unveranderlich, wie ein Stiick der zyklopischen

Mauer, stehen die Worte da, als warteten sie darauf, daB sie

so, wie sie aus dem Schweigen hinausgeschickt wurden, wieder ins Schweigen zuriickgerufen werden k6nnten. Es ist, als ftihlte sich das Wort kontrolliert vom Schweigen her, als schaute es immer dorthin zuriick. Immer war es

auch méglich, dafi aus dem Schweigen ein anderes Wort kommen konnte, ein hdheres, eine Korrektur.

54

Fest also mufte sich die frithe Sprache machen: sie war statisch. Wie Pflécke sind die Worte, jeder PAlock

ist wie fiir sich da, fast ist kein Weg von einem Wort zam anderen hin. Die Architektur der Sprache ist vertikal. Senkrecht, saulenhaft senkt sich ein Wort nach dem anderen in den Satz herab. ,,In unseren alten Ge-

setzen lautet die Sprache meistenteils gewichtig und statk; weniger

abgebrochen,

kurz, als langsam,

mit

Nachdruck schleifend, ohne matt, schleppend zu wetden“ (Jacob Grimm). In der Sprache heute gilt nicht mehr das Da-Seiende, Statische, der Satz ist dynamisch geworden, rasch begibt sich ein Wort zum andern, rasch bewegt sich ein Satz zum anderen. Die Architektur der Sprache ist geandert, die vertikalen Sadulen sind umgelegt, die Hortzontale bestimmt den Satz. , Die aufrechten Saulen wiirden die Flucht aufhalten, wie eine Sperre wiirden sie dastehen, — jetzt liegt alles in der Waagrechten, in der Linie der Flucht.“ (,,Die Flucht vor Gott.“) Der Satz

also wird fliissig, dynamisch. Die Worte stofen sich heftig vorw4rts, die Sprache heute ist spitzig, aggressiv, und es ist meistenteils mehr Aggressivitat in der Sprache, schon in ihrer Form, als ihr Inhalt von sich aus aggressiv sein méchte. Die Sprache ist tiberwach, ein Wort kommt mehr vom vorangegangenen Wort her als vor Schweigen, und es geht mehr zum nachsten Wort hin als zum Schweigen.

55

Ill

Bei den alten Sprachen merkt man: die Entstehung des Wortes, — dieses, daB ein Wort aus dem Schweigen erschien, — war nicht etwas Selbstverstandliches, es war

ein Geschehnis, wenn ein Wort aus dem Schweigen kam: eine Pause entstand, ehe wieder ein neues Wort

kommen konnte. Die Worte unterbrachen sich immet wieder dutch das Schweigen: es ist, wie wenn ein Flu8 dadurch entstiinde, da er jeden Augenblick seine Wasset aus immer neuen Quellen, die seine Ufer umsaumen,

empfinge: so stré6mt in den FluB des Satzes nach jedem Wort eine neue Quelle des Schweigens hinein. In den alten Sprachen ist das Wort nur eine Unterbrechung des Schweigens. Jedes Wort ist an seinem Rande umgeben vom Schweigen. Dadurch ist es zuerst bei sich selbst und dann erst beim niachsten Wort, es

witd geformt, es bekommt Gestalt durch die Umgrenzung, die ihm das Schweigen gibt. Fehlt das Schweigen zwischen Wort und Wort, dann hért das Wort auf, plastisch zu sein, es ist gleichsam nicht mehr Person, nur

noch Masse. Rin Schweigen liegt, in den alten Sprachen, im Zwischenraum von zwei Worten. Die Sprache atmet Schweigen, sie tedet Schweigen, und sie redet das Schweigen hintiber zum groBen Schweigen, aus dem sie kam. »tm groBen Stil nimmt das Schweigen fir gew6hn-

lich einen bedeutenden Raum ein. Im Stil des Tacitus herrscht Schweigen. Der gemeine Zorn bricht aus, der

niedere schwatzt, aber es gibt eine Entriistung, die das 56

Bediirfnis hat zu schweigen, gewissermaken, um in Er-

wattung der Gerechtigkeit in der Zukunft den Dingen das Wort zu lassen‘‘ (Hello).

IV

Es ist wichtig, da in den Schulen die alten Sprachen gelehrt werden, weil an ihnen die Herkunft des Wortes aus dem Schweigen und die Macht des Schweigens tiber das Wort, die heilende Wirkung des Schweigens fiir das Wort, deutlich wird fiir unsere eigene Sprache. Hs ist auch wichtig, dafi der Mensch durch die alten Sprachen, die ,,ohne Nutzen“ sind, aus der Welt des

bloB Zweckhaften gelést wird. Der Mensch kann mit den alten Sprachen ,,nicht viel anfangen‘‘, dadutch kommt er mit etwas in Beritihrung, das tiber das blof Zweckhafte hinausgeht. Es ist auch wichtig, dai die Dialekte erhalten bleiben. Denn ein Mensch, der gewohnlich im Dialekt spricht, kann sich in der Schriftsprache nicht hemmungslos von Wort zu Wort bewegen, er mu immer wieder den Ansatz vom Dialekt aus machen, um in die Schriftsprache za gelangen, diese ist fiir ihn nicht etwas Selbstverstandliches, allzu Bereites.

Wenn

ein solcher Mensch

die

Schriftsprache spricht, so schleppt er wie einen Bremsklotz den Dialekt unter sich her. Die Worte sind weniget leicht manéverierbar. Det Mensch nimmt noch mehr selbst das Wort, als daB er von ihm genommen, mitgev1

nommen wird. Wie durch das Schweigen, das den Wottablauf unterbricht, das Wort davor bewahrt wird, Routine, Mechanismus zu werden, so witd in ahnlicher Weise, wenn auch weniger, das Wort durch den Dialekt

in seiner Unmittelbarkeit geschiitzt. Wahrscheinlich ist es tiberhaupt gegen das Wesen der Sprache und damit gegen das Wesen des Menschen, dali die verschiedenen Dialekte aufgelést werden in der einen Schriftsprache und da diese allzusehr sich ausdehnt. Bei allem, was mit dem Menschen zusammenhianet, be-

steht eine bestimmte Bezichung zwischen der Quantitat eines Phanomens und seiner Qualitat. Uber ein gewisses Ma hinaus kann sich ein menschliches Phanomen nicht ausdehnen, ohne daf es sich selbst zerst6rt, anscheinend auch die Sprache nicht. ,,Das wahre beste der englischen

Sptache wird geschadigt durch ihre zu allzemeine Verbreitung... Wer Végel liebt, mu gewi dem Spatzen viele Tugenden zugestehen, und doch muB8 er bei dem Gedanken seiner Vermehrungsfahigkeit aufzucken. Denn es witd ihn die Zwangsvorstellung einer Welt verfolgen, aus der die anspruchsvollen Tierarten verschwunden sind und in der nur ein allgemeines Spatzentum tbrigbleibt (Basil de Sélincourt).

58

DAS

ICH

UND

DAS

SCHWEIGEN

Der Mensch, in dessen Wesen noch das Schweigen ist, bewegt sich vom Schweigen her in die auBere Welt, das Schweigen ist die Mitte des Menschen. Die Bewe-

gung geht dann nicht unmittelbar von einem Menschen zum anderen, sondern vom Schweigen des einen Men-

schen zum Schweigen des anderen. Auf den Bildern der alten Meister steht ein Mensch so da, als sei er eben aus der Offnung einer Wand herausgekommen, als habe er sich mit Mithe aus ihr herausgedreht. Solch ein Mensch ist ungeborgen, viel zu sehr nach aufen scheint er sich bewegt zu haben, scheu ist er,

weil er zu weit vorne ist, und mehr gehdrt er dem Schweigen an als sich selbst, er halt an und wartet, dafi

sich wieder eine Offnung auftue, jetzt vor ihm, in die er sich begeben und in der er verschwinden kann. Im Schweigen, so scheint es, treffen sich die Bewegungen dieser Menschen

zuerst, ehe die Menschen

einander

selbst begegnen. Sieht man manchmal auf einem Bild eines alten Meisters viele dieser Menschen beieinander,

die eben wie aus der Wand des Schweigens, jeder fiir sich, herausgetreten sind: es ist, als seien sie wie in

einem Wartesaal versammelt, wartend, daB jetzt die grofe Offnung des Schweigens vor ihnen aufgehe, in der sie alle miteinander wieder verschwinden. nD

Bei den Menschen heute ist es umgekehrt: das Primire ist die Bewegung nach auBen, nur wie durch Zufall trifft sie auf irgend etwas, die Bewegung ist schon geschehen, ehe bestimmt ist, weshalb sie geschieht, sie ist immer weiter vorne, als der Mensch selbst, der

Mensch

springt seiner eigenen Bewegung

nach, er

sptinet zu weit in den andern hinein, er wird indiskret,

et dringt zu nahe in den anderen, er macht sich und den anderen nervés.

Auch heute ist die Substanz des Schweigens, mitten in der Welt des Larmes, manchmal noch in einem Menschen datin. Auf der sehr lebhaften StrafBe Via Torino

in Mailand, also mitten im Zentrum der Stadt, sah ich einen Mann in einem alten Kleid, das mehr als nur eine Bedeckung des K6rpers war, es war ein Teil von ihm, es hatte gelitten mit ihm, es war wie eine braunliche zerschundene Haut, der Mann stand nicht und ging nicht:

gehend stand er still, und stille stehend bewegte er sich ein wenig vorwa4rts, sein Gesicht war sanft, rosig, aber von der Stirne und von den Wangen fielen viele Falten

in es hinein, die Augen schauten tiber alles, was ihnen

begegnete, hoch hinweg, und doch warteten sie, daB aus der Nahe ein Ding auf sie zukaéme, der linke Arm wart eng am Korper, es war, als ob der K6rper den Arm nicht von sich fortlieBe, trotzdem hielt er die Hand unten ein wenig nach auBen, ich legte einen Geldschein in sie hinein, und nun wukte ich nicht, — aber ich getraute mich auch nicht zu warten, bis ich es hatte wissen

kénnen —: ging die Hand nun zuriick zu dem Mann, Go

nahm er den Geldschein zu sich ? Oder bewe ete die Hand sich nun weiter nach auBen zu einem anderen hin, suchte sie einen anderen, daB sie ihm den Geldschein gebe? Dieser Mann lebte in der Mitte zwischen Geben und Nehmen, zwischen Ferne und Nahe, zwischen Al-

ter und Jugend: er lebte von der Mitte der schweigenden Substanz aus, hier traf sich alles bei ihm, von hier ging jede Bewegung aus. Ein Mensch, in dem die schweigende Substanz wirkt, tragt das Schweigen bei jeder Bewegung bei sich, seine

Bewegungen sind darum langsam, sie stoen nicht heftig aufeinander, sie sind vom

Schweigen getragen, sie

sind nichts anderes als Wellen des Schweigens, und trotzdem ist solch ein Mensch deutlich da und sein Wort ist deutlich da: es ist ein Geschehnis, daB der Mensch sich vom Schweigen losgelést hat, deutlicher ist seine Er-

scheinung als dort, wo das Schweigen fehlt und wo Mensch und Wortgerausch ezme dauernde Lautheit sind. Die Erhabenheit, die ein solcher Mensch hat, kommt daher: er tragt das Schweigen hinein in die Welt. Ein solcher Mensch erstarrt nicht in der Ruhe, denn die Ruhe ist hier verbunden mit dem Schweigen, und das Schweigen weitet alle Grenzen, darum wird auch die Ruhe hier iiber sich selbst hinausgedehnt und deshalb niemals starr. Hier konnte auch die Unruhe nicht den Menschen verzehren, sie ware doch nur wie eine

Oszillation des Schweigens. Wo aber das Schweigen nicht mehr wirkt, da ,,frommt dem Menschen die Ruhe nicht, denn sie erstarrt, und in 61

der Untuhe mag er nicht beharren, weil sie verzehtt; da-

her mu er denn stets von einem sich zum andern schleppen, und so ist der Unbestand in all sein Beginnen als unabweislich aufgenommen“ (G6rres).

I

Wo das Schweigen hineinreicht, da merkt der einzelne keinen Gegensatz zwischen sich und der Gemeinschaft, denn der Einzelne und die Gemeinschaft stehen

nicht einander gegeniiber, sondern beide dem Schweizgen, der Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft hort auf, wichtig zu sein gegeniiber der Machtigkeit des Schweigens.

Heute steht der Einzelne nicht mehr dem Schweigen gegentiber, auch nicht mehr der Gemeinschaft, sondern

nur einem alleemeinen Larm, und der Einzelne ist nur derjenige, der zwar den Larm, den allgemeinen Larm nicht mehr hat, aber auch noch nicht das Schweigen. Er ist isoliert vom Larm und isoliert vom Schweigen, er ist ein Verlorener.

In einer Welt, wo das Schweigen wirkt, ist die Einsamkeit nicht vom Subjektiven abhangig, nicht von ihm herkommend. Die Einsamkeit steht als etwas Objektives vot dem Menschen da, auch die Einsamkeit in ihm selbst: sie steht als das Schweigen vor ihm da. Die Hei-

ligen einst begegneten in der Einsamkeit, in die sie gingen, darum nicht sich selbst, sondern der objektiven 62

Einsamkeit des Schweigens, von der die eigene innet-

liche Einsamkeit nur wie ein kleiner Teil erschien. Der Heilige nahm die Einsamkeit zu sich, als kame sie von einem Dritten, und er nahm sie wie etwas Selbstverstandliches, sie war darum nicht anstrengend wie die ,innerliche’ Hinsamkeit heute, im Gegenteil: sie war

ein Zeichen der Verbundenheit mit der groBen objektiven Welt des Schweigens und ihrer Einsamkeit. Darum empfing der Heilige auch ein Mehr aus der Einsamkeit, denn es war ja nicht nur se/me Einsamkeit, sie war auch auferhalb seiner und sie war mehr als die eigene hatte sein k6nnen; wo aber die Einsamkeit nur ein Teil

des Inneren ist, wird der Mensch aufgebraucht durch sie, ef nimmt ab durch sie.

Ill

Ein Mensch, der noch schweigende Substanz in sich hat, braucht nicht immer auf sein Inneres aufzupassen, er braucht nicht alles mit Hilfe des Willens zu orden,

vieles witd von selbst durch die Macht der schweigenden Substanz geordnet, die das einander Entgegengesetzte dampft. Ein solcher Mensch kann Eigenschaften haben, die nicht zueinander passen, ohne daf} es zu einer

Krise kommt, — das einander Entgegengesetzte hat genug Raum in der schweigenden Substanz. Das Leben wird hier nicht auseinander gerissen in Glaube und Wissen, Wahrheit und Schénheit, Leben und

Geist, die ganze Wirklichkeit wird vor den Menschen

63

hingestellt, nicht blo die polaren Begriffe, das Dasein

des Menschen spielt sich nicht im spitzen Entweder-Oder ab, sondern in der Vermittlung: die schweigende Substanz ist zwischen dem einander Entgegengesetzten und bewirkt, daf es nicht aggressiv gegeneinander wird. Das Eine muB sich erst tiber die breite, besanftigende Flache des Schweigens begeben, ehe es zum Anderen gelangen kann. Die schweigende Substanz vermittelt also zwischen dem einander Entgegengesetzten. Nur hier ist der Mensch tiber dem eigenen Widerspruch erhaben, nur hier hat er Humor. Denn gegeniiber dem Schweigen gilt das sich Widersprechende nichts, es ist nicht auffallig, es wird verschluckt vom

Schweigen. Zum Humor ,,gehért die unendliche Wohlgemutheit und Zuversicht, durchaus erhaben iiber sei-

nen eigenen Widerspruch und nicht etwa bitter und ungliicklich darin zu sein“, (Hegel). Fehlt die schweigende Substanz, so ist der Widerspruch der Diskussion ausgesetzt, es entsteht ein Hin und Her. ,,Die Seligkeit und

Wohligkeit‘ vergehen, der Humor hort auf. Der Mensch ertragt auch das seinem Wesen Feindliche, das ihn Aufbrauchende

besser, wenn

er noch

schweigende Substanz in sich hat. Darum ertragen die éstlichen Vélker, die noch voller schweigender Substanz sind, das Leben mit der Maschine besser als die westlichen

Volker, deren schweigende Substanz fast ganz zerstdrt ist. Das Leben mit den Maschinen, die Technik an sich, ist nicht schadlich. Schadlich ist es nur, wenn die schwei-

gende Substanz fehlt, die den Menschen schiitzt.

64

Unamuno sagt, dal Goethe nicht alle Méglichkeiten, die in ihm waren, entwickelt habe. Solch ein Satz kann

nut gesagt werden in einer Welt, die keine Beziehung mehr hat zum Schweigen. Man weif nicht mehr, daf die Moglichkeiten, die nicht verwirklicht werden, eine Nahrung sind fiir das Schweigen: das Schweigen wird michtiger durch sie und nahrt wiederum michtig all das andere, das sich verwirklicht.

Das, was in die schweigende Substanz hineinfallt, ist der Anteil, den das Schweigen an den Dingen des Menschen hat. Er gehdrt dem Schweigen. Manchmal behiilt der Mensch im Gesprich etwas in sich zuriick, er laBt es nicht ins Wort hinein, es ist, als ob er dem Schweigen

in seinem Inneren den Anteil geben miisse, der ihm gehort.

Oft wird bei einem ganzen Volke wahrend einer langen Epoche eine Méglichkeit nicht sichtbar, zum Beispiel die Méglichkeit der Dichtkunst. Aber sie fehlt nicht, sie verwirklicht sich nur nicht, sie ruht nur aus im

Schweigen, sie erholt sich dort. Schénheit ist trotzdem da in einem solchen Schweigen, und die Schénheit kommt von dem Gedicht, das schweigend alles durchtrankt.

Keine schweigende Substanz ist heute da, alle Dinge sind immer zugleich vorhanden, aufsassig, bedrangend, und der Mensch, der das Allzuviele nicht im Schweigen versinken lassen kann, laBt es in der Leere der Phrase

verfliichtigen, untergehen. §

Picard,

Schweigen

65

Die schweigende Substanz fehlt also heute, die die Last der vielen Dinge dem Menschen abnimmt. Man versucht deshalb von vornherein, die allzuvielen Dinge vom Menschen fernzuhalten: man untersucht den Typus eines Menschen und bringt ihn nur mit jenen Dingen zusammen, die zu seiner Konstitution passen. Darum strengt man sich heute an, den Typus, die Konstitution, festzustellen. Man strebt heute darnach, den jungen Menschen nach seiner Konstitution zu erziehen, er soll nur das lernen,

was zu seiner Konstitution paBbt. Aber in einer Welt, wo man weib, da die schweigende Substanz noch wirkt,

14Bt man den Menschen nicht an seiner blofen Struktur aufhéren, man 14Bt ihn in ein anderes, das tiber ihn

hinausgeht, sich dehnen, man 14Bt ihn griechisch und lateinisch lernen, auch wenn er nicht dafiir begabt erscheint, auch wenn es ihm fremd ist, die schweigende Substanz nimmt das Fremde auf und verbindet es mit dem Menschen, es macht den Menschen weiter, es dehnt

seine Grenzen. Eine rechte Erziehung, ein rechtes Lehren, ist gegriindet auf dieser schweigenden Substanz.

Wir haben oben gesagt, daB der Mensch ohne schweigende Substanz bedrangt werde durch die allzuvielen Dinge, die heute jeden Augenblick zu ihm gebracht werden. Es ist nicht gleichgiiltig, da jeden Augenblick sich vor den Menschen immer neue Dinge stellen; denn der Mensch muB sich zu ihnen in Beziehung setzen, zu jedem Objekt muf der Mensch einen Eros, einen Affekt haben,

damit er auf das Objekt antworten kann, - und er muB 66

antworten auf das Objekt, das vor ihm ist, das gehért zum Wesen des Menschen. Wenn zuviele Objekte sich

vor ihm drangen, wenn in ihm die schweigende Substanz fehlt, in der ein Teil verschwinden kann, dann reicht sein Eros, dann reichen die Affekte nicht aus, um

den Objekten zu begegnen. Die Objekte liegen drohend und unbeheimatet vor dem Menschen herum. Die Rettung des Menschen aber vor dem Andrang der Objekte besteht, im Gegensatz zur Psychoanalyse und zur Tiefenpsychologie, darin, den Menschen wieder zur Welt des Schweigens in Beziehung zu bringen, in der die vielen

Objekte von selbst geordnet werden, in der groBen Welt des Schweigens verteilen sie sich, sie werden ausgeglichen. Wenn in einem Menschen die schweigende Substanz

vorhanden ist, dann sind alle seine Eigenschaften in ihr zentriert, sie hangen zuallererst mit dem Schweigen zusammen und dann erst untereinander. Darum infiziert

hier der Defekt einer Eigenschaft nicht so leicht die anderen Eigenschaften, er wird vom Schweigen festgehalten; fehlt aber die schweigende Substanz, so kann ein

Mensch von einem einzigen Defekt her durchsetzt werden, so da er aufhort, ein Mensch zu sein, er wird ganz und gar nur der Defekt, es ist, als sei der Defekt an sich,

das Bose selbst gegenwirtig, nur noch zugedeckt mit der Form des Menschen, mit der Form als Maske.

Die schweigende Substanz ist auch der Ort, wo die Wandlung eines Menschen sich abspielt. Wohl ist der

67

Geist die Ursache der Wandlung, aber ohne das Schweigen lat sich die Wandlung nicht verwirklichen, denn bei der Wandlung ist der Mensch nur dann imstande, sich ganz von allem Vorhergegangenen zu lésen, wenn er das Schweigen zwischen das Vergangene und das Neue setzen kann. Heute, wo das Schweigen fehlt, vermag der Mensch sich nicht mehr zu verwandeln, er kann sich nur noch

entwickeln, darum gilt die Entwicklung heute soviel. Die Entwicklung findet nicht im Schweigen statt, sondern im Hin und Her der Diskussion.

Fir die Verwandlung ist also die schweigende Substanz ndtig, und auch fiir das Gliick. Das Gliick, das aus dem Unpriifbaren zum Menschen herabkommt, bewegt sich gerne dorthin, wo es in die Weite des Schweigens hineinfallen kann. Das UnmeBbare des Gliickes fiihlt sich nur wohl in der Weite des Schweigens. Gliick und Schweigen gehdren zueinander wie Verdienst und Lautheit. Wo das Schweigen aufgebraucht.ist, meldet alles sich laut an, alles wird zusammengerechnet, um das Verdienst eines Menschen zu beweisen. Die laute Rechnung, das Verdienst, gibt hier Anrecht auf Besitz und Amt, nicht mehr das Gliick. In der Welt aber, wo das Schwei-

gen noch breit vorhanden war, sagte Cicero in einer Rede fiir Pompejus, da8 man ihm den Oberbefehl im Kriege gegen die Seerauber tibertragen miisse, nicht nur, weil er sich als guter Soldat bewahrt habe, sondern vor allem, weil das Gliick bei ihm sei.

Auch Leid und Schweigen gehéren zueinander. Das Leid kommt in der Weite der schweigenden Substanz ins Gleichgewicht, die bloBen Affekte verlieren sich in der Weite, das Leid selbst aber wird deutlicher als Leid.

Wohl klagt ein Mensch im Leid, aber es ist, als klage das Schweigen. Auf dem Wasser der Trainen fahrt der Mensch zuriick ins Schweigen.

69

ERKENNTNIS

UND

SCHWEIGEN

Der menschliche Geist nimmt nicht nur den Gegenstand, wie er vor ihm ist, wahr, er geht in seiner Bewegung dariiber hinaus (Husserl). In der Bewegung des Geistes sind mehr Méglichkeiten, als der bloBen Gegebenheit des Gegenstandes entspricht. Diese Méglichkeiten des Geistes machen seine Weite aus. Die Weite des Geistes und die Weite des Schweigens gehéren zueinander, die Weite des Geistes braucht eine natuthafte Entsprechung auferhalb seiner. Wohl ist der Geist autonom und kann von sich aus die Weite schaffen, aber die Weite des Schweigens ist, von der Natur her, eine Mahnung an den Geist, weit zu sein. Wenn der

Blick des Menschen von der Breite des Schweigens her kommt, bleibt er nicht am Spezialisierten, nicht am bloBen Teil eines Phanomens, haften. Wohl ist das Allumfas-

sende Gottes der Hintergrund, von dem der Geist eine Spur des Allumfassenden bekommt, aber das Schweigen ist im Jmmanenten der AnstoB, durch den der Blick des

Menschen umfassend wird. Der Blick halt dann den Menschen nicht bloB an einem Teil, am Okonomischen

oder am Psychologischen oder am Rassenhaften, fest. Wenn der Blick aber nur einen Teil ergreift, dann sucht er, zum Ausgleich dafiir, den Teil kiinstlich zu

vergréfern, der Teil wird verabsolutiert (das Okonomische oder das Psychologische oder das Rassische), 70

durch die quantitative Ausdehnung will man eine Breite vortauschen, — das ist ein Zeichen dafiir, daB der Mensch Sehnsucht hat nach dem Ganzen, Umfassenden.

Es dauert nicht lange, dann sieht der Blick selbst den Teil nur dann noch, wenn er auffallig ist, wenn er einem andern deutlich entgegengesetzt ist, er sieht ihn nur noch, wenn er spitz hervorragt aus den anderen Teilen. Das einander Entgegengesetzte ist auffallig und wird vom schmalen Blick leichter erfaBt als die ganze Wirklichkeit eines Dings, die unauffallig ist. Man ist zum Beispiel nicht mehr imstande, die ganze Wirklichkeit des Lebens zu sehen und die ganze Wirklichkeit des Geistes, nicht mehr die ganze Wirklichkeit des Glaubens und die des Wissens, man erkennt vom Leben und vom Geist, vom Glauben und vom Wissen nur das, was einander ent-

gegengesetzt ist: ,, Leben und Geist“, ,,Glauben und Wissen“ gelten nur, wenn sie polar gegeneinander stoBen, der Mensch vermag nicht mehr, dem Leben und dem Geist fiir sich, dem Glauben und dem Wissen soviel

Raum zu geben, da jedes auch noch fiir sich da sein kann. Es gibt aber gar nicht so viele Gegensatze, wie es scheint, vielmehr werden die Phanomene auf das Gegensitzliche hergerichtet, damit sie in den Blick fallen, sie

werden sonst nicht aufgenommen. Die Phanomene miissen dem Blick in der Form des Auffallig-Gegensatzlichen geliefert werden, sonst sind sie fiir ihn nicht da. Zum Beispiel: es besteht heute wirklich ein Gegensatz zwischen Amerika und RuBland. Aber die Ametioh

kaner und die Russen, und nicht nur sie, tibertreiben ihn, sie machen ihn tberdeutlich, weil der Blick des

Menschen von heute nur an das Uberdeutliche, Agassante gewohnt ist. Man muf° iibertreiben, weil nur das Ubertriebene apperzipiert wird. Die Phanomene, die unauffallig daliegen, gelten heute nicht, sie sind wie nicht vorhan-

den. Ein Krieg kénnte aus dieser Ubertreibung entstehen, — das ware das Schrecklichste, wenn der Krieg

nicht aus Leidenschaft oder aus einer politischen Notwendigkeit kame, sondern bloB aus dem psychologischen Defekt des Menschen, der die Phanomene iibertteiben muB, um zu merken, daf sie tiberhaupt da sind. I

Wenn der Mensch mit dem Schweigen zusammenhanegt, so witd er nicht belastet durch sein Wissen, das Schweigen nimmt es thm ab. Der Mensch frither war unbeschwert, obwohl auch er vieles wuBte: das Schweigen trug das Wissen zusammen mit dem Menschen, das Wis-

sen wutde nicht angeschoppt in ihm, das UbermaB des Wissens verschwand im Schweigen, der Mensch stand darum in immer neuer Naivitaét vor den Dingen.

Bei einem solchen Menschen ist die ganze Art der Erkenntnis durchwirkt vom Schweigen: man hat nicht den Drang, alles zu enthiillen, man gibt auch dem Schwei-

gen einen Anteil an den Dingen, indem man viele Dinge nicht mit dem Worte beriihrt. Und: in der Welt eines solchen Menschen stand ein Ding auch nicht so agassant da wie heute, (wo es ist, als 72

ob es selber zum Menschen hinriefe, daB er es an sich

nehme und sich mit ihm allein abgebe,) das Ding schien mehr dem Schweigen zu gehéren als dem Menschen, darum nahm es der Mensch nicht so heftig zu sich und entwickelte es nicht so heftig fiir sich selbst, und auch das, was an einem Ding erforscht wurde, wies mehr auf

das Schweigen hin, das hinter ihm war, als auf das Ding selbst: das Erforschte schien nichts anderes zu sein, als

hérbar gewordenes Schweigen. Es war der Teil des Schweigens, der wie von selbst sich dem Menschen enthiillt hatte. Die Erkenntnis war nicht aus dem Schweigen herausgerissen, sie hing noch mit ihm zusammen, sie war wie mit der Materie des Schweigens zubereitet, sie gehdtte, wie wir schon gesagt haben, nicht nur dem Worte des

Menschen, sondern auch dem Schweigen. Das Wissen, das in der Welt Herodots ist, zum Beispiel, ist sehr man-

nigfaltig, bunt, aber trotzdem ist eine Ruhe iiber dem vielen Wissen, es ist die Ruhe, die herkommt vom Blicke

der Gétter, der zu den Dingen vorgeschickt wird, um das von den Dingen, was den Gottern gehGrt, ins Schweigen der Gétter zu begleiten. Wie es heute keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem Schweigen und dem Wort — das Schweigen ist kein Phanomen mehr fiir sich, das Schweigen ist heutenurdas noch nicht geredete Wort —, so gibt es auch heute keinen Unterschied mehr zwischen dem Erforschten und dem Nichterforschten: das Nichterforschte, das Verhiillte ist auch kein Phinomen mehr fiir sich, es ist nur das noch

nicht Erforschte. v5

Das heiBt nicht, daB die Wissenschaft heute unntitz

sei, das hei [ftaber, daff es in der Wissenschaft heute Keine eigentliche Begegnung xmischen Mensch und Objekt mehr gibt. Das ist der entscheidende Defekt im Wissenschaftsbetrieb: es ist alles im voraus ergriffen, ehe der Mensch beim Objekt ist, und das Objekt liefert irgend etwas ab, ein Resultat,

das auch durch irgend etwas anderes abgeliefert werden k6nnte, es brduchte auch nicht an einen Menschen ab-

geliefert zu werden, das Resultat ist wie fiir eine Apparatur geschaffen. Einst aber war es ein Ereignis, wenn der Mensch einem Objekt gegeniiber trat und es untersuchte, es war wie ein Dialog zwischen dem Menschen und dem Objekt. Das Objekt wurde dem Menschen in Obhut gegeben, indem er es ergriff und begriff, das Objekt wurde mebr durch die Begegnung mit dem Menschen, und der Mensch wurde mehr, weil er dem Objekt

durch die Begegnung zu einem Mehr verholfen hatte. So war es im Anfang der modernen Naturwissenschaft (bei Galilei, Kepler, Swammerdam usw.).

74

DIE DINGE

UND

DAS

SCHWEIGEN

Wir haben gesagt, im ersten Kapitel, daB das Schweigen ganz und gar seinshaft sei, daB es charakterisiert sei durch das pure Da-Sein. Die Macht des Seinshaften geht uber auf die Dinge, die im Schweigen sind. Das Seins-

hafte, das Ontische der Dinge, wird gestirkt durch das Schweigen, das Entwicklungshafte ist fern von der Welt des Schweigens, es kommt nicht gegen das Schweigen auf, es richtet nichts gegen es aus. Sein und Schweigen gehdren zueinander. Zeiten, die nicht mehr mit dem Schweigen zusammenhingen, wie die Zeit von heute, kiimmern sich nicht mehr um das Seinshafte der Dinge, sie beschaftigen sich mit ihrem

Werden, mit ihrer Entwicklung, mit der Verinderung, mit der Revolution. ,,Die fritheren Vélker, wo der

Mensch mehr war und weniger wurde, hatten einen kindlicheren, bescheideneren Sinn fiir alle Gaben des Unend-

lichen“ (Jean Paul). Im Secenden ist das Ganze eines Dinges, das Werden nimmt nur einen kleinen Teil des Seins mit in seine Bewegung, und das Wort, welches das Werden beschreibt, kommt der Wirklichkeit eines Dinges nur in dem Male nahe, als sich im Werden Teile des Seins befinden. ,,Das

Sein verhalt sich zum Werden, wie die Wahrheit zum Wahnen“ (Plato, Timiaus). Wohl sieht es so aus, als ob heute der Existenzialismus sich wieder um das Seinshafte 1p)

kiimmere, aber es ist nicht das wirklich Seinshafte, es sind nut Teile des Seins, Attribute von ihm, zum Bei-

spiel die Angst, die Sorge, die Ungeborgenheit, der Tod, diese werden kiinstlich vergréBert, verabsolutiert, daB sie das witkliche Sein verschlucken.

so

II

Jedes Objekt hat in sich einen Fond, der von weiter herkommt als das Wort, welches das Objekt benennt. Diesem Fond kann der Mensch nicht anders begegnen als mit dem Schweigen. Von selbst schweigt der Mensch, wenn er zum ersten Male ein Objekt sieht. Der Mensch entspricht mit seinem Schweigen dem Zustand vor dem Wort, der im Objekt ist, er ehrt das Objekt

durch das Schweigen. Diesen Fond im Objekt kann der Mensch also nicht ins Wott nehmen. ,,A une certaine hauteur, dit Ernest Hello, le contemplateur ne peut plus dire, ce qu’il voit,

non patceque son objet fait défaut 4 sa parole, mais parceque la parole fait défaut 4 son objet, et le silence ducontemplateur devient ?ombresubstantielle des choses qu’il ne dit pas... Leur parole, ajoute ce grand écrivain, est un voyage qu’ils font par charité chez les autres hommes. Mais le silence est leur patrie“‘ (Léon Bloy, Le Déséspéré). Der Mensch verliert nichts dadurch, daB er diesen

Fond der Dinge nicht ins Wort bringen kann. Durch diesen Fond, der unsagbar ist, witd der Mensch mit dem 76

Urzustand vor dem Wort verbunden, und das ist wich-

tig. Und: dieser unsagbare Fond der Dinge ist ein Zeichen daftir, dal} die Dinge nicht vom Menschen selbst geschaffen und zusammengefiigt sind. Waren die Dinge durch ihn entstanden, so hitte er sie ganz in seiner Erkenntnis, und das heiBt: im Wort.

In einer Welt, in der das Schweigen wirkt, ist ein Ding mehr mit dem Schweigen verbunden als mit einem anderen Ding. Es ist mehr fiir sich da, es gehért mehr sich selbst, als ein Ding in der Welt ohne Schweigen, wo

Ding nur mit Ding zusammenhinet. Es bietet sein Wesen unmittelbar dem Menschen an, es steht unmittelbar vor ihm, als sei es eben durch einen besonderen Akt aus

dem Schweigen hervorgeholt worden. Deutlich steht es vor dem Hintergrund des Schweigens, man braucht es nicht noch auf besondere Weise deutlich zu machen.

