Die Welt der Völsungen: Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung 3110646382, 9783110646382, 9783110649796

Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied findet in der skandinavischen Völsungenüberlieferung mehrere Entsprechungen. Diese

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Die Welt der Völsungen: Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung
 3110646382, 9783110646382, 9783110649796

Table of contents :
Vorwort 1
1. Einleitung 17
2. Figuren- und Gattungstypen 17
3. Mythische Aufladung 105
4. Heldengenese 189
5. Herrschaft, Macht und Politik 255
6. Krisenreaktionen 307
7. Untergang 367
8. Schlussbemerkung 409
Literaturverzeichnis 419
Register 441

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Florian Deichl Die Welt der Völsungen

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 112

Florian Deichl

Die Welt der Völsungen Figuren- und Weltentwurf der altnordischen Nibelungendichtung

ISBN 978-3-11-064636-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064979-6 e-ISBN (E-Pub) 978-3-11-064638-2 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2019946178 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz/Datenkonvertierung: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort ‚Doktorarbeitszeit ist Krisenzeit‘, hat mir Annette Keck kurz vor meiner Einschreibung zum Promotionsstudium im Herbst 2010 im Rahmen einer Studienberatung gesagt. Die erste und sicher schwerste dieser Krisen ereilte mich gleich wenige Wochen darauf, als ich einen großen schwarzen Briefumschlag in meinem Postkasten vorfand. Man muss hier vorausschicken, dass dieses Buch – meine Dissertation, die ich im März 2018 an der LMU München eingereicht habe – eigentlich in einem anderen Rahmen entstehen und auch anders hätte heißen sollen. Etwa ‚Die Prekarität des höfischen Ideals im Artusroman‘. Auch hätte es ursprünglich unter der Ägide von Armin Schulz entstehen sollen. Als ich den schweren, schwarzen und mit silberner Tinte beschrifteten Briefumschlag öffnete, fand ich darin einen weiteren weißen Umschlag. Und darin fand ich letztlich die Benachrichtigung, die mich über den Tod meines Doktorvaters Armin Schulz informierte, der im September 2010 der Leukämie erlag. Damit begann für mich eine Phase schwerer Niedergeschlagenheit und Desorientierung. Zu Armin Schulz hatte ich ein freundschaftliches Verhältnis – so stelle ich es mir auf jeden Fall gern vor – und meine Dissertation wäre sicher durch ihn ganz ausgezeichnet betreut worden. Sein Tod hat mich sehr schwer getroffen. Als ich dann irgendwann überhaupt nicht mehr wusste, wie es nun mit meinem Promotionsvorhaben weitergehen sollte, habe ich mich im Büro Wilhelm Heizmanns wiedergefunden, des Professors meines Nebenfachs, der mir zu meiner Magisterverabschiedung gesagt hatte, dass, sollte ich ein Problem haben, seine Tür für mich stets offenstünde. Und so war es auch. Wilhelm Heizmann nahm mich unter einem neuen Promotionsthema – ‚Können Sie denn nicht was zu den nordischen Nibelungen machen?‘ – als Doktorand bei sich auf. Nichtsdestotrotz habe ich mich auch von Armin Schulz während der folgenden Jahre nicht wenig begleitet gefühlt. Im Jahre 2012 wurde Armin Schulz’ Band ‚Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‘ herausgegeben, aus dem ich ganz deutlich seine Formulierungen und sein Vokubalur wie sie mir aus Vorlesungen, Seminaren und vom gemeinsamen Karamalztrinken vertraut sind, sprechen höre. Und so wollte ich auch schreiben, habe ich mir gedacht: elegant, unverkrampft, fachlich on point. Ein mediävistischer page turner. Ich danke Armin Schulz dafür, dass er mich inspiriert hat und dass er meine ursprüngliche Promotion betreut hätte. Dieses Buch ist ihm gewidmet. Überhaupt nicht weniger Dank gebührt Wilheim Heizmann, der mich seit Beginn meines Studiums Ende 2004 begleitet und zu dem sich das Verhältnis seit Ende 2010 nochmal intensiviert hat, als er schließlich zu meinem zweiten Betreuer wurde. Daran, dass ich von ihm unter Kollegen vom ‚Captain‘ spreche und er bei seiner Frau von seinen – in diesem Falle männlichen – Doktoranden als ‚seine Jungs‘, zeigt sich, dass beide Parteien dem Simplex ‚Vater‘ im Kompositum ‚Doktorvater‘ eine ganz besonders emotionale Bedeutung zukommen lassen.  













https://doi.org/10.1515/9783110649796-202



VI

Vorwort

Dereinst durfte ich mir Matthias Teichert als Tagungsgast wünschen, dessen großartige Arbeiten zu den Völsungen ich mit größter Faszination verfolge. Aus diesem Treffen hat sich in den letzten Jahren eine schöne Freundschaft ergeben und viele Gelegenheiten, bei denen ich dem Matthias erhitzt groteske Anekdoten aus meinem eigentümlichen Leben erzähle, während er lachend Wein trinkt. Ich danke ihm für die Zweitbegutachtung meiner Dissertation und für viele Gespräche über die Völsungen und die Welt im Allgemeinen. Ich fühlte mich am Ende meiner Doktorarbeitszeit erst sicher, als mir meine drei langjährigen und sehr sehr engen Freunde Andreas ‚Lubo‘ Ljubisic, Svenja-Milena Kutsch und Sebastian ‚Vaylan‘ Wagner zugesagt haben, dass sie sich mir als Korrekturleser zur Verfügung stellen würden. Für diese Aufgabe wollte ich Ästheten und Schöngeister, die sich außerhalb des akademischen Bereiches bewegen und ‚out of the box‘ schreiben können und vor allem ein Auge für meinen eigenen, vielleicht bisweilen eigentümlichen Stil haben und die wissen, dass man ein so langjähriges Projekt wie das vorliegende Buch ab einem Zeitpunkt nicht mehr nur mit dem Verstand, sondern mit der Seele und dem Herzen schreibt. Vielen, vielen Dank. Gesondert hervorheben möchte ich meine lieben Kommilitonen und mittlerweile Kollegen und sehr guten Freunde Andreas Schmidt und Daniela Hahn, die sich zusammen mit mir in den letzten Jahren den Traum vom Doktortitel verwirklicht haben und die wissen, dass eine Dissertation zumeist nicht nur mit Schweiß geschrieben wird, sondern mit Tränen und Blut. Und letzten Endes gedenke ich der vielen Begleiter, die ich habe und hatte. Meiner Mutter, die immer für mich da war, und meines Vaters, der mich immer unterstützt hat, sowie all jener, die mit und vor mir des Wegs gefahren.

Inhaltsverzeichnis 1. 1.1 1.2 1.3

Einleitung 1 Es fällt ausgesprochen schwer 1 Die völsungische Welt erschließen Wie dieses Buch zu lesen ist 12

2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3

Figuren- und Gattungstypen 17 Heroisch 17 Der Held 17 Menschen ohne Moral 28 Helden- und Götterzeit 34 Höfisch 48 Der Ritter 48 Inszenierungsmethoden 60 Innen und Außen 74 Mythisch 79 Der Heros 79 Mythisches in den Vorzeitsagas Hörensagen 94

3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6

Mythische Aufladung 105 Odin 105 Odin als Stammvater 105 Fruchtbarkeit 114 Prekärer Helfer 119 barnstokkr 128 Odin im Tod 134 Authentizität und Ambivalenz 145 Walküren 149 Junge Fremdwesen 149 Heirat mit Walküren 156 Blutrünstigkeit im Alltag 159 Mehrfache Brynhild 164 Magie und Zaubermittel 166 Eine magische Welt 166 Zaubertränke 169 Runen 173 Magisches Essen und Kannibalismus Schatzhort 180 Gestaltwandel 182

8

90

175

VIII

Inhaltsverzeichnis

4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6

Heldengenese 189 Heldenerziehung 189 Heroische Verdichtung 189 Weihekriegertum 196 Berserkertum 205 Höfische Inhalte von Sigurds Erziehung 210 Vaterlosigkeit 213 Wortgewandtheit 219 Sigurd als untypischer Held 225 Das Bild, das wir von Sigurd haben 225 Sigurds Drachenkampf 228 Warum Fafnir nicht zerhackt wird 236 Wissensdialog und Wissensaufnahme 239 mâze 247 Versöhnung und Kompromissbereitschaft 250

5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Herrschaft, Macht und Politik 255 Eckpfeiler völsungischer Politik 255 milte 255 Heerkönigtum 259 Gefolgschaft 265 Wie Sigurd assimiliert wird 271 Politisches Miteinander 278 Vasallentum 285 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status Gunnar, der unscheinbare Gjukunge 288 Brautwerbung und Königinnenstreit 291 Högnis prominente Rolle 296 Warum Sigurd sterben muss 302

6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3

Krisenreaktionen 307 Trauern 307 Gestörter Weltzustand 307 Trauern mit dem Körper 312 Trauern durch die Umwelt 315 Lachen, obwohl’s nicht komisch ist 324 Liebeskummer 327 Schadenskalkulation 329 Rache 334 Fehlschlagende Kompensation 334 Schreckliche Rachetaten 343 Kalt serviert 346

288

Inhaltsverzeichnis

6.2.4 6.2.5

Regins und Sigurds Vaterrache Antivölsungensage 356

7. 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5

Untergang 367 Schicksal 367 Doom 367 Die Nornen 368 Heroisches Vorwissen 371 Träume 376 Der Auszug der Gjukungen 382 Schicksalsergebenheit 385 Heldentod 388 Liebe zum Tod 388 Völsungentode 394 Schräge Tode 397 Gjukungentode 401 Heroisches Happy End 406

8.

Schlussbemerkung

409

Literaturverzeichnis 419 Abkürzungsverzeichnis 419 Siglenverzeichnis 419 Primärtexte 421 Sekundärliteratur 422 Internetquellen 439 Register

441

349

IX

1. Einleitung 1.1 Es fällt ausgesprochen schwer Zum ersten Mal habe ich die Völsunga saga in meinem Grundstudium während der Rückkehr von einer Exkursion im Zug von Schleswig nach München gelesen. Noch während des Lesens habe ich meiner mit mir im Zug sitzenden Dozentin, Alessia Bauer, gesagt, dass die Art und Weise, wie sich die Saga präsentiere, für mich ausgemachter Unsinn sei. Die Erzählung sei voller Handlungsbrüche und Logiklücken, Figurendoppelungen und Untermotivationen, voller blinder Motive und nur angedachter Strukturen, sodass ein Verständnis, wenn nicht gar das Ernstnehmen des Textes, ausgesprochen schwer falle. Doch keine Sorge, würde ich meinem damaligen Ich heute sagen, denn wem der Zugang zu mittelalterlicher Literatur schwer fällt, der befindet sich in breiter Gesellschaft, nämlich in der der Gesamtheit der modernen Rezipientenschaft. Das Mittelalter erzählt anders. Ein paar dieser Auffälligkeiten, die die Alterität mittelalterlicher Texte ausmachen, fasst Armin Schulz in seinem postum veröffentlichten Band ‚Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‘ zusammen: Es fällt ausgesprochen schwer, die Selbstinszenierungen der Erzählinstanz durchgängig von der Selbstthematisierung des realen Autors zu trennen, weil die Autoren als Subjekte und auch als Objekte der Rede in ihren eigenen Texten auftreten, auch um damit die Geltung ihrer Geschichte zu sichern. – Es fällt ausgesprochen schwer, das System der narrativen Informationsvergabe nachzuzeichnen: Die Figuren wissen und sprechen oft von Dingen, von denen sie – im Gegensatz zum Erzähler – eigentlich nicht die geringste Ahnung haben dürften. – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß mittelalterliche Texte für unseren Geschmack immer zu wenig oder zu viel erzählen: Handlungen haben nicht selten keine nachvollziehbar plausiblen oder zu viele und dann widersprüchliche Gründe, sie sind untermotiviert oder überdeterminiert. – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß die Protagonisten und auch die Nebenfiguren mittelalterlichen Erzählens nicht durch einen spezifischen Charakter geprägt sind, der sich kontinuierlich und bruchlos fortentwickelt, im Sinne moderner psychologischer Erwartungen, sondern daß die Identität der Figuren im wesentlichen nur durch soziale Bindungen, gattungsabhängige Verhaltensmuster und durch ihre je eigene Geschichte bestimmt ist: Eigenschaften, die wir heute als unveräußerliche Bestandteile menschlicher Individualität und Identität auffassen, können in den Texten völlig ‚vergessen‘ oder auf andere Figuren ‚verschoben‘ werden. – Es fällt ausgesprochen schwer, zu verstehen, daß logische Brüche und scheinbare Unstimmigkeiten der Handlung nicht in jedem Fall die Unfähigkeit mittelalterlicher Autoren dokumentieren: Sie begegnen auch in den besten Texten, erstens weil die Funktion besonderer Handlungsumstände sich oft im Augenblick erschöpft, zweitens weil potentielle Widersprüche und Alternativen zur Handlung nicht immer erörternd-diskursiv abgehandelt, sondern oftmals szenisch ‚nebeneinander‘ vor Augen gestellt und dann nacheinander, in ‚präsentativer Symbolifikation‘, abgearbeitet werden. – Und schließlich fällt es ohne die entsprechenden Vorkenntnisse ausgesprochen schwer, zu verstehen, wie die alten Texte Bedeutung indirekt, aber sehr massiv aus dem immer neu variierenden ‚Wiedererzählen‘ altbekannter Stoffe, Handlungsschemata und Basismotive produzieren. Und dennoch ist es möglich diese Texte zu verstehen, nicht nur ihrem Wortlaut nach […], sondern auch in ihren Entwürfen von Welt, Raum, Zeit, Geschehen und Figuren und in ihrer literarischen Gemachtheit. Ihre  













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1. Einleitung

Fremdheit, ihre ‚Alterität‘, wie dies in der Mediävistik heißt, ist zwar mitunter groß, aber nicht überwältigend. Wir würden sonst nämlich gar nichts oder zumindest nicht sehr viel verstehen. Allerdings entzieht sich vieles, was man zunächst problemlos zu verstehen vermeint, bei genauerem Hinsehen dann doch wieder. Man sollte also nicht der Versuchung nachgeben, die alten Texte bedenkenlos den eigenen modernen Vorstellungen einzugemeinden.1

Unter diesen Gesichtspunkten hat sich Jan-Dirk Müller dem Nibelungenlied genähert: Nämlich nicht, indem er scheinbare Brüche und Unstimmigkeiten der Erzählung als Fehlgriffe des Dichters wegerklärt, sondern sie als Symptome der Alterität des Textes und vor allem der Textwelt respektiert hat. Das Produkt dieses Ansatzes ist Müllers noch immer aktuelles Standardwerk zum Nibelungenlied ‚Spielregeln für den Untergang‘, in dem er die Welt der Nibelungen auf ihre Abstracta hin erklärt und kartographiert. Jan-Dirk Müller beobachtet verschiedene Sachverhalte in der Erzählung und erläutert sie dann anhand der intrinsischen Logik des Epos und nicht unter Zuhilfenahme extrinsischer Faktoren.2 In seinem Vorwort sagt er dahingehend: Unbestreitbar gibt es solche Widersprüche im Gang der Handlung immer wieder, und es werden eine Reihe von ihnen zu kommentieren sein. Aber sie werden nicht als ‚Fehler‘ betrachtet, an denen das ästhetische Mißlingen des Epos ablesbar ist, sondern als Spuren, die auf eine andere Sicht der Welt und eine andere Ästhetik hinführen.3

1 Schulz 2015, S. 1–3. 2 In Bezug auf Letztere hält Jan-Dirk Müller dem mittelalterlichen Dichter die Stange und plädiert auf einen Vertrauensvorschuss, den wir heutige Rezipienten und Literaturwissenschaftler diesem leisten müssten. Vgl. Müller 1998, S. 12–18 wie solche Texte also zu lesen sind, die wir als inkohärent empfinden, und zu Gefahren bei der Deutung. Vgl. dabei vor allem Müller 1998, S. 16: „‚Sinnunterstellungen‘ setzen an sog. Inkonsistenzen und Widersprüchen des Textes an. Müßte aber nicht zuerst geprüft werden, ob es sich tatsächlich um Inkonsistenzen und Widersprüche handelt? Ob die ‚Interpolationen‘ der Interpreten – ganz gleich welcher Art – gerechtfertigt, ja überhaupt notwendig sind? Ob es nicht andere Erklärungsmöglichkeiten gibt als die harmonisierender Glättung oder Annahme einer sagengeschichtlichen Panne? Die Alternative bleibt verbaut, solange im Hintergrund ein ‚eigentlich‘ zu erwartendes, linear progredierendes, nach gängigen Alltagserfahrungen kausal verknüpfendes und insofern syntagmatisch kohärentes Erzählen als Normalfall von Erzählen überhaupt angesehen wird.“ Vgl. ferner Müller 1998, S. 33: „Es gilt, das Widerständige nicht zu unterschlagen, sondern zum Ausgangspunkt der Reflexion zu machen, Über- wie Untermotivationen als Symptome dafür zu deuten, daß ein Problem zu bewältigen war, die Brüchigkeit der Konstruktion nicht als ästhetischen Mangel zu kritisieren, sondern aus der Überlagerung konkurrierender Ordnungen und widersprüchlicher Strategien verständlich zu machen, kurz, das Beunruhigungs- und Provokationspotential des Epos zu erschließen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern daher gerade Stellen, an denen der glatte Fluß der Handlung zu stocken scheint, die mit Vorausgehendem und Nachfolgendem nicht abgestimmt scheinen oder an denen das spontane Verstehen aussetzt.“ Diese von Müller postulierte Methode scheint mir sehr richtig. Wenn andauernd von ästhetischem Misslingen ausgegangen werden kann oder muss, von einem Irrtum des Verfassers, einem Abschreibefehler oder einer Interpolation, dann drängt sich der Literaturwissenschaftler selbst in die Aphasie. 3 Müller 1998, S. 2.  













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1.1 Es fällt ausgesprochen schwer

Es geht ihm um „die Rekonstruktion von (fiktiven) Bedingungen, nach denen das Geschehen abläuft“4 und darum, „Spielregeln [zu] rekonstruieren, auf Grund derer das Erzählte plausibel ist […]; dabei ist zu zeigen, daß der Text nicht einem einzigen in sich stimmigen Regelsystem gehorcht, sondern Schnittpunkt konfligrierender Regeln ist, die ihrer Herkunft und Geltung nach ‚ungleichzeitig‘ sind.“5 Seine Arbeit „will die Spielregeln der Welt beschreiben, in der sich jenes Geschehen vollzog, den Kredit bestimmen, den man diesem wie allen Erzählern einräumen muß.“6 Müller betont aber dabei, dass es keinesfalls um die Rekonstruktion historischer Realzustände geht, sondern um das Erschließen einer Textwelt. Sein Untersuchungsgegenstand sei „nicht ‚die mittelalterliche Kultur um 1200‘, sondern eine Symbolwelt, d. h. der Entwurf einer solchen Kultur in einem Text. Der Text simuliert einen kulturellen Zusammenhang und kann deshalb semiotisch als kultureller Zusammenhang gelesen werden.“7 Am Anfang des im vorliegenden Buch realisierten Projektes stand die Überlegung, ob Jan‑Dirk Müllers Herangehensweise nicht auch für die Erzählungen der altnordischen Völsungensage geleistet werden könnte. Wenn ich von der Völsungensage spreche, dann meine ich nicht ausschließlich die eine Völsunga saga, sondern das Gesamtkorpus der Texte, die von den nordischen Nibelungen handeln, dem mythischen Geschlecht der Völsungen. Das ist primär natürlich die sogenannte8 Völsunga saga, aber auch der Heldenliederteil der Edda und weiterhin die Þiðreks saga sowie der Nornagests þáttr und eine Passage aus Snorris Skáldskaparmál.9 Gerade die erstgenannte Völsunga saga, eine um etwa 1260 entstandene Vorzeitsaga oder Fornaldarsaga, wurde noch bis vor kurzem von der altskandinavistischen Forschung überaus stiefmütterlich behandelt. Ihr literarischer Eigengehalt wurde kaum wahrgenommen und die Saga selbst zumeist nur als Prosaaufarbeitung des eddischen Heldenliederteils abgetan. Dabei stoßen wir immer wieder auf den Begriff ‚Prosaparaphrase‘.10 Diese Wertung scheint mir aus zweierlei Gründen ungerechtfertigt. Zum  

4 Müller 1998, S. 45. 5 Müller 1998, S. 46. 6 Müller 1998, S. 2. 7 Müller 1998, S. 41. 8 ‚Sogenannt‘, weil in den Handschriften kein Titel der Saga überliefert ist (vgl. Symons 1876, S. 3). 9 Obzwar die Ambition dieser Arbeit zunächst war, sämtliche genannten Texte gleichwertig und erschöpfend zu behandeln, musste ich mich doch letztlich aus Gründen der Umsetzbarkeit einschränken. Die Priorität liegt also auf Völsunga saga und eddischen Heldenliedern. Die übrigen genannten Texte sowie das mittelhochdeutsche Nibelungenlied werden vornehmlich als Vergleiche herangezogen und um einen Aspekt verstärkend herauszuzeichnen. 10 Vgl. Finch 1965, S. xxxvi: „VS is largely a prose version of certain Eddaic lays preserved in the Codex Regius“. Vgl. Schier 1970, S. 74: „Die Vǫlsunga saga ist im Wesentlichen nichts anderes als eine Prosaparaphrase von Heldenliedern der Edda“. Heiko Uecker nennt die Saga „hauptsächlich eine Prosaauflösung der Heldengedichte der Edda“ (Uecker 1972, S. 23) und an anderer Stelle sagt er: „die Völsunga saga kann ohne weiteres als eine Prosawiedergabe der eddischen Lieder aufgefasst werden. Da die Saga aus        







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1. Einleitung

Einen sind Neuschreibungen und Adaptionen bestehender Texte in der mittelalterlichen Literatur Usus.11 Das Mittelalter kennt dahingehend keine Urheberschaft und eine bekannte Geschichte aus zuverlässiger Quelle neu zu erzählen, galt nicht als unoriginell, sondern als Qualitätsmerkmal. Zum Anderen ist die Völsunga saga auch darüber hinaus mehr als ein bloßes Remake der Heldenlieder. Weite Teile der Saga handeln von Inhalten, für die wir in den Eddaliedern keine Vorlage finden, wie etwa die Vorgeschichte der Völsungen, die Schicksale Sigis, Rerirs und Völsungs, Sigmunds Aufstieg und Fall und die Werwolfsepisode. Auch ist nicht gänzlich gesichert, dass es sich bei der Heimirepisode und der zweiten Brynhildbegegnung wirklich um eine Bearbeitung der verlorenen Lieder der Lakune handelt. Diese Teile werden von jenen, die in der Saga eine bloße Paraphrase sehen, zumeist unterschlagen. Untersuchungen, die die Völsunga saga als eigenständiges literarisches Werk würdigen,

der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammen dürfte, ergibt sich das literaturgeschichtlich interessante zeitliche und räumliche Nebeneinander von eddischen Gedichten und Prosaversion“ (Uecker 2004, S. 157). Vgl. de Vries 1999II, S. 467: „Die Vǫlsunga saga ist eine Prosaparaphrase der in der Eddasammlung erhaltenen Heldenlieder.“ Vgl. Lassen 2011, S. 155: „Vǫlsunga saga er for størstedelens vedkommende en prosaparafrase af eddadigte som dem, vi finder i heltedigtningen i Codex Regius af eddadigtene.“ Vgl. Lange 2006, S. 542: „Der Großteil der Erzählung ist eine Prosaparaphrase von Heldenliedern der Edda-Dichtung.“ Ebenso spricht der Eddaübersetzer Arnulf Krause von der Völsunga saga als einer „Prosa-Paraphrase“ (Krause 2004, S. 352) und auch für Klaus Böldl ist sie ein Text, der „im Wesentlichen eine Prosabearbeitung von den die Nibelungensage verhandelnden Eddaliedern darstellt“ (Böldl 2013, S. 84). Besonders schlecht kommt die Saga bei Klaus von See weg, der sie beschreibt als „eine Prosadarstellung des Nibelungenstoffes, dem klassischen isländischen Sagastil verhaftet, aber doch nur ein epigonenhaftes Kompilationsprodukt, das kaum die bevorzugte Rolle verdient, die es in der Forschung des 19. Jhs. besonders wohl deswegen spielte, weil es die Hauptquelle für Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ ist“ (von See 1971, S. 19). An anderer Stelle: „Im allgemeinen betrachtet man die Saga als bloßes Materiallager alter Heldensagentraditionen“ (von See 1999 [1994], S. 398). Vgl. dazu Reichert 1985, S. 110: „Die Vǫlsunga saga ist für die Germanistik interessant, weil sie die Hauptquelle Richard Wagners für den ‚Ring des Nibelungen‘ darstellte.“ Kompromissbereiter stellt sich dagegen Kaaren Grimstad auf: „Inspired by the stories in the eddic poems, the saga author set out to render poetry into prose and in so doing succeeded in preserving for us the most complete and memorable version of the tale. For that we owe him a profound debt of gratitude“ (Grimstad 2000, S. 67) und ebenso Carolyne Larrington: „Vǫlsunga saga most probably originates in a rewriting and expansion of the prose links which enact the movement of the protagonists in the heroic poems of the Edda, combined with a prose paraphrase of many of the poems, including of course those in the lacuna“ (Larrington 2012, S. 264). Stefanie Würth beendet nach meinem Dafürhalten die Diskussion um den Status der Saga als Paraphrase, indem sie sie als Nacherzählung der Eddalieder mit deutlichen stilistischen Veränderungen beschreibt: „If we consider Vǫlsunga saga in the context of contemporary literary trends, its designation as a ‚paraphrase of heroic eddic poetry‘ takes on a different meaning. ‚Paraphrase‘ no longer refers to a modern notion that we have an independent, and compared to the original, inferior retelling. Rather, it suggests that from the perspective of the medieval school system, we are reading an imitatio, which includes commentary and hermeneutic interpretation, and an innovation, that is, new features in language and style. From a medieval point of view, Vǫlsunga saga is an independent piece of text-production“ (Würth 2003, S. 110). 11 Vgl. Gottzmann 1979, S. 1.  



























5

1.1 Es fällt ausgesprochen schwer

datieren nicht vor Carola Gottzmanns Textanalyse von 1987,12 zu der sich neuere Ansätze von Torfi Tulinius13 und Matthias Teichert14 gesellen. Vor diesen Letztgenannten war die Herangehensweise der Forschung an die Völsunga saga, aber auch generell an das germanische Heldensagenkorpus des 13. Jahrhunderts, sehr homogen. Es ging darum, sich den Texten sagen- und motivgeschichtlich zu nähern, ja mehr noch darum, anhand der Texte Wirklichkeiten erkennen zu wollen. Das schriftliche Erzeugnis des Hochmittelalters wurde dabei nur allzu oft als Brücke oder Trittstein in ein mündliches Davor gesehen und jede Modifikation als schädliches Hindernis wahrgenommen, als etwas, das den Blick ins früh- und vormittelalterliche Damals verklärt. So stellte sich die Forschung oft die schwierige Aufgabe, das genuin Archaische – und damit sozusagen das Wertvolle – aus der mittelalterlichen Dichtung herauszufiltern.15 Wer auf diese Weise an den Bearbeitungen des 13. Jahrhunderts des Heldensagenmaterials vorbeisehen möchte in ein authentisches Damals, der wird vom Literaturwissenschaftler schnell zum Literaturkritiker.16 Und gerade Heldendichtung ist es,  







12 Vgl. Gottzmann 1987, S. 73: „Auch wird man dem Text nicht gerecht, wenn man ihn einfach als Paraphrase abtut.“ Carola Gottzmann stellt fest, dass „der Verfasser eine eigenständige Konzeption verfolgte und eine neue Aussageintention beabsichtigte“ (Gottzmann 1987, S. 74). 13 Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 139: „Since his work [das des Autors der Völsunga saga] involved more than merely converting a narrative from verse to prose, his choices were necessarily conditioned by a certain interpretation of the material“. Vgl. Torfi Tulinius 2000, S. 247: „the author seems more or less solely responsible for the first eight chapters. Not only does he adapt motifs from various sources […], but he also crafted his work in such a way as to draw attention to his interpretation of the tradition conveyed by eddic poetry“. Zu seiner Herangehensweise an die Fornaldarsögur, inklusive der Völsunga saga, sagt Torfi: „I have […] rejected the attitude, too long current, that the legendary sagas are not works deserving of interest. On the contrary, I regard these sagas as complex and subtle works, to varying degrees; but in all cases they are works that deserve to be taken seriously, as much for their form as for the preoccupations they exhibit“ (Torfi Tulinius 2002, S. 290). 14 Vgl. Teichert 2014, S. 166 f.: Die „Vǫlsunga saga mit ihrem äußerst umfangreichen Plot […], der keineswegs nach den Vorgaben der eddischen Lieder mechanisch abgearbeitet und lediglich von einer Erzählgattung in eine andere umgegossen, sondern nach eigenen Vorstellungen neu gestaltet und dabei teilweise strukturell überformt, teilweise aber eher verrätselt wird, letzteres auch an solchen Stellen, die in den zugrunde liegenden Liedern eigentlich klar und unproblematisch sind“. 15 Zur Gestalt des Nibelungenliedes etwa sagt Hugo Kuhn: „Ja, das große Werk stellt uns noch in seiner Überlieferung vor die Verlegenheit, daß wir ständig schwächliche Mache neben kraftvollen Bildern antreffen und nicht wissen, wo älteres Erbe, wo der Dichter selber spricht, wo jüngere Manier einsetzt – als ob der Dichter des Nibelungenliedes nur wie eine schwankende Mitte im Übergang vor uns stehe“ (Kuhn 1959, S. 186). Vgl. zur Überlieferungssituation der germanischen Heldensage im Allgemeinen Schneider 1933, S. 250: „Wir hatten oft zu klagen über Mangel an ursprünglichen Denkmälern und fanden uns gehemmt, weil wir mit Darstellungen zweiter Hand vorlieb nehmen mußten, Anspielungen und Nacherzählungen. Wenn wir nur Lieder hätten! war oft unser Stoßseufzer.“ 16 Vgl. dazu etwa Per Wieselgrens Bewertung des Verfassers der Völsunga saga: „Es darf gesagt werden: so schlecht wie sein Ruf ist der Verfasser nicht. Für Poesie hat er wenig Verständnis, das ist wahr, und es gelingt ihm bisweilen, die schönsten Eddastellen zu verderben, aber sein mangelndes Gefühl für dichterische Werte (besonders die der Spätlyrik der Edda) ist nicht gleichbedeutend mit Mangel an Ge 



















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1. Einleitung

die etwas ganz Profundes in uns anspricht, das uns schnell emotional werden und Position beziehen lässt. In seinem Vorwort zu seiner Ausgabe der Völsunga saga sagt R. G. Finch, die Saga spreche zwar von gewaltigem Material, das aber „naïvely presented“17 sei. Der Sagaschreiber hätte „little feeling for the poetry of his poetic originals“18 gehabt. Annette Lassen beschreibt die Saga im Vergleich mit den Liedern des Codex Regius als „manieret og grotesk“19 und Catharina Raudvere wertet: „Vǫlsunga saga is hardly an artistic product (especially not when compared to the songs in The Poetic Edda spun around the same motifs).“20 Felix Genzmer nennt den Kompilator der Helgilieder einen „Stümper“.21 Die Geschichten um Sigurd und die Seinen wecken große Gefühle in uns und bergen ein ebenso großes Enttäuschungspotenzial. Die Bearbeitungen des Heldensagenstoffes laden zum Werten und Bewerten ein. Doch bildete sich in den letzten Jahren in der Heldensagenforschung eine gegenläufige Strömung zu den bisherigen und ja durchaus auch wertvollen Ansätzen22 der sagen- und motivgeschichtlichen Untersuchungen heraus.23 Neben den bereits ge-

schmack überhaupt. Auch der Biedermeier kann Geschmack haben, und der Verfasser war ein Biedermeier von scharfer und charaktervoller Prägung. Man fühlt bei ihm einen rechten Ingrimm gegen alle Sentimentalität, alles Unsachliche, alles unklar Aufgedunsene, alles Greuliche oder Unpassende. Besässe er nach der positiven Seite hin ebenso löbliche Eigenschaften, so würde seine Arbeit eine sehr wohlgelungene sein. Daran fehlt es ihm aber. […] Ein tieferes Verständnis für die Psychologie seiner Helden vermag er dem Leser nicht beizubringen; denn er hat sie selber nie verstanden“ (Wieselgren 1935, S. 14). 17 Finch 1965, S. ix. 18 Finch 1965, S. ix. 19 Lassen 2003(b), S. 20. 20 Raudvere 2007, S. 119. 21 Genzmer 1961, S. 126. 22 Wichtige sagen- und stoffgeschichtliche Untersuchungen des skandinavischen Völsungen- und Nibelungenstoffes sind etwa die Arbeiten Andreas Heuslers, vornehmlich seine ‚Lieder der Lücke‘ (vgl. Heusler 1969 [1902]), ein Versuch, die Lieder der fehlenden Lage des Codex Regius zu rekonstruieren und seine Monographie ‚Nibelungenlied und Nibelungensage‘ (vgl. Heusler 1929), Barend Symons’ ‚Untersuchungen ueber die sogenannte Völsunga saga‘ (vgl. Symons 1876), Per Wieselgrens ‚Quellenstudien zur Vǫlsungasaga‘ (vgl. Wieselgren 1935), Franz Rolf Schröders ‚Nibelungenstudien‘ (vgl. Schröder 1921, bes. S. 14–58), R.G. Finchs ‚Treatment of Poetic Sources by the Compiler of Vǫlsunga saga‘ (vgl. Finch 1963–1965, S. 315–353) oder Theodore Anderssons ‚Legend of Brynhild‘ (vgl. Andersson 1980). 23 Vgl. Uecker 1972, S. 1: in der jüngeren Forschung sei „der literarische Eigenwert [von Heldensagenüberlieferung] zu Unrecht zugunsten der reinen Sagengeschichte vernachlässigt worden“. Vgl. Gottzmann 1979, S. 1: „One of the main problems dominating the discussion of the Vǫlsunga saga is that the greatest part of the lays in the Poetic Edda have been assimilated into this saga. This fact has led research work to analyse Vǫlsunga saga more or less in view of either finding evidence of legendary history or of deducing complete, respectively parts, of lost eddic poems. Therefore, possibilities of recognising the characteristic value of this Saga were almost all neglected.“ Vgl. Teichert 2008, S. 13 f.: „Allerdings ist festzustellen, daß die [Völsunga] Saga traditionell kaum jemals als eigenständiges ästhetisches Produkt wahrgenommen, sondern in erster Linie als sekundärer ‚Hilfstext‘ der Edda-, Nibelungenlied- und Wagner-Forschungen in Anspruch genommen wird.“  



















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1.1 Es fällt ausgesprochen schwer

nannten finden sich in den Arbeiten Edgar Haimerls24 und Alois Wolfs25 Untersuchungen, die auch die Eddalieder nicht auf ihren Entstehungsprozess hin, sondern als für sich stehende Werke behandeln. Kommen wir nun wieder zu Jan-Dirk Müllers Spielregeln zurück, finden wir dort auch eine Warnung davor, die Sagengeschichte einer Erzählung als Interpretationsinstrument überzustrapazieren: „Keinesfalls darf die Sagengeschichte als Joker benutzt werden, der immer dann gespielt wird, wenn der Interpret in seinem Bemühen um handlungslogische und psychologische Stimmigkeit mit seinem Latein am Ende ist.“26 Dem steht Müllers eigenes Vorgehen gegenüber: Mit kriminalistischem Scharfsinn nachzuweisen, wo Dinge offen, dunkel, doppeldeutig, gar widersprüchlich bleiben, ist eine Sache, der sich die Nibelungenforschung der letzten 150 Jahre mit seltener Hingabe gewidmet hat. Weit schwieriger ist es darzutun, warum es an diesen und jenen Stellen zu solchen Problemen kommt, welche ästhetischen Prinzipien Lösungen nahelegen, die ‚wir heute‘ so nicht erwarten und die mit dem, was wir wissen, nicht recht in Übereinstimmung zu bringen sind.27

24 Vgl. Haimerl 1992 bzw. 1993. 25 Vgl. zu seinem eigenen Vorgehen Wolf 1965, bes. S. 9: „Der Tendenz der Zeit und eigener Neigung folgend, wurde das rein Sagenhistorische bewußt zurückgestellt und auf das Interpretieren nicht erhaltener Denkmäler verzichtet. Im Hintergrund belassen wurde auch die so lange und lebhaft diskutierte – und so romantische – Frage nach dem Ursprung der Heldendichtung. Da der Forschung gerade auf diesem Gebiet bestimmte Grenzen gesetzt sind, besteht die Gefahr, daß durch diese Frage wertvolle Energien über Gebühr in Anspruch genommen werden. Wenn man sich mit dem Problem des Ursprungs beschäftigt, erliegt man leicht der Versuchung, in ein künstliches Entweder-Oder zu verfallen: Geschichte Mythos, Einzelner Kollektiv, Ästhetisches Religiöses.“ 26 Müller 1998, S. 22. Vgl. außerdem Müller 1998, S. 18–25. 27 Müller 1998, S. 2. Nun warnt aber auf der anderen Seite wiederum Theodore Andersson davor, die bisherige reichhaltige stoffgeschichtliche Bearbeitung der Nibelungenüberlieferung als Freibrief zu sehen, die Sagengeschichte völlig außer Acht zu lassen: „Heusler’s point [eben die sagengeschichtliche Behandlung] is well taken, but the claim that he dealt only with lost versions has become a cherished refrain and continues to be echoed mechanically. It serves to justify a purely descriptive approach to the Nibelungenlied, as if it were indeed an Iliad, a Beowulf, or a Roland with no analogues to shed light on the particular form of the story which it embodies. This approach has enabled scholars to interpret the Nibelungenlied without the encumbrance of preliminary source studies“ (Andersson 1980, S. 16 f.). Es empfiehlt sich hier meines Erachtens einen Unterschied zu machen zwischen der Sage und dem jeweiligen Text. Eine Sage der Nibelungen oder der Völsungen ist nicht fertigerzählt. Sie wurde schon vor dem 13. Jahrhundert und noch danach rezipiert, ganz gleich ob das nichterhaltene Lieder, Wagners Ring oder aber moderne Fantasyliteratur sind. Die vorliegende Untersuchung sieht sich einen Querschnitt der wandelbaren Völsungensage an, nämlich ihre literarische Konfiguration im skandinavischen 13. Jahrhundert. Diese Herangehensweise erscheint mir trotz Anderssons berechtigter Anmerkung durchaus gerechtfertigt. Vgl. dazu Aguirre 2002, S. 12 Anm.: „it is an error to conceive that a given text represents either the culmination of or falling off from trends ‚leading‘ to a given shape and plot; it is equally mistaken to praise either the ‚source‘ or the ‚final product‘ to the detriment of the other. Every version is in this sense both a ‚final‘ product and a transitional work“.  





















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1. Einleitung

Darum geht es in dieser Untersuchung: Nicht das Woher der germanischen Heldendichtung der altnordischen Textzeugnisse zu bestimmen, sondern die Jetztzustände, die uns diese Dichtung vorstellt. Das vorliegende Buch untersucht die gattungsabhängigen Verhaltensmuster und ästhetischen Konstruktionen, derer sich diese Texte bedienen, um ihre eigene Welt zu erschaffen. Das ist wie bereits besprochen nicht die Welt des Hochmittelalters, sondern ein Kosmos, dem ein einzigartiger, der Heldensage eignender Welt- und Figurenentwurf zugrundeliegt. Es ist eine Welt, zu deren eigentümlicher intrinsischer Logik Zugang zu erhalten, – mit Armin Schulz’ Worten – ausgesprochen schwer fällt. Es ist die heroische Welt der Völsungen.  



1.2 Die völsungische Welt erschließen Heldendichtung ist Dichtung, die Heldensage zum Inhalt hat. Als solche ist sie aber keine eigene Gattung, sondern wird aus Texten unterschiedlicher Gattungen zusammengestellt, die Heldenfiguren behandeln. Die Völsunga saga ist eine Vorzeitsaga, unterscheidet sich aber stilistisch von den meisten anderen Vorzeitsagas so sehr, dass zusätzlich noch die Kategorie der Heldensaga eingeräumt werden muss. Die eddischen Lieder gehören einer eigenen Gattung an, eben der der eddischen Dichtung. Zwar behandelt der Nornagests þáttr Vorzeitsagenstoff, jedoch ist er selbst eingebettet in eine Erzählung um König Olaf Tryggvason und präsentiert sich als Bekehrungsgeschichte. Die Þiðreks saga ist ein Hybrid zwischen Vorzeitsaga beziehungsweise Heldensaga und riddara saga, also Ritter- oder Märchensaga. Letztlich sind die Skáldskaparmál eine Materialsammlung, die zu Lehrzwecken für die Skaldendichtung zusammengestellt wurde, in der anekdotenhaft Mythen- und Heldensagenstoffe erzählt werden. Obwohl es diesen Texten also an einer gemeinsamen Gattung mangelt, vereint sie doch ein ihnen eigener Merkmalskomplex, der sie zu Vertretern der Heldendichtung macht. Neben den Figuren, von denen sie berichten, ist das die Art und Weise, wie von diesen Figuren erzählt wird. Es sind gewisse stilistische Eigentümlichkeiten, die das heroische Erzählen an sich konstituieren und dadurch das einzigartige „Texterlebnis“28 für den Rezipienten generieren. Es ist die Art, wie die Materie erzählt wird, die aus den Geschichten Heldengeschichten macht. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied ist ein Heldenepos, allerdings als solches in sich keineswegs frei von widerstreitenden Erzählkonventionen. Gerade konstituiert sich das Epos dadurch, dass unterschiedliche Verhaltensnormen und Weltentwürfe in ihm aufeinandertreffen und somit nicht nur die Handlung in Gang setzen, sondern auch den nibelungischen Erzählkosmos erschaffen. Diese lassen sich

28 Kruse 2017, S. 3.  

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1.2 Die völsungische Welt erschließen

in zwei Konzepte einteilen: das Heroische und das Höfische.29 Charakterisieren lassen sich diese beiden Pole mit den Worten Otfried Ehrismanns, der für das Heroische das ‚Barbarische‘ einsetzt: [Das] Epos führt zwei Verhaltensformen zusammen, eine kultiviert-höfische, zivilisierte, und eine barbarische. Statt barbarisch liest man in der Regel archaisch, doch ist dies in unserem Zusammenhang ein verführerisch-unpräziser Begriff, der chronologisch und stilistisch vage besetzt ist. Das Barbarische zeichnet sich […] wesentlich durch Spontaneität, Rohheit und Maßlosigkeit aus, das Höfische […] durch emotionale Kontrolle, eine je zeittypisch definierte Schönheit und Sittlichkeit. Beide Kulturformen hatten ‚ihre‘ Zeiten, in denen sie die kollektive Mentalität besonders prägten. Das Barbarische etwa die Epoche der germanischen Wanderungen und Reichsgründungen – auch die des späten Nationalsozialismus –, das Höfische die der Ritterzeit des 12. und 13. Jahrhunderts, der Renaissance oder des Barock. Doch auch außerhalb ‚ihrer‘ Zeiten waren und sind sie bis in die Gegenwart virulent. Den barbarischen Gesellschaften war auch das die Emotionen in Schach haltende Zeremonialhandeln vertraut, den höfisch-zivilisierten auch Spontaneität und Maßlosigkeit.30  





Gerade aus einem solchen Zusammenfluss zweier Verhaltenssysteme generiert sich die nibelungische Welt. Die beiden Kategorien stehen dabei aber nicht im Widerspruch, sondern vermengen sich zu einem übersummativen Ganzen,31 das die Einzigartigkeit und eben auch die Eigenartigkeit der heroischen Erzählwelt ausmacht. Ein solches Hineinspielen verschiedener Verhaltens- und Normensysteme, aber auch unterschiedlicher Erzählästhetiken kann ebenso für die Figuren- und Weltzeichnung des Völsungenkosmos festgemacht werden, wie er uns in der altnordischen Heldendichtung präsentiert wird.32 Zur heroischen Grundschicht gesellen sich höfische Elemente, die die Texte in Hinsicht auf Erzählart und -umfang beeinflussen und die Figuren ein höfisch gefärbtes Verhalten annehmen lassen.33 Dementsprechend stellt

29 Einen Forschungsüberblick liefert Müller 1974, S. 85–87. Walter Haug stellt die Diskursstränge ‚Höfisch‘ und ‚Heroisch‘ im Nibelungenlied antithetisch gegenüber. Die Konzepte würden sich gegenseitig konstant ablösen (vgl. Haug 1989 [1979], S. 293–307). Friedrich Neumann spricht allerdings bereits von unterschiedlichen ethischen Schichten im Nibelungenlied. Er identifiziert einen höfischen und einen heroischen bzw. vorhöfischen Siegfried/Sigurd und spricht außerdem von mittelalterlichen, ritterlichen und völkerwanderungszeitlichen Stilelementen (vgl. Neumann 1924, S. 121–124, S. 140– 145). 30 Ehrismann 2005, S. 80. 31 Vgl. Ehrismann 2005, S. 81 f. 32 Vgl. Hermann Pálsson/Edwards 1971, S. 97 zu den Heldensagas: „Basic to the genre is the viking ethos […]. Besides this, there is also the realization of the hero at a level […] of an older, more savage and grotesque world […]; the third level [is] that of romance.“ 33 Vgl. zu heroischem Material in höfischer Form Torfi Tulinius 2002, S. 151 ff. Vgl. ferner de Vries 1961, S. 66 f., bes. S. 67: „der Stil dieser Lieder [der Heldenlieder] ist nicht mehr das Urgestein des Heldenliedes; er ist weicher und gefühlvoller; wir stehen hier der mittelalterlichen Ritterballade näher. Die meisten Sigurdlieder gehören dem 12. Jahrhundert an, sie sind also parallel zum deutschen Nibelungenlied entstanden.“ Vgl. zum Einfluss der höfischen auf die Sagaliteratur Clover 1982, S. 184–188.  





























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1. Einleitung

Matthias Teichert – angelehnt an seine eigenen am Nibelungenstoff herausgearbeiteten Strategien zur Mythisierung – für die Völsunga saga fest:34  



Tatsächlich enthält die Saga in weiten Teilen ähnlich starke Tendenzen zur ‚Verhöfischung und Verritterung‘ […] wie das Nibelungenlied, etwa wenn von Falknerei, prachtvoll bestickten Teppichen oder Brettspielen und Fremdsprachen als Inhalte der Erziehung Sigurðs die Rede ist. Die Saga repräsentiert also nicht nur die Assimilation des Nibelungenstoffes an den heidnisch-archaischen Grundmythos […], sie kombiniert vielmehr zwei divergierende Grundmythen: einerseits einen germanischen, besser gesagt: germanisierenden pseudo-paganen Grundmythos, den der Verfasser durch bestimmte Verfahren der literarischen Mythisierung evoziert, andererseits einen christlich-höfisch-ritterlichen Grundmythos, der mit dem des Verfassers und Zielpublikums identisch ist.35

Diese Beobachtung kritisiert Joachim Heinzle insofern, als dass diese Entwicklung der Nibelungensage im Norden Teicherts vorgeschlagenen theoretischen Ansatz nicht rechtfertige:36 In der ‚Völsunga saga‘[…] ist die eddische Materie mit Elementen der importierten höfischen Kultur angereichert (wenn auch keineswegs in der prägenden Weise, wie er [Matthias Teichert] es darstellt). Um das zu ermitteln, bedarf es keiner großartigen Mythos-Theorie. Es liegt offen zutage.37

Nun empfinde ich diese Anmerkung nur dahingehend gerechtfertigt, wenn man diese Höfisierungsprozesse ausschließlich an offensichtlichen Wortschatzanreicherungen wie etwa den Begriffen ‚höfisch‘ oder ‚Ritter‘ in den respektiven Texten festmachen wollte, also anhand einer oberflächlichen stilistisch-lexikalischen Analyse.38 Es mag sein, dass eine solche Unternehmung wirklich nur bedingt ergiebig wäre.39 Allerdings geht es mir um mehr als um solche ‚offen zutageliegenden‘ Höfisierungsansätze, näm34 Siehe 2.3.1. 35 Teichert 2008, S. 131. 36 Vgl. Teichert 2008, S. 131 Anm.: „Der Versuch einer Übertragung von [Jan-Dirk] Müllers Analysemodell auf die eddischen Heldenlieder und die Vǫlsunga saga steht noch aus.“ 37 Heinzle 2012, S. 472. 38 Vgl. Larrington 2012, S. 264: „Völsunga saga may already, when first written down, have incorporated some courtly lexis, possibly deriving from a Norwegian court context, or the courtly element may have been added in a redaction influenced by Þiðreks saga; it is clear that the saga responds to new cultural impulses in the context of transmission.“ 39 Welche „[w]ords from the sphere of chivalry“ (Hallberg 1982, S. 34) in den jeweiligen Vorzeitsagas vertreten sind, zeigt Peter Hallberg in einer Tabelle (vgl. Hallberg 1982, S. 34–35). Zum ritterlich-höfischen Milieu im Korpus der Fornaldarsögur vgl. Hallberg 1982, S. 18–32. Sehr gut anwendbar finde ich dabei Hallbergs Verständnis dieser höfischen Sphäre: „I take chivalry in a broad sense, including in this concept situations and activities expressed in a characteristic vocabulary, but also certain signs of ‚subjective‘ attitudes, a tendency towards moderating the ‚objective‘ or ‚restrictive‘ mood of the ÍSS [Íslendingasögur – Isländersagas]“ (Hallberg 1982, S. 18). Ein höfischer Ton ist eben auch dann erreicht, wenn man nicht einfach nur das entsprechende Vokabular auf einer Liste abstreichen kann. An anderer Stelle erbringt Hallberg eine ähnliche Leistung für den mythischen Bereich, nämlich indem er den Wortschatz  

















1.2 Die völsungische Welt erschließen

11

lich um höfische Strukturen und die durch sie veränderten innertextlichen Konzepte: Darum, wie Figuren reden, wie sie sich verhalten, was die Verfasser sie fühlen lassen und wie Handlungselemente im Rahmen einer höfischen Szenenregie präsentiert werden. Eine solche Herangehensweise scheint mir viel fruchtvoller als die von Heinzle kritisierte Suche nach äußerlichen Höfisierungsmarkern. Im mittelhochdeutschen Epos spielen ferner mythische Elemente dahingehend eine Rolle, dass sie Teil des heroischen Bereichs sind, den die Helden durchwandern, wenn sie sich gerade nicht an den höfischen Zentren der nibelungischen Welt befinden. Sie sind Teil eines unzugänglichen heroischen Raumes und konstruieren somit an sich das Heroische mit. Das ist in der skandinavischen Nibelungenüberlieferung nicht unbedingt der Fall. Mythische Einflüsse spielen hier eine viel größere und auch handlungstragendere Rolle als im südgermanischen Konterpart.40 Götter- und Mythenfiguren greifen in das Geschehen ein und die Handlung selbst wird durch magische Mittel beeinflusst und vorangetrieben. Nicht zuletzt sind die Völsungen selbst ein mythisches Geschlecht und wurzeln durch ihre Abstammung in der Welt der Götter. Deswegen scheint es mir ratsam, diesen Aspekt von dem des Heroischen abzutrennen und ihn als einzelne Kategorie zu untersuchen, die auf die narrativen Strategien der skandinavischen Heldendichtung einwirkt und ihre Färbung hinterlässt. Das vorliegende Buch untersucht heroische, höfische und mythische Erzählmuster. Heldensage ist kein stabiles Konzept, sondern ist an sich konstanten Veränderungen unterworfen.41 Diese Einflüsse führten zu einer hybridisierten literarischen Form von Heldensage im 13. Jahrhundert, deren stilistische Ausprägungen wir im Folgenden beleuchten werden. Dabei wird es vor allem darum gehen, wie die zeitgenössischen Verfasser ihre Textwelt präsentieren, nach welchen inneren Regeln sie diese glaubhaft machen42 und wie sie dabei mit den Gattungskonventionen ihres Genres43 umgehen.  

des eddischen Heldenliederteils sammelt, der mythische Wesen, Götter, Walküren und Ähnliches beschreibt (vgl. Hallberg 1986, S. 213–247 und vor allem S. 243 für eine Tabelle). 40 Vgl. zur Völsunga saga Lionarons 1998, S. 52: „One important result of the saga’s characteristically ‚blurred‘ chronotope is the absence of any firm distinction in the saga between the historic and the mythic, and thus between the natural and the supernatural.“ 41 Vgl. Millet 2008, S. v: „In den mittelalterlichen Literaturen […] nimmt die Heldendichtung einen herausragenden Platz ein […] dank ihrer Fähigkeit, sich an sehr unterschiedliche Räume, Zeiten, Gattungstraditionen und Publikumserwartungen anzupassen.“ 42 Vgl. Sprenger 1992, S. x: „Jedes Hörerpublikum hat einen bestimmten Erwartungshorizont, und dieser ist entsprechend den historisch-soziologisch bedingten Gegebenheiten verschieden. Der jeweilige Gestalter aber muß diesen Erwartungshorizont berücksichtigen und seinen Stoff entsprechend gestalten.“ 43 Vgl. Torfi Tulinius 2000, S. 250: „Indeed, genres are an important element in the communication between authors and readers, since generic markers tell the reader into what kind of world he is being led and – in consequence – how he is to interpret the work“. Vgl. auch Todorov 1972, S. 7: „Literarische Werke auf ihre Gattung hin zu untersuchen, ist ein Unternehmen für sich. Es kann uns nicht um das Spezifische einzelner Werke gehen, sondern wir müssen die Regeln aufdecken, die in mehreren Texten zu 













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1. Einleitung

Dieses Buch stellt die Frage nach dem literarisch-ästhetischen Konzept hinter dem völsungischen Weltentwurf.

1.3 Wie dieses Buch zu lesen ist Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine textimmanente Untersuchung, um eine Tiefenbohrung in den Text. Ich arbeite deswegen mit sehr vielen Textbelegen, da es mir auf die exakte Darstellung des Erzählten ankommt. Dieses Buch behandelt altnordische und mittelhochdeutsche Literatur und soll ein interdisziplinäres Publikum ansprechen. Ich habe mich also der allgemeinen flüssigen Lesbarkeit wegen dazu entschieden, die Übersetzungen der mittelalterlichen Texte in den Fließtext aufzunehmen und die Originalbelegstellen in die Fußnoten zu verschieben.44 Damit

gleich wirksam sind“. Ich stelle dahingehend die Frage, was das Korpus über die altnordische Nibelungendichtung aussagt, anstatt einzelne Werke zu analysieren. 44 Ich kürze das Nibelungenlied mit ‚Nl‘ ab. Die Abkürzungen für die Heldenlieder sind gänzlich die der Ausgabe von Gustav Neckel und Hans Kuhn (vgl. Neckel/Kuhn 1983). Die Völsunga saga kürze ich durchgängig mit ‚Vs‘ ab, die Texte der Snorra Edda mit ‚Gylf‘ für die Gylfaginning, mit ‚Sskm‘ für die Skáldskaparmál oder generell mit ‚SnE‘. Für andere altnordische Prosatexte benutze ich ansonsten die Siglen aus dem Register des ‚Ordbok over det norrøne prosasprog‘ (vgl. Degnbol et al. 1989–2004). Die Zahl hinter der Abkürzung markiert das Kapitel oder die Strophe. Ich zitiere die Völsunga saga und die Ragnars saga nach der Edition von Magnus Olsen (vgl. Olsen 1906–1908) und die Heldenlieder nach der von Neckel und Kuhn (vgl. Neckel/Kuhn 1983). Die Snorra Edda zitiere ich nach Faulkes 1982 bzw. 1998, die Þiðreks saga nach der Edition von Henrik Bertelsen (vgl. Bertelsen 1905–1911) und den Nornagests þáttr nach Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860. Isländische Sagaliteratur entnehme ich den Editionen von Einar Ólafur Sveinsson 1954 (Nj), Guðni Jónsson 1936 (Gr) sowie Boer 1888 (Ǫrv), Kristian Kålund (Stu; vgl. Kålund 1906–1911), Sigurður Nordal (Orkn; vgl. Nordal 1913–1916), Ólafur Halldórson 1987 (Fær), Wilhelm Ranisch (Gautr; vgl. Ranisch 1900), Carl af Petersens (Jvs 291; vgl. af Petersens 1882) und Finnur Jónsson 1886–1888 (Eg), 1903 (Gísl), 1904 (Hrólf) und 1932 (ÓTOdd). Von Letzterem stammen auch die Editionen von Snorris Heimskringla (vgl. Finnur Jónsson 1983–1901) sowie der Skaldendichtung (vgl. Finnur Jónsson 1912). Als Übersetzung für die Völsunga saga, Ragnars saga, den Nornagests þáttr und die Hrólfs saga kraka verwende ich die nach meinem Dafürhalten sehr genaue Übertragung von Paul Herrmann, ‚Isländische Heldenromane‘ (vgl. Herrmann 1923). Auch für weitere isländische (Saga-)Literatur verwende ich zumeist die Übersetzungen der Thuleausgaben (vgl. Baetke 1966 – Orkn, Erichsen 1924 – Þiðr, Genzmer/Heusler 1920 – Edda. Erster Band. Heldendichtung, Genzmer 1920 – Edda. Zweiter Band. Götterdichtung und Spruchdichtung, Heusler 1914 – Nj, Niedner 1963 und 1965 – Eg und Hkr). Weitere Sagaübersetzungen stammen von Hubert Seelow (Gr; vgl. Seelow 1974) und Ulrike Strerath-Bolz (Ǫrv und Ásm; vgl. Strerath-Bolz 1997). Die Übersetzungen der Eddas – Liederedda und Snorra Edda – sind die von Arnulf Krause (vgl. Krause 1997 und 2004). Für das Nibelungenlied benutze ich die Edition und Übertragung von Helmut Brackert (vgl. Brackert 2004), für weitere mittelhochdeutsche Werke die von Thomas Cramer (Iwein und Erec; vgl. Cramer 2001 bzw. 2005), Rüdiger Krohn (Tristan; vgl. Krohn 2006), Hermann Paul und Burghart Wachinger (Gregorius; vgl. Paul/Wachinger 2004) und Wolfgang Spiewok (Parzival; vgl. Spiewok 2000). Da es nicht im Zentrum meiner Untersuchungen steht, gehe ich auf Unterschiede in den Handschriftenfassungen des Nibelungenliedes nicht ein. Die Gesta Danorum sind zitiert nach der Ausgabe von Olrik und Ræder 1931 und die Übersetzung ist die von  















1.3 Wie dieses Buch zu lesen ist

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einhergehend verwende ich zumeist die eingedeutschten Namen der Figuren, etwa ‚Sigurd‘ statt ‚Sigurðr‘. Wenn ich von Siegfried (Sîvrit) statt von Sigurd spreche, dann meine ich die Figur des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes. Es geht dieser Untersuchung nicht darum, die stilistischen Merkmale eines einzelnen Textes zu untersuchen, sondern die des zuvor besprochenen Völsungenkorpus des skandinavischen 13. Jahrhunderts. Die verschiedenen Quellen werden dabei aber nicht als Gesamtnarrativ betrachtet, sondern als eigenständige Werke. Der Sigurd des jeweiligen Heldenliedes ist nicht der Sigurd der Völsunga saga, noch der der Þiðreks saga. Andererseits erzählt mittelalterliche Literatur auch nicht wie die heutige dahingehend kohärent, dass der Sigurd des einen Kapitels der Völsunga saga zwingend der des nächsten Kapitels der Saga sein muss. Untersucht werden Heldenbilder und Weltmodelle im Text und über den Text hinaus. Ich werde vergleichen und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede in der heroischen, höfischen und mythischen Konstituierung der Erzählungen aufzeigen. Als Vergleichsgröße bediene ich mich bisweilen auch der zentraleuropäischen Literatur, nämlich des Nibelungenliedes, allerdings auch der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung, die exemplarisch höfische Modelle vorzeichnet, welche wir auch in der skandinavischen Heldendichtung angedacht finden. Mein Textkorpus behandle ich nicht chronologisch, sondern anhand unterschiedlicher Themenkomplexe, weswegen ich auch größtenteils auf Nacherzählungen der Primärliteratur verzichte. Wenn eine Textstelle unter mehreren Gesichtspunkten angesprochen werden muss, lassen sich also gewisse Redundanzen nicht vermeiden. Ich bespreche nun noch kurz mein Vorgehen in den jeweiligen Einzelkapiteln: Das zweite Kapitel – das erste nach der Einleitung – dient dazu, mein Vokabular mit dem des Lesers zu synchronisieren und mich mit ihm darüber zu einigen, worüber ich überhaupt spreche. Untersuchungen zur Heldensage, dem höfischen Roman und dem Mythos sind zahlreich. Ich führe einige Definitionen zu den Begriffen ‚heroisch‘, ‚höfisch‘ und ‚mythisch‘ auf und spreche über die Auffassung der Forschung von der Figur des Helden. Diesen stelle ich in Abgrenzung zum Protagonisten des höfischen Romans, dem Ritter, und dem Heros, dem mythischen Helden. Ich beginne dann bereits die Heldenkonzepte der Völsungensage zu den aufgeführten Definitionen in Relation zu setzen. Einige dieser Begriffe bleiben vage und es wird bald deutlich, dass wenn man sich mit diesen Arten von Erzählstrategien befasst, man es nur allzu oft mit Tendenzen denn mit konkreten Grenzen zu tun hat. Die Übergänge von Gattungstraditionen und stilistischen Kategorien bleiben fließend.45 Neben heroischen und  





Herrmann 1901. Sollte ich einmal der Meinung sein, dass die jeweilige Übersetzung das Original nicht konkret genug wiedergibt, so übersetze ich die Stelle selbst. Das ist dann aber in den Fußnoten ausgezeichnet. 45 Vgl. Schulz 2015, S. 4 f.: „Der Grundgedanke ist hier, daß – auch wenn Gattungen immer nur idealtypische Rekonstruktionen sein können – Erzählformen und Menschenbilder im Mittelalter immer auch gattungsabhängig sind.“  







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1. Einleitung

höfischen Inszenierungsmethoden spreche ich außerdem über das dichotome Raumkonzept der Völsungensage und über heroische und mythische Zeitvorstellungen. Im dritten Kapitel behandle ich die mythische Konstituierung von Völsungengeschlecht und -welt. Es geht um die mythischen Hintergründe der Sippe und darum, wie sie extern von Vertretern der anderen Welt aufgebaut werden. Letztere sind Götter – allen voran der Gott Odin – und götterähnliche Gestalten, wie etwa Walküren. Die Funktion dieser Figuren ist ambivalent und bald wirken sie hilfreich, bald schädlich auf den Fortbestand der Völsungen ein. Das Kapitel bespricht ferner, wie authentisch diese mythischen Elemente überhaupt in der Heldensage sind. Oft wurde nämlich die Meinung vertreten, dass es sich um nichtgenuine Beifügungen als Resultat der späten Bearbeitung des Sagenmaterials handelt. Dass das in vielen Fällen nur auf den ersten Blick zutrifft, versuche ich zu zeigen. Das Hauptaugenmerk bleibt jedoch auf dem erzählerischen Aspekt der respektiven Elemente. Es wird nicht der religionsgeschichtliche Hintergrund untersucht, sondern wie der Mythos als literarisches Mittel benutzt wird. Das vierte Kapitel stellt die zwei prominenten völsungischen Heldenfiguren der Völsunga saga, Sigurd und Sinfjötli, gegenüber und beschäftigt sich mit ihrer jeweiligen Figurenzeichnung. Obwohl es sich um zwei prototypische Helden der skandinavischen Heldendichtung handelt, könnten die beiden Figuren doch unterschiedlicher nicht sein. Gerade in Hinsicht darauf, wie sie innerhalb ihrer Welt zum Helden gemacht werden, zeige ich die Möglichkeiten auf, mit denen die Texte ihre heroische oder höfische Ausprägung formulieren. Zusätzlich gehe ich auf die Ideen vor allem Lili Weisers und Otto Höflers ein, dass sich hinter Sinfjötlis eigentümlich anmutenden Jugendjahren die trümmerhafte Überlieferung eines Initiations- oder Weiheritus verbirgt und beschäftige mich mit der ungreifbaren Natur des ‚größten germanischen‘ Helden Sigurd. Im fünften Kapitel beschreibe ich die Infrastruktur der völsungischen Welt. Ich spreche über Herrschaftsmodelle, politisches Miteinander und den fürstlichen Alltag. Dabei behandle ich die Figur Sigurds als Machtfaktor in der völsungischen Welt, der sein Umfeld gerade auf Grund der Unklarheit, die er mit sich bringt, destabilisiert. Die Diskrepanz zwischen heroischer Kraft und der Hierarchie der Helden erzeugt ein Ungleichgewicht in ihrer Welt, das diese letztlich im Chaos versinken lässt. Als solche steuert die Heldendichtung auf den Untergang ihrer Figuren hin. Sie ist untergangsorientiert und endet mit der Zerstörung der Helden und der Textgesellschaft. Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit den Regungen und Reaktionen der Figuren, wenn die Anzeichen der Vernichtung offenbar werden. In Trauer- und Racheakten finden wir höfische und heroische Manierismen, die die Figuren zeigen, wenn die Schlinge beginnt sich enger zu ziehen. Doch sind es zumeist genau diese Reaktionen auf Verlust und Schande, die innerhalb des Heroenkosmos den Untergang nicht nur nicht verhindern, sondern auch noch beschleunigen. Dass der Untergang unausweichlich ist, bespricht das siebte Kapitel. Die Heldendichtung benutzt um diese Unentrinnbarkeit vor dem eigenen Ende zu verdeutlichen das Konzept des Schicksals, das als unumgängliche Macht über den Erzählungen der Völsungensage schwebt. Doch die Figuren selbst sind schicksalsergeben und konstruieren gerade durch diese  



1.3 Wie dieses Buch zu lesen ist

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Unausweichlichkeit ihres gewaltsamen Endes ihr eigenes heroisches Spektakel. Der zweite Teil des siebten Kapitels thematisiert die letzte Station der Heldenbiographie: den Heldentod. Das achte und letzte Kapitel schließlich bespricht die Ergebnisse dieses Bandes und fasst die unter den Begriffen ‚heroisch‘, ‚höfisch‘ und ‚mythisch‘ subsumierten Erzählelemente noch einmal zusammen. Dabei werde ich darauf eingehen, wie diese Kategorien aufeinander einwirken, welche Funktion diese Elemente innerhalb der Erzählungen haben, wie das Gesamtprodukt einer so durchwirkten Dichtung aussieht und was denn nun die Alterität der völsungischen Welt ausmacht, die zu erfassen so ausgesprochen schwer fällt.

2. Figuren- und Gattungstypen 2.1 Heroisch 2.1.1 Der Held Das Bedürfnis, Geschichten von Helden zu erzählen, Heldensage zu erschaffen und zu rezipieren, ist ein universelles Phänomen: „Heldensage ist eine literarische Erscheinung aller Völker und aller Zeiten.“1 Sich den Begriffen des Helden oder der Heldensage zu nähern, ist allerdings nicht einfach. Beide erhielten ihren Namen von der modernen Literaturwissenschaft und nicht von den zeitgenössischen Verfassern2 oder Rezipienten.3 Das ist etwas, das wir uns gar nicht genug vor Augen führen können. Unsere Vorstellung von dem, was wir ‚Held‘ nennen, ist nämlich durch die moderne Semantik des Wortes vorbelastet. Wenn wir von einem Helden sprechen, dann meinen wir eine positive, eben eine heldenhafte Figur. Das kann unser moderner Buchoder Filmheld sein, es kann aber auch jemand gemeint sein, der eine besondere soziale Leistung erbringt. Jener, der einer gemeinnützigen Organisation spendet, ist ein Held, ebenso wie der, der der alten Dame über die Straße hilft oder von dem die Boulevardzeitung berichtet, er habe einen Welpen vor dem Ertrinken gerettet. Jener, der durch Training, Veranlagung oder Zufall eine ganz besondere Leistung vollbracht hat, der ist für uns heldenhaft. Das kann vom allgemein Interessanten bis in die persönliche Ebene reichen. Ein Held ist der, der bei der Fußballmeisterschaft in der letzten Minute das Entscheidungstor schießt oder der, dem es als Einzigem gelungen ist, die XXL-Riesenportion im Restaurant ganz aufzuessen. Ein Held ist der, der in einem gewissen Rahmen Außergewöhnliches schafft, der aber auch ein Auge für das Schutzund Hilfsbedürftige – eine soziale Ader – hat. Ein Held ist jener, der dem entspricht,  



1 Uecker 1972, S. 3. 2 Die Verfasser der Heldendichtung sind unbekannt. Diese Anonymität ist kein Zufall, sondern Gattungsmerkmal heroischen Erzählens. Wohingegen sich der Autor im höfischen Roman selbst nennt und bisweilen auch individuell und wertend die Romanhandlung kommentiert, tritt in der Heldendichtung der Verfasser zurück. Vgl. Weddige 2008, S. 238: „Anonymität des Autors ist für die gesamte germanische und deutsche Heldendichtung […] die Regel, während sich die Verfasser der Artusromane […] mit Namen nennen. Ein Hartmann von Aue, ein Wolfram von Eschenbach dürfen künstlerisches Selbstbewußtsein zeigen. Sie nennen sich oder sie werden von einem Publikum, das ihnen dichterische Eigenleistung zubilligt, genannt. Mit dem Namen tritt der einzelne hervor. Namenlosigkeit verweist auf ein ‚überindividuelles‘ Bewußtsein. Die Geschichten von Siegfrieds Tod und vom Untergang der Burgunden waren seit Jahrhunderten im Umlauf; der Dichter des Nibelungenliedes sieht sich als Erben dieser Tradition, wenn er die alten maeren neu erzählt. Kollektives Traditionsbewußtsein gilt mehr als individuelles Kunstbewußtsein.“ 3 Vgl. von See 1971, S. 10: „Der Terminus ‚Heldensage‘ ist […] ein jüngeres Kunstwort.“ Vgl. ferner von See 1981 [1978], S. 154–155. Vgl. zur Problematik der Terminologie von Helden- und Artusdichtung Rupp 1960, S. 12–25.  









https://doi.org/10.1515/9783110649796-002

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2. Figuren- und Gattungstypen

was wir als moralisch gut empfinden. Der Amokschütze oder Terrorist, dem es gelungen ist, besonders vielen Menschen Schaden zuzufügen – der also auf jeden Fall zumindest Auffälliges geleistet hat –, der ist für uns kein Held, weil er eben letztem Kriterium nicht entspricht. Er ist für den größten Teil der Allgemeinheit kein guter Mensch, kein Vorbild. Man will nicht so sein wie er. Held ist man auch nicht immer, sondern wird es durch eine heldenhafte Tat. Heldenhaft ist man in der Momentaufnahme, weil man eine Leistung erbracht oder eine gute Tat getan hat. Man kann allerdings öfters zum Helden werden, heldenhaft auffallen. Oft wird jener zum Helden, der zur rechten Zeit am rechten Ort war. Jener, der in einer Schlüsselsituation eine richtige Entscheidung getroffen hat. Wenn wir über die Figuren der Heldendichtung reden wollen, müssen wir uns dieses Heldenkonzept aus dem Kopf schlagen. Die Dichtung selbst spricht von ihren Protagonisten zumeist nicht als Helden und obwohl wir sie seit den Anfängen der Heldensagenforschung so nennen, haben sie mit unseren modernen Vorstellungen vom Helden wenig gemein. Auch wenn die Wörter identisch sind, bedeuten sie etwas anderes. Der heroische Protagonist, der Held der Heldensage eben, ruft dann Irritationen hervor, wenn wir ihn zu sehr mit unserer modernen Heldenauffassung bewerten. Das ist ja gar kein Held, wird dann unser vorschneller Schluss unweigerlich lauten müssen, weil wir die Grausamkeit, Ichbezogenheit und Ruhmgier des heroischen Protagonisten nicht mit unserem Heldenbild vereinbaren können. Wenn Sinfjötli seine kindlichen Halbbrüder tötet oder Gudrun ihre Söhne, wenn Siegfried Prünhilt mit Gewalt niederringen muss, damit Gunther mit ihr schlafen kann oder Hagen Siegfried von hinten niedersticht, nennen wir diese Figuren auffällige Helden. Ungewöhnliche Helden, weil sie ja eigentlich schon Helden sind, bis eben auf diese eine Tat, die wir als Verfehlung werten. Wenn wir dann aber nach den richtigen Helden der Heldensage suchen, bemerken wir, dass es nur diese Form des auffälligen Helden gibt. Der heroische Protagonist ist nicht heldenhaft. Auf jeden Fall nicht auf die Weise, die wir mit dem Begriff verbinden. Dafür ist er heldisch. Er ist heroisch. Im weiteren Sinne ist der literarische Held im modernen Sprachgebrauch der Protagonist einer Erzählung.4 Das Metzler Lexikon Literatur gibt sub voce ‚Held‘ an:  



(gr. hērōs = Tapferer, Held, Halbgott), auch: Hauptperson, Protagonist, Heros; Zentralfigur in dramatischen und epischen Texten, die als exemplarischer Handlungsträger zumeist repräsentative Funktion erfüllt und maßgeblich die Lenkung der Sympathie des Lesers beeinflusst. Dabei ist ‚H[eld]‘ kein wertneutraler Begriff, sondern die Bez. enthält noch graduell ‚heroische‘ Konnotationen aus ihrer historischen Wortbedeutung. Soweit in der heutigen Lit[eratur]wissenschaft der Begriff nicht ganz zugunsten der neutraleren Synonyme aufgegeben wird, versucht man, durch verschiedene Oppositionen das Gestaltungsspektrum des H[eld]en zu beschreiben: positiver vs. negativer H[eld]; aktiver vs. passiver H[eld]; einzelner vs. kollektiver H[eld] – Der antike und m[it 

4 Vgl. Reichert et al. 1999, S. 262: „Im Bereich des Fiktionalen, insbesondere liter. Werke trifft das [die Bezeichnung ‚Held‘] auf jede Figur zu, der eine das Geschehen, die Struktur oder die Aussage des Textes beeinflussende Rolle zukommt.“  

2.1 Heroisch

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tel]al[terliche] Heroenkult profiliert v. a. den bewunderungswürdigen und tugendhaften H[eld]en, dessen vorbildhafte Disposition ihre Wirkung bis in die Neuzeit entfaltet.5  

Den Helden umgibt eine Aura des Idealen, die dem Protagonisten fehlt. Zum Protagonisten ebenfalls das Metzler Lexikon Literatur: Im heutigen Sprachgebrauch wird mit ‚P[rotagonist]‘ a) allg. eine aus einer Gruppe durch Aktivität und hohen Bekanntheitsgrad herausragende Person bezeichnet […]. – b) Im engeren Sinn ist ‚P[rotagonist]‘ die im Vergleich zu ‚Held‘ neutralere Bez. für die Hauptfigur eines Dramas, Hörspiels oder Films oder auch eines erzählenden Textes. Im Ggs. zur antiken Bedeutung […] kann ‚P[rotagonist]‘ jedoch heute auch im Pl. für die Gruppe der Hauptakteure in fiktionalen Texten verwendet werden.6  

Wenn wir im Folgenden vom Helden sprechen, dann bezieht sich das auf den Protagonisten der heroischen Dichtung und auf Figuren, auf die die Merkmale heroischen Erzählens zutreffen. Die hier untersuchten Texte sind noch davon entfernt, ihre Protagonisten Charaktere im eigentlichen Sinne sein zu lassen. Sie sind stattdessen Figuren, die nur über Ansätze vielschichtiger psychologischer Tiefe verfügen und die Rollen innerhalb einer Erzählung einnehmen.7 Statt ganzheitlicher Personen sind sie „Hand-

5 Immer 2007, S. 308 f. 6 Kühnel/Burdorf 2007, S. 616. 7 Vgl. Schneider/Mohr 1961, S. 13: „Die Kennzeichnung der Menschen versteigt sich nirgends zu einer farbigen Charakteristik; das Individuum ist noch unentdeckt, aber der Typus wird ungemein plastisch, bis in völkerunterscheidende Züge hinein.“ Vgl. weiterhin Schulz 2015, S. 10: „Wir erhalten vom Text nicht die Person selbst, die die Figur darstellen soll, sondern eine begrenzte Reihe von Merkmalen, die stellvertretend für das ‚Gesamt‘ dieser fiktiven Person stehen.“ Vgl. Grimstad 2000, S. 57: „Because the roots of their development lie in the oral tradition, characters in the sagas tend to be stock types culled from the repertory of Nordic myth and legend, cast in such standard dramatic roles as hero, villain, helper, tester, heroine etc.“ Vgl. Neumann 1924, S. 140 f.: „Das Wort ‚Charakter‘ bringt nur allzu leicht einen neuzeitlichen Sinn in das Mittelalter hinein. Versteht man unter dem Charakter eines Menschen die ihm allein zugehörige, die einzigartige Ausprägung seiner Natur, so wird man an den Gestalten aller mittelalterlichen Großerzählungen, mithin auch an den Gestalten stilreiner Ritterromane die Kennzeichen echten Charakters oft vermissen. […] Der mittelalterliche Dichter will nicht zeigen, wie sich ein Mensch in seiner besonderen Umwelt mit seiner besonderen Anlage zu einer eigenwilligen Natur formt. Er geht aus von einem ganz unindividuellen Musterbild menschlicher Lebensart etwa dem überwirklichen Musterbild des Heiligen oder des Ritters. Solch eine Wunschgestalt baut sich in der Vereinigung einer Reihe von Tugenden auf. […] Man will nicht den einzigartigen Menschen, sondern Verwirklichung eines Vorbildes: man will den ‚Typus‘.“ Vgl. Heusler 1929, S. 143: „[…], wenn wir bedenken, daß die mittelalterlichen Erzähler anders dichten als Ibsen. Sie gehen – Ausnahmen vorbehalten – nicht vom Menschenbild aus und leiten von ihm möglichst folgerecht ab, was geredet und getan wird. Das erste für sie ist das Geschehen, die großen und kleinen Glieder der Fabel; dies suchen sie angemessen zu verteilen auf vorhandene oder eigens zu erfindende Träger. Die Rolle prägt den Kopf.“ Vgl. allerdings auch Wahl Armstrong 1979, bes. S. 1–26, die in ihrer Untersuchung zu Rollen und Charakteren im Nibelungenlied zeigt, dass die Figuren durchaus über Ansätze individualistischer Züge verfügen. Obschon sie vor allem „als handelnde Menschen, also mittelbar durch ihr Tun und Verhalten [ge]kennzeichnet“ (Wahl Armstrong 1979,  























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2. Figuren- und Gattungstypen

lungsträger“.8 Die Frage nach einer echten Mentalität des Helden und danach, was er ‚denkt‘ und was ihn bewegt, ist unter diesem Gesichtspunkt nicht nur nicht zu beantworten, sondern wäre auch unter den falschen Voraussetzungen gestellt. Stattdessen müssen wir uns fragen, wie die Handlung der Erzählung durch das den Figuren auferlegte Verhalten modifiziert wird und nach welchen Modellen und Gattungstraditionen die Verfasser sie konzipieren.9 Der heroisch gefärbte Held verhält sich anders als der höfische. Ein Grundproblem der Frage, was denn ein Held sei, ist, dass sich im Gegensatz zum höfischen Roman, in dem sich der Protagonist selbst als Ritter wahrnimmt und bezeichnet sowie den Bedeutungskomplex beschreibt, der diesem Begriff anhaftet, es im heroischen Erzählen überhaupt nicht zu solchen Selbstaussagen der Figuren kommt. Die Protagonisten des heroischen Erzählens reflektieren nicht über ihre Natur, sondern handeln einfach.10 Die Bezeichnung des Helden bekommen sie durch den Rezipienten aufgedrückt. Hermann Reichert erklärt, dass dem Begriff ‚Held‘ nicht von Anfang an die Aura des Herausragenden und Exorbitanten anhaftet: In der as. Stabreimdichtung […] ist das Appellativ helið reich bezeugt […]. Die Bedeutung ist hier ‚Mann‘, bisweilen auch generell ‚Mensch‘. Bedeutungskomponenten, die […] auf außergewöhnliche Eigenschaften (Kampfkraft, Mut, Tapferkeit) und hervorragende Leistungen weisen würden, sind nicht nachweisbar, so daß die Bedeutungsangabe ‚Held‘ vieler Wb. nicht zu rechtfertigen ist. Erst für die mhd. Zeit liegen Belege dafür vor, daß allein durch das Wort helt […] der heroische Ausnahmemensch bezeichnet wird, sei es auf kriegerischem Gebiet […] oder im vorbildlichen Verhalten vor Gott.11

Gerade dass die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes nur einen beliebigen Menschen beschreibt, passt zur fehlenden Innenschau der Figuren des heroischen Erzählens. Diese Figuren haben nämlich nicht das Bedürfnis, sich selbst zu beschreiben oder zu benennen, noch sich irgendeinem Stand oder einer Schicht zuzuordnen. Auf Grund seiner Wortkargheit neigt das heroische Erzählen dazu, introspektivische Figurenwahrnehmung nahezu vollständig auszusparen, was den kalten Charme ausmacht, der von den Figuren der Heldensage ausgeht. Diese gerieren sich – mit den  

S. 5) seien, paare sich in ihnen doch „Rollenhaft-Funktionales und Charakterhaft-Individuelles“ (Wahl Armstrong 1979, S. 7). 8 Schulz 2015, S. 12. 9 Dementsprechend fragt Andreas Heusler: „welche Aufgabe stellt der Dichter diesen kriegeradligen Menschen?“ (Heusler 1969 [1934], S. 171). 10 Über die fehlende Selbstreflexion der Helden, speziell im Nibelungenlied, vgl. Bumke 1990, S. 199: „Der Nibelungendichter hat seine Gestalten nicht über ihre Handlungsweise reflektieren lassen, wie es in der höfischen Epik üblich war. Das hat zur Folge, daß seine Figuren wie aus Holz geschnitzt wirken und wie unter Zwang zu handeln scheinen.“ 11 Reichert et al. 1999, S. 260.  











2.1 Heroisch

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Worten Goethes – als „eherne Wesen[, die] nur durch und für sich existiren“.12 Erst ihr ungewöhnliches Handeln verleiht den Helden ihre Besonderheit. Heiko Uecker sagt über den Typus des Helden:  

der Held verfügt über Eigenschaften, die ihn dazu befähigen, sichtbar zu machen, was dem Menschen möglich ist. Da er größere körperliche und geistige Gaben besitzt, kann er Taten vollbringen, die jeden anderen verwehrt sind. Diese Kräfte hat er mitunter, weil er göttlicher Abstammung ist. Mehr als nach allem anderen strebt der Held nach Ehre, nicht nur nach seiner persönlichen, sondern auch nach der der Familie und der Nachkommen. Deswegen erwirbt er das Lob der nachfolgenden Generationen: den Ruhm. Der Held endet meistens tragisch […], da ihn sein heroisches Temperament daran hindert, sich freiwillig einer stärkeren Macht zu unterwerfen. Die Tragik seines Unterganges […] wird durch seine Vorbildhaftigkeit gemildert.13

Uecker betont die Exorbitanz des Helden, der durch seine Fähigkeiten und seine Taten die Grenzen des Menschenmöglichen überschreitet. Kennzeichnend für den heroischen Protagonisten ist weiterhin, dass seine Geschichte zumeist tragisch endet. Ebenso ist die Mentalität der Figur auf ihr drohendes Ende zugeschnitten. Der Held sucht ab einem bestimmten Punkt der Erzählung den Tod und steuert absichtlich darauf zu. Unterzugehen und dabei den Tod zu finden, schmälert den Helden allerdings nicht: Als Held gilt in der Heldensage der hervorragende Mann, der sich einer Herausforderung, in welcher es um Leben und Tod geht, gestellt, und der dabei außergewöhnliche Kraft, Standfestigkeit und bewundernswerten Mut bewiesen hat. Konfliktsituationen, in welcher Treue und Verrat, Beleidigung und Rache die Hauptrolle spielen, führen zum Kampf, der mit Sieg oder Untergang endet. Der Held muß keineswegs immer siegreich sein, aber freiwillig unterwirft er sich keiner stärkeren Macht – ein geschlagener Held überlebt nicht.14  

Die Ethik der Heldensage „besteht in der Verteidigung der Ehre um jeden Preis, auch um den des Lebens.“15 Heldendichtung wurde rezipiert im Umfeld der kriegerischen Gefolgschaft eines Fürsten und propagiert – als Gefolgschaftsdichtung16 – die Ideale und Tugenden der Vertreter der martialischen und agonalen Gesellschaft des Altertums. Die Werte des Protagonisten heroischen Erzählens sind vor allem kämpferisch:  



12 Goethe 1987, S. 400. 13 Uecker 1972, S. 3. 14 Weddige 2008, S. 213. 15 Uecker 1972, S. 17. 16 Vgl. de Vries 1961 [1956], S. 396: „in der Völkerwanderungszeit lebten sie [die Vortragenden heroischer Dichtung] an den adligen Höfen und trugen die Lieder beim lärmenden Gastmahl der Gefolgschaft vor.“ Vgl. Heusler 1929, S. 17: „Es war die Dichtung eines Kriegers für Krieger“. Vgl. Schröder 1939, S. 352.  













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2. Figuren- und Gattungstypen

In einer auf Kampf basierenden Ges. müssen ideale Eigenschaften notwendigerweise mit einem kriegerischen Mannesideal verbunden sein. Mit und seit Notker III. wird mit dem Wort ‚Tugend‘ lat. virtus ‚Mannheit, Mannhaftigkeit; Tüchtigkeit; Kraft, Stärke; Tapferkeit; Mut‘ wiedergegeben. So nimmt es nicht wunder, daß die im Heldenlied […] angesprochenen T[ugenden], wie Standhaftigkeit, Todesverachtung, Mut und Kraft, mit dem siegreichen Kampf zu tun haben.17

Hermann Reichert filtert aus dem Hildebrandslied folgende Kämpfertugenden für die germanische Heldensage heraus: „Treue zum Gefolgsherrn, die höher steht als der Schutz von Ehefrau und Kind […]; Freude am Kampf […]; früher Heldentod.“18 Der Held, anders als der Protagonist des höfischen Romans, unterliegt am Ende. Seine Idealität beweist sich nicht durch seine konstante Ungeschlagenheit, sondern dadurch, mit welcher Mentalität er dem Tod begegnet und dass er den ruhmreichen Tod einem Leben in Unehre vorzieht. Die Tugenden des Helden sind frei von Vorschriften für das gesellschaftliche Leben. Eine Koexistenz mit Schwächeren ist nicht vorgesehen. Seine Ideale beschreiben ausschließlich sein standhaftes Verhalten in Krisensituationen. Der einzige gesellschaftliche Bezug, den der Held nach seinem Tugendsystem hat, ist der zu seinem Fürsten, dem er Treue bis in den Tod schuldet.19 Die Figuren

17 Ernst 2006, S. 324. 18 Reichert 2001, S. 221 f. 19 Vgl. Reichert 2001, S. 221: „‚Treue‘ wird [ab der Merowingerzeit] in der Ges[ellschaft]sordnung vollends ein Rechtsterminus; liter. bleibt sie hingegen eine moralische Größe und Teil des M[annesideal]s. Das erweckt den Eindruck, die Moral werde in der Lit. manipulativ zugunsten der Herrschaft eingesetzt.“ Dass heroisches Erzählen eingesetzt wurde, um die Anforderungen der agonalen Gesellschaft an ihre Vertreter durchzusetzen, ist allerdings nicht nur für das Altertum wahr. Auch im 20. Jahrhundert wurden Ideen der Heldendichtung für propagandistische Zwecke verwendet, da die ‚Nibelungentreue‘, am historischen Vorabend des ersten Weltkrieges von Reichskanzler Fürst Bülow zum Ideal gemacht wurde (Die Rede im Reichstag vom 29. März 1909. Es muss allerdings erwähnt werden, dass der Kontext der zitierten Nibelungentreue ein weitaus friedlicherer ist, als es vielleicht in den Rezeptionen den Anschein macht: „Es gibt hier [im Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn] keinen Streit um den Vortritt wie zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenliede; aber die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten […], die wollen wir gegenseitig wahren. […] Meine Herren, damit aber ängstlichen Gemütern nicht Bilder blutigen Kampfes emporsteigen, beeile ich mich, hinzuzufügen, daß ich gerade in unserem festen Zusammenstehen mit Österreich-Ungarn eine eminente Friedenssicherung erblicke“, Behnen 1977, S. 433). Und auch Göring forderte das deutsche Volk in seiner Rede zum zehnten Jahrestag von Hitlers Machtergreifung auf, zu kämpfen wie die Nibelungen angesichts der Niederlagen an der Ostfront bei Stalingrad: „Und aus all diesen Kämpfen ragt nun gleich einem gewaltigen, monumentalen Bau Stalingrad, der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird dies einmal der größte Heroenkampf gewesen sein, der sich jemals in unserer Geschichte abgespielt hat […] – wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß ‚Der Kampf der Nibelungen‘. Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber kämpften und kämpften bis zum letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und jeder Deutsche noch in tausend Jahren muß mit heiligen Schauern das Wort Stalingrad aussprechen und sich erinnern, daß dort Deutschland letzten Endes doch den Stempel zum Endsieg gesetzt hat!“ (die Transkription von Görings Rede ist abgedruckt bei Krüger 1991, S. 170 ff., die zitierte Stelle S. 180). Die Verwendung todesverachtender Ideale innerhalb der Kriegspropaganda ist allerdings kein ausschließ 





















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des heroischen Erzählens sind maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der archaischen Kriegergesellschaft.20 In ihnen steckt das Sinnbild des idealen Gefolgsmannes. Hermann Reichert differenziert allerdings sehr richtig: „Was den Begriff ‚Ideal‘ betrifft, kann er als Gegensatz zu ‚Realität‘ konzipiert sein und Forderungen enthalten, die nicht erfüllbar sind (außer in der Spiegelung liter[arischer] Figuren), oder als Forderungskatalog, den nicht zu erfüllen Schande oder gar Ausschluß aus der Ges[ellschaft] bedeutet“.21 Klaus von See erklärt, „daß man für die weite Verbreitung der Heldensage unter den germanischen Stämmen nicht so sehr eine Gemeinsamkeit des Interesses an gewissen historischen Ereignissen verantwortlich machen kann als vielmehr eine Gemeinsamkeit der Gesinnung, eine Gemeinsamkeit der Einstellung zu einem bestimmten Menschenbild.“22 In der Heldensage soll folglich ein bestimmtes Idealbild transportiert werden, das – freilich und ähnlich wie im höfischen Roman – nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern vielmehr ein Wunsch- und Vorbild des zeitgenössischen Kriegeradels widerspiegelt. Das Hauptbestreben des Helden scheint es zu sein, Ruhm in der Nachwelt zu erlangen. Seine Taten – obgleich bisweilen schrecklich – sollen exemplarisch voran stehen und in Erinnerung bleiben. Felix Genzmer spricht in seiner Übersetzung der Hávamál von „[d]es Toten Tatenruhm“.23 Eine mächtige Formulierung, die in der Ideologie des Dritten Reiches zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Das alte Sittengedicht24 widmet zwei Strophen dem Ruhm, den man sich nach seinem Ableben erhält. Dementsprechend wird zu den Völsungen in der Völsunga saga gesagt: „und doch waren alle gewaltige Helden, wie es lange im Gedächtnis festgehalten und laut gepriesen ist, welch’ überaus kampflustige Männer die Völsunge gewe 







lich deutsches Phänomen. Gerade zu Ende des zweiten Weltkrieges erfuhr die lebensverachtende Kriegerphilosophie des Bushido – des Weges der Samurai – eine Renaissance. Auf diese Weise wurden die japanischen Kamikazeflieger indoktriniert und aufgefordert ihr Leben beim Luftangriff zu lassen. An anderer Stelle schreibt Hermann Reichert: „Die Merkmale des Heldischen entsprechen einander auch in weit entfernten Kulturen so sehr, daß wir sie als über Raum und Zeit hinweggreifende Konstante ansehen“ (Reichert et al. 1999, S. 262). Ebenso zahlreich sind wohl die Gelegenheiten zu Manipulation und Missbrauch, die die martialisch verklärte Atmosphäre des heldischen Erzählens bietet. 20 Kaaren Grimstad spricht von „Model performances“ (Grimstad 2000, S. 20), die die „codes of conduct“ (Grimstad 2000, S. 20) der Rezipientenschaft konsolidieren sollten. 21 Reichert 2001, S. 215. 22 von See 1971, S. 13. 23 Genzmer 1920, S. 130. Bei Genzmer Strophe 69. Die Übersetzung bezieht sich auf Háv 77: „dómr um dauðan hvern.“ Arnulf Krause übersetzt weicher und vor allem textnäher: „das Urteil über jeden Toten“ (Krause 2004, S. 50). 24 Die in den Hávamál transportierten Moralvorstellungen sind allerdings die der bäuerlichen Gesellschaft Islands und nicht die eines völkerwanderungszeitlichen Kriegeradels. Vgl. hierzu Uecker 1972, S. 17 bzw. Krause 2004, S. 33. Nichtsdestotrotz werden die Hávamál inszeniert als göttlich übermitteltes, allgemeingültiges Wissen. Es handelt sich um „eine Fülle von Weisheiten, die von praktischen Alltagstipps bis zum mythisch-magischen Geheimwissen reichen“ (Krause 2004, S. 32).  























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sen sind, deren gedacht wird in alten Geschichten“ (Vs 2).25 Über seinen Sohn Sigurd sagt Sigmund voraus: „sein Name wird im Gedächtnis fortleben, solange die Welt besteht“ (Vs 12)26 und auch Regin spricht mit identischen Worten über Sigurds Erschlagung Fafnirs: „und diese Heldentat wird im Gedächtnis fortleben, solange die Welt steht“ (Vs 18).27 In der Beschreibung Sigurds bedient sich der Erzähler selbst dieser Worte: „Und wenn alle die stärksten Kämpen und die berühmtesten Häuptlinge aufgezählt werden, da wird er stets als der erste genannt werden, und sein Name geht in allen Sprachen nördlich vom Griechischen Meer, und so wird es bleiben, so lange die Welt steht“ (Vs 23)28 sowie auch Brynhild diese Worte benutzt, da sie eine Liedstrophe rezitiert: „Sigurd fällte Fafnir, | Fortan gedenken | Wird man der Tat, | Solange die Welt steht“ (Vs 30).29 Die zur Formel gewordene Aussage findet sich auch nach Sigurds Tod wieder: „sein Name wird nimmer vergessen werden in deutscher Sprache, noch in den Nordlanden, so lange die Welt steht“ (Vs 34).30 Die Skáldskaparmál sagen: „Sigurd war der berühmteste aller Heerkönige, was Abstammung, Kraft und Mut betraf“ (Sskm 40).31 Gerade in diesen Beschreibungen, vor allem der Sigurdfigur, manifestiert sich das Heldenideal vom ewig anhaltenden Ruhm. Otto Höfler prägte den mittlerweile relativierten Satz: „Heldensage ist Heldenverehrung.“32 Er schreibt: „Das Heldenlied ist Denkmal, nicht anders als die Totenmähler der Gefallenen.“33 Ähnlich Jan de Vries: „Das ist also das Heldenideal des Kriegers: stark und tapfer zu sein, alle Gegner zu überwinden und damit das Lob nachfolgender Generationen zu erwerben.“34 Abschließend Hilkert Weddige: „Ein Held, der im Tode seine persönliche Ehre – und die seiner Gemeinschaft – gewahrt hat, lebt fort im Gedächtnis, gewinnt Ruhm bei den anderen.“35 Dem Heldenideal entspricht der Wunsch, sein Tun über das eigene Ende hinaus permanent zu machen.36 Der Tod war 





25 „ok voru þo allir mikler fyrir ser, sem lengi hefir uppi verit haft ok at agętum giort verit, hversu Volsungar hafa verit ofrkapsmenn miklir ok hafa verit fyrir flestum monnum, sem getid er í fornsaugum“. 26 „hans nafn mun uppi, medan verolldin stendr.“ 27 „ok þetta fremþarverk mun uppe, medan verolldin stendr.“ 28 „Ok þa er taldir eru allir innir sterstu kappar ok hinir agęztu hofdingiar, þa mun hann iafnan fremstr taldr, ok hans nafn gengr i aullum tungum fyrir nordan Gricklandz haf, ok sva man vera, medan verolldinn stendr.“ 29 „Sigurdr va at orme, | enn þat síþan mun | engum fyrnazt, | medan aulld lifir.“ 30 „hans nafn man alldri fyrnazt i þyverskri tungu ok a Nordrlaundum, meþan heimrinn stendr.“ 31 „Sigurðr var ágætastr allra herkonunga af ætt ok afli ok hug.“ 32 Höfler 1961 [1941], S. 62. 33 Höfler 1961 [1941], S. 63. 34 de Vries 1961, S. 243. 35 Weddige 2008, S. 213. 36 Dagegen allerdings die Relation Dean A. Millers: „We simply assume that the hero usually but very dramatically dies in the earnest hope of a kind or even a persistence close to immortality, as a name to live on in fame and glory, so we parse and analyze the sentences in which the honorific descriptions are embedded. […] In fact, fame may or may not end or celebrate the heroic parabolic life, in its furious pace and action, its stylized confrontations, and its ideal brevity, but the hero, in another of the paradoxes lin   





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tet unweigerlich auf den Helden, aber seine Taten sterben nicht mit ihm. Nur selten finden wir allerdings den Wunsch nach nachhaltigem Ruhm in den Selbstaussagen der Helden. Völsung kommentiert die Umstände seiner Geburt und seine eigene Tapferkeit: „Davon wird alle Welt rühmend reden“ (Vs 5)37 und Regin verspricht Sigurd großen Ruhm durch die Erschlagung des Drachen Fafnir (vgl. Vs 18). Dagegen finden wir die Ruhmsuche des Protagonisten im höfischen Roman gründlicher ausformuliert, etwa in der Beschreibung von Rittertum durch Kalogrenant im Iwein. Als dieser nach der Bedeutung von aventiure38 gefragt wird, antwortet er: Das will ich dir genau erklären. Sieh her, welche Rüstung ich trage. Man nennt mich Ritter, und ich habe die Absicht auszureiten auf die Suche nach einem Mann, der mit mir kämpfe und der Waffen trägt wie ich. Schlägt er mich, so bringt ihm das Ruhm, siege aber ich über ihn, so sieht man einen Helden in mir, und meine Würde wächst (Iwein 528–537).39

Der Protagonist des höfischen Romans macht im Laufe der Handlung eine Entwicklung durch. Er bringt sich selbst in Einklang mit den oft prekären Regeln der höfischen Gesellschaft, indem er seine Tugenden vervollkommnet. Der Protagonist heroischer Erzählungen hat das nicht nötig. Er ist von Anfang an bereits fertig. Es bedarf keiner Entwicklung, damit er dem Idealbild seiner Gesellschaft entspricht. Er kommt bereits nach den Maßstäben der Erzählgattung vollkommen auf die Welt. Im Nibelungenlied wird umfangreich von Siegfrieds höfischer Erziehung berichtet (vgl. Nl 20,1–43,4). Sein wahres Heldentum kommt aber aus seinem Inneren: „Doch wirklich vorbildlich wurde er aus eigener Veranlagung“ (Nl 23,2).40 Völsung hat bereits nach seiner Geburt die Fähigkeit, seine Mutter zu küssen, kommt also nach sechsjähriger Schwangerschaft bereits mit Bewusstsein zur Welt (vgl. Vs 2). Sinfjötli ist sich ohne vorherige Klärung seiner Identität durch die Mutter seiner eigenen Völsungennatur bewusst (vgl. Vs 7). In der Heldensage gibt es keine Not zur Restituierung der eigenen Ehre – Ehrverlust würde den Tod der Figur bedeuten –, kein Streiten nach dem Gral auf metaphysischer Ebene. Die Ausformung des Protagonisten spielt sich beim Helden nie auf innerer – also ‚seelischer‘, ‚psychologischer‘ – Ebene ab, sondern besteht immer aus einem Zurechtrücken äußerer Umstände.  









ked to him or contained within him, does not really care. To him the past means little, the future not much more – or even less. The present, the instant, is all“ (Miller 2000, S. 131 f.). 37 „Þat munu allar þiodir at ordum giora“. 38 Vgl. Weddige 2008, S. 199 zum Begriff der aventiure: „mlat. adventura: das, was auf ihn zukommt – er setzt sich dem Zufall einer Begegnung aus, die als unvorhergesehene von vornherein ein Gefahrenmoment enthält.“ 39 „daz wil ich dir bescheiden baz. | nû sich wie ich gewâfent bin: | ich heize ein riter und hân den sin | daz ich suochende rîte | einen man der mit mir strîte, | der gewafent sî als ich. | daz prîset in, und sleht er mich: | gesige aber ich im an, | sô hat man mich vür einen man, | und wirde werder danne ich sî.“ 40 „von sîn selbes muote waz tugende er an sich nam!“  









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2. Figuren- und Gattungstypen

Der Protagonist des heroischen Erzählens ist von „leidenschaftliche[m] Geltungsdrang“41 erfüllt. In seiner Untersuchung der Ethik der Vorzeitsagas bemerkt Maarten van den Toorn: „das Leben wird schon hoch eingeschätzt, aber noch höher steht der Ruhm, das Urteil der Nachwelt. Söhne hat man, damit dieser Ruhm aufrecht erhalten wird, nicht damit das Geschlecht fortbestehe.“42 Entsprechend dazu sagt Jan de Vries: „Der Held lebt […] nur, damit er einen ewigen Ruhm erwerbe. […] Ruhm […] erhöhte den Wert des Lebens“.43 In der Völsunga saga heißt es: „Nun glaubte Helgi, an Ansehen viel gewonnen zu haben, da er einen so mächtigen König erschlagen hatte“ (Vs 9)44 und auch Sigurd kehrt nach seinem vernichtenden Sieg über die Hundingssöhne „mit glänzendem Siege, großem Gute und Ruhm zurück, so er auf diesem Zuge gewonnen hatte“ (Vs 17).45 Bei Sigurds Flammenritt legen sich die Flammen „fyrir lofgiornum“ (Vs 29) – vor dem Ruhmbegierigen. Das Streben nach Ruhm und Ehre ist fest im Heldenideal verankert. Tatsächlich aber stellen der zwanghafte Tatendrang und die fanatische Geltungssucht des Helden nur eine Seite der Medaille dar, begegnen uns doch auch genügend Stellen, in denen die Helden lustlos und ohne Ambition erscheinen. Auf diese bezieht sich Thomas Klein, wenn er sagt: „Der Held der ‚klassischen‘ germanischen Heldensage handelt zumeist nicht oder nicht allein aus eigenem Antrieb.“46 Weiterhin beschreibt er besagten ‚klassischen‘ Helden und vergleicht ihn mit den Protagonisten der Vorzeitsagas: „Der ‚klassische‘ Held wird von außen zur Tat genötigt (hvǫt und Vergleichbares), er reagiert – der Vorzeitheld verpflichtet sich selbst (heitstrenging), er agiert als der ‚geborene Held‘ aus einem luxuriösen Kräfteüberschuß heraus.“47 In seiner Untersuchung nimmt Klein auch Bezug auf den von Klaus von See beschriebenen Figurentypus und relativiert dessen Kategorisierung:  



K. von Sees – gewiß erhellende, vielleicht aber zu enge – Charakterisierung des ‚klassischen‘ germanischen Helden und seiner Tat berücksichtigt diese Tatvoraussetzung wohl zu wenig: Die ‚Tat wider alle Vorsicht und Vernunft‘ ist eben oft die Tat der Vorsichtigen und Vernünftigen, die in eine ausweglose Enge geraten sind, und im ‚Exorbitante[n], das sich dem Menschen im gewöhnlichen Leben verbietet,‘ entlädt sich der Überdruck einer höchst ungewöhnlichen Zwangslage, in die der Held – ein Held wider Willen! – von außen getrieben worden ist.48  







Die Motivation, die den Helden zum Handeln treibt, kann ebenso gut von außen kommen und nicht selten zeigt sich der Held zunächst unwillig auf den Impuls zu reagieren. Von Regin wünscht sich Sigurd ein Schwert für seine zukünftigen Heldentaten,

41 42 43 44 45 46 47 48

von See 1971, S. 170. van den Toorn 1964, S. 34. de Vries 1961, S. 247. „Nu þickir Helgi hafa vaxit mikit, er hann hefir fellt sva rikan konung.“ „med faugrum sigre ok miklu fe ok agęti, er hann hafde fengit i þesse ferd.“ Klein 1988, S. 122. Klein 1988, S. 124. Klein 1988, S. 123 (Ergänzung im Original).  