Il

Der Blick, der von der breiten Flache des Schweigens herkommt, umfaBt die Dinge auch mit dieser Breite. Die Breite des Schweigens dehnt den Blick weit, hin zum Ganzen, er umfaBt das Ganze eines Dinges, er ist nicht atomistisch. Nur vor der Breite des Schweigens breitet sich das Ganze eines Dinges aus. Das Wort, das aus dem Schweigen kommt, umfal3t das Objekt mit der Kraft des Urspriinglichen, die ihm re)

das Schweigen mitgibt, das Objekt bekommt Anteil an der Urspriinglichkeit des Wortes, es geht auf durch das Wort, es nimmt an Wesen zu.

Hat das Wort nicht mehr die Kraft des Urspriinglichen, so witd es purer Laut, der das Objekt nur auf der

Oberfliche zu beriihren vermag; er etikettiert das Ding blo. Diese Wort-Laute, diese Wort-Etiketten, fiihren dann ein Leben unter sich, Wort-Etikette mit Wort-

Etikette, als ob es keine Dinge gabe. Und auch die Dinge fahren ein Leben unter sich: Ding mit Ding, denn, wenn das Wort zerst6rt ist, vermag es das Ding nicht mehr zu halten, das Ding ldst sich von ihm ab. Es verliert alles Maf, es tibersteigert sich. Ding erzeugt hier Ding (wie in der Welt von heute), als ob der Mensch gar nicht mehr da ware, und kein Ding erscheint mehr als neu, auch das neue nicht, denn jedes ist nur wie ein

Teil eines Ablaufs von jeher, wie immer schon dagewesen, daher erscheint jedes Ding tiberfliissig und langweilig. Die Dinge selbst wenden sich weg vom Menschen. Die alten G6tterfiguren im Saal eines Museums, zum Beispiel, - wie eine VerschwGrung stehen sie manchmal da,

sie verweigern sich, sie sagen dem Menschen nichts mehr, im wahren Sinne des Wortes: sie sagen ihm nichts mehr,

sie stehen miteinander da wie eine weife Wand. Das ist das Unheimliche an dieser in sich selbst spielenden Welt der Dinge und das ist das Satanische an ihr: sie tiberzeugt den Menschen durch ihren Umfang, durch ihre Masse. Aber die wortfeindliche, pure Faktizitat ist 78

totlich. Sie arrodiert die Welt, die Welt wird aufgebraucht durch sie. Zwei drohende Gebilde also stehen einander gegentiber: die Un-Welt der Wortmaschinerie, die jedes Ding in Larm aufldsen will, und die Un-Welt der Ding-Maschinerie, die, losgelést vom Wort, darauf wartet, sich

in einer lauten Explosion selber eine Sprache zu schaffen. Wie ein Stummer manchmal schreit, dal} es ist, als zer-

tisse et sein Fleisch, um zum Wort zu gelangen, so zerspringen und explodieren heute die Dinge, als wollten sie sich aufreiRen in einen Laut, — es ist der Laut des

Unterganges.

ie

GESCHICHTE

UND

SCHWEIGEN

Es gibt eine Stille im Ablauf der menschlichen Geschichte, der Geschichte der Personen und der Reiche,

in welcher sich gar nichts ereignet, alles, was nach aufben hin geschehen sollte, ist wie eingesogen nach innen. Es ist dann, als ob die Ereignisse auBen leise verliefen, damit sie das Schweigen unter ihnen nicht stéren. Es ist, als ob die Welt des Schweigens sich auf diese Weise von den schweigenden Ereignissen nahre. Es gibt Zeiten, wo die Geschichte, indem nichts sich in ihr ereignet, das Schweigen herum zutragen scheint, nichts als dies, und

wo die Menschen und die Ereignisse sich ducken unter dem Schweigen. Vielleicht, zum Beispiel, ist die Zeit

vom Ausgang des r6mischen Reiches bis zum Anfang der tomanischen Zeit eine solche Epoche des Schweigens. Vielleicht hielten am Anfang der Zeiten die Menschen darum die Geschichte nicht fest: am Anfang stand das Schweigen noch miachtig vor ihnen, alles Geschehen kam aus dem Schweigen und kehrte wieder ins Schweigen zurtick. Es gab keine Geschichte des Geschehens, * Eine Anschauung, die der meinen parallel ist, finde ich eben in einem Aufsatz von Jacques Piccard ,,A l’échelle de la vitesse‘‘ (Gazette de Lausanne, 1. Mai 1948): ,,...lhistoire semble se dérouler lentement d’abord, avec une vitesse extrémement testreinte, pendant les dix premiers siécles a peu prés, mais qu’a partir de la, cette vitesse augmente visiblement: elle prendra dés lors manifestement une allure que nous serions tentés d’appeler uniformément accélérée|!*

80

nut das Schweigen. Die Gestalten, das Geschehen waren nur Orte, von denen aus das Schweigen sie ansah. Am Schweigen dieser Gestalten lernten sie das eigene Schweigen. Die Geschichte lebt nach zwei Seiten, nach der Seite des Tages, nach dem Sichtbaren, Merkbaren, aber auch nach dem Dunkeln hin, nach dem Unsichtbaren und dem Schweigen.

Viele Ereignisse, die wie nicht vorhanden sind fir das historische Gedachtnis, haben nicht etwa, wie Hegel meint, eine ,,unberechtigte Existenz“‘, sondern es sind

Ereignisse fiir das Schweigen. Es ist falsch zu sagen, es sei ein Defekt des Menschen, dai seine Kraft zu beobachten und sein Gediachtnis nicht ausreiche, das allzuviele Geschehen der Geschichte

aufzunehmen und im Gedichtnis zu bewahren. Es gehort gar nicht zur Struktur des Menschen, daf er alles Geschehen bemerkt und im Gediachtnis beh4lt, denn das Geschehen gehért nicht ihm allein, sondern auch dem

Unsichtbaren, dem Schweigen. Immer befindet sich in der Nahe von allem, was Geschichte ist, das Schweigen. Am Schlusse des letzten Weltkrieges, zum Beispiel, der wie ein Aufstand des

Larmes gegen das Schweigen war, stand, einige Tage wenigstens, das Schweigen machtig da. Keine Worte wurden mehr gesagt tiber den Krieg, sie wurden, ehe

sie gesagt waten, vom Schweigen weggesogen, das Schweigen wat mehr und intensiver als selbst alle Greuel.

Und dieses Schweigen, das sehr heftig da war, hatte hei6

Picard,

Schweigen

SI

lend wirken konnen, die Welt hatte in diesem Schwei-

gen verwandelt und neu erzeugt werden kénnen, wenn nicht das Schweigen von der Larmwelt des alten Betriebes tiberrannt und vernichtet worden ware. Das war die

groBe Niedetrlage des Menschen nach dem Krieg. Das Schweigen gehére zur Geschichte wie das Laute, das Unsichtbare gehére zu ihr, wie das Sichtbare, haben wit gesagt. Der Mensch aber nahm ungefahr seit der Franzésischen Revolution aus der Geschichte immer nur die Fakten, das Laute zu sich, nicht auch das Schweigen, das neben den Fakten, neben dem Lauten, auch

gilt. Auch das ist Materialismus, von der Geschichte nur die Fakten, das Horbare, gelten zu lassen. Wohl reichen die Gestalten und die Geschehnisse der Geschichte nach oben ins Sichtbare, H6rbare. Nach un-

ten aber dringen sie tief ins Schweigen, sie sind Reliefs auf dem Hintergrund des Schweigens, die Gestalten und Geschehnisse bringen nicht nur ihre Taten hin zu den Menschen, sie bringen auch das Schweigen zu ihnen, sie

sind wie Zugtiere, die hinter sich das Schweigen ftthren. Im stummen Leiden des einzelnen Menschen und der Volker wird die andere Seite der Geschichte, die schwei-

gende Geschichte, ein wenig sichtbar. Es wird mehr Leid gelebt, vom Einzelnen und von den Volkern, als nach auBen hin deutlich wird. Es scheint, daB die Menschen lieber schweigend leiden, lieber mit der Welt des Schweigens verbunden sind, selbst durch Leid, als daB sie sich mit dem Leid in die Lautheit der Geschichte be-

geben. Nur so ist es zu begreifen, daB ein Volk geduldig die Harte eines Tyrannen aushilt. 82

Mitten in der Lautheit der Geschichte sind diese Leidenden wie Abgesandte aus der Welt des Schweigens da, wie deren Verbiindete. Und nur darum, so scheint

es, vermag diesen Menschen so viel Leid aufgeladen zu werden, weil das groBe Schweigen, das in der Welt ist,

dem Schweigen, das im Menschen selbst ist, hilft, das Leiden zu tragen. Unertraglich wird das Leiden erst, wenn es, losgelést vom groBen Schweigen in der Welt, nur ein Teil der Lautheit der Geschichte ist, wenn es,

losgelést vom Schweigen, sich selbst tragen muB.

IT

Von Zeit zu Zeit gibt es, wie wit schon sagten, in der Geschichte Epochen, wo das Schweigen deutlicher ist

als die Lautheit. Die Geschichte verlauft also nicht geradlinig von der Lautheit der einen Epoche zur Lautheit der anderen, sondern der Ablauf des Lauten wird manch-

mal unterbrochen von einer Epoche des Schweigens, ja von einer solchen Epoche des Schweigens kann Schweigen tibergehen in eine Epoche, die laut sein will, — heute aber ist es umgekehrt, heute geht Lautes, Larmendes,

tiber auch in das Schweigende der Geschichte.

Es gibt Volker, die Jahrhunderte lang zu schlafen, zu schweigen scheinen, zum Beispiel das spanische Volk wahrend der letzten dreihundert Jahre. Aber dieses Schweigen ist keine Leere, es ist auch nicht ein Symptom

der Sterilitat, es ist ein Zeichen, daB in diesem

83

Volke das Schweigen wieder gilt. Spanien wurde als tiickstandig betrachtet, weil es sich nicht durch die Industrialisierung dem allgemeinen Lauten und Bewegten angeschlossen hat. Es ist aber so wenig riickstandig wie ein Kind riickstandig ist, das bei der Mutter bleiben will oder zu ihr zuriickkehrt, zur Mutter, zum Schweigen.

Eine groBe Reserve, eine groBe Hilfe, liegt auch ftir die andern Volker in der schweigenden Substanz eines solchen Volkes, wie des spanischen. Wir alle, die Vélker des Lauten, Larmenden, leben von der schweigenden Substanz, die noch bei einem solchen Volk vorhanden ist. Ein solches Volk ist passiv, schlafend, schweigend, nicht nur fiir sich selbst, sondern auch fiir die andern, die Latrmenden, Lauten. Dieses Volk und auch viele

Volker Asiens und Afrikas, haben das Schweigen in Verwahtsam, nicht nur fiir sich selbst, sondern auch fiir uns.

Wir wiitden viel mehr verheert von den Ubeln des allzu Wachen, wenn wir nicht teilhaben k6nnten an dem Gut

des Schweigens jener Volker. Alle Volker der Erde gehéren zueinander, und darum vermédgen wit vom Schweigen jener Volker zu zehren, wie jene Volker von unserem Wachen

leben.

Il

In den Zeiten, wo das Schweigen in der Geschichte noch mehr wirkte als das Laute, galten die Vorzeichen, die stummen Flige der Végel, die stummen Zeichnungen der Opferstiicke, die stummen Bewegungen der Natur. 84a

»Als Galba einige Tage vor seinem Tode nach Rom

ritt und tiberall am Wege Opfertiere geschlachtet wurden, riB sich einmal ein Stier, der von dem Schlage des Opferbeiles in Wut geraten war, los, lief auf des Kaisers Wagen zu und itiberschiittete ihn ttber und tiber mit Blut. — Kurz darauf wurde Galba ermordet“ (Sueton). Die Substanz des Menschen war damals noch angefullt mit Schweigen, darum bewegte sich das Schweigen, das auBerhalb des Menschen in der Welt war, mit den

stummen Vorzeichen, den stummen Fliigen der Vogel und den stummen Bewegungen der Natur, leicht in die Welt des Menschen hinein und merkte gar nicht, wenn es in ihr erschien, es wat daheim beim Menschen.

Die Welt des Wortes, durch das der Mensch besteht,

die Welt des Christen, kann aber gefahrdet werden durch diese Welt der Vorzeichen. Darum wurden die Vorzeichen durch das Wort Christi gebannt ins Schweigen. Wo das Wort spricht, brauchen die Zeichen nicht mehr zu sprechen, sie getrauen sich auch nicht mehr zu sprechen. Wenn hingegen das Wort nicht mehr fest und deutlich ist, wie heute, dann sucht der Mensch wieder die Vorzeichen, aber diese weisen nicht, wie einst, auf

eine Wirklichkeit hin, sie zeigen nur an, dal} das Wort zerstort ist, sie sind nur da, weil es zerstdrt ist. Aller-

dings ist das zerstérte Wort selbst zeichenhaft, aber es ist zeichenhaft, wie ein Gespenst zeichenhaft ist, das heiBt, es weist nicht auf ein Kiinftiges hin, sondern

auf ein Vergangenes, Wortes.

auf die Ruinen des zerstOrten 85

Wie eine antike Gotterstatue, imitiert aus Gips, und beim Anschauen schon sich zerbréckelnd, ist das, was

bei den Menschen heute als Vorzeichen gilt.

IV

Wenn der Mensch weder vom Schweigen noch vom Wort der Lehre annimmt, das Richtige zu tun, dann tibernimmt es das Geschehen, die Geschichte selbst, den Menschen zu belehren. Die Wahrheit, die nicht mehr

durch das Wort zum Menschen gelangen kann, macht sich dann dutch das Geschehen deutlich. Man war durch das Wort Christi gewarnt worden, sich dem Bésen zuzawenden, aber da man auf das Wort nicht mehr horte,

wutden die Ereignisse geschickt, um den Menschen zu belehren. Den Untergang, vor dem man sich durch das Wort nicht hatte warnen lassen, vernahm der Mensch

nun durch das Faktum des Unterganges seiner eigenen Existenz. Die Wahrheit redete durch die Geschehnisse,

anstatt der Worte stehen die Ereignisse des Krieges und andere Schrecken da. ,,Da man nicht mehr an die Lehre

glaubte, daB Gewalt und Hafi und Verbrechen nicht gelten diirfen unter den Menschen, wurde einem das durch

das Faktum des Krieges demonsttiert“ (,,Hitler in uns selbst‘‘). Zut Zeit Christi redete die Geschichte selbst, die hei-

lige Geschichte. Gott selber kam ins Wort, da der Mensch das Wort verlassen hatte. 86

DER

MYTHOS

Der Mythos spielt sich ab zwischen der Welt des Schweigens und der Welt des Wortes. Wie in der Dammerung die Gestalten grofi werden, so sind die mythischen Gestalten, die aus der Dammerung des Schweigens kommen, groB. Es ist, als sei das Wort anfanglich nicht bei ihnen gewesen, ihre Handlungen waren die Wortte, sie sind groB

auf die Wand des Schweigens geschrieben. Die Worte, die die mythischen Gestalten dann wirklich reden: es ist, als wtirden sie von ihnen ftir die Men-

schen eingetibt, sie werden vor-geredet, sie erwatten den Menschen. Christus kam so unmittelbar vom Schweigen in das Wort, (diese Unmittelbarkeit Christi hat auch dem Worte des Menschen die gréBte Unmittelbarkeit gegeben) dafs die ganze Welt zwischen Schweigen und Wort, die Welt der mythischen Gestalten, zersprengt wurde, sie war nicht mehr giiltig. Die mythologischen Gestalten werden zu Damonen, die dem Menschen das Wort nicht

mehr vor-treden, sondern wegnehmen und damonischen Zauber damit treiben. Die mythologischen Gestalten, die bis zu Christi Geburt Fiihrer der Menschen waren,

werden nun zu den Verfithrern der Menschen. Bevor Christus erschien, in den letzten Jahrzehnten vor seiner Geburt, ging ein Schweigen durch die antike Welt: die alten Gotter schwiegen, sie schwiegen aktiv, ihr Schweigen war ein Tun, sie brachten das Schweigen dem kommenden Gott, Christus, dar. Jetzt, da die Men-

87

schen aufhérten, den alten Gottern zu opfern, opferten die alten Gétter ihr Schweigen dem neuen Gotte, sie brachten es ihm dar, daB er es ins Wort verwandle.

88

BILD

UND

SCHWEIGEN

Das Bild schweigt und sagt schweigend etwas aus. Deutlich ist das Schweigen da im Bild, — aber nahe bei diesem Schweigen ist das Wort. Das Bild ist sprechendes Schweigen. Das Bild ist wie eine Station auf dem Wege vom Schweigen ins Wort. Das Bild steht an der Grenze zwischen dem Schweigen und dem Wort, an der dufRersten Grenze stehen einander Schweigen und Wort gegenliber, — aber die Spannung ist durch die Schénheit gelést. Das Bild erinnert den Menschen an das Dasein vor dem Wort, deshalb beweet ihn das Bild so sehr, es erweckt in

ihm die Sehnsucht nach jenem Dasein. Aber der Mensch wird gefahrdet dutch das Asthetische, wenn er, um dieset Sehnsucht willen, sein Wesen — und das ist das Wort

— vor dem Bilde aufgeben will. Die Schénheit des Bildes erhéht diese Gefahr.

Die Seele ist es, die die schweigenden Bilder der Dinge bewahrt. Die Seele auBert sich nicht wie der Geist durch

Worte tiber die Dinge, sondern durch die Bilder der Dinge. Zweimal sind die Dinge im Menschen: einmal in der Geist Die Seele:

Seele durch die Bilder, und dann noch einmal im durch das Wort. Bilder der Dinge also, nicht die Worte, sind in der die Seele hat den Zustand des Menschen vor der

Erschaffung des Wortes bewahrt. Die Bilder der Seele weisen hin auf ein Hoheres, wo

es nichts gibt als Bilder, wo die Bilder wie Worte reden 89

und die Worte wie Bilder. ,,Dadurch unterscheidet sich

unset tatiges Denken von dem géttlichen, dali dieses durch die Dinge selbst als eine Sprache sich auBert, das unsere aber nur in dem, was wit gewdhnlich Sprache nennen“ (Solger). Es ist, als wollten die Dinge ihr Bild der Seele bringen, damit die Seele das Bild weiter gebe an das Gattliche, an das Urbild.

Zuviele Dinge begegnen heute dem Menschen, eine zu gtoBe Anzahl von Bildern drangen sich darum in seine Seele, keine schweigende Ruhe ist mehr in der Seele, nur eine schweigende Unruhe. Der Mensch wird verwitrt und netvés, weil die Bilder, deren Wesen es ist, Ruhe zu erzeugen, ihm die Unruhe bringen. Die Bilder kommen nicht mehr als Gebende in die Seele, durch ihr

Schweigen der Seele Ruhe gebend, sie kommen heute als Nehmende, sie verst6ren die Seele, da sie einander

durch thre zu groBe Zahl drangen, und brauchen die Seele auf. Aus der Welt von heute ist das Schweigen vertrieben, Stummheit und Leere gelten heute als Schweigen, ja das Schweigen erscheint nur wie ein Konstruktionsfehler im dauernden Ablauf des Larmes, — es ist wichtig, da

wenigstens in der Seele die schweigenden Bilder der Dinge aufbewahrt sind.

Zweimal sei ein Ding im Menschen, haben wit gesagt, einmal in der Seele als Bild und noch einmal im Geist als Wort. Die schweigenden Bilder der Dinge in der Seele 90

und die Worte iiber die Dinge im Geiste sind nebeneinander im Menschen. Die schweigenden Bilder der Dinge in der Seele bringen immer wieder Schweigen hin zum Wort, in dem der Geist ist, sie arbeiten Schweigen in

das Wort hinein, sie versorgen das Wort mit Schweigen, sie versorgen es mit der urspriinglichen Kraft des Schweigens. Je deutlicher bei einem Menschen die Bilder der Dinge in der Seele sind, desto sicherer wird die Seele das Wort

vor der Hemmungslosigkeit bewahren. Denn im Bild ist eine zentripetale Kraft: die Teile eines Bildes werden durch eine Mitte, durch die Idee des Bildes, zusammengehalten, das Bild ruht darum in sich selbst. An dieser

zentripetalen Kraft nimmt das Wort teil, das mit dem Bild zusammenhinet, es wird vor einer zu heftigen Expansion bewahrt, das bildhafte Wort ist weniger expansiv als das abstrakte Wort, und es schiitzt den Menschen

vor den hemmungslosen Assoziationen. Im Schweigen ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Einheit beieinander (siehe Kap. ,,Der As-

pekt des Schweigens“). Diese Einheit ist auch in der Seele, in ihren schweigenden Bildern, aber sie ist nicht

als Wissen um die Vergangenheit und um die Gegenwart da, — dieses Wissen ist nur im Geiste durch das Wort —

die Einheit ist in der Seele da als ein Ahnen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; in den schweigenden Bildern der Seele ist das Ahnen. Das Wort wei, das Bild ahnt, in der Nahe der Bilder der Seele wird

sogar das Wort selbst ein Ahnendes. 91

Das Wort also wird oft ein Ahnendes durch die Nahe

des schweigenden Bildes, aber es witd deshalb nicht verschwommen, es witd dadurch deutlich umgrenzt. Die Nahe des Bildes macht dem Wort das Ding, das es benennt, deutlich sichtbar, die Nahe des Bildes schiitzt das

Wort davor, daB etwas zu ihm hereingelassen wird, was nicht zu ihm gehért.

Auch die Traume sind Bilder, die mit Schweigen angefillt sind. Die Traume sind wie bunte Abziehbilder auf der Flaiche des Schweigens. Es ist, als ob die Traume dem Menschen, der im Wachen allzu viel Schweigen verbraucht hat, wieder das Schweigen bringen wollten. Die Bilder des Traumes entschweben, — was zuriick-

bleibt ist das Schweigen, das allmahlich, Tau des Schweigens, in die Unruhe des Tages hinabrieselt. Die Bilder des Traumes sind auf eine heftigere Weise Bild als die wachen Bilder in der Seele, darum ist in

ihnen auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heftiger beieinander, — daher kommt das Prophetische mancher Traume. Die Psychoanalyse zerstort das Wesentliche des T'raumes, seine schweigende Macht, und liefert sie dem Jar-

menden Hin und Her der Analyse aus. Die psychoanalytische Analyse der Traume ist die Okkupation der schweigenden Welt des Traumes durch den Larm.

92

LIEBE

UND

SCHWEIGEN

In der Liebe ist mehr Schweigen als Wort. Aphrodite, die Géttin der Liebe, kam aus dem Meere,

das das Schweigen ist. Aphrodite ist auch die Géttin des Mondes, der im Netz seiner goldenen Faden, die er

auf die Erde herablaBt, das Schweigen der Nacht auffanet. Die Worte der Liebenden vermehren das Schweigen, das Schweigen nimmt zu unter ihren Worten. DieWorte der Liebenden dienen nur dazu, das Schweigen hérbar

zu machen. Die Liebe allein vermag dies: redend das Schweigen zu vermehren. Alle anderen Phanomene zehren vom Schweigen, sie nehmen von ihm, — die Liebe allein gibt ihm. Zwei Verschworene

sind die Liebenden, Verschwo-

rene des Schweigens. Redet der Liebende zur Geliebten, so horcht die Geliebte mehr auf das Schweigen als auf das Wort. ,,Schweige“, scheint sie zu fliistern, , schweige,

damit ich dich hére“‘! Im Schweigen sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Einheit beieinander. Die Liebenden sind darum herausgehoben aus dem Ablauf der Zeit. Nichts ist noch geschehen, alles kann werden; das, was sein wird, ist schon da; und das, was wurde, ist wie in

einer ewigen Gegenwart vorhanden. Die Zeit steht still bei den Liebenden. Die Ahnungshaftigkeit, die Hell-

sichtigkeit, die die Liebenden haben, hangt damit zu93

sammen, daB in der Liebe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Einheit sind.

Nichts unterbricht mehr den gewohnlichen Ablauf des Betriebes als die Liebe. Durch nichts wird die Welt mehr aus dem Larm zuriickgenommen ins Schweigen als durch die Liebe. Durch das Schweigen, das bei der Liebe ist, wird das Wort aus dem Wortgetriebe geholt und an seinen Ursprung gefiihrt, ins Schweigen. Die Liebenden sind dem Zustand des Anfangs nahe, wo das Wort noch nicht wat, abet in jedem Augenblick aus dem gefillten Schweigen entstehen konnte. Nicht nur das Wort, sondern die Liebenden selbst werden durch die Liebe losgelést aus der Welt ,,der

abgeleiteten Erscheinungen“ (Goethe), sie werden zu den Urphanomenen gefiihrt. Die Liebe selbst ist ein Urphanomen, und darum sind die Liebenden einsam unter den andern Menschen, sie leben in der Welt der Urphanomene, das heift, in einer Welt,

wo das Dasein mehr gilt als das Bewegte, mehr das Symbol als die Erklarung, mehr das Schweigen als das Wort. Die Scheu, die bei der Liebe ist, ist die Scheu des Ur-

haften, Anfangshaften: die Liebenden haben Scheu, sich vom Anfangshaften in den Betrieb der Welt hineinzubewegen. Alle Verwandlung, die ein Mensch durch die Liebe etfahren kann, kommt daher, da das Urphanomen den Menschen vor einen neuen Anfang setzt, alle Kraft, die

94

der Mensch aus der Liebe empfingt, kommt von der Kraft, die sie als Urphanomen hat. Die Gesichter der Liebenden leuchten, sie sind durchscheinend: das Urbild der Liebe leuchtet durch sie hindurch. Darum werden sie auch sch6ner. Die Gesichter der Liebenden sind wie schwebend: iiber dem Urbild schwebend. Alles Geheimnisvolle, das die Liebenden an sich haben, kommt von der Nahe des Urbildes.

Je mehr in einer Liebe Urphanomenhaftes ist, desto fester, dauernder witd sie.

Wohl sind die Liebenden unruhig: es ist in ihnen die Unruhe des Urbildes, das davor erschrickt, sich in der Erscheinung za verwitklichen; im AuBeren, in der Er-

scheinung fangt es an zu zittern. Und doch hat das Urbild Sehnsucht darnach, in die Erscheinung, in die Verwirklichung zu gelangen, und

kein Urphanomen wagt sich so weit in die Erscheinung, ins AuRere, wie die Liebe, in keiner Erscheinung, in keiner Wirklichkeit ist das Urphanomen so deutlich sichtbar wie in der Liebe, nirgends sind Urbild und Erscheinung so nahe beieinander wie in der Liebe.

Es sei mehr Schweigen als Wort in der Liebe, haben wir gesagt. Diese Fille des Schweigens, die bei der Liebe ist, reicht hin bis zu dem Schweigen, das beim Tode ist: Liebe und Tod gehéren zueinander. Jeder Gedanke und jede Handlung in der Liebe ist schon vom Schweigen gedehnt hin zum Tode, aber das Wunder der Liebe ist, 95

daB dort, wo der Tod sein kénnte, der geliebte Mensch erscheint. In det Liebe ist mehr Schweigen als Wort, — und: es ist unvergleichlich leichter zu lieben, wenn

man

schweigt, als wenn man redet. Das Suchen nach Worten schadet der Regung des Herzens sehr. Wenn man nichts anderes verlére, als weniger zu lieben, so ist der Verlust

eroB, wenn man den Wert der Liebe kennt.“ (Hamon, zit. bei Brémond ,,Mystik und Poesie“.) Es ist also wohl leichter zu lieben, wenn man schweigt. Es ist datum leichter, schweigend zu lieben, weil im

Schweigen die Liebe sich ausbreiten kann bis in die

erdBte Ferne, — aber in diesem Schweigen ist auch eine Gefahr: dieser Raum bis in die grdBte Ferne ist unkontrolliert, alles kann in ihm sein, auch das, was nicht

zut Liebe gehdort. Das Wort erst macht die Liebe umgrenzt, deutlich,

und gibt ihr das, was nur zu ihr gehGrt. Erst durch das Wort witd die Liebe konkret, erst durch das Wort wird sie auf die Wahrheit gestellt, — dadurch, nur dadurch, witd sie Liebe des Menschen. ,,Die Liebe ist eine

schlichte Quelle, die ihr blumenumwachsenes Kieselbett verlassen hat und die nun als FluB oder als Strom ihre Natur und ihr Aussehen mit jeder Welle andert und sich

endlich in einen unermeBlichen Ozean ergieBt, der den unvollkommenen

Geistern voll Einténigkeit zu sein

scheint, an dessen Gestade aber die gtoBen Seelen sich in unendliche Betrachtungen versenken“ (Balzac). 96

MENSCHENGESICHT

UND

SCHWEIGEN

Das Menschengesicht ist die a4uBerste Grenze zwischen dem Schweigen und dem Wort, es ist die Wand,

aus der das Wort entspringt. Das Schweigen ist wie ein Organ im Menschengesicht. Nicht nur die Augen und der Mund und die Stirne sind im Gesicht, sondern auch das Schweigen. Hs ist tiberall im Gesicht, es ist die Unterlage jedes

eilés: Die Wangen sind die Wande, durch die das Wort von den Seiten her zugedeckt ist. Aber an der heftigen Bewegung der Nasenlinien nach aufen ist aneezeigt, dali das, was zwischen den Flachen der Wangen zusammengehalten wird, den Weg nach aufien nehmen will. Vom Gewiéilbe der Stirne strebt das Schweigen nicht nach auBen, es tropft wie Tau nach innen. Die Augen, — aus ihren beiden Offnungen kommt an

Stelle des Wortes das Licht, es bringt Helle in die Versammlung des Schweigens im Gesicht. Ware es nicht, so wiitde das Schweigen dunkel. Der Mund, - es ist, als ob er nicht von selber redete,

sondern als ob das Schweigen, hinter ihm, ihn drange zum teden. So gefiillt ist das Schweigen, dal} es das Gesicht in die Héhe treiben wiirde, wenn es sich nicht ent-

spannen kénnte im Wort. Es ist, als ob das Schweigen 7

Picard.

Schweigen

|

selbst dem Munde die Worte zufliistere, das Schweigen hort sich selbst zu, wenn der Mund redet.

Im Schweigen sind die Linien des Mundes wie die geschlossenen Fliigel eines Schmetterlings, - dann bewegt sich das Wort: die Fliigel 6ffnen sich, der Schmetterling fliegt davon. Ohne Drama, unmerklich, geht dieses AuBerordentliche, da das Wort aus dem Schweigen entsteht, im Gesichte vor sich. Darum ist Ruhe in dem Gesicht, alle

seine Bewegungen sind ruhig, nichts kann nun mehr wichtig sein, da das gtdBte Ereignis, die Entstehung des Wortes aus dem Schweigen, in der Ruhe vor sich geht. Voller Geheimnis ist dies: das Schweigen nimmt nicht ab durch das Wort, das aus ihm kommt, das Schweigen witd dichter durch das Wort, und das Wort selbst

nimmt zu durch das dichtere Schweigen. So gtoB war einst die Macht des Schweigens in einem Menschengesicht: alles Geschehen, das vor ihm sich abspielte, wurde aufgesogen von diesem Schweigen. Die Welt war dadurch immer wie unbeniitzt, unver-

braucht. Il

Hatte der Mensch die Sprache nicht, so ware er nichts als Bild, Symbol, und identisch mit seinem Bild, wie das

Tier, das genau so ist, wie es aussicht: des Tieres Erscheinung ist sein Wesen, sein Bild ist sein Wort. Hatte der Mensch die Sprache nicht, dann waren er und alle 98

Geschépfe der Erde nur Bilder, Symbole. Wie voller Denkmiler ware die Erde, Gott hatte die Schépfung sich nut wie zum Denkmal hingesetzt. Aber der Mensch hat das Wort, und dadutch ist er mehr als Bild und Denkmal, er ist Herr tiber sein Bild, dutch das Wort entscheidet er, ob er das, was von

seinem Wesen sich im Bilde, in seiner Erscheinung und Gestalt zeigt, annehmen will oder nicht, durch das Wort hat er die Freiheit, er kann sich erheben itiber sein Bild, ttber sein AuBeres, er kann mehr werden als sein

Bild. Der Mensch kann so sein, wie er aussieht, aber er braucht es nicht, er kann sich durch das Wort entscheiden, ob er sich tiber das Bild seines Gesichtes erheben will. ,,Als Zopyrus, der sich damit briistete, den Charak-

ter eines jeden Menschen aus dessen AuBeren erkennen zu kdnnen, dem Sokrates begegnete und viele Laster aus ihm herauslas, wurde er von allen ausgelacht, — denn

keiner hatte noch irgendeines jener Laster bei Sokrates bemerken k6nnen — nur nicht von Sokrates selbst. So-

krates gab dem Zopyrus recht: er, Sokrates, sei allerdings mit jenen Lastern auf die Welt gekommen, aber mit Hilfe der Vernunft habe er sich ihrer entledigt“ (Cicero). Das macht die Wiirde des Menschengesichtes aus, daB der Mensch an ihm sich entscheidet, ob er das annimmt, was das Bild des Gesichtes schweigend aus-

driickt. Durch diese Entscheidung wird der Mensch herausgehoben aus dem blofen naturhaften Ablauf, er schafft sich durch den Geist neu. Vom

Auferen,

der Gestalt, braucht also der Mensch nicht abhingig 99

zu sein, das Wort ist der Richter und Herr iiber das AuBere.

Der Mensch wird mehr durch das Wort als durch al-

les andere bestimmt, er hangt mehr mit dem Wort zusammen als mit seiner Gestalt und als mit den Gestalts-

otdnungen der Natur. Die Einsamkeit,

die um

die

menschliche Gestalt ist, kommt daher: die menschliche

Gestalt ist herausgehoben tiber alle anderen Gestalten der Natur, das Wort wacht tiber sie, die Gestalt gehdrt

dem Wort. Aber auch die Durchsichtigkeit, die die menschliche Gestalt hat, riihrt von der Beziehung des Wortes zur Gestalt her: der Geist, der im Wort ist, macht sie durchsichtig, lockert sie auf, die menschliche Gestalt steht da, als ob sie nicht an des Menschen Ma-

terie gebunden ware. Hort der Mensch auf, sich durch das Wort iiber das, was et scheint, iiber seine Gestalt, zu erheben, also mehr zu sein, als sein Auferes anzeigt, so witd dieses AuBere,

die Gestalt, losgelost vom Wort, sie witd bloBe Natur, — aber abgefallene, bse Natur. Vielleicht ist der Mensch heute darum in die groBe Barbarei ausgebrochen, weil er, der die Ordnung verloren hat, die der Geist im Wort setzt, nun, selbst tierische

Natur geworden, sich mit der tierischen Ordnung zu vetbinden sucht.

Vom Wort abgefallen, ist die menschliche Natur nun auch nicht mehr imstande, sich mit der Natur auBerhalb des Menschen zu verbinden. Wie ein béses Stiick Fleisch I0O0

ist eine solche menschliche Gestalt, in einem Abgrund liegt sie, zwischen dem Wort, das nicht mehr bei ihr ist,

und der tibrigen Natur, mit der sie sich nicht verbinden kann. Bose sitzt eine solche Gestalt zwischen der Natur und dem Wort. An Stelle des Wortes hat sie den Schtei, an Stelle des Schweigens hat sie die Leere. ,, Der Mensch

vetmag nur so lange seine Menschengestalt zu bewahten, als er an Gott glaubt“ (Dostojewski).