     

2.1 Heroisch

27

die er aber erst dann in Angriff nehme, wenn er auch Lust dazu habe: „mit dem ich große Taten vollbringen kann, wenn der Mut mir taugt“ (Vs 15).49 Als Gunnar Högni auffordert die Unstimmigkeiten mit Brynhild zu klären, antwortet dieser, „daß er keine Lust dazu habe“ (Vs 31)50 und ebenso geht es ihm bei Gunnars Verkündigung zu Atli zu ziehen: „wenig Lust habe ich zu dieser Fahrt“ (Vs 35),51 sagt er. Hamdir und Sörli müssen erst durch die Schmähworte ihrer Mutter zur Rache für die Schwester bewegt werden (vgl. Ghv. 2–3, Hm. 3–5). Wenn Sigurd zu Fafnir sagt: „keiner noch ward kühn als Greis, der in der Kindheit kraftlos war“ (Vs 18),52 übergeht er einen kompletten Figurentypus der altnordischen Literatur, nämlich den Typus des kolbítr, des ‚Kohlenbeißers‘. Dies „ist ein literar. Typus des Helden einer Art männlichem Aschenbrödel; er verbringt seine Kindheit als Nichtsnutz hinter dem Ofen und entwickelt sich nur langsam, so daß er für schwachsinnig gehalten wird; plötzlich, meist mit Anbruch des Mannesalters, wird er dann aber zum großen Helden, üblicherweise vom Typ des schweigsamen Einzelgängers.“53 „Der Typ des kolbítr, ein ‚junger Mensch, der ständig ohne nützliche Beschäftigung am Herd liegt‘, um sich dann gegen Ende seiner Jugend von einem Moment auf den anderen zum Helden ersten Ranges zu verwandeln, gehört zum festen Personalinventar der altwestnordischen Erzählliteratur.“54 Typische kolbítr-Helden sind Grettir aus der Grettissaga, der in seiner Jugend absolut untauglich und unliebsam erscheint und die ihm aufgetragenen Aufgaben nur zum Schaden seines Vaters erfüllt (vgl. Gr 14) und Starkaðr in der Gautreks saga, von dem es heißt: „Er war ein Faulpelz und ein ‚Kohlenbeißer‘; er lag auf einer Bank am Feuer“ (Gautr 4).55 Aber auch die Texte der Nibelungensage verwenden den Figurentyp: einen klassischen kolbítr finden wir in der Figur des Thetleif des Dänen in der Þiðreks saga. Dieser gleicht weder „an Tüchtigkeit noch an andern ritterlichen Tugenden […] seinen vornehmen Ahnen. Er lag lieber in der Küche, als daß er mit seinem Vater ausritt oder irgendeinen Sport betrieb oder einem Fürsten diente“ (Þiðr 200).56 Züge des Motivs finden sich auch in den Varianten von Sigurds Jugend in der Völsunga saga und mehr noch in der Þiðreks saga. Die Völsunga saga zeichnet das Bild eines ambitionslosen Helden, der mehrfach von seinem Ziehvater zum Handeln angehalten werden muss (vgl. Vs 13–18) und in der Þiðreks saga ist Jungsigurd zunächst absolut untauglich in handwerklichen Dingen und eigensinnig bis zur Gewalttätigkeit (vgl. Þiðr 267–272). Auch der schweigsame Helgi Hjörwardsson, der von einer Walküre zur Aktivität er 

49 „ek mega vinna storverk, ef hugr dughir“. 50 „Enn hann kvezt vera ufuss“. 51 „ufuss em ek þessarar ferdar.“ 52 „farr er gamall hardr, ef hann er i bernsku blautr.“ 53 Simek/Hermann Pálsson 2007, S. 231; vgl. auch Baetke 1944, S. 69–71. 54 Nedoma 1990, S. 58 Anm. 55 „hann var hímalldi ok kolbítr ok lá í fleti við elld“. 56 „hann er oc eigi orðinn i ætt sina vm atferð ne vm aðra kvrteisi firir þvi at meirr elscar hann steikara hvs at vera i en hann vili riða með feðr sinom eða iðrottir at nema eða hofðingiom at þiona.“  





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2. Figuren- und Gattungstypen

mahnt wird (vgl. HHv. 6 und Prosa vor 6), weist Züge des Kohlenbeißers auf: „Der junge Helgi […] stellt mit seiner Schweigsamkeit einen Heldentypus dar, der sich oft in der Sagen- und Märchendichtung findet. Er repräsentiert den vermeintlich zurückgebliebenen Jungen, der schweigt und seine Jahre in der Herdasche verbringt, bis er schließlich zu Heldentaten aufbricht.“57  

2.1.2 Menschen ohne Moral Letztlich zwingt sein eigenes heroisches Wesen den Helden zum Wagnis ohne Rücksicht auf Verluste. Sein Verhalten lässt etwas Zwanghaftes erkennen, dem er sich selbst unterwerfen muss. So beschreibt Klaus von See: „Gerade diese Tat wider alle Vorsicht und Vernunft, das Exorbitante, das sich dem Menschen im gewöhnlichen Leben verbietet, das scheint die Heldensage zu lieben.“58 Von See diskutiert die Motivation Gunnars beim Auszug der Burgunden zu den Hunnen und somit sehenden Auges in die eigene Verdammnis. Er verneint die Einflüsse des Schicksals in dieser Episode und führt stattdessen Gunnars Handeln allein auf heroischen Übermut zurück. Seinen Beschluss nennt von See: „ein rauschhaft vermessenes Spiel mit der tödlichen Gefahr […]. Es mag etwas Zwanghaftes in diesem Ablauf liegen, aber es wäre völlig falsch, wenn man deshalb von schicksalhafter Notwendigkeit sprechen wollte.“59 Gleich der Figur des Ritters ist der Held zu konstanter Bewährung verpflichtet und will seinen Ruhm ständig mehren. Die gleichbleibende Ehre nimmt ab. Allerdings findet sich im heldischen Handeln keine Spur von mâze, von ritterlicher Zurückhaltung.60 Der Held handelt impulsiv, zwanghaft und ist seinen eigenen Affekten unterworfen. Heiko Uecker beschreibt dieses kompromisslose Ehrgefühl des Helden euphemistisch als

57 Krause 2004, 223 Anm. 5. 58 von See 1971, S. 170. 59 von See 1971, S. 171. 60 Bei Saxo Grammaticus pflegen Starcatherus und sein Freund Bemonus die Tugend der ‚continentia‘ – also der Enthaltsamkeit oder Selbstbeherrschung – wenn es um das Trinken geht: „Tantam autem Starcatherus ac Bemonus servandæ sobrietatis curam habebant, ut numquam ebriosum sibi potionem indulsisse dicantur, ne præcipuum fortitudinis vinculum continentia luxuriæ viribus elideretur“ (Gesta Danorum VI, 185); „Starkather und Bemon achteten so peinlich auf Erhaltung der Nüchternheit, dass sie niemals sich mit einem berauschenden Trunke gütlich gethan haben sollen, damit nicht das hervorragendste Band der Tapferkeit, nämlich die Masshaltung, durch die Kraft der Schwelgerei zerrissen würde“ (Herrmann 1901, S. 247). Die Maßhaltung ist nach Saxos Argumentation ein Teil der Tapferkeit. Verständlich wäre auch eine komplett gegenteilige Ansicht, nämlich dass Alkohol mutig macht. Hier wird es allerdings genau andersherum gesehen. Es ist nicht nur die Maßhaltung, die die Tapferkeit gewährt, sondern es ist die Tapferkeit, die die Mäßigung umfasst. An späterer Stelle zeigt sich, dass Saxo nicht zwingend die Selbstkontrolle der Helden im oben beschriebenen Sinn betonen will, sondern vor allem ein Verfechter von Enthaltsamkeit ist: „Adeo virtus luxui resistit“ (Gesta Danorum VI, 185); „So steht die Tüchtigkeit im Gegensatze zur Schwelgerei“ (Herrmann 1901, S. 248).  

   









2.1 Heroisch

29

„heroisches Temperament“.61 Dieses Temperament zeigt sich bei Sigurds oder Helgis Seefahrten, die, um ihre heroische Gesinnung zu beweisen, demonstrativ selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag legen: als sie in einen Sturm geraten, lassen beide die Segel ihrer Schiffe nicht reffen, sondern sie im Gegenteil noch höher ziehen62 (vgl. HH. 29, Vs 9, Vs 17). Ebenso selbstzerstörerisch ist die absolut kompromisslose Prinzipientreue anderer Figuren, wie etwa Völsungs, der seine Tochter auffordert, mit dem ungeliebten Ehemann zu ziehen, obwohl sich bereits die Vorzeichen des Unheils abzeichnen (vgl. Vs 4) und weiterhin als er sich auch nicht von Warnungen abbringen lässt, auf Siggeirs ganz offensichtlich verräterische Einladung einzugehen: „so habe ich bisher gehandelt – warum sollte ich es nicht auch im hohen Alter tun?“ (Vs 5).63 Signy geht absichtlich mit ihrem eigentlich verhassten Ehemann unter („freiwillig werde ich mit ihm sterben, obwohl ich ihn wider Willen zum Mann hatte“, Vs 8).64 Die Szene ist als Korrespondenzmodell zum Freitod Brynhilds konzipiert, die sich zusammen mit dem geliebten Sigurd verbrennen lässt (vgl. Vs 33). Wohingegen aber die Passage von Brynhilds Freitod die Zusammengehörigkeit von Sigurd und Brynhild expliziert, die, wenn nicht im Leben, dann zumindest in der Existenz danach zusammen sein können, versinnbildlicht Signys Tod nur ihren heroischen Trotz. Das Wesen des Helden ist ambivalent. Für ihn gelten die Worte Werner Hoffmanns: „Der Held ist immer ein Mensch, der das normale Maß hinter sich läßt und der dann auch maßlos in einem nicht mehr beispielhaft-vorbildlichen Sinne sein kann.“65 Wesen, Verhalten und Mentalität der heroischen Figur bedienen die Bedürfnisse der Heldendichtung. Das Handeln des Helden ist dahingehend modelliert, dass es die Textwelt im Laufe der heroischen Erzählung aus den Fugen geraten lässt. Der Held, wie auch der Verband, dem er angehört, werden dabei ausgelöscht. Es stellt sich nun die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesem Verband, diesem Kollektiv und dem Helden selbst. Ist Letzterer seiner Gemeinschaft nützlich oder schädlich? Matthias Teichert beschreibt das Kollektiv des Helden als „die Sippe, den Stamm, die jeweilige Gesellschaftsschicht“.66 Nun gestehen Schneider und Mohr dem Helden zu:  



Das Menschenbild der Heldensage stellt den hervorragenden, kriegerischen Helden dar, der meist Repräsentant einer Gemeinschaft, eines Stammes oder Volkes ist und für sie Taten vollbringt, Aufgaben erfüllt oder Schicksale zu bestehen hat, die über das gemeine Maß hinausgehen und Bewunderung und Erschütterung erregen.67

61 62 63 64 65 66 67

Uecker 1972, S. 3. Vgl. Haimerl 1991, S. 144: „dem Hörer des 13. Jahrhunderts ein Zeichen seiner Hybris.“ „sva hefe ek en giort her til, ok hvi munda ek eigi efna þat a gamals alldri?“ „Skal ek nu deygia med Siggeiri konungr lostig, er ek atta hann naudig.“ Hoffmann 1987, S. 131. Teichert 2008, S. 19. Schneider/Mohr 1961, S. 1.  











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2. Figuren- und Gattungstypen

Dies allerdings ist nur ein Teil der Wahrheit, denn „Heldentum [kann] auch gegen die Normen des Kollektivs gerichtet sein“.68 Einige der Tugenden und Wesenszüge des Helden sind so prekär beschaffen, dass sie für die Gesellschaft ebenso zerstörerisch wie nützlich sein können. Gerade dass der Held zu einem bestimmten Handlungszeitpunkt seinen eigenen Untergang zelebriert, führt bisweilen auch zum Ende des Kollektivs. Auslöser hierfür ist die heroische Ruhmsucht und der Egoismus des Helden. Es ist Klaus von See, der zu einem der größten Ankläger des Helden wird, wenn es um dessen Schädlichkeit für die Gesellschaft geht: Nicht den Forderungen einer völkischen Schicksalsgemeinschaft unterwirft sich der Held, […] sondern er handelt nach typischen Verhaltensweisen der Fürsten- und Kriegeraristokratie, d. h. er folgt ständisch gebundenen Konventionen, die mit den volkstümlichen Regeln des Rechts und der Moral in Konflikt geraten können und sie gelegentlich außer Kraft setzen.69  

Die Frage nach der Moralität des Helden und inwiefern er dem eigenen Kollektiv gegenüberstehe, inspirierte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts einen dramatischen Wissenschaftlerstreit zwischen Klaus von See und seinem ehemaligen Schüler Gerd Wolfgang Weber, dessen Ausgangspunkt von Sees Untersuchungen zur Heldensage waren. In diesen kommt von See zum Schluss: „Überhaupt handelt der Held kaum jemals aus einem Pflichtgefühl heraus, das ihn an irgendwelche überpersönlichen Notwendigkeiten bindet. Staatspolitische Rücksichten und Verantwortung gegenüber dem Volk haben im Gesichtskreis der Heldensage keinen Platz.“70 Nach von See ist der Held amoralisch und handelt stets eigennützig – wobei eigennützig hier nicht als ‚zum eigenen Vorteil‘ missverstanden werden darf. Untersuchungsgegenstand hierfür ist die bereits oben genannte Szene von Gunnars Entscheid zum Hunnenzug. Gerd Wolfgang Weber allerdings unterstellt von See, die Szene von Grund auf misszuverstehen. Er konstatiert:  

„Vielmehr […] geht es in der Heldensage vom Ende der Burgundenkönige darum, im vollständigen Bewußtsein der historischen Tatsache, daß die Burgunden als selbständiges Volk tatsächlich im Zusammenhang der Hunnenzüge untergegangen sind, diesen Untergang auf symbolischer Ebene darzustellen über das Ende der dieses Volk repräsentierenden Figur des ‚Königs‘. Das

68 Reichert 2001, S. 215. 69 von See 1971, S. 171. Vgl. ferner von See 1981 [1978], S. 183 f.: „häufig ist dieses Individuum – der ‚Held‘ – gar nicht einmal ein Vorbild allgemeinverbindlicher Tugenden, sondern eher das Gegenteil davon: ein Protest gegen das vom Kollektiv gebotene Mittelmaß, eine Figur, deren Faszination gerade darin liegt, daß sie das Exorbitante, das Regelwidrige tut. Der Held ist eigentlich zunächst nichts weiter als eine Demonstration seiner selbst, allerdings nicht so unnütz und überflüssig, wie es dem rationalen Denken scheinen könnte, da er – wenn auch auf eine einseitige, exzessive oder gar unzulässige Weise – eine Gesinnung verkörpert, in der sich die soziale Gruppe, der er angehört, durchaus wiedererkennen möchte, ohne dabei das Verhalten, in dem er diese Gesinnung auslebt, nachahmen zu können oder zu dürfen.“ 70 von See 1971, S. 171.  

















2.1 Heroisch

31

heißt, der historische Fakt wird zu einem ethischen sublimiert in der Kategorie der heroischen Selbstbehauptung der Könige gerade nicht als Individuen, sondern als kollektive Symbole der gesamten natio oder […] gens.“71

Weber fasst zusammen: „Gunnarr handelt nicht etwa ‚verantwortungslos‘ – denn vor dem Faktum des historischen Burgundenunterganges wäre jedes Heldensagenhandlungsmodell, das auf einen anderen Ausgang als das Ende abgezielt hätte, lächerlich –, sondern bis zuletzt äußerst verantwortungsvoll, weil er sich um das Dauerhafte einer gens […] kümmert“.72  



Von See rezensiert Webers Aufsatz, wobei er Webers Polemik mit ähnlicher Heftigkeit beantwortet und dabei so zerstörerisch vorgeht wie die von ihm untersuchten Figuren.73 Wenn man nun einen Versöhnungsversuch zwischen von See und Weber starten wollte, müsste man wohl so argumentieren, dass die beiden ihre Argumente aus zu verschiedenen Perspektiven entfalten, als dass sie überhaupt gegeneinander aufgewogen werden könnten. Von See bewertet die Motivation der Akteure gemäß der intrinsischen Logik des Textes und dem von der Heldensage als Gattung vorgegebenen Rahmen der Handlung. Wenn er über Gunnar in der Atlakviða sagt: „Es geht in Wahrheit eben allein um den Ruhm des königlichen Helden und nicht um die Teilhabe des Volkes an diesem Ruhm“,74 dann untersucht er die Figur innerhalb der Erzählung. Weber dagegen will wissen, wie es sich mit der Wirkung der Heldensage auf das Kollektiv der Rezipienten verhält und nicht mit dem Helden und dem Kollektiv innerhalb des Textes selbst. Er interessiert sich für die Heldensage als „gesellschaftsstiftende[n] Diskurs“.75 Für ihn ist das ‚Kollektiv‘ die Hörer- und Rezipientenschaft von Heldendichtung, wohingegen es für von See ein textinterner Verband ist, dem der Held auf lange Sicht schadet. Bevor sie die Funktion reiner Unterhaltungsliteratur angenommen hat, war Heldendichtung ein Indoktrinationsinstrument für die Gefolgschaft des Fürsten. Levin Schücking evoziert das Bild eines Hallenidylls,76 in dem die Hörer von der vorgetragenen Heldensage bewegt werden und die heldischen Tugenden im Überschwang der Feier zu ihren eigenen machen: „Man nimmt z. B. im Geiste den Augenblick mit Ungeduld voraus, wo man dem Herrn auf dem Schlachtfeld die Treue halten wird“.77 Die Rezipientenschaft, die sich aus der kriegerischen Gefolgschaft des Fürsten oder den Stammesmitgliedern zusammensetzt, konsolidiert, indem sie sich Hel 

71 Weber 1990, S. 463. 72 Weber 1990, S. 463 f. 73 Vgl. von See 1999 [1993](a), S. 149–151 und weiterhin S. 155–157 für die Argumentation bezüglich der respektiven Episode. 74 von See 1999 [1993](a), S. 157. 75 Weber 1990, S. 449. 76 Schücking 1978, S. 193–194. 77 Schücking 1978, S. 194.    









   



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2. Figuren- und Gattungstypen

denideale von Treue, Lebensverachtung und Ehrerhalt bis in den Tod vorführt, ihr eigenes Wertesystem und nimmt dadurch eine Mentalität an, die ihr eigenes Kollektiv vor Übergriffen von außen schützt.78 Wenn die Geisteshaltung eines Verbandes dahingehend geformt ist, dass er lieber untergeht, als dem Feind nachzugeben, verwandelt sich jeder Triumph eines möglichen Gegners in einen Pyrrhussieg. Ein Übergriff auf eine Gruppe, die prinzipiell bis zur eigenen Vernichtung kämpft, lohnt sich nicht. Dahingehend ist die Heldensage trotz ihres asozialen Protagonisten, der das textinterne Kollektiv destabilisiert, durchaus für ein textexternes Kollektiv stabilitätsstiftend. Der Gunnar der Atlakviða ist gerade deswegen der ideale Herrscher der Heldensage, weil er so unideal im Wirklichkeitsvergleich erscheint. Letztlich entbehrt der Streit zwischen Weber und von See also einer gemeinsamen Diskussionsbasis.79 Klaus von See stellt weiterhin die Frage, welches Menschenbild eigentlich in der Heldensage transportiert werde und kommt zu dem Schluss, dass das Handeln des Helden alles andere als vorbildhaft sei. Bezüglich der Treue des Helden argumentiert von See mit Beispielen des Verrats aus der Ingeld-, Beowulf-, Nibelungen- und Iringsage.80 So schlussfolgert von See: „Ist die Heldendichtung etwa ein Hohelied der Treue? – Im Gegenteil: […] Im gewöhnlichen Leben mag die Treue durchaus als hoher moralischer Wert gegolten haben, nur: die Heldensage preist sie nicht und stellt auch die Untreue nicht etwa in einer Form dar, die erkennen ließe, daß sie das Handeln der Helden als abschreckendes und verurteilendes Beispiel aufgefasst sehen möchte.“81 Der Held werfe „alle Treuepflichten bedenkenlos und rücksichtslos von sich […], sobald der leidenschaftliche Geltungsdrang, die wilde Rachsucht über ihn kommen.“82 M. C. van den Toorn spricht über die Ethik der Protagonisten der Vorzeitsagas:83 Die  

78 Vgl. für die Atlakviða und die Gunnarfigur Gottzmann 1973, S. 127: „Der Gang der Handlung in der Akv. hat gezeigt, wie der Anspruch eines Herrschers auf die Unterwerfung eines anderen Fürsten in der Weise zunichte gemacht wird, daß er schließlich seinem eigenen Anspruch zum Opfer fällt. […] In der Akv. wird ein Geschehen dargestellt, das die Rechte und Pflichten eines Herrschers, aber auch deren Mißbrauch sinnfällig macht. Gunnar hat sein Leben für das seiner Gefolgsleute gegeben.“ 79 Dass von See Weber unabhängig davon auch Schwächen in dessen Terminologie vorwirft, sei nun dahingestellt (vgl. von See 1999 [1993](a), S. 149–151). 80 Vgl. von See 1971, S. 168. 81 von See 1971, S. 168 f. 82 von See 1971, S. 169 f. 83 Van den Toorn beobachtet für die Isländersagas drei verschiedene Ethikmodelle: „eine HávamálEthik, eine heroische Ethik und eine christliche Schicht“ (van den Toorn 1964, S. 23). Diese drei Modelle wendet er in seinem Aufsatz auch auf die Fornaldarsögur an. Letztendlich kommt er zu dem Ergebnis, dass die Ethik der Fornaldarsögur eindimensional sei und „keine Nuancen“ (van den Toorn 1964, 59) zeige, da ihre Figuren kontrastlos seien und am der Gattung eigenen „Superlativismus“ (van den Toorn 1964, S. 59) leiden würden. Wir finden in der Hrólfs saga kraka einen kurzen Lehrmonolog vom Vater an den Sohn, im Zuge dessen auch Tugendvorstellungen transportiert werden: „Sei mild gegen andere, benimm dich nicht prahlerisch, denn das verschafft dir keinen Ruhm, aber wehre dich, wenn man dich angreift; denn das ist Mannes Art, wenig zu prahlen, aber große Taten zu verrichten, wenn man in eine Gefahr kommt“; „vertu óágjarn við aðra, láttu eigi stórliga, þvi at þat er ilt til orðs, en ver hendr þinar, ef á  

















2.1 Heroisch

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Fornaldarsögur84 stellen für ihn „eine Flucht aus der Aktualität in den Traum der Literatur [dar]. […] Helden wie Ǫrvar-Odd und Ragnar Loðbrók sind Wunschbilder; ihre Tapferkeit und nie versagende Kraft waren zweifelsohne für die Menschen, die diese Geschichten schrieben und lasen, ein Ideal.“85 Für die Gebundenheit an die Gemeinschaft beobachtet er: „In den Fornaldarsagas begegnet eine fast unabsehbare Reihe von Beispielen, in denen die Figuren individuell, ja allzu individuell, geradezu egoistisch handeln. Für viele Personen steht das Ich im Zentrum der Welt; sie sind egozentrisch, mitunter egoistisch, und verfahren ohne jegliche Rücksicht auf den Mitmenschen.“86 Was die Treue angeht, scheint der Held mit einer gewissen Verschlagenheit vorzugehen. Van den Toorn untersucht hierfür Beispiele aus der Þiðreks, Ragnars und Völsunga saga und schlussfolgert: Die so gerne hervorgehobene, fast sprichwörtliche germanische Treue war durchaus nicht die Tugend, die man als Christ mit dem Wort ‚Treue‘ bezeichnen würde. Zweideutige Eide und Versprechen gibt es in den Fornaldarsagas oft; meistens sind sie dann so zu deuten, daß der Geschworene sich selbst treu bleibt, indem er tatsächlich die Treue bricht, aber formell seinem Wort gemäß handelt.87

Ich will die folgende von van den Toorns Beobachtungen besonders hervorheben, die die Sagawelt – und somit auch einen Bereich des heroischen Erzählens – in Bezug auf die Kategorien von ‚gut‘ und ‚böse‘ erklären:  



Diese Ethik, die vom Ich beherrscht wurde, sodaß man Treue brechen konnte und zugleich sich selbst treu bleiben, kannte keine Scheidung in Gut und Böse. Diese absoluten Begriffe hatten hier noch einen relativen Wert, insofern ‚Gut‘ nur als identisch mit ‚dem Ich nützlich‘ aufgefasst werden konnte, und ‚Böse‘ als das entsprechende Gegenteil. Daher ist vielmehr eine Scheidung zwischen Freund und Feind grundlegend für das Verhalten der Personen in den Sagas.88

Für das Verhalten gegenüber dem Kontrahenten stellt er fest: „Dem Feinde wurde nicht die geringste Schonung gewährt; ein Feind mußte rücksichtslos beseitigt werden. […] Gnadenlose Behandlung der Feinde war ganz normal“.89 Dies rundet die obige Beobachtung zum Verhalten des Helden innerhalb seiner Gemeinschaft und nach außen hin ab. ‚Gut‘ ist der Held dann, wenn er sich, seine Sippe oder den Verband

þik er leitat, þvi at þat er mikilmannligt, at dramba lítit yfir sér, en gera mikil afdrif, ef hann kemr í nǫkkura raun“ (Hrólf 14). Wenn von Tugenden wie Barmherzigkeit, Bescheidenheit und Zurückhaltung gesprochen wird, ist das christlich-höfische Gedankengut zu spüren, das die Saga wohl beeinflusst hat. 84 Die Menge der Heldensagen und der Fornaldarsögur ist nicht deckungsgleich. Es finden sich jedoch Elemente heroischen Erzählens in den Vorzeitsagas. 85 van den Toorn 1964, S. 23. 86 van den Toorn 1964, S. 27. 87 van den Toorn 1964, S. 31. 88 van den Toorn 1964, S. 32 f. 89 van den Toorn 1964, S. 33.          



34

2. Figuren- und Gattungstypen

stärkt, dem er angehört. Gegenüber einem feindlichen Außen muss er zerstörerisch sein. Die heroischen Erzählungen werten ihre Figuren nicht nach heutigen Paradigmen: Die großartige Objektivität der germanischen Heldendichtung ist dieselbe wie die der nordischen Saga, die ohne alles Schwarzfärben die Kämpfenden in voller Größe gegeneinanderstellt, ist selbstbewußt und vornehm genug, um gerecht sein zu können und die Taten selber sprechen zu lassen. Das Heldenlied wie die Saga hat vermocht, Helden gegen Helden zu stellen, nicht Schurken gegen Gerechte.90

„Dabei herrscht kein moralischer Maßstab. […] Es herrscht noch ein Stil strenger Objektivität, der jedem das Seine gibt und nicht kritisiert.“91 Es gibt Darstellungen großen Heldentums, heroischer Großtaten und kompromisslosen Idealismus’ im heroischen Erzählen: „Ein hoher und mit der größten Sparsamkeit gekennzeichneter, kaum je ausdrücklich verherrlichender Idealismus beherrscht diese Poesie und drückt sich aus durch die heldische Lebensführung und das heroische Sterben.“92 Dabei sind Figuren und Handlung der Heldendichtung ein nicht versiegender Quell von Grausamkeit. So beschreibt Klaus von See: „Auch sonst ist gelegentlich das, was die eigentliche Wirkung einer Heldensage ausmacht, gerade die ungeheuerliche Brutalität ihrer Handlung.“93

2.1.3 Helden- und Götterzeit Die Heldensage behandelt Stoffe eines Zeitalters, das als heroic age94 bezeichnet wird. Dabei ist die zeitliche Verortung des heroic age in jedem Kulturkreis unterschiedlich.95 Es ist ein Sammelbegriff für die jeweils „politisch bewegteste[…] Epoche eines Stammes, eines Volkes“.96 Für die germanische Heldensage ist das heroic age die Völkerwanderungszeit. Viele Heldensageninhalte wurzeln im Historischen.97 Es sind vor-

90 Höfler 1961 [1941], S. 73. 91 Schneider/Mohr 1961, S. 12. 92 Schneider/Mohr 1961, S. 12. 93 von See 1971, S. 170. 94 Vermutlich zuerst bei Chadwick 1967 [1912], bes. S. 28. Vgl. de Vries 1961, S. 257: „Die Zeit, in der das Heldenlied entstand und noch in voller Funktion war, nennen wir das heroische Zeitalter (heroic age). […] Man stellt es sich in ferner Vergangenheit vor.“ Vgl. von See 1981 [1978], S. 176–183. 95 Vgl. Müller 1998, S. 49: ein „‚heroic age‘, das nicht konkret datierbar ist, sondern eine relationale Größe, die immer von einer anders gearteten nachfolgenden Zeit her entworfen wird. Identifizierbar wird es immer erst von einer späteren Position aus, die sich von ihm abgrenzt“. 96 Uecker 1972, S. 15. 97 Vgl. Reichert et al. 1999, S. 267 f.: „Das Verhältnis hist[orischer] Helden zu liter[arischen] Helden ist strittig. […] Doch einig ist man sich weitgehend, daß hist[orische] Persönlichkeiten oder Ereignisse zumindest einen Kern für viele Heldensagen abgegeben haben.“ Vgl. hierzu allerdings die sehr treffende  

   

















2.1 Heroisch

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nehmlich völkerwanderungszeitliche Personen und Ereignisse, die in der germanischen Heldensage verarbeitet, dabei aber gemäß der Bedürfnisse der heroischen Dichtung umgeformt und bisweilen unkenntlich gemacht werden:98 Die Hauptfiguren sind Ermanarich, der sich 375 das Leben nahm, da die Hunnen sein Reich, das sich über große Teile Rußlands ausdehnte, vernichteten. Darauf folgt die Figur Attilas, der 453 starb. Während seiner Lebzeit fand die Burgundenkatastrophe am Rhein im Jahre 436 statt; dabei war eine Hunnenschar beteiligt, doch Attila selbst hatte damit nichts zu tun. Dann kommt Theoderich der Große, der 526 gestorben ist. Als letzter ist noch der langobardische König Alboin zu nennen; dieser starb 572. Diese Gestalten umfassen also eine Zeit von etwa zwei Jahrhunderten.99

Das heroische Erzählen lässt zeitliche Grenzen verschwinden und macht historische Figuren, obgleich sie aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammen mögen, zu Zeitgenossen100 oder zu Sippenmitgliedern.101 Was Umfang und politisches Ausmaß der Handlungen der Heldensage angeht, geschieht ein ‚down-scaling‘. Die Handlung Beobachtung von Heiko Uecker: „Nicht immer läßt sich ein Kern der Sage feststellen, von dem aus sie sich weiterentwickelt hat; es mag mitunter sogar fraglich sein, ob es nur einen solchen festen Ursprung jemals gegeben hat“ (Uecker 1972, S. 1). Hermann Schneider beschreibt in Hinsicht auf Inhalt und ‚Wahrheitsgehalt‘ der Heldensage: „Historischer Hintergrund und Gegenstand der Heldensage sind nationale Kämpfe von einschneidender und denkwürdiger Bedeutung; Völkerschlachten, Staatengründungen, Staatenzerstörungen. In den Mittelpunkt treten einheimische Fürsten und Krieger, an deren reale Existenz man glaubt“ (Schneider 1962, S. 1). Vgl. de Vries 1961, S. 260: „Zweifellos bezieht sich die Heldensage auf historische Ereignisse. Diese haben damals offenbar einen solchen Eindruck hinterlassen, daß sie gewissermaßen aus dem Ablauf der Geschichte herausgehoben wurden und ins Überzeitliche gelangten.“ Dass die Inhalte von Heldensage für wahr gehalten wurden, bestätigt auch Otto Höfler: „eine Lebensbedingung echter Sage ist […], daß ihr Inhalt geglaubt werde“ (Höfler 1961 [1941], S. 57). 98 Zum Verhältnis von Heldensage und Geschichte vgl. Heusler 1969 [1909], S. 495 ff. Andreas Heusler fasst die historischen Aspekte der Heldensage zusammen: „Nach den zu Gebote stehenden Beobachtungsfällen ist der geschichtliche Gehalt der germanischen Heldensage so einzuschätzen. Bewahrt sind Namen von Fürsten, Dynastien, Völkern, Orten, der Name der Fürsten und seiner Nation nicht immer beisammen geblieben; bewahrt ist im günstigsten Falle ein bezeichnender Zug […]; bewahrt ist, von der Handlung selbst, eine einzelne Begebenheit nach ihrem allgemeinsten Umriß und meist die allgemeine Stellung der Parteien […]. Immer sind nur einzelnstehende Fakta, nie eine ganze Kette von Ereignissen aus der Geschichte genommen“ (Heusler 1969 [1909], S. 498). Letztendlich kommt er zu dem Schluss, dass „die germanische Heldensage ihrem Motivschatze und Gedankenkreise nach unhistorisch ist, untauglich, Geschichte abzubilden“ (Heusler 1969 [1909], S. 498). 99 de Vries 1961, S. 263; vgl. auch Aðalheiður Guðmundsdóttir 2012, S. 63; Byock 1990, S. 11–26; Grimstad 2000, S. 15 und Finch 1965, S. xxxii. 100 Vgl. de Vries 1961, S. 264: „Ermanarich, Attila und Theoderich wurden Zeitgenossen, und das Verhältnis zwischen ihnen stimmte natürlich nicht mehr mit der tatsächlichen Geschichte überein“. Vgl. Schneider 1962, S. 13: „Alle Heldensagendichtung neigt dazu, die großen Persönlichkeiten der nationalen Vorzeit als Zeitgenossen darzustellen.“ Klaus von See spricht vom „merkwürdige[n] Umstand […], daß alle Gestalten der Heldensage, sobald sich irgendein Anlaß hierzu bot, zu Zeitgenossen, zu Angehörigen einer oder zweier Generationen gemacht wurden“ (von See 1971, S. 10). 101 Vgl. Teichert 2008, S. 85: „das Prinzip der Ansippung […]: die einzelnen Protagonisten werden in eine offenbar erst sekundär hergestellte genealogische Verbindung zueinander gesetzt“. Nicht deckungs 































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2. Figuren- und Gattungstypen

läuft auf einer menschlich individuellen Ebene ab. Was zählt, ist das Handeln Einzelner. Die Geschehnisse erhalten den „Charakter von Sippenkonflikten.“102 Die politischen Vorgänge des heroic age werden in der Heldensage emotionalisiert und einzelnen Figuren zugesprochen. Ihre Motivationen sind persönlich, aus dem Volk wird die Verwandtschaft. Diese ‚kleinen‘ privaten Handlungen repräsentieren innerhalb der Erzählung die großen Geschehnisse der Wirklichkeit.103 In heroischen Erzählungen – so Thomas Klein – „haben wir es tendenziell mit einer von aller Gegenwart nicht nur abgerückten, sondern auch qualitativ verschiedenen, ebenso fremdartigen wie fernen Welt zu tun.“104 Die hier untersuchten Texte stammen aus dem 13. Jahrhundert. Die Inhalte, die sie beschreiben, sind allerdings keine zeitgenössischen Ereignisse, sondern sind zur Zeit ihrer Verschriftlichung bereits alt. Dies wird von den Verfassern besagter Texte in ihren Erzählungen deutlich markiert. Sie rücken ihre Figuren und Handlungen absichtlich in eine Zeit vor der Verschriftlichung – in eine Vorzeit – hinein, indem sie ihnen und der Textwelt den Anstrich des Archaischen geben. Zu verorten ist dieses ‚Damals‘ in einer quasi prähistorischen Zeit, die gerade noch innerhalb der Grenzen der geschichtlichen Wahrnehmung der zeitgenössischen Erzähler und Rezipienten liegt, allerdings unklare und übernatürliche Züge angenommen hat und in die Nähe des Mythischen rückt.105 „Erst dadurch, daß ein bestimmter Inhalt in zeitliche Ferne gerückt, daß er in die Tiefe der Vergangenheit zurückverlegt wird, erscheint er damit nicht nur als ein heiliger, als ein mythisch und religiös bedeutsamer gesetzt, sondern auch als solcher gerechtfertigt“,106 so Ernst Cassirer. Durch das Versetzen in eine weit entfernte, archai 









gleich mit dem Begriff der ‚Ansippung‘ der Geschichtswissenschaften. Vgl. hierzu Hauck 1950, bes. S. 222 ff. bzw. Wenskus 1976, S. 645 ff., der den Begriff problematisiert. 102 de Vries 1961, S. 272. Vgl. Schneider 1962, S. 17: „die Persönlichkeit [tritt] an die Stelle des Stammes, der Sippenkonflikt an Stelle des Völkerstreites“. Vgl. de Vries 1961, S. 272: „in der Dichtung dreht sich alles um Menschen und ihre Schicksale. Ein Dichter kann ein Gefecht gar nicht als das Treffen zweier Heere beschreiben; er muß es in eine Reihe von Einzelkämpfen auflösen, in denen sich die Führer und ihre Edlen hervortun.“ Vgl. Höfler 1961 [1941], S. 64: „Statt politischer Vorgänge zeichnet sie [die Heldensage] persönliche Taten.“ Vgl. Weddige 2008, S. 221: „Das Politisch-Historische tritt gegenüber dem ‚PrivatMenschlichen‘ zurück. Großräumige Aktionen vieler werden auf Taten und Konflikte weniger verengt. Die persönlichen Bindungen im überschaubaren Rahmen von Sippe und Gefolgschaft und die Haltung des einzelnen stehen im Mittelpunkt des Interesses.“ 103 Vgl. Schneider/Mohr 1961, S. 8: „So wird die Handlung auf eine einfache, aber tiefste menschliche Leidenschaften aufwühlende Form gebracht. Es sind jedoch keine privaten Konflikte; die Helden erleben, daß sie als einzelne, ganz auf sich gestellt, ihre geschichtliche Rolle durchzustehen haben. Das verhängnisvolle Schicksal der besten und begabtesten Stämme der Völkerwanderungszeit drückt sich in der tragischen Grundstimmung der meisten Lieder aus.“ 104 Klein 1988, S. 116. 105 Vgl. Klein 1988, S. 127: „Per definitionem geradezu scheidet sich die Vorzeit von aller sonstigen Geschichtserinnerung dadurch, daß sie weiter zurückliegt, einen letzten unbestimmbar fernen Horizont des historischen Bewußtseins bildet.“ 106 Cassirer 1977, S. 130.  

























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sche Zeit wird jedoch der Wahrheits- oder Realitätsanspruch einer Erzählung –wie man ansonsten meinen könnte – keinesfalls gemindert, sondern in der Wahrnehmung des mittelalterlichen Rezipienten verstärkt. Die Erzählungen gewinnen dadurch an Authentizität, indem man berichtet, sie seien aus der Vorzeit überliefert worden. Dies ist eine bewusst eingesetzte Strategie der Verfasser der Texte:107 „die Verfasser versuchten wohl ihren Produkten eine altertümliche Färbung zu geben“.108 Kurt Schier erwähnt die Unterteilung der isländischen Sagaliteratur nach den Zeiträumen, in denen diese spielt, nämlich in Gegenwartssagas, Vergangenheitssagas und Vorzeitsagas.109 Der Unterschied zwischen den letzten beiden besteht darin, dass die Vergangenheitssagas zwar in der Vergangenheit angesiedelt sind, aber noch historisch greifbar sind, die Vorzeitsagas aber von einer nicht mehr erfassbaren Zeit handeln: „Die Fornaldarsögur spielen in der Regel in einer forn ǫld, einer weit zurückliegenden alten Zeit, jedenfalls vor der Besiedlung Islands“.110 So einleuchtend diese Unterscheidung ist, ist es allerdings notwendig, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass der Begriff ‚Vorzeitsagas‘ ein moderner Begriff ist, der von C.C. Rafn stammt, der die Vorzeitsagas gesammelt und unter dem Titel ‚Fornaldar Sögur Nordrlanda‘ herausgegeben hat.111 Ähnlich wie wir zuvor zum Begriff des Helden oder der Heldensage besprochen haben, ist also der Terminus Vorzeit nur ein Hilfsmittel, um das Phänomen der zeitlichen Verrückung einer Textgruppe zu untersuchen, mit der die Verfasser offensichtlich eine Atmosphäre der Alterität112 schaffen wollten.113 Bisweilen ist in den Texten der Völsungensage allerdings eine Zeit festzumachen, die noch vor der heroischen Zeit angesiedelt ist, nämlich eine mythische Zeit,114 in der  



107 Torfi Tulinius spricht von „generic signs“ (Torfi Tulinius 2000, S. 250), derer sich der Verfasser bedient, um dem Rezipienten klar zu machen, in „what kind of world“ (Torfi Tulinius 2000, S. 250) sich die Erzählung bewegt. Die untersuchten Indikatoren sind also nicht nur da, um Stimmung und Atmosphäre zu erschaffen, sondern auch um die Kommunikation zwischen Verfasser und Rezipient zu gewährleisten und über die Natur der Erzählung Auskunft zu geben. 108 van den Toorn 1964, S. 58. 109 Vgl. Schier 1970, S. 6 f. 110 Schier 1970, S. 72. 111 Vgl. Rafn 1829–1830. Vgl. zur Problematik der Begrifflichkeit Torfi Tulinius 2000, S. 242 f. bzw. 2007, S. 447. 112 Vgl. den Prolog der Þiðreks saga: „Eine andere Erzählweise besteht darin, von irgendwelchen Verwandlungen, Ungeheuern und Wundern zu erzählen. Denn bunt ist es in der Welt hergegangen“; „Annar soghu háttur er þat ath seigia fra nockurzkonar aurskiptum fra kiynzlum edur vndrumm þviat a marga lund hefer vordit“ (Þiðr Prolog). 113 Vgl. Millet 2008, S. 324: „Nirgendwo wurden die Heldensagen so sehr wie in Skandinavien mit der vorchristlichen Kultur identifiziert. Es scheint, dass es nicht möglich war, sie zu aktualisieren, sie neu zu erzählen, ohne ihren Vorzeitcharakter hervorzuheben, ihre Zugehörigkeit zu einer Welt des Verrats, der Rache, der Verwüstung und des Todes; eine Zeit, von der man meint – oder meinen möchte –, dass sie zeitlich und räumlich schon weit entfernt ist.“ 114 Mircea Eliade erklärt die mythische Urzeit als Zeit der göttlichen Vorbilder, deren einmaliges Handeln nun konstant in der Kultpraxis wiederholt wird (vgl. Eliade 1953, S. 36 ff.). Eine solche Definition  



























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2. Figuren- und Gattungstypen

mythische Ereignisse behandelt werden, die sich noch vor der Haupthandlung der Erzählung abgespielt haben. Die Vorzeit ist also kein homogenes Konzept, sondern kann auch mehrere Zeitstufen umfassen. Diese mythische Zeitstufe innerhalb der Vorzeit stellt nach Ernst Cassirer die Voraussetzung für das Vorhandensein eines Mythos im eigentlichen Sinne dar: Der ‚Mythos‘ als solcher schließt seiner Grundbedeutung nach […] eine rein zeitliche Ansicht in sich; er bezeichnet einen bestimmten zeitlichen ‚Aspekt‘, unter den die Gesamtheit der Welt gerückt wird. Der echte Mythos beginnt erst dort, wo nicht nur die Anschauung des Universums und seiner einzelnen Teile und Kräfte sich zu bestimmten Bildern, zu den Gestalten von Dämonen und Göttern formt, sondern wo diesen Gestalten ein Hervorgehen, ein Werden, ein Leben in der Zeit zugesprochen wird. Erst dort, wo es nicht bei der ruhenden Betrachtung des Göttlichen bleibt, sondern wo das Göttliche sein Dasein und seine Natur in der Zeit expliziert, wo von der Göttergestalt zur Göttergeschichte und zur Göttererzählung fortgeschritten wird, haben wir es mit ‚Mythen‘ in der engeren und spezifischen Bedeutung des Wortes zu tun.115

Die Handlung des Mythos spielt sich in einer primordialen Vorzeit ab, ‚in illo tempore‘.116 Im ersten Kapitel der Völsunga saga bei der Vorstellung der Figuren heißt es: „Ein anderer Mann wird in der Geschichte erwähnt, der Skadi hieß, er war mächtig, stark und tüchtig, aber doch war Sigi von ihnen der mächtigere und vornehmeren Geschlechts, wie die Menschen in jener Zeit sagten“ (Vs 1).117 Die Erzählung wird in eine unbestimmte Vorzeit verlagert, gekennzeichnet durch die Angabe ‚i þann tima‘.118 Die Zeitangabe weist auf eine nicht greifbare, vage Vergangenheit119 hin und ist verbun-

finden wir auch bei Ernst Cassirer, für den die mythische Urzeit die Zeit bezeichnet, in der ein allgemeiner Sachverhalt „an ein einmaliges Geschehnis der Vergangenheit angeknüpft und damit seine mythische Entstehung aufgezeigt wird“ (Cassirer 1977, S. 130). 115 Cassirer 1977, S. 129. 116 Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 188; Eliade 1953, S. 20, S. 87 u. ö.; vgl. Eliade 1989, S. 12: „So wie der moderne Mensch sich als historisches Wesen erklärt, das aus der Geschichte der gesamten Menschheit hervorgegangen ist, so erkennt sich der Mensch der archaischen Gesellschaften als Endergebnis einer mythischen Geschichte, einer Reihe von Ereignissen, die in illo tempore, zu Beginn der Zeit, stattgefunden haben. Doch während der moderne Mensch in der Geschichte, die ihm vorausging, ein rein menschliches Werk sieht und sich vor allem für befähigt hält, sie fortzusetzen und unaufhörlich zu vervollkommnen, ist für den Menschen der traditionsgebundenen Gesellschaften alles Bedeutsame, das heißt Schöpferische und Mächtige, am Anfang geschehen, in der mythischen Zeit.“ 117 „Annar madr er nefndr til saugunnar, er Skadi het. Hann var rikr ok mikill fyrir ser, enn þo var Sigi þeirra enn rikari ok ęttstærri, at þi er menn męlltu i þann tima.“ 118 Vgl. Grimstad 2000, S. 18: „The time of action is ‚once upon a time,‘ that is, some time prior to the settlement of Iceland (ca. 870), the Christianization of Iceland (ca. 1000), or the reign of any of several Norwegian kings, all of which are standard time references in Icelandic historiography.“ Vgl. Teichert 2008, S. 136: „Dem Sagaautor ist erkennbar daran gelegen zu Beginn seines Textes eine größtmögliche Distanz zur Gegenwart seiner Rezipienten zu schaffen und die Handlung seiner Erzählung in eine heidnisch-mythische Vorzeit, ein heroic age im Sinne Chadwicks, zu verlegen.“ 119 Eine in den Vorzeitsagas übliche Praxis: In der Hrólfs saga kraka zum Beispiel heißt es von Agnar, einem Verwandten von Hrolf kraki: „Er wurde ein so großer und berühmter Krieger, daß von ihm in alten  















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den mit der Angabe von Hörensagen. Es sind nicht die Worte des Erzählers, die Sigi als den mächtigeren und vornehmeren beschreiben, sondern er gibt nur wieder, was die Ansicht jener vergangenen Zeit war. Durch diese Angabe von Gewährsleuten erhöht er die Authentizität seiner Erzählung, da er nicht allein von seinem eigenen Wissen ausgehend operiert, sondern die Meinung der vergangenen Generationen einschließt. Der Verfasser fingiert eine Überlieferung, die den Echtheitsgehalt der Geschichte steigert.120 Die Beschreibung König Jörmunreks an späterer Stelle kommt ohne Gewährsleute aus: „Jörmunrek war ein König geheißen, der war ein mächtiger König in jener Zeit“ (Vs 42).121 In den Reginsmál heißt es: „Damals war Reginn zu Hjalprek gekommen, der Sohn Hreidmarrs“ (Rm. Prosaeinleitung).122 Das ‚damals/da‘, ‚þá‘, bezieht sich auf die Lebzeiten Sigurds und entspricht einer zeitlichen Verlagerung in eine vergangene, aber greifbare Vorzeit. Ebenso verhält es sich mit Passagen in der Sigurðarkviða in skamma und der Guðrunarkviða in fyrsta: „Einst war’s, dass Sigurd Gjuki aufsuchte“ (Sg. 1)123 und „[e]inst war’s, dass Gudrun zu sterben wünschte“ (Gðr. I 1).124 Der Prolog der Þiðreks saga125 gibt Aufschluss über die Quellen der Saga und über ihre Entstehungszeit. Darin heißt es: Unsere Geschichte ist zusammengestellt nach der Erzählung deutscher Männer, teilweise nach ihren Liedern, womit man große Herren unterhalten soll, und die gedichtet waren in heidnischer Vorzeit unmittelbar nach den Geschehnissen, von denen in dieser Geschichte die Rede ist. Und nimmst du einen Mann aus jeder Stadt in Sachsenland, so werden alle diese Geschichte auf dieselbe Art erzählen. Das kommt von diesen ihren alten heidnischen Liedern (Þiðr Prolog).126

Der Prolog spricht davon, dass die deutschen Quellen der Saga zeitlich unmittelbar nach den beschriebenen Ereignissen entstanden sind, diese also von größter Aktualität und Akuratheit sind. Es handle sich bei den Geschichten um wahre Begebenheiten Sagen gesagt wird, er wäre der größte Kämpe gewesen in alter und neuer Zeit“; „Hann gerðist hermaðr svá mikill ok frægr, at hans er víða getit í fornum sǫgum, at hann hafi mestr kappi verit at fornu ok nýju.“ (Hrólf 12). Und an anderer Stelle: „Keine andere Partie schien damals besser als Yrsa“; „Ekki þótti þá annarr kostr betri en þat, sem Yrsa var“ (Hrólf 10). 120 Vgl. Buchholz 1980, S. 37–40. 121 „Iormunnrekr hefir konungr heitit. Hann var rikr konungr i þann tima.“ 122 „Þá var kominn Reginn til Hjálprecs, sonr Hreiðmars.“ 123 „Ár var, þatz Sigurðr sótti Giúca“. 124 „Ár var, þaz Guðrún gorðiz at deyia“. 125 Vgl. Hallberg 1982, S. 8: „The preface of Þiðreks saga has in its size and scope no real counterpart in other sagas of the corpus. But it is a reasonable assumption that it could, mutatis mutandis, have been accepted by most writers of such texts as an apology for the genre as a whole. For to all appearances they lay claim to credibility, or at least they pretend to do so.“ 126 „þesse sagha er samansett epter søgn þydskra manna, enn sumt af þeirra kuædum er skemta skal rikumm monnum og fornort voro þegar epter tiþindumm sem seiger j þessare søghu og þo ath þu taker einn mann vr hverre borg vmm allt Saxlannd þa munu þessa søghu aller a eina leid seigia enn þui vallda þeirra hin fornu kuæde“.  