Ul

Die menschliche Gestalt an sich, ohne das Wort, die

schweigende menschliche Gestalt, ist wie eine bloBe Erscheinung, das heiBt, es ist, als erschiene sie nur in die-

sem Augenblick vor einem und als wiirde sie im nachsten Augenblick wieder verschwinden. So ist das Tier vor einem: erscheinungshaft, wie ein Bild aus dem Traume,

dem schwebenden Traume mehr angehGrend, als der stabilen Wirklichkeit. So ist ein Tier vor einem: wie herausgefallen aus dem Traume des Menschen. Immer ein wenig erschreckt steht der Mensch vor dem, was aus seinem Traum herausgefallen ist und ihn nun doch wie fremd anschaut. Das Tier hat eine heftige GegenwaArtigkeit, nichts steht so gegenwiArtig vor einem wie ein Tier, — aber es ist nur die Gegenwartigkeit des Augenblicks. Es ist die Gegenwartigkeit des Augenblicks, die auch das Bild des Traumes hat. (Die Schlange hat nicht einmal diese GegenwArtigkeit des Augenblicks, sie ist wie zwischen Léchern immer durchrinnend,

Rinnsal zwiIo1l

schen Lichern, das macht sie so unheimlich, unheimlich

gegentiber den andern Tieren und gegeniiber dem Menschen. — Der Vogel hingegen ist nicht ungegenwarttig, et fliegt zwar rasch dahin, aber die Bahn seines Fluges ist wie ein Bogen, der immer wieder an seinen Anfang

zutiickkehtt.) Durch das Wort erst hort der Mensch auf, bloBe Er-

scheinung zu sein, durch das Wort hebt sich der Mensch heraus aus dem Vetschwebenden, Erscheinungshaften,

et durchbricht seine eigene Erscheinung, er ist da, er witd fest, das Wort steht fest und halt fest. Das Wort

holt den Menschen aus der bloBen Gegenwartigkeit des Augenblicks, die das Tier hat, in den Augenblick, der dauert, in ein Da-Sein. Das Wort, das wahr ist, schafft Dasein, Halt, und nicht nur fiir das, was es selbst feststellt,

festhalt, sondern es geht aufierdem eine Da-Sein zeugende Kraft vom Worte aus. Das Erscheinungshafte des Tieres hier, —- das Daseinshafte des Menschen dort: das sind zwei so ganz und gat verschiedene Qualitéten, daB der Mensch niemals vom Tier her zu seiner Menschenart kommen konnte. Es war ein besonderer Akt nétig, der Akt der Wahrheit durch das Wort, dafi aus dem bloB Erscheinungshaften das Daseiende, der Mensch, wurde. Hat der Mensch das Wort nicht mehr, in welchem die

Wahrheit ist und welches das Da-sein erzeugt, so witd seine Gestalt zur bloBen Erscheinung, und dieses Erscheinungshafte erzewgt auch Erscheinungshaftes, Ver102

schwindendes, Fliichtiges, Flichendes. Ein ungeheures, eilendes Fluidum ist da, in dem der Mensch sich herum-

treibt und sich anstrengt, noch heftiger sich zu bewegen als die’ Dynamik dieses Fluidums.

IV

Der Mensch, der nicht mehr mit dem Wort, durch die

Entscheidung des Geistes, sich iiber seine Erscheinung ethebt, ein solcher Mensch ist so, wie er aussieht, und auch seine Handschrift ist so, wie er ist. Man kann einen solchen Menschen an seinem Gesicht und an seiner

Handschrift und an seinen psychologischen Reaktionen etkennen, aber der Mensch, der hier erkannt wird, ist nicht der witkliche Mensch, sondern der reduzierte Mensch, der Mensch, der sich vom wirklichen Wort ab-

geldst hat. Fir ihn allein stimmt die Physiognomik, die Graphologie und die Psychologie. Ja, indem sich diese als die Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie

ausgeben, legitimieren sie den reduzierten Zustand des Menschen. Diese Anthropologie hat den Charakter des Finsteren, Unterirdischen, Kellerartigen, wie alles, was

sich auf das reduzierte Menschenwesen bezieht. Die Schuld, daB der Mensch auf diese Weise beurteilt

wird, liegt nicht nur am Physiognomiker, Graphologen oder Psychologen, sie liegt vor allem am Menschen selbst, der sich nicht tiber die bloBe Faktizitat, in die er

gestellt ist, erhebt. Das Gesicht eines solchen Menschen hat nicht mehr das unsichtbare Zentrum, nach welchem 103

die Teile streben und von dem aus sie geordnet werden, die Teile stehen in ihrer puren Faktizitat sich selbst gegentiber, das Gesicht steht bereits geteilt da, den Betrachtenden reizend, dafs er es weiter teile, es liegt aufgedeckt da, es fordert dadurch auf, da es gepriift werde. Es fehlt in einem solchen Gesicht vor allem das Schweigen, das vom Betrachtenden auch Schweigen fordert, ja, Schweigen in ihm erzeugt. In einem solchen Gesicht sind die Erlebnisse allzu deutlich eingegraben, die Erlebnisse sind zu heftig da, sie werden zu wichtig. Es fehlt die Breite des Schwetgens, in dem die Linien der Erlebnisse sich ausgleichen und aufgehen kénnen. Dieses, dai die Erlebnisse im Schweigen verschwinden, weist auf das Wichtige hin: es gibt jenseits des persOnlichen Erlebens noch eine andere Welt, wo das Sub-

jektive nicht wichtig ist: die Welt des Objektiven. Fehlt das Schweigen im Gesicht, dann ist das Wort nicht mehr vom Schweigen zugedeckt, ehe es aus dem Munde entspringt, alle Worte sind offen im Gesicht da, das Wort wird immer gesprochen, auch wenn es nicht geredet wird, das Nicht-Reden ist kein Schweigen mehr, es bedeutet nur, dai die Wortmaschinerie eine Pause macht. Nicht nur aus dem Munde, sondern aus jedem Teil des Gesichtes stiirzt das Laute, auch wenn

der Mund geschlossen ist. Das ganze Gesicht ist ein Wettlauf, ein Wettschreien zwischen den Teilen des Ge-

sichts.

104

V

Die Natur, die Landschaft, wirkt auf die Gestalt des

Menschen, auf das Menschengesicht, aber die schweigende Kraft der Landschaft braucht, um zu wirken, das

Schweigen im Menschengesicht. Nur durch das Medium des Schweigens hindurch vermag die Landschaft das Gesicht zu gestalten. Die Kriafte der Landschaft sind breit, und sie brauchen eine breite StraBe, die breite Strafe des Schweigens, damit sie in das Menschenge-

sicht hineindringen und es formen kénnen. Die Landschaft, die schweigende, — im Menschenge-

sicht wird sie sprechendes Schweigen: ,,Der Bewohner der Berge hat in seinem Gesicht das Bild der Berge deutlich eingezeichnet. Emporgerissene Felsen sind die Knochen in einem solchen Gesicht. Passe, Verstecke, Gipfel sind in einem solchen Gesicht, und das Helle der Augen

iiber den Wangen ist wie das Helle des Himmels iiber dem dunkel gefalteten Berge. So werden auch die Zeichen des Meeres in den Gesichtern deutlich, werden zu Bildern bei jenen Menschen, die am Meere leben. Die erhGhten Teile des Gesichts, Nase, Mund, die

Vorspriinge, — wie erstarrte Schiffe sind sie im weiten Meer dieses Gesichts. ,,Bald kam nahe dem Ufer das

schnelle, meerdurchgleitende Schiff. Da nahte sich Poseidon, schlug es mit flacher Hand, und sich: plétzlich versteinert, wurzelt es fest am Boden des Meeres“ (Homer). Die Augen blicken wie aus der Ferne tiber die erstarrten Schiffe des eigenen Gesichts. Zuweilen, wenn 105

das Meer drauBen ruht, daB es ist, als ob es bis in die Tiefe schlafe, zuweilen versuchen dann die erstarrten Schiffe des Gesichts, sich zu bewegen, — aber pl6étzlich

fahren zwei schwere Schiffe drauBen tiber das wirkliche Meer: und die Schiffe des Gesichts sind wieder erstarrt wie zuvor“ (,,Das Menschengesicht“). Die Landschaft ist wie ihr eigenes Denkmal im Menschengesicht, und das Menschengesicht ist wie schwebend tiber der eigenen Landschaft, es hebt sich tiber sich selbst hinaus, es ist gelést von sich: das Subjektive hért auf, akzentuiert zu sein, das Allgemeine, Objektive im

Menschengesicht wird deutlich. Das ist ein Zeichen, dah das Menschengesicht nicht nur sich selbst gehort. Das heiBt nicht, daB die Subjektivitaét vernichtet ist, wenn das Menschengesicht am Objektiven teilhat, aber die Subjektivitat ist dann nur da wie auf einem mittel alterlichen Bilde der Name des Meisters: als Monogramm,

die zwei Anfangsbuchstaben des Namens und Vornamens, halb versteckt in einer Ecke des Bildes.

Fehlt das Schweigen im Gesicht, dann wird das Gesicht 1m wahren Sinn des Wortes landschaftslos, verstadtert, es wird besessen von sich selbst, so, wie eine Stadt mehr von sich selbst besessen ist als die Landschaft der Natur.

Die Landschaft vermag sich also nicht in einem solchen Gesichte zu zeigen, aber der Mensch hat dann manchmal eine ,,Beziehung“ zur Landschaft, er begreift

sie ,,innerlich“. Solch ein Gesicht ist dann leer von Landschaft, statt dessen ist es zu sehr gefiillt mit Inner106

lichkeit, oder besser: es fehlt das Schweigen und es fehlt die Landschaft, durch welche die Innerlichkeit verdeckt

und geschiitzt wird. ,tleute, — kein Meer und keine Berge sind mehr im Gesicht. Das Gesicht nimmt sie nicht mehr an, es st6Bt

sie von sich. Sie haben nicht mehr Platz in dem Gesicht. Es steht alles so auf der Spitze, daB es scheint, als sei die Welt, die Welt drauBen, von dieser Spitze weggestofen, weeggeschiittelt worden. Wie abgesdgt sind die Baume im Gesicht, weggeschaufelt die Berge und ausgeschdpft das Meer, — und in diese Leere des Gesichts hat sich die

groBe Stadt hineingebaut“ (,,Das Menschengesicht*“).

107

DAS

TIER

UND

DAS

SCHWEIGEN

Das Wesen des Menschen wird in seinem Wort sichtbarer als in seinem Bilde. ,,Rede, da ich dich sehe!“‘

sprach Sokrates. Das Tier hingegen driickt sein Wesen ganz und gar in seinem Bilde aus, ein Tier ist so, wie es aussieht, es muB so sein. Der Mensch Aan so sein, wie er aussieht, er mu/f es nicht, er kann sich durch das Wort erheben tiber seine

Erscheinung, er kann mehr sein als sie (siehe Kap. , Menschengesicht und Schweigen“ II). Der Mensch witd

deutlich

im Wort,

das Tier witd

deutlich

im

Schweigen seines Bildes. Dies ist die Vollkommenheit des Tieres: es ist keine

Diskrepanz in ihm wie beim Menschen: Sein und Erscheinung, Inneres und AuBeres, Wesen und Bild sind eines. Diese Ubereinstimmung macht die Unschuld des iieres tans, Auf des Menschen Innetes ist so viel verwandt, daB

seine Oberfliche (sein Bild) nur sparsamer begabt werden konnte.“(Goethe). Die sehr farbige Oberflache mancher Tiere mutet uns an wie ein Versuch, das Schweigen

durch die Heftigkeit der Farbe zu durchbrechen. Das Schweigen, das nicht das Wort aus sich entstehen lassen konnte, verwandelte sich in die sehr heftige Farbe.

Wenn es so ist, wie Plato sagt, da} die Tiere aus den Menschen entstanden seien (Plato, Timaios), damit er, der Mensch, entstehe, wenn es so ist, dann wurde mit 108

dem Tiere auch das dichte Schweigen der Natur aus dem Menschen gestofen, damit das Wort Raum habe, Wort

zu sein. Aber die Tiere blieben in der Nahe des Menschen und mit ihnen das dichte Schweigen, das bei ihnen ist. Friher war das Tier dem Menschen wichtiger als heute. Von ihm her, von des Tieres Schweigen her, wurde auch das Reden des Menschen und seine Bewegung schwerer, langsamer. Die Tiere tragen fiir den Menschen das Schweigen mit sich herum, sie tragen nicht nur die Last der Dinge auf ihrem Riicken, sondern auch die Last des Schweigens. Die Tiere sind Geschépfe, die das Schweigen durch

die Welt des Menschen und der Worte ftihren und die vot den Menschen immer das Schweigen stellen. Vieles, was die Worte des Menschen

aufgestdrt haben, wird

dutch das Schweigen der Tiere wieder ruhig gemacht. Als eine Karawane des Schweigens ziehen die Tiere durch die Welt der Worte. Die Tiere sind Bilder des Schweigens. Mehr als sie Tiere sind, sind sie Tierbilder des Schweigens. Wie die Sternbilder am Himmel das Schweigen des Himmels skandieren, so skandieren die Tierbilder der Erde das

Schweigen der Erde. Eine ganze Welt, die der Natur und die der Tiere, ist mit dem Schweigen angefillt. Die Natur und die Tiere erscheinen nur wie Ausstiilpungen des Schweigens. Das Schweigen der Tiere und der Natur hatte nicht die Gro8e und das Adlige, wenn dieses Schweigen nur ein 109

nicht gelungenes Wort wate. Den Tieren und der Natur ist das Schweigen anvertraut als etwas, was um seiner selbst willen geschaffen ist. Das Schweigen der Tiere ist anders als das Schweigen des Menschen. Das Schweigen des Menschen ist durchsichtig, hell, weil es dem Worte gegentiber steht, jeden

Augenblick das Wort aus sich herauslassend und jeden Augenblick es wieder in sich aufnehmend, es ist ein auf-

gelockertes Schweigen, vom Worte beriihrt und das Wort anritihrend. Das Schweigen des Menschen ist wie die Nacht in den nérdlichen Landern, die vom Lichte

des Tages durchhellt ist. Das Tier hingegen hat ein schweres Schweigen. Blockartig, versteinert ist es im Tier. Das Tier schreit iiber die Blécke des Schweigens hin, es will sich weg-

reifen von ihnen durch Wildheit, aber es ist gefesselt an sie. Isoliert ist das Schweigen im Tier, daher ist das Tier einsam. Es ist, als sei das Schweigen materienhaft greifbar am Tier, es durchsetzt auch sein AuReres, und das Tier ist unerlést nicht nur, weil es das Wort nicht hat, sondern

auch: das Schweigen im Tier selbst ist unerlést, es ist ein hartes, gestocktes Schweigen. Wohl krachzt der Rabe, bellt der Hund, briillt der Lowe, aber die Stimmen der Tiere sind nur wie Risse im Schweigen, es ist, als ob das Tier versuche, mit der Ge-

walt des Kérpers das Schweigen aufzureifen. »in Hund bellt noch heute, wie er zu Anfang der Ilo

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Schépfung bellte“ (Jakob Grimm). Daher kommt das verzweifelte Bellen des Hundes, es ist die vergebene An-

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strengung vom Anfang der Schépfung bis heute, das Schweigen zu zerreiBen, und dies, daB hier vom Tier am Schweigen der Schépfung gezerrt wird, dies bewegt den Menschen immer von neuem. Die Stimmen der Végel sind nicht verzweifelt wie die Stimmen der anderen Tiere. Es ist, als ob die Végel die Tone ihres Gesanges wie Balle gegen das Schweigen

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wiitfen, aus Spiel, und als ob sie die T6ne im Flug wie-

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der einfingen, wenn Schweigens fallen.

sie zuriick von der Flache des

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II!

ZEIT

UND

SCHWEIGEN

Die Zeit ist durchsetzt vom Schweigen. Schweigend bewegt sich ein Tag hin zum anderen, unbemerkt erscheint der andere Tag, als hatte ihn ein Gott aus seiner Lautlosigkeit hingestellt. Schweigend bewegen sich die Tage durch das Jahr, sie bewegen sich im Takte des Schweigens: Larmend ist der Inhalt des Tages, jedoch das Kommen des Tages geschieht im Schweigen. Nicht das gleiche MaB der Stunden, die in jedem Tage darin sind, verbindet die Tage so sehr miteinander wie das gleiche MaB des Schweigens, mit dem sie gebracht werden. Schweigend bewegen sich die Zeiten des Jahres. Nicht kommt der Friihling her vom Winter, er kommt aus dem Schweigen, aus dem auch der Winter kam und

der Sommer und der Herbst. Eines Morgens im Friihling steht der Kirschbaum voller Bliiten da: nicht wie am Baum gewachsen sind die weifen Bliiten, sondern wie aus dem Siebe des Schwei-

gens herausgefallen. Kein Laut wurde gehort, sie glitten dem Schweigen entlang und wurden weif8 davon. Die Vogel sangen im Baum, — es war, als hatte das Schweigen die letzten Laute aus sich herausgeschiittelt: wie aufgepickte Téne des Schweigens ist der Gesang der Vogel. Pl6étzlich ist auch das Griin an den Baumen. Wie nun ein Baum griin neben dem anderen steht, das ist, als Hl4

hatte das Griin schweigend sich von einem Baum zum anderen weitergegeben, so wie ein Wort sich von einem zum anderen weitergibt als das Gesprich. So plétzlich war der Frithling da: die Menschen schauen in die Ferne, als ob sie dort noch jenen erblickten, der entschwand, nachdem er schweigend den Friihling brachte, — in die Ferne schauen die Augen der Menschen im Friihling. So zart sind die Dinge des Frihlings, daB sie nicht die festen Wande der Zeit durchbrechen muften mit Larm,

unbemerkt drangen sie durch die Ritzen der Zeit, plétzlich waren sie da. Die Kinder auf den Platzen sind die ersten, die durch die Ritzen kamen; noch vor den Bliiten sind sie erschie-

nen mit ihren Ballen in der Luft und den glasernen Kugeln am Boden. Plétzlich waren sie da, nicht wie aus den Hausern der Eltern gekommen, sondern wie aus den Ritzen, mit dem

Frithling. Hoch werfen sie die Balle, laut schreien sie jetzt, sie, die zuerst Angekommenen,

als ob sie den

nachfolgenden Dingen des Friihlings den Weg zeigen wollten. Hinter allem Lauten des Frihlings aber ist das Schweigen der Zeit. Eine Wand ist es, von der die Worte der Kinder zurtickgeworfen werden, wie die Balle von der Wand des Hauses. Die Bliiten an den Baumen, so leicht haben sie sich

gemacht, als wollten sie auf das Schweigen sich setzen, unbemerkt vom Schweigen selbst, um sich von ihm, in dem sich bewegenden Kreise der Zeiten, in den nachsten 8

Picard,

. Schweigen

113

Frihling tragen zu lassen, so, wie die Vogel sich auf den Schiffen niederlassen, um weiter getragen zu werden. Dann, plotzlich, ist der Sommer da. Wie hereingebrochen ist er, die Luft ist heifS geworden von der Heftigkeit des StoBes. Wie aus einer Umhiillung geplatzt stehen die Dinge des Sommers in der Fiille da, — aber niemand hérte, wie der Sommer kam,

auch er wutde im Schweigen gebracht, im Schweigen riB die Hiille, die die Fiille des Sommers umschlof, zu

niemandem drang der Laut eines Stofes, als die Zeit den Sommer mit Heftigkeit absetzte: alles geschah im Schweigen. Aber nun, da er da ist, wird alles in ihm laut: die Stimmen der Tiere werden starker, die Menschen werfen ihre Worte wie Balle hoch, aus den Garten und aus den Wirtschaften fallen die Stimmen heraus, als ob der Raum der

Garten und der Hauser zu eng ware fiir sie. Es ist, als ob die Lautheit der sommerlichen Dinge nun triumphiere iiber das Schweigen. Das Schweigen ist versteckt jetzt im Walde. Wie ein griiner Tunnel ist der Wald, der aus dem Larm des Som-

mers in das Schweigen fihrt. Und wie manchmal in , einem Tunnel man Lichter sieht, so blitzen die Rehe des

Waldes vor einem auf wie Lichter, die das Schweigen erhellen. In einem Versteck ist jetzt das Schweigen, aber jeden Augenblick kann es wieder hinaus sich bewegen und alles bedecken: am Mittag eines heif&Sen Sommertages ist jeder Laut des Sommers aufgesogen im Schweigen, dem alles gehért. I14

Manchmal ist es, als bliebe der Sommer immer so stehen; so fest steht er da, als wiirde er nicht mehr wei-

chen, sein Bild scheint eingepragt der Luft und in ihr zu bleiben.

Dann aber kommt, wie nach einem neuen Atemzug des Schweigens, doch der Herbst. Wie Vogel, die vor der Abreise dicht auf den Drahten

versammelt sind, sitzen die Apfel an den Asten. Hie und da, wenn ein Apfel vom Baume auf den Boden fallt, entsteht ein Augenblick der Stille: es ist, als hatte das Schweigen sich hingehalten, den Apfel aufzufangen.

Heftiger werden die Farben der Blatterund der Friichte. Fast ist es, als ob, wenn man sie ritzte, ein Laut aus ihnen kame: Die dunkelblauen Beeten der Trauben sind wie Notenképfe, zusammengedringt schon liegt das Lied

der Trinkenden in den dunkeln Notenkdpfen der Beeren. Nahe ist alles dem Worte geriickt im Herbst: das Schwelgen selbst scheint mitzuténen in den Pausen der Lieder der erntenden Menschen.

Im Winter ist das Schweigen als etwas Sichtbares da:

der Schnee ist das Schweigen, das sichtbar gewordene Schweigen. Der Raum zwischen Himmel und Erde ist besetzt von ihm, Himmel und Erde sind nur Rand des schneeigen

Schweigens. Die Flocken des Schnees begegnen einander in der Luft und fallen miteinander auf die Erde, die selbst schon weil

ist im Schweigen: Schweigen begegnet dem Schweigen. 15

Stumm stehen die Menschen am Rande der StraBe,

das Wort der Menschen ist zugedeckt vom Schnee des Schweigens. Was tibrig blieb vom Menschen, ist seine Gestalt, sie ist wie ein Meilenstein des Schweigens: die

Menschen stehen still, und zwischen ihnen durch bewegt sich das Schweigen. Vom Schweigen also wird die Zeit begleitet, von ihm witd sie bestimmt: ihre Lautlosigkeit kommt vom Schweigen, das in ihr ist. Das Laute der meffbaren Zeit aber, der Takt der Zeit, wird tibert6nt vom Schweigen.

Die Zeit wird gedehnt durch das Schweigen. Uberwiegt das Schweigen so sehr in der Zeit, da sie ganz aufgegangen ist in ihm, dann steht die Zeit still. Es ist nichts als das Schweigen da: das ist das Schweigen der Ewigkeit. Wenn kein Schweigen mehr in der Zeit ist, dann hort man das Gerausch ihrer ablaufenden Bewegung, der wie ein Mechanismus ablaufenden Bewegung. Es gibt dann keine Zeit mehr, nur noch die StéBe ihres Ablaufes, dar-

auf ist die Zeit dann reduziert. Die Menschen und die Dinge sind dann wie gestofen von der Bewegung der Zeit, sie werden hineingenommen in sie und ein Teil von ihr, sie sind nicht mehr dz, sie sind immer im Ablauf.

Menschen, Dinge und Zeit sind im Wettlauf miteinander, es ist, als existierten sie iberhaupt nur in diesem Wettlauf.

116

Ohne das Schweigen, das in der Zeit ist, gabe es auch

kein Vergessen und kein Verzeihen. Wie in das Schweigen die Zeit selbst eingeht, so geht in sie auch das ein,

was in der Zeit geschieht, und darum wird der Mensch durch das Schweigen, das in der Zeit ist, hingeleitet zam Vergessen und Verzeihen. Wenn die Zeit ganz im Schweigen aufgegangen ist, in

der Ewigkeit, kann nichts anderes da sein als das grofe Vergessen und Verzeihen, denn die Ewigkeit ist durchwirkt vom groBen Schweigen, in das alles Geschehene fallt und dann verschwindet. Wohl steht der Geist tiber der Zeit und tiber dem Schweigen, das in der Zeit ist, wohl bestimmt er Ver-

gessen und Verzeihen. Aber dem Geist wird es leichter, zu vergessen und zu verzeihen, wenn er in der Zeit dem Schweigen begegnet: durch das Schweigen wird der Geist erinnert an die Ewigkeit, die das grofe Schweigen und Verzeihen ist.

117

KIND,

GREIS

UND

DAS

DAS

SCHWEIGEN

KIND

Das Kind, — wie ein Hiigelchen des Schweigens ist das Kind. Das Schweigen ist wie heraufgekrochen an dem Kind, stumm sitzt das Kind, das Hiigelchen des

Schweigens, da. Aus diesem Hiigelchen des Schweigens erscheint dann plotzlich das Wort. Ganz klein wird das Htigelchen, wenn

das erste Wort des Kindes gesagt ist,-wie ein Zauberwort ist das erste Wort, unter dem das Hiigelchen sich senkt;

das Wort aber versucht, sich gro aufzurichten. Es ist, als ob das Kind mit dem Laut, der aus seinem Munde kommt, das Schweigen anschlage, so, wie man an

eine Tiire anklopft, und als ob das Schweigen antworte: ich bin da, das Schweigen, ich bin da mit einem Wort.

Das Wort hat Mithe, aus dem Schweigen des Kindes heraufzukommen. Wie das Kind von der Mutter gefthrt witd, so, scheint es, wird vom Schweigen das Wott bis an den Rand des Mundes gefiihrt, und so sehr wird es vom Schweigen gehalten, daB es ist, als miisse sich jede Silbe besonders vom Schweigen ablésen. Es kommt mehr Schweigen als Laut nach auBen durch das Wort des Kindes, durch des Kindes Wort bewegt sich mehr Schweigen zu den Menschen hin als eigentliches Wort. Die Worte, die das Kind redet, verlaufen nicht in einer geraden Linie, sondern in einem Bogen, als ob sie wie-

der zuriick fallen wollten ins Schweigen: langsam strek118

ken sie sich vom Kind hin zu den andern Menschen und,

bei ihnen angekommen, zgern sie einen Augenblick, ob sie wieder sich hinab begeben sollen ins Schweigen oder bleiben bei den Menschen. Das Kind schaut seinem Worte nach, wie einem Ball, den es hoch wirft und dem

es mit den Augen nachfolgt, ob er in der Hohe verschwindet.

Das Kind vermag ein Wort, das es schwer aus dem Schweigen gebracht hat, nicht durch ein anderes zu ersetzen, es vermag nicht, an die Stelle eines Substantivs ein Pronomen zu stellen, denn jedes Wort ist wie zum ersten Male da, und was zum ersten Male da ist, als das Neue, das will bleiben und 14Bt sich nicht ersetzen. Nicht einmal von sich selbst redet das Kind mit ,,Ich“‘, son-

dern es sagt seinen Namen: ,,Andreas will. ..“. Es ware dem Kind, als verschwinde es selbst, wenn es sich ein Pronomen ersetzen wiirde, es, das eben mit dem aus dem Schweigen kam und wie zum ersten Male Die Sprache des Kindes ist dichterisch, denn

durch Wort da ist. ste ist

die Sprache des Anfangs, und sie ist urspriinglich darum, wie das Dichterische. ,,Der Mond ist kaput gegangen“, sagt das Kind vom Neumond, ,,wir miissen ihn

der Mutter bringen, daB sie ihn flicke™.

Die Sprache des Kindes ist melodisch. In der Melodie verstecken und schiitzen sich die Worte, die scheu aus

dem Schweigen gekommen sind, in der Melodie verschwinden sie fast wieder, es ist mehr Melodie in den Worten des Kindes, als Inhalt.

119

Es ist, als ob im Kinde das Schweigen sich anhaufe als eine Reserve fiir den Erwachsenen, fiir die laute Welt

des Erwachsenen, fiir spiter. Begliickend ist jener Erwachsene, der nicht nur vom Worte des Kindes, son-

dern auch vom Schweigen des Kindes in sich bewahrt hat, der vom Schweigen des Kindes aus redet. Die Sprache des Kindes ist Schweigen, das Laut wurde. Die Sprache des Erwachsenen ist Laut, der das Schweigen sucht. Die Kinder, die Hiigelchen des Schweigens, — iiberall sind sie zerstreut in der Welt der Worte, die Menschen datan erinnernd, woher das Wort kam. Wie eine Ver-

schwGrung sind sie gegen die zu dynamische Welt der Worte von heute, und manchmal ist es, als seien sie nicht

nut da als eine Erinnerung daran, woher das Wort kam, sondern auch als eine Mahnung, wohin es wieder zuriickkehren k6nnte: ins Schweigen. Was aber kénnte besseres dem verdorbenen Worte geschehen, als wenn es in diese Hiigelchen des Schweigens zuriickgebracht und in ihnen versinken wiirde! Hiigelchen des Schweigens waren dann nur noch auf der Erde, und in ihnen wiitde das Wort versuchen, sich tief hinab zu senken,

dal} aus der 'Tiefe des Schweigens wieder das erste Wort, das utspriingliche, entstiinde.

DER

GREIS

Der Grteis, — langsam stieg das Wort beim Kind aus dem Schweigen, langsam ist auch das Wort des Greises, I20

es nahert sich dem Schweigen wieder. Wie eine Last, die zu schwer geworden ist, fallt aus dem Mund des Greises das Wort, mehr hinab ins Schweigen als zu den

Menschen, mehr zu seinem eigenen Schweigen als zu den andern Menschen redet der Greis. Wie schwete Ku-geln werden die Worte zwischen den Lippen hin und her bewegt: es ist, als wiirden sie im Geheimen dem Schweigen zugerollt, es ist, als wolle der Greis die Worte, die er als Kind fast unbemerkt aus dem Schwei-

gen empfing, nun wieder dem Schweigen zuriickgeben, ehe er selbst die Erde verlaBt. Fin alter Mann und eine alte Frau im Schweigen nebeneinander sitzend am Abend vor dem Hause: die beiden und jedes Wort, das aus ihnen kommt, und jedes Tun, das durch das Wort geschieht, sind im Schweigen darin. Sie horchen nicht einmal mehr, was das Schwei-

gen tedet, sie sind selbst ein Stiick des Schweigens geworden. Wie sie die Kithe an die Tranke des Wassers fiihrten, so fihren sie nun den Abend an die Tranke des

Schweigens und warten, bis er sich gesattigt. Dann stehen sie langsam auf und fthren den gesattigten Abend heim ins Haus, ans warmende Licht.

Der Greis hat vom Schweigen schon bei sich, noch ehe er sich in das Schweigen des Todes begibt, langsam sind seine Bewegungen, als wollten sie das Schweigen, auf das er zugeht, nicht stéren. Der Gang des Greises mit dem Stock ist z6gernd, als gehe er auf dem Schweigen wie auf einer Briicke ohne Gelander, von der links und rechts nicht mehr das Wort, sondern der’Tod herauf

steigt. Mit seinem Schweigen kommt der Greis dem eae

Schweigen des Todes entgegen, und das letzte Wort des Greises ist wie ein Schiff, das den Gteis vom Schweigen des Lebens hiniiber trigt in das Schweigen des Todes.

Te 2:

DER

BAUER

UND

DAS

SCHWEIGEN

Das Dorf: scheu steigt die Mauer der Hauser aus der Erde, zuerst wie Schritt fiir Schritt langsam in die Lange und dann ein wenig in die Hdhe, vorsichtig, als ob sie firchte, im naichsten Augenblick auf etwas zu treffen,

das nicht angeriihrt werden soll. Die Wege liegen da wie weggeworfen, als ob sie nicht mehr gebraucht wiirden, abgelaufen, wie Schuhe abgelaufen sind, kurz sind sie, um die Ecken verschwindend

und pl6tzlich nicht weitergehend, wie Reste sind sie von einer groBen StraBe, die nicht mehr da ist. Nur das Schweigen geht noch iiber sie, und hinter ihm ein paar Menschen, die dem Schweigen nachschweigen. Aus den kleinen Fenstern der Hauser aber schaut das Schweigen selbst sich zu, wie es unten auf dem Wege

voriiber geht. Langsam sind die Menschen, als wiirden sie sich im

Takte des Schweigens bewegen. Zwei Menschen am Morgen auf der Strafie beieinander stehend und redend: vorsichtig schauen sie herum, als ob sie noch vom Schweigen der Nacht beobachtet wiirden, im Verstohlenen gehen die Worte hin und her,

wie ein Versuch ist es, ob sie nach dem Schweigen der Nacht noch imstande sind, zu reden. Lange schon reden sie, aber es ist, als wiirde das Schweigen noch dichter. 123

II

Wie

aus

einer Ritze des Schweigens,

unauffallig,

schliipft im Friihling die erste Primel und ein Weidenkatzchen hervor, dann, wie durch einen Sto, sind auf

einmal alle Krokusse und die Tulpen da, man meint vom StoB einen Ton zu héren, so plétzlich erscheinen sie, aber siehe, der Ton der Heftigkeit ist verwandelt in Farbe: rot, sehr rot und gelb stehen die Tulpen da. Die Vogel fangen an zu singen, — es ist, als werde das Schweigen der Luft angeritzt vom Fliigel des Vogels: so entsteht der Gesang. Im Sommer dann sind die Blumen in den Bauerngarten dick wie Friichte, gewachsen in der Warme des Schweigens, farbige Meilensteine, Wegweiser auf dem Gange des Schweigens. Manchmal an einem Sommertag ist das Dorf eingesunken in das Schweigen, wie unter der Erde, die Mauern der Hauser sind die letzten Reste, die noch nicht ver-

sunken sind, und der Turm der Kirche ragt hoch wie ein Ruf um Hilfe, Ruf, der zu Stein erstarrte in diesem Schweigen. Jetzt, an einem solchen Sommertag, sind die Blumen

in den Garten verandert: die dunklen sind wie Tang am Boden des Schweigens und die hellen wie Spiegelbilder der Sterne auf dem Grunde des Schweigens oder wie glitzernde Fische im Wasser des Schweigens.

124

IIT

Die Kiihe auf den Feldern: sie sind die Tiere des Schweigens. Die breite Flache des Riickens, — es ist als triigen sie darauf das Schweigen, ihre Augen sind wie braune Kieselsteine auf der StraBe des Schweigens. Zwei Kiihe auf dem Felde daherzichend mit dem Menschen daneben: es ist wie eine Prozession des Schweigens, es ist, als schiittete der Mensch vom Riicken der Tiere

das Schweigen herab auf die Felder, es ist, als pfliigte er mit dem Schweigen. Der Ruf der Kuh aber ist der RiB im Schweigen, er ist wie das Schweigen, das sich selbst zerreiBt. Die breiten Bewegungen der Manner auf den Feldern,— sie saen das Schweigen wieder, das in der Stadt vernichtet worden ist.

IV

Das Leben der Bauern ist ein Leben im Schweigen, die

Wortte sind zuriickgewandert in die stummen Beweg ungen des Menschen, wie ein langgedehntes Wort, das auf seinem langen Wege den Laut verlor, sind die Bewegungen des Bauern, sie ersetzen das Wott. Immer macht der Bauer die gleichen Bewegungen beim Mahen, Saen und Melken, bei jeder Arbeit, — es ist,

als zeichnete sich die immer gleiche Bewegung in die Luft ein, an der sie vorbeistreift, die Bewegung ist als ein Bild da, so deutlich wie das Haus des Bauern und 125

die Baume

auf dem Feld. Aller Larm der Arbeit, all

ihr Geraiusch ist eingesogen im Bild, Schweigen ist darum um die Arbeit des Bauern. Bei keinem anderen Stand ist die Arbeit als Bild so sichtbar wie beim Bauern. Der Bauer, der langsam hinter den Pferden und dem Pflug daherkommt, - alle Acker der Erde liegen unter

diesem Pflug, unter dem Tritt des Pferdes und unter dem Gang des Bauern. Die Bewegung des Bauern, des Pferdes und des Pfluges ist unabhingig vom Wort, so, als sei sie nie vom

Wort ausgegangen,

als hatte nie der

Bauer daheim gesagt: jetzt gehe ich aufs Feld zum Pfliigen, — ja als hatte tiberhaupt nie ein Mensch vom Acker, vom Pferd und vom Pfliigen geredet, die Bewegung des Bauern ist wie die Bahn eines Gestirnes geworden, die Bahn hat das Wort aufgesogen. So langsam sind die Bewegungen des Bauern, als ob

die Gestirne, die langsamen, mit ihm sich bewegten und als ob die Bahn des Bauern und die Bahn der Gestirne ineinander iibergingen. Die Fille der K6rner, die von der Hand des Bauern auf die gedffnete Erde fallen, ist wie die Fille der Sterne

an der Milchstrafe des Himmels, und sie glanzen im Nebel wie jene. Das Leben des Bauern ist wie ein Sternbild des Schweigens am Gewdélbe des Menschenhimmels. Indem das Leben des Bauern ganz zum Bild wurde, trat es heraus aus dem Kreise der tibrigen Menschen, es ist mehr verbunden mit den Bildern der Natur und mit den Bildern des inneren Lebens als mit jenen Menschen, 126

die auBerhalb der Welt des Schweigens und der Bilder sind. Manchmal wenn ein Bauer mit dem Pflug und mit den

Kiihen tiber die weite Flache des Feldes sich bewegt, immer mehr dem Rande sich nahernd, wo der Horizont des Himmels die Erde beriihrt, da ist es, als naihme im nachsten Augenblick die Wélbung des Himmels den Bauern, den Pflug und die Kiihe zu sich hin, damit er als

Sternbild nun den Boden des Himmels pfliige. Vv

Der Bauer ist die Mitte einer Geschlechterreihe, riick-

wArts und vorwarts, so dafi die vergangenen Geschlechter in ihrem Schweigen bei ihm sind und mit ihrem Schweigen auch die zukiinftigen. Jeder andere Stand ist in der einzelnen Person nicht nur lauter als der Bauer,

sondern er ist auch heftiger als er in der Gegenwart darin, losgeléster vom Vergangenen und vom Zukiinftigen und von deren Schweigen. Es larmen aber und schreien die Bauern an ihren Festen, es ist, als ob sie versuchten, auszubrechen aus dem

Schweigen, es gelingt ihnen nur mit Gewalt. Die Bewegungen der Bauern auf den niederlandischen Bauernbildern: die Bewegungen der Gesichter und der Glieder sind wie von Menschen, die eben aufgestanden sind von

der Ruhe

und vom

Schweigen,

heftig

schiitteln sie die Ruhe und das Schweigen ab und ver$27

suchen nun alle Bewegungen zugleich auf einmal, als ob sie wissen wollten, was alles man mit dem Gesicht und den Gliedern im Schreien und Lachen machen kann, sie

haben es vergessen im Schweigen.

VI

Ein Bauersmann und eine Bauernfrau am Abend vor dem Hause sitzend, beide in einem langen Schweigen, — da fallt ein Wort aus dem Munde des Mannes oder der Frau in das Schweigen. Aber das ist keine Unterbrechung des Schweigens, es ist, als klopfe das Wort nur an, um zu priifen, ob das Schweigen da sei, dann entfernt es sich wieder. Oder es ist wie das letzte Wort, das

sich herausbegibt aus dem Menschen, damit das Schweigen ganz da sei, das letzte Wort, das den anderen, die

schon vorausgegangen und verschwunden sind, nachlauft, ein Nachziigler, der mehr zum Schweigen als zum

Wort gehért. Dieses Schweigen der Bauern bedeutet nicht den Verlust des Wortes, im Gegenteil: in diesem

Zustand des Schweigens ist der Mensch wieder am Anfang der Zeiten, wo er darauf wartete, das Wort aus dem Schweigen zu empfangen, es ist, als hatte er das Wort noch nie besessen, als wiirde es ihm jetzt

zam ersten Mal gegeben. Es ist nicht der Mensch, es ist das Schweigen, aus dem heraus das erste Wort wieder erscheint. Der Mensch auftagend aus der Ebene der Erde: das ist wie das Wort, aufspringend aus der Ebene des 128

Schweigens. Aber nur der Bauer hat heute noch diese Ebene des Schweigens in sich. Der Bauer, aufragend aus der Ebene des Feldes, das entspricht der Ebene des Schweigens, aus der das Wort des Menschen entspringt.

129 9

Picard,

Schweigen

MENSCHEN

Nous

UND

DINGE

nous taisions. Heureux

IM SCHWEIGEN

ceux, heureux deux

amis, qui s’aiment assez, qui veulent assez se plaire, qui se connaissent assez, gud S’entendent assez, qui sont assez patents, qui pensent et sentent assez de méme, assez ensemble en dedans chacun séparément, assez les mémes, chacun céte 4 céte, de marcher longtemps, longtemps, daller de marcher silencieusement le long des silencieuses routes. Heureux deux amis, qui s’aiment assez pour (savoir) se taire ensemble. Dans un pays qui sait se taite. Nous montions. Nous nous taisions. Depuis longtemps nous nous taisions“ (Péguy). Begliickend ist nicht nur das gemeinsame Einverstandnis tiber den Sinn der Dinge, sondern auch iiber den Sinn des Schweigens. Es schweigt nicht derjenige, der blo& nicht redet, sondern nur jener, in welchem das Schweigen als ein primares, selbstverstaéndliches Sein vorhanden ist, so als ob es gat kein Wort gabe, ohne Gegensatz zum Wort. Dieses Leben im primaren Schweigen fiigt dem Menschen, der doch Mensch nur dutch das Wort ist, noch ein anderes Leben an, das Leben im Schweigen, es weist ihn tiber das Leben, das im Worte ist, auf ein Leben jenseits vom Wort, es weist ihn

so uber ihn selbst hinaus. »Oft sagte Platon Karatajev das vollkommene Gegen130

teil von dem, was er frither gesagt hatte, und doch wat das eine wie das andere richtig... Wenn Pierre zuweilen von dem tiefen Sinn seiner Worte betroffen war, bat er

Platon, das Gesagte zu wiederholen. Aber Platon vermochte sich seiner erst vor einer Minute gesprochenen Worte nicht mehr zu entsinnen... Platon verstand die

Bedeutung der einzelnen aus dem Zusammenhang getissenen Worte nicht und konnte sie nicht verstehen.

Jedes Wort Platons und jede seiner Handlungen war der Ausdtuck einer Tatigkeit, die er selbst nicht verstand und die doch sein ganzes Leben ausmachte. Platons Leben, wie er es betrachtete, war als Einzelleben sinnlos und erhielt seine Bedeutung erst als Teil des Ganzen, das et unablassig um sich fluten fiihlte. Seine Worte und

Taten entstr6mten thm ebenso gleichmahig, wie sich der Duft von einer Blume lést“‘ (Tolstoi, Krieg und Frieden). Hier ist der Mensch in einer so festen Ordnung darin, dai das Wort nicht mehr gebraucht wird, um eine Handlung auszulésen. Die Handlungen folgen einander so,

wie die Blumen aufgehen bei einer Blumenuhr, wo zu jeder Stunde die Blumen eines bestimmten Beetes aufgehen, unmerklich. Bei diesem Platon von Tolstoi bedarf es des Wortes nicht mehr, und datum hat das Wort die Freiheit in sich, es ist nicht mehr unmittelbar an das Objekt gebunden und auch nicht an die anderen Worte, aber trotzdem ist es nicht losgelassen, sondern

selig schwebt es tiber den Objekten und tiber den Handlungen. Nicht durch die formale, auBere Logik, sondern

durch die Seligkeit einer solchen Freiheit sind die Worte miteinander verbunden und gehalten. Darum ,,gibt es 131

auch hier keinen Widerspruch“, und es kann einer , das

vollkommene Gegenteil sagen von dem, was er gesagt hatte, und doch war das eine und andere richtig“. Die Worte zeigen hier nicht sich selbst an und nicht die Dinge und Handlungen, sondern die Seligkeit der inneten Freiheit. Ein solcher Mensch kann reden und doch ist das Schweigen da, er kann schweigen und doch ist die Rede da, ja das Schweigen wird hérbar durch das Wort, und die Seligkeit, die sonst nur ein Gefiihl ist, wird wie

ein Gegenstand sichtbar, in ihrer Durchsichtigkeit sichtbar. il

Die alten Stadtchen liegen wie in einer Offnung des Schweigens darin, noch von ihm umgeben an ihren Randern. Es ist, als sei vom Schweigen an einer Stelle die Bedeckung weggehoben und als schaue das Schweigen nun selbst herab auf das Stadtchen. Eine Erstarrung ist noch in den Hausern, ein Schreck,

da allzu rasch das Stadtchen aus der Oberflache des Schweigens brach. Ganz nahe bei einander ist alles im Stadtchen, Hauser, StraBen und Platze, wie verpackt zam Weenehmen, es ist,

als bedtirfe es nur eines kleinen Ruckes und alles wiirde wieder in der Offnung des Schweigens verschwinden. Die Strafien sind wie Briicken tiber das Schweigen, und die Menschen gehen langsam darauf, als trauten sie

der Festigkeit nicht. Nur der Dom ist sicher, er ist wie der feste Anfang 132

eines Schachtes, in den hinab das Schweigen zu dem noch tieferen Schweigen sich begibt. Die groBe Stadt heute hingegen: es ist als sei das Schweigen aufgebrochen, plétzlich aus der Stadt, und als habe es im Aufbruch alles durcheinander geworfen; zerst6rt vom Aufbruch des Schweigens ist die Stadt, wie Reste, die das Schweigen zuriicklie®, liegt sie da, wie

Abfall vom Schweigen. Die Sprache der Menschen in der Stadt ist wie nicht mehr ihnen gehGrend, sie ist nur ein Teil des allgemeinen Larmes der Stadt, als seien die Worte nicht geformt

vom

Munde

des Menschen,

sondern

nur Gekreisch,

kommend aus der Maschinerie der Stadt. Man meint heute, da die Menschen nur aufs Land zu gehen brauchten, um die ,,Stille der Natur“ und das

Schweigen zu erreichen. Aber die Menschen treffen auf kein Schweigen, im Gegenteil, sie tragen den Larm der groBen Stadt und des eigenen Inneren hin ins Land. Das ist die Gefahr der Bewegung ,,Zuriick aufs Land“: Der Larm, der in der GroBstadt wenigstens beieinander, wie in einem Gefingnis eingesperrt war, wird losgelassen aufs Land. Die GroBstadt dezentralisieren, das ist: man dezentralisiert den Larm, man verteilt den Larm iiberall hin. It

Manchmal, wenn die Wand eines Hauses im Lichte des Mittags steht, ist es, als nehme das Licht Besitz von 133

der Wand fiir das Schweigen, man spiirt wie das Schweigen des hei&en Mittags naht. Wie ein Zeichen, daB die Mauer dem Schweigen gehétre, liegt das Licht fest auf der Wand. Das Tor in der Mauer ist geschlossen, die Fenster sind

mit Vorhangen bedeckt, Stimmen hért man von innen leise, als duckten sie sich vor dem Schweigen. Die Wand scheint sich zu dehnen durch das Schweigen, das auf sie driickt. Da, auf einmal, fallt von innen ein Lied an die Wand: wie helle Kugeln, geworfen an diese Wand, sind die T6ne, und nun ist es, als erhGbe sich das Schweigen von

der Wand und stiege aufwarts an ihr gegen den Himmel, und die Fenster der Wand sind wie die Stufen einer Leiter, die das Schweigen und auch den Gesang nach oben fiihren. IV

Manchmal, an einer StraBe, ist eine Bank, und auf ihr

eine Katze, ruhend, und jenseits der mit groben Steinen besetzten

StraBe ist nichts als ein Stiick Wiesenland,

von dem ein Abhang rasch gegen das Tal zu fallt. Die Bank, die Katze, die StraBe und das Sttick Wiese schei-

nen zu schweben zwischen dem Himmel oben und der Erde am Abhang unten, und hier, hier in diesen paar Dingen ruht das Schweigen selbst, es ist, als ware das Schweigen aus der tibrigen Welt herausgegangen und hatte diese paar Dinge mitgenommen, um hier an ihnen zu tuhen.

134

Die Katze ist unbewegt, als ware sie noch eben vorher eines jener steinernen Tiere gewesen, die an den Domen ewig warten, das Tier des Schweigens, imstande, das Schweigen selbst zu bewachen. Diese paar Dinge, das Tier, die Bank in der Sonne, die StraBe mit den Steinen, das Stiick Wiese, sind heraus-

gehoben aus dem Ablauf der Welt durch das Schweigen. Tier, Bank und Erde sind zuriickgekehrt an den Anfang, wo nur das Schweigen, noch nicht das Wort, war. Am

Anfang waren sie so, und so sollen sie bis ans Ende der Welt gebracht werden. Der Mensch davor aber méchte sein eigenes Schweigen zu diesen Dingen des Schweigens legen, daB es mitwandere wieder vom Anfang der Welt bis zu ihrem Ende, — dann aber sagt der Mensch das, was er vor sich sieht, doch im Wort, und im Wort sieht er das Schwei-

gen noch deutlicher als mit dem Auge.

V

Eine groBe Mauer aus Stein, die grofe Aufenmauer des Theaters zu Orange in der Provence: sie ist das Schweigen selbst. Das ist nicht das Schweigen, das dadurch entsteht,

da das Wort zerdriickt ist, hier ist das Schweigen nicht zermalmt durch den Stein, hier ist es von allem Anfang an in ihm, es ist im Stein so, wie die griechischen Gétter im Marmot sind, wo es ist, als hatte sie nicht der Mensch

aus dem Marmor gestaltet, sondern als waren sie selbst, 135

so wie sie sind, im Marmor etschienen, lange gewandert dutch die Blécke des Marmots, bis sie ankamen am Ende des Matmorbergs: wie aus einem Tor, aus dem

letzten Tor des Marmorberges, treten die Gétter aus dem Marmor heraus. Und genau so ist das Schweigen in dieser Mauer: wie durch alle Steine der Erde ist es hindurch gewandert, nun ist es an der letzten Wand der Steine angekommen, hier,

und wattet. Schon sind runde Tore herausgebrochen aus der Mauer unten und an den Seiten, als sei alles vorbereitet

fiir das Schweigen, daB es sich von hier in dieWelt bewege. Ware die Mauer nur ein einziger Stein, so ware das wie ein Denkmal des Schweigens, nur wie ein Denkmal. So aber, zusammengesetzt aus vielen kleinen Steinen, wie sie ist, sind diese Steine, indem sie sich vom

Boden erheben und sich der Lange und Breite nach ausdehnen, wie Glieder des Schweigens; lebendig ist das

Schweigen, es ist kein Denkmal: wie steinernes Fleisch des Schweigens, so sind die vielen Steine da. Man spiirt das Gewebe des Schweigens an diesem Stein. Es ist, als ob von hier die ganze Erde mit Schweigen vetsorgt werden k6nnte, ja als ob von hier aus eine ganze Welt des Schweigens errichtet werden kénnte: Boden der Erde, der aus Schweigen besteht, Fliisse, die anstatt

des Wassets das Schweigen zwischen ihren Ufern fiihten und an denen die Baume so dicht neben einander stehen, wie die Steine hier an der Mauer. Die Baume aber tragen an den Zweigen, zwischen den Blattern, den hellen Glanz, und der helle Glanz zwischen den Blattern

ist wie die Friichte des Schweigens. 136

DIE NATUR

UND

DAS

SCHWEIGEN

Das Schweigen der Natur ist zwiespaltig fiir den Menschen. Es ist begliickend, weil es das grofe Schweigen ahnen laBt, das vor dem Wort war und aus dem alles ent-

steht. Und es ist zugleich bedriickend, weil es den Menschen wieder vor jenen Zustand stellt, wo er das Wort noch nicht hatte, wo er noch nicht Mensch war: wie eine Drohung ist es, dal} das Wort wieder von ihm weg

in jenes Schweigen genommen werden kénnte. Ware der Mensch nichts als ein Teil der Natur, dann wiirde er nie einsam sein, immer wate er durch das Schweigen mit allem verbunden, — doch das ist eine Verbundenheit, die nur das Naturhafte seines Wesens an-

ginge. Aber der Mensch ist nicht nur Natur, sondern auch Geist, und der Geist ist einsam, wenn der Mensch

nut naturhaft, durch das Schweigen, mit den Dingen vetbunden ist, der Geist braucht die Verbindung durch das Wort. Dann hort der Geist auf, einsam zu sein in der

Nihe der schweigenden Natur: er redet und ist doch im Schweigen, ja er vermag durch das Wort das Schweigen zu erzeugen. Das ist das Zeichen des géttlichen Ursprungs des Wortes, da aus ihm das Gegensatzliche, das ganz und gar Andere, entstehen kann, das, was nicht

in der 4uBeren Gegebenheit des Wortes enthalten ist: das Unerwartete, das Schweigen. E57

Die Verbundenheit durch da, die Verbundenheit durch blick gebunden, aber es ist heit, der im Wort erscheint, der Ewigkeit.

das Schweigen das Wort ist an der Augenblick und damit der

ist dauernd den Augender WahrAugenblick

Das Schweigen der Natur sei dauernd da, haben wir gesagt, es ist die Luft, in der die Natur atmet. Die Bewegungen in der Natur sind Bewegungen des Schweigens. Der Wechsel der Jahreszeiten ist wie der Rhythmus des Schweigens, das Bild jeder Jahreszeit ist bedeckt vom Schweigen. Das Schweigen der Natur ist das Primare, die Dinge der Natur dienen nur dazu, das Schweigen deutlich zu

machen. Die Dinge der Natur sind Bilder des Schweigens, mehr das Schweigen darstellend

als sich selbst,

sie sind nur noch wie Zeichen, wo das Schweigen ist.

Il

Das Schweigen war zuerst da, vor den Dingen, — es ist, als sei ihm der Wald langsam nachgewachsen: die Aste det Baume sind wie dunkle Striche, die den Be-

wegungen des Schweigens nachgefahren sind, dicht umgeben die Blatter die Aste, als wollte das Schweigen sich selbst zudecken. Ein Vogel singt im Walde: das ist nicht der Laut gegen das Schweigen, es ist der helle Blick, der aus dem Auge des Schweigens selbst auf den Wald fallt. 138

Immet mehr wachst der Wald, weil immer mehr das

Schweigen wachst, dichter noch miissen die Blatter fallen, lauter noch wird der Gesang des Vogels, — der helle Blick des Schweigens vermag nicht mehr durch den Wald zu dringen. Der breite Riicken des Berges: sanft hilt er sich dem Auge des Menschen hin und warttet geduldig, da der Mensch ein Wort rufe, der Wald fangt es dann auf und gibt es dem Menschen im Echo wieder zuriick, nicht ihm gehért das Wort, sondern dem Menschen.

Tiefer noch wird nach dem Echo das Schweigen, aber dort, wo das Echo am Berg entlang sich bewegt, ist der Riicken des Waldes wie erhoben. DrauBen vor dem Wald: die Blumen sind wie Schweigen, das aufgetaut ist an der Sonne und darum leuchtet. Daneben det See: er ist wie ein Siegel, das das Schweigen auf die Flache der Erde gedriickt. Dann wird der See auf einmal wie eine graublaue Platte, die auf die Erde gelegt wurde, damit das Schweigen nicht ganz hervorbrache aus dem Grunde der Erde und alles zudecke. Zwei Schiffe fahren an den beiden Enden des Sees,

langsam, wie hiitend, wie beobachtend. Ein machtiger Baum steht in der Nahe des Sees: wie ein Pflock gegen das Schweigen in der Tiefe ist der schwere Stamm in die Erde gedriickt, — aber siche, das Schweigen ist dem Stamm entlang nach oben gekrochen, und die Krone des Baumes beugt sich auseinander vor ihm. 139

Vollgefillt sind die Dinge der Natur mit Schweigen, wie Behilter, vollgeftllt mit Schweigen, stehen sie da.

Der Wald ist wie ein groBer Stausee des Schweigens, aus dem langsam das Schweigen durch die Luft sickert, ganz hell ist die Luft von dem Schweigen. Der Berg, der See, die Felder, der Himmel, sie schei-

nen auf ein Zeichen zu warten, das Schweigen aus sich zu leeren auf die Dinge des Larmes in den Stadten der Menschen. Fin Vogel fliegt von einer Seite des Tales zur anderen, — es ist, als wiitde durch den KGrper des Vogels wie durch einen Ball das Schweigen durch den Raum geworfen, und die Stimme des Vogels ist nur wie der Ton, mit dem der Ball die Luft durchschneidet, und noch

mehr hért man nach jedem Ton des Vogels das Schweigen. So wartend nimmt das Schweigen in den Dingen immer mehr zu, die Dinge scheinen unterzugehen im Schweigen, sie sind nur noch Rand des Schweigens, und so sind die alten Dérfer auf den Hiigeln der tessinischen Berge: untergegangen im Schweigen, wie Schiffe, die am Meeresgrund des Schweigens ruhen, und die Wolken iiber ihnen sind wie helle Fische, die sich an den Schiffs-

ungeheuern des Schweigens stieBen und nun fern sich von ihnen halten. Die Menschen aber, die langsam durch diese Dérfer gehen, sind wie Taucher, die am Meeresgrund des Schweigens die verlorenen Schatze des Schweigens holen. Redend kam mancher in ein solches Dorf hinein, und

voll von Schweigen ging er wieder von dort. 140

Ii

Im Anfang des Friihlings kehren die Dinge aus dem Schweigen mehr zu sich selbst zuriick. Im Fruhling, wenn die Blatter wie Schmetterlinge scheu an den Asten sitzen und das Blau des Himmels sich zwischen die Aste schiebt, daB die Blatter mehr an

diesem Blau als an den Asten zittern, da gehort der Baum mehr dem Himmel an, und damit sich selbst, als

dem Schweigen. Ein Reh springt zwischen zwei Baumen hindutch, und der helle Fleck im Fell ist wie ein Laut, der durch

das Schweigen fuhr. Aber da ist auf einmal der Mond und die Sichel des Mondes ist wie der sich 6ffnende Spalt, durch den das Schweigen herabtropft in den Wald und alles bedeckt. In der Hitze des sommerlichen Mittags bricht das Schweigen ganz in den Raum hinein, die Zeit selbst scheint still zu stehen, wie erstarrt von diesem Ruck.

Die W6élbung des Himmels ist hoch hinaufgedehnt, der Himmel ist nur noch wie der obere Rand des Schweigens. Die Erde ist hinabgesunken, man sieht nur noch ihren Rand, den unteren Rand des Schweigens. Der Berg, die Baume, die zerstreuten Hauser sind wie die letzten Dinge, die noch nicht eingesogen sind in den Raum des mittiglichen Schweigens. Das Schweigen erscheint ruhig, wie geronnen, es ist, als ob auch diese

Dinge im Schweigen verschwinden, sobald es sich beweet. 141

Ein Vogel fliegt langsam in die Héhe, seine Bewegungen sind wie dunkle Striche, mit denen einer das Schweigen beschwort, da es in der Ruhe bliebe: es ist, als ob

sonst, im nachsten Augenblick, das Schweigen sich 6ffnete und alles in sich hineinzége. Nicht das Dunkle gehért zum Schweigen, sondern das Licht. Nie ist das so deutlich als an den Mittagen des Sommets, wo das Schweigen ganz und gar in Licht verwandelt ist. Das Schweigen ist wie abgedeckt, und das Licht erscheint als das Inwendige des Schweigens. Hier, an diesen Mittagen ist keine Decke mehr tiber dem Schweigen, das Licht, das inwendige, liegt nackt

da, nichts

riihrt sich, nichts

getraut

sich,

sich

zu

rihren. So sehr erscheint das Licht hier als das Wesen des Schweigens, daB das Wort gar nicht notwendig erscheint. Das Licht ist auf einmal wie die Erfiillung des Schweigens. »s kénnte wohl sein, da das innere Licht einmal aus uns heraustrate, so da wir keines anderen mehr

bediirften.“‘ (Goethe.)

In der Nacht riickt das Schweigen naher der Erde, die Erde ist ganz durchsetzt vom Schweigen, durch den Boden der Erde sogar scheint es zu dringen. Durch das Schweigen der Nacht sind die Worte des Tages aufgelést, untergegangen. 142

Ein Vogel fangt plotzlich an zu singen in der Nacht: der Gesang ist wie der Rest det Téne, die tibrig geblieben sind vom Tage und, sich angstigend, zusammen sich duckend, sich umarmen zum Lied, im Lied sich ver-

stecken. Ein Boot fahrt tiber den See, das Schlagen des Ruders ist wie ein Klopfen an die Wand des Schweigens. Hoch hinauf dehnen sich die Baume in die Nacht, als

ob sie etwas hinaufnahmen, dem Stamme entlang, und es dem Schweigen ablieferten. Noch gerader am anderen Morgen sind die Stamme als am Abend zuvor. Sich selbst fremd, und fremd auf einmal dem Ort, wo

sie sind, stehen die Dinge da in der Nacht, als ob sie am Tage nicht hier gewesen, sondern eben jetzt in der Nacht

vom Schweigen hingesetzt worden waren, ohne daf sie es merkten; auf dem Schweigen wurden sie wie auf einem

Schiff herangefahren, heimlich: wie Odysseus nach Ithaka gebracht wurde und abgesetzt wurde am Ufer und Schatze neben ihn gelegt, so werden vom Schweigen heimlich die Dinge herangebracht in der Nacht.

IV

Manchmal ist es, als ob das Schweigen der Natur trebelliere, als ob es ins Wort des Menschen eindringen

wolle. Der Wind murtrt und stiirzt sich tiberall hin im Murren, als ob er das Wort suche und als ob er dem Men-

schen, der redet, das Wort vom Munde wegnehmen wolle: das Wort verschwindet im Murren des Windes.

143

Eine Angst ist jetzt in der Natur, da das Schweigen sie vetlasse und daf irgend etwas anderes entstehe. Das Schweigen ist zusammengedriickt im Sturm, aber es wallt auf im Blitze, der ohne Donner durch den Wald

fahrt. Eine Angst ist in dem Beugen der Baume, es ist die Angst der Kreatur vor der Verwandlung. Aber auf einmal ist alles still: wie zerschlagen wurde jeder Laut im Toben des Windes. Das Meer braust, — es ist, als ob es sich selber aufreiBen wolle, als ob es mit dem Hochschlagen der Wel-

len sich selbst aufdecken wolle. Aber plotzlich sinkt es ein in sich selbst, als hatte es in der Tiefe das gefunden, was es suchte, und zugedeckt von der eigenen Ruhe ist auf einmal die Tiefe. Nachts dann langen die Faden des Mondes wie Netze in diese Tiefe. Und jetzt, wenn das Meer einsinkt in sich

selbst durch das Schweigen, das auf ihm liegt, dann ist es, als sei mit dem Laut des Meeres auch aller Laut der

Menschen ins Meer versunken und Angstlich ruft der Mensch dann sich selber. Das Feuer: wenn die Flamme einen Augenblick anhalt im Knistern und heftig zuriickschlagt auf den Grund, dann ist es, als ob das Feuer von dort etwas holen wolle,

einen Augenblick also halt die Flamme an, aber wieder schlagt sie jetzt hoch, heftiger noch und verzweifelter als vorher.

144

V

Wenn das Schweigen in der Natur so dicht ist, daB die Dinge in ihr nur wie noch heftigere Verdichtungen des Schweigens erscheinen, dann scheint es, als hére auch der Mensch auf, das Wort zu besitzen, das Wort ist nur

noch wie ein Ri® im Schweigen. ,,Gibt es ein anderes Land in der Welt, in dem das

Schweigen so vollkommen ist?Hier im Land der Eskimos gibt es keinen Wind in den Blattern, denn es gibt kein Laub. Kein Vogel kreischt. Man hért kein Gerausch flieBenden Wassers. Kein Tier ist hier, das Angst hat und in der Dunkelheit fliichtet. Es gibt keinen Stein, der unter einem menschlichen FuBe lose wird und ein Ufer hinabrollt, denn alle diese Steine sind durch den Frost ein-

gemauert und unter dem Schnee verborgen. Gleichwohl ist diese Welt nicht tot: die Wesen, die in dieser Einsamkeit hausen, sind nur gerauschlos und unsichtbar.

Schritt fiir Schritt begann diese Stille, die so einsam gewesen wat, die mich beruhigt und meinen abgenutzten Nerven gut getan hatte, wie ein Bleigewicht auf mir zu lasten. Die Lebensflamme in uns zog sich weiter und weiter in ein geheimes Versteck zuriick, unsere Herzschlage wurden immer langsamer. Der Tag wiirde kommen, an dem wir uns schiitteln miBten, damit der Herz-

schlag nicht stockte. - Wir waren tief in diesem Schweigen versunken, erstarrten in ihm, waren auf dem Grunde eines Brunnens, aus dem wir uns nur mit unvorstell-

baren Schwierigkeiten herauszichen konnten.“ (Gontran de Poncins, Kabluna) 40

Picard,

Schweigen

it 45

Es zittert hier der Mensch, daB er selber aufgelést wiitde in diesem Schweigen und daB er nichts wiirde als ein Teil des Schweigens der Natur. Die Worte sind wie in der Angst gewachsen und als groBe Schatten auf die Wand des Schweigens geworfen, die immer naher riickt, die Worte sind wie die letzten beschw6renden Formen,

die Wand des Schweigens zuriickzuhalten, daB sie nicht naher sich bewege. Es dringt das Schweigen der Natur zum Menschen hin. Det Geist des Menschen ist wie der Himmel iiber der breiten Flache dieses Schweigens. Der Geist macht das Schweigen der Natur zum Teil der menschlichen Welt, er erlést das Schweigen, das blo8 Natur ist, und verbindet es mit jenem Schweigen, aus dem das Wort

kam und in dem eine Spur des géttlichen Schweigens ist.

146

DICHTUNG

UND

SCHWEIGEN

Die Dichtung kommt aus dem Schweigen und hat

Sehnsucht nach dem Schweigen. Sie ist, wie der Mensch selbst, unterwegs von einem Schweigen zum anderen. Sie ist wie ein Flug tiber dem Schweigen, wie ein Kreisen tiber ihm. Wie ein Mosaik den Boden eines Hauses auslegt, so

legt die Dichtung den Boden des Schweigens aus. Die groke Dichtung ist Mosaik, eingelegt ins Schweigen. Das heibt nicht, daB das Schweigen mehr gelte in der Dichtung als das Wort. ,,Das Héchste und Vortrefflich-

ste ist nicht etwa das Unaussprechbare, so da der Dichter in sich noch von gréBerer Tiefe ware als das Werk dartut, sondern seine Werke sind das Beste des Kiinstlers... Was aber nur im Innern bleibt, das ist er nicht

(Hegel).

Der groBe Dichter okkupiert den Gegenstand nicht vollstandig mit seinem Wort. Er laBt am Gegenstand

einen Raum iibrig, in den hinein noch ein anderer, ein Hoherer, ein Wort zu dem Gegenstand sagen kann. Er 14Bt auch einen anderen noch teilnehmen an dem Gegenstand, er holt ihn wohl mit dem Wort zu sich, aber er behalt ihn nicht ganz fiir sich. Eine solche Dichtung ist darum nicht starr, sondern schwebend, in jedem Augenblick bereit, einem Anderen, noch Héheren, zu gehéren.

147

Ein Bild zum Beispiel, mit dem Goethe einen Gegenstand beschreibt, erdriickt den Gegenstand nicht, im Gegenteil, es macht ihn leicht, sogar durchscheinend. Anders ist es bei Ernst Jiinger. Er okkupiert mit einem Bild vollstandig den Gegenstand, er setzt ihn gefangen, er macht ihn wehrlos mit dem Bild, das den Gegenstand nicht nur bedeckt, sondern erdriickt, er nimmt ihn an

sich wie etwas Erobettes: es ist keine Freiheit in einer solchen Dichtung. Nur wo die Dichtung mit dem Schweigen verbunden ist, wird der Monolog méglich: der Einzelne, der spricht,

ist nicht allein, er steht dem Schweigen gegeniiber, der Monolog ist ein Dialog mit dem Schweigen. ,,Es ver-

tiete gtoke Unkunde, wer den Monolog herabsetzen und gar unnatiirlich nennen wollte... Auf der Biihne, wenn eine miachtige, ergreifende Handlung iiber sie schreitet, scheint am allerwenigsten das wider die Natur,

was ein Schliissel zu den Herzen gibt (Jakob Grimm).

Man darf den Raum des Schweigens, der in jeder wirklichen Dichtung ist, nicht verwechseln mit den leeren Stellen, die auch in jeder groBen Dichtung sind. Diese Leete ist keine eigentliche Leete, sie ist wie die Diirftigkeit, die manchmal in der Natur ist,-sie ist kein Mangel. So ist es zum Beispiel bei Gotthelf: die leeren Stellen sind wie ruhende, nicht arbeitende Natur, und darum

sind sie doch wie Stellen des echten Schweigens.

Das Wort des Dichters hangt nicht nur naturhaft mit 148

dem Schweigen zusammen, aus dem es kommt, es ist auch imstande, durch den Geist, der in ihm ist, selbst

Schweigen zu erzeugen. Durch den Schépfungsakt des Wortes wird das Schweigen, das nur Natur ist, noch ein-

mal durch den Geist wiederholt. So michtig kann das Wott sein, so ganz und gar vollkommen Wort, daB von

selbst sein Gegensatz, das Schweigen, gegenwartig wird, es witd angesogen vom Wort: als Widerhall des vollkommenen Wortes hért man das vollkommene Schweigen. Im ,,Prolog im Himmel“ in Goethes Faust wird nach

jeder Strophe durch das michtige Wort ein michtiges Schweigen erzeugt. Ein aktives, ein horbares Schweigen ist nach jeder Strophe da. Die Dinge, die durch das Wort herbewegt wurden, stehen unbeweglich im Schweigen, als ob sie darauf warteten, zuriickgerufen zu

werden ins Schweigen und in ihm zu verschwinden. Das Wort holt nicht nur die Dinge aus dem Schweigen, son-’ dern es erzeugt auch das Schweigen,in welchem sie wieder vergehen kénnen. Die Erde wird nicht belastet durch die Dinge: durch das Wort ist ihnen das Schweigen gebracht worden, in dem sie verschweben.