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2. Figuren- und Gattungstypen

aus der Heidenzeit und das Festhalten der Ereignisse in Liedern sorge für eine gewisse Uniformität in der Rezeption. Ein wenig später wird der zeitliche Rahmen noch genauer eingegrenzt: „Diese Geschichte spielt nach dem Tode Konstantins des Großen“ (Þiðr Prolog).127 Die Hamðismál beschreiben die Zeit ihrer Handlung mit den Worten: „Es war nicht jetzt noch gestern, | es ist seither viel vergangen, | nichts ist älter, später war’s um die Hälfte“ (Hm. 2).128 Das hohe Alter des erzählten Inhalts wird idealisiert. In kunstvoller Form wird aufgezeigt, dass die behandelten Stoffe uralt sind.129 Die Helgakviða Hundingsbana entrückt die Episode der Geburt des Helden in eine Urzeit:130 „Urzeit war es, als Adler schrien, | heilige Wasser strömten von den Himmelsbergen; | da hatte Helgi, den großmütigen, | Borghild in Bralund geboren“ (HH. 1).131 Die Erwähnung von göttlichen Ereignissen – heilige Wasser, kommend von den Himmelsbergen, vielleicht dem Sitz der Götter132 – in uralten Tagen zeigt das atmosphärische Vorgehen des Dichters auf.133 Den Anstrich des Uralten erhält ebenso die Helgakviða Hundingsbana önnur, wenn es im Prosaabschluss heißt: „Es war Glaube in der alten Zeit, dass man wiedergeboren würde, aber das wird jetzt alter Weiber Aberglaube genannt“ (HH. II Abschlussprosa).134 Der Verfasser beschreibt die Andersartigkeit seiner Textwelt und -zeit, relativiert und bewertet sie allerdings auch sogleich. Sigis Sohn, Rerir, fährt nach seinem Tod zu Odin, was der Sagaautor mit „vielen erschien das wünschenswert in jener Zeit“ (Vs 2)135 kommentiert. Die religiös-moralische Alterität der geschilderten Vorzeit wird in der Erzählung vom Verfasser nach 



127 „þesse saga hefer gier verit j þann tijma er Constantinus kongur hinn mikli var andadur.“ 128 „Vara þat nú né í gær, | þat hefir langt liðit síðan, | er fát fornara, fremr var þat hálfo“. 129 Zur Verlagerung eines heroischen Ideals in den Hamðismál in die ferne Vergangenheit vgl. Clark 2012, S. 18–20. 130 Vgl. de Vries 1999I, S. 304. Heinz Klingenberg spricht vom „Anfang einer Heldenzeit nach Vorbild der Götterzeit“ (Klingenberg 1974, S. 58). Vgl. Klingenberg 1974, S. 58 ff.: „die Helgaqviða Hundingsbana I beginnt nicht nach Art eddischer Heldenlieder, sondern fängt mit der Geburt des Helden an und rückt diese Begebenheit in einen mythischen ‚Anfang der Zeiten‘ […]. Für die Helgaqviða Hundingsbana I am Anfang des Heldenliedteils aber ist das ár alda der mythisch erhöhte Anfang einer schon von Menschen, Helden belebten Urzeit […]. Die Helgaqviða Hundingsbana I erhebt die Fiktion eines idealtypischen ‚Anfangshelden‘, eines heroisierten Lebensanfangs am Anfang der Zeiten auf denkbar größtem Schauplatz – am Anfang des Heldenliedteils.“ Vgl. Wolf 2009, S. 341: „Der Kompilator der Edda und dessen Publikum versuchten zurückzublicken in eine Vorzeit […] und legten sich diese Vorzeit nach ihrem Wissensstand, Empfinden und ihren Interessen zurecht. Personen und Ereignisse konnten so in neuem Licht erscheinen.“ 131 „Ár var alda, þat er arar gullo, | hnigo heilog vǫtn af Himinfiollom; | þá hafði Helga, inn hugomstóra, | Borghildr borit í Brálundi.“ 132 Arnulf Krause sieht hier einen Bezug zu den Grímnismál: „denn die Asenbrücke steht ganz in Flammen, | heilige Wasser sieden“; „þvíat ásbrú brenn ǫll loga, | heilog vǫtn hlóa“ (Grm. 29). „Die ‚Himmelsberge‘ können sich auf skandinavische Ortsnamen beziehen oder auf einen Sitz der Götter“ (Krause 2004, S. 248 Anm.). 133 Das Lied – so Edgar Haimerl – evoziere das Bild der „Geburt eines Gottes“ (Haimerl 1992, S. 34). 134 „Þat var trúa í fornesciu, at menn væri endrbornir, enn þat er nú kǫlluð kerlingavilla.“ 135 „þotti þat morgum fysilikt i þann tima.“  





















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empfunden.136 Bei Sigurds Erziehung spricht der Verfasser vom Erwerben von Fertigkeiten, „wie es damals geziemend war für Königssöhne“ (Vs 13).137 Die Frage stellt sich, warum es damals geziemende Fertigkeiten sind, die der junge Sigurd erlernt, da der Verfasser bei der Beschreibung des Helden sicherlich vom höfischen Ideal seiner eigenen Zeit inspiriert wurde. Zwei Vorstellungen von Zeiten fließen hier zusammen: eine heroische Vorzeit und eine fingierte höfische Vorzeit.138 Von Sigmund heißt es: „König Sigmund […] wurde für den größten Helden und König gehalten zur Zeit des Heidentums“ (Vs 10).139 Die Zeitangabe ‚in der alten Zeit/in der Zeit des Heidentums‘, ‚i fornum sid‘, verbindet der Autor mit der Meinung der Zeitgenossen Sigmunds. Der Vorzeitheld erhält die Aura von wahrhafter überlieferter Historizität. Im Nornagests þáttr berichtet ein Fremder namens Gestr am Hofe König Olaf Tryggvasons von seinen Abenteuern in der Gefolgschaft von Sigurd Fafnirstöter.140 Auf Grund der Zeitangaben, die im þáttr gemacht werden, lassen sich diese Ereignisse relativ gut datieren. Gestr behauptet von sich „[d]reihundert Winter“ (Norn 12)141 alt zu sein und zwar zum Zeitpunkt des dritten Jahres von König Olaf Tryggvasons Regierungszeit, also dem Jahr 998 (vgl. Norn 1). Die Episode von Sigurds Vaterrache spielt sich ab, da „das deutsche Kaiserreich noch nicht über die Alpen […] nach Norden gekommen“ (Norn 5)142 war. Die Ereignisse der Nibelungensage werden in Gestrs Metadiegese als realhistorische Begebenheiten behandelt. Gestr sagt weiterhin: „auch ist allgemein bekannt, daß er von allen Heerkönigen der vornehmste gewesen ist und der herrlichste in der Heidenzeit“ (Norn 4).143 Wie Sigmund in der Völsunga saga werden Sigurds Taten hier in der Heidenzeit angesiedelt. Ferner geht die Gestrfigur davon aus, dass sie von allgemein bekanntem Sagengut spricht und dass ihr Publikum über Sigurds Ruhm Bescheid weiß. Zum Trost webt Gudrun zusammen mit Thora in der Halle König Halfs in Dänemark. Es heißt:

136 Vgl. Teichert 2008, S. 136: „[Der Satz] verrät, daß der Autor der Vǫlsunga saga einen Grundmythos suggerieren will, der von dem seiner eigenen Zeit differiert; ein genaueres Wissen um den Wertekanon dieses historisch vergangenen Grundmythos glaubt er bei seinen Rezipienten offenbar nicht voraussetzen zu können, denn sonst wäre dieser erklärende Zusatz nicht notwendig gewesen.“ Teichert kategorisiert dies unter der Strategie der Archaisierung. 137 „sem þa var titt konungasonum“. 138 Auch der zentraleuropäische höfische Roman benutzt solche Zeitindikatoren, um die Sitten und Bräuche einer vergangenen Zeit darzustellen. Im Iwein heißt es zum Beispiel: „Nun war es zu jenen Zeiten Brauch, daß der Ankläger denselben Tod erleiden musste“; „Nû was ez ze den zîten site | daz der schuldegære lite | den selben tôt“ (Iwein 5429). 139 „Sigmundr konungr […] þickir verit hafa inn meste kappe ok konungr i fornum sid.“ 140 Zu den Quellen und Motiven des Nornagests þáttrs vgl. Harris/Hill 1989, S. 105–122. 141 „300 vetra“. 142 „þá var eigi keisararíki komit norðr hingat yfir fjallit.“ 143 „er mǫnnum þat ok kunnigt, at Sigurðr hefir verit allra gǫfgastr herkonúnga, ok bezt at sèr í fornum siðum.“  



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2. Figuren- und Gattungstypen

[Thora] stellte ihr einen Webstuhl auf, half ihr beim Einschlag des Gewebes und wirkte daran viele Heldentaten, schöne Kampfspiele, wie sie damals üblich waren, Schwert, Panzer und alles, worin sich ein König kleidet, ferner auch König Sigmunds Schiffe, wie sie vom Lande abstießen; weiter wirkten sie, wie sich Sigar und Sig[g]eir schlugen südlich auf Fühnen (Vs 34).144

Durch Erwähnung eines ‚damals‘, ‚i þann tima‘, bei der Beschreibung von (Kampf‑) Spielen arbeitet der Verfasser die Andersartigkeit der Textwelt im Vergleich zu seiner eigenen Gegenwart heraus. Das ist ein Unterschied zum Nibelungenlied, in dem die Sagenwelt völlig die Kultur der Zeit der Verschriftlichung angenommen hat. Nun hat es sicher irgendeine Form von Kampfspielen innerhalb der kriegeraristokratischen Rezipientenschaft des 13. Jahrhunderts gegeben. Indem die Saga aber von einem Damals berichtet, schafft sie Distanz zu den beschriebenen Inhalten. Sigurds Erziehung wird von dem, was dem Zeitgenossen des Verfassers vertraut ist, weggerückt. Die Nennung von Sigmunds Schiffen, vor allem in Zusammenhang mit den sonst unbekannten Sigar und Siggeir, lässt die komplette Sigmundpassage aus der Sicht der Figur Gudrun einen Hybridcharakter annehmen: Zum Einen ist Sigmund der durchaus reale verstorbene Schwiegervater, zum Anderen aber tritt er bereits ein in eine Sagensphäre, in der er mit anderen Sagenfiguren koexistiert. Die Sigmundsage wird bereits innerhalb der Völsunga saga rezipiert. Im Gegensatz zu der Beschreibung Sigmunds, in der von einer historisch definierbaren Realität gesprochen wird, steht die Aussage über Sigurd: „Und wenn all die berühmtesten Männer und Könige in Geschichten der Vorzeit genannt werden, dann muß Sigurd vorangehen“ (Vs 13).145 Es werden explizit Geschichten der Vorzeit, ‚fornsǫgur‘, erwähnt, was den Stoff nicht nur in eine historisch vage Position rückt, sondern auch in eine realistisch nicht fassbare. Im Prosafragment Frá dauða Sinfiotla im Codex Regius werden die Nachfahren Sigmunds beschrieben. Bei Sigurd werden dabei alte Sagen146 als Quelle aufgeführt: „Sigurd war jedoch von allen der Beste und in alten Sagen nennt man ihn vor allen Männern und den Herrlichsten der Heerkönige“ (Sf.).147 Auch der Erzähler der Völsunga saga bezieht sich auf alte Lieder und Sagen: Die Kinder Völsungs seien „gewaltige Helden, wie es lange im Gedächtnis festgehalten und laut gepriesen ist, welch’ überaus kampflustige Männer die Völsunge  

144 „slo borda yfir henne ok skrifade þar a maurgh ok stor verk ok fagra leika, er tidir voru i þann tima, sverd ok bryniur ok allan konungs bunad, skip Sigmundar konungs, er skridu fyrir land fram. Ok þat byrdu þęr, er þeir baurduzt Sigarr ok Siggeirr a Fioni sudr.“ 145 „Ok þa er nefndir eru allir enir agęztu menn ok konungar i fornnsaughum, þa skal Sigurdr fyrir ganga“. 146 So zum Beispiel auch in der Völundarkviða: „Er war der kunstfertigste Mann, soweit man es aus alten Geschichten weiß“; „Hann var hagastr maðr, svá at menn viti, í fornom sǫgom“ (Vkv. Prosa vor 1). 147 „Sigurðr var þó allra framarstr, oc hann kalla allir menn í fornfrœðum um alle menn fram oc gǫfgastan herkonunga.“

2.1 Heroisch

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gewesen sind, und wie sie die meisten Männer übertroffen haben, deren gedacht wird in alten Geschichten, sowohl an Weisheit als an Fertigkeiten und eifrigem Streben aller Art“ (Vs 2).148 Und an anderer Stelle: „Die Völsunge und die Gjukunge sind nach dem, was die Leute erzählen, die mutigsten und mächtigsten Helden gewesen, und so heißt es auch in alten Liedern“ (Vs 40).149 Die nordgermanische Nibelungensage verhält sich hier exakt in der Tradition des südgermanischen Nibelungenliedes,150 in dessen Eingangsstrophe eben auch die alten Mären erwähnt werden, Nachrichten, die Unerhörtes ans Ohr der Zuhörer151 bringen: „In alten Geschichten wird uns vieles Wunderbare berichtet: von ruhmreichen Helden, von hartem Streit, von glücklichen Tagen und Festen, von Schmerz und Klage, vom Kampf tapferer Recken: Davon könnt Ihr jetzt Wunderbares berichten hören“ (Nl 1,1–4).152 „[M]it der Eingangszeile des Nibelungenliedes werden bereits Kontinuität und Abstand zwischen der Gegenwart des Uns von Erzähler und Publikum und der Vergangenheit der alten maeren angedeutet“.153 Die Verfasser der jeweiligen Texte beziehen sich auf Quellen, die bereits für das zeitgenössische Publikum alt sind.

148 „ofrkafsmenn miklir ok hafa verit fyrir flestum monnum, sem getid er i fornsaugum, bęði um frodleik ok iþrottir ok allzhattar kappgirni.“ 149 „Volsunghar ok Giukunghar, at þvi er menn segia, hafa verit mestir ofrhugar ok rikismenn, ok sva finnz i aullum fornnkvędum.“ 150 Vgl. Teichert 2008, S. 136 f.: „Bemerkenswert ist ferner, daß sich die Vǫlsunga saga – wie das Nibelungenlied in seinem Auftaktvers […] – explizit auf altüberlieferte Quellen beruft […]. [Im zweiten Kapitel der Völsunga saga] werden die Helden der Nibelungensage über die Protagonisten anderer Heldensagenfabeln hervorgehoben, deren Kenntnis der Autor der Vǫlsunga saga vorauszusetzen scheint.“ 151 Otfrid Ehrismann bezeichnet die Eingangsstrophe des Epos als eine „brilliant eingeformte[…] Vorschau, die sich an die kollektive Erinnerung der Zuhörerinnen und Zuhörer richtet. Der Epiker eröffnet im Gestus des Rhapsoden, des fahrenden Sängers, einen gemeinschaftsstiftenden Diskurs über die heroische Zeit der Ahnen. Zugleich legt er Stil und Gattung fest: carmen heroicum (‚heroisches Epos‘, ‚Heldenepos‘) und genus grande (‚erhabener Stil‘)“ (Ehrismann 2005, S. 11). Weiterhin erklärt er zur ersten Strophe: „Das von alters Erzählte ist nach Auffassung der Zeit mit dem Fluidum der Wahrheit umgeben, es ist – wenn auch fingierte – Geschichte“ (Ehrismann 2005, S. 12). Indem er ihnen das Attribut alt verleiht, adelt der Erzähler die Inhalte des Epos. Vgl. hierzu Müller 1998, S. 103: „Während eine mündliche Erzählung mit der Stimme dessen, der erzählt, einfach einsetzen kann, muß in der Schrift der Ort dessen, was gesagt wird, eigens bestimmt werden. Angekündigt wird eine uralte Geschichte, wobei der Sprecher von einer Position aus zu sprechen scheint, auf der, sie zu erzählen, bereits nicht mehr selbstverständlich ist. Wo man alte mæren identifiziert, gibt es auch andere, weniger alte. Der Erzähler optiert für die ersten.“ Vgl. außerdem Ehrismann 2002, S. 61: „Um die Wahrheit ‚vorzutäuschen‘, beruft sich der Dichter des Mittelalters gerne auf das seit alters Erzählte […]. Zugleich fingiert ein solcher introitus Objektivität und Distanz zum Geschehen, wozu auch die (grundsätzliche) Anonymität des Heldenepos […] beiträgt.“ 152 „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit | von helden lobebæren, von grôzer arebeit, | von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, | von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.“ 153 Weddige 2008, S. 225.  



















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2. Figuren- und Gattungstypen

Von der Bruderrache Gudruns heißt es in der Einleitungsprosa der Atlakviða: „so wie es berühmt wurde“ (Akv. Einleitungsprosa)154 und „Darüber ist dieses Lied gedichtet“ (Akv. Einleitungsprosa).155 Der Text versteht sich als Verarbeitung einer bestehenden Überlieferung und nicht als Primärquelle der Inhalte. Diese sind berühmter, bekannter und überlieferter Stoff, der nach der Eigenaussage des Textes in der Atlakviða seine Verschriftung findet. Die erste Strophe des Liedes beginnt mit den Worten: „Atli sandte einstmals zu Gunnar | einen klugen Krieger“ (Akv. 1)156 und verlagert damit die Handlung in eine vergangene heroische Zeit.157 Das Lied endet mit den Worten: „Darüber ist zu Ende gesprochen. Keine Frau fährt seitdem | in die Brünne, die Brüder zu rächen“ (Akv. 43).158 Das Ende des Liedes betont nochmals den mündlichen Charakter der Erzählung und außerdem das einmalige und unerhörte Handeln Gudruns, das sich ‚seitdem‘, also vom heroic Age bis zur Zeit der Verschriftung nicht wiederholt hat. Die Abschlussprosa ergänzt: „Genauer wird dies im grönländischen Atlilied erzählt“ (Akv. Abschlussprosa).159 Das Lied räumt also ein mögliches Nebeneinander verschiedener Erzähltraditionen ein – wie auch die Prosapassage Frá dauða Sigurðar160 –, die zwar den Stoff in Varianten161 wiedergeben, aber gerade durch die Beleuchtung von verschiedenen Seiten Echtheit generieren. So spricht auch der Prolog der Þiðreks saga: Dort wird eine Variante der Erzählung erwähnt, die von norrönischen Männern teils in Versen zusammengestellt wurde – vielleicht die dem Kompilator der Þiðreks saga eventuell bekannten Heldenlieder:  









Und wenn auch einige Abweichungen betreffs der Namen und Umstände der Helden vorkommen, so ist das nicht verwunderlich bei der Fülle der Geschichten,162 die diese (norroenir menn) erzählen, obgleich die Geschichte so ziemlich den gleichen Stoff behandelt (Þiðr Prolog).163

154 „svá sem frægt er orðit“. 155 „Um þetta er siá qviða ort.“ 156 „Atli sendi ár til Gunnars | kunnan segg at ríða“. 157 Vgl. von See 1971, S. 172: „Die Atlakviða versetzt die Sage in eine halbmythische Ferne und läßt sie gerade dadurch, daß sie sie dem gewöhnlichen Leben entrückt, um so ehrwürdiger und wesenhafter erscheinen.“ 158 „Fullrœtt er um þetta; ferr engi svá síðan | brúðr í brynio brœðra at hefna“. 159 „Enn segir gleggra í Atlamálom inom grœnlenzcom.“ 160 „Einige jedoch sagen, […]. Aber deutsche Männer erzählen, […]. Und im alten Gudrunlied wird gesagt, […]. Aber das erzählen alle gleich, […]“; „Enn sumir segia svá, […]. Enn þýðverscir menn segia svá, […]. Oc svá segir í Guðrúnarqviðo inni forno, […]. Enn þat segia allir einnig, […]“ (Br. Prosa nach 19). 161 Vgl. Buchholz 1980, S. 34: „Erzählvarianten stellen sicherlich die bedeutendste Gruppe der mehr indirekten Zeugnisse für altnordische Mündlichkeit dar.“ 162 Zuvor haben wir von der Uniformität der alten Lieder der Deutschen gehört. Tatsächlich scheint sich hier ein nationaler Unterschied zu ergeben: Wohingegen die Deutschen die Lieder nach den Ereignissen in der Heidenzeit gedichtet und sich ein geschlossenes Bild der Überlieferung ergeben habe, würden sich im skandinavischen Raum Abweichungen betreffend der Handlung und Nomenklatur zeigen. Dies sei zurückzuführen auf einen Überfluss an Geschichten, die im Norden erzählt werden. 163 „og þo ath nockut bregdist athkuædi vmm manna heiti edur athburde þa er ei vndarligt suo margar søghur sem þesser hafa sagt enn þo rijs hun nær af einu efni.“  





45

2.1 Heroisch

Die Atlamál verstehen sich als Neuverarbeitung eines bereits bekannten164 Stoffes, der weit in die Vergangenheit zurückreicht: „Gehört haben die Menschen vom Verrat, den einst Männer | in der Versammlung berieten“ (Am. 1).165 Im Lied wird außerdem gesprochen, welchen Nachruhm sich die Gjukungen über die Liedhandlung hinaus erwerben, sodass sie im Bewusstsein der Rezipienten weiterleben: „Glücklich heißt seither jeder, der Kinder | von solcher Kraft zeugte, wie’s Gjuki tat; | erinnern wird man sich in jedem Land, | ihrer Trotzreden, wo immer das Volk sie hörte“ (Am. 105 [102]).166 Über Högni heißt es: „alle bewunderten seine Standhaftigkeit, und das Andenken hat sich seitdem erhalten“ (Vs 39).167 Der Ruhm Högnis und der Gjukungen reicht von der heroischen Textzeit bis in die Gegenwart der Verfasser hinein. Dabei wird das Heldenideal nicht nur über zeitliche Grenzen transportiert, sondern auch über die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit. Nach dem Exposé der Figuren heißt es in der Einleitungsprosa des Oddrúnargrátrs: „Von dieser Geschichte wird hier gesprochen“ (Od. Einleitungsprosa).168 Die Geschichte wird hier nicht zum ersten Mal erzählt, sondern es wird sich auf einen Stoff bezogen, der bereits existiert und hier ein weiteres Mal rezipiert wird.169 Die Idee der Rezeption einer Geschichte wird in der ersten Strophe von der Erzählerstimme aufgenommen: „Ich hörte sagen in alten Geschichten, wie ein Mädchen kam ins Mornaland“ (Od. 1).170 Und wiederum, ähnlich wie in der Eingangsstrophe des Nibelungenliedes, handelt es sich um alte Geschichten. Der Großteil des Oddrúnargrátrs berichtet von den Ereignissen der Vorgeschichte Brynhilds und des Nibelungenunterganges (vgl. Od. 14–34). Diese Geschehnisse sind im Oddrúnargrátr bereits Vergangenheit geworden. Die ‚alten Geschichten‘ spielen sich also in einer Zeit nach der Gkujungensage ab, in der der Gjukungenuntergang bereits zu Geschichte geworden ist. Diese Rahmenerzählung des Gedichts rückt das Erzählte in noch weitere Ferne. Im ersten Kapitel der Völsunga saga setzt die Handlung nach der Vorstellung der Figuren folgendermaßen ein: „Das muß nun erzählt werden, daß Sigi einmal auf die Jagd ging“ (Vs 1).171 Durch das ‚einmal‘, ‚eitthvert sinn‘, signalisiert der Verfasser den

164 Vgl. von See/La Farge et al. 2012, S. 422: „Wie in der letzten Strophe des Liedes bezeichnet der Erzähler den Gegenstand seiner Geschichte als ‚weltbekannt‘ […], und in dieser ersten Strophe wird zudem die zeitliche Distanz zu den Begebenheiten hervorgehoben“. 165 „Frétt hefir ǫld ófo, þá er endr um gorðo | seggir samkundo“. 166 „Sæll er hverr síðan, er slíct getr fœða | ióð at afreki, sems ól Giúki; | lifa mun þat eptir á landi hverio, | þeira þrámæli, hvargi er þióð heyrir.“ 167 „allir undruduzt þrek hans, ok þat er siþan at minnum haft.“ 168 „Um þessa sǫgo er hér qveðit.“ 169 Arnulf Krause bemerkt, dass der Sagenstoff im Oddrúnargrátr „mit viel Phantasie neu“ (Krause 2004, S. 405) gestaltet wurde. Er spricht die „freie Gestaltung des Gedichts“ (Krause 2004, S. 405) an. 170 „Heyrða ec segia í sǫgom fornom, | hvé mær um kom til Mornalanz“. 171 „Þad er at segia eitthvert sinn, at Sigi ferr a dyraveide“.  





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2. Figuren- und Gattungstypen

Beginn des Geschehens.172 Die Dauerzustände, die er im Absatz zuvor geschildert hat, wandeln sich nun zu einmaligen Ereignissen. Das Statische wird zum Bewegten.173 Da die Handlung nun losgetreten ist, wird die Zeit messbar und die Geschehnisse werden in lineare Abläufe eingefügt: „sie jagten den ganzen Tag bis zum Abend. Aber als sie am Abend […]“ (Vs 1)174 oder: „Darauf kam er am Abend heim“ (Vs 1).175 Die zeitlich messbare Handlung in der Vorzeit hat allerdings Auswirkung über die Vorzeit hinaus: Nach diesem einmaligen Ereignis wird jede größere Schneewehe nach dem toten Bredi benannt:176 „Das hält man seitdem so und nennt jede Schneewehe so, die groß ist“ (Vs 1).177 Eine Verbindung wird geschaffen von einem Ereignis in der mythischen Vorzeit zu den fingierten Bräuchen der Jetztzeit des zeitgenössischen Verfassers und Rezipienten. Die Konsequenz von Sigis Tat ist die Verbannung, wobei es heißt: „er durfte jetzt nicht in der Heimat bleiben bei seinem Vater“ (Vs 1).178 Das ‚jetzt‘, ‚nú‘, signalisiert den Fortlauf der Handlung innerhalb der mythischen Vorzeit, die nun die konstante Zeitstufe der Sagahandlung wird. Ein weiterer Indikator ist das ‚nun‘ zwei Sätze später: „Nun begann Sigi sich auf Heerfahrten zu legen“ (Vs 1).179 Die Gegenwärtigkeit der Handlung steht nun im Gegensatz zu der Vormaligkeit der Erzählung, die noch durch das ‚at segja eitthvert sinn‘ repräsentiert wurde. Der Erzähler vergegenwärtigt dem Rezipienten nun die Vorzeit, in der seine Handlung spielt, indem er selbst die zeitliche Position wechselt und sagt: „Das ist nun zu erzählen“ (Vs 2).180 Zwar rückte der Erzähler am Anfang seiner Erzählung die Sagahandlung in eine mythische und vorzeitliche Ferne, doch holt er diese Vorzeit nun in die Nähe des Rezipienten.181

172 Vgl. zu Zeitmarkern und -wechseln in der eddischen Dichtung Meletinsky 1986, S. 16–18. Meletinsky argumentiert, dass wiederkehrende Formulierungen nicht Entlehnungen von anderen Liedern, sondern Allgemeinplätze formelhafter Dichtung seien. 173 Über die Eingangsaventiuren des Nibelungenliedes schreibt Jan-Dirk Müller: „Die beiden typischen Formeln des Epeneinsatzes, die eher ‚dynamische‘ (Ez wuohs) und die eher ‚statische‘ (Ez was gesezzen), leiten den Übergang von (relativer) Ruhe in (heroische) Bewegung ein“ (Müller 1998, S. 108). Müller schildert außerdem das ständige Oszillieren zwischen höfischen Ruhezuständen und heroischer Aktion im Epos (vgl. Müller 1998, S. 108–116). Der harmonische Stasiszustand ist Ideal des Höfischen. Er wird kontinuierlich von der Krise unterbrochen, durch die heroisches Handeln einsetzt. 174 „veida dyr um daginn allt til aptans. En er […] um aptaninn“. 175 „Nu ferr hann heim um kvelldit“. 176 Die Strategie der Aitiologisierung bei Matthias Teichert (vgl. Teichert 2008, S. 139), die wir zum Beispiel auch in der Grettis saga finden. Dort heißt es, dass die Redensart entstanden sei, jemand habe das Glamsgesicht, wenn er die Realität nicht richtig wahrnehme. Das Sprichwort entsteht nach Grettirs Kampf mit dem Wiedergänger Glam (vgl. Gr 35). 177 „hafa menn nu þat eptir sidan ok kalla sva hveria fonn, er mikil er.“ 178 „ok ma hann nu eigi heima vera med fedr sinum.“ 179 „Nu tekr Sigi at legiazt i hernad“. 180 „Þat er nu at segia“. 181 Insgesamt findet sich im Text der Völsunga saga nur viermal eine Formulierung mit ‚eitthvert‘. Formulierungen mit ‚nú‘ sind weitaus zahlreicher. Das ‚nú‘ hat nach der Eingangsepisode die Funktion eines aufzählenden ‚dann/darauf‘.  







2.1 Heroisch

47

Die Ursprungsgeschichte des Schatzhortes, den Sigurd nach seiner Drachentötung erlangt, spielt noch vor den Ereignissen der Völsunga saga und der Heldenlieder. In der mythischen Vorzeit sind die Götter die Handelnden, wobei sie sich allerdings nach denselben Mustern verhalten und denselben Problemen begegnen wie die Helden der heroischen Vorzeit. Die komplette Vorgeschichte des Hortes wird metadiegetisch präsentiert. Sie besteht nur in der Erzählung Regins: „Regin antwortete: ‚Darüber gibt es eine Geschichte, und die will ich dir erzählen‘“ (Vs 13).182 Die Erzählung der Vorgeschichte wird eingeleitet mit den Worten: „Damit beginnt diese Geschichte“ (Vs 14)183 und geht dann sofort in die Exposition der Figuren über. Die statischen Verhältnisse der Exposition werden durchbrochen, indem die Götterfiguren auftreten: „Odin, Loki und Hönir kamen […] auf ihrer Wanderung nach dem Andvarafors“ (Vs 14),184 wobei allerdings keine zeitlichen Indikatoren geliefert werden, die die Zeitstufe der Erzählung irgendwie mit einer mythisch-göttlichen Vorzeit in Verbindung bringen ließen. Die Geschichte ist ein Erlebnisbericht aus Regins Jugend. Wie weit sie zurückreicht, kann nicht gezeigt werden. Die Struktur der metadiegetischen Passage unterscheidet sich folglich nicht im Besonderen von der Resthandlung der Saga, was erstaunlich ist, da gerade hier der Verfasser eben jene Zeitmarker anbringen hätte können, die über den Rest der Erzählung verteilt sind. Die Vorgeschichte des Hortes rückt deswegen in die direkte Nähe der Sagafiguren. „Darauf ging ich zu dem König und wurde sein Schmied“ (Vs 14),185 berichtet Regin von seinem Verbleib nach den Ereignissen, die zum Entstehen des Schatzhortes geführt haben. Die Geschehnisse um den Hort und am Hofe Hjalpreks stehen also in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang. In den Heldenliedern wird die Passage so eröffnet: „Er erzählte ihm von seinen Vorfahren und den Ereignissen, wie Odin, Hönir und Loki zu Andwaris Wasserfall gekommen waren“ (Rm. Einleitungsprosa).186 Die Vorfahren, ‚forellri‘, sind hier das hervorstechende Wort, das die Atmosphäre ferner Vergangenheit erweckt. Im Folgenden wird aber doch nur von den nahen Verwandten Regins gesprochen, von seinem Vater und seinen Brüdern. Die Skáldskaparmál zeichnen sich insofern aus, dass sie ohnehin eine Sammlung mythischer Geschichten darstellen, durch die die kenningar der skaldischen Dichtkunst erklärt werden. Snorri beginnt seine Erklärung zur kenning Otterbuße für Gold, also die Vorgeschichte des Nibelungenhortes, mit den Worten: „Es wird erzählt, daß die Asen Odin, Loki und Hönir aufbrachen, um die Welt zu erforschen“ (Sskm 39).187 Das wiedergegebene Material wird als allgemein verfügbares Er 



182 „Reginn svarar: ‚Saga er til þess, ok mun ek segia þer.‘“ 183 „Þat er upphaf saugu þessar“. 184 „Oþinn, Lokę, Hęnir foru leidar sinnar ok komu til Andvarafórs.“ 185 „Sidan for ek til konungs, ok giordumzt ek smidr hans.“ 186 „Hann sagði Sigurði frá forellri síno oc þeim atburðom, at Óðinn oc Hœnir oc Loki hǫfðo komit til Andvarafors“. 187 „svá er sagt at þá er Æsir fóru at kanna heim allan, Óðinn ok Loki ok Hœnir“.

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2. Figuren- und Gattungstypen

zählgut gekennzeichnet. Die Geschichte wird zwar nicht explizit in eine heroische oder mythische Zeit verlagert, allerdings gibt der Hinweis darauf, dass die Göttertrias in eine junge, unerforschte Welt loszieht, Aufschluss darüber, dass wir es hier mit einem unberührten, primordialen Weltzustand zu tun haben, der die Atmosphäre der vorheroischen Zeit widerspiegelt.188 Ebenso wie in der Völsunga saga wird keine besondere Zeitspanne zwischen den Ereignissen der Hortentstehung und Regins Dienst bei Hjalprek genannt. Die Erzählungen gehen nahezu übergangslos ineinander über: „Reginn jedoch fuhr zu König Hjalprek nach Thjod und wurde dessen Schmied“ (Sskm 40).189 Eine Episode des Handelns des Gottes Odin, die noch vor der Handlung der Völsungensage spielt, findet sich in der Erzählung der Walküre in den Sigrdrífumál und im Kapitel 21 der Völsunga saga. Sigrdrífa respektive Brynhild berichtet Sigurd, wie der Gott, der hier Hropt genannt wird, die Runen entdeckte (vgl. Sg. 13–18, Vs 21). Die Erzählung, die sich auf göttliches Handeln in einer mythischen Vorzeit bezieht, zumindest aber auf eine Zeit, die vor der Sagahandlung spielt, geschieht abermals in der metadiegetischen Figurenrede.  



2.2 Höfisch 2.2.1 Der Ritter Wenn wir im Folgenden den Begriff des höfischen Romans verwenden, so beschränken wir uns damit auf die Dichtung der Blütezeit der höfischen Literatur, also etwa von 1190 bis 1220/1230. Dabei muss das Wort ‚höfisch‘ eine Hilfskonstruktion bleiben, hinter der sich ein nicht mit wenigen Worten zu erfassendes Bedeutungsspektrum verbirgt.190 Eine kurze Erklärung von ‚höfisch‘ führt gezwungenermaßen zu einem tautologischen Zirkelschluss. Thomas Bein erläutert zum Begriff: „Mit dem Wort hövesch werden zentrale Bereiche adliger Hofkultur bezeichnet“.191 ‚Höfisch‘ ist also ein gewisses Werte- und Normensystem, das im Umkreis des mittelalterlichen Hofes192 existiert und eine Reziprozität zwischen Gesellschaftsnorm und deren Vertreter erschafft:

188 Dass auch der Göttervater Odin in einigen Erzählungen der Vorstellung von sequenzieller Zeit unterworfen ist, zeigt sein Ausspruch in den Hávamál: „Jung war ich einst, allein ging ich, | da verlief ich mich auf den Wegen“; „Ungr var ec forðom, fór ec einn saman, | þá varð ec villr vega“ (Hvm. 47). Nach dieser Vorstellung existiert Odin nicht in einem zeitlosen Stasiszustand, sondern altert ebenso. 189 „Reginn fór þá til Hjálpreks konungs á Þjóði ok gerðisk þar smiðr hans.“ 190 Der Begriff ist „unpräzis“ (Ganz 1977, S. 16). Vgl. zu seinem Spektrum und den damit verbundenen Schwierigkeiten Ganz 1977, S. 16–32 und 1986, S. 39–56 bzw. Jaeger 1991 zu Ursprung und Entstehung des Begriffes durch klerikalen Einfluss auf die weltlichen Adelshöfe. 191 Bein 2005, S. 129. 192 Zum Begriff ‚Hof‘ vgl. z. B. Weddige 2008, S. 169 ff. oder Paravicini 1994, S. 6.  















2.2 Höfisch

49

„Das Leben bei Hofe bedeutet für den einzelnen, daß er sich einem Regelsystem, in dem und mit dem Herrschaft ausgeübt wird, unterwirft, wenn er an ihr partizipieren will.“193 Obschon es freilich einen realgeschichtlichen Bezug zwischen dem Begriff ‚höfisch‘ und der Geistes- und Mentalitätsgeschichte des Mittelalters gibt, ist für uns der Begriff im Folgenden in seiner literarischen Bedeutung relevant. So wird ‚höfisch‘ hier als ein „Stilbegriff der Literaturgeschichte“194 verstanden, der unter einem „ästhetisch-idealen Aspekt“195 zu sehen ist. An höfisches Verhalten ist eine Reihe von Tugenden gekoppelt, zu deren wiederholter Erfüllung der Vertreter der Hofgesellschaft verpflichtet ist, um dem Ideal des Hofes zu entsprechen. Dieser Vertreter der Hofgesellschaft ist der Ritter.196 Wohingegen der Held der Protagonist des heroischen Erzählens ist, ist der Ritter der Protagonist des höfischen Erzählens. Da der im Walde lebende Parzival zum ersten Mal einen solchen Ritter erblickt, hält er ihn zunächst auf Grund seiner strahlenden Erscheinung für Gott. Der Fremde, Karnahkananz, gibt sich allerdings als Ritter zu erkennen. Parzival fragt daraufhin: „Du sprichst von Rittern. Was ist das? Hast du nicht die Stärke Gottes, dann sage mir, wer die Ritterwürde verleiht“ (Parzival 123,4–6).197 Karnahkananz antwortet: „Das tut der König Artus“ (Parzival 123,7).198 Ähnlich wie die tautologische Erklärung Thomas Beins, höfisch sei, was dem Hofe angemessen ist, ist diese Erklärung des Ritterstandes in erster Hinsicht ungefähr genauso hilfreich wie die Antwort zur Frage: Was ist eine Semmel? – Die gibt’s beim Bäcker. Karnahkananz liefert keine Erläuterung der Natur des Ritters, sondern beschreibt nur die enge Bindung an ein soziales Gefüge, welche den Ritter ausmacht. Die Ritterschaft kommt von König Artus. Das reicht zur Erklärung des Ritterstandes in der Textwelt von Wolframs Parzival. Allerdings erkennt auch Karnahkananz in Parzival das Potenzial zum Ritter: „Es scheint, als wäret Ihr ritterlicher Herkunft“ (Parzival 123,11).199 „Man wird nicht von vornherein als Ritter geboren, aber man bringt die Disposition zum Ritter mit.“200 Im Gregorius Hartmanns von Aue gibt der Fürst dem Sohn auf dem Sterbebett eine Reihe von Tugenden und Verhaltensnormen weiter:  

Er sprach: ‚Sohn, nun sei gemahnt, dass du dir für immer die letzten Lehren merkst, die dir dein Vater sagt. Sei getreu, sei beständig, sei sanft, sei demütig, sei kühn mit Barmherzigkeit, sei dir deiner Erziehung bewusst, sei den edlen Herren stark gegenüber, den Armen gütig gegenüber. Die Deinen sollst du ehren, die Fremden für dich gewinnen. Halte dich gern bei den Weisen auf,

193 194 195 196 197 198 199 200

Weddige 2008, S. 169 f. Weddige 2008, S. 189. Weddige 2008, S. 189. Zum Ritterbegriff vgl. Paravicini 1994, S. 3 f.; Bumke 2005, S. 64 ff. „du nennest ritter: waz ist daz? | hâstu niht gotlîcher craft, | sô sage mir, wer gît ritterschaft?“ „daz tuot der künec Artûs.“ „ir mugt wol sîn von ritters art.“ Weddige 2008, S. 173.  