I

Die Dichtung heute hat keinen Zusammenhang mehr mit dem Schweigen. Sie kommt vom Wort, ja von allen Worten, und bewegt sich zu allen Worten. Es ist meistens nicht einmal eine Sache da, die durch das Wort 149

hergebracht werden soll, die Sache ist gar nicht vor-

handen, es witd mit dem Wort gesucht nachihr, dasWort ist auf der Jagd nach der Sache, — der wirkliche Dichter aber hat die Sache und sucht von ihr aus nach dem Wort. Das Wort des Schreibenden heute gehe zu allen Worten, haben wit gesagt. Es vermag sich mit sehr Vielem zu vetbinden, vieles zu sich heranzuziehen, umfangreicher zu werden und mehr zu erscheinen, als es eigent-

lich ist, ja das Wort scheint wie ausgeschickt, um andere Worte zu fangen, herzuholen, und so kommt es, daB der

Schriftsteller heute viel mehr bringt, als er eigentlich selbst hat, — seine Person bleibt hinter dem zuriick, was er schreibt, er ist nicht identisch mit seinem Werk und deshalb, durch diese Diskrepanz, neigt er zu Krisen.

Auch frither konnte es geschehen, daB der Dichter anders war als sein Werk, aber seine Person war nicht

so abhangig davon, das Werk gehdrte mehr der Ordnung der Welt an als der Person des Dichters. Es kam allein darauf an, daB das Wort objektiv giiltig war, nicht darauf, wie das Subjekt war, das das Wort gesagt hatte,

es kam gar nicht zu einer Gegeniiberstellung und darum auch nicht zu einem Konflikt zwischen der Person und dem geschriebenen Wort. Die Dichtung hange nicht mehr mit dem Schweigen zusammen, haben wir gesagt. Man verlanet von der Dichtung heute sogar, daB sie die Welt des Larmes darstelle, man will den Larm auch in der Dichtung spiiren,

man bildet sich ein, er sei dadurch legitimiert, man meint auch, er sei bezwungen, wenn er in einen Reim eingezwangt ist. Aber man kann den Larm der dauReren Welt 150

nicht dutch den Larm der Dichtung ins Gleichgewicht bringen, die larmende Dichtung gerat in einen Wettlauf mit dem Larm der auBeren Welt, Dichtungslarm rattert

neben dem auBeren Latm. Der Larm kann nur bezwungen werden durch etwas, das ganz und gar andets ist als et; das Heilende, Rettende, kommt immer von dem ganz und gar Anderen. Orpheus hat die Unterwelt nicht bezwungen dadurch, dafs er sich auch dunke/ machte wie sie, sondern durch den ganz anderen, /e//en Ton des Liedes. Ii

Fin Wort, das an der Welt des Schweigens teil hat, driickt etwas ganz anderes aus, als das gleiche Wort, das

fern ist vom Schweigen. Darum ist es schwer mit dem Wort von heute, das Wort Hélderlins, zum Beispiel, zu

deuten. Aber gerade weil wir spiiren, daB das Wort von heute nicht mehr dem gleichen Wort von damals entsprticht, versuchen wir immer von neuem zu deuten, wit

sind ausgesperrt vom Hdlderlinschen Wort und duferlich doch nahe bei ihm, das reizt zu immer neuen Ver-

suchen, in das Wort einzudringen. Die Worte solcher Dichter, die vom Zusammenhang mit dem Schweigen leben, sind fast unverstdndlich heute, es sind Hieroglyphen, die unheimlich sind: es sind die Hieroglyphen des Schweigens. Es ist, als stiinde heute Hdlderlin schweigend in einer Reihe neben Laotse, Sophokles, Shakespeare, Goethe, die alle auch schweigen, und so, neben einander stehend, 15a

wird ihr Wesen im Schweigen sichtbar: ihre Gesta/t wird deutlich, da das Wort nicht mehr deutlich ist, so deutlich wird sie, da aus der Fiille der Gestalt von neuem das

Wort, das urspriingliche, entstehen kénnte.

DICHTUNG

UND

SCHWEIGEN

Beispiele

DIE

NATURVOLKER

» WO ging meine Seele nur hin? Kkomm nach Haus, komm nach Haus.

Weit ist sie nach Siiden gereist, Siidlich der Vélker im Stiden von uns. Komm nach Haus, komm nach Haus.

Wo ging meine Seele nur hin? Komm nach Haus, komm nach Haus.

Weit ist sie nach Osten gereist, Ostlich der Volker im Osten von uns. Komm nach Haus, komm nach Haus.

Wo ging meine Seele nur hin? Komm

nach Haus, komm nach Haus.

Weit ist sie nach Norden gereist, Nordlich der Vélker im Norden von uns. Komm nach Haus, komm nach Haus.

Wo ging meine Seele nur hin? Komm nach Haus, komm nach Haus.

Weit ist sie nach Westen gereist, Westlich der Vélker im Westen von uns. Komm nach Haus, komm nach Haus.“ (Gedicht der Eskimos, nach Rasmussen) 153

Es ist, als getraue sich das Wort noch nicht recht, als

Wort da zu sein; getrennt ist es vom Schweigen, aber es ist noch nicht sicher als Wort. Immer wiederholt es sich, als wollte es lernen da zu sein, immer sagt es sich

selber auf, als hatte es Angst zu verschwinden. Es ist, als ob das Lied, auch wenn der Mensch schlaft, sich von

selbst tiber seinem Munde weitersumme, — so eingegraben sind die Téne in die Luft, wie in eine Grammophonplatte des Schweigens. Eine groBe Melancholie ist in solchen Liedern der Naturvélker, es ist die Melancholie des Menschen, der

eine zweifache Angst hat: er hat Angst, weil er durch das Wort hinausgestofen ist aus dem Schweigen, und et hat auch Angst wieder zuriickgeworfen zu werden ins Schweigen, wieder das Wort zu verlieren. Zwischen diesen zwei Angsten, die unendlich sind wie das Schweigen und unendlich wie das Wort, zieht sich die Melan-

cholie des Liedes unendlich dahin. Gro sei die Angst, daB der Mensch des Naturvolkes das Wort verliere, haben wir gesagt, und daf er es darum

immer wieder wiederhole. Das Wort des Liedes aber ist der Wachter in der Nacht, die tiber dem Schweigen ist: wie das Feuer diefeindlichen Tiere abschreckt, so schreckt

das Wort des Liedes das feindliche Schweigen ab, das es vetschlingen will.

DAS

MARCHEN

Die Geschehnisse im Marchen sind ganz einfach. ,,Die Eltern haben kein Brot mehr und miissen ihre Kinder

154

in dieser Not verstoRen, oder eine harte Stiefmutter laBt

sie leiden und méchte sie gar zugrunde gehen lassen. Dann sind Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen; der Winter schreckt sie, aber sie stehen sich in

allen T'reuen bei, das Briiderchen weifs den Weg nach Haus wieder zu finden, oder das Schwesterchen, wenn Zauberei es verwandelt, leitet es als Rehkalbchen und

sucht ihm Krauter und Moos zum Lager; oder es sitzt schweigend und naht ein Hemd aus Sternblumen, das

den Zauber vernichtet. Der ganze Umkreis dieser Welt ist bestimmt, abgeschlossen: Koénige, Prinzen, treue Diener und ehrliche Handwerker, vor allem Fischer, Miller, Kéhler und Hirten, die der Natur am nichsten geblieben sind, erscheinen darin; das andere ist ihr fremd

und unbekannt“ (Jakob Grimm). So einfach sind die Worte und Geschehnisse im Marchen, dafi sie jeden Augenblick wieder verschwinden k6nnen, sie brauchen sich nicht erst loszuldsen aus einer

komplizierten Welt. Die Anmut des Marchens kommt daher: nichts in ihm ist fest, alles in ihm ist bereit, sich aufzugeben und zu verschwinden.

Inzwischen aber reden in ihnen die groBen Sterne mit den kleinen Kindern, die Pferde mit den KGnigen, die

Baume sogar haben die Sprache und rufen zu den Menschen hin. Es ist im Marchen noch nicht sicher, ob die Sterne oder die Blumen und die Baume oder der Mensch

die Sprache erhalten, — es ist alles noch wie auf Abruf, wie etwas Vorlaufiges. Es ist, als ob das Schweigen in

der Tiefe sich besanne, wem es die Sprache fiir immer geben solle, den Sternen, den Baumen oder dem Men155

schen. Der Mensch bekam dann das Wort, aber eine

Zeitlang noch redeten die Baume und die Sterne und die Tiere weiter. yim echten Marchen muB alles wunderbar, geheim-

nisvoll und unzusammenhingend sein... die ganze Natur muB auf eine wunderbare Art mit der Geisterwelt vermischt sein; die Zeit der allgemeinen Anarchie der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturzustand der Natur,

die Zeit vor der Welt (Staat). Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Stiicke der Zeit nach der Welt, wie der Naturzustand ein sonderbares Bild

des ewigen Reiches ist.‘* (Novalis) Jedes Ereignis im Marchen ist wie der Anfang, das Beispiel eines neuen Gesetzes, nach dem eine Welt, an-

ders als die unsere, eingerichtet werden kann. Eine Fiille von Weltmoglichkeiten sind im Marchen, ein unendlicher Reichtum geht darum von ihm aus. Das Geheimnis aber ist, weshalb nur diese Welt, die Welt des Menschen, der allein das Wort hat, geworden ist. Das Mar-

chen fiihrt uns hin zur Verehrung dieses Geheimnisses. Die Welt dieses Schweigens witd heller, glinzender, indes die farbige Welt des Marchens iiber ihr ist. Alles im Marchen ist im Grunde schon geschehen, ehe es geschieht. Das Wort folgt den Dingen eher nach, als daf} es ihnen vorausgeht und sie ansagt. Alles ist schon vorhanden, es ruft sich nur zu, da es da ist. Alles

im Marchen kénnte schweigend vor sich gehen; es ist selber ein Matchen, daB das, was eigentlich schweigend geschehen k6énnte, noch die Begleitung des Wortes hat. 156

Der Welt des Schweigens gehért das Marchen an, wie die Kinder ihr angehéren, darum gehoren Kinder und Marchen zueinander.

SPRICHWORTER

Zum Beispiel: ,,Der Krug geht solang zum Brunnen, bis er bricht**. Einst stand solch ein Satz urspriinglich da, wie eben erst aus dem Schweigen hervorgebrochen. Er hatte alles fest bei sich, den Krug, den Weg zum Brunnen und den Brunnen, man sah den Krug, wie er

vorher an der Topferscheibe gedreht wurde, man hérte das Wasser aus dem Brunnen in den Krug fallen und die Menschen hin und her gehen vom Brunnen zum Haus, — so ganz und gar sicher stand der Satz da, als sei

er unabhangig vom Menschen, er war wie den Menschen vot-gesprochen, noch ehe sie ihn selber sprachen, er wat wie schon entstanden, ehe der Mensch da war,

mehr fiir den Menschen, als von ihm selbst gesprochen. In der Welt von heute aber, die keinen Zusammen-

hang mehr hat mit dem Schweigen und auch keinen Zusammenhang mehr in sich selbst, sind der Krug, der Brunnen und der Weg zum Brunnen auseinander gerissen, der Krug ist wirklich zerbrochen, solch ein Sprichwott ist in der Welt von heute wie aus Scherben zusammengeleimt, wie ein zerstortes Andenken an eine unzerstorte Welt, ausgegraben aus ihren Triimmern, anein-

ander gekittet zu einem recht versteht.

Satz, den man

nicht mehr 1j7

Einst waren die Sprichwérter wie der Anfang einer Welt, Tafeln am Anfang der Welt, — heute sind sie Ende einer Welt, die letzten Satze, die noch tibrig blieben, die letzten Worte, die in einer auseinanderfallenden Welt sich noch zu einem Satze zusammenfinden konnten.

DIE

ANTIKE

TRAGODIE

Es ist, als seien die Dinge und die Geschehnisse schon

lange vor den Worten dagewesen und als habe es Zeit gebraucht, bis das Wort bei ihnen ankam und sie nannte. Diese Zeit, die langsam ablaufende, schweigende Zeit ist im antiken Drama darin. Ja, es ist manchmal,

als

gingen die Dinge schweigend und drohend ihren eigenen Weg, noch ganz der Welt des Schweigens angeh6rend, gefolgt von den Worten, die sie stellen wollen. Diese heroische Welt des antiken Dramas, diese ,, Welt

ohne Nutzen, welche nichts enthalt als Kampfe, Tragédien der K6nigshauser und dazwischen die Gétter“ (Jakob Burckhardt), diese Welt ohne Nutzen braucht den Hintergrund des Schweigens, das selbst das grifte Dasein ohne Nutzen ist. Es ging im antiken Drama um die Sache der Gdtter, bei der die Menschen mitspielen durften. Die Gétter begleiteten die Dinge und die Menschen, sie sind dabei, ihr Schweigen ist dabei. ,,Das Schweigen lernen wir von den Géttern, das Reden von den Menschen“ (Plutarch). In der antiken Tragddie hért man das Schweigen der Géotter in den Reden der Menschen. Der Mensch redet, 158

um dieses Schweigen zu héren, er stirbt, um es zu héren. Wenn der Held stirbt, ist es, als ob das Schweigen der

Gétter lebte und allein redete. Der antike Chor ist die Mitte zwischen dem Worte des Menschen und dem Schweigen der Gotter. Durch den Chor wird das Wort des Menschen dem Schweigen der Gotter tibergeben, es macht Halt hier, im Chor, ehe

es ins Schweigen der Gétter geht, und es macht hier auch Halt, wenn es aus dem Schweigen der Géotter kommt. Die antiken Heroen redeten wohl zu den Menschen hin, aber noch mehr schwiegen und handelten sie hin

zu den Géttern. Die Worte fuhren nur den Linien des Schweigens nach, die von den Géttern gezogen worden

waren. Und weil die Worte immer wieder vergingen iiber den Linien des Schweigens, wurden sie immer von neuem gesagt. ,,Und ewig wird in aller Welt der Ruhm dit erglanzen, Achilleus.“

DIE

VOR-SOKRATIKER

Jeder Satz ist wie unmittelbar aus dem Schweigen ent-

sprungen, die Satze haben in sich selbst noch die Verwunderung, dafs sie da sind. Die Worte reiben sich noch den Schlaf aus den Augen, sie sind noch nicht bei sich selbst, sie sind noch zwischen Schlaf und Wachen. Sie reden, um ihrer selbst gewiB zu sein, um sich selbst zu

héren, sie glauben noch nicht recht, daf sie in der Welt des Wachens und des Wortes sind. 159

set Mensch ziindet sich selber in der Nacht ein

Licht an, weil er gestorben ist und doch lebt. Im Schlaf beriihrt er den Toten, wenn sein Augenlicht erloschen ist, im Wachen bertihrt er den Schlafenden“ (Heraklit). Nichts ist in diesem Satz fiir sich da, eines geht ins andere tiber: der Schlaf ist noch nicht umgrenzt Schlaf,

et ruhrt an den Tod und er rihrt auch an das Wachen. Alles ist noch ein wenig hilflos, alles halt sich noch ein wenig an der Hand, so halt das Wachen noch das Schlafen an der Hand, und der Schlaf greift aus nach dem Tod, keines will noch allein sein.

Die Wotte sind noch nicht daheim in der Welt des Wortes, sie sind noch nirgends daheim. Es sind Worte, die

herausgefallen sind aus dem Traum des Schweigens und die es nun hintreibt in das Schweigen der Gotter, aber abgesprengt wie Meteorsteine sank ein Teil von ihnen in die Welt des Menschen, mit ihrem Schweigen die Worte der Menschen verwirrend, mit dem Schweigen, das den Gottern gehért.

HERODOT

Die Dinge, die Ereignisse sind da, und ihr Dasein ist schon Erzahlung. Hs ist, als ob die Dinge und die Ereignisse sich einander selbst erzahlten, eines sich dem andern, mehr, als da} sie sich den Menschen erzihlen, —

so sehr sind die Dinge, die Ereignisse, primar da und dann erst der Mensch, der sie berichtet. Das ist nur méglich dort, wo das Wort sich wie zum ersten Male zu dem 160

Ding oder dem Ereignis begibt, zu dem es gehort, und darum fest an ihm hilt, so da Wort und Ding eine Einheit sind. Auch in den spiteren Zeiten, wo Wort mit Wort und Ding mit Ding andauernd manipuliert werden, ist es doch immer dem Dichter méglich, die Einheit von Wort und Ding so herzustellen, als hatten sich beide

zum erstenmal und fiir immer getroffen, und als erzahlten die Dinge das, was sie sind, durch ihr pures Dasein,

ohne daB das Wott es vermittelte. Bei Johann Peter Hebel ist es so, in seinem ,,Schatzk4stlein“. Es ist hier, als hatten sich die Dinge aus einer lauten, zerstérten und

zerstorenden Welt gefliichtet in ein verstecktes Tal und als erzihlten sie dort einander von sich selbst, wie wenn es keine Menschen gabe, die ihnen zuhdérten,

die Zeit sich mit Erinnerungen und SpaBen vertreibend und wartend hier, im versteckten Tal, daB die Welt wie-

derkehre, in der das jeden Augenblick geschieht, was auch ihnen einst geschah: daB das Wort sie fest halte gegen die falsche und unntitze Bewegung, die Manipulation. Es gibt heute den schweigenden Menschen nicht mehr, es gibt nicht einmal mehr den Unterschied zwischen dem Redenden und dem Schweigenden, nur noch den zwischen Redendem und nicht-Redendem. Und weil es den Schweigenden nicht mehr gibt, so gibt es auch nicht mehr den ZuhGrenden, der Mensch kann heute nicht mehr zuh6ren, und weil er nicht mehr zuhdren kann, so kann er auch nicht mehr erzihlen, denn Zuh6414

Picard,

Schweigen

161

ren und Erzahlen gehéren zueinander, sie sind eine Einheit. Aus den Geschichten des ,,Schatzkastlein“ von Johann Peter Hebel aber hort man nicht nur den Erzahler,

man hért auch das Schweigen der Zuhérenden, und man hort, wie, nach diesem Schweigen, der Zuhdrende nun

selbst anfangt eine Geschichte zu erzahlen, Zuhdren und Erzahlen wechseln miteinander ab.

SHAKESPEARE

Die Worte und Szenen sind so frisch da, als seien sie

in diesem Augenblick aus dem Schweigen in die Sprache gesprungen, neu ist ihnen noch das Element der Sprache, sie sind in ihr wie junge Tiere, die, zum ersten Male

aus dem Gehege herausgelassen, im Freien sich tummeln, in langen Reihen rennen die Worte daher, voll Ubermut, sie klettern tiber einander, manche stehen ein-

ander gegentiber wie Heerlager, die vor dem Kampfe einander hin und her erforschen, aber es gibt auch Worte, die wie Schildwachen einsam sind und auf ir-

gend etwas warten (die Worte der Ophelia im ,,Hamlet“). Die schénsten Wotte sind zu Bildern geformt, wie Wappenbilder der Worte sind diese Bilder, wie Zeichen, da hier das Wort nicht nur ist, sondern feierlich resi-

diert: eine Welt ist in Besitz genommen fiir das Wort. *

162

JEAN PAUL

Alles bei Jean Paul ist auf einmal da, es entwickelt sich nicht, es enthiillt sich nur. Es ist eine Dichtung, die

zwat von Wort zu Wort sich fortbewegt, aber doch stillesteht als Ganzes, sie schwebt ganz und gar tiber dem Schweigen, als eine sanfte Wolke legt sie sich tiber es,

wie Traumbilder des Schweigens sind die Wortbilder. Der Zauber dieser Sprache kommt daher: sie bewegt sich vorwarts von Wort zu Wort und steht doch still, -

Bewegung und Ruhe ist hier eines. Die Worte bei Jean Paul sind wie die Schwingen eines gtofben Vogels, der sich tiber der Flache des Schweigens ethebt, aber immer fallt der breite Schatten der Schwin-

gen herab auf die Flache des Schweigens. *

HOLDERLIN

Die Worte

kommen

wie aus einem Raume, der da

wart, bevor die Schépfung entstand. Dieser Raum hinter der Schépfung tént in den Worten feierlich und fast drohend mit. Das Unbekannte, Erschreckende und auch das Verlassene im Hélderlinschen Gedicht kommt da-

her. Das Wort ruft durch den Vorraum der Schépfung hindurch nach dem Menschen. Es ist wie das Wort, das

sich spricht, noch bevor der Mensch da ist und das t6nend ist vor Sehnsucht nach dem Menschen. «

GOETHE

Nachtgesang Oh, gib vom weichen Pfihle, Traumend, ein halb Gehér!

Bei meinem Saitenspiele Schlafe! Was willst du mehr?

Bei meinem Saitenspiele Segnet der Sterne Heer Die ewigen Gefihle; Schlafe! was willst du mehr?

Die ewigen Gefthle Heben mich, hoch und hehr, Aus itdischem Gewiihle; Schlafe! was willst du mehr ? Vom itdischen Gewiihle Trennst du mich nur zu sehr, Bannst mich in diese Kiihle; Schlafe! was willst du mehr?

Bannst mich in diese Kihle, Gibst nur im Traum Gehor. Ach, auf dem weichen Pfiihle Schlafe! was willst du mehr?

Wie Kinder vor dem Haus einer Gespielin, die sie erwarten, 164

laut rufen, da

die Gespielin sie hére, so

tufen die Worte des Geliebten nach dem Worte der Geliebten, nicht laut wie die Kinder, sondern leise, denn

die Worte der Geliebten sind im Schlaf eingeschlossen. Es ist, als wollte der Geliebte die Worte der Geliebten aus dem Traum hervotlocken. Wie sanfte, samtene Balle

gleiten die Worte tiber die schlafende Geliebte hin, wie Tau des Schweigens fallt es von der Geliebten zuriick auf das Wort.

165

BILDENDE

DIE DIE

KUNST

UND

GRIECHISCHEN AGYPTISCHEN

SCHWEIGEN

TEMPEL TEMPEL

Die Sdulenreihen der griechischen Tempel, — wie Grenzlinien sind sie entlang dem Schweigen. Immer getrader wurden sie und immer weifer, indem sie sich an

das Schweigen lehnten. Es ist, als konne die Reihe der Saulen sich fortsetzen, weiterwandeln, Sdule fiir Sdule, unhérbar; so schaffen

die Gétter: schweigend, unhdrbar, — wie aus der Werkstatt der Gdtter sind die Saulen. Das Wandern zwischen den 4gyptischen Saulen ist wie ein Wandern ins Dunkle, Zuriickliegende. Man geht zwischen den Saulen auf der ebenen Erde, und trotzdem ist es, als wandere man die Stufen abwArts in eine Hohle

und als gelange man durch diese Héhle hindurch immer weiter abwarts schlieSlich zum Tod. Es ist ein Weg zum immer groBeren Schweigen. Die Worte der Agypter t6nten wider von dieser HGhle des Todes her. Das Wandern zwischen den griechischen Saulen aber ist ein Wandern im hellen Schweigen. Schweigen und Helligkeit sind hier eines. Es ist ein Schweigen, das den Augenblick der Ruhe bedeutet vor der neuen Schépfung, — Schweigen und Schépfung wechselten miteinander ab, wie eine Treppe war es hinauf zum Olymp, wo, bei den Géttern, Schweigen und Schdpfung eines wurden und nicht mehr wechselten. Die zerfallenen Saulen, die zerfallenen Tempel: es ist, 166

als sei vor dem Uberfall des Larmes das Schweigen aufgebrochen, und als habe es im Aufbrechen den Tempel auseinander gerissen. Die Marmorblécke und die Saulen versuchen vergebens, dem Schweigen nachzusinken in die Erde, zuriickgeworfen sind sie und nochmals zerschmettert von dem Schweigen, das versank. Die Stille, die jetzt um die Tempel ist, ist nicht die

Stille des Schweigens, sondern es ist die Stille des Grabes: das Schweigen hat hier sein Grab, und die weiBen Saulen und Marmorblécke sind die Grabsteine tiber dem versunkenen Schweigen.

DIE DIE

GRIECHISCHEN

STATUEN

AGYPTISCHEN

STATUEN

Die griechischen Statuen sind wie GefaBe des Schweigens. Sie standen da in Reihen, und der Mensch ging zwischen ihnen hindurch wie zwischen einer Allee des Schweigens. Das Schweigen staute sich in den Figuren und wurde zum Glanz tiber ihrer Weife. Thr Schweigen ist voll von Geheimnis: es ist, als schwiegen sie nut so lange, als der Mensch vor ihnen steht, und als fingen sie an zu reden, sobald sie allein sind, sie reden zu den Gottern hin, zu den Menschen hin

schweigen sie. Wie weiBe Inseln des Schweigens liegen die Matmorstatuen der griechischen Gétter im Lirm von heute datin. Die alten weiBen Géotterstatuen sind die Reste, die

167

das Schweigen zurticklieB, als es sich zurtickziehen mute vor dem Lirm von heute. Das Schweigen, das in den griechischen Statuen ist, erdriickt sie nicht, es ist ein lockeres, helles Schweigen.

Die Figur ist Herr tiber das Schweigen: in jedem Augenblick kann vom Schweigen das Wort entspringen, wie ein Gott vom Olymp. Die agyptischen Statuen hingegen sind ganz und gar unterworfen vom Schweigen, sie sind Gefangene des Schweigens. Das Auge gehért den Géttern, der Mund gehért den Gottern, daB die Gotter daraus schweigen. Es wat nicht der Stein, der die Figuren schwer machte und sie hinderte, sich zu bewegen, es war das

Schweigen, das sie umgab und das sie sich nicht getrauten zu beriihren. Bei den Gesichtern der alten Agypter, in diesen starren Gesichter, ist noch die Angst, die in der Welt war, bevor das Wort die Macht bekam tiber das Schweigen. Es ist wie ein Riickfall in die Zeit, da es noch kein Wort

gab, und das ist der Grund, weshalb die agyptischen Gesichter den Menschen heute mehr ergreifen als die griechischen: in der Welt des heftigen Larmes von heute hat der Mensch Heimweh nach der Welt jenseits allen Lautes, auch jenseits allen Wortes. Hier im 4gyptischen Gesicht der altesten Perioden ist nicht das Schweigen, das dem Wort freundlich gesinnt ist, wie im griechischen Gesicht, es ist hier ein dem Wort

feindliches, herrisches Schweigen. , Die Skulpturen der Agypter zeigen einen lebloseren Ernst, ein unaufgeschlossenes Geheimnis, so da die Ge168

stalt nicht ihr eigenes individuelles Inneres, sondern eine ihr noch fremde weitere Bedeutung ahnen la8t‘ (Hegel). Manche agyptischen Gesichter sind so, als ob sie das Schweigen nackt gesehen hatten und darum erstartten. Wie in der Urzeit ein Tier eingeschlossen wurde vom erstarrenden Harz der Baume, vom Bernstein, so ist das

agyptische Gesicht eingeschlossen vom Schweigen. Die agyptischen Figuren sind nach innen gewendet. Es ist, als ob im Innern noch einmal eine Figur wire, eine andere, die wichtigere, zu dieser redet sie nach in-

nen, nein, sie schweigt zu ihr nach innen. Das griechische Gesicht hingegen wendet sich nach auben, es ist nicht die Angst in ihm vor jener Welt, in der das Wort noch nicht ist, es richtet sich hin nach einer Welt, aus der das Wort kommt, es ist in ihm die GewiB-

heit, daB in jedem Augenblick das Schweigen durch das Wort, die Materie durch den Geist, bezwungen werden kann, und darum ist oft Heiterkeit in ihm und immer

Freiheit, hier geht das Schweigen nicht wie bei den Agyptern auf ein Vergangenes, auf die Welt ohne das Wort, sondern auf ein Gegenwartiges und ein Zukiinftiges, auf die Welt des Wortes, und eben dadurch geht das griechische Gesicht durch alle Zeiten und ist auch heute gegenwartig bei uns. *

DIE

AGYPTISCHEN

PYRAMIDEN

Sie sind bedriickend, weil es ist, als hatten sie die

Macht, viel weiter noch tiber die Erde und gegen den Himmel sich zu dehnen, als sie es tun. 169

Nur weil sie mit der Ordnung der Gestirne, die in ihnen verzeichnet ist, verbunden sind, drangen sie nicht

weiter. Das ist das Bedriickende: es ist, als wiitden die Stein-

massen nicht durch den Menschen zuriickgehalten, nicht durch die Ordnung des Menschen, sondern durch das AuBermenschliche, durch die Gestirne.

Das Schweigen der Gestirne schaut sie an und bannt sie. Nicht nur der Tote ist in den Pyramiden begraben, nicht nur das Schweigen des Toten, sondern auch das Schweigen der Gestirne. Wie Festungen erscheinen die Pyramiden, Festungen, die das Schweigen sich gebaut hat, als es sich zuriickzog von der Erde, Festungen, von denen aus das Schweigen wieder die Erde erobern kann.

DIE

AGYPTISCHE

SPHYNX

Die agyptische Sphynx, — das ist nicht das Schweigen, es ist der Abgrund des Schweigens. Die Linien ihrer Gestalt sind wie Linien der Beschw6rung tiber dem Abgrund, sie sind wie Zeichen, die den Abgrund bannen. Wie nach einer heftigen Schlacht die Geister der Gefallenen weiterkampfen in der Luft und wie das Bild der Schlacht in der Luft bleibt, so ist aus der Zeit des heftigsten Schweigens die Sphynx als Bild dieses Schweigens immer noch da, auch heute, nachdem alles Schweigen 170

vetschwunden, es ist drohend da, bereit, die Welt des Larmes zu tiberfallen.

DIE

ARCHAISCHEN

FIGUREN

Die archaischen Kolosse, die Steindenkmialer aus Sar-

dinien, die Steinmassen in den Palasten zu Mykene: zusammengedriickt ist alles vom Stein, was nicht Schweigen ist. So michtig sind diese Kolosse des Schweigens, — es ist, als k6nnten sie dem Menschen das Wort und alles, was bei ihm ist, nehmen und in sich verschwinden las-

sen. Im Schweigen dieser Steine ist jedes Ding deutlich, die Worte liegen nicht mehr tiber den Dingen, sie sind wie weggesogen von ihnen und im Schweigen des Steines verschwunden. Ekbatana, die Stadt der Meder, hatte sieben Mauer-

kreise, jeder mit verschiedenfarbigen Zinnen, — das waren, nach Herodot, die Sphiren des Himmels, welche die Sonnenburg umschlossen, und die Obelisken

waren Sonnenstrahlen in Stein. Kein Wort vermédchte so sehr der Macht der Himmelsspharen zu entsprechen, wie dieses Denkmal im Schweigen des Steins. Im Schweigen dieser Steine waren die Himmelsspharen und die Sonnenstrahlen nochmals da, auf der Erde da,

und in ihremSchweigen hérte man ihre Bewegung am Himmel. cyt

Jedes Wort vor diesem archaischen Stein war ein Einbruch in das Schweigen, das den Géttern gehért. So heftig war das Schweigen da: es war, als kénnte im nachsten Augenblick das Wort selbst zu einem SteinkoloB erstarren, wie der Strahl der Sonne zu einem Obe-

lisk und die Bahn der Gestirne zu den Steinringen erstarrt war. Die atchaischen Figuren aber, — ausgegraben sind sie mehr aus dem Schweigen als aus der Erde, sie sind wie Trimmer des Schweigens. Fahrt der Blick an ihnen entlang, dann ist es, als ginge er dem Schweigen entlang. Das Gesicht ist durchfurcht vom Schweigen; die Linien, die Flachen, sind ausgebreitet auf ihm, werden ge-

tragen von ihm, durchsetzt ist die ganze Gestalt vom Schweigen. Fir immer scheint die Form des Menschen behiitet zu sein hier im Schweigen, keine Linie getraut sich, im

Schweigen sich zu bewegen. *

DIE

CHINESISCHEN

TORE

Die chinesischen Tore, die sich einsam, ohne da sich eine Mauer oder ein Gebaude an sie anschlieBt, aus der Fliche der chinesischen Ebene erheben: unendlich ist

die Ebene, unendlich ist das Schweigen, nichts zieht durch das Tor hindurch als das Schweigen. Die Rundung des Tors ist wie eine Hodhle, die das Schweigen sich gegraben. Heilige Gotterbilder und heilige Tiere 172

sind am Tor, wie Wachen fiir das Schweigen, Wache

und Ehrengeleite zugleich. Manchmal ist es, als zigen tiber dem einen sichtbaren

Bogen des Tores noch viele unsichtbare Bogen in die Hohe, einer tiber dem andern sich wélbend, wie eine

Leiter gehen diese Bogen der Tore nach oben: das Schweigen selbst steigt auf ihnen zum Himmel. x

DIE

MALEREI

DER

CHINESEN

Die chinesischen Bilder, — wie Figuren von Mondnebel sind sie tiber der Welt des Schweigens, aus Mondfaden gewoben tiber dem Schweigen. Es ist, als ob auf den Bildern die Dinge ins Schweigen gefallen waren und als ob das Schweigen sich an sie angesetzt, sich um sie kristallisiert hatte: ein Blatt fallt in das Schweigen, das Schweigen setzt sich an das Blatt und hiillt es ein. Ganz und gar eingeschlossen ist es in das Schweigen, durchsichtig wird es in ihm, es ist die

Mitte des Schweigens geworden. In einem solchen Bild sind auch die Tausende von Jahren, die das Schweigen gebraucht hat, bis es das Blatt einhiillen konnte in sich. Zeit und Dauer ist in ihm, die

Zeit selbst ist an ihrem Ende angekommen, wenn das Schweigen ganz das Blatt eingehiillt hat. x

173

DIE

KATHEDRALEN

Das Schweigen hat sich in ihnen selbst eingeschlossen und mit Mauern sich geschiitzt. Wie der Efeu jahrhundertelang wachst um eine Wand, so ist der Dom um das Schweigen gewachsen. Er ist herumgebaut um das Schweigen. Als eine Substanz ist das Schweigen des romanischen Domes da, daB es ist, als wiirde der Dom, wie ein unge-

heuetes Tier, gebarend, aus sich Mauern des Schwei-

gens, Stidte des Schweigens und Menschen des Schweigens etzeugen, nur dadurch, daB er da ist. Der Dom ist wie mit Stein ausgelegtes Schweigen. An den Ecken der Saulen stehen Figuren: Boten, die

das Schweigen weitertragen sollen in die Stadt zu den Menschen. Wie man Diener ausschickt mit GefaBen, das

Wasser zu bringen, so sollten sie das Schweigen bringen, — aber im Schweigen vergaBen sie, sich weiter zu bewegen. Wie ein ungeheuerer Behalter des Schweigens steht der Dom da, kein Wort ist mehr im Innern, im Raume

des Domes, — das Wort wird zu Gesang tiber der Tiefe eines noch grdferen Schweigens. Der Turm des Domes ist wie eine schwere Leiter, an

der das Schweigen hoch steigt und am Himmel verschwebt, — in einem Bogen dann fallt es wieder hinab zum Turm eines anderen Domes: in diesem Bogen des Schweigens sind alle Dome miteinander verbunden. Die Kathedralen sind heute verlassen, wie das Schwei-

gen verlassen ist, sie sind Museen des Schweigens ge-

174

wotden, aber sie sind verbunden untereinander, Dom

mit Dom, Schweigen mit Schweigen. Wie Ichthyosaurier des Schweigens stehen die Dome da, die niemand begreift. Es konnte nicht anders sein, als dah der Krieg auf die Kathedralen scho8: der absolute Larm schieBt gegen das absolute Schweigen. Manchmal sieht der Dom aus wie eine groBe Arche, in welche alle Menschen und Tiere hineingeholt werden, gerettet aus der Sintflut des Larmes. Ein Vogel sitzt am Rande des Daches, und die Tone seines Liedes sind wie das Pochen an der Wand des Schweigens, dafi es komme. x

DIE

BILDER

DER

ALTEN

MEISTER

Die Figuren haben ihre Worte herunterfallen lassen ins Schweigen: der Goldgrund, das ist das Schweigen, das durch das Wort der heiligen Figuren geronnen ist. Die Bilder der alten Meister, bis zum Sprengen sind sie gefiillt mit Schweigen, das man meint, im nachsten

Augenblick komme das Wort, aber es entsteht nur das

erdBere Schweigen. Die Figuren sind Glanz tiber der Welt des Schweigens: sie lassen sich vom Schweigen anschweigen und darum glainzen sie, in diesem Glanz suchen sie das Schweigen zu hédren, unbeweglich stehen sie im Glanze und hotchen. *«

ete)

PIERO

DELLA

FRANCESCA

Auf seinen Bildern sind nicht nur die Objekte da, sondern auch, mit ihnen, die Ideen der Objekte, sie sind so

sicher da, wie die Objekte selbst: die Platonische Welt der Ideen ist in ihnen sichtbar. Alles ist bereit fiir die Abfahrt in eine neue Wirklichkeit, wo Idee und Er-

scheinung eines sind. Wie im letzten Augenblick vor dieset Reise stehen Idee und Ding miteinander da. Wie auf die Platonischen Ideen in einem Raume iiber der Welt,

so fallt auf diese Figuren der Blick der Gétter, und sie nehmen zu im Schweigen dieses Blickes. Die Menschen des Piero della Francesca sind so, wie sie wandelten im Traume der Gétter, ehe die Gétter die Menschen schufen. Durch dieses Wandeln im Traume

der Gotter sind sie voll von Schweigen. Manchmal sind sie auch wie Traume, die das Schwei-

gen selbst traumt, bevor es die Dinge herausschickt in den wachen Raum.

Die Figuren sind versunken im Schweigen, wie Stadte ins Meer versunken sind. Unter dem Wasser des Schwei-

gens sind sie aufbewahrt, so, wie die Urtiere unter dem Boden der Erde sich aufbewahren. Wie an einem, dét aus dem Meer heraussteigt, das

Wasser herabtropft, so tropft an diesen Gesichtern das Schweigen herab. Die Menschen auf den Bildern des Piero della Francesca haben das Schweigen bei sich wie

ein Organ, wie einen neuen Sinn, sie reden durch das Schweigen, als sei es das Wort. Manchmal erscheinen sie wie Schatten, helle Schat-

176

ten, die die Welt des Schweigens in die Welt des Larmes wirft. Immer groBer werden sie, als strengten sie sich an, hineinzuwachsen in die Welt des Larmes, sie zu tiberwachsen und, die Welt des Larmes bedeckend, unhérbar die Herrschaft tiber sie zu tibernehmen.

I 42

Picard,

Schweigen

Wi

DAS

WORTGERAUSCH

Das Wort heute entsteht nicht mehr aus dem Schweigen, durch einen Akt des Geistes, der dem Wort und zugleich dem Schweigen Sinn gibt, sondern aus einem anderen Wort, aus dem Gerausch des anderen Wottes, es

geht auch nicht mehr ins Schweigen wieder zuriick, es endet nicht mehr im Schweigen, sondern in einem anderen Wortgerausch und geht in seinem Larm unter. Immer entsteht im Gerausch etwas Wortartiges, immer vergeht im Gerdusch etwas Wortartiges. Das Wort ist nicht mehr als Geist da, sondern nur

noch als Gerausch, akustisch. Das ist die Verwandlung des Geistes in Materie, die Verwandlung des Wortes, das Geist ist, in die Materie des Wortgerausches. Das Wortgerausch ist die laute Leere, die die lautlose Leere tiberdeckt. Das wirkliche Wort hingegen ist die laute Fille tiber der stillen Flache des Schweigens. Es ist ein Unterschied zwischen dem Larm und dem Wortgerausch. Der Larm ist der Feind des Schwei-

gens, er ist ihm entgegengesetzt; das Wortgerausch ist nicht dem Schweigen entgegengesetzt, es macht sogar vergessen, dali es je ein Schweigen gab. Es ist nicht einmal ein akustisches Phanomen; das Akustische, das Gebrumme des Wortgerausches, ist nur ein Zeichen, dak

aller Raum und alle Zeit von ihm ausgefillt sind. 178

Der Larm hingegen ist umgrenzt, nahe an einen Gegenstand gebunden, ihn ankiindigend. Der Larm eines Festes, der Larm einer bauerlichen Musik ist eingesaéumt vom Schweigen, das gibt dem Larm Relief. Das Schweigen halt sich an den Grenzen des Larmes auf, wattend, daB es wieder erscheine; an den Grenzen des

Wortgerausches ist der Rand der Leere, das Nichts.

Das Wort heute entstehe nicht mehr aus dem Schweigen, haben wir gesagt, sondern aus einem anderen Wort, aus dem Gerausch des anderen Wortes. Das Wort

hingegen, das aus dem Schweigen entsteht, bewegt sich vom Schweigen ins Wort und dann wieder zuriick ins Schweigen und von ihm aus zum neuen Wort und wieder zuttick ins Schweigen und so fort, so dai das Wort immer von der Mitte des Schweigens herkommt: der Ablauf des Satzes wird immer vom Schweigen her unterbrochen,

immer st6Bt die Vertikale des Schweigens gegen die Horizontale des Satzablaufes vor und unterbricht sie. Das Wortgerausch hingegen bewegt sich ununterbrochen in der Horizontalen; wichtig erscheint allein, dafs das Wortgerdusch dauernd abliuft, nicht dies, daff es etwas bedeutet. , Auftritt von der Platze, Generaladjutant Lannas ihm

schnell entgegen, die Altgott winkt den Dienern schon, wegzuraumen. Alle haben erfaBt: Auftritt von der Platze, Majestat schon im Haus. Damen tiberstiirzt noch vor die Spiegel. ,Erlauben Sie, lassen Sie doch mich ’ran, gnddige Frau!‘ Kennen wir, folgt Generaladjutanten auf dem Fu, Herren Brust mit Orden raus, dalli ins 179

erste Glied. ,Bedauere, Exzellenz. Sehe jeder, wo er bleibe!* Letzte Minute, bleiche Erwartung, Schnaufen

der jah erregten Herzen, eine Dame lacht wild auf.“ (Aus einem modernen Roman)

Das ist ein Beispiel der Wortgeriusch-Sprache. In der Wortgerausch-Sprache sind Subjekt, Pradikat, Objekt, Adverbien ineinander verschmolzen, der Satz wird fast unartikuliert dadurch, er wird eine fast amor-

phe Lautmasse, aus der sich manchmal ein einzelner Laut drdéhnender hervorhebt: das ist dann der Laut, der

etwas anzeigt; anzeigt, aber nicht bedeutet*. Die Sprache ist hier nur noch ein mechanisches Fahrzeug, durch welches Lautmarkierungen transportiert werden.

Die Sprache hat hier aufgeh6rt, organisch und plastisch zu sein, sie stellt nicht mehr fess, sie stellt nicht mehr dar, die Worte sind nur noch Zeichen dafiir, daB

irgend etwas jetzt aus dem Gerauschdurcheinander herausgeholt und dem Hérenden hingeworfen wird. Das Wort ist nicht spezifisch Wort, es ist ersetzbar durch Zeichen, Farbzeichen oder Lautzeichen, es ist Apparatur, und es steht wie alle Apparatur jeden Augenblick vor der Vernichtung, und darum steht der Mensch, der

nicht vom Wort her sich das Leben gibt, sondern sich * Man kann sagen, daB auch durch das Wortgeriiusch heute Bedeutungen vermittelt werden. Das stimmt. Es handelt sich aber um eine blo8 materiellkonstatierende Bedeutungsart; eine wahre Bedeutung ist nur méglich, wenn durch das Wort auf den Unendlichkeitscharakter der Sache hingewiesen wird (HuBerl). Dieser Unendlichkeitscharakter, der nie durch das Wort auszuschépfen ist, ist im Schweigen gegenwartig. Im Wortgeriusch werden also zwat materielle Bedeutungen vermittelt, aber das Medium,

in welechem die Bedeu-

tung erscheint, das Wortgeriusch, ist dem Wesen der Bedeutung selbst feindlich, es uberwiegt und verschluckt die Bedeutung.

180

von der Gerauscheapparatur mitschleppen la8t, jeden Augenblick vor det Vernichtung. Diese Wortgerausche sind nicht wie von einem Menschen gesprochen, es sind Wortgespenster, die aus der Welt der getdteten Worte herkommen, die miteinandet selber sprechen, totes Wort mit totem Wort, und die gliicklich sind, wenn sich zwei oder drei zu einem Satz zusam-

mengefunden haben, so wie Gespenster gliicklich sind, wenn sie cinander an einem unheimlichen Ort begegnen. »Wie Vernichtung des Lebens besteht darin, daB es

zum Feinde umgeschaffen worden ist. Das Leben ist unsterblich, und getétet erscheint es als sein schreckendes

Gespenst* (Hegel). Vernichtung des Wortes ist dies: daB es zum Feinde umgeschaffen wurde, aber zum Feinde, der nicht einem eegeniibersteht, sondern einen durchdringt, durchsetzt,

und zwar als Gespenst durchsetzt: als das Wortgerausch. Hingegen ein Satz aus der Welt des wirklichen Wortes, von J. P. Hebel: ,,es ist doch merkwiirdig, dai manchmal ein Mensch, hinter dem man nicht viel sucht, einem anderen eine Lehre geben kann, der sich fir er-

staunend weise und verstandig halt“, — in diesem Satz ist jeder Teil genau, seines Wertes sich bewuBt, jeder ist fir sich da, und doch ist alles miteinander zu einem Hohe-

ren verbunden. ,,Es ist doch merkwiirdig“: Platz wird hier geschaffen durch diese Worte fiir ein Ereignis, es ist, als ob durch sie eine Schnur gezogen wiirde, um einen Raum, damit in ihm etwas Bestimmtes geschehen k6nne, und bei dem letzten Wort ,,merkwiirdige“ ist es, als sehe 181

man eine Tafel mit der Anktindigung,

dafi hier das

Merkwiirdige geschehe. ,,Dafs manchmal ein Mensch“: ein Mensch tritt auf in diesem abgegrenzten Raum, z6gernd tritt er auf, ,,manchmal“ ist das Zeichen des Z6getns. ,,Hinter dem man nicht viel sucht“: klein scheint

der Mensch auf dem grofen Platz, man wartet, was mit ihm geschieht, und es geschieht: ,,daB er einem andern

eine Lehre geben kann“, und auf einmal erscheint der Zogetnde, Kleine, der zuerst da war, groB, und jener, ,der sich fir erstaunend weise und verstaindig halt‘ witd klein, es ist, als ob ihm das erstaunend Weise und

Vetstandige wie ein Gepiack, das ihm nicht gehort, abgenommen wiirde. Jedes Wort in diesem Satze von Hebel zeigt, da der Satz auf einer festen Welt steht. So sicher ist diese Welt und die Worte in ihr, daB die Welt nur eines solch kleinen Satzes bedarf, um kundzugeben, daB sie da ist, eine

ganze Welt, und alle Worte dieser Welt stehen in der Nahe dieses Satzes. I

Das Wortgerausch, das heute das Wort ersetzt, entsteht nicht wie das Wort durch einen entschiedenen Akt,

es entsteht nicht durch aktive Zeugung, sondern wie die einzelligen Lebewesen durch Proliferation, das heift: ein Wortgerausch sondert ein anderes Wortgerausch von sich ab. Die Entstehung des Wortes geschieht in der qualitativen Sphare, die Entstehung des Wortgerausches in der quantitativen. 182

Das Wortgerausch ist wie gar nicht entstanden, es ist wie dauernd da, es ist, als wire von Anfang an nicht das Wort, sondern das Wortgerausch dagewesen, es ist kein Raum da, wo noch etwas andetes sein kénnte als es, alles ist infiltriert von ihm, es ist so selbstverstandlich da wie die Luft, da man gar nicht dazu kommt, nach seiner

Herkunft zu fragen, alles fangt mit ihm an und alles hort mit ihm auf. Es scheint gar nicht mehr auf den Menschen anzukommen, daf} es da ist, es ist wie unabhangig von ihm, etwas Objektives auferhalb von ihm. Der Mensch redet das Wortgerausch gar nicht, sondern es umredet ihn, es dringt in ihn hinein, fillt ihn bis an seinen Rand aus, und das, was aus dem Rand des Mundes herausfallt, das ist eben das Wortgerausch.

Keiner hort dem Redenden zu — Zuh6tren ist nur méglich, wenn

das Schweigen im Menschen ist, Zuhéren

und Schweigen gehéren zueinander —, jeder wartet nur darauf, die bei ihm angesammelten Worte abzuladen, aus dem Munde auszuschiitten, — das ist wie eine animalische Funktion.

Das Wortgerausch ist nicht Schweigen und ist nicht Lautheit, es durchsetzt Schweigen und Lautheit gleichmaRig, und es macht, daB der Mensch Schweigen und Wort vergift. Es gibt den Unterschied zwischen Redendem und Schweigendem nicht mehr, weil ein einziges Wortgetausch den Redenden und den Nichtredenden durchsetzt. Nur dies ist der Schweigende hier: ein Nicht-Redender. 183

Das Wortgerausch ist Pseudowort und Pseudoschweigen zugleich, das heift: es witd etwas geredet und doch ist es kein Wort, und es verschwindet etwas im Wort-

gerausch und doch ist kein Schweigen. Wenn das Wortgerausch einmal nicht weitergeht, tritt nicht das Schweigen ein, sondern nur eine Pause, in der sich das Wort-

getadusch anstaut, um sich mit noch gréBerer Macht auszubreiten. Es ist, als habe das Wortgerausch Angst, daf es verschwinde, und als bewege es sich nur darum unaufhérlich weiter, weil es sich immer beweisen mu, daB es da

ist, es glaubt selbst nicht an seine Existenz. Das Wort hingegen hat keine Angst, daB es nicht existiere, auch wenn es nicht laut da ist: es wird im Schwei-

gen erst recht gespiirt. Der Mensch aber, der nur noch ein Anhingsel des Wortgerausches ist, glaubt immer weniger, daB er noch

vorhanden sei: in den tausend Bildern des Kinos und der illustrierten Zeitung betrachtet er sich jeden Augenblick, als wiirde er dadurch erfahren, ob er noch da sei,

ob er noch aussehe wie ein Mensch. So unwirklich ist der Mensch heute: daB in einem Saal vor groBen Spiegeln die Menschen nicht als die witklichen erscheinen, sondern wie nut herausgeschickt von den Bildern im Spiegel, wie zum Urlaub herausgelassen aus dem Spiegel und beim Erléschen des Lichtes zurtickfallend in den Spiegel und in seiner Finsternis verschwindend. Wo aber das Schweigen wirkt, wird der Mensch im184

mer wieder durch das Wort, das aus dem Schweigen kommt, neugeschaffen, und immer wieder verschwindet er im Schweigen vor Gott. Seine Existenz ist ein andauerndes Entstehen im Wort durch Gott und ein Verschwinden im Schweigen vor Gott. Heute ist seine Existenz nur ein andauerndes Auftauchen aus dem Wortgeriusch und ein andauerndes Verschwinden in ihm. Il

Das Wort ist durch die Herkunft aus dem Logos, der die Ordnung ist, so beschaffen, dali es in die Welt des Menschen

vieles nicht hineinlaBt, was

auBerhalb

der

menschlichen Ordnung liegt. Das Wort ist ein Schutz fiir den Menschen. Viel Damonisches wartet darauf, in

den Menschen einzudringen und ihn zu zerst6ren, aber der Mensch ist davor bewahrt, von diesem Damonischen

beriihrt zu werden, ja er vermag nicht einmal es zu bemerken, weil es nicht in das Wort hineingeht, das Damonische wird schon durch das Wort abgewehrt vom Menschen. Aber nur wenn der Mensch das Wort in seinem wahtren Wesen bewahrt, vermag es seine Macht gegen die dimonischen Krafte zu behalten. Das Wortgerausch ist durchléchert und durchgangig fir die damonischen Krafte. In das Wortgerausch kann sich alles einschleichen, alles kann sich mit ihm vermischen, auch das Damonische, ja

das Wortgerausch ist selbst ein Teil des Damonischen. Im Wortgerausch pflanzt sich alles tiberallhin fort, das 185

Antisemitische, das Klassenkampferische, das Nationalsozialistische, das Bolschewistische, das Literarische, tiberallhin breitet sich alles aus, es ist schon da, bevor

der Mensch angekommen ist, es wartet auf ihn. Es breitet vor allem das Unklare aus, das Unklare, das es selber

ist, es erzeugt auch dieses Unklare, es verwischt die Grenzen und macht alles maBlos. Das Wort setzt Gren-

zen, das Wortgerausch iiberspringt die Grenzen. Hier wird ein Krieg darum leicht,,total“, weil derKrieg alles leicht zu sich holen kann, alles ist schon mit ihm vermischt, alles ist schon in ihm darin, ehe er es ergreift.

In diesem Wortgerausch kann alles gesagt werden, es wird doch alles in ihm wieder aufgehoben, eines durch das andere, es ist schon aufgehoben, ehe es gesagt wurde, es kann in ihm das Diimmste oder das Gescheiteste geredet werden, beides wird in ihm ausgeglichen, es kommt

iiberhaupt nur auf den allgemeinen Ton des Wortgetausches an, es ist gleichgiiltig, ob dieser Ton durch das Gescheite oder durch das Dumme, durch das Bése oder

durch das Gute gemacht wird. Das ist die Apparatur der Verantwortungslosigkeit. In dieser Welt des Wortgerausches, wo eines ins andere tibergeht, und wo alles bei allem ist, gibt es keine Grenzen im AuBeren und keine Grenzen im Inneren des Menschen. Jeder hat Zugang zu allem, jeder versteht alles, hier kann es nicht geschehen, daB einer, wie Goethe, den Hélderlin nicht erfaft, oder das einer, wie Ja-

kob Burckhardt, sich fern halt von Rembrandt (wo eine witkliche Person ist, da ist eine Grenze in der Person,

das gerade macht die Person aus), hier im Wortgerausch 186

hat einer Goethe wnd Héldetlin und Rembrandt und Jakob Burckhardt dazu.

Alles also witd mitgeftihrt im Wortgerausch und alles kann sich aus ihm heraus entwickeln. Nichts entsteht mehr

dutch

einen besonderen

Akt, durch eine Ent-

scheidung und durch das Schépferische, alles erscheint von selbst aus ihm: durch eine Art von Mimikri kommt aus dem Wortgerausch das hervor, was die Umstiande erfordern und wird dem Menschen zugefiihrt. Zum Beispiel wird einem Menschen das Nazihafte zugefihrt, wenn die Umwelt nazihaft ist, und das geschieht, ohne

daff sich der Mensch durch einen Akt des Gewissens fiir das Nazitum entschieden hatte. Der Mensch ist so sehr ein Teil des Wortgerausches, dali er gar nicht merkt, wenn ihm etwas zugefiihrt wird. Und das Wortgerausch hort auf, ihm das Nazihafte zu bringen, wenn es sich einer neuen Situation anpaBt, oder vielmehr, wenn es sich selber langweilig geworden, den Ton verandert hat. Die Haltung des Menschen ist von der Bewegung des Wortgerausches abhangig, nicht mehr von seinem Willen. Der Mensch lebt nicht mehr mit dem Wort und durch das Wort. Das Wort ist nicht mehr der Ort, wo der Mensch sich fiir die Wahrheit oder fiir die Liebe entscheidet, es

wird fiir ihn durch das Wortgerausch entschieden. Das Wortgerausch ist die Hauptsache, der Mensch ist nur noch der Ort, wo sich das Wortgerausch ausbreitet, er

ist nur noch der Raum fiir das Wortgerausch. Das Wortgerausch ist auch nicht mehr abgesetzt von oy

der Aktion, es ist schon ein Teil der Aktion, und da-

durch wird es gefahrlich. Das Wort hingegen kommt aus dem Logos, es witd durch die Kontinuitat und die Strenge des Logos gehalten, und durch die Bindung an den Logos, die in die

Tiefe reicht, wird es gehemmt in seiner Bewegung: die Aktion, die der Mensch unternimmt, entspringt deshalb nicht unmittelbar

bei dem

Wort,

sondern

sie

kommt von einer grdReren Tiefe her, von dem Ort, wo

das Wort aus dem Logos entsprang. Daher ist die Aktion nicht nur am Wort festgemacht, sondern noch tiefer, am

Logos, und deshalb ist eine solche Aktion geschiitzt vor der Hemmungslosigkeit. In dem allgemeinen Wortgerausch von heute haben die Aktionen keinen Halt, sie werden grenzenlos, sie sind unkontrolliert, weil sie nicht gehalten werden vom Wort, sie sind zugedeckt vom Wortgerausch, sie ver-

schwinden in ihm, immer neue Aktionen werden gesucht, weil keine wirklich da ist.

Das also ist die Welt, die sich selbst bewegt mit Wortgerausch und Aktionen, sie erscheint wie eine Welt der Magie, alles vollzieht sich in ihr ohne die Entscheidung des Menschen, wie von selber, und gerade durch diesen Anschein der Magie verfiihrt sie den Menschen.

IV

In der Welt des Wortgerausches fehlt dem einzelnen Ereignis der spezifische Charakter, der ihm das beson188

dere Gesicht gibt, wie dem einzelnen Menschen ein besonderes Gesicht gegeben ist. »C’est un des plus grands mystéres qu’il y ait dans Phistoire et dans la réalité, et naturellement aussi, na-

tutellement donc l'un donc de ceux sur qui l’on passe le plus aveuglement, le plus aisément, le plus inattentivement, le plus sans sauter, que cette espéce de différence absolue, qu’il y a dans le prix des événements. Que certains événements soient d’un certain prix, aient un certain prix, un prix propre. Que des événements différents du méme ordre ou d’ordtes voisins, ayant la méme matiére ou des matiéres du méme ordre et de méme valeur, aient pourtant

des prix, des valeurs

infiniment

différentes: que chaque événement opérant une méme matiére, faisant devenir une méme matiére, sous une méme forme, dans une méme forme, que tout événement

ait pourtant un prix propre, mystérieux, une force propre en soi, une valeur propre, mystérieuse. . .“ (Péguy). In der Welt des Wortgerausches sind die Ereignisse nicht mehr unterschieden voneinander, das Wortgerausch macht alle gleich, und darum nehmen die Ereignisse heute so groBe Dimensionen an, darum werden sie so laut, schreiartig, es ist, als suchte ein Ereignis, sich durch Larm vom andern abzusetzen, da ihm das Wesen fehlt, durch das es sich vom andern unterscheiden kann. Es ist vor kurzem ein Buch erschienen ,,Das Jahr

1848 in Europa“, eine Zusammenstellung der Ereignisse, Tag fir Tag, wihrend des ganzen Jahres. Hs ist viel geschehen damals, 1848: Vélker haben sich revolutionar

erhoben, KGnige sind gefallen, die Arbeiter waren unzu189

friedener als je, die Reichen haben sich gegen deren Anspriiche gewehrt, mehr als je, neue GroBmichte, Italien und Deutschland, fingen an, unruhig sich zu formen,

Kriege begannen oder schienen zu drohen, kein Tag verging, ohne daB die Zeitung nicht eine aufregende Nachricht brachte, die Erde war iiberftillt mit Ereignissen, — und man meint vielleicht, diese Uberfiille der Er-

eignisse sei von der gleichen Art gewesen, wie das Durcheinander der Geschehnisse heute. Das ist falsch: jedes Ereignis, damals, 1848, war deut-

lich abgegrenzt vom andern, nicht vertauschbar mit einem anderen, es hatte seine besondere Physiognomie, und es hatte auch seine besondere Wirkung, die nur von ihm kommen

konnte, und vor allem: es war ein be-

stimmter Akt nétig, damit es da sein konnte, und es war

wirklich da, als das ganz und gar spezifische Ereignis da, es galt und nicht die Aufregung um es herum. Das Medium, in dem es existierte, wurde erst geschaffen durch das Ereignis.

Heute ist es umgekehrt: zuerst ist das Medium da, namlich das Wortgerausch, es ist das Wichtige, es zieht die Ereignisse an, das heiBt, es formt aus sich, aus dem

Wortgerausch, irgend etwas zu irgend etwas, das wie ein Freignis aussieht, das Ereignis ist kein spezifisches Phinomen, sondern nur eine Verdichtung des Wortgerausches. Jedes ist solch eine Verdichtung, nicht mehr, und darum ist ein Ereignis dem anderen gleich. Darum interessiert man sich auch nicht fiir diese Ereignisse. Die Menschen kiimmern sich heute nicht um Politik, weil

die Ereignisse ihnen langweilig sind. Die Ereignisse Igo

werden auch leicht vergessen, sie tauchen auf im Wortgerausch und verschwinden wieder in ihm, der Mensch braucht sie nicht einmal selbst zu vergessen, das Wortgerausch vergiBt sie fir ihn. Waren die Ereignisse nicht aufgeldst im Wortgerausch, waren sie wirklich noch vorhanden, dann kénnte

nicht so schnell eines auf das andere folgen (siehe Anmerkung Seite 80). Denn zu einem Ereignis gehért ein bestimmtes Ma

von Zeit, es besteht ein bestimmtes

Verhaltnis zwischen der Wirklichkeit eines Ereignisses und seiner Dauer. Ein Ereignis will in der Zeit da sein, in ihrer Dauer selber Dauer bekommen. Wenn ein Ereignis nicht mehr dauert in der Zeit, nur auftaucht in ihr und in ihr wieder verschwindet, wird es zum Gespenst. Bis 1920 ungefahr gab es noch einen ,,Betrieb“, das heiBt: das Wortgeraiusch bewegte sich noch um eine Sache herum, die deutlich zu unterscheiden war, und

diese Bewegung des Wortgerausches um eine Sache war eben der ,,Betrieb“, man erkannte aber, zum Beispiel,

noch die Literaturgattung, um die das Wortgerausch herumlarmte, man erkannte den Expressionismus, und

er erschien als wichtiger denn das Wortgerausch um ihn herum. Man konnte auch noch die Idee der ,,sozialen

Firsorge“ unterscheiden, trotzdem da rausch sich um

das Wortge-

sie walzte und sie bedeckte, man sah

sogar noch irgendein politisches Prinzip deutlicher als

das Wortgerausch um es herum. Das ist heute ganz und gar anders: nicht mehr das Objekt macht ein Wortgeréusch um sich herum, wie

191

einst, sondern das Wortgerausch ist das Primare, es sucht

ein Objekt. Es und das Objekt sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, Betrieb und Objekt sind in

einem einzigen Geriusch aufgegangen. Wohl wird heute auch von diesem oder jenem besonderen literarischen oder politischen Objekt geredet, aber das sind nur noch Markierungen innerhalb des Gerausches, es sind nur die Stellen, wo die Objekte ins allgemeine Gerausch eingeliefert werden und wo der Mensch ihnen nachfolgt, um in ihm mit ihnen zu verschwinden.

V

Das Wortgerausch ebnet alles ein, macht alles gleich,

es ist eine Maschinerie der Nivellierung. Es gibt hier keinen Einzelnen mehr, jeder ist nur ein Teil des Wortgerausches, hier geh6rt auch dem Einzelnen nichts mehr, alles ist wie ins allgemeine Wortgerdusch geschiittet, zu jedem beweegt sich alles hin, und jeder hat datum Anrecht auf alles. Die Masse ist legitimiert, sie ist das Pendant zum Wortgeriusch, sie ist wie das Wortgerausch: da und doch nicht da, auftauchend und wieder verschwindend,

alles ausfiillend und doch nir-

gends greif bar.

Das Wortgerausch ist so weithin schweifend, so uniibersehbar, da der Mensch in ihm sich nicht orientie-

ren kann, wo etwas anfaingt und aufhért und wo er selber anfangt und aufhért. Das Wortgerausch ist wie ein 192

Gewimmel von Insekten: man sieht nur eine undeutliche Wolke, eine Insektenwolke, von der ein Gesumme aus-

geht, das alles bedeckt und alles gleichmacht. Der Mensch wartet darauf, daB irgend etwas komme und dieses vage Wortgerausch auseinanderteife durch einen scharfen Laut, er ist miide der Einténigkeit des Gesummes, und: das ungeformte, vag hin- und her sich bewegende Wortgeriusch scheint selbst darauf zu warten, daB irgend etwas in es hineinfalle und es abteile. Der Schrei des Diktators, seine Parole, ist dasjenige,

worauf das Wortgerausch wartet. Der Schrei des Diktators, seine Deutlichkeit, und das Wortgerausch, seine

Undeutlichkeit, entsprechen einander, eines ruft das andere hervor, eines ist ohne das andere nicht médglich. Bei diesen Diktator-Parolen gilt der Inhalt nichts, es gilt nur seine Lautheit und Deutlichkeit. Der Mensch hat jetzt eine Markierung, durch die er merkt, daB er da ist, vorher war er nur ein Teil des undeutlichen Wort-

gerausches, jetzt ist er ein Teil der deutlichen Parole*. So sehr ist die Parole des Diktators nur Schrei ohne Inhalt: wenn der Diktator ein Land iiberfallt, ist es, als

gehe es gar nicht um die Expansion der Landgrenzen, sondern um die Expansion des Geschreies. Das Schweigen des fremden Landes, seine schweigende Wirklichkeit, soll niedergebriillt werden, Geschrei wird hingeworfen dort, wo einst das Schweigen war. * Es ist ein Unterschied zwischen der Parole und der Phrase. Man spiirt hinter der Phrase noch das Wort, von dem die Phrase herkam: das Wort fiel ab von seinem Wesen, das hei®t yon seiner Wahrheit und wurde dadurch zur

Phrase. Die Parole ist nicht einmal Abfall yom Wort, sie kommt her vom puren akustischen Laut, der zu etwas Wortahnlichem zurecht gemacht ist, man kann sagen, sie sei nichts anderes als das maschinell-komprimierte Wortgerausch. 43

Picard,

Schweigen

a9

Die Parole, haben wir gesagt, gehére zum Wortgetausch, aber auch die tiberdeutliche Rohheit, die brutale

Aktion, der Uberfallskrieg entsprechen ihm. So ungeformt ist das Wortgerausch: es wartet darauf, dafi irgend etwas Geformtes, Deutliches, in es hineinfalle. Der

im Wortgerausch verlorene Mensch ist wie erlést durch das vor ihm erscheinende feste Gebilde des Krieges, ja sogat durch das feste Gebilde einer brutalen Aktion.

Daher kommt es, daB in der Welt des Wortgerausches so leicht Kriege und brutale Aktionen zu machen sind. Det Krieg, die Bombe wird angesogen von der Leere dieser Wortgerausch-Welt. Wie am Anfang der Zeiten die Worte kaum hérbar den Aktionen vorangehen—aus Scheu dampft der Mensch die Wotte, weil er sieht, daB ein Wort wie durch Zauber eine Aktion hervorruft —, so sind am Ende der Zeiten die Aktionen wieder fast ohne Worte da, aber jetzt, weil das

Wort nicht mehr die Kraft zum Schépferischen hat, es Ist zerstort. VI

Wie das Wort nicht mehr durch einen besonderen Akt entsteht, sondern als dauerndes Gerausch da ist, so geschieht auch das Tun des Menschen nicht mehr durch einen besonderen Akt, es ist ein einziges fortwah-

rendes Tun da, ein einziger fortwahrender Arbeitsprozes, er ist das Primare, die Menschen sind nur seine Anhangsel. Dieser ArbeitsprozeB ist so sicher da, daB es scheint, als sei er gar nicht mehr auf die Menschen

194

angewiesen, er ist wie ein Naturphinomen, fast unabhangig vom Menschen, und dieses Unaufhérliche und Ungreifbare des Arbeitsprozesses entspricht ganz und gar dem Unaufhérlichen und Ungreifbaren des Wortgerausches. So sehr durchwirkt dieser ArbeitsprozeB alles, daB es ist, als wiirde auch in seinen Pausen er un-

hérbar weiter sich fortsetzen. Nicht der Zweck des Arbeitsprozesses gilt hier, sondern nur dies, da er unaufhdrlich dauere. Wie das Wort

im Wortgerausch zerrieben wird, so ist die schépferische Aktion des Menschen in diesem Arbeitsprozef zerstampft. Im Unaufhérlichen des Arbeitsprozesses ist aller Sinn aufgegangen, es ist hier ein neues Sein entstanden, ein pures Sein ohne Sinn, das nur durch die Dauer

den Schein des Selbstverstandlichen bekommt. So selbstverstandlich ist es da, daf es gar nicht diskutiert wird,

und das ist die grofie Macht dieses Arbeitsprozesses, daB et sich auBerhalb der Diskussion errichtet hat. Es ntitzt nicht viel, an ihm Verbesserungen anzubringen. Der ganze ArbeitsprozeS von heute ist ein falsches Sein und darum nicht durch Veranderungen zu verbessern, im Gegenteil, durch diese Verinderungen scheint es, als ob hier ein wirkliches, korrigierbares Sein vor-

handen wate, sie legitimieren ein falsches Sein.

Vil

Noch mehr als der ArbeitsprozeB verkérpert die Maschine in ihrer unaufhérlichen, steril gleichen Bewe2»)

gung das Unaufhérliche, Steril-Gleiche des Wortgerausches. Die Maschine ist das in Eisen umgesetzte Wortgetausch, und wie das Wortgeridusch nie sich getraut, aufzuhoren, als hatte es Angst, dafi es verschwinden wiirde, wenn es nicht immer den Raum ausfiillte, so ist auch in

der Maschine wie eine Angst, daf sie als ein Gespenst zam Schwinden gebracht werden k6nnte, wenn sie nicht dutch die andauernde Bewegung immer selber wieder bewiese, daB sie da ist.

Der Mensch heute glaubt nicht mehr an seine Dauer nach dem Tode, aber dafiir nimmt er eine vage Dauer irgendeiner Art fiir sich in Anspruch, die thm durch die Dauer des Wortgerausches und noch mehr durch den dauernden Arbeitsprozef und durch die dauernde Bewegung der Maschine garantiert erscheint. Der Mensch hat in der dauernd sich bewegenden Maschine die Dauer handgreiflich vor sich. Es ist, als wiirde er selbst aufhéren da zu sein, wenn die Maschine aufhdren wiirde,

sich zu bewegen. In einer Welt, in der sonst keine Dauer mehr ist, gibt es wenigstens die dauernde Bewegung der Maschine.