   











50

2. Figuren- und Gattungstypen

meide den Toren, wo du ihn findest. Vor allen Dingen liebe Gott, walte wohl durch sein Gebot (Gregorius 244–258).201

Noch elaborierter ist die Unterweisung Parzivals durch seinen ritterlichen Erzieher Gurnemanz, der den Jungen zwar schon als Ritter, aber noch gänzlich ohne höfische Erziehung vorfindet: Versäumt es nie, Euer Verhalten zu überprüfen. Ein unbedachter Mensch taugt nichts. Er steht gleichsam in der Mauser, verliert alles Ansehen und fährt schließlich in die Hölle. Dem Äußeren nach habt ihr die Gaben zum Herrscher. Doch so hoch Ihr emporsteigt, vergeßt nie, Euch der Notleidenden zu erbarmen; bekämpft ihr Elend durch Freigebigkeit und Güte. Seid stets leutselig und nicht hochmütig. Der notleidende Edle ringt mit der Scham, was bitter genug für ihn ist. Erweist Euch ihm stets hilfsbereit, denn wenn ihr seine Not lindert, so ist Euch Gottes Gnade sicher. Ein solcher Mensch ist nämlich weit schlimmer dran als jene, die offen um milde Gaben betteln. Ihr müßt aber auch klug hauszuhalten wissen! Sinnlose Verschwendung ist kein Zeichen echten Herrschertums, ebensowenig allerdings das geizige Anhäufen von Schätzen. Findet stets das rechte Maß. […] Stellt keine überflüssigen Fragen, doch will Euch jemand mit seiner Rede ausforschen, so seid schnell bei der Hand mit einer wohlüberlegten Antwort. […] Paart stets Kühnheit mit Erbarmen, dann habt Ihr meine Lehren recht begriffen. Will sich ein bezwungener Ritter ergeben, so verschont ihn, wenn er euch nicht solch bitteren Schmerz zugefügt hat, daß tiefes Herzeleid zurückbleibt. Ihr werdet oft die Rüstung tragen. Legt Ihr sie ab, dann wascht Euch die Rostspuren von Gesicht und Händen, damit Ihr einen angenehmen Anblick bietet; denn Frauen achten darauf. Seid manneskühn und frohgemut zugleich, dann werdet Ihr Ruhm gewinnen. Und schließt die Frauen in Euer Herz, das veredelt den Jüngling. Ein rechter Mann verrät sie nie! Legt Ihr es darauf an, sie zu betrügen, werdet Ihr viele hinters Licht führen können, doch Falschheit in der Liebe läßt Euer Ansehen rasch schwinden (Parzival 170,15–172,16).202

201 „er sprach: ‚sun, nû wis gemant | daz dû behaltest mêre | die jungisten lêre | die dir dîn vater tæte. | wis getriuwe, wis stæte, | wis milte, wis diemüete, | wis vrävele mit güete, | wis dîner zuht wol behuot, | den herren starc, den armen guot. | die dînen soltû êren, | die vremeden zuo dir kêren. | wis den wîsen gerne bî, | vliuch den tumben swâ er sî. | vor allen dingen minne got, | rihte wol durch sîn gebot“ (Übersetzung F.D.). 202 „ir sult niemer iuch verschemen. | verschamter lîp, waz touc der mêr? | der wont in der mûze rêr, | dâ im werdekeit entrîset | unde in gein der helle wîset. | ir tragt geschickede unde schîn, | ir mugt wol volkes hêrre sin. | ist hôch und hoeht sich iuwer art, | lât iuweren willen des bewart, | iuch sol erbarmen nôtec her: | gein des kumber sît ze wer | mit milte und mit güete: | vlîzet iuch diemüete. | der kumberhafte werde man | wol mit schame ringen kann | (daz ist ein unsüez arbeit): | dem sult ir helfe sîn bereit. | swenne ir dem tuot kumbers buoz, | sô nâhet iu der gotes gruoz. | im ist noch wirs dan den die gênt | nâch brôte aldâ diu venster stênt. | Ir sult bescheidenlîche | sîn arm unde rîche. | wan swâ der hêrre gar vertuot, | daz ist niht hêrenlîcher muot: | sament er aber schaz ze sêre, | daz sint ouch unêre. | gebt rehter mâze ir orden. | […] | irn sult niht vil gevrâgen: | ouch sol iuch niht betrâgen | bedâhter gegenrede, diu gê | rehte als jenes vrâgen stê, | der iuch will mit worten spehen. | […] | lât erbärme bî der vrävel sîn | (sus tuot mir râtes volge schîn). | an swem ir strîtes sicherheit | bezalt, ern habe iu sölhiu leit | getân diu herzen kumber wesen, | die nemt, und lâzet in genesen. | ir müezet dicke wâpen tragen: | so ez von iu kom, daz ir getwagen | under ougen unde an handen sît | (des ist nâch îsers râme zît), | sô wert ir minneclich gevar: | des nement wîbes ougen war. | Sît manlîch und wol gemuot: | daz ist ze werdem prîse guot. | und lat iu liep sîn diu wîp: | daz

2.2 Höfisch

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Diese gesammelten Tugenden geben den Kern des Ritterdaseins wieder. Sie manifestieren sich in dem, was als höfisches Verhalten, als ‚Höfischkeit‘, bezeichnet werden kann. Werner Paravicini übersetzt diesen Begriff und definiert diese gesamten Werte des Ritterdaseins als curialitas: Curialitas umschreibt eine Gruppe von Haltungs- und Verhaltensvorschriften innerlicher und äußerlicher Art, die als ‚Ritterliches Tugendsystem‘ in der Altgermanistik diskutiert wurden, wobei sich die Suche nach einem widerspruchsfreien ‚System‘ als Illusion erwiesen hat. Es handelt sich u. a. um ‚zuht‘ […], ‚schoene site‘ […], ‚fröude‘ […], ‚mâze‘ […], ‚milte‘ […], ‚hoher muot‘, ‚staete‘, ‚triuwe‘, wobei die ‚milte‘ des Fürsten die materielle Voraussetzung höfischen Lebens darstellt. ‚Höfisch‘ ist nicht, wer statisch alle Bedingungen erfüllt, sondern derjenige, der sein vorbildliches Verhalten durch stets neue Proben unter Beweis stellt. ‚Höfischkeit‘ ist nicht ruhend, sondern in Bewegung gedacht; das Abenteuer, die gesuchte Bewährung gehören notwendig dazu.203  

Konstant und statisch ist im höfischen Roman ausschließlich die Ehre des Königs Artus. Der ruhende Herrscher braucht sich nicht länger zu beweisen. Sein Ansehen ist unantastbar. Die sich um ihn herum kristallisierende Ritterschaft steht allerdings unter einem konstanten Bewährungszwang. Ehre und Ansehen schmälern sich, wenn sie nicht andauernd mit aktuellen Taten angereichert werden. Somit fordert die Pflicht zur Dauerbewährung den Ritter zu immer herausragenderen Taten auf. In beiden der angeführten mittelhochdeutschen Textbeispiele finden wir allerdings die Betonung, dass diese Kühnheit nicht ohne Güte und Erbarmen ausgeübt werden darf. Die Lehrmeister ermahnen dazu, es mit der ritterlichen Verwegenheit nicht zu übertreiben. Diese Form von Mäßigung und Affektkontrolle wird als die Tugend der mâze zusammengefasst. Dem Helden attestieren Hermann Schneider und Wolfgang Mohr: „Ihn stachelt ein ungewöhnlicher Tatendrang an, er hat sein eigenes, überaus empfindliches Ehrgefühl, seine Aufgaben oder sein Schicksal drängen ihn auf seinen Weg, von dem es kein Ausweichen gibt.“204 Als Þiðrek in der Wildnis einen Elefanten erblickt, ist es für ihn ein unumgänglicher Beweis seiner heroischen Fähigkeiten, auf dem Tier zu reiten. Als sein verwundeter Gefährte ihn mit dieser Aufgabe allein lässt, sagt Þiðrek selbst: „ich muß drauf los, ob es nun gut oder schlecht ausläuft“ (Þiðr 187).205 Angesichts der tödlichen Gefahr, bei der der Held seinen Mut beweisen kann, wirkt er wie fremdgesteuert. Er kann sich seinem eigenen Tatendrang und seiner Ruhmsucht nicht entziehen. Anders der höfische Ritter, dem Selbstkontrolle und Zurückhaltung gegeben sind: als Iwein eine keusche Nacht mit einem verführerischen Mädchen zusammen im Bett verbringt, nutzt Hartmann von Aue die Szene, um das Idealbild der von ihm gezeichneten Ritter zu benennen: „ein anständiger Mann [kann] sich alles

tiuret junges mannes lîp. | gewenket nimmer tag an in: | daz ist reht manlîcher sin. | welt ir in gerne liegen, | ir muget ir vil betriegen: | gein werder minne valscher list | hât gein prîse kurze vrist.“ 203 Paravicini 1994, S. 7 f. 204 Schneider/Mohr 1961, S. 1 f. 205 „en æ verð ec til að riða hvart sem ferr vel eða illa.“  







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2. Figuren- und Gattungstypen

dessen enthalten […], dessen er sich enthalten will“ (Iwein 5678–6581).206 Der Typus des Ritters, der versucht, seine Affekte zu kontrollieren und einem streng reglementierten Tugendkatalog unterworfen ist, steht dem Typus des Helden gegenüber, der – bisweilen wie im Wahne – von seinen eigenen Affekten getrieben ist, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zu nehmen. Im Kontrast zu Letzterem beschreibt Hilkert Weddige zur Entwicklung des höfischen Stils: „Der einzelne lernt, seine Affekte zu beherrschen, Distanz zu wahren – im Kampf und Turnier ebenso wie im Umgang mit den Damen. Der Krieger wird zum Hofmann“.207 Und eben dieses Bild des höfischen Kriegers zeichnet Hartmann von Aue, da er seinen enthaltsamen Iwein beschreibt, der sich den Reizen und Impulsen seiner Umwelt keusch enthaltend neben der jungen Dame liegt.208 In der mittelhochdeutschen Literatur ist die Idee von Rittertum stark an das Artuskonzept gebunden. Im gesellschaftlichen Zentrum der Erzählung steht der Artushof, um den die ganze Handlung strukturiert ist. Der König Artus ist dabei der Nucleus des höfischen und ritterlichen Lebens, ein ikonisch gewordenes Idealbild. Die Vorbildfunktion der Artusfigur wird am Anfang des Iwein Hartmanns von Aue beschrieben:  





Wer nach dem wahrhaft Guten von ganzem Herzen strebt, dem wird Ansehen vor Gott und den Menschen als sicherer Lohn zuteil. Ein Beweis dafür ist der edle König Artus, der mit ritterlichem Geist es verstand, Ruhm zu erringen. Zu seiner Zeit hat er so vorbildlich gelebt, daß er den Kranz der Ehren damals trug, wie auch jetzt noch sein Name ihn trägt. Darum haben seine Landsleute recht, wenn sie sagen, er lebe noch heute. Er hat Ruhm erworben, und ist er selbst auch tot, wird doch sein Name stets fortleben. Der wird sich niemals einer Schandtat schämen müssen, der nach seinem Vorbild handelt (Iwein 1–20).209

Der König Artus ist jedoch im höfischen Roman nicht Hauptakteur.210 Er existiert „in tatenloser Idealität. Er setzt nicht sich selbst, sondern andere in Bewegung. […] Letzt206 „ein biderbe man [kan] | sich alles des enthalten […] | des er sich enthalten wil.“ Hartmann fügt allerdings hinzu: „weizgot dern ist aber niht vil“; „Doch gibt es, weiß Gott, deren nur sehr wenige“ (Iwein 6582). 207 Weddige 2008, S. 170. 208 Vom Begriff der Höfischkeit abgeleitet ist der Begriff der Höflichkeit, den Mohammed Rassem in seinem Aufsatz ‚Über den Sinn der Höflichkeit‘ untersucht. Rassem nennt in diesem Zuge die Selbstkontrolle als eine der notwendigen Voraussetzungen der Soziogenese: „Leistungen höherer Höflichkeit haben eine entscheidende Fähigkeit zur Voraussetzung: Die Selbstkontrolle. Die gesellschaftliche Ordnung kommt zustande in einem Zusammenspiel von Selbstkontrolle und Kontrolle durch die Anderen“ (Rassem 1968, S. 383). 209 „Swer an rehte güete | wendet sîn gemüete, | dem volget sælde und êre. | des gît gewisse lêre | künec Artûs der guote, | der mit rîters muote | nâch lobe kunde strîten. | er hât bî sînen ziten | gelebet alsô schône | daz er der êren krône | dô truoc und noch sîn name treit. | des habent die wârheit | sîne lantliute: | sî jehent er lebe noch hiute: | er hât den lop erworben, | ist im der lîp erstorben, | sô lebet doch iemer sîn name. | er ist lasterlîcher schame | iemer vil gar erwert, | der noch nâch sînem site vert.“ 210 Hier besteht ein gravierender Unterschied zur keltischen Sagentradition und der britischen Geschichtsschreibung, etwa bei Geoffrey of Monmouth, in der der Sagenherrscher Hauptträger der Hand 



2.2 Höfisch

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lich verkörpert Artus das Idealbild einer statischen Ordnung der höfischen Welt.“211 Einen solchen idealen Kern, in Form eines Artushofes, kennt die Welt des Nibelungenliedes nicht. Da ist es vielmehr so, dass in den ersten beiden aventiuren zwei Machtzentren beschrieben werden, die zwar auch als überaus herausragend (vgl. für Worms vor allem Nl 5,1–8,4, für Xanten Nl 20,3–4) geschildert werden, allerdings keinesfalls über das Alleinstellungsmerkmal des Artushofes verfügen. Auch die Herrscher dieser Höfe sind kein unantastbarer Artus. Sie werden zwar zunächst als ruhende Könige dargestellt (Gunther etwa beim ersten Konflikt mit Siegfried, da seine dynastische mit dessen charismatischer Herrschaft kollidiert, vgl. Nl. 106,1–115,4, vor allem aber Nl 112,1–4; Siegmund, der zwar herrscht, allerdings die militärische Verteidigung des Landes an seinen Sohn übergibt, vgl. Nl 43,1–4), greifen dann aber – anders als König Artus – selbst in die Handlung ein und werden zu Handlungsträgern. Die Figur des Königs Artus ist abgeschlossen und fertig. Gunther ist dies nicht. Er wirbt um eine Frau, verteidigt sein Land gegen Sachsen und zieht letztendlich selbst aus und findet den Tod. Der Hof im Nibelungenlied ist nicht nur ein Ort der Handlung, sondern wird selbst in die Handlung verstrickt und zum Handeln gezwungen. Die Textgesellschaft des höfischen Romans wird durch ein reglementierendes System von Regeln und Verhaltensvorschriften definiert, die den Verhaltenskodex des Ritters ausmachen. Werner Paravicini beschreibt die Entwicklung hierarchischer Respektsprinzipien in der Kriegeraristokratie: „Jeder Aristokratie eigen ist die Achtung für den ranggleichen, denselben Normen verpflichteten Standesgenossen, auch wenn es sich um den Gegner auf dem Schlachtfelde handelt oder um einen Andersgläubigen. Aus dem standestypischen Verhalten im Kampf entsteht eine ritterlich-höfische Idealkultur des Kriegshandwerks, durchaus mit literarischem Einschlag.“212 Hierzu außerdem Mohammed Rassem:  





Die Rücksicht auf Stellung und Rang der Partner ist ja ein Hauptgegenstand von Benehmensvorschriften. […] Das genaue Einhalten zeremonieller Regeln stützt das etablierte System sozialer Schichtung und erhöht damit die Festigkeit der gesellschaftlichen Struktur. Man darf es noch verallgemeinerter sagen: die in den Höflichkeitsformen ausgedrückte oder fingierte gegenseitige Hochachtung bedeutet eine Selbsteinschätzung der Gesellschaft, eine Weise ihrer Selbstbestätigung.213

Indem sie sich eines gewissen Verhaltenskodex’ untereinander bedienen, konstituieren die Vertreter der Kriegeraristokratie ihre eigene elitäre Gesellschaft. Im höfischen Roman ist diese Gesellschaft bemüht, sich selbst auszuweiten und das unhöfische,

lung ist. Im mittelhochdeutschen und französischen Raum tritt Artus in den Hintergrund und die ihm dienenden Ritter werden zu den Hauptakteuren (vgl. Bumke 1990, S. 135). 211 Weddige 2008, S. 204. 212 Paravicini 1994, S. 4 f. 213 Rassem 1968, S. 376.  









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2. Figuren- und Gattungstypen

was eben nicht ihrer Gesellschaft angehört, entweder zu assimilieren oder im Falle der totalen Nonkompatibilität auszulöschen.214 Im deutlichen Gegensatz hierzu steht das Handeln Sinfjötlis in der Helgakviða Hundingsbana. Sinfjötli zerstört hier seinen Gegner mit Worten, bevor Helgis Heer dessen Sippe körperlich zerstört (vgl. HH. 33–44 und HH. 53 f., außerdem Vs 9). Von respektvollem Umgang ist hier keine Spur. Es geht Sinfjötli nur darum, seinen Gegner aufs Härteste zu beleidigen. Die Texte kommentieren das euphemistisch: „Er verstand den Königen Rede zu stehen“ (Vs 9)215 oder: „das war ein Sundwächter, der antworten und mit den Edlen Worte wechseln konnte“ (HH. 33).216 Gemeint ist hiermit Sinfjötlis Schlagfertigkeit, seine Redegewandtheit in Streitgesprächen, die seinem physischen Gewaltpotenzial entspricht. In seinen Beleidigungen manifestiert sich seine völlige Überwertung des Völsungengeschlechts. Helgi hingegen gebietet den Streitgegnern zu schweigen und erscheint als eine moralische Instanz.217 Er ermahnt seinen Halbbruder zum Respekt vor dem Feind: „Es ziemte, Sinfjötli, euch mehr, den Kampf zu beginnen und Adler zu erfreuen, als sich mit unnützen Worten zu streiten, auch wenn die Ringbrecher hassvoll kämpfen. Mich dünken Granmarrs Söhne nicht gut, doch ziemt’s Fürsten, wahr zu sprechen; sie haben bewiesen in Moinsheim, dass sie Mut haben, mit Schwertern zu streiten“ (HH. 45 f.).218 Wo Helgi für den gemäßigten Umgang mit dem Gegner plädiert – der Feind ist auch ein Mensch –, sucht Sinfjötli diesen mit Worten und in Folge physisch zu vernichten. Er entmenscht ihn. Seine Gegner sind für ihn nur Unterlegene und Tiere.219 Sinfjötlis Handlungen lassen sich auf das vollkommene Überlegenheitsgefühl zurückführen, das er in Bezug auf seine Sippe empfindet, auf seine „hyper-human kin loyalty“.220 Alles, was völsungenfremd ist, erscheint ihm minderwertig und vernichtenswert. Einen gleichrangigen Gegner gibt es für ihn nicht. Helgi und Sinfjötli bewegen sich demnach zwar im selben moralischen  







214 Vgl. Bumke 1990, S. 136: „durch seine Siege über Riesen und Unholde erweist der Held die Überlegenheit der höfisch-ritterlichen Gesellschaftsordnung, die von Artus repräsentiert wird; [somit] trägt er dazu bei, daß die höfische Kultur sich ausbreitet. Der Akzent liegt dabei auf der Gestalt des einzelnen Helden, dem die Aufgabe gestellt ist, selber für sich höfische Vorbildlichkeit zu entwickeln.“ 215 „Sa kunni at męla vid konunga“. 216 „þar var sundvorðr, sá er svara kunni | oc við ǫdlinga orðom scipta“. 217 Vgl. von See 1981 [1978], S. 187: „Häufig hat der Held einen Freund, Bruder oder Kriegsgefährten neben sich, der die Tugend des common sense, der Besonnenheit und Nüchternheit, vertritt und dadurch das Heldische am Helden noch stärker heraustreibt“. In Literatur und Film wird auch heute noch die Technik verwendet, einer versöhnlichen Figur einen kompromisslosen Freund an die Seite zu stellen und somit Tragik zu erschaffen, beispielsweise die problematische Freundschaft von Charles X. Xavier und Erik Lehnsherr/Max Eisenhardt – Professor X und Magneto – in den X-Men-Comics und -Filmen. 218 „Væri ycr, Sinfjiotli, sœmra myclo | gunni at heyia oc glaða ǫrno, | enn sé ónýtom orðom at bregdaz, þótt hringbrotar heiptir deili. | Þicciar mér góðir Granmars synir, | þó dugir siclingom satt at mæla; | þeir hafa marcat á Móinsheimom, | at hug hafa hiorom at bregða.“ 219 Vgl. Paravicini 1994, S. 6: „Nicht gleichrangigen […] Gegnern gegenüber galt die Ehrverpflichtung nicht.“ 220 Quinn 2009, S. 126.  











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2.2 Höfisch

System, bewerten aber ihre Umwelt völlig unterschiedlich. So ist auch die Erschlagung Kriemhilts durch Hildebrand (vgl. Nl 2375,1–2377,2 infolge von Nl 2373,1–3) zu verstehen. Nicht nur die Ritter- und Hofgesellschaft, sondern auch die Heldengesellschaft funktioniert durch eine Abgrenzung nach Außen. Andere und Außenstehende genießen nicht dieselben Privilegien wie Mitglieder dieses Verbandes. Eben deswegen ist Kriemhilts Tat der Enthauptung Hagens auch so unerhört, dass es sogar einer der Verbündeten ihres Ehemannes sein muss, der den Feind Hagen rächt. Da eine außenstehende Figur das getan hat, was nur für einen Helden legitim gewesen wäre, muss sie beseitigt werden, um die Integrität der Heldengesellschaft zu bewahren.221 Der höfische Roman transportiert als Gesellschaftsbild ein realitätsfernes222 Ideal: „Die höfische Dichtung der Zeit um 1200 zeichnet ein ganz einheitliches Gesellschaftsbild“,223 welches Joachim Bumke als „extrem selektiv[…]“224 und „ausgesprochen wirklichkeitsfremd“225 beschreibt. „Die Dichter schildern eine höfische Festgesellschaft mit einem ausgeprägten Überlegenheitsbewußtsein, das sich auf den materiel-

221 Vgl. Müller 1998, S. 190: „Was neben den Heroen auftaucht, zählt nicht viel.“ Müller weitet die Untersuchung der Passage aus zu einer Genderfrage. Er spricht vom „negative[n] Frauenbild“ (Müller 1998, S. 190) in der Heldenepik. Die Tat Hildebrands sieht Müller als einen „Akt der ‚Züchtigung‘“ (Müller 1998, S. 192) der Frau durch den Mann. Noch weiter führt den Gedanken Elisabeth Lienert: Sie fragt, ob im Nibelungenlied „Gewalt integrativer Bestandteil von Männlichkeit“ (Lienert 2003, S. 4) sei. Die Erschlagung Kriemhilts deutet sie vor allem danach, dass es einer Frau verboten sei, in die Welt der Männer einzugreifen: „Die tötende Frau, die den größten Helden erschlägt, wird zum Skandalon für alle Männer, sogar für den eigenen. Daher darf Hildebrand sie straflos in Stücke hauen“ (Lienert 2003, S. 17). Lienert interpretiert hierbei die Verse Nl 2374,1–2: „‚Wâfen‘, sprach der fürste, ‚wie ist nu tôt gelegen | von eines wîbes handen der aller beste degen‘“; „‚Weh’ sagte der Fürst, ‚wie darf es sein, daß der tapferste Held, […] jetzt hier von der Hand einer Frau erschlagen liegt.‘“ Das Agieren Hildebrands stellt für sie eine Eingrenzung weiblicher Gewalt dar, die in der patriarchalischen Welt nichts zu suchen habe (vgl. Lienert 2003, S. 20). Lienert bezieht sich mitunter auf Otfrid Ehrismann, der die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes von einer höchst psychologischen Warte aus betrachtet: Das Nibelungenlied habe nach ihm kompensatorische Funktion, es sei „eine von Männern konstruierte Geschichte, die das Leiden der Frau überantwortet“ (Ehrismann 2002, S. 189) und seine Rezeptionsgeschichte lasse sich „als eine Geschichte männlicher Leidensabwehr beschreiben“ (Ehrismann 2002, S. 189). Nach Ehrismann handeln die Figuren – anders als der Rezipient emotional unverwundbar – also nach männlichem Wunschdenken, wobei sich Verfasser und Rezipienten aus Gründen des Eskapismus zusammen eine patriarchalische Idealwelt generieren. Ich schlage für die Stelle stattdessen die Interpretation der gewaltsamen Konstituierung einer heroischen Elite vor, die sich von Außenstehenden abgrenzt. Letztere sind nicht nur Frauen, sondern können alle möglichen nonhöfischen oder nonheroischen Figuren sein, wie zum Beispiel Sinfjötlis Wortgegner oder der Knecht, der Högni bei dessen Tötung gegenübergestellt wird (vgl. Vs 39 bzw. Akv. 22–25; Am. 61–63) im heroischen Erzählen oder Riesen, Zwerge usw. im höfischen Erzählen. 222 Vgl. Weddige 2008, S. 171: „Wie im dem Alltag enthobenen Fest, so stellt sich auch in der bildenden Kunst und Literatur die höfisch-feudale Gesellschaft nicht dar, wie sie realiter gewesen ist, sondern wie sie sich idealiter gesehen wissen wollte, nämlich als eine vorbildlich ritterlich-höfische. ‚Höfisch‘ ist hier ein ethisch-ästhetischer Wertbegriff, für den als wirkungsmächtigstes Leitbild das des ‚Ritters‘ steht“. 223 Bumke 1990, S. 97. 224 Bumke 1990, S. 97. 225 Bumke 1990, S. 97.  























     

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2. Figuren- und Gattungstypen

len Luxus des Hoflebens und auf die Beherrschung zeremonieller Umgangsformen gründet.“226 Kernmerkmale der höfischen Gesellschaft sind ‚vröude‘227 – also eine konstante obligatorische Hochstimmung, deren Störung zumeist die Handlung des höfischen Romans einleitet –, Reichtum und Pracht sowie Ordnung und Reglementierungen, vor allem des agonalen Aufeinandertreffens. Der Protagonist des höfischen Romans, also der ritterliche Vertreter besagter Hofgesellschaft, durchläuft einen Werdegang. In der Handlung des Romans geht es darum, wie die Figur die Prinzipien des Verbandes, dem er angehört, versteht und vervollkommnet:  



Es geht fast immer darum, wie höfische Vorbildlichkeit zu erreichen ist. […] Die dieser Handlung innewohnende Problematik ergibt sich meistens daraus, daß der Weg zu dem erstrebten Ziel höfischer Vollkommenheit sich als schwierig und hindernisreich erweist, und daß der Held dabei Rückschläge erleidet, die nur durch langwierige Bewährungen zu überwinden sind.228

Am Ende der Erzählung wird der Protagonist zum idealen Vorbild und zum Inbegriff des höfischen Lebens. Die Figur ist am Anfang der Erzählung allerdings keinesfalls unhöfisch oder frevelhaft, sondern beginnt bereits als höfisch ausgeformte Figur. Es geht um den Feinschliff, das letzte Verinnerlichen der oft paradoxen höfischen Regeln. Obwohl die Figur von Anfang an versucht vorbildlich zu handeln, wirft sie eine Verfehlung in eine daseinserschütternde Krise, aus der sich herauszuarbeiten die Handlung des höfischen Romans ausmacht. Ritter und Hofgesellschaft verbinden eine Wechselbeziehung. Der Ritter versucht den Idealen der Gesellschaft zu entsprechen, ist es aber dabei erst selbst, der den Hof durch das Vorantreiben seiner eigenen Vollkommenheit ideal macht. Dem höfischen Roman ist „eine wechselseitige Zuordnung von Individuum und Gesellschaft eigentlich, aber eine Zuordnung, in der beide einander noch vollständig erfassen und bedingen, so daß von einem Individuum im modernen Sinne noch nicht die Rede sein kann: das was als solches erscheint, ist zugleich Träger des gesellschaftlichen Ideals und als solcher exemplarisch.“229 Der Ritter kann ohne den Hof, zu dem er gehört, nicht existieren. Er lebt durch ihn sowie der Hof in ihm lebt und er die Werte und Normen seiner Gemeinschaft nach außen trägt. Vor dem Urteil des (Artus-)Hofes zu bestehen ist der einzige Lebenszweck des Protagonisten des höfischen Romans. „[D]er Artushof fungiert als Instanz der Bestätigung des Einzelritters.“230 Im höfischen Roman ist der Hof Ausgangs- und Endpunkt der Handlung: „Die Handlung besteht im Wesentlichen aus einer Kette von Abenteuern, die der jeweilige Held bestehen muß. Die Abenteuerfahrt nimmt vom Artushof ihren Ausgang und kehrt zuletzt dorthin zurück.“231 Auslöser der Handlung ist

226 227 228 229 230 231

Bumke 1990, S. 97. Vgl. Lexer 1872–1878, S. 537: „frohsinn, freude, erfreuendes, unterhaltendes“. Bumke 1990, S. 98. Nolting-Hauff 1959, S. 15. Weddige 2008, S. 196. Bumke 1990, S. 136.  











2.2 Höfisch

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dabei eine Störung des höfischen ordo,232 welcher bisweilen aufzeigt, dass das Gesellschaftsideal des Hofes ein prekäres, paradoxes ist und nicht komplett erfüllt werden kann. Die Klärung der Krise wird aber nach draußen verfrachtet, weg vom Hof, der als solcher in seiner statischen Idealität unangetastet bleibt.233 Die Fahrt des Ritters besteht dann allerdings aus einer Reihe von Abenteuern oder Prüfungen, die nicht zwingend etwas mit der eigentlichen Krise zu tun haben. Es sind Stellvertreterhandlungen, deren Ausführung ein verwundetes, doch abstraktes Ideal wiederherstellt. Für sich bleiben die Bewährungsproben vom Auslöser der Störung losgelöst. In Hartmanns Erec etwa ist die Ausfahrt des Protagonisten als Methode zur Krisenbewältigung willkürlich: „Ziellos nach aventiure ritt der tapfere Ritter Erec“ (Erec 3111–3112).234 Zwischen höfischem Roman und Heldenepos gibt es auf Grund dieser divergierenden Methoden der Krisenbegegnung einen Strukturunterschied: Das Heldenepos stellt einen geschlossenen Geschehenszusammenhang dar, ist Ereignisdichtung: Am Anfang steht ein Ereignis, das die Handlung in Gang setzt, die dann beinahe selbständig und unaufhaltsam zur Katastrophe anwächst. Die Dichtung schließt erst, wenn die Ereigniskette, die von der Initialhandlung ausging, zu Ende ist. Jede Einzelhandlung hat ihren festen Platz im Handlungsganzen, kann infolge solcher Ereignisverknüpfungen nicht beliebig herausgelöst und umgestellt werden. Die künstlerische Einheit liegt in der Folgerichtigkeit und Abgeschlossenheit der Handlungsfolge. […] Im Roman scheint das Geschehen von Zufall und Beliebigkeit regiert. Seine künstlerische Einheit ist nicht vom äußeren Geschehen her zu begreifen, sondern vom Helden, dessen Selbstwerdung sich im Bestehen der Aventiurefolge vollzieht – deren Stationen wären für sich genommen sinnlos und zufällig.235  

Am Anfang des höfischen Romans steht eine Krise, die im Laufe der Handlung bereinigt wird und durch deren Bereinigung die Gesellschaft und der Hauptakteur des Textes ‚besser‘ und stabiler werden als sie es vor der Krise waren. Das Heldenepos läuft gezwungenermaßen auf eine Krise hinaus, die die Auflösung und Zerstörung von Figuren und Gesellschaft bedeutet. Der höfische Roman endet mit einer Synthese, einer Versöhnung, einer Vollendung der ritterlichen Tugenden des Protagonisten, kurz: mit einem ‚Happy End‘. Der Iwein endet mit einer ‚happily ever after‘-Formel („und wenn Gott sie alt werden läßt, so erleben sie eine lange glückliche Zeit“, Iwein 8146–8147)236 und mit der positiven Ausleitung: „Ein glückliches Leben begann“ (Iwein 8160).237 So auch der Erec

232 Vgl. Weddige 2008, S. 195: „Der Artushof im Zustand der Harmonie und Festesfreude – zu Ostern oder Pfingsten, mit Jagd oder Turnier – ist Ausgangs- und Zielort der âventiure. Die Romanhandlung beginnt mit einer Störung der Ordnung der höfischen Welt.“ 233 Boklund 1977, S. 10: „For the preservation of the integrity of the courtly space, the conflict must immediately be carried away from the court and out into the external space of avanture.“ 234 „nâch âventiure wâne | reit der guote kneht Êrec.“ 235 Weddige 2008, S. 239. 236 „lât got diu alten, | diu gewinnent manege süeze zît.“ 237 „ez was guot leben wænlich hie“.  









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2. Figuren- und Gattungstypen

Hartmanns: „So lebte er in Herrlichkeit wie es sein Herz wünschte, denn seine Ehre blieb bis zu seinem Ende bestehen, wie es der Herr des Himmels gebot, ohne jede Beeinträchtigung“ (Erec 10101–10106).238 Wolframs Parzival beschreibt nicht nur den positiven Ausgang der eigentlichen Parzivalhandlung, sondern berichtet auch von Parzivals Nachkommen – das ‚weltliche‘ Königtum von Parzivals Sohn Kardeiz (vgl. Parzival 803, 2 ff.) und das Gralskönigtum seines Sohnes Loherangrin (vgl. Parzival 820, 14 ff. bzw. 823, 27 ff.), außerdem das Königtum von Feirefiz’ Sohn, des Priesters Johannes (vgl. Parzival 822, 23 ff.).239 Dass dagegen die ungeordnete Textwelt, die das Nibelungenlied hinterlässt, für den mittelalterlichen Rezipienten verstörend gewesen sein muss, zeigt sich darin, dass das Nibelungenlied in nahezu allen Handschriften auch mit der Klage überliefert ist, die versucht, Ordnung in das Chaos am Ende des Epos zu bringen. Das versöhnliche Ende des höfischen Romans steht in krassem Gegensatz zu den Untergangsausklängen der Heldendichtung. Victor Millet beschreibt hierzu für das Nibelungenlied: „Experimentiert der frühe Roman mit der Möglichkeit des Helden, einen Lebensweg zu gestalten, der trotz aller Um- und Irrwege zu weltlichem Ansehen und göttlicher Anerkennung führt, so stellt das Epos diesem Ideal das radikale Auseinanderfallen von Intention und Ergebnis entgegen“.240 Auch Hilkert Weddige vergleicht die Enden der Artusromane mit dem des Nibelungenliedes:  









Im Artusroman kann die prästabilisierte Harmonie des Hofes zwar durch den Einbruch eines unhöfischen Außen vorübergehend aus dem Gleichgewicht geraten, am Ende aber behauptet sich die Verbindlichkeit der höfischen Norm durch die die Ordnung wiederherstellende Tat eines einzelnen Ritters – stets gibt es ein ‚happy end‘. Im Nibelungenlied brechen die Spannungen am Hofe selbst aus und erweisen sich als irreparabel.241  

Der höfische Roman versteht die Störung seiner Ordnung also vor allem als ein Eindringen, wohingegen innere Personenkonflikte die Vernichtung der Heldengesellschaft im heroischen Erzählen verursachen. Was den Wandel im Bedürfnis nach Versöhnlichkeit in der Heldensage angeht, liefert die Hildebrandssage ein anschauliches Beispiel.242 Das nur als Fragment überlieferte Hildebrandslied endet vermutlich tragisch, nämlich mit der Erschlagung des

238 „des wart er schœne vunden | als im sîn herze gerte, | wan i sîn êre werte | unze an sînen tôt, | als ez der himelvoget gebôt, | âne alle missewende.“ 239 Der hohe Stellenwert der Schilderung der Sicherung der Nachfolge im utopischen Idealbild des höfischen Romans lässt sich auf die extreme Angst vor Bürger- und Nachfolgekriegen zurückführen. Joachim Bumke liefert einen Abriss über die überaus eskalative politische Lage des heiligen römischen Reiches am Ende des 12. Jahrhunderts (vgl. Bumke 1990, S. 95 f. bzw. Bumke 2005, S. 9 ff.). 240 Millet 2008, S. 224. 241 Weddige 2008, S. 232. 242 Alternativ nennt Jan de Vries auch das Ende des ersten Helgiliedes untypisch für die Heldensage: „HH. I erzählt dagegen am Schlusz die Heirat des Helden mit der Walküre, die von keiner einzigen Gefahr überschattet wird. Das germanische Heldenlied kennt einen solchen Ausgang nicht“ (de Vries 1957(b), S. 123).  















2.2 Höfisch

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Sohnes durch den Vater im Zweikampf.243 Besehen wir uns die norwegische Þiðreks saga, finden wir eine Variation des Stoffes, die zeigt, inwiefern die Anreicherung des Stoffes der Heldensage mit den Paradigmen höfischen Erzählens den Verlauf der Erzählung selbst verändern kann.244 In der Þiðreks saga verfügen die Protagonisten über ein reglementierendes Ordnungssystem, das die Erschlagung des Sohnes verhindert. Der Verfasser der Þiðreks saga versteht es, die Handlung den Anforderungen der Gattung des Textes entsprechend zu modifizieren. Die Passage beginnt mit einer Warnung an Meister Hildibrand: „wenn du deinen Sohn Alibrand triffst, sprich ja recht höflich mit ihm und sag, daß du sein Vater bist. Tust du das nicht, fürchte ich, es könnte dein Tod werden“ (Þiðr 419).245 Die Stelle spielt mit der Erwartung eines tödlichen Kampfes. Durch den verblüffenden Wandel ihres Ausganges wird aus der wieSpannung der Umstände der Tötung des Sohnes eine tatsächliche ob-Spannung. Hildibrand antwortet auf die Warnung: „Wenn mein Sohn Alibrand sich auch für einen großen Mann hält und sein Übermut so stolz ist, daß er keinen sich ihm gleich achtet, so kann doch sein, so alt ich auch bin, daß er nicht später mir seinen Namen sagt als ich ihm den meinigen“ (Þiðr 419).246 Die Antwort Hildibrands nimmt die Tödlichkeit aus der Situation. Hier geht es nicht um Leben oder Tod, sondern – neben einem Generationenkonflikt – um den Zwang zur Nennung des Namens, also um Ehre oder Schande nach ritterlichen Maßstäben. Im Vordergrund der Auseinandersetzung steht die Rivalität zwischen dem rüstigen alten Waffenmeister Hildibrand und seinem übermütigen Sohn. Dass sich die beiden Ritter – Vater und Sohn – treffen und sich keiner Unterwerfungsgesten bedienen, reicht bereits zur beiderseitigen Provokation: „Als Alibrand einen Mann in Waffen sich entgegenreiten sah, der kühn auf ihn zukam, und er nicht sehen konnte, daß jener sich vor ihm beugte, wurde er zornig. Es schien ihm, als ob dieser Mann mit ihm streiten wollte“ (Þiðr 419).247 Der Kampf entbrennt wortlos. Während der Waffengänge fordern beide Kontrahenten sich öfters zur Preisgabe des Namens auf. So könne der Kampf friedlich entschieden werden. Als schließlich Hildibrand seinen Sohn Alibrand überwältigt, ist letzterer so indigniert, dass er lieber ster 







243 Vgl. Brunner 1997, S. 52 f.: „[Im Hildebrandslied ist] der Ernstkampf nicht zu vermeiden. Mitten in dessen Schilderung bricht das Gedicht ab. Man muß davon ausgehen, daß es – anders als im ‚Jüngeren Hildebrandslied‘ (überliefert seit dem 15. Jh.) […] – mit dem Tod des Sohnes endete.“ 244 Klaus von See führt die „optimistische[…] Lösung“ (von See 1971, S. 24) auf eine Annäherung zum Märchen zurück. Er betont die in der Þiðreks saga vorherrschende „ritterliche[…] Standesethik [und den] höfischen Ehrencodex[…]“ (von See 1971, S. 143). 245 „Ef þv hitter þinn son Alibrand, mæl vid hann kurteisliga og seig ath þv ert hans fader. enn ef ei gerir þu suo, þa er þatt þinn bani.“ 246 „þott Alibrand minn son hyggi sik wera mikinn mann og hans ofmetnadur er suo stolltz ath hann will wid ongvann mann jafnast. enn suo gamall sem egh em þa kann vera ath enn seigi hann æigi siþar sitt nafn mier enn egh seigi honum mitt.“ 247 „Ok þa er Alibrand […] j gegn sier rida einn mann med wapnum og sa rídur alldreingiligha a mót honu og ekki ma hann sia ath hann lægi sik nockut fyrer honum þa verdur Alibrand reídur og lítsts sem þessi muni vid hann kieppast“.  













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2. Figuren- und Gattungstypen

ben will, als seinen Namen herauszugeben: „Das sage ich dir niemals. Denn mir liegt nichts mehr an meinem Leben, da eine so alte Graugans mich untergekriegt hat“ (Þiðr 419).248 Letztendlich allerdings kann Hildibrand seine Forderung auf eine Weise artikulieren, die Ansehen und Leben seines Sohnes rettet: „‚Willst du dein Leben behalten, sag mir schnell, ob du mein Sohn Alibrand bist. Dann bin ich dein Vater Hildibrand.‘ Der Junge antwortete: ‚Wenn du mein Vater Hildibrand bist, bin ich dein Sohn Alibrand.‘ […] Sie küßten einander und erkannten sich“ (Þiðr 419).249 Der Verfasser der Þiðreks saga stellt den alten Ritter Hildibrand nicht nur als gewandter im Kampf dar, sondern auch als so geschickt im Umgang mit dem höfischen Protokoll, dass er – durch seine etwas komplizierte und spitzfindige Formulierung – die Versöhnung mit dem Sohn herbeiführen kann. Die Ehre der beiden Figuren kann auch ohne die Erschlagung einer von ihnen gewahrt bleiben. Die Überlieferung der Heldensage im 13. Jahrhundert hat hier das Bedürfnis nach Versöhnlichkeit des höfischen Romanes angenommen.250 Die eigentliche tragische Stimmung des Vater-Sohn-Kampfes geht zwar verloren,251 allerdings bleibt die Stimmung der höfisch-ritterlich behauchten Saga gewahrt.  







2.2.2 Inszenierungsmethoden Höfisches Erzählen neigt gegenüber dem heroischen zu Ausschmückungen und ist damit naturgemäß umfangreicher. Ein Stilmittel höfischen Erzählens ist die sogenannte amplificatio – die Erweiterung –, nämlich das umfangreiche Umschreiben,  



248 „þat seigh egh nv alldri þviat ekki hirdiek nv vmm lífit heþann j fra er suo gomul gra gas skal mik hafa ifer stígit.“ 249 „willtu hallda þinu lifi þa seigh mier skiott ef þu ertt Alibrand minn son, þa er ek Hilldibrand þinn fader. þa seiger hinn vngi. Ef þu ert Hilldrbrand minn fader þa er ek Alibrand þinn son. […] kyssast og kennast nv wid.“ 250 Nach Klaus von See entsteht im Norden ein neues Heldenbild „als die Heldensage im 13. Jh. unter niederdeutschen Fernkaufleuten in der nordischen Hafenstadt Bergen erzählt wurde“ (von See 1971, S. 25). Vgl. zu Entstehung und Quellen der Þiðreks saga Andersson 1986(a), S. 347–372. 251 Die Ásmundar saga kappabana enthält ein Residuum des Vater-Sohn-Kampfes. Der Antagonist der Saga, Hildibrand, erschlägt beiläufig seinen Sohn, als er in Wut über schlechte Nachrichten gerät: „Und in der Unmäßigkeit, die über ihn gekommen war, und in seiner Raserei sah er seinen Sohn und erschlug ihn sogleich“; „En í vanstilli þessu, er á hónum var, ok hann var á ferðina kominn, þá sá hann son sínn ok drap hann þegar“ (Ásm 8). Die Saga stammt aus dem 13. oder 14. Jahrhundert, wurde also wohl nicht lange nach der Þiðreks saga aufgezeichnet, doch bestehen gravierende Unterschiede in der Ausformulierung des Vater-Sohn-Kampfes. Wohingegen die Þiðreks saga den drohenden Tod eines der Kontrahenten thematisiert, letztendlich dann aber das Ende der Episode entsprechend den Anforderungen der höfisch beeinflussten Gattung modifiziert, werden in der Ásmundar saga kappabana weder Tragik noch Spannung aufgebaut. Die Erschlagung des Sohnes wird am Rande und ohne Kontext als blindes Motiv behandelt.  







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2.2 Höfisch

Abschweifen, Erklären und Beschreiben.252 Um Idealität sichtbar darzustellen, ergeht sich das höfische Erzählen bisweilen in ausufernden Beschreibungen von materiellem Reichtum. Im Nibelungenlied finden sich ellenlange Darstellungen von prachtvollen Kleidern in den sogenannten Schneiderstrophen.253 Im Erec Hartmanns von Aue wird eine beträchtliche Anzahl an Strophen nur für die Beschreibung eines Pferdes aufgewandt (vgl. Erec 7264–7766). Dieser Hang zur Ausführlichkeit gibt Auskunft über Verfasser und Publikum höfischer Dichtung, die beide Zugang zu diesem Wissen und den Begrifflichkeiten gehabt haben müssen. Die detaillierten Beschreibungen von Waffen und Rüstungen im höfischen Roman dienen der Forschung deswegen mitunter als Quelle von Sach- und Dingkultur.254 Im Gegensatz dazu gilt die Lakonie einiger Heldenlieder der Forschung als eines ihrer Qualitätsmerkmale. Besonders wenn heroisches Erzählen mit der Zeit an Umfang zunimmt, höfisches Erzählen also auf die heroischen Gattungen abfärbt, so wird dies oft als Zeichen des Qualitätsverfalls gedeutet.255 Die 105 Strophen der später entstandenen Atlamál erhalten etwa im Vergleich mit den 43 Strophen der Atlakvíða die Beschreibung „aufgeschwemmt“.256 Zum Strophenverhältnis der Lieder bemerkt Jan de Vries: „Das zweite Atlilied hat den doppelten Umfang, aber es ist doch eigentlich nicht zweimal so ausführlich.“257 Dass der mehr als doppelte Umfang der Atlamál in zeitgenössischer Sicht allerdings nicht als überflüssig empfunden wurde, zeigt der Prosaabschluss der Atlakviða: „Genauer wird dies im grönländischen Atlilied erzählt“ (Prosa 252 Vgl. Bumke 1990, S. 103 bzw. Schlösser 2007, S. 20. Vgl. zur Anwendung der Technik in der Völsunga saga Aguirre 2002, S. 27–29. Vgl. ferner für die „Anschwellung“ (Heusler 1956, S. 30) des frühen Liedes zum späten Epos Heusler 1956, S. 27–37. 253 Marjatta Wis (vgl. Wis 1983, S. 251–260) interpretiert einige der Passagen ausufernder Kleidungsbeschreibungen und gibt einen Umriss der Forschungsdiskussion der ‚Schneiderstrophen‘. Hierbei stellt sie die Frage nach „einer etwaigen, tieferen Intention des Dichters […], an dessen künstlerischer Größe nie gezweifelt worden ist“ (Wis 1983, S. 255). Vgl. Müller 1998, S. 391: „Die vielgeschmähten ‚Schneiderstrophen‘ sind alles andere als Füllmaterial im heroischen Ablauf. Sie haben höfischen Überfluß und damit Macht und Ehre anzuzeigen.“ 254 Zu den Realbezügen von Sachbeschreibungen in der höfischen Literatur vgl. Bumke 2005, S. 137 ff. Zu Kleidung bes. S. 172 ff., zu Waffen und Kampfausrüstung bes. S. 210 ff. Walter Haug merkt an, dass durch die Erweiterung der eigene kulturelle Horizont des Dichters in das Heldensagenmaterial einfließe: „die Anschwellung schafft Raum für den Einbruch der gegenwärtigen Wirklichkeit, in der Erzähler und Hörer stehen. Es kommt beim Übergang zum Epos also zwangsläufig dazu, daß sich die Gegenwart in der heroischen Welt ‚breit macht‘“ (Haug 1989 [1975], S. 286). 255 Jan de Vries etwa für das Nibelungenlied: „Ganze aventiuren mit ihren endlosen Beschreibungen von prangenden Hoffesten und Botenfahrten möchte man gerne streichen, um dem Epos eine gestrafftere Form zu geben“ (de Vries 1961 [1956], S. 393). Vgl. de Vries 1961 [1956], S. 411: das Bestreben des Nibelungendichters, „den Siegfriedteil und den Burgundenuntergang ins Gleichgewicht zu bringen, nötigte ihn dazu, die erste Hälfte mit einer endlosen Strophenreihe voll höfischer Etiquette zu zerdehnen.“ Vgl. Heusler 1956, S. 40. 256 Schier/Heizmann 2009, S. 667. Zu Verhältnis von Strophen und Inhalt der beiden Lieder vgl. Andersson 1983, S. 252–256. 257 de Vries 1961, S. 65.  









































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2. Figuren- und Gattungstypen

nach Akv. 43).258 Als Merkmal höfischen Erzählens werden auch die umfangreichen Darstellungen im Nibelungenlied betrachtet. Jan de Vries vergleicht die Präsentation der Dialoge im mittelhochdeutschen Epos mit der Erzählweise des Verfassers der Eddalieder: „der Dichter [des Nibelungenliedes] hat hier nicht das Bestreben, etwas fortzulassen, im Gegenteil, auch unbedeutende Einzelheiten erzählt er ausführlich. Der Eddadichter hat Eile“.259 Im Nibelungenlied gäbe es „die Neigung zu Gesprächen, selbst an jenen Stellen, an denen sie für ein Fortschreiten der Handlung völlig belanglos sind. Wenn in einem Eddalied die Helden sprechen, sagen sie Wesentliches, das die Handlung weitertreibt oder ein unerwartetes Licht auf die Person wirft. Wenn sie im Nibelungenlied reden, dann sagen sie vielfach nur Phrasen der konventionellen Höflichkeit.“260 Das umfangreiche Erzählen der höfischen Gattungen lässt aber nicht nur tieferen Einblick in die Sachkultur zu und ist eine Manifestation höfischer Idealität, wenn es um Prachtdarstellungen geht, sondern liefert auch den Nährboden für ein neues Konzept von Protagonist: Die höfische Figur ist informationsdichter als die heroische. Der größere Umfang ermöglicht eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrem Handeln und ihrer Innenschau.261 Auch in der Völsungensage wird das höfische Ambiente durch wortreiche Beschreibungen von Pracht und Reichtum sowie von Hof- und Herrschaftsbereichen realisiert.262 Dieser Beschreibungsumfang nimmt in der Völsunga saga in den späteren Kapiteln zu, wenn uns die Handlung an den Heimir- und Gjukihof führt, nur um dann gegen Ende hin, in der Hamdir- und Sörliepisode völlig zu verschwinden. Eine den Schneiderstrophen des Nibelungenliedes ähnliche Darstellungspassage finden wir bei der Beschreibung Sigurds:  

Sein Schild war so abgebildet: er war überzogen mit rotem Golde, und darauf war gemalt ein Drache, der war dunkelbraun an der obern und schön rot an der untern Hälfte, und auf dieselbe Weise war sein Helm und Sattel und Waffenrock abgebildet. Er trug eine Goldbrünne, und alle seine Waffen waren mit Gold geschmückt. […] Sein Haar war braun von Farbe, schön anzusehen und fiel in langen Locken herab; sein Bart war dicht, kurz und von derselben Farbe. Er hatte eine hohe

258 „Enn segir gleggra í Atlamálom inom grœnlenzcom.“ 259 de Vries 1961, S. 64 f. 260 de Vries 1961, S. 65. 261 Zu den Unterschieden im Umfang der Beschreibungen besonders von Seelenzuständen vgl. Höfler 1961 [1941], S. 76. 262 Nach Uwe Ebel ein eher misslungenes Bestreben. Vgl. Ebel 1997, S. 118 f.: „Die Vǫlsunga saga verfährt faktisch so, daß das Höfische sich auf das Ambiente beschränkt. Wenn das Geschehen in einem höfischen Milieu, in Burgen, in Frauengemächern angesiedelt ist, wenn es mit einer bestimmten Etikette, mit bestimmten Anredezeremoniellen und höfischen Selbstinszenierungen versehen wird, dann wirkt das Ergebnis solcher Symbiose einem späteren Leser eher widersprüchlich als stimmig. Es wirkt vor allem wie die Annäherung an eine bloße Mode, ja es wirkt anachronistisch. Anders gesagt, es stellt sich der Eindruck ästhetisch nicht gelungener Aufarbeitung altüberlieferter Erzählungen ein, deren Reiz sich darin erschöpft, spannend zu sein.“  











2.2 Höfisch

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Nase und ein breites, starkknochiges Antlitz. […] Seine Schultern waren so breit, als ob es die Schultern von zwei Männern wären. Sein Leib war ganz ebenmäßig geschaffen an Höhe und Dicke und auf solche Weise, wie es am besten passte (Vs 23).263

Es begegnet uns der perfekt proportionierte, schöne – und entgegen der Erwartung des modernen Lesers nicht blonde, sondern braunhaarige – Sigurd. Die Beschreibung seines Schildes und der Wappenfarben versetzt den Helden in ein Setting, in dem Figuren an ihrer Heraldik erkannt werden, nämlich in eine Welt höfisch-feudaler Verhältnisse.264 In diesem bewegen wir uns auch bei der Beschreibung des Auszuges der Gjukungen zur Rückholung Gudruns:  



Da schickten sie nach ihren Freunden und rüsteten ihre Rosse, Helme und Schilde, Schwerter und Brünnen und allerlei Heergeräte. So ward ihre Reise aufs feinste [aufs Höfischste, wörtlich übersetzt] ausgerüstet, und kein Held, der bedeutend war, blieb daheim. Ihre Rosse waren geharnischt und jeder Ritter hatte einen vergoldeten oder spiegelblanken Helm. […] Sie hatten im ganzen fünfhundert Mann, auch vornehme Männer hatten sie mit sich: Valdamar von Dänemark war mit ihnen und Eymod und Jarisleif. Sie gingen hinein in die Halle König Halfs: da waren Langobarden, Franken und Sachsen; sie schritten einher in voller Rüstung und hatten rote Pelzmäntel übergeworfen (Vs 34).265

Neben der Prachtbeschreibung, die die übergroße Macht und den Reichtum der Gjukungen darstellt, wird auch die Gesellschaft der Textwelt in ein neues Licht gerückt. Es treten gepanzerte Pferde und Ritter auf. Die Vokabel ‚riddari‘ wird neben dieser Nennung nur ein weiteres Mal in der Völsunga saga benutzt, nämlich im Gespräch zwischen Atli und Gudrun: „als Brautschatz gab ich dir dreißig gute Ritter“ (Vs 40),266

263 „Hans skiolldr var marghfalldr ok laughadr i raudu gulle ok skrifadr a einn dręke. Hann var dauckbrunadr it efra, enn fagrraudr it nędra, ok þann verg var markadr hans hialmr ok saudull ok vopnrokkr. Hann hafde gullbryniuna, ok aull hans vopn voru gulle buinn. […] Hár hans var brinth ath lith ok fagurt at lita ok for i storlocka. Skeggit var þykt ok skamt ok med sama lit. Hanefiadr var hann ok hafde breitt andlit ok storbeinott. […] Herdar hans voru sva miklar, sem tveir menn vere a at sea. Hans likame var skapadr allr vid sik a hęd ok digurleik ok þann vegh, sem bęzt ma sama.“ 264 Vgl. Larrington 2012, S. 256: „The detailed description of Sigurðr […] beginning with the heraldic markings on his shield, signals the change of ambience.“ Vgl. Grimstad 2000, S. 59: „The portrait depicts Sigurd as a knight, an anachronism that suggests a character in transition from the distant and dimly perceived prehistorical world of myth and heroic legend with its infusions of the supernatural and harsh world view to a society based on courtly ideals more familiar to a thirteenth-century audience“. 265 „Senda eptir vinum sinum ok bua hesta sina, hialma, skiolldu, sverd ok bryniur ok allzkonar herklędi. Ok var þesse ferd buinn it kurteislista, ok einge sa kappe, er mikill var, sat nu heima. Hestar þeirra voru bryniadir, ok hverr riddare hafde annathvarth gylltan hialm eda skygdann. […] Þeir haufdu ok agęta mann med ser. Þar var Valdamar af Danmork ok Eymodr ok Iarisleifr. Þeir gengu inn i haull Halfs konungs. Þar voru Langbarþar, Frackar ok Saxar. Þeir foru med aullum herbunade ok haufdu yfir ser lopa rauda“. 266 „mund gallt ek vid þer XXX godra riddara“.  