Die groBen Maschinen in den Fabriken sind so: als ob in die leeren Raume zwischen den Hisenstangen das Schweigen geschtittet und zu Larm verarbeitet wiirde. Es ist, als ob sie alles Schweigen der Erde zermahlen wollten, ja als ob sie es schon zermahlt hatten und nur die letzten Bewegungen des Verdauens noch machten. 196

Triumphierend stehen die Maschinen da, als ob sie sich jetzt auf eine andere Zerstérung besinnen, nachdem die Zerstérung des Schweigens beendet ist. Die Maschine,

die stillesteht, fiillt den Raum noch

mehr aus, als wenn sie sich bewegt, alles gehort ihr jetzt, die Luft wird stahlern, die Stille wird stahlern. Drohend

steht sie da gegen den Menschen: es ist, als ginge die etste Bewegung, die sie wieder machen wird, gegen den Menschen. Die Stille, die da ist, wenn die Maschinen aufhéren, sich zu bewegen, ist kein Schweigen, sondern Leere. Deshalb ist der Arbeiter nach der Arbeit in der Leere,

die Leere der Maschine folgt ihm nach. Das ist sein groBes Leiden, die wirkliche Unterdriickung. Der Bauer hingegen lebt nach der Arbeit im Schweigen weiter, in dem er gearbeitet hat. Der Arbeiter ist stumm, der Bauer schweigt. Man hat von einer ,,Welt des Arbeiters“ geredet, von seiner Welt der Maschine. Aber die Maschine, die den Arbeiter in die Leere st6Bt, in der sie selber ist, ist keine Welt, sondern das Ende einer Welt, und das Ende einer

Welt vermag den Menschen nicht mit Gliick anzufiillen, sondern nut mit Traurigkeit und Verzweiflung. Deshalb kann der Arbeiter nie gliicklich sein an der Maschine. Niemals kann dem Menschen durch die Maschine geholfen werden, weil sie den Menschen wegholt von jener Zeit, die ein Moment der Ewigkeit ist: die andauernd sich bewegende Maschine macht aus der Zeit eine mechanisierte Dauer, wo es keinen fiir sich bestehenden

Augenblick gibt, der der Ewigkeit gegentiber treten ao

kann. Diese mechanische Dauet hat tiberhaupt keine Beziehung zur Zeit, sie fillt die Zeit nicht an, sondern den Raum. Die Zeit erscheint gestockt, fest und in Raum

verwandelt.

So ist der Mensch abgetrennt von der Zeit. Darum ist et so einsam vor der Maschine, er ist nur ein Wesen des

Raumes, und anstatt da die Zeit sich bewegt, scheint sich durch die Bewegungen der Maschine nur der Raum za bewegen: so lebt der Mensch im Raume, nur im Raume, wie in einem Schacht ohne Ende, der durch die

Maschine immer tiefer sich grabt. In dieser Welt der Maschine, die das zu Eisen geronnene Wortgerausch ist, kann niemals das Wort des Dichtets entstehen, denn das Wort des Dichters kommt aus

dem Schweigen, nicht aus dem Wortgerausch. Alle Maschinendichtung von heute ist wie von der Maschine selber gestanzt, sie ist stahlernes Wortgerausch. Und der Gott, der in dieser Maschinenwelt médglich ist, ist der von der Maschine selber produzierte Gott, es

ist im wahren Sinne des Wortes der deus ex machina.

Vill

In dieser Welt des Wortgerausches gilt dem Menschen nicht die Wirklichkeit, sondern die Méglichkeit. Die Moéglichkeiten stehen nicht als etwas Deutliches fest, sie bewegen sich von einer Undeutlichkeit zur anderen, sie haben keinen Anfang und kein Ende, sie sind 198

nicht eindeutig, sondern wie ein vages Gesumme. Wie das Wort und die Wirklichkeit zueinander gehdren, so

gehéren Wortgerausch und Méelichkeit zueinander. Diese Welt des Wortgerausches ist auch die Welt des Experimentes. Ein Experiment ist seinem Wesen nach nicht abgeschlossen, nicht umgtenzt, es entsteht nicht durch einen Akt, der unabhangig ist von anderen, es ist nicht wie ein Phanomen, das fiir sich besteht, sondern es

ist nur wie die Fortsetzung von anderen Experimenten, eine Variation von ihnen, wie ein Wortgerausch nur die Fortsetzung der anderen Wortgerauscheist. Darumhéren die Experimente auch nie auf, sie gehen wie von selbst weiter, der Mensch ist nur ihr Laboratoriumsdiener, der das aufschreiben darf, was sie von sich mitteilen

wollen. (Siehe Kap. ,,Erkenntnis letzter Absatz.)

und Schweigen“,

Die Art, wie heute die Dinge durch das Gesetz von Ursache und Wirkung miteinander verbunden werden, so,

da die Dinge nur noch Material fiir das Gesetz sind, — diese Art des Ursache-Folgegesetzes ist auch ein Pendant zum Wortgerausch. Damit soll nichts gegen das Kausalgesetz an sich gesagt sein. Das Kausalgesetz ist notwendig, es gehrt zum Menschen, und es ist auch in den Dingen selbst eine Bereitschaft, sich in der Kausalitét verkntipfen zu lassen.

Aber diese Verkntipfung darf nicht autonom werden, sie darf nicht um ihrer selbst willen, sondern sie muB um

der Dinge und der Menschen willen da sein. Man muf, ao?

wenn man die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung herstellt, sptiren, da die Dinge nun mehr einander gehdren als vor der Verbindung, und dal} ihr Wesen nun deutlicher ist als vorher. Es ist die Art der Psychoanalyse, der Tiefenpsychologie und eines groBen Teiles der tibrigen Psychologie, ein Phanomen in eine unendliche Reihe von Erklarungen aufzulésen. Das Phanomen wird bedeckt von den Erklarungen und verschwindet in ihnen. Wie das Wort in das Wortgerausch zerfallt, so zerfallt ein Phanomen oder ein Faktum in Erklérungen, in das Erklarungsgerausch. Wie es kein deutliches, umgrenztes Wort mehr gibt, sondern nur noch das vage Wortgerausch, so

gibt es auch kein deutliches Phanomen oder Faktum mehr, nur noch die vage Erklarung. Hs ist heute eine Erklarungsmaschinerie da, die wie von selber arbeitet und alle Phanomene in ihren Betrieb hineinzieht. Die Phanomene sind nur noch Material fiir diese Erklarungsmaschinerie. Es ist, als sei alles schon im voraus etklart, noch bevor das Phanomen selber erschienen ist, es wird nicht nach einer Erklérung fir die

Phanomene gesucht, sondern man sucht Objekte und Phanomene fiir die Erklarungen, die man im voraus bereit hat. Wir haben gesagt, daB die Phanomene aufgelést werden durch die psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Erklarungen. Zum Beispiel, die Phanomene Vater, Mutter, Sohn gehen unter durch die Erklarungen der Psychoanalyse: Odipus hat seinen Vater ermordet 200

und ist der Gatte seiner Mutter geworden, — durch die Psychoanalyse werden diese ungeheuetlichen Fakten und die Phinomene Vater, Mutter, Sohn zum Anhingsel eines erotischen Komplexes reduziert. Hingegen bei Sophokles wird das Phanomen Vater durch den Mord erst recht deutlich, es wird als Urphanomen deutlich: ein Vater ist erschlagen, ein Vater! Und der Inzest des Sohnes mit der Mutter zerstért zwar im Augenblick des Inzestes das Bild der Mutter, aber deutlicher als vorher steht es wieder auf durch die Stihne des Sohnes, es wird

zum Bilde des Urphainomens, der Mutter. Nicht Odipus, sondern das Schicksal selbst scheint sich die Augen auszuringen, damit es nicht ansehen mu8, wie im michtigsten Leid (nicht in den miachtigsten Erklaérungen) der Vater, die Mutter und der Sohn vergehen und wieder erstehen. Die Urphanomene

Vater, Mutter

stehen fester da

nach dieser Tragédie, die Erde erscheint sicherer geschaffen als vorher, die Urphanomene sind der Erde wie zum ersten Male gegeben, — von der Psychoanalyse werden sie ihr genommen und samt der Welt aufgeldst. Die Existentialphilosophie heute ist ein Versuch, sich von dem Mechanismus des Wort- und Dingbetriebes loszureifBen. Der Mensch wirft sich ins Nichts, — er will lieber ein ins Nichts Geworfener sein, als blo& ein Teil der Wort-

und Dingmaschinerie. Durch diesen Sturz scheint der Betriebsmechanismus unterbrochen, und der Mensch im Nichts ist wieder vor einem neuen Anfang. PION

Aber der Mensch, der vor einem neuen Anfang sein kénnte, ist gar nicht da, er existiert gar nicht in diesem

Nichts, er ist aufgelést in ihm, es ist gar keine Person da, die sich durch ,,Angst“, ,,Sorge“, ,, Tod“, den Katego-

rien der Existentialphilosophie, wieder den urhaften Dingen nahern kénnte, es ist nur ein leerer Raum da, in dem

Mensch und Angst, und Sorge und Tod in einem einzigen Nichts aufgegangen sind. Der Mensch ist zwar nicht mehr im vollgefiillten Wort- und Dingbetrieb darin, er ist aber in einer leeren Weite, er ist selbst diese leere

Weite, in der das Echo des larmenden Wort- und Dingbetriebes noch lauter geh6rt wird als zuvor. Die Existentialphilosophie hat etwas Bohrendes, etwas unteritdisch Bohrendes, — dieser Bohrlarm pabt zu dem Larm des allgemeinen Wort- und Dingbetriebes.

TX

In diesem allgemeinen Gerausch, wo der Inhalt des Wortes nicht mehr gilt, nur noch seine akustische Bewegung, und wo alles bedeckt wird von ihm, wird alles nivelliert, das Wort des Dichters und das Geschwitz

irgendeines Menschen, alles geht in dem einen Gerausche unter. Hier gibt es weder Einsamkeit, noch Gemeinschaft, —

nur die Vermischung im Gerausch. Zwei Objekte, die einander entgegengesetzt sind in ihrem Wesen, stehen hier einander nicht gegeniiber, sie

gleiten aneinander im Gerausch vorbei. 202

Hier gibt es keine Gegensatze und darum auch keine Leidenschaft und kein Schicksal. Was als Schicksal erscheint, ist dies: viele Gerausche verdichten sich zu einem

heftigen Larm (zum Lirm des Nazitums zum Beispiel), das gibt sich als Schicksal, es ist aber nur eine Stérung im Ablauf der Gerdusche. Auch die Phantasie ist hier nicht notwendig, — alles ist schon vorratig im Gerausch. Die Wahrheit braucht hier nicht in Liige verwandelt zu werden, wenn einer liigen will: Wahrheit und Liige sind gar nicht unterschieden im Wortgerausch. Das Leben ist hier ein Auftauchen aus dem Gerausch und der Tod ein Verschwinden in ihm. Durch die Maschinerie des Wortgerausches wird jedoch mehr das Bose als das Gute verbreitet, denn der

Struktur des Wortgerausches, seiner Unentschiedenheit und Undeutlichkeit entsprechen mehr die Phanomene des Bésen als die des Guten. Das Gute ist fast immer

deutlich da, abgegrenzt; das Bése hingegen liebt das Verschwommene,

Diammerige; im Dammerigen,

Ver-

schwommenen kann es sich tiberall einschleichen.

Das Wortgerausch ist nicht das Bose selbst, aber es bereitet das Bése vor: der Geist versinkt leicht im Wortgerausch. Das Bose, das im Wortgerausch entsteht, ist jedoch

anders als zum Beispiel das Bose Richards HI. Es ist im Menschen, ohne daB er sich dafiir entschieden hatte, es ist in ihm, ohne daB er es merkt.

Dieses Bose steht zum Wortgerausch in einer Bezie203

hung wie die Sumpfpflanze zum Sumpf: sie geh6ren von vorneherein zueinander; wo das eine sich zeigt, ist auch

das andere. Sumpfpflanze und Sumpf, Liige und Wortgetausch, eines ist der Ausdruck des anderen.

Wohl gibt es auch in der Welt des Wortgerausches noch die einfachen Dinge: Geburt und Tod und Liebe, — aber sie sind wie ohne Worte da, einsam in dieser Maschinerie. Und sie um sich, — nirgends so wie hier —, als Feuer dieses Glanzes die Maschinerie vetbtrennen.

reine Phanomene, haben einen Glanz versuchten sie, im um sich herum zu

Kin Glanz geht im Getriebe des Wortgerausches von dem Phanomen

der Liebe oder vom

Tode oder von

einem Kinde aus. Der Glanz geht hin von einem Phinomen zum anderen, und in diesem Glanze héren sie auf, einsam zu sein, in ihm sind sie miteinander verbunden:

durch den Glanz reden diese Dinge miteinander. Wo das Wort untergegangen ist, ist der Glanz die Sprache der urhaften Dinge geworden.

DAS

RADIO

Das Wortgerausch ist heute nicht blo& ein Teilchen der Welt, auf ihm ist selbst eine Welt errichtet: die Welt

des Radios. Das Radio ist eine Maschinerie, die das pure Wortgerausch produziert, es kommt fast gar nicht mehr auf einen Inhalt an, sondern nur darauf, daB ein Gerausch

entsteht. Die Worte sind wie zerstampft im Radio, sie sind wie in eine unf6rmige Masse verwandelt. Beim Radio gibt es kein Schweigen mehr, aber auch kein Wort,

ein Zustand

ist hier geschaffen, wo

das

Schweigen nicht mehr vermift wird, aber auch nicht mehr das Wort, wo das Wort zum Radiogerausch zertieben ist, wo alles da ist und doch nichts da ist.

Das Radio hat allen Raum des Schweigens okkupiert, Schweigen gibt es tiberhaupt nicht mehr: auch wenn das Radio abgestellt ist, scheint das Radiogerausch noch da zu sein, unhérbar weiter zu gehen. So ungeformt ist das Radiogerausch, daB es keinen Anfang zu haben scheint und auch kein Ende, es ist grenzenlos. Und so ist auch

der Mensch dieses Radiogerausches selbst: er ist formlos, unentschieden, innerlich und 4uBerlich, ohne Grenzen, maBlos.

Es gibt keinen Raum mehr, in dem geschwiegen werden kann, er ist schon im voraus weggenommen. Es ist, als ob man fiirchte, daB von irgendwoher das Schweigen 205

aufbreche und das Radiogerausch vernichte, darum wird jeder Raum ausgefiillt mit Gerausch, es getraut sich nicht aufzuhdren, immer ist es auf der Wache gegen das Schweigen. Es gibt kein Schweigen mehr, nur noch eine Pause vot dem nachsten Radiogerausch. Nicht nur das, was ist, sondern auch das, was sein wird, ist schon im votaus

vom

Radio

besetzt.

Der

Mensch witd vom Gerausch der Gegenwart in eine Zukunft begleitet, die auch wieder Gerausch ist, er kennt sich im voraus schon darin aus, das macht ihm Gegen-

wart und Zukunft langweilig. In dieser Welt des Radiogeradusches gibt es keine Ge-

genwatt, nie ist fiir den Menschen das, was das Radio mitteilt, unmittelbar da, nie ist ein Gegenstand unmittelbar da, alles ist im Radiogerausch immer unterwegs, von

irgendwoher flie&t etwas zu einem hin und flieBt wieder von einem weg irgendwohin, — nichts ist dz: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in ein einziges lang hingezogenes Gerausch vermischt. Darum zerstort das Radiogeréusch den Menschen: ihm, der den Gegenstinden als ein Gegenwattiger gegentiber stehen sollte, ihm nimmt das Radiogerdusch die Gegenwartigkeit. Das macht den Menschen der Radiowelt so mi&mutig, das erzeugt ein Malaise in ihm: alles wird ihm hingeworfen durch das Radio, aber nichts ist wirklich da, alles enteleitet ihm. Vergangenheit, Gegenwatt und Zukunft seien hier 206

ineinander aufgelést, haben wir gesagt. Alles, was in der Zukunft geschehen kénnte, ist schon in der Vermischung darin, — das macht die Menschen der Radiowelt so hoffnungslos. Dieses andauernde Radiogerausch, das immer gleich ist und wie etwas Selbstverstandliches iiberall ist, wirkt durch die Dauer und durch seine Selbstverstandlichkeit

auf den Menschen wie etwas Naturhaftes, ja Natiirliches. Wie das immerwahrend sich hinziehende Gemurmel des Gewassers oder des Windes erscheint es, so selbstverstandlich. Die Unnatur, das Radiogerausch, vermag als Natur zu erscheinen! Und: dieses ,,naturhafte‘S Radiogerausch, das entstanden ist, weil der Mensch vom Geiste

abfiel, ruft kontinuierlich alles blo&B Kérperhafte

im

Menschen auf, alles blo®B Lebenshafte, Triebhafte.

Das Radio ist nicht wie etwas, das vom Menschen gemacht ist*, es macht den Menschen, es ist nicht etwas, das vom Menschen ausgeht, es ist etwas, das auf ihn zu-

geht, ihn umfangt und bedeckt. Der Mensch ist nur noch ein Anhingsel des Radiogerdusches, das Radio lebt ihm das Gerausch vor und der Mensch macht die Bewe-

gung des Gerausches nach, das ist sein Leben. Das Radio fiillt alles aus und alles kommt aus ihm * Ks ist klar, daB in der physikalischen Kausalitat das Radio vom Menschen abhingie ist. Aber klar ist auch, daB die physikalische Kausalitat nur der indifferente Boden ist fiir das, was sich auf ihr abspielt. Gegentiber der Macht, die das Radio tiber den Menschen hat, ist es gleichgiiltig, ob das Radio durch den Menschen in Betrieb gesetzt wird. Das Wesen eines Phanomens wird niemals in der matetiellen Kausalitat deutlich, weil sie nur angeben kann, wo ein

Ding herkommt, und nicht, was ein Ding ist. Das Spezifische eines Phanomens wird erst im phanomenologisch-physiognomischen Aspekt erkennbar.

207

hervor, alles Fiihlen, Wollen und Wissen des Menschen entsteht aus ihm, der Mensch selber wird erst Person durch es. Der Mensch entsteht erst durch das Radio. Erst dutch das Radio erfahrt er sich selbst. Wie, um zu

sptiren, daB sie da sind, manche Menschen eines anderen Menschen oder einer Beschiéftigung bediirfen, so sptiren heute viele Menschen sich erst durch das Radio. Aber

wahrend es noch eines persdnlichen Aktes bedarf, um zu einem anderen Menschen oder zu einer Sache in Beziehung zu tteten, ist das Radio da, schon bevor der Mensch sich fiir es entschieden hat, es setzt die Beziehung und nicht der Mensch. Es ist, als k6nne der Mensch mit der Welt nur noch

durch das Radio in Beziehung treten. Aus dem Radio also bezieht der Mensch alles. Irgend etwas, irgendeine Meinung, die man dem Menschen aufdrangen will, braucht man nur dem Radio-Gerausch beizumischen, dann wird sie vom Menschen angenommen, durch das

Radiogerausch kann sich alles in den Menschen einschleichen. II

Das Radiogeriusch also, das ist nun die Wirklichkeit; nur was in ihm enthalten ist, nur was durch es geschieht,

gilt. Ein Ereignis erscheint nur dann als wirklich, wenn es ein Teil des Radiogerausches ist, wenn es aus ihm herauskommt. Eine Bombe platzt vor einem, eine Fabrik sttirzt zusammen, das fallt wohl in die Netzhaut des Auges hinein, aber es wird kaum apperzipiert; es gilt erst, wenn 208

es vom allgemeinen Radiogeriusch aufgenommenwutde. Man miftraut dem, was man nur selbst sieht, erst durch

das Radiogerausch wird etwas ein wirkliches Ereignis. Das Radiogerausch verfalscht die unmittelbate Bezichung zwischen dem Menschen und dem Objekt. Die richtige Art der Erkenntnis wird durch das Radio tberhaupt zerstort. Wenn man namlich jemandem zuhért, oder wenn man liest, so ist die richtige Art der Erkenntnis so: der Akt des Redens oder des Lesens erscheint als etwas Unwiederholbares, Lebendiges, die Mitteilung ist ein unwiederholbarer, lebendiger Akt. Die Wahrheit stellt sich so beim Zuhéren oder beim Lesen als etwas Einmaliges und deshalb Pers6nliches dar. Die Erkenntnis hingegen, die durch das Radio hingeworfen wird, ist mechanisch

wiederholbar, es fehlt in der Mitteilung des Radios und im ZuhGrenden das persénliche Element. Im Radio ist der Grundcharakter

der Erkenntnis

zerst6rt, daB sie

vom Menschen und fiir den Menschen ist: es wird wohl durch das Radio eine Feststellung vermittelt, aber eine Feststellung ist noch keine Wahrheit, denn zur Wahrheit gehért nicht nur, daB in ihr ein Objekt deutlich wird, sondern auch, da die Wahrheit, die im Objekt sich

zeigt, auf den Menschen bezogen ist. Die Wahrheit,

die einem

durch

das

Lesen

oder

dutch die wnmittelbare Begegnung mit einem Menschen gebracht witd, strebt wieder unmittelbar nach dem Menschen hin, — der Mensch wird aufgerufen, den geistigen Akt, den der Redende oder der Schreibende

bereits vollzogen hat, im Zuhdren oder Lesen noch 44

Picard,

:

Schweigen

209

einmal zu vollzichen. So wird durch das Zuhéren oder durch das Lesen die direkte Beziehung zum Ge-

genstand bewahrt. Diese natiirliche Beziehung gibt es beim Radio nicht mehr. Die Erkenntnis erscheint beim

Radio ein fiir allemal vollzogen, es wird zu keiner Wiederholung im Zuhérenden aufgerufen, die Erkenntnis witd in den Menschen gepreBt, wie eine Materie in leere Biichsen. Die Erkenntnis ist wie nicht von einem Menschen und nicht fiir einen Menschen. Der Sinn der Erkenntnis witd durch das Radio verfalscht.

Ii

Nur das, was im Radiogerausch erscheint, sei giiltig,

haben wit gesagt. Und man sieht die Ereignisse nicht nur so, wie sie das Radio einem zubringt, sondern man

etlebt sie sogar von vornherein so, als ob sie tiberhaupt dem Radio gehérten: man erlebt sie so, wie sie das Radio bringt, bevor es sie selbst gebracht hat. Das ist das Unmenschliche, daB die Ereignisse oft von vornherein auf das Radio hin zubereitet werden: man 148t manchmal Kriegsaktionen nicht so ablaufen, wie sie eigentlich miB-

ten, sondern im Hinblick auf die Art, wie sie sich im Radio darstellen werden. Nicht das, was wirklich ist, und nicht das, was wirklich sein soll, geschieht, sondern nur das, was Gerdusch des Radio werden kann, — das ist die Sus-

pension jeder Wirklichkeit. Deshalb wird der Krieg heute so ungeheuerlich: man sieht nicht seine schreckliche Wirklichkeit, man sieht 210

ihn nur als einen Teil des Radiogerausches, er steht nicht vot dem menschlichen Geist und deshalb ist er unkontrolliert. Und: vielleicht macht sich der Krieg heute darum immer heftiger und schrecklicher, weil er als das gesehen werden will, was er wirklich ist, als der deutliche schreckliche Krieg, und nicht als ein Teil des Radiogerausches. In den Zeiten, wo noch das Schweigen wirkt, da wird

der Krieg vom Hintergrund des Schweigens her vernommen, von ihm hallte er deutlich zuriick, und auf die-

sem Hintergrund wurde er ganz und gar deutlich, seine Schrecklichkeit hatte die Schrecklichkeit des Urtiimlichen, und im Tod, den der Krieg mit sich fiihrte, ging sein Larm wieder unter. Der Mensch vermag hier den Krieg noch nicht zu besprechen, sondern nur ihn schweigend zu erleiden. Heute ist der Krieg nicht einmal Rebellion gegen das Schweigen, er ist nur der grd8te Larmwirbel im allgemeinen Larmbetrieb. Wiirden heute nicht alle Augenblicke die Bulletins ttber den Krieg durch den Radio hinausgelarmt, so wiirde man die Schiisse der Kanonen und die Schreie der Sterbenden iiberall héren: im Schweigen wiirde man die Schreie der Sterbenden héren, und die Schreie wiirden den Laut der Kanonen nie-

derdriicken. Man wiitde im Schweigen den Krieg so laut héren, daB man ihn nicht ertriige. Das andauernde Gerausch der Kriegsbulletins aber nivelliert die Schiisse der Kanonen und die Schreie der Sterbenden ins allgemeine Gerausch. Der Krieg wird ein Teil des allgemeinen Radiogerausches, ihm angepafit, und der Mensch 250

nimmt den Krieg als selbstverstandlich hin, wie alles, was im Radiogerausch erscheint. Es ist, als seien die vielen und groBen Tode heute wie ein Versuch, wenigstens durch den Tod eine Zone des Schweigens herzustellen. Wenn die Gerauschmaschinerie ein Maximum erreicht, wie heute, dann zeigt sich das

Schweigen als ein Maximum von Tod.

IV

Das Radio ist das autonome Gerausch selbst. Es habe allen Raum besetzt, haben wir gesagt; der Mensch ist an den Rand gedrangt und nur durch ein paar Zwischenraume, Spalten dieses Raumes, windet er sich hindurch. Um sechs Uhr morgens wird er zur Turnstunde gerufen, um sechs Uhr zwanzig zu einem Musikstiick, um sieben Uhr zu den ,,Nachrichten aus aller Welt“‘, dann wieder zur Musik, um acht Uhr zum Gebet, um halb neun Uhr umdranet thn ,,was unsere Frauen kochen sol-

len“, um neun Uhr Bach, um neun Uhr zwanzig die Beninkultur, usw. Die Apparatur des Radios scheint gar ce

nicht mehr auf den Menschen angewiesen, es ist, als hére

sie sich selbst zu: das Klavierstiick von Chopin antwortet der Negermusik und auf diese eine Rede tiber die Vitamine, und darauf antwortet das Glockenspiel von Xwil. Das Radio scheint sich mit sich selbst zu unterhalten, der Mensch ist weggedringt, er ist nur noch der Angestellte, der das Radiogerausch bedient. Die ganze Welt ist Gerausch des Radios geworden. PAPA

Nur das gilt, was in ihm erscheint, alles andere, was

nicht verwendbar ist fiir das Radio, ist wie weggeworfen, verworfen. So miachtig ist das Radio: es geht ein Mensch an einem Haus vorbei und auf ihn fallt aus dem Fenster

eine Symphonie von Tschaikowsky, der Mensch geht weiter, und aus dem Fenster des nichsten Hauses fallt

ihm wieder diese Tschaikowsky-Musik entgegen. Uberall, wohin er sich bewegt, ist schon diese Musik, sie ist

allgegenwartig, es ist, als ob sich der Mensch nicht fortbewegt hatte, es ist, als ob er immer auf der gleichen Stelle bliecbe, obwohl er sich fortbewegt: die Realitat der Bewegung wird unwirklich gemacht. Unabhingig von Raum und Zeit, selbstverstandlich wie die Luft, erscheint das Gerausch des Radios. Uberall dringt das Radiogerausch hinein, iiberall und immer ist es da, es hat den Schein der Kontinuitat und gibt dem Menschen diesen Schein, der diskontinuierliche Mensch kommt gar nicht dazu, zu erkennen, dal et diskontinuierlich ist: es ist etwas dauernd da, die

eigene innere Diskontinuitat verschwindet hinter der fortwahrenden Dauer des Radios, die nichts ist als die Kontinuitat der Diskontinuitat. Der Unterschied zwi-

schen Kontinuitat und Diskontinuitat ist aufgehoben, wie tiberhaupt alle Unterschiede im Radiogerausch verschwinden.

Dutch die Kontinuitat des Radiogerausches wird der diskontinuierliche Mensch also auf eine falsche Weise sicher, daB etwas dauernd da ist und daf} er selbst dau-

ernd da ist. Der Mensch begibt sich zur Arbeit: das Ra253

diogerausch begleitet ihn, es ist auch bei der Arbeit da, die Arbeit selbst scheint nur das Radiogerausch zu skandieren; der Mensch schlaft ein, das Radiogerausch ist das letzte, das vor dem Schlafe bei ihm ist; er wacht auf,

das Radiogerausch ist wieder da, wie etwas vom Menschen Unabhingiges, es scheint da zu sein mehr als er selbst und ihm die eigene Dauer zu garantieren. Es ist immer um ihn da, immer fiir ihn da, es ist dasjenige, was fiir ihn zu sorgen scheint. Gott, der ewig Dauernde, ist

abgesetzt, das fortwahrende Radiogerausch ist statt seiner eingesetzt, und dies: dai es zwar vom Menschen herkommt, aber doch wie etwas von ihm Unabhingiges da ist, gibt ihm den Anschein des Zwielichtigen, Dam-

metigen, Mystischen. Man hat gesagt, da der Mensch durch das Radio nicht diskontinuierlich zu werden brauche, er habe ja die Freiheit, aus dem Radioprogramm das auszuwihlen, was ihm passe. Ich erinnere mich, daB auf einem KriminalistenkongreB in Baden-Baden, anfangs der dreiBiger Jahre, ein Vortragender bei einer Debatte, ob die Todesstrafe angewendet werden solle oder nicht, sagte: er begreife nicht, warum man so viel tiber die Todesstrafe rede, der Augenblick, in dem der Tod komme, sei nicht

schmerzhaft, schmerzhaft sei nur die Angst vor dem Tode, und es stehe ja dem Delinquenten frei, Angst zu haben oder nicht. -Genau so steht es dem Menschen vor dem Radio frei, das, was die Kontinuitat seines Inneren

sichern wiirde, aus dem Radioprogramm auszuwahlen oder nicht! 214

In dieser Pseudo-Kontinuitat, in der alles von selbst da zu sein scheint, vergiBt der Mensch, daB alles We-

sentliche durch eine besondere, abgegrenzte Aktion, durch eine schépferische Aktion entsteht, — er verliert den Zusammenhang mit dem Spontanen ganz und gar. Das ist das Heillose des Radios. In dieser Welt des Radiogerausches k6nnen auch alle Urphanomene, die Wahrheit, die Treue, die Liebe, der Glaube nicht exi-

stieren, denn die Urphanomene sind das Unmittelbare, deutlich Abgegrenzte, Erstmalige, — die Welt des Radiogerausches aber ist die Welt des Umweghaften, des Ineinander-Verwickelten, des Indirekten: die Urphanomene gehen hier zugrunde.

V

Viele meinen, da durch das Radio der Mensch zum Wahren, Guten und Schénen erzogen werden konne, —

aber der Mensch begegnet hier nicht dem Wort, welches das Wahre, Gute und Schéne zu ihm bringt, sondern

nur dem Wortgerausch, in dem das Gute, Wahre und Sch6ne nur auftaucht, um wieder zu verschwinden, der

Inhalt dient nur dazu, das Wortgerausch auszufillen, das Wortgerausch nimmt dem Wahren, Guten und Sch6nen von vornherein das auBerordentliche Wesen,

das Gute, Wahre und Schéne wird nivelliert im allgemeinen Wortgerausch, in dem es keinen wirklichen Unterschied gibt. Man sagt, daB der Bauer in einer einsamen Gegend 215

durch das Radio an das Allgemeine angeschlossen werde. Aber dieses Allgemeine, in das der Bauer durch das Radio genommen wird, ist nicht das Organisch-Allgemeine, an welches der Einzelne sein konkretes Wesen

anschlieRen und an welchem er es vermehren kann, es

ist das Abstrakt-Allgemeine, in dem der Einzelne weniger witd, aufgelost wird. Im Bauern des einsamen Bergdorfes ist die Einsamkeit der Berge konkret vorhanden, er stellt sie dar, er macht die Einsamkeit der Natur erst konkret in seiner Person, und auf diese Weise gehdrt die Einsamkeit der Berge tiberhaupt erst dem Menschen. Diese Konkretheit, dieses Bild der Berge im Bauern, wird zerstért durch das Radio, es macht den Bauern zum nivellierten

Teil eines Abstraktums, das den Anschein des Allgemeinen nur darum hat, weil es vag ist; es ist vag, aufgelést, nicht wirklich allgemein. Der Mensch merkt tiberhaupt nicht mehr, daB das Radiogerausch um ihn ist. Das Radiogerausch surtrt, und der Mensch hort es gar nicht, es ist, als ob es mit seinem Larm gar nicht da ware, es ist fir ihn nur noch eine larmende Stummbheit, den ganzen Tag kann es sich laut machen, er achtet die meiste Zeit gar nicht darauf, er hort die meiste Zeit gar nicht, was ihm aus dem Radio zugerufen wird. Das ist die tiefste Verachtung gegentiber dem Wort, daf} man es reden laBt, aber daB man es gar nicht als Wort hinnimmt. Das Radio erzieht den Menschen dazu, nicht mehr auf 216

das Wort zu héren, das aber heif®t, nicht mehr auf den Menschen zu héren, und dies bedeutet: den Menschen

vom Du, von der Hinwendung zum Du wegzunehmen, also von der Liebe wegzunehmen. Der Mensch miiBte eigentlich traurig dariiber werden, daB er das Wort nicht mehr hat, aber das Radiogerausch fiillt den Raum in ihm aus dort, wo das Wort

einst war, der Mensch merkt gar nicht, daf} ihm das Wort weggenommen wurde: er merkt das nicht, aber es wird in ihm gemerkt, ohne da’ er es weiB, und das macht ihn

unruhig und nervés. Es scheint uns, daB viele Psychosen heute daher kommen: es witd eine Unmasse von Worten durch das Radio in den Menschen hineingeworfen, die eigentlich eine Antwort vom Menschen verlangen, aber es sind zu viele Worte, so dafi eine Antwort gar nicht mdglich ist, es

wird auch gar keine Antwort abgewartet, jeden Augenblick wird eine neue Wortmasse hingeworfen. Die Menschen aber, die noch irgendwie wissen, daB auf alles, was vor den Menschen gebracht wird, eine Antwort gegeben werden muB, gerade jene geraten in eine Verwirrung: sie spiiren, da die Antwort gegeben werden miiBte, aber es ist keine Zeit und kein Raum da,

wo sie gegeben werden kann, und aus dieser Verwirrung entsteht sehr leicht eine Psychose, die sich in Hemmungen aller Art zeigt. Eine solche Psychose dient als Flucht aus einer Welt, die dem Menschen das Wesent-

liche genommen hat: daB er antwortet und daf er verantwortet.

217

VI Wie andauernd ablaufende Maschinen-Pistolen, die ge-

gen das Schweigen schieBen, stehen die Radioapparate da. Hinter all diesem Larm aber ist der Feind versteckt: das Schweigen. Es wartet. Immer heftiger wird das Geriiusch des Radios, weil immer erdBer die Angst ist, daB es vom Schweigen und vom wirklichen Wort tiberrumpelt werde. Manchmal, wenn man tiber allem Gerausch des Ra-

dios das Schweigen des Himmels sieht und in ihm das Licht, das alles aufsaugt, fast auch die Wande des Him-

mels, dann wartet man, erschreckt und freudig zugleich, da im nachsten Augenblick auch das Gerausch des Radios von diesem Licht aufgesogen werde und in ihm verschwinde.

be

re

mw

DIE

RESTE

DES

SCHWEIGENS

Es ist, als ob der letzte Rest von Schweigen, der noch da

ist, weggedrangt werden solle, als ob ein Befehl gegeben worden ware, bei jedem Menschen und in jedem Haus das

Schweigen festzustellen, als einen Feind, und es zu vernichten. Die Flugzeuge suchen den Himmel ab nach dem Schweigen, das hinter den Wolken gelagert ist, die StéBe der Propeller sind wie Schlage gegen das Schweigen. Die grofe Stadt ist wie ein ungeheueres Reservoir des Larmes. Der Larm wird fabriziert in der Stadt, wie eine Ware fabriziert wird, er ist aufgestapelt da, auf Vorrat, ganz und gar vom Gegenstand geldst, aus dem er kam,

lagernd iiber der Stadt und auf Menschen und Dinge niederfallend. In der Nacht aber, wenn die Lichter erloschen sind,

etscheinen die Strafien wie Schiachte, in die der Liarm gefallen und in denen er verschwunden ist. Die Menschen

und die Dinge der Stadt schnurren ein, da der Larm sie nicht mehr anfiillt. Wie Schatten streifen die Menschen votbei an den Hausern, und die Mauern der Hauser er-

scheinen nur mehr wie die Vorderwande ungeheuerer Grabmiler, die zerfallen sind. Die Menschen im Schlafe aber, die Ohren auf den Kissen, scheinen hinabzuhorchen in die Tiefe des Bodens, — nach dem entschwundenen Larm, vielleicht nach

dem entschwundenen Schweigen. 219

Die grofBe Stadt ist eine Festung gegen das Schweigen, aber sie ist umwittert von der Vernichtung. In ihrer Heftigkeit ist ein Streben wie nach Untergang,

den Tod sucht die Stadt, das Schweigen durch den Untergang sucht die Stadt, die das lebendige Schweigen nicht mehr hat.