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2. Figuren- und Gattungstypen

sagt er zu ihr. Dass die Gjukungen nach ihren Freunden senden, aus denen sich dann ihr Heerzug formiert, evoziert die Atmosphäre vasallitischer Verbindungen zwischen den verschiedenen Kollektiven. Ein feudales Lehnssystem wird damit angezeichnet. Die Namensnennungen im späteren Verlauf der Passage bauen die Komplexität ihrer Herrschaft auf, wie das etwa das Nibelungenlied in seinem Exposé mit dem Burgundenhof macht. Die Textstelle bedient sich höfischen Vokabulars, wodurch der Zug der Gjukungen zu einem Auszug von Rittern wird.267 Beim Treffen der Boten Atlis und den Gjukungen kommt es in der Atlakviða zu einem Wettaufzählen von Reichtum, wobei die Prachtbeschreibungen die jeweilige herrscherliche Macht der beiden Verbände symbolisieren: Schilde könnt ihr dort wählen und glatte Eschenspeere, | vergoldete Helme und eine Menge an Hunnen, | silberngoldene Satteldecken, kostbare Brünnen, | Spieße, Speere, gezäumte Pferde. | Das Land der weiten Gnitaheide will er [Atli] euch geben, | klingenden Speer und vergoldeten Steven, | große Schätze und das Ufer des Danpr, | den berühmten Wald, der Myrkvid genannt wird (Akv. 4–5).268  

Gunnar hält den Reichtum seiner eigenen Sippe dagegen: „Sieben Säle haben wir, voll von Schwertern, | deren jeder Griff ist aus Gold; | mein Pferd ist das beste, das Schwert das schärfste, | die Bank zierende Bögen und Brünnen aus Gold, | Helm und Schild sind die glänzendsten, aus der Halle Kjarrs; | mein einer ist besser, als es alle Hunnen sind“ (Akv. 7).269 Der Vergleich ihrer Macht ist der Auftakt ihres kriegerischen Konfliktes. Wenn Gold, Pracht und Reichtum an dieser Stelle genannt werden, dann ausschließlich im martialischen Kontext. Die Rivalen vergleichen ihre Waffen, Schiffe, Pferde, kurz ihre Kriegsausrüstung in Form eines Beschreibungswettstreites, der dem tatsächlichen Kampf zwischen Gjukungen und Hunnen vorausgeht. Eine kriegerische Ausfahrt unter dem Zeichen materieller Pracht finden wir auch bei Sigurds Vaterrache: „Es ward ein großes Heer ausgerüstet und alles aufs beste eingerichtet, Schiffe und alles Heergerät, damit seine Fahrt prächtig wäre wie noch nie zuvor. Sigurd befehligte den Drachen, der das größte und stattlichste Schiff war; die Segel waren mit Sorgfalt gearbeitet und herrlich anzusehen“ (Vs 17).270 Sigurds kriegerische  

267 Vgl. Haimerl 1992, S. 164. 268 „Scioldo knegoð þar velia oc scafna asca, | hiálma gullroðna oc Húna mengi, | silfrgylt sǫdulklæði, serki valrauða, | dafar, darraða, drǫsla mélgreypa. | Vǫll léz ycr oc mundo gefa víðrar Gnitaheiðar, | af geiri giallanda oc af gyltom stǫfnom, | stórar meiðmar oc staði Danpar, | hrís þat iþ mœra, er meðr Myrcvið kalla.“ 269 „Siau eigo við salhús, sverða full, | hverio ero þeira hiolt ór gulli; | minn veit ec mar beztan, enn mæki hvassastan, | boga beccsœma, enn brynior ór gulli, | hiálm oc sciold hvítastan, kominn ór hǫll Kiárs; | einn er minn betri, enn sé allra Húna.“ 270 „Er nu buit lid mikit ok allt vandat sem mest, skip ok allr herbunadr, sva at hans ferd veri þa vegligri enn adr. Sigurdr styrir dreca þeim, er mestr var ok agętligaztr. Segl þeirra voru miok vondut of itarligh at sęa.“  

2.2 Höfisch

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Kompetenz wird durch den Reichtum seiner Fahrt vordefiniert. Dabei ist die Optik entscheidend: Ein so prächtig inszenierter Kriegszug kann nicht scheitern.271 Weniger martialisch sind dagegen die Prachtbeschreibungen um Gudruns und Brynhilds Treffen sowie des Heimirhofes. Gudruns Fahrt selbst wie auch Brynhilds Halle sind überladen mit materiellem Reichtum und entsprechen vollkommen der höfischen Luxusvorstellung: Sie schmückten sich mit Gold und großer Pracht und fuhren mit ihren Mägden, bis daß sie nach der Halle Brynhilds kamen. Diese Halle war geschmückt mit Gold und stand auf einem Berg; […] da ward Brynhild gesagt, daß viele Frauen nach der Burg führen mit vergoldeten Wagen; […] der Saal war innen bemalt und reichlich mit Silber geschmückt, Teppiche waren ihnen unter die Füße gebreitet, und alle dienten ihnen; sie hatten mancherlei Spiele (Vs 26).272

Die Beschreibung schließt mit den Spielen als lustvoller Zeitvertreib. So wird auch der Hof Heimirs eingeführt, der eine höfische Enklave273 in der Welt der Völsungen darstellt: „Dort spielten Männer draußen […]. Da konnte man manche gute und selten zu sehende Kleinode schauen, und man unterhielt sich damit, Panzer und Helme und große Ringe zu besehen und wunderbar große Goldbecher und Heergeräte aller Art“ (Vs 24).274 Als Sigurd Brynhild in ihrem Gemach trifft, heißt es: „Darauf kamen vier Frauen herein mit großen goldenen Tischbechern, gefüllt mit dem herrlichsten Weine und standen vor ihnen. […] Das Zimmer war mit den teuersten Teppichen behängt, und die Dielen ganz mit Decken belegt“ (Vs 25).275 Nach der ersten Brynhildbegegnung Sigurds auf dem Hindarfjall verändert sich Atmosphäre und Vokabular der Völsunga saga sowie sich auch der Ton der im Codex Regius hinter den Sigrdrífumál stehenden Heldenlieder verändert. Dieser Wechsel von einem heroischen in ein höfisches Milieu markiert in der Völsunga saga Sigurds Aufstieg und Niedergang. Bei der Erweckung der Walküre hat der Held seinen Zenith erreicht. Seine Erfolge verbuchte er im heroisch-mythischen Bereich, nur um dann im höfischen Milieu zu scheitern. Nun ergeht es uns zuweilen so, dass wir geraume Weile eine Vorzeitsaga lesen, um dann irgendwann zu realisieren, dass wir es die ganze Zeit schon mit überdimen-

271 Anders im Nibelungenlied, wo gerade die Zerstörung der Pracht den Schrecken ausmacht, weil durch das ganze Schöne eine solche Fallhöhe generiert wurde (vgl. Wis 1983, S. 251–260). 272 „Þęr biugguzt med gulle ok mikille fegurd ok foru med meyum sinum, unzt þer komu at haull Brynhilldar. Su holl var buinn med gulle ok stod a einu berge. […] þa er Brynhilldi saght, at margar konur oku at borginne med gylltum vaugnum. […] Salrinn var skrifadr innann ok miok silfri buinn. Klęda voru breidd undir fętr þeim, ok þionudu allir þeim. Þęr hofdu marghsskonar leika.“ 273 Carolyne Larrington spricht vom „civilised European ambience of Heimir’s castle“ (Larrington 2012, S. 266). Vgl. Grimstad 2000, S. 59: Der Heimirhof entspreche einem „courtly setting“. 274 „Þar leku menn ute. […] Þar matte sea marga goda gripe ok fasęna. Var þat at skemtan haft at sia bryniur ok hialma ok stora hringha ok undarligha mikil gullstaup ok allzskonar hervopn.“ 275 „Siþan ganga þar inn fiorar konur med storum bordkerum af gulle ok med ennu bezta vine ok standa fyrir þeim. […] Herbergit var tialldat af innum dyrstum tiolldum ok þakit klędum allt golfit.“  





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2. Figuren- und Gattungstypen

sionierten Riesen zu tun haben. Die Helden der Fornaldarsögur neigen zu unnatürlichen Ausmaßen. So wird Sigurds Größe in der Völsunga saga beschrieben: „Es gibt dies Merkzeichen seiner Größe, daß, wenn er sich mit seinem Schwerte Gram umgürtete (und das war sieben Spannen hoch) oder durch ein reifes Roggenfeld ging, der Tauschuh am Schwerte nach unten die emporstehenden Ähren berührte“ (Vs 23).276 Auf Grund der identischen Wortwahl und -folge ist die Passage wohl als Entlehnung, wenn nicht als Interpolation aus der Þiðreks saga zu werten,277 in der hyperbolische Größe ein Merkmal der Protagonisten ist. Doch die Idee, dass sich Sigurds Exorbitanz und sein Überragen aller anderen Figuren in seiner übernatürlichen Physis manifestiert, finden wir auch in anderen Texten des Mittelalters. Im Nibelungenlied führt Siegfried einen riesigen Speer: „Siegfried trug einen, der vorn an seinem Blatt fast zwei ausgespannte Hände breit […] war“ (Nl 73,3)278 und im Nornagests þáttr279 ist ein Haarbüschel aus Granis Schweif „sieben Ellen lang“ (Norn 354).280 Die Þiðreks saga spricht von Þiðreks Kämpen, „die im Vergleich zu anderen Menschen Riesen waren“ (Þiðr 227).281 Die Protagonisten der Saga werden dabei in einer Art als riesenwüchsig beschrieben, die uns heute grotesk erscheint: Wohingegen einige Stellen ihres Körpers übergroß sind – die, in denen ihre Kraft liegt –, entsprechen andere einem feinen höfischen Schönheitsideal. Gleich am Anfang wird Ritter Samson eingeführt:  



An Wuchs war er wie ein Riese, nur daß seine Beine und Gliedmaßen nicht so hoch waren. Aber Dicke und Kraft besaß er wie der stärkste Riese. Sein Gesicht war lang und breit, trotzig und grim-

276 „Ok er þat mark um hans hęd, at þa er han gyrde sik sverdinu Gram, enn þat var VII spanna hátt, ok er hann od rughakrinn fullvaxinn, þa tok nidr daughskorinn a sverdinu akrinn upp standanda.“ 277 Oder aber die Völsunga saga schöpft aus einer mit der Þiðreks saga gemeinsamen Quelle wie etwa der nicht erhaltenen Sigurðar saga (vgl. Finch 1965, S. xxxvii). Klaus von See geht dagegen von einer Abhängigkeit der Völsunga saga von der Þiðreks saga aus (vgl. von See 1999 [1994], S. 404 f.). Dass die Passage von Sigurds Beschreibung trotzdem nicht willkürlich platziert ist, dafür argumentiert Jens Peter Schjødt. Er deutet die Beschreibung des Helden als Indikator für die Abgeschlossenheit, die er nach seinen ganzen Jugendabenteuern erlangt hat (vgl. Schjødt 2008, S. 287 Anm.). Gegen eine willkürliche Platzierung spricht sich auch Stefanie Würth aus: „Most elements in this elaborate description also can be found in Sigurd’s characterisation in Þiðreks saga. Whereas in Þiðreks saga these elements seem to be combined in an arbitrary manner, in Vǫlsunga saga the description, by its length alone, indicates a break with the more concise narrative mode of the first part of the saga and, from a structural point of view, marks the beginning of something new, or at least the beginning of an important passage. At the same time, the description indicates that a very important character is involved in the action“ (Würth 2003, S. 108). 278 „Sîvrît der fuorte ir einen wol zweier spannen breit“. 279 Auch der Antiheld Starkadr ist im þáttr riesengroß, was Gestr an einem seiner Backenzähne festmacht: „Ich aber nahm einen Backenzahn an mich; er hängt jetzt an einem Glockenseil zu Lund in Dänemark und wiegt sieben Öre“; „en ek tok annan iaxslinn ok hefui ek med mer. er sa nu hafdr j klukkustreing j Danmork ok uegr .vij. aura“ (Norn 354). Vgl. für eine Bewertung der Begegnung zwischen Sigurd und Starkadr im Nornagests þáttr Kruse 2017, S. 402–413. 280 „.vij. alna“. 281 „er nalega voru risar hia þui sem annað mannfolk“.  









2.2 Höfisch

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mig anzusehen. Zwischen seinen Augen maß er eine Spanne, und seine Brauen waren lang, buschig und schwarz, als wenn zwei Krähen über seinen Augen säßen. Er hatte dunkle Haut, war aber ein sehr wackrer Mann. Sein Hals war sehr dick und seine Schultern sehr breit und dick. Auch seine Arme waren dick und hart wie Stock oder Stein anzufühlen. Seine Hand war schön, weichfingrig und wohlgestaltet (Þiðr 69).282

So sieht Þiðrek selbst aus: Als der heranwuchs, war er so groß von Gestalt, daß man unter denen, die nicht Riesen waren, kaum seinesgleichen fand. Er hatte ein langes, regelmäßiges Gesicht, helle Haut und ungewöhnlich scharfe, ziemlich dunkelbraune Augen. Sein starkes Haar fiel in langen Locken herab, glänzend wie geschlagenes Gold. Ihm wuchs kein Bart, so alt er auch wurde. Seine Schultern waren zwei Ellen breit und seine Arme so dick wie ein großer Baumstamm und so hart wie Stein. Aber schöne Hände hatte er. In der Mitte des Leibes war er schmal und wohlgestaltet. Seine Hüften und Schenkel jedoch waren so dick, daß jedermann sich höchlichst darüber verwunderte, wie ein Mensch so gebildet sein konnte. Seine Füße waren schön und wohlgebildet, aber Wade und Schienbein waren so dick, daß sie wohl einem Riesen hätten gehören können (Þiðr 85).283

Die Helden der Þiðreks saga sind Menschen ungewöhnlichster Proportionen, sodass sich selbst die Statisten des Textes fragen, ob sie recht sähen. Es stehen abnorme neben idealen Merkmalen. Schönheit paart sich mit Volumen und Umfang, weil die gewaltige Kraft Platz im Körper des Helden braucht. Doch solch entgleisende Proportionen gelten dem zentraleuropäischen Roman als unhöfisch. Riesen sind antagonistische Figuren sowie auch übergroße Ritter, deren unnatürliche Größe und Stärke Ausdruck ihres diabolischen Wesens sind. So hat etwa der antagonistische Morolt im Tristan die Stärke von vier Männern (vgl. Tristan 6877–6880) und Iwein tritt gegen zwei übernatürlich starke „Teufelsritter[…]“ (Iwein 6338)284 an, die dreihundert Frauen in einer Art Manufaktur gefangen halten. Seinen Protagonisten wünscht sich der höfische Roman dagegen fein und zart.

282 „hann var a allan vǫxt sem rise fyrer vtann þat ath hans legger og limer voru ei svo hafer. enn digurleiki ok afl sem hinn sterkazti risi. hans andlit var lángt og breitt hardlikt og grimmlikt, millumm hanns augna var spannar og hans brynn voru sídar míklar ok svartar suo sem tuær krakur sæte yfer hans augumm. hann var døcklitadur og þo manna dreingligistur. hans hals var harla digur og herdar harla breídar og þyckvar og armar digrer og harder sem stockar edur steinn vidkvomu. hans hønd var føgur of miuker fingr ok vel vaxinn“. 283 „Enn er hann vox vpp þa var hann sva mikill madur vextti ath varla fieckst hans maki þess er hann var ei risi. Hann var langleitur ok riettleitur lioslitadur og eygdur manna best og nockut skolbrunn. Har hans var litid og fagurt og likadizt allt j locka. a honum var ekke skegg suo gamall madur sem hann vard. Hanns herdar voru suo miklar ath tveggia alna var yfer ath mæla. Hanns armar voru suo digrir sem mikill stokkur enn harder sem steinn fagra hønd hefer hann wmm midian er hann mior og vel vaxinn enn hans miadmer eru sva digrer og lær ath hvorium manne þikkir furda mikil hvi þannueg ma madur skapadur verda. Hans fætur voru fagrer wel waxnir. Enn kalfinn og fotleggurinn er sua digur ath vel mátti eiga enn risi“. 284 „tiuvels knehten“.

68

2. Figuren- und Gattungstypen

Das Vorwort der Þiðreks saga setzt sich mit dem Phänomen der riesigen Ritter auseinander. In ihnen könne man den riesigen Wuchs der Vorfahren wiederfinden, die in der vorsintflutlichen Heldenzeit gelebt hätten.285 Abnorme Größe wird als Qualitätsmerkmal besprochen: Kundige Leute erzählen, daß zuerst nach der Flut Noahs die Menschen so groß und stark wie Riesen waren und viele Menschenalter lebten. Aber im Laufe der Zeit wurden manche Leute so klein und schwach, wie die Menschen jetzt sind. Und je mehr Zeit seit der Sündflut verstrich, desto mehr wurden schwächlich. Jener starken Riesen gab es nur wenige von hundert, und doch waren derer noch um die Hälfte weniger, die Tüchtigkeit und Kühnheit von ihren Vorfahren geerbt hatten. […] Zu Lebzeiten König Thidreks und seiner Kämpen war es lange her, seitdem das Menschengeschlecht ohnmächtiger geworden war; und es gab in jedem Land wenige, die sich bei Kräften gehalten hatten (Þiðr Prolog 63).286

Ähnlich reflektiert gibt sich der Prolog der Saga gegenüber anderen hyperbolischen Beschreibungen, in denen das Herausragende als einmalig geschildert wird. Diese Form der Fokussetzung, wie etwa bei Högnis Kampfkraft („Alle waren darin einig, daß man einen solchen Mann noch nie gesehen hätte“, Vs 39)287 oder dem Fest bei Siegfrieds Schwertleite („Ich glaube, niemals zuvor hat sich eine königliche Hofhaltung so freigebig erwiesen“, Nl 41,4),288 entlarvt er als stilistisches Mittel: Mit manchen Ausdrücken wird aus dichterischer Gewohnheit übertrieben, und der wird der Vollkommenste genannt, von dem oder dessen Gesippen gerade erzählt wird. So ist es auch beim Männerfall, sie sagen, alle seien gefallen, wenn die berühmtesten gefallen sind, die gerade eben vorher gelobt waren. Das muß man so verstehen, daß diese Leere zumeist entstanden ist durch den Verfall der hochgeborenen Herren, weil die ihresgleichen nicht finden (Þiðr 62).289

Der Prolog der Þiðreks saga mahnt uns, einige Formulierungen nicht wörtlich zu nehmen.

285 Vgl. zur Größe des Vorzeitmenschen und zum Dekadenzgedanken, also der Idee, dass die Menschen an Kraft und Größe verfallen, die umfassende Materialsammlung Mathias Kruses (Kruse 2017, S. 413–432). Vgl. auch Schulz 2004, S. 16 f. bzw. S. 285 f. 286 „Þat seigia flester [vitrer] menn, ath fyrst epter Noha flod voru menn suo storer og sterker sem risar og lifdu marga manns alldra. enn siþann framm lidu stunnder urdu nockrer menn litler og osterker, sem nu eru, og so langt er frá leid Noaflode, þa urdu þess fleire osterkare, enn hiner sterku menn giørdust þa faer i hundrads flocke, þa voru þeir halfu færre er atgiørfe høfdu edur frækleik efter sijnumm forelldrum. […] Enn þa er Þiðrekur kóngur var og hans kappar þa var langt lidit fra þvi er mannfolk þvar ok faer voru þeir j hueriu landi er halldist hafe ath aflinu“. 287 „Allir urdu a eitt sattir, at varla sei slikann mann.“ 288 „ich wæne ie ingesinde sô grôzer milte gepflac.“ 289 „ad sumumm ordumm verdur ofkuedit saker skalldskapar hattar og er sa mestur kalldur sem þar er lofadur. suo og vmm mannfallit ath kalla ath þa falli alþydan er fallner voru hiner agiætustu menn er adur voru lofader. enn þat skalltu skilia ath su audn se vordinn mest af rikismanna falle og af þui ath ongver eru þeirra jafningiar.“  









2.2 Höfisch

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Über den Sigurd der Völsunga saga sagt Heiko Uecker: „Natürlich ist er ein Kämpfer ohne Furcht und Tadel, seine Brünne und seine Waffen sind vergoldet ‚und viele höfische Tugenden lernte er schon in seiner Kindheit‘ – aus einem germanischen Helden ist ein mittelalterlicher Ritter geworden.“290 Damit spricht Uecker vor allem die Darstellung Sigurds im 23. Kapitel der Saga an, die nach der heroisch-mythischen Passage der Jugendabenteuer des Helden ein neues höfisches Vokabular einführt. Sigurd sei „weit voraus […] vor allen anderen Männern an ritterlichem Anstand und höfischem Benehmen“ (Vs 23).291 Die Begriffe ‚kurteisi‘ und ‚hœverska‘ sind Synonyme. Das Lehnwort ‚kurteisi‘ kann mit ‚Ritterlichkeit‘, ‚höfische Sitten‘, ‚das höfisch Sein‘ übersetzt werden. Wir nennen es im Folgenden ‚Höfischkeit‘. Im Gegensatz zur einmaligen Nennung von ‚hœverska‘ bei der Sigurdbeschreibung erscheint ‚kurteisi‘ als Begriff oder Wortstamm gehäuft nach seiner erstmaligen Nennung: Sigurd eignet sich „margskonar kurteise“ (Vs 23), viele Arten von Höfischkeit, an. Alsvinn ist „manna kurteisaztr“ (Vs 24), der höfischste der Männer.292 Gudruns Magd sagt zu ihr: „Margir hafa spurt af ydrum vęnleik, vizsku ok kurteise“ (Vs 26). Viele hätten von ihrer Schönheit, Weisheit und Höfischkeit gehört. Für Sigurd ist sie „at aullu enn kurteisasta“ (Vs 28), die Höfischste in jeder Hinsicht. Der Zug der Gjukungen wird „it kurteislista“ (Vs 34), aufs Höfischste, ausgerüstet. Die Mädchen, die die Teppiche herstellen, die Gudrun als Kompensation für den Gattenverlust erhält, seien „kurteisastar“ (Vs 34). Höfisch zu sein, ist ein Ausdruck von Qualität. Doch nicht jeder ist höfisch. Es trifft nur auf Sigurd, Gudrun, Alsvinn und diese Mädchen zu. Höfischkeit ist kein kämpferisches Merkmal, sondern signalisiert, dass etwas für ein bestimmtes Milieu angemessen ist. Als Gudrun ein Stück des Drachenherzens isst, erfährt sie eine charakterliche Transformation:293 „Sigurd gab Gudrun von Fafnirs Herz zu essen, und seitdem war sie weit grimmiger als zuvor, und auch weiser“ (Vs 28).294 Gudrun wird „miklu grimare“ (Vs 28). Das steht im Gegensatz zu ihrer Veränderung im Prosaabschluss des Sigurdliedfragmentes, wo sie durch das Essen des Herzens ausschließlich die Vogelsprache erlernt (vgl. Br. Abschlussprosa) und somit nichts anderes mit ihr geschieht, als schon mit Sigurd zuvor. In der Völsunga saga aber wird das Höfisch-Ästhetische überschrieben und Gudrun durch die Verwandlung in die Nähe der heroischen und mythischen Figuren der Textwelt gerückt: Fafnir selbst, von dem das Herz stammt, ist unter seinen Brüdern der „größte und grimmigste“ (Vs 14).295 „[G]roß und grimmig“  

290 Uecker 2004, S. 156. 291 „hann er langt um fram adra menn at kurteise ok allre hęfersku“. 292 Vgl. Larrington 2012, S. 257: „Both men and women at Heimir’s court are described with intensive courtly lexis“. 293 Vgl. Andersson 1980, S. 160: „The Eddic tradition solved the problem of Gudrun’s conversion from characterlessness in the Sigurd story to ferocity in Atlakviða and Atlamál by giving her a bite of Fáfnir’s heart“. Der Zuwachs an Grimmigkeit – ferocity – ist allerdings nur für die Völsunga saga bezeugt. 294 „Sigurdr gaf Gudrunu at eta af Fafnnis hiarta, ok siþan var hun miklu grimare enn adr ok vittrare.“ 295 „miklu mestr ok grimmastr“.  









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2. Figuren- und Gattungstypen

(Vs 8)296 sind Sigmund und Sinfjötli bei ihrer Rache. „Atli […] war ein grimmer Mann, groß und schwarzhaarig und doch ansehnlich, der größte Krieger“ (Vs 26).297 Von Regin heißt es: „Klug war er, grimmig und zauberkundig“ (Rm. Einleitungsprosa),298 wie auch von der „zauberkundige[n] Grimhild“ (Vs 26):299 „Grimhild war ein grimm gesinntes Weib“ (Vs 26).300 Hödbrodd wird als der „grimmige[…] Sohn Granmarrs“ (HH. 18)301 beschrieben. Das Adjektiv ‚grimmr‘302 beschreibt die nicht zwingend positive Figur. Sigurd etwa ist niemals ‚grimmr‘. Die Heldenlieder sprechen vom „kühnen Gunnar“ (Am. 59 [56])303 und von König Starkad als „den Fürsten mit dem kühnsten Mut” (HH. II 27).304 Diese Figuren sind ‚grimmúðigr‘, grimmgemut, von grimmer Gesinnung. Das Adjektiv kann kriegerisch oder feindselig bedeuten.305 In den Atlamál heißt es von Atlis Kindern vor deren Ermordung: „die Wilden [Grimmen] war’n ängstlich, aber weinten nicht“ (Am. 77 [74]).306 Das Wort ist hier eine generelle Beschreibung für Fürstenkinder. Grimmig sein und Angst haben verträgt sich nach den anderen Textstellen nicht miteinander. Schwer zu ertragende Schicksalsschläge und Dinge, die mit Härte und Brutalität assoziiert sind, sind grimm. Für ihr Unheil, sagt Brynhild, seien „die grimmigen Schicksalsmächte“ (Sg. 5) verantwortlich.307 Grimm ist Gudrun der Verlust ihrer Brüder: „Am meisten aber hat mich erbittert [ergrimmt], daß Gunnar in einen Schlangenzwinger gesetzt ward“ (Vs 43,308 vgl. Ghv. 17). Grimm zu sein ist ein Ausdruck von Trauer, eine Verlustreaktion: „Weine, Goldgeschmückte, bittre [grimmige] Tränen“ (HH. II 45),309 sagt der untote Helgi zu seiner Frau, „[w]ein nicht, Gudrun, so bitter [grimm]“ (Sg. 25),310 sagt der sterbende Sigurd zu der seinen. Gripir sagt Gudruns Trauer wegen des verlorenen Sigurds voraus: „Da wird’s Gudrun bitter [grimm] ums Herz“ (Grp. 51).311 Grimme Dinge sieht man in Träumen voraus. Das, was grimm ist, ist ein Vorbote des heroischen Untergangs. Kostbera träumt: „ein anderer Strom bräche hier herein, [und] toste furchtbar [grimm]“ (Vs 36).312 Brynhild sagt voraus: „Schreck 



296 297 298 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312

„miklir ok grimligir“. „Atle var grimr madr, mikill ok svartr ok þo tiguligr ok inn meste hermadr.“ „hann var vitr, grimmr oc fiolkunnigr.“ „Grimhillde ena fiolkungu.“ „Grimhilldr var grimhugud kona.“ „grimmom […] Granmars syni“. Vgl. Baetke 2008, s.v. ‚grimmr‘: „wild, grimmig, feindlich; hart, unversöhnlich, grausam“. „Gunnar grimmúðgan“. „gylfa grimmúðgastan“. Vgl. von See/La Farge 2012, S. 554. „glúpnoðo grimmir oc gréto þeygi“. „grimnar urðir“. „Enn þar er mer grimmazt, er Gunnar var i ormgard settr“. „grætr þú, gullvarið, grimmom tárom“. „Grátaðu, Guðrún, svá grimmliga“. „Þá er Guðrúno grimt um hiarta“. „at aunnur á felli her inn ok þyte grimligha“.  

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2.2 Höfisch

liches [Grimmes] glaubt’ ich, Gunnar, im Schlafe zu sehn“ (Br. 16).313 Das Grimme ist eine ordnungsstörende, vernichtende Kraft. Grimm ist das Bier, das Sigurd von Grimhild zu trinken bekommt (vgl. Vs 30). „[G]rimmige Rache“ (Vs 22,314 vgl. Sd. 23) sei nach Brynhilds Ratschlag auf einen Eidbruch zu erwarten. Wir finden den Begriff im Zusammenhang mit den Rachetaten der völsungischen Welt. Gudrun sieht ihre Bruderrache an Atli voraus: „grausam [grimm] wird es dann an ihm gerächt werden“ (Vs 34)315 beschreibt Gudrun im Vorfeld ihre Bruderrache an Atli. Grimm ist es, ihm die Söhne zum Fraße vorzusetzen, zumindest laut Atli: „Grausam [grimmig] bist du, da du deine Söhne mordetest und mir ihr Fleisch zu essen gabst“ (Vs 40,316 vgl. Am. 85). Die Gudrunfigur erklärt später, was in ihr vorging: „so voll war mein Herz von Haß [Grimm] wider ihn, daß ich im Harm unsere Söhne erschlug“ (Vs 43).317 Sie spricht davon, „niemals zu vergessen [ihren] Hass [Grimm]“ (Vs 40).318 Vor seiner Vaterrache sagt Högnis Sohn Niflung, „dass er Atli grimmig sei“ (Am. [88] 85).319 „[M]it grimmigen Worten“ (Ghv. 1)320 werden Hamdir und Sörli von Gudrun zur Schwesterrache angestachelt. Verraten und an den ungewünschten Mann gegeben, fristet Brynhild ihr Dasein „mit grimmem Sinn“ (Sg. 9).321 Grimm zu sein bedeutet Rachedurst zu haben. Der Begriff des Grimmen taucht beim Frauenzank und seinem Nachspiel am Gjukungenhof auf und beschreibt ein den Figuren innewohnendes unversöhnliches Gefühl, das sie die Katastrophe bis zu ihrem Ende treiben lässt. Als Gudrun die Angelegenheit nicht ruhen lassen will und weiter in Richtung Brynhilds stichelt, wird ihr von dieser vorgeworfen: „Eitel Bosheit treibt dich zu dieser Frage, du hast ein grimmes Herz“ (Vs 30).322 Brynhilds eigene Absicht ist daraufhin grimmig. Ihre vorgetäuschte Versöhnlichkeit wird von Gudrun durchschaut: „Du schleuderst gegen mich Worte des Hasses; jetzt stellst du dich so, wie wenn du es wieder gut machen wolltest – aber Grimm steckt dahinter“ (Vs 30).323 Sigurd beteuert sein Wohlwollen gegenüber Brynhild, indem er ihr versichert, ihr gegenüber eben nicht grimm zu sein: „Betört bist du, wenn du wähnst, ich wäre dir feindselig [grimmig] gesinnt“ (Vs 31).324 Brynhilds Grimm gegen Gunnar („grimm bin ich gegen ihn“, Vs 31)325 beschreibt ein Gefühl der Ablehnung und Verachtung. Im Ganzen ist Grimm eine deharmonisierende und desta 





313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325

„Hugða ec mér, Gunnarr, grimt í svefni“. „grim hefnd“. „ok þar eptir man honum grimmu hefnt vera.“ „Grimm ertu, er þu myrdir sonu þina ok gaft mer þeirra holld at ęta“. „sva var grimt mitt hiarta vid hann, at ek drap sonu ockra i harme.“ „at tyna eigi grimdinne“. „at hann væri grimmr Atla.“ „grimmom orðom“. „af grimmom hug.“ „Illt eitt gengr þer til þessa, ok hefir þu grimt hiarta.“ „Þu kastadir fyre heiptarordum a mik. Lętr þu nu, sem þu munir yfir bęta, enn þo byr grimmt undir.“ „Heillud ertu, ef þu ętlar grimann minn hug vid þik“. „grim em ek vid hann“.

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2. Figuren- und Gattungstypen

bilisierende Geisteshaltung, die die Kompromisslosigkeit der heroischen Ethik ausmacht und dem lieblichen Höfischen keinen Platz einräumt. Es ist ein schweres Gefühl von Trauer, Verlust, Rachedurst und Wut, das die höfische Welt verdunkelt und durch die heroische ersetzt. Die zunächst höfisch gesinnte Gudrun wird zur streitlustigen Kindesmörderin, die in Rüstung gegen die Hunnen kämpft und letztlich ihre Söhne in den Tod schickt.326 Die Völsunga saga erklärt die Koexistenz dieser beiden Gudrunfiguren durch die psychische Metamorphose in Folge des Verzehrs des Drachenherzens. Im Gegensatz zur respektiven Passage in den Heldenliedern ist dies der Quell ihres Grimms. Das Nibelungenlied benutzt das mittelhochdeutsche ‚grim‘ oder ‚grimme‘ als ambivalenten Begriff. Es beschreibt die heldische Kampflust. „Mit grimmegem muote“ (Nl 116,1), mit grimmigem Gemüt, beantworten die Wormser Helden die Herausforderung Siegfrieds. Wolfhart stürzt sich in den Kampf gegen die Nibelungen, weil er „grimme“ (Nl 2249,1) ist. Doch beschreibt der Begriff auch eine heroische Unbarmherzigkeit, die eine Normabweichung zum gewünschten höfischen Gestus signalisiert. Hagen ist „grimme“ (Nl 1040,4) bei Siegfrieds Trauerzug. Sein Wesen und Auftreten irritiert die Dienerschaft Prünhilts in Isenstein, wenn sie von ihm berichten: „Der dritte der Gefährten, der ist so grimmig und doch von schönem Leibe […]. Er blickt ungestüm überall hin und her. Seine Gedanken sind, glaube ich, von grimmem Gemüt“ (Nl 413,1–4).327 Als Dietrich von Bern letztlich entscheidet in den Kampf gegen die Nibelungen einzugreifen, heißt es: „Da gewann er seinen wahren Heldensinn wieder. Zorn [Grimm] erfasste den trefflichen Helden, während er gewaffnet wurde“ (Nl 2325,1–2).328 Der Grimm kanalisiert die heroische Kampfeswut des Helden, seinen furor, durch den Dietrich aber seine versöhnliche Einstellung verliert, die er zuvor gegenüber den Nibelungen gezeigt hat (vgl. Nl 2238,1–4). Sie wird durch den Grimm verdrängt und durch rechten Heldenmut ersetzt. Neben einem Verhaltensbegriff sind ‚höfisch‘ und ‚heroisch‘ auch eine Darstellungsform. Die Ästhetik des Höfischen ist das Prachtvolle und das Schöne, das Feine sowie das Zarte. Siegfrieds behütete Jugend im Nibelungenlied repräsentiert den Inbegriff einer ritterlichen Erziehung: „Niemals ließ man den Jungen ohne Aufsicht ausreiten. Siegmund und Sieglinde gaben den Auftrag, ihn prächtig zu kleiden. Auch

326 In der Einleitung zu seinen ‚Spielregeln‘ reflektiert Jan-Dirk Müller, warum die Frage ‚Wie nun ward Kriemhild zur Unholdin?‘ so nicht sinnvoll sei (vgl. Müller 1998, S. 1–5). Einen Überriss über die stilistischen Hintergründe der Entwicklung des „vil edel magedîn“ (Nl 2,1) zur „vâlandinne“ (Nl 2371,4) liefert Friedrich Neumann (vgl. Neumann 1924, S. 129–132). Ebenso untersucht Werner Schröder die „Tragödie Kriemhilts“ (Schröder 1968, S. 48) und „wie aus der liebenden Kriemhilt die gnadenlose Rächerin wird, wie sie an ihrem nicht bloß unweiblichen, sondern unmenschlichen Haß aus Liebe innerlich verbrennt“ (Schröder 1968, S. 49; vgl. insgesamt Schröder 1968, S. 48–156). 327 „Der dritte der gesellen der ist sô gremelîch, | (unt doch mit schœnem lîbe […]) | von swinden sînen blicken, der er sô vil getuot. | er ist in sînem sinnen, ich wæne, grimme gemuot“ (Übersetzung F.D.). 328 „Dô gewan er widere rehten heldes muot. | in grimme wart gewâfent dô der helt guot.“  









2.2 Höfisch

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umgaben ihn erfahrene Männer, die sich auf feine höfische Sitte verstanden“ (Nl 25, 1–3).329 Ebenso idyllisch lassen die Atlamál Gudrun ihre Kindheit mit Högni beschreiben: „Aufgezogen wurden wir in einem Haus, | wir spielten manches Spiel und wuchsen im Wald auf, | Grimhild gab uns Gold und Halsbänder“ (Am. 72 [69]).330 Dem höfischen Ideal von Schönheit und Unbeflecktheit entspricht auch Prünhilts Kampfausrüstung: „Ein wunderschönes seidenes Waffenhemd […], das noch niemals in einem Kampf vorher durch eine Waffe beschädigt worden war, legte die Jungfrau an“ (Nl 429,1–2).331 Dem Ideal des Zarten und Unberührten stellt die heroische Darstellung den mit zerfetzten Armen vor seiner Mutter stehenden Sinfjötli oder den bluttriefenden Sigurd gegenüber (vgl. Vs 7, 17, 18). Heroische Ästhetik ist die Ästhetik der Gewalt, des Blutes und des zerstörten Körpers. Von den burgundischen Helden um Hagen von Tronje heißt es in der Sachsenkampfepisode des Nibelungenliedes: „Volker, Hagen und Ortwin […] löschten den Feuerschein unzähliger Helme durch Ströme von Blut“ (Nl 201,1–3).332 Vom sterbenden Starkad berichtet Helgi im zweiten Helgilied: „noch kämpfte der Rumpf, als der Kopf333 ab war“ (HH. II 27).334 Walküren erscheinen mit blutbespritzten Brünnen (vgl. HH. 15). Auf dem untoten Leib des Wiedergängers Helgi vermischt sich sein Blut mit den Tränen seiner Frau: „Zuerst will ich [Sigrun] küssen den toten König, | bevor du die blutige Brünne abwirfst. Dein Haar ist, Helgi, mit Reif bedeckt, | ganz ist der Fürst mit Leichentau benässt, | Högnis Schwiegersohn sind die Hände nasskalt“ (HH. II 44).335 Helgi spricht darauf: „Du nur bewirktest, Sigrun von Sewafjöll, | dass Helgi mit Kummertau bedeckt ist. | […] | Jede [Träne] fällt blutig dem Fürsten auf die Brust, | nasskalt, innen brennend, von Kummer beschwert“ (HH. II 45).336 Das Lied schildert keine prekäre oder randständige Figur, sondern den Idealfürsten, der für die Heldendichtung schrecklich und schön zugleich ist. In der Völsungensage steht der mittelalterliche Ritter Sigurd neben dem germanischen Helden Sigurd. Eine Koexistenz der beiden Darstellungsformen wird nicht ausgeschlossen. Die Gattungsfrage hingegen ist mitunter eine Frage der Ästhetik.

329 „Vil selten âne huote man rîten lie daz kint. | in hiez mit kleidern zieren Sigmunt und Siglint. | sîn pflâgen ouch die wîsen, den êre was bekant.“ 330 „Alin við up vórom í eino húsi, | lécom leic margam oc í lundi óxom, | gœddi ocr Grímildr gulli oc hálsmeniom“. 331 „Ein wâfenhemde sîdîn daz leite an diu meit, | daz in deheinem strîte wâfen nie versneit“. 332 „Volkêr und Hagene und ouch Ortwin, | die laschten ime strîte vil maneges helmes schîn | mit vliezendem bluote“. 333 Hierzu die Deutung Edgar Haimerls: „Der Verlust des Hauptes […] steht für die Vernichtung des gesamten Herrschergeschlechtes; die Prosa nennt an dieser Stelle die Fürsten hǫfðingiar […] und zeigt damit die bewußte Verwendung dieser Symbolik“ (Haimerl 1992, S. 68). 334 „er barðiz bolr, var á brot hǫfuð.“ 335 „Fyrr vil ec kyssa konung ólifðan, | enn þú blóðugri brynio kastir; | hár er þitt, Helgi, hélo þrungit, | allr er vísi valdǫgg sleginn, | hendr úrsvalar Hǫgna mági“. 336 „Ein veldr þú, Sigrún frá Sefafiollom, | er Helgi er harmdǫgg sleginn; | […] | hvert fellr blóðuct á brióst grami, | úrsvalt, innfiálgt, ecca þrungit.“  

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2. Figuren- und Gattungstypen

2.2.3 Innen und Außen Uns begegnet im höfischen Roman eine Dichotomie der Handlungsräume ‚Drinnen‘ und ‚Draußen‘. Die Bereiche ‚ze hove‘ und ‚ze wilte‘ beschreiben auf der einen Seite ein geordnetes höfisches Innen, das sich innerhalb der Grenzen des Artus-, Königsoder Fürstenhofes befindet und auf der anderen ein Gebiet ritterlicher agonaler Aktivität, das in die unhöfische Wildnis verlagert ist. Es sind Orte von statischer höfischer Idealität und kämpferischer Bewährung.337 Während der Hof mit reglementierten Verhältnissen und Annehmlichkeiten assoziiert ist, ist das chaotische Draußen ein Bereich von Widrigkeiten und Mühsal.338 So beschreibt uns Hartmann von Aue in seinem Iwein die konstante Hochstimmung und das höfische Treiben im geordneten Innen des Artushofes: Artus und die Königin – alle beide – suchten aller Gäste Wünsche zu erfüllen. Als man das Pfingstmahl gehalten hatte, suchte sich jeder das Vergnügen, das ihm am meisten zusagte: die einen trieben Konversation mit den Frauen, andere lustwandelten, andere tanzten, andere sangen, andere machten Wettläufe, andere sprangen, andere hörten Musik, andere schossen nach der Scheibe, diese sagten von der Last der Liebe, jene von großem Heldentum (Iwein 59–72).339  



Der Inbegriff ritterlicher Leichtlebigkeit. Ein gegenteiliges Bild erhalten wir aber, wenn im selben Roman der Ritter Kalogrenant von seiner aventiure-Fahrt in die Wildnis berichtet. Das Draußen wird geschildert als ein menschenfeindlicher und unzugänglicher Ort: „daß ich, gewappnet wie immer, auf aventiure in den Wald von Breziljan ausritt. Es gab dort mehrere Wege. So wendete ich mich nach rechts auf einem

337 Vgl. Boklund 1977, S. 2: „the space of corteisie ‚courtliness‘ is the internal, closed space […]; all remaining space is characterized principally by an absence of corteisie. In terms of mythical cosmology, the courtly space is the center of the world […]. It is in contact with and in conformity to the true order of the universe.“ Vgl. Boklund 1977, S. 4: „The exterior space […] is defined negatively with respect to the space of the court: it is the domain of the noncourtly, […] where phenomena resist structuring and remain incomprehensible. It is the territory of chaos and conflict, whereas no conflict is permitted within the space of the court: as soon as conflict arises in the court, someone immediately departs from internal space and goes on a quest or an avanture“. 338 Der Raum des ungeordneten Außen ist ebenso Element des mythischen Erzählens. Vgl. Eliade 1953, S. 20 f.: „Die Wüstengegenden z. B., die von Ungeheuern bewohnt werden, die unbebauten Landstriche, die unbekannten Meere, die noch kein Schiffer zu befahren gewagt hat, sie und andere Orte teilen nicht […] das Privileg eines genauen Urbilds. Sie entsprechen einem mythischen Urbild anderer Art: alle diese wilden, unbebauten Landstriche usw. werden dem Chaos verglichen, sie nehmen noch teil an der undifferenzierten, ungeformten Seinsart aus der Zeit vor der Schöpfung.“ Sarah L. Higley beschreibt die den zivilisierten menschlichen Gebieten gegenübergestellten Wälder als „the universal human symbol of the nonhuman and the irrational“ (Higley 2005, S. 344). 339 „Artûs und diu künigin, | ir ietwederz under in | sich ûf ir aller willen vleiz. | dô man des pfingestages enbeiz, | männeclîch im die vreude nam | der in dô aller beste gezam. | dise sprâchen wider diu wîp, | dise banecten den lîp, | dise tanzten, dise sungen, | dise liefen, dise sprungen, | dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, | dise redten von seneder arbeit, | dise von grôzer manheit.“  











2.2 Höfisch

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Pfad, den ich dort fand. Der wurde bald verwachsen und schmal, durch Dornen und Dickicht ritt ich den ganzen Tag lang, so daß ich wohl sagen kann, daß ich noch niemals so große Mühsal durch Unwegsamkeit erlitten hatte“ (Iwein 261–272).340 Und weiterhin: Ich nahm Abschied und ritt in aller Frühe vom freien Feld zurück in den Wald. Dort drang ich in die Wildnis ein und fand am späten Vormittag verborgen im Walde eine ausgedehnte Rodung, die jedoch menschenleer war. Da bot sich mir zu meinem Schrecken ein entsetzlicher Anblick: alle Arten von Tieren, von denen ich je gehört hatte, sah ich aufs Furchtbarste kämpfen und ringen. Da kämpften grimmig und mit gräulichem Gebrüll Wisente und Auerochsen. Da hielt ich an und bereute, hergekommen zu sein. Und hätten sie mich bemerkt, so hätte ich keine andere Hilfe gewusst, als Gott um Rettung anzuflehen (Iwein 396–416).341

Für die Völsungensage liegt eine solch strikte semantische Belegung der Bereiche Innen und Außen nicht vor, vornehmlich weil uns ein konstant bestehendes Zentrum der Idealität ähnlich dem Artushof, an das die Handlung und die Figuren immer wieder zurückkehren, in der Textwelt fehlt. Der Held entspricht für sich selbst einem Ideal und muss sich nicht mit einer an eine Hofinstanz gebundene Gesellschaftsnorm abgleichen. Dennoch begegnen uns Konzepte, die Räumen eine gewisse Wertigkeit zuweisen. Im Nibelungenlied ist der Bereich außerhalb des Wormser Hofes ein Ort des Heroischen und der mythischen Begegnungen. Es sind die Figuren Hagen und Siegfried, die als Geschöpfe dieses Außerhalbs mit Kompetenzen jenseits des Hofes inszeniert werden. Als es darum geht, Siegfried bei seiner Ankunft in Worms zu identifizieren, wird Hagen gerufen, der als Einziger im Stande ist, den Fremden zu erkennen.342 Er blickt aus einem Fenster – von Innen – heraus und herab auf den Xantener Helden:343 „Er trat an ein Fenster und wendete seinen Blick den Ankömmlingen zu“ (Nl 84,1–2).344 Er muss später abermals Identifizierungsarbeit leisten, da Rüdiger seinem  



340 „[…] daz ich nâch âventiure reit, | gewâfent nâch gewonheit, | ze Breziljân in den walt. | dâ wârn die wege manecvalt: | dô kêrt ich nâch der zeswen hant | ûf einen stîc den ich dâ vant. | der wart vil rûch und enge: | durch dorne und durch gedrenge | sô vuor ich allen den tac, | daz ich vür wâr wol sprechen mac | daz ich sô grôze arbeit | nie von ungeverte erleit.“ 341 „dan schiet ich unde reit vil vruo | ze walde von gevilde. | dâ râmet ich der wilde | und vant nâch mitten morgen | in dem walde verborgen | ein breitez geriute | âne die liute. | da gesach ich mir vil leide | ein swære ougenweide, | aller der tiere hande | die man mir je genande, | vehten unde ringen | mit eislîchen dingen. | dâ vâhten mit grimme | mit griulîcher stimme | wisente und ûrrinder. | dô gehabt ich hinder, | und rou mich daz ich dar was komen. | und heten sî mîn war genomen, | sone triut ich mich anders niht erwern, | wan ich bat mich got genern.“ 342 Vgl. Harms 1963, S. 36: Es „charakterisiert die Dichtung Hagen als den Wissenden. Mag es sich um die Deutung fremder Wappen oder der Einladung Kriemhilds handeln, stets erkennt Hagen den rechten Zusammenhang. Für ihn gibt es eine Kontinuität von Wissen, Erkennen und Handeln.“ 343 Jan-Dirk Müller spricht von einer „Vertikale[n] Ordnung“ (Müller 1998, S. 323). „Das Machtgefälle spiegelt sich in der Verteilung von oben und unten“ (Müller 1998, S. 323). 344 „zeinem venster er dô gie; | sîn ougen er dô wenken zuo den gesten lie.“  





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2. Figuren- und Gattungstypen

Gefolge als Brautwerber an den Wormser Hof kommt: „Der Landesherr sandte nach Hagen, ob sie ihm vielleicht bekannt wären“ (Nl 1177,4).345 Im Gegenzug ist es dann Hagen, der als er sich außerhalb des Hofbereiches befindet von den Geschöpfen des Draußen seinerseits erkannt wird. Die Wasserfrauen sprechen ihn mit Namen und Abstammung an: „Ich will Dich warnen, Hagen, Sohn Aldrians“ (Nl 1539,2),346 sagt eine von ihnen. Siegfried und Hagen sind beide Navigatoren durch die Räume zwischen den höfischen Machtzentren der Welt des Nibelungenliedes. Hagen ist der Führer des Burgundenzuges fort vom heimatlichen Hof in den Untergang im Lande Etzels: „Hagen führte sie dorthin; denn er kannte sich aus. […] Da ritt Hagen von Tronje als erster im Zug. Auf ihn konnten die Nibelungen ihre ganze Zuversicht setzen“ (Nl 1524,3– 1526,2).347 Den Weg dahin kenne er laut Kriemhilt noch aus seiner Kindheit (vgl. Nl 1419,2–4). In Siegfrieds Kenntnis um die Wege nach Isenstein finden wir eine Reminiszenz des einstmaligen Sagenstoffes um die Vorverlobung zwischen der Prünhilt- und Siegfriedfigur,348 die in der nordischen Variante noch erhalten ist:349 „Da sagte der König Gunther: ‚Wer soll unser Kapitän sein?‘ ‚Ich!‘ sagte Siegfried, ‚Ihr trefflichen Helden, ich kann euch auf der Strömung gut von hier fortführen, denn ich kenne die richtigen Wasserläufe ganz genau‘“ (Nl 377,4–378,3).350 Die Wildnis außerhalb des Hofes ist im Nibelungenlied zwar kein Raum der ritterlichen Abenteuer, stellt aber einen Konterpart zum Bereich höfischer Stabilität dar, in dem die Figuren Hagen und Siegfried wurzeln und der ihre heroische Natur zur Geltung bringt.351 Das Draußen ist ein Ort heroischer Erfüllung.352

345 „der wirt nâch Hagene sande, ob si im kündec möhten sîn.“ 346 „ich wil dich warnen, Hagene, daz Aldrîânes kint.“ 347 „dar leite si dô Hagene; dem was ez wol bekannt. | […] | Dô reit von Tronege Hagene ze aller vorderôst. | er was den Nibelungen ein helflîcher trôst.“ 348 Anders dagegen R.G. Finch (vgl. Finch 1965, S. xxiff.), der zwar eine Reihe von Argumenten für eine Vorkenntnis der beiden Figuren vorbringt, diese dann aber als für ihn ungenügend abtut. Für die Vorkenntnis plädiert etwa Hermann Reichert (vgl. Reichert 1974, S. 251 ff.). 349 Liest man die Stelle der dritten Strophe des kurzen Sigurdliedes „Vǫlsungr ungi, oc vega kunni“ (Sg. 3) nicht als „der junge Wölsung, der kämpfen konnte“ (Krause 2004, S. 366), sondern als etwa ‚der junge Völsunge, er kannte die Wege’ (vgl. von See/La Farge 2009, S. 321–324 für Argumente für und wider), so findet sich ein Hinweis auf eine Vorbekanntschaft des Helden mit der Walküre und auf seine Wegekundigkeit (vgl. auch Sperberg-McQueen 1985, S. 24–25). 350 „dô sprach der künec Gunther: ‚wer sol nu schifmeister sîn?“ | ‚Daz will ich!‘ sprach Sîvrit: ‚ich kan iuch ûf der fluot | hinnen wol gefüeren, daz wizzet, helde guot. | die rehten wazzerstrâzen die sint mir wol bekannt.‘“ 351 Vgl. Fasbender 2007, S. 14: „Der Held ist ‚exorbitant‘, er führt ein Leben in lockerem Kontakt zu den sozialen Regelwerken der Kollektive. Eine solche Figur müßte der höfische Roman, seinem Reglement zufolge, in den Wald versetzen, sozusagen strafversetzen bis zu seiner Resozialisierung. Der Wald, in den der heroische Dichter den Exorbitanten versetzt, ist allerdings, verglichen mit dem unhöfischen Wald, ein anderer Wald; vorerst für uns: ein nicht-unhöfischer Wald.“ 352 Für die Bereiche heldischen Handelns vgl. Miller 2000, S. 133–152.  