Das Schweigen ist nicht mehr als eine We/t da, sondetn nur noch zerstiickt, als Rest einer Welt, der, weil er ein Rest ist, den Menschen erschreckt.

Manchmal, in einer Stadt, fallt plétzlich ein Mann mitten im Larm der StraBe um in den Tod, — da ist es,

als kamen auf einmal die Fetzen des Schweigens, die noch herumliegen, zwischen den Kronen der Baume an der Seite der StraBe, herbei zu dem Toten, es ist, als

seien diese Reste des Schweigens zu dem Schweigen dieses Toten hingekrochen, still wird es einen Augenblick in der Stadt, die Reste des Schweigens sind jetzt bei dem gefallenen Mann, um mit ihm in den Tod zu verschwinden, durch die Liicke des Todes. Der Tote nimmt die

letzten Reste des Schweigens mit sich.

it

Das Schweigen ist nicht mehr selbstverstindlich da; wenn es zuweilen noch in einem Menschen ist, so wirkt

es museal oder wie ein Gespenst. Christine B. war von vollkommener

Art, wenn sie

schweigend dasa, alles war dann recht an ihr. Sie war 220

wie eine Bauerin, die bloB dadurch, daB sie da ist, einen

groBen Hof verwaltet. Wenn Christine B. da saB und nichts sagte, so wufte man die Worte, die unhérbar von dem Schweigen ausgingen, man horchte hinaus nach jenen Worten, man war bei Christine B. nd in der Ferne, wo jene Worte, die aus dem Schweigen kamen, Laut zu werden schienen. Man war, durch den Zauber

dieses Schweigens, hier und zugleich in der Ferne. Sobald aber Christine B. redete, waren ihre Worte larmend, und auch sie, der ganze Mensch, war larmend, es

wat, als besaBe sie das Schweigen, das doch in ihr war, gar nicht, sie bewegte sich so nervos, als ob es nicht nur nicht in ihr selbst, sondern tiberhaupt nirgends mehr ein Schweigen gabe. Christine hatte wohl noch das Schweigen in sich, aber es wat ganz und gar isoliert von ihr, abgesperrt vom Wort, und das heiBt: abgesperrt vom Menschen. Die Worte lebten ein Leben fiir sich, Wort fiir Wort, und das Schweigen lebte ein Leben fiir sich, es war einsam.

So isoliert waren bei ihr Wort und Schweigen von einander, daf} es schien, als gabe es, wenn sie sprach, iiber-

haupt nur das Wort bei ihr, und wenn sie schwieg, tiberhaupt nur das Schweigen. Weggedrangt vom eigenen Wort war Christine B. dann im Schweigen, so ganz durchsetzt vom Schweigen, daf es schien, als sei sie da-

monisch in Besitz genommen vom letzten Rest des Schweigens, den es noch auf der Welt gab: wie ein Gespenst des Schweigens innerhalb der Lautheit der anderen sal} sie da. oda

Ii

Wohl gibt es in der Welt des Lirmes noch Worte, die aus der Welt des Schweigens stammen, einsam sind diese Worte in der Welt des Larmes, und das Schweigen, das um den Rand eines solchen Wortes herum ist, dieses

Schweigen ist durchsetzt von der Melancholie. Vom dunklen Grunde der Melancholie scheint das Wort herzukommen, nicht vom Dunkel des Schweigens. Wie der schwarzgerinderte Schmetterling, der Trauermantel, schwebt solch ein einsames Wort in der Welt des Lar-

mes umher. Wohl gibt es also in der Welt des Larmes noch Worte, die aus der Welt des Schweigens stammen, aber sie sind wie ein aus dem Erdboden ausgegrabenes Altertum, anderen Welten angehGrig. Die Menschen des Larmes erschrecken einen Augenblick vor einem solchen Wort, und dieser Augenblick des Schreckens ist zugleich ein Augenblick des Schweigens, — bis die sich heranwalzende Masse des Larmes das Wort und das Schweigen mit sich nimmt und in sich verschwinden 14Bt. Solch ein Wort,

das noch mit dem Schweigen zusammenhinet, mitten im Lirm von heute, — es ist, als ob aus dem weiBen Mar-

mor einer ausgegrabenen Géttergestalt der Gott selber lebendig hervortrate: einen Augenblick lang blieben die Menschen, die Autos und die Flugzeuge stehen, die Erscheinung des Gottes wire wie ein ,,Halt!‘ an alles sich

Bewegende, — aber im nachsten Augenblick kame ein Auto und entfiihrte den Gott und verschwande mit ihm in der lauten Bewegung, die bereits wieder begonnen 222

hatte, und der Gott ware nur noch ein Teilchen der lau-

ten Bewegung. Wohl ist das Schweigen als We/t vernichtet, die Lautheit hat alles besetzt, die Erde scheint ihr zu gehGren,

eine Einheit der Erde durch den Geist oder die Religion oder die Humanitat oder die Politik ist nicht da, — es ist da die Einheit der Erde im Larm, in ihm sind alle

Menschen und alle Dinge miteinander verbunden. Aber es gibt auch noch dies: das lautlose Aufgehen des Morgens, das lautlose sich Hinhalten der Baume gegen den Himmel, und das wie im Verstohlenen sich abspielende Niedertauchen des Abends. Nie war das Schweigen dieser Dinge vollkommener als jetzt, nie war es schéner. Einsam ist das Schweigen dieser Dinge: die Macht des Schweigens, die einst von ihnen zu den anderen Dingen der Erde und zu den Menschen hinwirkte, wirkt jetzt ganz in sich selbst: die Dinge schweigen zu sich selbst hin. Ein Armer sagte einmal zu einem anderen Armen: ,,Niemand gibt mir die Ehre, ich gebe mir

selbst die Ehre, fiir mich allein“, — so sind diese Dinge: niemand gibt ihnen das Schweigen, niemand nimmt es von ihnen, sie geben es sich selbst und haben es fiir sich allein.

228

KRANKHEIT,

TOD

UND

SCHWEIGEN

Darum ist der Mensch heute ohne Schlaf, weil er ohne

Schweigen ist: im Schlaf kehrt der Mensch mit dem Schweigen, das in ihm selbst ist, zuriick ins allgemeine

eroBe Schweigen. Aber dem Menschen heute fehlt das Schweigen, das ihn zum allgemeinen groBen Schweigen des Schlafes hingeleitet. Schlaf ist heute nur Ermiidung durch das Laute, Reaktion auf das Laute, es ist keine

Welt mehr ftir sich. Auch die Schlafenden verrichten Arbeit und wirken

mit an dem, was im Weltall geschieht*‘ (Heraklit).

II

Um die Krankheit ist auch heute, in der Welt des Lart-

mes, ein Schweigen, das alle richtigen und falschen Reden der Arzte nicht vertreiben kénnen. Es ist, als sei das Schweigen, von tiberall her verjagt, zu den Kranken in ein Versteck gegangen, es lebt bei ihnen wie in den Katakomben. Oft, wenn ein Kranker schweigend daliegt, ist es, als sei der Kranke nur der Ort, wo das Schweigen sich niederlieB, — die Krankheit kam und ihr folgte das Schwei-

hweigen Platz gemacht wurde, langsam besetzt es den

Of NM @)

224

K6rper, und das Wort des Kranken und das des Besuchenden vermag kaum durch das Schweigen hindurch zu dringen. Immer war das Schweigen beim Kranken. Und doch ist das Schweigen, das heute beim Kranken ist, nicht das gleiche wie frither. Das Schweigen heute beim Kranken ist unheimlich, denn es, das ein Teil des gesunden Lebens sein und in ihm wirken soll, ist nun vertrieben von

dort und nur beim Kranken.

Der Larm ist heute auch in jenen guten Teil des Lebens iibergegangen, der einst dem Schweigen gehorte, das Schweigen aber hat sich in den bésen Teil des Lebens, zu den Krankheiten gefliichtet, und auf den unter-

itdischen Wegen der Krankheit nahert sich das Schweigen nicht mehr sanft, sondern bése dem Menschen. Das Schweigen, das einst Heil war, ist heute Drohung und Unheil geworden. Es gibt Krankheiten, die wie das bése, sich rachende Schweigen selbst sind, das sich rachen will, weil es vertrieben worden ist, und das nicht anders als aus den

dunkeln Héhlen der Krankheit nach oben zum Menschen hin durchbrechen kann. Der Krebs ist eine solche Krankheit. Schweigen ist um diese Krankheit. Das soll nicht heiBen: Schweigen sei dies, das man die Ursache der Krankheit nicht kenne, sondern das heiBt, dai der

Mensch viel kranker ist durch den Krebs, als alle Symptome zeigen, die nur wie Symptome eines bésen Schweigens sind.

45

Picard,

Schweigen

225

Ill

Professor L. wart durch einen Schlaganfall gezwungen, sehr langsam zu reden. Er empfand es nicht als einen Schaden, daB das Wort es schwer hatte, aus dem Schwei-

gen in den Laut zu kommen. Er sagte, frither sei es ihm leicht gewesen zu reden, allzu leicht sei das Wort dagewesen, jenes Wort, das schnell aus einem andern Wort

sprang, nie aus dem Schweigen langsam heraufstieg. Jetzt aber, durch die Krankheit, sei es wie ein Ereignis,

wenn ein Wort zum Laut werde, es sei wie eine Schépfung, wenn es ihm gelinge, ein Wort wieder aus dem Schweigen zu bringen. Es war bei ihm wie bei einem mittelalterlichen Menschen, wo auch jede Bewegung aus dem Schweigen ins Wort eine Aktion war. Was er selbst als Gesunder nie habe erreichen kénnen, die Entstehung des Wortes aus dem Schweigen als das AuBerordentliche zu etleben, sagte er, das kénne er nun endlich durch die Krankheit vollbringen. So tiberwand Professor L. seine Krankheit, und nicht nur das: et wurde mehr durch die Krankheit, als er vor-

her gewesen wat. IV

Ganz und gar gegenwirtig standen die Blumen, die Felder und die Berge vor dem Menschen da, als ob sie

immer in dieser Gegenwirtigkeit bleiben wiirden und als ob kein Mensch ndtig sei, der ihrer gedachte, wenn sie hiniiberglitten in den Winter. 226

Ein Mensch stand vor ihnen und dachte an seinen eigenen Tod und daf er dies einmal nicht mehr sehen werde. In dem Augenblick, da er an den Tod dachte, war er

wie durch einen Ruck weggehoben aus dieser Gegenwartigkeit, und schon wie vom Lande des Todes aus betrachtete er jetzt die Blumen, die Wiese und die Baume. Sie schienen ihm jetzt so, wie man durch ein umgekehrtes Fernrohr die Dinge sieht: fern und klein, spielzeugartig und schwebend. Sie waren sch6n wie nie zuvor, und er wartete mit ein wenig Angst darauf, daB

sie kleiner und kleiner wiirden und ganz verschwebten, zu ihm hin, ins Land des Todes, wo er jetzt war.

Die Bewegung der Seele, die dieser Mensch machte, noch als ein Lebender die Gegenwartigkeit von der Vergangenheit, vom Tode aus, zu sehen, diese Bewegung ist nur médglich, wenn viel Schweigen im Menschen ist; dann geleitet das Schweigen die Seele aus der Gegenwirtigkeit bis in die Ferne des Todes, die Seele fihlt sich nicht verloren,

wenn sie diese Bewegung macht,

sie geht entlang der Wand des Schweigens, sie hilt sich an ihr. Fehlt das Schweigen im Menschen, so ist die alles okkupierende Gegenstandlichkeit da, die jede Vergangenheit und jede Zukunft schon bei sich hat und als ihren Besitz proklamiert, bei ihr ist der Tod nur ein Loch im Besitz, also gar nicht vorhanden.

227

Vv

, Was wit haben in Haus und Herz, was wir sind vor Gott und Menschen, was wit brauchen in Feld und

Holz, in Kiiche und Keller, es sind ihre (der Toten) Erfahrungen und ihre Erfindungen, ihre Erwerbungen und ihre Entdeckungen, die uns zugute kommen, auf die

wir abstellen, um zu Héherem und Besserem zu gelangen. So hat jeder Anteil an der ungeheueren Erbschaft, und wer nicht krank ist an tollem Ubermut, danket denen da unten fiir die Miihen, deren Friichte wir ernten

in teicher Fille“ (Gotthelf). Nur dann ist der Mensch verbunden mit dieser Welt der Toten, wenn er selber als ein Lebender mit der Welt

des Schweigens verbunden ist. Nur im Schweigen, das in seinem Leben ist, hért er die Worte der Toten wieder. Dann fiihren auch die Toten der Welt des Menschen,

der Welt des Wortes, Schweigen zu, sie bringen ihr von der Kraft, die im Schweigen ist, und sie machen die Men-

schen und die Dinge zuginglich fiir die Kraft, die aus dem Schweigen kommt. Heute ist der Tod keine Welt mehr fiir sich, er ist nur noch der letzte Rest des Lebens, das aufgebrauchte Le-

ben, nicht einmal das Schweigen gehért mehr ihm, das Schweigen ist nur noch wie geliehen bei ihm, aus Erbarmen gelichen. Aber plotzlich ist der Tod doch wieder da als eine ganze Welt, und das Leben erscheint nur als das Vorgelande dieser Welt, als Krieg ist er da, und weil der millionenhafte Tod im Kriege das Schweigen nicht zu 228

bringen vermag, so bringen es die Schrecken, die der Krieg bei sich hat. Das Schweigen, das aus dem Leben und aus dem Tode vertrieben war, kommt dann durch die Starre, die vom Schrecken auf die Menschen fallt. ,Gerade weil der Tod uns die Ratsel der Welt am

empfindlichsten macht, sollte er das letzte auf ihr sein, das uns dazu dienen diirfte, uns das Leben gegenseitig zu etschweren. Respektieren wir vielmehr im Tode das unzweideutigste Symbol unserer Gemeinschaft im Schweigen, das er als gemeinsames Los tiber uns alle unausweichlich verhanet“ (Overbeck).

229

DIE WELT

OHNE

SCHWEIGEN

Nichts hat so sehr das Wesen des Menschen verandert als der Verlust des Schweigens. Die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Technik, die allgemeine Schul-

pflicht, nichts hat den Menschen so umgestaltet wie dies, daB er keine Beziehung mehr hat zum Schweigen, daf das Schweigen nicht mehr da ist als etwas Selbstverstandliches,

selbstverstandlich

wie das Gewélbe

des

Himmels oder die Luft. Der Mensch, der das Schweigen verlor, hat mit dem

Schweigen nicht nur eine Eigenschaft verloren, er ist in seiner ganzen Struktur dadurch veraindert worden. Einst bedeckte das Schweigen alle Dinge, der Mensch muBte erst die Decke des Schweigens durchbrechen, ehe et sich einem

Gegenstand

nahern

konnte,

und

das

Schweigen stand selbst vor den eigenen Gedanken, die et denken wollte. Der Mensch konnte sich nicht unmittelbar auf die Gedanken und auf die Dinge werfen, sie waren geschiitzt durch das Schweigen, das sie umgab, und der Mensch war dadurch geschiitzt, sich allzu rasch zu ihnen zu bewegen. Das Schweigen stand vor den Gedanken und den Dingen, es war objektiv da, es lagerte vor den Gedanken und Dingen wie ein Gegenstand. Langsam und scheu ging ein Mensch zu den Gedanken und zu den Dingen hin, immer war das Schweigen zwischen der Bewegung von einem Gedanken zum andern, von einem Ding zum andern, der Rhythmus des Schweigens skan230

dierte die Bewegung. Jede Bewegung wurde zu einem besonderenAkt: das Schweigen, das Urgestein des Schweigens, muBte erst weggehoben werden, che man sich vor-

warts bewegen konnte, aber dann, wenn man bei einem Gedanken angekommen war, dann war der Mensch auch

wirklich bei ihm, der Gedanke oder das Ding war tiberhaupt erst jetzt da: es wurde Gegenwart erzeugr, so sehr war der Mensch bei dem Gedanken oder bei dem Ding. Heute bewegt sich der Mensch nicht mehr aktiv zu den Gedanken und zu den Dingen hin, sie werden zu ihm hin gesogen, sie stiirzen auf ihn, sie umwirbeln ihn, er ist nicht mehr der Mensch, der denkt, sondern nur,

noch einer, der gedacht wird; nicht mehr gilt: cogito, ergo sum, sondern: cogitor, ergo non sum. Die Erde war einst nicht weniger besetzt als heute, aber sie wat vom Schweigen besetzt, der Mensch konnte nicht alles in ihr ergreifen, das Schweigen hielt es fest. Der Mensch brauchte auch nicht alles zu wissen, das

Schweigen wuBte es fiir ihn, und da der Mensch mit dem Schweigen verbunden war, so wuBte er vieles durch das Schweigen. Es fehlt heute iber den Gedanken und Dingen der Himmel des Schweigens, der mit seinem Gewicht die

Gedanken

und Dinge niederdriickt,

sie zurtickhalt;

dott, wo er einst war, ist jetzt ein luftleerer Raum, die

Dinge werden wie hineingesogen in den Raum, wo einst der Himmel des Schweigens war. Die Dinge sind aufgedeckt, nach oben drangend, immer neue Dinge stofien nach oben, das ist der wirkliche ,,Aufstand der Massen“, 231

diese Rebellion der Gedanken und Dinge, die nicht mehr vom Schweigen niedergehalten werden.

Man wei nicht einmal, daB das Schweigen verloren gegangen ist, so sehr ist alles besetzt von den Dingen dort, wo einst das Schweigen war, nichts scheint zu fehlen. Aber wo einst das Schweigen auf einem Ding lag, liegt jetzt ein Ding auf dem andern Ding. Wo einst vom Schweigen ein Gedanke zugedeckt war, gleiten tausend Assoziationen zu ihm hin und begraben ihn. In dieser Welt von heute, die alles nach der unmittel-

baren Rendite berechnet, ist fiir das Schweigen kein Platz mehr. Das Schweigen wurde vertrieben, weil es nicht ergiebig war, weil es nur da war, es schien keinen Zweck zu

haben, es kam nichts aus ihm heraus, es war unproduktiv. Schweigen gibt es heute fast nur noch so: als Unfahigkeit, dai einer nicht mehr reden kann, als etwas Reduziertes, Negatives, nur in dieser Form erscheint es

noch. Hs ist nur noch wie ein Konstruktionsfehler im andauernden Ablauf des Larmes. Ein wenig Schweigen ist vielleicht noch da, ein wenig duldet man noch. Wie man den fast ausgerotteten Indianern in den armseligen Reservaten ein wenig Raum laBt, so witd dem Schweigen heute manchmal ein Spalt Raum gelassen in den Sanatorien zwischen zwei und drei Uhr nachmittags: ,,Eine Stunde Schweigen“ und in der , Minute des Schweigens“, wo die Massen ,,zur Erinne-

rung an...“ eine Minute schweigen miissen. Nie aber witd geschwiegen zur Erinnerung an das Schweigen, das nicht mehr ist. 232

Wohl ist das Schweigen noch vorhanden als wahres Schweigen in der Gemeinschaft der Ménche, in den Kléstern. Im Mittelalter war das Schweigen dieser M6nche noch mit den anderen Menschen, noch mit dem

Schweigen der anderen Menschen auferhalb des Klosters verbunden. Heute ist das Schweigen in den K16stern isoliert, es ist in der Klausur.

233

DIE

HOFFNUNG

Die Hauser der groBen Stadt sind wie Bunker gegen das Schweigen, es ist, als wiirde aus ihren Fenstern wie

aus Léchern gegen das Schweigen geschossen. Nachts erscheinen die Hauser und Platze wie gehoben durch die Lichter, nicht mehr fest auf dem Boden, son-

_dern schwebend. Es ist, als zgen die Lichter die Stadt in die Héhe, wie ein ungeheurer Ballon schwebt sie tiber sich selber. Immer mehr Lichter flammen auf, griine und

blaue auch, immer héher scheint die Stadt zu schweben, — der Himmel aber iiber ihr mit den Sternen zittert und flieht. Dann auf einmal erléschen die Lichter, ein Augen-

blick des Schweigens entsteht, und jetzt ist es, als besinne sich die Stadt, ob sie sich niederstiirzen solle an

den Boden und sich vernichten.

Aber plétzlich kommen aus dem obersten Stock eines Hauses durch eine Ritze die Strahlen eines freundlichen Lichtes, und nun ist es, als wiirden die Strahlen ausgesandt, wie aus der Arche Noahs die Taube, um zu

schauen, ob es nicht Zeit sei fiir die Stadt, auf dem Berge des Schweigens zu landen. Immer kehren die Strahlen wieder zuriick zum obersten Stock des Hauses, ver-

gebens wurden sie ausgesandt, — bis der Mond kommt und, ehe er verschwindet gegen Morgen, sie mit sich nimmt in seinen eigenen Strahlen.

234

II

Vielleicht ist das Schweigen noch nicht ganz vernichtet, vielleicht ist es doch noch im Menschen, aber schla-

fend. Denn manchmal geschieht es, da eine Eigenschaft eines Menschen oder eines Volkes wahrend einer langen Zeit wie tot ist, tiberdeckt von einer anderen. Die dich-

terische Kraft eines Volkes kann zum Beispiel lange Zeit wie abgestorben erscheinen, tiberwachsen von der wis-

senschaftlichen oder politischen Kraft, aber eines Tages ist sie doch wieder da und so michtig, da sie mit ihrer Fille sich zuriickzustauen scheint noch bis in jenen Raum der leeren Jahre. Oder ein Zeitalter ist rationalistisch, so sehr, daB man meint, es gebe nichts anderes

mehr als diesen Rationalismus, aber plotzlich ist der Rationalismus verschwunden, es kommt wieder eine anti-

rationalistische Epoche, die metaphysische Kraft im Menschen war nicht zerst6rt, sie war nicht tot, sie schlief

nur. Es scheint, daB von Zeit zu Zeit ezve Richtung des Geistes

deutlicher,

heftiger sich zeigen muB, als sie

eigentlich will, damit die andere verborgen sein und sich starken kann im Ruhen. Vielleicht ist es auch mit dem Schweigen so, vielleicht ist es nicht tot, es schlaft vielleicht nur, es ruht nur aus. Dann ware der Lirm nur die Mauer, hinter der das

Schweigen schlaft, der Larm ware dann nicht der Sieger iiber das Schweigen, nicht sein Herr, sondern sein Bedienter, der larmend wacht, indessen der Herr, das

Schweigen, schlaft. Ach“, sagte Selina, ,,ist es nicht ein trdstlicher Ge5510)

danke, dieser versteckte Reichtum in unserer Seele; k6nnen wit nicht hoffen, daB wir unbewuBt Gott vielleicht inniger lieben, als wit wissen, und daf ein stiller Instinkt fiir die zweite Welt in uns arbeite, indes wir unbewuft

uns so sehr der 4uBeren iibergeben ?“ (Jean Paul).

II

Manchmal ist es, als kame es zu einem Kampf zwischen dem Schweigen und dem Larm, und als bereite sich das Schweigen im Verborgenen auf einen Uberfall vor.

Machtig ist der Larm, aber noch miachtiger erscheint manchmal das Schweigen, so miachtig, daB es gar nicht darauf zu achten scheint, ob der Larm da ist. Immetr mehr nimmt zwar der Larm zu, alles sammelt

sich in ihm, wird ein Teil des Larmes, aber vielleicht sammelt es sich nur, damit aller Larm beieinander ist und miteinander vernichtet werden kann, wenn das

Schweigen den Lirm tberfallt. Vielleicht sprengt sich diese ungeheure Maschinerie des Larmes durch ihre Heftigkeit selbst auseinander, dann ist der Knall, mit dem diese Maschinerie sich selbst

sprengt, der Ruf an das Schweigen, daB die Zeit fiir es da ist.

,tHiiter, ist die Nacht schier hin? Hiiter, ist die Nacht schier hin? Der Hiiter aber sprach:

236

Wenn der Morgen schon kommt, so witd es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fragt, so werdet Thr doch wiederkommen und wieder fragen“. (Jes.)

maeale

DAS

SCHWEIGEN

UND

DER

GLAUBE

Es besteht eine Bezichung zwischen dem Schweigen und dem Glauben. Die Sphare des Glaubens und die Sphare des Schweigens gehéren zueinander. Das Schweigen ist die natiirliche Basis, auf der die Ubernatur des Glaubens sich vollzieht. Ein Gott wurde Mensch um der Menschen willen: dieses Ereignis ist so ungeheuerlich und so sehr gegen alles, was die Vernunft erfuhr und was das Auge sah, daB der Mensch mit dem Wort nicht darauf antworten kann. Eine Schicht von Schweigen legt sich wie von selbst zwischen das ungeheuerliche Ereignis und den Menschen, und in diesem Schweigen nahert sich der Mensch jenem Schweigen, das Gott um sich hat. Im Schweigen zuerst begegnen einander der Mensch und das Mysterium, — das Wort aber, das aus diesem Schweigen kommt, ist urspriinglich wie das erste Wort, das noch nie etwas ausgesprochen hat: darum ist es imstande, von dem Mysterium zu reden. Es ist ein Zeichen der Liebe Gottes, da ein Mysterium immer eine Schicht des Schweigens vor sich ausbreitet, — der Mensch wird dadurch gemahnt, selbst eine

Schicht des Schweigens bereit zu halten, um sich dem Mysterium zu nahern. Heute, wo im Menschen und um den Menschen herum nur Larm ist, ist der Zugang zum

Mysterium schwer: wenn die Schicht des Schweigens 238

fehlt, gerat das AuBerordentliche leicht in den Zusam-

menhang mit dem Ordentlichen, mit dem gewohnlichen Ablauf, und der Mensch reduziert dann das AuBerordentliche zu einem Teil des Ordentlichen, des Betriebes.

Das Wort vieler Prediger tiber das Mysterium ist oft unlebendig und darum wirkungslos: es kommt nur vom Wort her, das schon mit tausend anderen Worten vermischt war, nicht aus dem Schweigen, — im Schweigen

aber vollzieht sich nicht nur die erste Begegnung zwischen Mensch und Mysterium, sondern aus dem Schweigen erhalt das Wort auch die Kraft, daB es auBerordentlich wird wie die AuBerordentlichkeit des Mysteriums, es erhebt sich dann iiber die Ordnung der gewohnlichen Worte, wie sich das Mysterium tiber den gewohnlichen Ablauf erhebt, es ist, als sei das Wort tiberhaupt

fiir nichts anderes geschaffen als fiir die Darstellung des AuBerordentlichen: dadurch wird es selbst mit dem AuBerordentlichen, dem Mysterium, identisch und hat

die Kraft wie das Mysterium. Wohl ist der Mensch imstande, durch den Geist das

Wort urspriinglich und machtig zu machen, aber das Wort, das aus dem Schweigen kommt, ist bereits auf

eine natiirliche Weise urspriinglich, der Geist braucht nicht mehr selbst viel Kraft darauf zu verwenden, dem

Wort die Urspriinglichkeit zu geben, das Schweigen gab sie ihm bereits, das Schweigen hilft so dem Geist. Auch verméchte es wohl der Mensch allein durch den Geist, sich andauernd im Glauben zu halten, aber der Geist mii®te dann immer wach sein, immer auf sich selbst aufpassen, der Glaube wiitde aufhoren, selbstvera9

stindlich, unangestrengt da zu sein. Und: die Anstrengung, dauernd im Glauben zu sein, nicht der Glaube selber, etschiene dann als das Wichtige; der Mensch, der

so angestrengt glaubt, kénnte sich vorkommen als einer, der unmittelbar von Gott selbst mit dem Glauben beauftragt ware, als einer, dem Gott unmittelbar den Glau-

ben aufgeladen hat, der Mensch kénnte sich vorkommen als ein Berufener, als ein Prophet. Wohl ist der Glaube das Auferordentliche, aber nicht die auBere Si-

tuation des Glaubens, nicht die Anstrengung um ihn; wenn die natiirliche Basis des Schweigens fehlt, wird die auBere Situation schon zum Auferordentlichen.

I

Das Schweigen Gottes ist anders als das Schweigen der Menschen. Es ist nicht im Gegensatz zum Wort, — Wort und Schweigen sind bei Gott eins. Wie das Wort das Wesen des Menschen ausmacht, so ist das Schweigen das Wesen Gottes, aber in ihm ist alles deutlich, es

ist Wort und Schweigen zugleich. ,Gottes Stimme ist nicht irgendeine Stimme der Natur, oder alle Stimmen der Natur zusammen, sondern

die Stimme des Schweigens. So gewil die ganze Schépfung stumm wire, wenn der Herr ihr nicht die Stimme vetlichen hatte und so gewif darum alles, was Odem hat, den Herren loben soll, so gewif hért in allen Stim-

men nur der die eigene Stimme des Herren, der die unhérbare Stimme hért“ (Wilhelm Vischer). 240

Manchmal ist es, als ob der Mensch und die Natur nur darum reden, weil Gott noch nicht redet, und als ob der Mensch und die Natur nur darum schweigen, weil

sie Gottes Schweigen noch nicht héren. Durch die Liebe wandelt sich das Schweigen Gottes in das Wort um, das Wort Gottes ist sich hingebendes Schweigen, sich an den Menschen hingebend. Hat einer, wie Paulus, ,,unsagbare Worte vernom-

men, die auszusprechen einem Menschen nicht gestattet ist“, so fallt dieses Unsagbare schwer in das Schweigen des Menschen, es macht das Schweigen tiefer, und das Wort, das aus der Tiefe kommt, in welcher das Unsag-

bare liegt, hat eine Spur des Gottlich-Unsagbaren in sich. 1m Himmel, der das meiste Licht empfangt,

War ich, und Dinge sah ich, die zu sagen Keiner vermag, der niederkehrt von dorther; Denn auf den Spuren seines Sehnens eilt In uferlose Tiefen unser Geist Und findet, sich erinnernd, nicht zuriick.“ (Dante, Paradiso, tibersetzt von Vofler)

Ul

Im Gebet kommt das Wort von selbst wieder ins Schweigen, es ist von vornherein in der Sphiare des Schweigens darin: es wird von Gott aufgenommen, weggenommen vom Menschen, es wird weggesogen ins Schweigen, es vetschwindet in ihm. Das Gebet kann 46

Picard,

Schweigen

241

unaufhérlich sein: immer verschwindet das Wort des Gebetes ins Schweigen, das Gebet ist ein Schiitten des

Wortes ins Schweigen. Im Gebet hebt sich das Wort aus dem Schweigen, wie jedes wirkliche Wort sich aus dem Schweigen erhebt, aber es kommt nur aus ihm, um sich zu Gott, zur »otimme des verschwebenden Schweigens‘‘ zu _be-

ceben. Im Gebet kommt die Region des unteren, menschlichen Schweigens in eine Verbindung mit dem oberen, edttlichen Schweigen, das untere Schweigen ruht im oberen aus. Im Gebet ist das Wort und damit der Mensch die Mitte zwischen zwei Regionen des Schweigens. Im Gebet wird der Mensch gehalten zwischen diesen beiden Regionen. ~ Sonst, auBerhalb des Gebetes, bekommt das Schwei-

gen des Menschen seine Erfiillung und seinen Sinn durch das Wort. Im Gebet aber erhalt es den Sinn und die Erfiillung durch die Begegnung mit dem géttlichen Schweigen. Sonst, auBerhalb des Gebetes, dient das Schweigen im Menschen dem Worte des Menschen, — jetzt aber, im Gebet, dient das Wort des Gebetes dem Schweigen im Menschen: das Wort fiihrt das menschliche Schweigen hin zum gottlichen Schweigen. Wer heutige Zustand der Welt, das ganze Leben ist

krank. Wenn ich Arzt wire und man mich fragte, was ratst du? — ich wiirde antworten: schaffe Schweigen! Bringe die Menschen zum Schweigen. Gottes Wort kann so nicht gehért werden. Und wenn es unter der 242

Anwendung larmender Mittel geraéuschvoll hinausgetufen wird, da es selbst im Larm gehGrt werde, so ist es nicht mehr Gottes Wort. Darum schaffe Schweigen!“ (Kierkegaard)

243

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Hinleitung Der Aspekt des Schweigens Das Urphanomen des Schweigens Die Entstehung des Wortes aus dem Schweigen Schweigen, Wort und Wahrheit

Das Schweigen beim Wort

Der Mensch zwischen Schweigen und Wort Das Damonische im Schweigen und das Wort

Wort und Gebarde Die alten Sprachen Das Ich und das Schweigen

Erkenntnis und Schweigen Die Dinge und das Schweigen Geschichte und Schweigen

Bild und Schweigen Liebe und Schweigen Menschengesicht und Schweigen Das Tier und das Schweigen Zeit und Schweigen Kind, Greis und das Schweigen Der Bauer und das Schweigen

Menschen und Dinge im Schweigen

130

Die Natur und das Schweigen

157,

Dichtung und Schweigen

147

Dichtung und Schweigen (Beispiele)

153

Bildende Kunst und Schweigen

166

Das Wortgerausch

178

Das Radio

205

Die Reste des Schweigens Krankheit, Tod und Schweigen

Die Welt ohne Schweigen Die Hoffnung

Das Schweigen und der Glaube

246

Beachten Sie bitte

die folgende Seite

Von Max Picard sind friber erschienen ,» Picard ist mehr als ein Wissender, er ist ein Weiser. Er erfaBt den Gegen-

stand seiner Betrachtung nicht mit den Methoden des Wissenschafters, sondern mit der Kraft des Dichters und Sehers. Seine Biicher sind Visionen, die in die Tiefe des Ewigen schauen, von dem alle Dinge berihrt sind. Dazu kommt bei Picard — nicht zufallig, sondern auch aus dem Wesen der Weisheit heraus — eine so selten gewordene Ehrfurcht vor der Sprache.“ Dr. K. Wick im Vaterland

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Ist bereits in 9 Sprachen tibersetzt »lnmitten der Biicher, in welchen ein einzelner die geistige und moralische Weltktrise betrachtet und deutet, stehen die Biicher von Max Picard in einer grofen Stille fiir sich allein, und dieses neue Buch ist vielleicht sein schGnstes,

ist vielleicht das am meisten ernste und zugleich das am meisten tréstliche.** Hermann Hesse iiber ,,Die Flucht vor Gott‘ ,» Max Picard zeigt in seinem Buche ,Hitler in uns selbst‘ eine so tiefe Kenntnis der deutschen Realitat, daB er die meisten der vielen Biicher entbehrlich macht, die bisher tiber das deutsche Problem geschrieben wurden.“

Books Abroad, New York

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