2.2 Höfisch

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Diese semantische Belegung des äußeren Raumes begegnet uns auch in den nordischen Nibelungentexten.353 Der Raum heldischen Handelns ist hier abgegrenzt und in die Ferne verlagert. Hamdir und Sörli verlieren durch die Aufhetzung ihrer Mutter ihr passives Verhalten und ziehen „übers feuchte Gebirge“ (Hm. 11)354 zur Schwesterrache aus, die sie beide das Leben kosten wird. Sigurd wiederum reitet „übers hohe Gebirge“ (Fm. 26),355 um zum Ort seiner Drachentötung zu gelangen. Dazu fahren er und sein Ziehvater „hinauf zur Gnitaheide“356 (Fm. Einleitungsprosa, vgl. Vs 18).357 Den Drachenhort findet er letztlich in einem unterirdischen eisernen Saal: Sigurd „ritt der Spur Fafnirs nach, bis zu seiner Höhle und fand, daß sie offen war: alle Türen waren von Eisen, ebenso alle Türgerüste, von Eisen waren auch alle Pfeiler im Hause, und dieses stand ganz in der Erde“ (Vs 20).358 Um vom Atlihof zu den Gjukungen zu gelangen, muss jeweils der „unbekannte[…] Myrkwid“ (Akv. 3, 13),359 der Dunkeloder Finsterwald, durchquert werden, durch den der Todeszug der Gjukungen führt. Als Gudrun sich zu Atli begibt, heißt es: „so reisten sie sieben Tage zu Pferde, dann sieben Tage zu Schiffe, und wieder sieben Tage zu Lande“ (Vs 34,360 vgl. Gðr. 35). Die Wegstrecke dorthin ist durch die dreifache Siebenzahl märchenhaft verklärt. Nach Sinfjötlis Tod wird sein Körper von seinem Vater weggetragen. Vom Ort des Erbmahls wird er durch die Wildnis zum ihn fortfahrenden Fährmann gebracht: „Sigmund […] nahm die Leiche in seine Arme, ging in den Wald und kam endlich da zu einem Fjord“ (Vs 10).361 Der Schauplatz von Sinfjötlis Entrückung ist selbst ein gesellschaftsferner, entrückter Ort: „Sigmund trug ihn weite Wege in seinen Armen“ (Sf.).362 Erst in diesem Draußen trifft er auf den als Odin zu identifizierenden Fährmann.363 Die mythischen Figuren sind außerhalb des zivilisierten Innens angesiedelt. Man begegnet ihnen in der Wildnis. Von Fafnir heißt es nach seinem Vatermord und vor seiner Verwandlung, „daß er sich in die Wildnis zurückzog“ (Vs 14)364 und die schlafende Walküre muss von Sigurd erst auf dem Hindarfjall erweckt werden – wohin der Held „weite Wege“  



353 Vgl. Ney 2000, S. 368–370. Agneta Ney spricht für die Völsunga saga von einer Zweiteilung der Raumstruktur. Der Raum der ersten mythischen Hälfte der Saga sei der Wald, der der zweiten höfischen die Burg. 354 „yfir […] úrig fiǫll“. 355 „heilog fiǫll hinig“. 356 Vgl. Schjødt 2008, S. 291 f: „The question of how far Gnitaheiðr is possibly identical with an historical battlefield, as Höfler suggested […] does not influence the fact that, in the sequence, it connotes an Other World locality. Thus, Fáfnir is killed in a locality which has affinity with the underworld“. 357 „up á Gnitaheiði“. 358 „reid eptir slod Fafnnis ok til hans herbergiss ok fann, ath þath var opith, ok af iarnne hurdirnar allar ok þar med allr dyra-umbunighr-inn ok af iarnne allir stockar i hussinu, ok grafit i iord nidr.“ 359 „Myrcvið inn ókunna“. 360 „foru sva VII daga a hestum, enn adra VII a skipum ok ena þridiu VII enn landvegh“. 361 „Sigmundr […] tok likit i fang ser ok fer til skogar ok kom lox at einum firde.“ 362 „Sigmundr bar hann langar leiðir í fanga sér“. 363 Siehe 3.1.5. 364 „at hann lagdizt ut“.  





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2. Figuren- und Gattungstypen

(Vs 21)365 reitet –, bevor sie sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft wiederbegegnen können (vgl. Vs 21, 25). Bisweilen wird der Held jedoch selbst in die Wildnis verlagert,366 wie etwa Sigmund, der als einziger überlebender Völsunge des Siggeirverrates ein Ächter- und Rächerleben im Wald fristet: „so war Sigmund frei geworden […] und hielt sich nahebei im Walde auf. Da ging sie [Signy] zu ihrem Bruder, und sie faßten den Beschluß, daß er sich dort im Walde ein Erdhaus bauen sollte“ (Vs 6).367 Der Konflikt mit der dominanteren Macht, die Siggeirs Kollektiv darstellt, hat die Völsungen ihres eigenen Innens beraubt. Sigmund ist nun ein herrschaftsferner Enteigneter, wie auch schon zeitweise sein Vorfahre Sigi vor ihm: „und man nannte ihn [Sigi] Wolf an der Weihestätte, und er durfte jetzt nicht in der Heimat bleiben bei seinem Vater. Odin geleitete ihn daher aus dem Lande fort, so lange Wege, daß es sehr weit war“ (Vs 1).368 Metaphorisch sind sie beide zu Wölfen im Draußen geworden, was später auf Sigmund und seinen Sohn Sinfjötli nicht nur figurativ, sondern auch wörtlich zutrifft. Dass Sinfjötli „draußen im Walde mit Wölfen“ (Vs 9),369 gelebt hätte, wird ihm später als Defizit vorgehalten. Das sei schlecht und gereicht im Streitgespräch zur Beleidigung. Als das wölfische Vater-Sohn-Paar zur Rache aufbricht, werden die beiden selbst zu Eindringlingen von Außen, die die Herrschaft Siggeirs in seinem reglementierten Innen zerstören:  

Da gingen sie eines Tages fort von der Erdhütte, kamen spät abends an König Siggeirs Hof und traten in die Vorstube, die vor der Halle war; dort aber waren Bierfässer, und dahinter verbargen sie sich. […] Signy und der König hatten zwei Söhne, jung an Jahren, die spielten mit Goldringen am Boden der Halle, ließen die Ringe über den Estrich rollen und sprangen ihnen nach. Ein Goldring aber rollte nach außen hin nach der Stelle des Hauses, wo sich Sigmund und Sinfjötli versteckt hatten; der Knabe aber lief hinterdrein, den Ring zu suchen. Da sah er dort zwei Männer sitzen, groß und grimmig, die trugen tief herabhängende Helme und lichte Brünnen. Da lief er ins Innere der Halle zu seinem Vater und sagte ihm, was er gesehen hätte (Vs 8).370

365 „langar leidir“. 366 Vgl. Teichert 2014, S. 164: Die Ungeheuer tötenden Helden „sind weiterhin eng mit dem Raum Wald/Wildnis assoziiert, der zugleich Aufenthaltsort der von ihnen zu bekämpfenden Ungeheuer ist: Im Falle Sigurd ist dies vor allem an der Þiðreks saga zu erkennen, die nach ‚altdeutscher‘ Tradition den Vollwaisen Sigurd in der Waldschmiede [und von einer Hindin aufgezogen] seine frühe Jugend verbringen lässt; […] Sigmund und Sinfjötli hausen über Jahre in der Wildnis und dort wenig komfortabel in einem Erdhaus“. 367 „Nu er Sigmundr laus ordinn […] ok hefzt Sigmundr þar nu vid i skoginum. […] For hun nu ok hittir brodur sinn, ok taka þau þat rad, at hann giorir þar iardhus i skoginum“. 368 „Þa kalla þeir hann vargh i vęium, ok ma hann nu eigi heima vera med fedr sinum. Odinn fylgir honum nu af landi brott sva langa leid at storu bar“. 369 „a morkum uti med vorgum“. 370 „Ok nu fara þeir i brott fra iardhusinu einnhvern dag ok koma at bę Siggeirs konungs sid um aptan ok ganga inn i forstofuna þa, er var fyrir hollinne, enn þar voru inne aulker, ok leynast þar. […] Þau Signy ok konungr eigu II baurn ungh at alldri. Þau leika ser a golfinu at gulli ok renna þvi eptir golfinu hallarinnar ok hlaupa þar eptir. Ok einn gullhringr hrytr utar i hussit, þar sem þeir Sigmundr eru, enn svein 

2.3 Mythisch

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Siggeirs Halle wird dabei selbst noch unterteilt in innere und äußere Bereiche. In der Peripherie, der Vorstube des Hauses, verstecken sich die Eindringlinge und werden entdeckt, als etwas durch Zufall aus dem Zentrum der Halle, dem inneren Machtbereich nach außen gelangt, nämlich der herausrollende Goldring. Die spielenden Kinder werden darauf von Sinfjötli getötet: „Sinfjötli […] tötete beide Knaben und warf sie ins Innere der Halle, König Siggeir zu Füßen“ (Vs 8).371 Ihre Körper wirft der Rächer ins Machtzentrum hinein, direkt vor den feindlichen König, ihren Vater. Die heroische Rache ist eine Zerstörungswelle, die von der äußeren Wildnis ins Innere der feindlichen Halle brandet. Im Gegensatz zum höfischen Roman muss dabei der innere Raum in der völsungischen Welt nicht immer positiv besetzt sein. Gerade im Falle von Siggeirs Herrschaft sind die Halle, die Söhne und der Reichtum etwas, das Verweichlichung und Untauglichkeit symbolisiert.372 Der Held selbst ist zu gleichen Teilen ein Geschöpf der Wildnis wie der Halle oder des Hofes. Anders als der Ritter, ist er nicht nur ein temporärer Gast im Draußen, sondern ist mit ihm verbunden.373 Das Außen ist der Ort, wo seine wahren Kompetenzen liegen. Seine Exorbitanz dagegen verursacht nur allzu oft, dass der Held die Ordnung des Innens destabilisiert.374

2.3 Mythisch 2.3.1 Der Heros Wir haben bisher über die Eigenheiten der Figurentypen Held und Ritter gesprochen. Der Heros hingegen, als Subkategorie des Helden, weist einen starken Bezug zur Mythen- und Götterwelt der Erzählung auf. Dies nicht zuletzt auf Grund seiner Abstammung. Diese Elemente des Typs Heros hebt Jakob Grimm in seiner Deutschen Mythologie hervor, wenn er über die Natur der Figur spricht, die wir bisher den Helden genannt haben: zwischen gott und dem menschen besteht eine stufe, auf der sich beide einander vermitteln, das göttliche wesen den irdischen dingen näher gerückt, die menschliche kraft verklärt erscheint. je älter das epos, desto notwendiger sind ihm leiblich auftretende götter; ohne helden, in denen noch göttlicher funke sprüht, oder die seiner theilhaft werden, kann auch das jüngere nicht aus-

ninn leypr eptir at leita hringsins. Nu ser hann, hvar sitia II menn miklir ok grimligir, ok hafa sida hialma ok hvitar bryniur. Nu hleypr hann i hǫllina innar fyrir fedr sinn ok segir honum, hvat hann hefir sed.“ 371 „Enn Sinfiotli let ser ecki feilazt ok bregdr sverdi ok drepr hvarttveggja barnit ok kastar þeim innar i haullina fyrir Siggeir konung.“ 372 Siehe 6.2.3. 373 Matthias Teichert spricht von der „Verortung der metamorphen heroischen Figur in die Räume Wald und Wildnis“ (Teichert 2014, S. 165). 374 Vgl. Boklund 1977, S. 9: „contact with the external space of chaos introduces the possibility of conflict within the space of courtly harmony, the possibility of revolt in the space of order.“  



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2. Figuren- und Gattungstypen

kommen. heldentum darf in nicht anderes gesetzt werden, als in kampf und sieg: held ist ein mensch, der gegen das böse streitend unsterbliche thaten verrichtet und zu göttlicher ehre gelangt. […] der held unterliegt leiden, wunden, dem tode, von welchem nach der vorstellung des alterthums selbst die götter nicht frei blieben. in dem helden erreicht der mensch die hälfte der gottheit, er wird halbgott. […] die lat. sprache hat für den bestimmten begriff eines göttlichen, verklärten helden den gr. ausdruck heros beibehalten […]. was ist nun die ursache dieser erhebung und steigerung menschlicher natur? anfangs immer, so viel ich sehe, ein verhältnis leiblicher verwandtschaft zwischen einem gott und dem geschlecht der menschen. die helden sind epigonen der götter, ihr geschlecht rührt von den göttern her.375

Wohingegen Jakob Grimm diese mittlerweile relativierte Definition auch auf die Figuren des Nibelungenliedes, also auf die Figuren der germanischen Heldensage376 anwendet, differenziert der Sprachgebrauch der Forschung allerdings stark zwischen dem mythisch-göttlichen Heros und dem Helden der Heldensage: Im Altgriechischen, wo die Heldensage im Homerischen Epos den ersten großen Höhepunkt ihrer dichterischen Gestaltung auf europäischem Boden erreicht, ist schon in der Terminologie eine enge Beziehung des Heldischen zum mythisch-kultischen Bereich expliziert: Der ήρως ‚Heros‘ wird bei Hesiod ausdrücklich als ήμίδεος ‚Halbgott‘ bezeichnet und in der Ilias findet sich die Formulierung ήμίδέων γένος άνδρών ‚Stamm halbgöttlicher Männer‘. Der Heros übernimmt somit eine Vermittlerrolle zwischen Menschen- und Götterwelt.377

Für die germanische Heldensage gilt nach Matthias Teichert allerdings: „Ein dem Griechischen vergleichbarer Heroenkult ist für die Germanen nicht nachweisbar; folglich fehlt hier auch die Idee eines ‚halbgöttlichen‘ Heros.“378 Denselben Standpunkt finden wir vertreten bei Klaus von See379 und bei Heiko Uecker.380 Hermann Schnei-

375 Grimm 1875, S. 282 f., 283. 376 Vgl. Grimm 1875, S. 307 f. 377 Teichert 2008, S. 17. 378 Teichert 2008, S. 17. 379 Vgl. von See 1971, S. 31: „Geht man von den überlieferten Texten aus, so scheint sich zunächst einmal zu zeigen, daß der Held des Mythos, der göttliche Held, dem Helden der Heldensage mindestens ebenso fern steht wie der Held des Märchens.“ Ferner spricht Klaus von See davon, dass die Art der Lieder der Edda untypisch wäre für Heroengeschichten. Die germanischen Helden würden im Ereignislied leben, das ihr Dasein in einer herausragenden Großtat kulminieren lässt, wohingegen die Heroen vor allem im Rahmen des sogenannten Aufreihliedes existieren würden: „Der mythische Held dagegen beweist seine übernatürliche Kraft in einer Vielzahl problemloser Taten, und entsprechend ist eine typische Form des kultisch gebundenen Liedes das preisende Aufreihen dieser Krafttaten“ (von See 1971, S. 32). Franz Rolf Schröder glaubt allerdings, dass in eben jenen Aufreihliedern, die Götter und Heroen preisen sollen, der Ursprung der Heldendichtung zu finden ist: „Es gibt Götter, welche allein durch ihr göttliches Sein wirken, Götter der Ferne, deren Majestät und Herrlichkeit die Hymnen von allen Seiten umkreisen und in immer neuen feierlichen Wendungen verkünden. Und es gibt zum anderen Götter, welche durch ihre Taten Ruhm und Größe gewinnen, die aus fernen Bereichen in die Nähe kommen, zu den Menschen, als Gottgesandte, als Heilbringer und Drachentöter, welche das Chaos bändigen und die Ordnung der Welt stiften. Demgemäß sind auch Stil und Inhalt der ihnen gewidmeten Hymnen anderen  







   





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2.3 Mythisch

der spricht von einem Heroenkult in der griechischen Heldensage: diese könne „mit einem gewissen Rechte von ‚Heroenmythen‘ sprechen. Ihre großen Helden verdanken ihr übermächtiges Ausmaß ihrer noch lebendigen, unmittelbaren Abstammung von Göttern, sind also Halbgötter, denen auch lokale Kulte gewidmet werden konnten.“381 Eine solche Art von kultischer Heldenverehrung fehle aber nach Klaus von See völlig für den germanischen Raum.382 Ebenso ist auch Hermann Schneider ein Gegner der Vorstellung, dass es sich bei den germanischen Helden um Heroen im mythischen Sinne handeln könnte. Ihre Kraft sei vollkommen weltlicher Natur: „Die überlegene Kraft, die der germanische Held gleich dem ‚Helden‘ der ganzen Weltliteratur aufweist, ist durchaus irdischen Ursprungs; dichterische Stilform, nicht jenseitiges Überbleibsel. Ins Fabelhafte steigert sich die Leistung des germanischen Helden überhaupt nie, ins Groteske erst spät.“383 Wolfgang Lange untersucht die Frage nach dem mythischen-kultischen Charakter des Helden unter folgender Prämisse: Die Frage, ob die Heldendichtung auch eine religiöse Seite gehabt habe, kann nicht dadurch gelöst werden, daß man fragt, ob Götter im Heldenlied auftreten oder gerufen werden. Das Heldenlied sagt aber etwas aus über den Ort des Menschen im Schicksalsgefüge, sagt etwas über seine Bestimmung und Würde, feiert den in seinem Schicksal Untergehenden als den, der bestanden hat. All dies ist Daseinsdeutung von […] religiösem Gewicht.384

Lange will also – und meines Erachtens ist dieser Ansatz äußerst fruchtbar – nicht rein auf das Faktische hinaus, sondern untersucht die hintergründige Stimmung und die Gewichtung der erzählten Ereignisse, die durchaus – auch ohne dass der Punkt ‚Götter‘ auf einer Strichliste abgehakt wurde – mythischen bis religiösen Charakter haben können. Als Kriterien für mythisches Erzählen nennen Jan und Aleida Assmann  







Gepräges. Dank ihren mannigfachen Taten sind diese Gesänge abwechslungsreicher, lebensvoller und lebenserfüllter, menschennäher, wenn auch die Leistungen weit über das Menschenmaß hinausragen. In kontinuierlicher Entwicklung geht es von diesen Göttern der Nähe und ihren Mythen zu den Helden der Vorzeit und zur Heldensage, wenigstens auf ihrer frühesten Stufe. Und so mündet auch der Götterhymnus – soweit ihn der Kultus nicht schützt und bewahrt – ins Heldenlied ein, wobei auch die Grenzen zwischen kultischer und weltlicher Deutung fließender und unbestimmter sind als man meist zu glauben geneigt ist. Das ‚Einzeltat‘-Lied, das etwa den Drachenkampf des Gottes (Indras, Thors usw.) besang, wandelt sich zum heldischen Drachenkampflied (von Sigfrid usf.)“ (Schröder 1954, S. 184). Für Schröder sind also die germanischen Helden, demnach nur eine Spielart der Heroen und Götter und das Aufreihlied, das eben genau jenen Figuren gewidmet ist, hätte auch seine Spuren im germanischen Heldenlied hinterlassen. 380 Vgl. Uecker 1972, S. 9: „Der deutsche Sprachgebrauch hat dahingehend differenziert, dem ‚Heros‘ einen mythischen, dem ‚Helden‘ einen historischen Charakter zuzuweisen, d. h. der Heros kann eine besondere Kategorie des Göttlichen sein, der Held dagegen bleibt immer Mensch.“ 381 Schneider 1962, S. 23. 382 von See 1971, S. 36 f. 383 Schneider 1962, S. 24. 384 Lange 1960, S. 84.  



















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2. Figuren- und Gattungstypen

die folgenden Faktoren: „Bei dem Ereignis, das die mythische Erzählung ins Blickfeld rückt (Kampf oder Prüfung, Problem oder Suche), geht es meist um eine schwierige Aufgabe für einen exponierten Protagonisten, von deren erfolgreicher Bewältigung ein allgemeines Geschick abhängt.“385 Letztendlich ist der Typus Heros dem Typus des Helden sehr ähnlich. Für beide gelten dieselben moralischen und ethischen Reglementierungen, beide neigen zu zwanghaftem und selbstzerstörerischem Handeln und das mythische Erzählen weist weitgehende Strukturähnlichkeiten zum heroischen auf.386 Was den Helden vom Heroen nach unseren obigen Definitionen unterscheidet, sind also zwei Kriterien, nämlich zum Einen seine göttliche Abstammung – also sein eigenes göttliches Wesen – und zum Anderen die kultische Verehrung, die ihm entgegengebracht wird. Wenn Otto Höfler von der Heldendichtung als Heldenverehrung spricht, schließt er dabei die germanische Heldensage nicht aus.387 Ihr Protagonist wurde vielleicht nicht im Rahmen kultischer Praxis verehrt, war jedoch in ehrenvollem Andenken bewahrter Idealitätsrepräsentant.388  



385 Assmann/Assmann 1998, S. 188. 386 Northrop Frye liefert in seiner historischen Kritik angelehnt an Aristoteles’ Poetik ein dienliches Instrument der Helden- und Dichtwerksklassifizierung. Er kategorisiert den Helden in seinem Vermögen und Wesen im Vergleich zum Alltagsmenschen. Das Resultat liefere die Kategorie der Erzählgattung, in der der Held sich bewegt: „1. Ist der Held in der Art anderen Menschen und der Umgebung anderer Menschen überlegen, so ist er ein göttliches Wesen, und die von ihm erzählte Geschichte ist ein Mythus im üblichen Sinne einer Geschichte über einen Gott […]. 2. Ist der Held dem Grad nach andern Menschen und seiner Umgebung überlegen, so ist er der typische Held der Romanze. Seine Handlungen sind wunderbar, er selbst jedoch ist ein menschliches Wesen. Der Held der Romanze bewegt sich in einer Welt, die nicht durch die üblichen Naturgesetze bestimmt wird […]. Hier haben wir uns aus dem mit Recht so benannten Bereich des Mythus in den der Legende, der Sagen, des Märchens und den ihnen verwandten oder von ihnen hergeleiteten literarischen Formen begeben. 3. Ist der Held dem Grad nach anderen Menschen, nicht aber seiner natürlichen Umgebung gegenüber überlegen, so ist er ein Führer. Er besitzt Autorität, hat Leidenschaften und Ausdrucksmöglichkeiten, die die unsrigen weit übersteigen; doch seine Handlungen unterliegen der Kritik der Gesellschaft ebenso wie der der natürlichen Ordnung. Dies ist der Held der hoch-mimetischen Form, wie er in den meisten Epen und Tragödien erscheint […]. 4. Ist der Held aber weder anderen Menschen noch seiner eigenen Umgebung überlegen, so ist er einer von uns: wir reagieren auf seine allgemein menschlichen Züge und verlangen vom Dichter die gleichen Gesetze der Wahrscheinlichkeit, denen wir in unserer Erfahrungswelt begegnen. Dies ist der Held der niedrig-mimetischen Form, wie wir ihn in den meisten Komödien und realistischen Prosadichtungen finden […]. 5. Ist der Held uns an Macht und Einsicht unterlegen, so daß wir das Gefühl haben, auf einen Schauplatz der Knechtschaft, der Mißerfolge oder Absurditäten herabzusehen, dann gehört der Held zur ironischen Dichtart“ (Frye 1964, S. 37 f.). Wie wir nun den Protagonisten der germanischen Heldensage oder der Völsungensage in diesem Modell einordnen, bleibt größtenteils Geschmackssache und der individuellen Wahrnehmung überlassen. Man wird sich aber wohl darauf einigen können, dass valide Argumente für die ersten drei Kategorien angeführt werden können und der hier untersuchte Held am ehesten zwischen Typ 2 und 3 rangiert. 387 Vgl. Höfler 1961 [1941], S. 62. 388 Zum Begriff des Repräsentierens vgl. Lange 1960, S. 85. Lange sieht im Repräsentieren, also im Wiedervergegenwärtigen einen religiös-kultischen Akt.  











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2.3 Mythisch

Die einzige Möglichkeit der Helden, die Zeit in Form von Erzählung zu überdauern, ist nach Mircea Eliade die Existenz im mythischen Gewand. Der historische Held werde gezwungenermaßen irgendwann zum mythischen Helden, zum Heros. Eliade beginnt seine Erklärung mit einem Zitat Chadwicks: ‚Myth is the last – not the first – stage in the development of a hero‘ (Chadwick, vol. III, p. 762). Das aber bestätigt die Folgerung, die zahlreiche Forscher […] gezogen haben: daß nämlich die Erinnerung an ein geschichtliches Ereignis oder eine authentische Gestalt nicht länger als zwei oder drei Jahrhunderte im Gedächtnis eines Volkes erhalten bleibt. Das beruht auf dem Umstand, daß das Gedächtnis des Volkes nur mühsam ‚individuelle‘ Ereignisse und ‚authentische‘ Gestalten festzuhalten vermag. Es funktioniert inmitten völlig anderer Struktur: Kategorien anstelle von Ereignissen, Archetypen anstelle von historischen Gestalten. Die geschichtliche Figur wird ihrem mythischen Modell […] angeglichen, während das Ereignis in die Kategorie der mythischen Handlungen eingeordnet wird.389  





Diese Argumentation sieht den Wandel der Überlieferung zum Mythischen hin als üblichen und notwendigen Prozess. Der mythische Held sei die natürliche Form der tradierten Figur. Im Folgenden werde ich die Begriffe heroisch und heldisch weiterhin synonymisch verwenden. Wenn ich speziell auf die Konzipierung einer Figur als Heros und nicht als Held hinweisen möchte, dann spreche ich von mythischem Erzählen oder einer mythischen Figurenkonzeption. Was heißt nun aber mythisch und was ist ein Mythos? Im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe liefern Jan und Aleida Assmann eine sehr breitgefächerte Erklärung des Begriffes.390 Die Assmanns beschreiben dort den Mythos „als den einer Gruppe vorgegebenen Fundus an Bildern und Geschichten.“391 Um das zu konkretisieren, stecken die Assmanns sieben Unterkategorien von Mythos ab – benannt M1 bis M7 –, die wir nun kurz überfliegen. Der Mythostyp M1 wird beschrieben „als ein überwundenes Stadium kulturhistorischer Entwicklung“,392 ferner als „Gerücht, unbeglaubigte Erzählung, erfundene Geschichte“.393 Dies meint den überholten, mittlerweile als – im Sinne der Redewendung ‚Das ist doch nur ein Mythos‘ – unwahr erkannten Mythos, der auch im Zentrum von Mythenkritik steht.394 Dem gegenüber steht der Mythostyp M2 als „die zeitbedingte Einkleidung einer an sich zeitlosen Wahrheit.“395 M3 wird verstanden „als fundierende, legitimierende und  







389 Eliade 1953, S. 69. 390 Assmann/Assmann 1998, S. 179–200. 391 Assmann/Assmann 1998, S. 179. 392 Assmann/Assmann 1998, S. 179. 393 Assmann/Assmann 1998, S. 181. 394 Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 181: „Mythenkritik richtet sich gegen die Legitimität der Mythen, die unter verschiedenen Aspekten als ‚unwahr‘ abgelehnt werden: a) als widerlegt in bezug auf Vernunft und empirische Erfahrung, b) als subversiv in bezug auf das theologische Dogma (und deshalb als moralisch und ideologisch gefährlich); c) als unverbürgt und fiktiv in bezug auf historische Authentizität“. 395 Assmann/Assmann 1998, S. 179.  

       





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2. Figuren- und Gattungstypen

weltmodellierende Erzählung.“396 Der „(Alltags-Mythos) [M4] beschreibt mentalitätsspezifische Leitbilder, die kollektives Handeln und Erleben prägen“,397 wohingegen die Kategorie M5 den Mythos als „eine integrale Erzählung mit den strukturierenden Konstituenten von Anfang, Mitte und Ende“398 meint. Die Definition M6 behandelt die erzählerische Wandelbarkeit von mythischen Inhalten und die für uns hier relevante Übertragbarkeit in die literarische Rezeption: Der Begriff „(literarische Mythen) bezieht sich insbesondere auf die europäische Mythentradition und deren Bedeutung für die abendländische Schriftkultur. Im Gegensatz zum gelebten Mythos (M3) will dieser ständig neu aktualisiert, d. h. umgedeutet werden und umgeschrieben werden. […] M6 will gerade nicht in seiner Ursprünglichkeit und Verbindlichkeit verstanden werden, sondern als ‚immer schon in seine Rezeption übergegangen‘; statt Heiligkeit gilt hier essentielle Distanz, statt Unveränderlichkeit gilt spielerische Behandlung, Variation und Freiheit der Imagination. Ihr Gegenstand sind Stoffe der antiken und mittelalterlichen Mythologien, aber auch neuerer literarischer Schöpfungen, sofern diesen als kollektiven Identifikationsangeboten eine entsprechende Resonanz beschieden ist“.399 Eine letzte Spielart (M7) des Mythos – Ideologien – „bezieht sich […] auf neue und nichtnarrative Mythen, im Gegensatz dazu aber auf vollbewußte Individualschöpfungen.“400 Die altskandinavistische Forschung setzt sich mit dem Mythos vor allem in Hinsicht auf seine Verbindung zu Kult und Religion auseinander.401 Ihr Mythosbegriff beschränkt sich im Allgemeinen auf das, was die Assmanns eine ‚weltmodellierende Erzählung‘402 nennen. Es sind Geschichten über Götter und göttliche Geschöpfe, die kosmische Zusammenhänge erklären und bildlich greifbar machen. Als Vertreter der frühen Germanistik beschreibt Karl Simrock:  





Mythus ist die älteste Form, in welcher der heidnische Volksgeist die Welt und die göttlichen Dinge erkannte. Die Wahrheit erschien ihm in der vorgeschichtlichen Zeit […] nicht in abstracten Begriffen […]: sie verkörperte sich ihm in ein Bild, ein Sinn- und Gedankenbild, seine Anschauungen kleideten sich in Erzählungen von den Thaten und Erlebnissen der Götter, und diese Bilder, diese Erzählungen nennen wir Mythus.403

396 Assmann/Assmann 1998, S. 180. 397 Assmann/Assmann 1998, S. 180. 398 Assmann/Assmann 1998, S. 180. 399 Assmann/Assmann 1998, S. 180. Assmann/Assmann zitieren Blumenberg 1971, S. 28. 400 Assmann/Assmann 1998, S. 180 f. 401 Ähnlich versteht die in der Romantik wurzelnde deutsche Mythosforschung des 19. Jahrhunderts den Begriff. Vgl. Lee 2007, S. 282: „It seems that the German Romantics regarded mythology first and foremost as concerning the ancient gods, mainly the gods of classical antiquity.“ 402 Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 180. 403 Simrock 1855, S. 1 f.          















2.3 Mythisch

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Über dieses Mythenverständnis der Forschung des 19. Jahrhunderts sagt Hermann Schneider: „Unter dem ‚Mythus‘ verstand man im allgemeinen, trotz abweichender Einzelauffassung, das heidnische Glaubenselement, in Erzählform eingekleidet.“404 Auch Jan de Vries schafft in seiner Definition einen engen Bezug zwischen dem Mythos und der heidnischen Götterüberlieferung: „Mythen sind Geschichten von Göttern. Wer über Mythen spricht, muß also auch von den Göttern reden. Daraus folgt, daß die Wissenschaft der Mythologie ein Teil der Religionswissenschaft ist. Die Anschauungen über die Göttersagen stehen deshalb immer in unmittelbarem Zusammenhang mit jenen über die Götterlehre.“405 Dieses Verständnis deckt sich an sich mit dem von Franz Rolf Schröder: „Unter Mythos verstehen wir eine Erzählung, welche in der Götterwelt spielt oder in welcher Götter vornehmlich als Handelnde auftreten.“406 Nach diesen Definitionen sind Mythen in Form von Göttergeschichten überlieferte heidnische Glaubenswahrheiten. Nach Jan de Vries ist eine Grundvoraussetzung für einen Mythos, dass er geglaubt wurde:407 „Mythus ist jede Erzählung von göttlichen Mächten, insofern ihr Glauben geschenkt wird.“408 Die uns vorliegenden literarischen Zeugnisse der nordischen Mythologie stammen jedoch vornehmlich aus christlicher Zeit und Feder und haben deswegen gezwungenermaßen ihre religiöse und kultische Aktualität verloren. Ebenso verhält es sich mit den mythischen Elementen der Völsungenüberlieferung im 13. Jahrhundert.409 Hinsichtlich des den Mythen beigemessenen Wahrheitsgehaltes und ihrer Authentizität stellt uns dies vor ein unlösbares Problem.410 Wir können die Mythen immer nur aus der Distanz und von einer christli 



404 Schneider 1962, S. 22. 405 de Vries 1961, S. ix. 406 Schröder 1961, S. 285. 407 Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Mythos und Märchen macht de Vries das Geglaubtwerden des Mythos sogar zu einer Gattungsfrage: „Man kann […] nicht im Voraus, nur auf Grund rein inhaltlicher Merkmale, bestimmen, ob eine Erzählung ein Mythus oder nur ein Märchen sei. Es ist durchaus irreführend von märchenhaften Elementen in einer Mythe zu reden und diese deshalb nicht zu den sakralen, also rein profan-dichterischen Göttererzählungen zu rechnen; denn in diesem Fall legt man rein stoffliche Maßstäbe an und berücksichtigt nicht, daß derselbe Stoff das eine Mal ein Mythus, das andere Mal ein Märchen sein kann. Das ist aber von der Haltung der Menschen einer solchen Erzählung gegenüber abhängig: sofern sie geglaubt wird, gehört sie zu den Mythen; falls sie aber den Charakter einer dichterischen Phantasie hat, zu den Märchen“ (de Vries 1956, S. 5). 408 de Vries 1956, S. 3. 409 Vgl. Bæksted 1963, S. 219: „De nordiske heltesagn er i den form, de nu foreligger, ikke levende folkeminder, men middelalderlig litteratur af underholdende art.“ 410 Vgl. de Vries 1956, S. 2: „Wer unter Mythus eine geglaubte Erzählung von übernatürlichen Wesen oder Ereignissen verstehen möchte, gibt dem Worte eine weit engere Bedeutung, als es im allgemeinen Brauche üblich ist. Ein nicht unbedeutender Teil der germanischen Mythen besteht gerade aus Erzählungen, von denen wir vermuten dürfen, daß sie kaum oder gar nicht zum wirklichen heidnischen Glauben gehört haben.“ Vgl. de Vries 1956, S. 6: „Es soll nicht geleugnet werden, daß noch in nachheidnischer Zeit Dichter aus dem vorhandenen Material den Stoff für ihre Lieder geschöpft und Göttersagen erzählt haben, die entweder ganz frei bearbeitete Mythen oder aber aus eigener Phantasie und aus Moti 













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2. Figuren- und Gattungstypen

chen Warte aus betrachten. Es handelt sich nicht um mythische Texte im eigentlichen Sinne, sondern um mythographische Texte, die eine Position zwischen einer Demaskierung der dargestellten mythischen Elemente und ihrer nostalgischen Glorifizierung einnehmen.411 Fruchtvoller als die Frage, inwieweit die Verfasser der Texte des 12. und 13. Jahrhunderts den Mythen Glauben geschenkt haben,412 ist die, wie gegenwärtig sie ihnen waren. „Die Spontaneität im Gebrauch des Wortes Mythos, […] beruht weitgehend auf einem Zustand, der genauer genommen nicht mehr ‚heutig‘, sondern ‚gestrig‘ und in unserem Gedächtnis […] dennoch durchaus gegenwärtig ist.“413 Nur weil ein Mythos nicht mehr in seinem Hergang geglaubt wird, bedeutet das nicht, dass er als solcher entwertet wird. Die Verfasser berichten nicht von erfundenen Dingen, sondern von Gegenständen, die ihnen, obschon nicht mehr aktuell, trotzdem präsent sind.414 Das führt uns zu der Frage, inwieweit die Heldensage im Mythos ihren Ursprung hat: „Vom Stoff her gilt für die germ. Heldensage im Wesentlichen die VWZ [Völkerwanderungszeit] als ‚Heroic Age‘; von der Konzeption her kann es aber auch in mythische Dimensionen transponiert werden“.415 Unklar bleiben uns aber die Wurzeln der Heldensage und ihr Verhältnis zu Geschichte und Mythos. Klaus von See gehört zu den Forschern, die sich am deutlichsten gegen einen mythischen Ursprung der germa 

ven der internationalen Literatur hervorgegangene Geschichten sind. Die besonderen literarischen Verhältnisse in Skandinavien haben zudem zur Folge, daß es in sehr vielen Fällen äußerst schwierig ist, diese Pseudomythen von den wirklich geglaubten zu unterscheiden.“ Vgl. auch Schlauch 1934, S. 18 sowie S. 119–120 zum Umgang der christlichen Autoren mit dem heidnischen Material und zur Übereinkunft zwischen Erzähler und Rezipient hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Erzählten. 411 Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 182: „In der abendländischen Tradition pendelt die Beschäftigung mit Mythen zwischen den Strategien ihrer Bekämpfung und Entlarvung […] und der Bewahrung und Deutung“. 412 Vgl. de Vries 1999II, S. 464: „Man hat selbstverständlich damit angefangen, zuerst diejenigen Sagas aufzuschreiben, an deren geschichtlichen Wert man geglaubt hat. […] Man war nun einmal davon überzeugt, daß in so weiter Vergangenheit das Menschenleben anderen Gesetzen gehorchte als bei den späteren Geschlechtern. Die Ereignisse und Personen der Völkerwanderungszeit waren Vorwurf der Heldendichtung geworden, aber das bedeutet deshalb noch nicht, daß sie ihrer Glaubwürdigkeit entkleidet waren. […] Deshalb kann die Vǫlsunga saga […] auch für wahre Geschichte gehalten werden, nur ist sie die Geschichte einer Vergangenheit, in der das Wunderbare noch Wirklichkeit werden konnte.“ Vgl. Klein 1988, S. 119: „Daß es Menschen mit solchen [übernatürlichen] Fähigkeiten gebe, glaubte man gewiß in der Entstehungszeit der germanischen Heldensage ebenso wie noch lange Jahrhunderte später“. Vgl. Finch 1965, S. xxxix: „there can be little doubt that the legendary heroes were as real to the people of the medieval North as those of the more immediate past“. Vgl. auch Buchholz 1980, S. 79 f. bzw. S. 117 f. 413 Kerényi 1976 [1964], S. 235. 414 C.G. Jung und Karl Kerényi sprechen hierbei von einer „alte[n], überlieferte[n] Stoffmasse, enthalten in bekannten und doch nicht jede weitere Gestaltung ausschließenden Erzählungen […] über Götter und göttliche Wesen, Heroenkämpfe und Unterweltsfahrten“ (Jung/Kerényi 1951, S. 11), wobei „auch mehrere Entfaltungen desselben Grundmotivs neben oder nacheinander möglich [sind], vergleichbar mit den verschiedenen Variationen desselben musikalischen Themas“ (Jung/Kerényi 1951, S. 12). 415 Reichert et al. 1999, S. 263.  

























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2.3 Mythisch

nischen Heldensage positioniert haben. Im Vergleich mit der kontinentalen Nibelungensage schreibt er: Anders in Skandinavien. Hier erscheinen mythische Elemente anstelle der märchenhaften. Die Absicht, daß sie älter seien, vielleicht gar die Urform der Sage überhaupt repräsentieren, beruht letztlich wohl auf dem scheinbaren Axiom, daß alles Mythische alt sein müsse. Es ist aber ebenso gut möglich, daß der Mythos hier den gleichen Stellenwert hat wie das Märchen auf dem Kontinent, daß der Mythos also etwa zur gleichen Zeit die skandinavischen Sagenfabeln auffüllte wie das Märchen die kontinentalen.416

Die mythischen Aspekte der Heldensage sind für von See nichtgenuine Elemente, die der im Eigentlichen völlig unmythischen Heldensage417 in ihrer späteren Bearbeitung aus Kuriositätsgründen oder Phantastikbegeisterung angeheftet worden wären. Wir hätten es nicht mit Mythen-, sondern mit Märchen- oder phantastischen Figuren zu tun. Die 2008 unter dem Titel ‚Von der Heldensage zum Heroenmythos‘ erschienene Dissertation Matthias Teicherts widmet sich dementsprechend ausführlich den Möglichkeiten, die ein Verfasser hat, seine Werke mit mythischen Elementen zu versehen und somit die Erzählung in eine mythische Atmosphäre hineinzurücken. Teichert prägt hierbei den Ausdruck der „Mythisierungsstrategien“.418 Im Sinne der Assmannschen Aussage „Geschichten und Bilder werden nicht als, sie werden zu Mythen gemacht“419 beginnt Teichert seine Untersuchung mit der Frage „Wie macht man einen Mythos?“420 Diese Fragestellung weist auf die Voraussetzung eines aktiven Willens des Verfassers des mythischen Textes hin. Der Mythos wird von Teichert als gut durchdachtes artifizielles Produkt beschrieben, das anhand der dem Verfasser vorliegenden Stoffe und unter Verwendung der erwähnten Mythisierungsstrategien bewusst angefertigt werde.

416 von See 1971, S. 30. 417 Zur Nichtreligiosität der Heldensage vgl. Heusler 1969 [1909], S. 502: „Das Wahrscheinlichste ist, daß die älteste Heldendichtung der Südgermanen religionslos war, d. h. keine ausgeprägt heidnische und keine merkbar christlichen Züge enthielt (also auch keine Götter, nur Wesen des niedern Mythus auftreten ließ).“ Allerdings schließt Heusler damit nicht die Elemente des Wundersamen ein. Bei einer Untersuchung dieser Elemente in der Siegfried- und Sigmundsage schlussfolgert er: „Folglich haben wir der altgermanischen Heldendichtung beides nebeneinander zuzuerkennen, die wunderreichen und die wunderlosen, die stark phantastischen und die lebensähnlichen Typen“ (Heusler 1969 [1909], S. 514). Vgl. Uecker 1972, S. 10: „Vergleichend läßt sich sagen, daß die germanische Heldensage zwar mythenhafte Züge in sich aufgenommen hat, aber weit weniger mythologische Bezüge aufweist als andere Heldensagen, z. B. die griechische.“ Ganz anders dagegen Höfler 1934, S. 205: „Ich glaube, die Grundlagen der altgermanischen Kultur waren durchzogen von religiösen Kräften und Bindungen. Und deshalb werden die Gebilde, die auf solchem Boden erwachsen sind, die Merkmale ihrer Herkunft erkennbar in sich tragen.“ 418 Teichert 2008, S. 63 u. ö. 419 Assmann/Assmann 1998, S. 196. 420 Teichert 2008, S. 11.  



















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2. Figuren- und Gattungstypen

Ein Ursprung der Heldensage im Mythos421 allerdings würde sich nach Klaus von See nach zwei Möglichkeiten eröffnen. Die erste bespricht eine mythisch-heroische Archetypisierung, das heißt die Angleichung eines historischen Ereignisses an einen mythischen Vorgang. Der Mythos würde hierbei das Geschichtliche assimilieren.422 Die zweite Möglichkeit ist die „Entmythisierung, eine[…] Heroisierung, Psychologisierung und Historisierung mythischer Stoffe.“423 Diese Theorie beschreibt eine Säkularisierung des Mythos, im Zuge derer die sich wiederholenden Vorgänge des Mythos verweltlicht und zu einem einmaligen Ereignis in der Heldensage gemacht würden.424 Franz Rolf Schröder verortet den Ursprung mancher germanischer Heldensagenstoffe ganz klar im Mythischen:425 Daß sich mythische Motive hier und da in der Heldensage finden, bezeugt die reichere literarische Überlieferung des Nordens offenkundig und ist darum auch niemals bestritten worden. Aber ein anderes ist, ob es sich um nachträgliche und gar belanglose Zutaten handelt, ein anderes, ob die Welt des Mythos (wie ich überzeugt bin) an der Entstehung und Gestaltung der Heldensage einen entscheidenden Anteil hat.426

Schröder differenziert, „daß jede einzelne Heldensage daraufhin zu untersuchen ist, ob sie mythisch-kultische oder geschichtliche Grundlagen hat.“427 Demnach kategorisiert er die germanische Heldensage in drei Gruppen, nämlich die mythisch-kultische Schicht, die historische Schicht und eine jüngste, von mittelalterlichem Erzählgut beeinflusste Schicht.428 Es mangelt uns allerdings an einer Möglichkeit, die erste und die letzte dieser Schichten in den uns vorliegenden Texten zuverlässig zu unterscheiden.429 Schröder nimmt die Heldensage nicht als rein literarisches und ästhetisches Produkt wahr,430 sondern als Transportplattform der alten germanischen Mythen: „die germanischen Heldenlieder [sind] keine freischwebenden Schöpfungen und poe421 Vgl. weiterhin zum Verhältnis von Heldensage und Mythos Heusler 1969 [1909], S. 510 ff. 422 Vgl. hierzu von See 1971, S. 38 f. 423 von See 1971, S. 47. 424 Vgl. zu Archetypisierung sowie Entmythisierung/Heroisierung umfangreich von See 1981 [1966], S. 114–150. 425 Vgl. auch Schröder 1939, S. 325–351, wo er von einem „Herauswachsen des heroischen Liedes aus der älteren sakralen Poesie“ (Schröder 1939, S. 347) spricht. 426 Schröder 1961, S. 285. 427 Schröder 1961, S. 293. 428 Vgl. Schröder 1961, S. 293. 429 Selbstverständlich muss man die Übergänge als fließend betrachten: „Die erste und zweite Schicht können sich wechselweise verbinden und jede von ihnen Motive der jüngsten Schicht, insbesondere Märchen und Märchenzüge, in sich aufnehmen“ (Schröder 1961, S. 293). 430 Wie das etwa Andreas Heusler für die aus den „kurze[n] erzählende[n] Lieder[n]“ (Heusler 1956, S. 6) erwachsenen Epen tut. Vgl. Heusler 1956, S. 6–9; vgl. auch Heusler 1969 [1909], S. 495–517. Gegen Heusler positioniert sich Hans Kuhn, der dafür argumentiert, dass es Heldensage sehr wohl ‚vor und außerhalb der Dichtung‘ gegeben hätte (vgl. Kuhn 1971 [1952], S. 102–118). Für mich besonders überzeugend Kuhn 1971 [1952], S. 105–109, wo Kuhn anspricht, dass die Heldenlieder durchaus Vorkenntnis für  













   

















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2.3 Mythisch

tischen Gebilde […], die man einzig und allein vom Ästhetischen her oder als bloßes Fabulieren um einen historischen Kern begreifen und würdigen kann. Auch die germanische Heldensage ist aus der religiösen Welt und Umwelt des Germanentums erwachsen.“431 Er spricht allerdings von einer Säkularisierung der Heldensage, die sich in Form ihrer Literarisierung abspielt: Es ist der erste bedeutsame und folgenreiche Übergang zur weltlichen Dichtung, der sich damals vollzieht, die erste Lösung aus der sakralen Gebundenheit der Urzeit. Zeiten des Überganges aber sind stets dem Älteren verpflichtet. So stehen im 12. Jahrhundert die ritterlichen Dichter auf den Schultern der Geistlichen, deren Vormacht sie brechen; so führt im 18. Jahrhundert die literarische Entwicklung vom ‚Messias‘ zum ‚Faust‘, von der Sprache der Lutherbibel zu Goethes Stil. – Ebenso mussten auch Heldensage und Heldenlied an Mythos und Kultus anknüpfen, an die uralte und einzige Tradition. Daher des ‚Helden‘ Drachenkampf, daher die Erweckung der schlafenden Jungfrau durch ihn, daher sein vorzeitiger Tod in der Blüte der Jahre.432  





Die Transformation der mythischen Elemente der Heldensage sei zu erklären durch die literarischen Stilbedürfnisse der Zeit ihrer Verschriftung.433 Mir selbst scheint ein Hybridmodell zwischen beiden Positionen am wahrscheinlichsten. Die Rezeption historischer Ereignisse koexistiert mit mythischen Erzählungen. Beide nähern sich auf Grund der Eignung zur Überlieferung der mythischen Handlungsmodelle aneinander an und verschmelzen ab einem Punkt zur Heldensage: „Das geschichtliche Ereignis als solches bewahrt sich nicht in der Volksüberlieferung, wie wichtig es auch sein möge, und die Erinnerung daran entzündet die dichterische Phantasie nur insoweit, als dies geschichtliche Ereignis einem mythischen Modell möglichst genau entspricht.“434

ihr Verständnis voraussetzen würden und demnach das Lied nicht die einzige Form ursprünglicher Heldensagenüberlieferung gewesen sein könne. 431 Schröder 1961, S. 310. 432 Schröder 1961, S. 311 f. 433 In der Mitte des 12. Jahrhunderts geschieht ebenso die Demythisierung der Artusstoffe: „Gegenüber der keltischen Sagentradition hat Chrétien die magisch-mythischen Elemente viel stärker reduziert als Marie de France, die in ihren Lais ebenfalls keltische Stoffe verarbeitet hat. Chrétien hat aus den wilden keltischen Kriegern und Jägern höfische Ritter und aus den keltischen Feen höfische Damen gemacht; und nur in manchen Abenteuern gibt es noch Spuren der keltischen Anderwelt“ (Bumke 1990, S. 135). Was den höfischen Roman angeht, lässt sich also die Abnahme dieser mythischen und zauberischen Elemente beobachten. Das deckt sich mit Franz Rolf Schröders Beobachtung, steht allerdings im Kontrast zu jenen Ecken der skandinavistischen Forschung, die die mythischen Elemente der Heldensage als späte Beifügung erklären. In diesem Falle wäre eine gegenläufige Entwicklung zu verzeichnen. Wohingegen im höfischen Roman die mythischen und anderweltlichen Aspekte verblassen und verweltlicht werden, würden sie in der germanischen Heldensage zunehmen. 434 Eliade 1953, S. 68. Vgl. auch Weddige 2008, S. 215: „Das Ursprungsproblem scheint sich jedoch nicht einfach mit einem Entweder – Oder, sondern mit einem Sowohl – Als auch lösen zu lassen: Mythos und Heldensage könnten einander in der Heldensage in der Weise begegnet sein, daß ursprünglich My   















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2. Figuren- und Gattungstypen

2.3.2 Mythisches in den Vorzeitsagas Der zentralste Text des hier behandelten Textkorpus ist die Völsunga saga. Sie ist eine Vorzeitsaga, eine Fornaldarsaga. Die Fornaldarsögur „umfassen sowohl Sagas, die Heldensagenstoffe aus der Völkerwanderungszeit wiedergeben, als auch frei erfundene Geschichten aus dem 13. oder 14. Jh.“435 Unter den Vorzeitsagas ist sie als Heldensaga einzuordnen. Diese „haben Themen der Heldensage zum Inhalt und zeigen Verbindungen zur germanischen Heldendichtung. […] Der Grundton der Heldensagas ist ernst, sie enden in der Regel tragisch; die Lebenseinstellung des Heldenliedes ist auch hier noch deutlich zu erkennen, obgleich allerdings häufig weichere Züge in den Vordergrund treten.“436 Der in der Heldensaga transportierte Heldensagenstoff ist mit versöhnlichem Gedankengut vermengt.437 Ihre Textwelt ist anderweltlich entrückt und angereichert mit mythischen Elementen.438 Diese dem Mythos entstammenden Aspekte der germanischen Heldensage beschreibt Andreas Heusler:  

thisches ins Geschichtliche herabgezogen oder auch Geschichtliches nachträglich ins Mythisch-Kultische überhöht wurde.“ 435 Schier 1970, S. 73; vgl. Grimstad 2000, S. 18. „These sagas recreate the remote world of the legendary past, of Icelandic prehistory, as conceived by medieval saga writers. The characters in the saga are not Icelanders, but rather the Germanic ancestors of Icelanders. The geographical setting is generally unspecified, although from the few references we have, we can imagine a broad sweep of Germanic territory from Denmark in the south.“ 436 Schier 1970, S. 73 f. 437 Vgl. Genzmer 1961, S. 105: „die alte Härte macht weicheren Gefühlen Platz; wehmütige und weltschmerzliche Stimmungen treten hervor, und man sucht zweifelnd das Tun der Helden und Heldinnen zu erklären und zu rechtfertigen.“ 438 Vgl. Torfi Tulinius 2007, S. 447: Fornaldarsögur „are tales of heroes steeped in a world of legends and myths.“ Nun stellt sich die Frage, wie diese mythischen Einschübe hinsichtlich ihres Nutzens für Religions- und Altertumswissenschaften zu behandeln und zu bewerten sind. Vgl. Schier 1970, S. 78: „Viele Fornaldarsögur, zuweilen sogar sehr junge, enthalten mythische und religiöse Elemente, allerdings zumeist in so veränderter Gestalt, daß es schwerfällt, den mythischen Kern herauszulösen. […] [D]och ist es sehr zweifelhaft, ob diese Angaben überhaupt auf alte Traditionen zurückgehen und nicht nur romantisierende Erfindungen des 13. Jhs sind. […] Häufig sind mythische Elemente in den Heldensagas, hier hat naturgemäß Odin besondere Bedeutung. Man muß auch damit rechnen, daß sich in der Fabel einiger, sogar ganz junger Fornaldarsögur noch mythische Strukturen widerspiegeln“. Vgl. Klein 1988, S. 116: „Die Vorzeitwelt [die Textwelt der Fornaldarsögur] ist von Riesen, Zwergen, Drachen und sonstigen Ungeheuern bevölkert. In den nordischen Vorzeitsagen verkehren die Götter, vor allem Odin, noch mit den Menschen und bestimmen unmittelbar ihre Geschicke. Diese Präsenz mythischer Wesen scheint meist kein altertümlicher Zug, sondern im Gegenteil junges Vorzeitkolorit zu sein.“ Jan de Vries kommt zu einem Kompromiss, indem er auf der einen Seite die späte, romantisierende Natur der Vorzeitsagas betont, allerdings die Bedeutung und die Nützlichkeit der mythischen Episoden für eine Rekonstruktion der germanischen Glaubenswelt auf der anderen Seite nicht ganz verwirft: „Die fornaldarsagas gehören mehr zur Literatur und sind in ihrer endgültigen Form das Produkt einer späteren romantisierenden Zeit. Nichtsdestoweniger enthalten auch diese wertvolles Material für die heidnische Religion. Hier begegnen wir gerade mythischen Vorstellungen, die sich an das heroisierte Kriegerleben knüpfen. Odin wird mehrfach erwähnt, besonders in seinem Verhalten zu den Helden. Wenn auch vieles in ein falsches Licht  















2.3 Mythisch

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Soviel ist klar: die germanischen Heldensagen enthalten unzweifelhaft mythische Teile, das Wort ‚mythisch‘ im gewöhnlichen, landläufigen Sinne genommen: es treten Alben und Zwerge auf, Wassertrolle und Drachen, also Wesen des Dämonenmythus; wir finden die Motive der Seelenschlacht, des wiederkehrenden Toten, des Gestaltentausches, des Werwolfszaubers, also Stoff aus dem Seelenglauben, usw.439

Ferner bezeugt Heusler den Einfluss von Göttergeschichten auf die Heldensage. Diesen nennt er „vorhandenes Erzählgut“,440 aus dem die jeweiligen Verfasser die Inhalte ihrer Kompositionen schöpfen würden. Es ergibt sich nun das Problem der Identifikation dieser Elemente. Heusler bietet hierzu an: „Woran haben wir nun die ‚mythischen‘ oder ‚märchenhaften‘ – die nicht historischen – Bestandteile unserer Heldensagen zu erkennen? Die Antwort wird sein: an ihrer phantastischen, wunderbaren, übernatürlichen Beschaffenheit.“441 Um die zuletzt genannten Bestandteile zu beschreiben, benutze ich die Worte ‚mythisch‘ oder ‚anderweltlich‘. Reden wir nun kurz darüber, warum ich vom Begriff des Phantastischen absehe. Dieser wird im Metzler Lexikon Literatur definiert als:  



Spielart fiktionaler Lit[eratur], die mit dem Unmöglichen zu tun hat. – Das Wort ‚phantastisch‘ bezeichnet eine Qualität, die als übergreifende ästhetische Kategorie in unterschiedlicher Verwendung auf verschiedene Künste und Medien […] angewendet wird. [Das Phantastische] bringt […] eine Abweichung von der normierten Wirklichkeitsvorstellung zum Ausdruck, die dem Dargestellten zugrunde liegt, und setzt insofern stets eine Grenzüberschreitung voraus. Als [phantastische Literatur] wird […] ein […] Genre bezeichnet, das einerseits hinsichtlich der erzählten Welt auf die Normen der außertextuellen Wirklichkeit rekurriert, welche als Bezugssystem der innertextuell konzipierten Wirklichkeit zugrunde liegt und durch den Text entsprechend nachgebildet wird, und das andererseits zugleich eine Komponente integriert, die mit den Bedingungen der Normwirklichkeit nicht vereinbar ist. Die dargestellten unmöglichen Ereignisse erscheinen somit als prinzipiell unerklärlich, da der Text kein Argument zur Verfügung stellt, das eine Rückführung des Unmöglichen auf ein die dargestellten Ereignisse steuerndes Regelsystem erlauben würde. […] [I]ndem der Text […] die dargestellte […] Text-Wirklichkeit als heterogen, d. h. als kontingent und unzusammenhängend, erscheinen lässt, löst er beim Lesepublikum wie bei den dargestellten Charakteren eine tiefgreifende Verunsicherung darüber aus, wie die dargestellten  



gerückt worden ist, so gewährt es doch einen Einblick in eine ganz andere Lebenssphäre als die des isländischen Bauern. […] Nur soll man dessen eingedenk sein, daß hier die Kunde einer verflossenen Zeit nur sehr trübe aus der begeisterten Bewunderung einer epigonenhaften Literatur zu uns durchzudringen vermag“ (de Vries 1956, S. 45). Sehr optimistisch dagegen Jesse L. Byock: Die mythischen Episoden der Völsunga saga „reflect the uncertain boundaries between nature and culture and between the world of men and the world of the supernatural. The saga’s frequent descriptions of crossings of these borders reveal glimpses not only of fears and dreams but also of long-forgotten beliefs and cultic practices“ (Byock 1990, S. 5). 439 Heusler 1969 [1909], S. 510. 440 Heusler 1969 [1909], S. 516. Hierunter fasst er zusammen: „Märchen, Volkssagen, Götter-, Albenund Seelenmythen, Zeitgedichte, Anekdoten, wandernde Novellen, natürlich auch die Heldendichtungen selbst, die untereinander entlehnten“ (Heusler 1969 [1909], S. 516). 441 Heusler 1969 [1909], S. 513.  











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2. Figuren- und Gattungstypen

Ereignisse einzuordnen sind, und damit, wie die Wirklichkeit überhaupt zu beurteilen ist. Im Unterschied zu verwandten Genres wie […] der mythischen Erzählung […] ist in der [phantastischen Literatur] das Unmögliche nicht Teil einer übergeordneten, der Normwirklichkeit entgegengestellten alternativen Wirklichkeit, sondern konstruiert sich nur ex negativo, in der Verneinung oder Infragestellung der Normwirklichkeit durch das Auftreten eines mit dieser nicht vereinbaren Elements.442

Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird ‚phantastisch‘ beschrieben als „Merkmal von Kunstformen, die den jeweiligen Annahmen über die Wirklichkeit auf spezifische Weise widersprechen. […] Das Dargestellte referiert […] im Prinzip auf die Bedingungen der kulturellen, außertextuellen Welt; es enthält aber […] Komponenten, die dem darin als möglich angenommenen widersprechen.“443 Diese Definitionen sprechen vom Unmöglichen, der Grenzüberschreitung der Wirklichkeitsvorstellung und der Unvereinbarkeit mit der Normwirklichkeit als Schlüsselkonzepte. Die mythischen, magischen, anderweltlichen Elemente der Völsungensage lassen sich allerdings mit diesen Konzepten nicht vereinbaren. Sie befinden sich ja gerade im Rahmen des Möglichen und wenn sicherlich auch in einem exorbitanten Bereich, dann doch in einem für die Protagonisten zugänglichen. Sie sind nicht phantastisch, weil sie gerade eben den Kohärenzvorstellungen der Textfiguren entsprechen, deren Welt nicht durch das Mythische in Frage gestellt, sondern durch es konstituiert wird. Dagegen ist das Phantastische etwas, „das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt.“444 Mit dem Mythischen und ‚Ander‘weltlichen haben die Helden der völsungischen Welt allerdings routinierten Umgang. Es ist nahtlos in ihre Existenz verflochten. Das geht soweit, dass die Darstellung magischer Mittel vom Verfasser der Völsunga saga benutzt wird, um ansonstige Inkohärenzen des Textes auszuglätten, etwa die zweimalige Erwähnung von Zaubertränken,445 um die Handlung textlogisch absichern zu können. Auch die Figuren haben einfachen Zugriff auf magische Praktiken wie die Technik des Gestaltwandels,446 die durch die Wortkargheit, in der sie geschildert wird, gerade die Einfachheit darstellt, mit der die Figuren des Textes über solche Mittel verfügen können. Sie entsprechen der Normwirklichkeit der Textwelt. Weiterhin geht es um die Rezipientenerfahrung. Die mythischen und anderweltlichen Elemente der völsungischen Welt – selbst wenn man sie auf Grund ihrer Übernatürlichkeit als phantastisch deuten möchte – erzeugen beim Hörer oder Leser dahingehend keine Irritation, als dass sie ihn die Integrität des völsungischen Weltentwurfs hinterfragen lassen würden. Wenn die Götter, ein Drache  



442 Antonsen 2007, S. 581. 443 Krah 2007, S. 68. 444 Todorov 1972, S. 25. Vgl. auch die Kategorisierung des Phantastischen bei Todorov 1972, S. 25–39 sowie des Unheimlichen und Wunderbaren Todorov 1972, S. 40–54, denen ich Alles in Allem zustimme. 445 Siehe 3.3.2. 446 Siehe 3.3.6.  









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2.3 Mythisch

oder magische Mittel auftauchen, hat der Rezipient der altnordischen Heldendichtung nie das Gefühl, dass es nicht mit rechten Dingen zugehe. Ganz richtig erscheint mir ferner die Beobachtung Hans Krahs: In älterer Literatur erscheinen als ‚phantastisch‘ solche Phänomene, die nicht von physikalischen und metaphysischen Weltmodellen gedeckt sind. Während man rückblickend einzelne Erscheinungen, gegen ihren eigenen kulturellen Kontext, als phantastisch auffassen kann […], kommt es zu einer theoretischen Diskussion und zu einer Verselbständigung des künstlerischen Verfahrens erst in kontroversen Debatten der Aufklärungszeit.447

Phantastische Elemente treten zwar auf in den Gattungen der hier untersuchten Texte, haben sich allerdings noch nicht zu einer eigenen Gattung herauskristallisiert. Diese übernatürlichen, ungewöhnlichen oder wundersamen Elemente gehören innerhalb der untersuchten Gattungen durchaus zum Wirklichkeitsbegriff der Textfiguren, weswegen ich den Begriff des Mythischen in dieser Hinsicht weitaus zutreffender finde als den des Phantastischen, der für die Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts ein Anachronismus ist. Die Bewertung des Zwecks der Vorzeitsagas rangiert von Geschichtsüberlieferung zu bloßer Unterhaltung.448 Eine Passage aus der Þorgils saga ok Hafliða gibt uns Aufschluss darüber, wie Vorzeitsaga im zeitgenössischen Milieu rezipiert wurde:  

Hrólfr von Skálmanes erzählte die Geschichte von Hröngviðr, dem Wikinger, und von Óláfr, dem Kriegerkönig, und vom Aufbrechen des Grabhügels Þráins und von Hrómundr Gripsson und viele Strophen dazu. Und mit dieser Geschichte wurde König Sverrir unterhalten und er nannte solche Lügengeschichten am unterhaltsamsten, und doch können Männer ihr Geschlecht auf Hrómundr Gripsson zurückführen. Diese Geschichte hatte Hrólfr selbst zusammengestellt (Stu Þorgils saga ok Hafliði 22,16–21).449

Einerseits gilt sie als unterhaltsame Lügengeschichte, die von einem Kompilator zusammengestellt wurde und doch führen trotz der nicht unbedingt wahren Natur der Geschichte einige Leute ihren Stammbaum auf die darin vorkommenden Figuren zurück.450 Die Fornaldarsögur werden dahingehend inhomogen wahrgenommen. Sie

447 Krah 2007, S. 69. 448 Vgl. de Vries 1999II, S. 463: „die fornaldarsaga behandelte eben auch Geschichte, aber aus einer so fernen Vergangenheit, daß man darüber nur sagenhafte Kunde hatte.“ Vgl. dagegen Klein 1988, S. 141: „Schon in der Phase reiner oder noch vorherrschender Mündlichkeit hat man sie offenbar […] als unverbindliche Unterhaltungsliteratur ansehen können.“ 449 „Hrólfr frá Skálmanesi sagði sǫgu frá Hrǫngviði víkingi ok frá Óláfi liðsmanna-konungi ok haugbroti Þráins ok Hrómundi Grips-syni ok margar vísur með. En þessari sǫgu var skemt Sverri konungi, ok kallaði hann slíkar lygisǫgur skemtiligstar, ok þó kunna menn at telja ættir sínar til Hrómundar Gripssonar. Þessa sǫgu hafði Hrólfr sjálfr saman setta“ (Übersetzung F.D.). 450 Vgl. zur Fiktionalitätsfrage in den Sagas Paul 1982, S. 52–66, bes. S. 62 zur oben genannten Stelle aus der Þorgils saga ok Hafliða.  









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2. Figuren- und Gattungstypen

sind verklärte Geschichte.451 Die in der Textstelle präsentierte Vortragsform disqualifiziert die Vorzeitsaga allerdings als mythische Gattung. Nach Jan und Aleida Assmann ist mythisches Erzählen an „festgelegte Formen der Rezitation“452 gebunden. Sie nennen die Kriterien „Bestimmter Ort, Zeitpunkt und Trägerkreis“.453 Die Voraussetzung erfüllt die Vorzeitsaga, deren Funktion wohl primär in ihrem Unterhaltungswert liegt, demnach nicht. Wohingegen das völkerwanderungszeitliche Heldenlied eher an einen bestimmten Vortragsrahmen gebunden ist, ist die öffentlich-mündliche Rezeption von Fornaldarsögur, ähnlich dem Märchen, nur „schwach ritualisiert“.454 Die Position der Sagaautoren zu dem in ihren Geschichten transportierten mythischen Material zu verstehen, hilft uns Felix Genzmer, der die Fornaldarsögur in geschichtliche und nichtgeschichtliche Sagas einteilt sowie letztere in überlieferungsgebundene Sagas und frei erfundene.455 Die Völsunga saga ist nicht geschichtlich, jedoch auch nicht frei erfunden, sondern durch Überlieferung inspiriert.456

2.3.3 Hörensagen Vom Vorfahren Egils, (Kveld-)Ulf, heißt es in der Egils saga: „Es heißt nun, daß Ulf ein sehr tüchtiger Hauswirt war. […] Aber jedesmal, wenn es zum Abend ging, wurde er so unwirsch, daß nur wenige Leute mit ihm ins Gespräch kommen konnten. Beim Dunkelwerden pflegte er schläfrig zu werden. Man erzählte sich, daß er des Nachts häufig in verwandelter Gestalt umging. Die Leute nannten ihn Kveldulf, d. h. Abendwolf“ (Eg 1).457 Wohingegen der Erzähler von den übrigen Figuren in der Exposition der Saga ‚selbst spricht‘, also aus eigenem Wissen über sie berichtet, gibt er bei Kveldulf die Meinung dessen – fingierter – Zeitgenossen wieder.458 Er sagt nicht etwa, Ulf sei ein tüchtiger Wirtschafter gewesen, sondern berichtet, dass dies so erzählt werde. Wenn es ein wenig später um den Gestaltwandel geht, berichtet nicht der Erzähler, dass  







451 Zu Glaubwürdigkeit und Rezipientenmilieu der Sagas vgl. Hermann Pálsson/Edwards 1971, S. 19–25. 452 Assmann/Assmann 1998, S. 188. 453 Assmann/Assmann 1998, S. 188 Anm. 454 Assmann/Assmann 1998, S. 188. 455 Vgl. Genzmer 1961, S. 102 f. 456 Vgl. Genzmer 1961, S. 104: „Diese Sagas bringen nicht freie Erfindung, sondern größtenteils ererbte Überlieferung. Sie ist ihnen teils in dichterischer Form, als Heldenlieder, teils in ungebundener Rede zugeflossen […]. Im wesentlichen glaubt man an die Wirklichkeit des Erzählten. Für den Sagaschöpfer und Sagaerzähler hat Sigurd wirklich gelebt“. 457 „Suá er sagt, at Vlfr var búsýslumaðr mikill. […] En dag huern, er at kuelldi leið, þá gerðiz hann styggr, suá at fáer menn máttu orðum við hann koma. Var hann kuelldsuæfr. Þat var mál manna, at hann veri mjog hamrammr. Hann var kallaðr Kuelldúlfr.“ 458 Zu Quellenberufungen im Stile von ‚svá er sagt‘ in der altnordischen Prosa vgl. Paul 1982, S. 58–64 bzw. Hallberg 1982, S. 15–18.  

     











2.3 Mythisch

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Kveldulf seine Gestalt verändern könne, sondern spricht von der Meinung der Leute. Ob dies wirklich zutrifft, wird vom ihm ausgeblendet. Das Seltsame oder Unerhörte bleibt vage. Nun sind es gerade die nebulösen Passagen des Anderweltlichen und des Mythischen in der Völsungensage, die oft von einer solchen Fiktion umrahmt werden. Warum entscheiden sich die Verfasser gerade an diesen Stellen mit einer solchen Häufigkeit dafür, diese Zwischenstufe des Erzählens einzubauen? Zwei Antworten liegen nahe: Die Texte der Völsungensage – ebenso wie die gerade zitierte Egils saga – stammen aus christlicher Zeit. Über heidnischen Glauben und Mythos sowie über zauberische Begebenheiten wurde zwar geschrieben, doch waren diese Dinge nur teilweise mit der christlichen Glaubenswelt vereinbar.459 Indem die Verfasser Aussagen über Magie und Mythos, kurz: alles was nicht mit dem christlichen Grundmythos konform geht, in die Münder der Textfiguren legen, schaffen sie Distanz zum beschriebenen Material. Das, was unglaubwürdig, unchristlich, unwahrscheinlich oder zu glauben verboten ist, weisen die Sagaautoren von sich. Sie inszenieren es als eine Fehlmeinung, als einen Irrglauben in der alten Zeit.460 Die andere Möglichkeit aber ist, dass die Verfasser gerade bei solch undurchsichtigen und schwer greifbaren Sachverhalten ihren eigenen Bericht durch die Meinung anderer verstärken wollen. Die Aussagen der Textfiguren sind demnach altes überliefertes Gewährsmaterial, das von den Zeiten der oralen Überlieferungssituation bis zur Verschriftlichung vererbt wurde.461 Dass nicht nur die Erzähler allein von den seltsamen und mythischen Begebenheiten sprechen, sondern auch fingierte Textstimmen, erhöht den Wahrheitsgehalt der Inhalte. So verhält es sich bei der Eingangsstrophe des Nibelungenliedes. Die „alten mæren“ (Nl 1,1) sind nichts, was früher geglaubt wurde, das sich aber mittlerweile als falsch herausgestellt hat. Sie sind die Quellen des Erzählers und sollen auf eine althergebrachte, ungebrochene Überlieferungstradition hinweisen.462  



459 Vgl. jedoch zu Verträglichkeit von Christentum und Heldensage Kuhn 1971 [1960], S. 119–126. 460 Vgl. den Prolog der Snorra Edda, in dem berichtet wird, dass die Menschen nach der Sintflut vom rechten Glauben abfallen und sich der Natur (des christlichen) Gottes nicht mehr bewusst sind. Diese Leere wird von den Asen aus Troja ausgenutzt, um sich selbst als Götterfiguren zu etablieren. Ebenso ist die Quintessenz der Gylfaginning eine Täuschung der Asen, die sich als Götter ausgeben (vgl. Gylf 54). 461 Zu Oralität und Schriftkultur im europäischen Mittelalter sowie den damit verbundenen Implikationen zur Textinterpretation vgl. Müller 1998, S. 25–38. Peter Buchholz bespricht in seiner ‚Vorzeitkunde‘ Indikatoren echter und fingierter Mündlichkeit in den Vorzeitsagas und geht dann großflächig auf Eigenheiten der Sagaliteratur im Allgemeinen ein (vgl. Buchholz 1980, S. 12–78). Durch eine Zäsur in ihrer Mitte würde sich die Völsunga saga, so Stefanie Würth (vgl. Würth 2003, S. 102–110), von einer verschrifteten zu einer verschriftlichten Erzählung wandeln. Während im ersten Teil der Saga eine Erzählhaltung fingierter Oralität vorherrsche, so zeige der Text ab der zweiten Hälfte Anzeichen von Verschriftlichung. Informationsmenge, „quantitative knowledge“ (Würth 2003, S. 108), würde von Informationsdichte, „quality of knowledge“ (Würth 2003, S. 108) abgelöst. 462 Vgl. Haug 1989 [1974], S. 295: „Dabei ist im Hinblick auf seine [des Nibelungenliedes] Stellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Tatsache von fundamentaler Bedeutung, daß es sich unseres Wissens um das erste schriftliche Großepos in deutscher Sprache handelt, das nicht Übersetzung ist, sondern auf der Basis eigener mündlicher Überlieferung geschaffen wurde. Man wird davon ausgehen  















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2. Figuren- und Gattungstypen

Von Sigi heißt es im ersten Kapitel der Völsunga saga: „und es wird von ihm gesagt, daß er Odins Sohn hieß“463 (Vs 1). Dass er Skadi an Macht und Herkunft übertrifft, entspricht der Meinung der damaligen Zeit: „wie die Menschen in jener Zeit sagten“464 (Vs 1). Das Wissen über die Figur Sigi ist inkonkret und beruht nahezu ausschließlich auf dem, was über ihn gesagt wird. Seine Abstammung von Odin bleibt unklar.465 Sie ist nur etwas, was in der damaligen Zeit behauptet wurde. Ebenso ist Sigi nicht gezwungenermaßen Odins Sohn an dieser Stelle.466 Er heißt nur Odins Sohn. In der Einleitungsprosa der Reginsmál wird gesagt: „Sigurd ging zum Gestüt Hjalpreks und wählte sich daraus einen Hengst, der seitdem Grani genannt wurde“467 (Rm. Prosa vor 1). Das impliziert die Wahl eines beliebigen Pferdes, das dann nur den Namen Grani erhält, wobei es sich ja wirklich um Grani handelt. In der Völsunga saga erklärt Odin Sigurd die Herkunft des Hengstes (vgl. Vs 13), woraufhin dieser ihm den Namen gibt. Trotzdem tritt Grani bereits in der direkten Rede Sinfjötlis auf (vgl. Vs 9 bzw. HH. 42).468 Der mythische Nachkomme Sleipnirs erscheint im Erzählkosmos der Völsungensage, bevor er von Sigurd auserwählt und Grani getauft wird. Er existiert in der Rede der Figuren. Grani und das Rheingold werden außerdem in der Völundarkvíða erwähnt.469 Die Heldenlieder der Edda sind von interreferenzieller Natur und existieren in einem mythisch-zeitlichen Nebeneinander,470 wobei Sagenkomplexe aus der einen Erzählung in die andere, vor allem in die wörtliche Rede der Figuren, hineinragen können. Gerade diese mythischen Anspielungen sind meistens von einer verklärenden Aura umgeben, von einer Vor- und Nebenzeitlichkeit. Mythische Elemente in der Völsungensage haben etwas Ungreifbares und Unbestimmbares, weil ihnen etwas intentioniert Widersprüchliches anhaftet. So etwa auch Siegfrieds zweite Jugendgeschichte im Nibelungenlied, die gänzlich von der Figur Hagen erzählt wird und sich überhaupt nicht mit dem deckt, was der Rezipient bisher vom jungen Helden erfahren hat (vgl. Nl 87,1–100,4). Jan-Dirk Müller spricht hierbei „von präzis kalkulierter Unschärfe […], die souverän missachtet, was man von einer schriftliterarisch kohärenten  

können, daß der Dichter schon mit seinen ersten Zeilen dieser Tatsache Rechnung trägt, d. h., es ist zu erwarten, daß die Sondersituation dieses Epos sich von Anfang an, zumindest implizit, selbst darstellt.“ 463 „ok kalladr, at heti son Odins.“ 464 „at þi er menn męlltu i þann tima.“ 465 Vgl. Würth 2003, S. 104: „A remarkable example of the narrator’s critical viewpoint comes in the very first sentence of the saga […]; this sentence […] means that the narrator has doubts about the mythological basis of the saga, and it is clear that, even if the prose-paraphrase narration of eddic poetry draws on ‚general knowledge‘, the saga is able to put forward a narrative which contradicts this tradition.“ 466 Sigis Vater wird jedoch an späterer Stelle mit dem Namen Odin beschrieben (vgl. Vs 1). 467 „Sigurðr gecc til stóðs Hiálprecs oc kaus sér af hest einn, er Grani var kallaðr síðan.“ 468 Es ist nicht klar, wer der Sprecher in Strophe 42 der Helgakvíða Hundingsbana ist. Vgl. von See/La Farge et al. 2004, S. 315. 469 „Gold lag dort nicht auf Granis Weg, | fern schien mir dies Land den Bergen des Rheins“; „Gull var þar eigi á Grana leiðo,| fiarri hugða ec várt land fiollom Rínar“ (Vkv. 14). 470 Außerdem stabt ‚Grani‘ mit ‚Gold‘.  







2.3 Mythisch

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Erzählung erwarten müßte.“471 Im Nibelungenlied ist Siegfried nicht nur ein Eindringling am Wormser Hof, sondern Hagens Erzählung von ihm ist auch ein Eindringling im Text.472 In der Völsunga saga finden sich diese Ungenauigkeiten beim Auftritt von Götterfiguren. Da Rerir und seine Frau um Nachkommen beten, heißt es: „Das wird erzählt, daß Frigg ihre Bitte hörte, und Odin ebenfalls, um was sie baten“ (Vs 1)473 und beim Auftritt Odins in Völsungs Halle: „Nun wird erzählt: als die Männer am Abend bei den Feuern saßen, da trat ein Mann herein in die Halle, unbekannt allen von Aussehen“ (Vs 3).474 In beiden Fällen bezieht sich der Verfasser auf etwas, das erzählt wird. Im Nornagests þáttr sind es die Worte Gestrs selbst, die von der Meinung der Zeitgenossen berichten, wenn es um das wahre Wesen des Hnikar geht: „man glaubte, es wäre Odin gewesen“ (Norn 352).475 Die Aura des Ungreifbaren umgibt aber nicht nur die Götterfiguren, sondern findet sich auch in anderen Episoden, in denen von unalltäglichen oder magischen Begebenheiten berichtet wird. Da Sigmund die Wölfin tötet, die wiederum seine Brüder aufgefressen hat, heißt es: „Aber das erzählen einige Leute, daß diese Wölfin König Siggeirs Mutter gewesen sei, und daß sie diese Gestalt angenommen habe durch Hexerei und Zauberkunst“ (Vs 5).476 Es besteht selbst unter den Statisten des Textes Uneinigkeit darüber. In der Prosaeinleitung der Helreið Brynhildar heißt es: „So sagt man, dass Brynhild mit dem Wagen über den Helweg fuhr und zu einem Hof kam, auf dem eine Riesin wohnte“ (Hlr. Einleitungsprosa).477 Die mythische Episode wird mit Hörensagen eingeleitet. In der Abschlussprosa der Helgakvíða Hundingsbana önnur wird Helgis und Sigruns Wiedergeburt kommentiert: „Es war der Glaube in der alten Zeit, dass man wiedergeboren würde, aber das wird jetzt alter Weiber Aberglaube genannt. Von Helgi und Sigrun erzählt man, dass sie wiedergeboren wurden. Er hieß dann Helgi Haddingeheld und sie Kara, Halfdans Tochter, so wie es im Lied der Kara erzählt wird, und sie war Walküre“ (HH. II Abschlussprosa).478 Als

471 Müller 1998, S. 126. 472 Vgl. allerdings Haug 1989 [1974], S. 296: „Dabei darf man nicht außer acht lassen, daß dies [die Erzählung von Siegfrieds höfischer Jugendgeschichte] auf dem Hintergrund der traditionellen heroischen Jugendgeschichten Sigfrids geschieht. Diese Geschichten sind dem Publikum präsent; der Dichter braucht anderswo nur auf sie anzuspielen, um sie in Erinnerung zu rufen. Das bedeutet, daß er Sigfrid gegen die Tradition offenbar programmatisch zum höfischen Ritter umstilisiert.“ 473 „Þat er nu sagt, at Frigg heyrir bęn þeirra ok segir Odni, hvers þau bidia.“ 474 „Nu er þess vid getid, at þa er menn satu vid elldana um kvelldit, at madr einn geck inn i hollina. Sa madr er monnum ukunnr at syn.“ 475 „hyggia menn at þat hafui Odinn verit.“ 476 „En þat er sǫgn sumra manna, at su hin sama ylgr veri modir Siggeirs konungs ok hafe hun brugdit a sik þessu like fyrir trollskapar sakir ok fiolkyngi.“ 477 „Svá er sagt, at Brynhildr óc með reiðinni á helveg oc fór um tún, þar er gýgr noccor bió.“ 478 „Þat var trúa í fornescio, at menn væri endrbornir, enn þat er nú kǫlluð kerlingavilla. Helgi oc Sigrún er kallat at væri endrborin. Hét hann þá Helgi Haddingiascaði, enn hon Kára, Hálfdanar dóttir, svá sem qveðit er í Károlióðom, ac var hon valkyria.“  



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2. Figuren- und Gattungstypen

Quelle der unerhörten Ereignisse gibt der Verfasser ein Lied der Kara, Károljóð, an, das „nicht überliefert ist, falls es überhaupt existiert hat.“479 Neben einer verschollenen Quelle scheint es genauso wahrscheinlich, dass der Verfasser hier eine Quellenfiktion im Sinne von Matthias Teicherts intertextueller Mythisierung480 erschafft, nur dass die Anbindung „an einen kanonischen Subtext, dem als anerkannte Literarisierung eines Mythos ein hohes Maß an Autorität zukommt“,481 hier fingiert wäre.482 Was die Authentizität der Aussage angeht, sagt Arnulf Krause: „Auch wenn gerade diese Szene [Helgi als Wiedergänger] altertümlich wirkt, entspricht sie doch eher nachheidnischer Rezeption der eigenen Vergangenheit.“483 Es geht vor allem darum, die Andersartigkeit der mythischen Textwelt und Vorzeit zu dokumentieren.484 Der Erzähler sagt, dass solche Vorstellungen von Wiedergeburt in seiner Zeit nur noch das Geschwätz alter Frauen genannt werden und entwertet sie damit, wobei er sich allerdings abermals eines eigenen Urteils enthält. Ebenso vage und ungewiss ist die Wiedergeburt der Protagonisten in der Helgakvíða Hjörvardssonar: „Von Helgi und Swawa sagt man, sie wären wiedergeboren“485 (HHv. Prosa nach 43).486 Der Vorgang ist etwas, das berichtet wird.487

479 Simek 2007, S. 223. 480 Teichert 2008, S. 81. 481 Teichert 2008, S. 81. 482 Als moderne Beispiele für eine solche fingierte literarische Anbindung kommen Tolkiens LeithianLied in den Sinn, das er an zweimaliger Stelle im Silmarillion als die Quelle der Beren und Luthien-Passage angibt (vgl. Tolkien 1999, S. 229–230) oder H.P. Lovecrafts Necronomicon, ein okkultes Buch, dessen Existenz Lovecraft mit einer solchen Überzeugungskraft beschrieben hat, dass unter Horrorfans und Hobbyschwarzmagiern der letzten nahezu einhundert Jahre ein solcher Hype auf der Suche nach dem sagenumwobenen Necronomicon des ebenso fingierten Arabers Abdul Alhazred ausgelöst wurde, dass es letztendlich sogar zu einer Ausgabe des Buches kam, die dann aber sofort wieder vergriffen war (vgl. Alhazred 1980). Matthias Teichert führt als Beispiel das Buch ‚Von denen Vampyren und Menschensaugern‘ an (Vgl. Teichert 2008, S. 81). 483 Krause 2004, S. 279. 484 Vgl. Gunnell 1995, S. 197: „It is immediately apparent […] that many of these shorter prose passages belong to a completely different moral and temporal climate to [sic] that of the poems. In them the author of the prose actively distances himself from the setting, sources, and particularly the folk beliefs of his material.“ Weiterhin spricht Terry Gunnell in Bezug auf die Prosaabschnitte der Heldenlieder von „temporal distancing [und] separation“ (Gunnell 1995, S. 197). 485 Vgl. auch Sg. 45: „Hindre sie niemand am langen Gang, | von dem sie nie wiedergeboren werde!“; „Letia maðr hána langrar gǫngo, | þars hon aptrborin aldri verði!“ In diesem Falle spricht Högni über eine mögliche Wiedergeburt Brynhilds. 486 „Helgi ac Sváva er sagt at væri endrborin.“ 487 Vgl. Hultgård 2007(a), S. 677: „Zusammenfassend kann mit gutem Grund angenommen werden, daß der Glaube an unterschiedliche Formen der W[iedergeburt] ein Bestandteil der alttradierten germ [anischen] Vorstellungswelt war.“ Vgl. zu Helgis Wiedergeburt Höfler 1952(a), S. 12–19, S. 23–25. Otto Höfler deutet die Wiedergeburt Helgis als literarische Umdeutung „kultische[r] Repräsentation“ (Höfler 1952(a), S. 14). Vertreter verschiedener Generationen hätten die Rolle des Helgi, eines zu opfernden Würdenträgers, eingenommen.  

   



















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2.3 Mythisch

Die Tötung der Sklaven und Diener, die ihrem Herren in die nächste Welt folgen sollen, wird in der Völsunga saga als „nach altem heidnischen Brauche“ (Vs 33)488 bezeichnet, bleibt allerdings unkommentiert im kurzen Sigurdlied (vgl. Sg. 47, 66 f., 70). Ebenso die Versenkung Herkjas im Moor, nachdem ihre Falschaussage über Gudrun offenbar wird (vgl. Gðr. III 11). Vielleicht sind dies Vorgänge, die dem Verfasser und seinem Publikum noch präsent gewesen sind und demnach unverklärt im Text auftauchen. Wenn Snorri Sturluson in den Skáldskaparmál berichtet: „Man sagt, Sigmund, Wölsungs Sohn sei so mächtig gewesen, daß er Gift trank und davon keinen Schaden hatte“ (Sskm 42 [41]),489 bezieht er sich ganz klar auf bestehendes Sagengut, das er in seinem poetischen Lehrbuch nur zusammenträgt, das aber natürlich nicht gezwungenermaßen seiner Meinung entsprechen muss und nicht von ihm erfunden wurde. Das Erwähnen von mündlichen Quellen, Meinungen und Hörensagen wird nicht nur eingesetzt bei Passagen, in denen mythische Ereignisse und Figuren oder wunderbare und zauberische Dinge geschildert werden, sondern auch an Stellen, die seltsam, unerhört, randständig oder wenig glaubwürdig sind.490 Redequellen werden in den Texten der Völsungensage aufgeführt, wenn Außergewöhnliches geschieht und bei Dingen, die der heroischen Sphäre vorbehalten sind. Der Knabe Völsung kommt schon mit vollem Bewusstsein und handlungsfähig zur Welt: „So wird erzählt, daß der Knabe seine Mutter küsste, ehe sie starb“ (Vs 2).491 Dieselbe Formulierung findet sich später bei seiner Halle: „So wird erzählt, daß König Völsung eine herrliche Halle herstellen ließ“ (Vs 2).492 Vom Baum, der das Zentrum von Völsungs Halle darstellt, heißt es „man nannte ihn ‚Kinderbaum‘“ (Vs 2).493 Der Prozess der Benennung wird eigens aufgeführt und als Handlung der Textfiguren gekennzeichnet. Die Ankunft der Völva bei Signy wird vom Erzähler durch Hörensagen verdunkelt: „Es wird erzählt, daß einmal, als Signy in ihrem Frauengemach saß, zu ihr ein überaus zauberkundiges Hexenweib kam“ (Vs 7).494 Die Technik findet sich auch bei hyperbolischen Passagen und wenn von herausragendem Heldentum die Rede ist. Wenn es um Sigurds Nachruhm geht, dann ist sie ein Mittel der Emphase:495 „Jeder der diese Kunde ver 

488 „at fornum sid“. 489 „Svá er sagt at Sigmundr Vǫlsungsson var svá máttugr at hann drakk eitr ok sakaði ekki“. 490 Vgl. Hallberg 1982, S. 11: „There are in the FAS [Fornaldarsögur] many references to other sagas and sources, both inside and outside the corpus. They serve to place the genre within a context of literary tradition and give it an appearance of being part of a more or less ‚historical‘ continuum.“ 491 „Sva er sagt, at sea sveinn kysti modur sina, adr hun dęi.“ 492 „Sva er sagt, at Volsungr konungr let giora holl eina agęta“. 493 „kaulludu þeir þat barnstock.“ 494 „Þess er nu vid getid eitthvert sinn, þa er Signy sat i skemmu sinne, at þar kom til hennar ein seidkona fiolkunnig harla miok.“ 495 Vgl. Gunnell 1995, S. 197: „Certainly, the reference to other men here [Terry Gunnell bezieht sich auf die Prosapassage Frá dauða Sigurðar] is used to emphasise Sigurðr’s fame. However, once again the word ‚ancient‘ (‚forn‘) emphasises a temporal separation between writer and subject.“  



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2. Figuren- und Gattungstypen

nimmt, sagt, daß ein Mann, wie Sigurd war in aller Hinsicht, nicht mehr auf der Welt ist, noch je geboren werden wird: sein Name wird nimmer vergessen werden in deutscher Sprache, noch in den Nordlanden, so lange die Welt steht“ (Vs 34).496 Hier und an anderen Stellen ist es nicht der Sagaautor allein, der von diesen heroischen Großtaten spricht. Bei König Völsungs letzter Schlacht heißt es: „und so wird erzählt, daß König Völsung und seine Söhne achtmal an dem Tage die Schlachtordnung König Siggeirs durchbrachen und nach beiden Seiten schlugen“ (Vs 5),497 von Fafnirs Behausung: „und das wird erzählt, daß die Klippe dreißig Klafter hoch war, auf der er am Wasser lag, wenn er trank“ (Vs 18)498 und bei Sigmunds letztem Kampf: „keiner wußte die Zahl anzugeben, wie viele Männer vor ihm fielen“ (Vs 11).499 Sigurds erste Schlacht ist als Parallele zur letzten seines Vaters inszeniert. Da heißt es ähnlich: „es fielen da so viele auf Seiten der Hundingssöhne, daß niemand ihre Zahl anzugeben wußte“ (Vs 17).500 Indem der Verfasser angibt, worüber er keine Auskunft geben kann, weil ihm die Angabe oder Quelle fehlt, betont er umso mehr den restlichen Wahrheitsgehalt seiner Erzählung.501 Neben den Gründen der Distanzierung, der Mystifizierung und Emphase steht der Quellenaspekt der Technik des Hörensagens. Vor allem die Völsunga saga spielt an mehreren Stellen mit der kurzen Erwähnung von Quellen, die zur Kompilation des Materials beigetragen haben. Neben den Verweisen auf alte Geschichten (vgl. Vs 2 bzw. 40), heißt es bei Sigurds Beschreibung: „daß er den großen Drachen erschlug, den die Wäringer Fafnir nennen“ (Vs 23).502 Die Benennung des mythischen Drachen wird hier einem bestimmten Volk respektive einer Personengruppe zugesprochen. Die Technik funktioniert ähnlich wie schon zuvor erwähnt: Wenn dem Rezipienten mehrere Alternativen der Erzählung angeboten werden, rückt die Frage nach dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt der eigentlichen Geschichte in den Hintergrund. Ähnlich arbeitet das Prosastück Frá dauða Sigurðar am Ende des Brot af Sigurðarkviðu: Es ist ein einziger Überblick darüber, wie der Tod Sigurds an verschiedenen Stellen und

496 „Nu segir þat hverr, er þesse tidendi heyrir, at einge madr mun þvilikr eptir i verolldunne, ok alldri man siþan borinn slikr madr, sem Sigurdr var fyrir hversvettna sakar, ok hans nafn man alldri fyrnazt i þyverskri tungu ok a Nordrlaundum, meþan heimrinn stendr.“ 497 „ok er sva sagt, at Volsungr konungr ok synir hans gengu VIII sinnum i gegnum fylkingar Siggeirs konungs um daginn, ok hoggva a tvęr hendr.“ 498 „ok þat er sagt, at sa hamar var þritughr, er hann la at vatne, þa er hann drack.“ 499 „engi kunni taul, hversu margr madr fell fyrir honum.“ 500 „Fell þar sva mart fyrir Hundingssonum, ath einge madr visse taul a.“ 501 Eine Technik, die auch im Bereich Sales angewendet wird. Wenn der Verkäufer dem potenziellen Käufer zum Beispiel einen Stift verkaufen möchte und er weiß, dass der Verkäufer sich für einen Kugelschreiber interessiert, dann würde er sein Verkaufsgespräch etwa so konsolidieren: ‚Also wenn Sie einen Bleistift suchen, dann kann ich ihnen leider nicht weiterhelfen, weil ich dafür nicht die entsprechenden Kompetenzen habe. Wenn Sie allerdings einen Kugelschreiber suchen, dann finden wir bestimmt etwas für Sie.‘ Das erzeugt den Anschein von Authentizität, Kompetenz und Transparenz. 502 „at hann drap þann mikla dreka, er Vęringiar kalla Fafne.“

2.3 Mythisch

101

durch verschiedene Völkerkreise rezipiert wird.503 Obwohl Uneinigkeit über den genauen Tathergang besteht, so bestätigt der Verfasser doch die Gemeinsamkeit aller Erzählungen, nämlich dass Sigurd hinterrücks und im Verrat ermordet wurde. Echtheit generiert der Verfasser gerade dadurch, dass er bezüglich eines Aspektes Spielraum lässt, alle Erzählungen aber zum gleichen Ende hinlaufen lässt. In der Helgiepisode der Völsunga saga heißt es: „Das wird erzählt, daß er sich auf eine Heerfahrt begab, als er fünfzehn Winter alt war“ (Vs 8)504 und: „Es wird erzählt, daß Helgi auf seiner Heerfahrt den König traf, der Hunding hieß“ (Vs 9).505 Bei diesen Aussagen des Hörensagens bewegen wir uns wahrscheinlich im Areal der tatsächlichen Textreferenz. Der Verfasser scheint hier auf Material einzugehen, das ihm anderweitig bekannt ist und tatsächlich scheinen sich beide Aussagen auf die zehnte Strophe der Helgakvíða Hundingsbana zu beziehen: „Kurz nur ließ der Herrscher auf Kampf warten, | als der Fürst fünfzehn Winter alt war; | er ließ den harten Hunding erschlagen, | der lang beherrschte Länder und Menschen“ (HH. 10).506 Zuweilen leitet das Hörensagen aber auch nur den nächsten Handlungsabschnitt ein, wie zum Beispiel an dieser Stelle: „Es wird erzählt, daß Gudrun eines Tages sprach, als sie in ihrer Kammer saß“ (Vs 34).507 In den Fließtext der Völsunga saga sind einige Strophen eingefügt. Sie dienen dem Sagaautor als Referenzmaterial, auf das er sich beziehen kann, wenn er den Inhalt seiner Saga bestätigt haben will.508 Der Verfasser beruft sich auf ältere Quellen, die er zum Teil gleich mit seiner eigenen Erzählung mitliefert. Bei der Befreiung Sigmunds und Sinfjötlis aus ihrer Lebendbestattung wird die Strophe eingeleitet mit den Worten „sem kveðit er“, ‚wie gesagt wird‘ (Vs 8) und ebenso bei Sigurds Flammenritt: „svá sem kveðit er“ (Vs 29). Die rituelle Vorbereitung Gutthorms auf den Anschlag belegt der Verfasser mit einer Strophe („Sie nahmen eine Schlange und Wolfsfleisch, ließen es sieden und gaben es ihm zu essen, wie der Skalde sagt“, Vs 32),509 ebenso den Vergessenstrank, den Grimhild Gudrun überreicht („Dieser Trank war gemischt mit der Kraft der Erde, der See und dem Blut ihres Sohnes: in das Horn waren allerlei Runenstäbe geritzt und mit Blut gerötet, wie es hier heißt“, Vs 34)510 und die Beschreibung des Gjukungenzuges bei der Rückholung Gudruns: „sie schritten einher in voller Rüstung und hatten rote Pelzmäntel übergeworfen, wie es im Liede 503 Terry Gunnell nennt es einen „academic editorial approach to the poems which are named and referred to as separate entities“ (Gunnell 1995, S. 198). 504 „Þat er sagt, at hann ręzt i hernad, þa er hann var fimtan vetra gamall.“ 505 „Þat er sagt, at Helgi finnr þann konung i hernadi, er Hundingr het.“ 506 „Scamt lét vísi vígs at bíða, | þá er fylkir var fimtán vetra; | oc hann harðan lét Hunding veginn, | þann er lengi réð lǫndom oc þegnom.“ 507 „Þat er sagt einnhvern dag, þa er Gudrun sath i skemmu sinne, þa męllti hun“. 508 Und „to reinforce narrative detail by reiteration“ (Quinn 2003, S. 90). 509 „Þeir toku orm einn ok af vargshollde ok letu sioda ok gafu honum at eta, sem skalldit kvad“. 510 „Sa dryckr var blandinn med iardar maghne ok sę ok dreyra sonar hennar, ok i þvi hornne voru ristnir hverskyns stafir ok rodner med blode, sem her segir“ (Übersetzung bis ‚sonar hennar‘ F.D.).  



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2. Figuren- und Gattungstypen

heißt“ (Vs 34).511 Beim Zank der Königinnen zitiert die Textfigur Brynhild ein Lied über Sigurd, um sein Heldentum zu belegen: „Brynhild erwiderte: ‚Sigurd fällte Fafnir, und das ist mehr wert als das ganze Reich König Gunnars, wie es im Liede heißt: […]‘“ (Vs 30).512 Es handelt sich also nicht etwa um ein Lied, das Sigurds Taten von der heroischen Vorzeit in die Zeit des Sagaautors transportiert hat, sondern eines, das bereits im Sagakontext entsteht. Sigurds Lied wird schon zu seinen Lebzeiten gedichtet. Die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit wird vom Sagaautor hier nochmals dünner gemacht, weil er aus denselben Quellen schöpft, die schon in der Zeit seines Erzählkosmos’ von Brynhild rezitiert werden.513 Bei Sigurds Versöhnungsversuch mit Brynhild wird das Lied genannt, aus dem die dazugehörige Strophe entstammt: „So heißt es im Sigurdliede“ (Vs 31).514 Die Strophe liefert keine Zusatzinformation, sondern wiederholt einfach noch einmal das Gesagte in lyrischer Form. Die Intention des Verfassers ist, das Prosamaterial mit Liedquellen zu unterfüttern. Das sehen wir nochmals bei der gescheiterten Erschlagung Jörmunreks, da der Sagaverfasser Hamdir nahezu zweimal dasselbe sagen lässt: „Da rief Hamdir: ‚Abgeschlagen würde jetzt das Haupt sein, wenn Erp lebte, unser Bruder, den wir auf dem Wege erschlagen haben – zu spät sahen wir das ein‘; wie es im Liede heißt: […] Ab wär’ das Haupt jetzt, | Wenn Erp lebte, | Unser tapferer Bruder, | Den wir beide getötet“ (Vs 44).515 Der Mehrwert besteht darin, die Strophe als zusätzliche Quelle anzuführen und das behandelte Material hieb- und stichfest zu machen. Die Strophe entspricht wörtlich der respektiven Passage in den Hamðismál (vgl. Hm. 28). Die übrigen Strophen behandelt die Völsunga saga wie direkte Figurenrede. Bei der Vorgeschichte des Hortes heißt es: „Da sprach Loki“ (Vs 14),516 Hnikars Strophe wird eingeleitet mit „Er antwortet“ (Vs 17)517 und vor den Strophen von Brynhilds Runenweisheiten auf dem Hindarfjall heißt es: „Brynhild füllte einen Becher, brachte ihn Sigurd dar und sprach“ (Vs 21).518  

511 „Þeir foru med aullum herbunade ok haufdu yfir ser loþa rauda, sem kvedit er“. 512 „Brynhilldr svarar: ‚Sigurdr va at Fafnne, ok er þat meira vert en allt riki Gunnars konungs,‘ sva sem kvedit er“. 513 Vgl. Quinn 2003, S. 90: „it is an unusual instance of the same speaker modulating between prose and verse to distinctive rhetorical effect: in prose Brynhildr declares Sigurðr’s feat in fighting the dragon of more value than all of Gunnarr’s power, and in the verse, the value of Sigurðr’s action is expressed through its enduring fame […]. The fact that the narrator disturbs the prosimetric effect by having the saga Brynhildr apparently quoting her eddic self […] reveals a complex stratification of voices that allowed the medieval audience to hear each Brynhildr in her separate mode.“ 514 „Sva segir i Sigurþarqvidu“. 515 „Þa męllti Hamdir: ‚Af munþi nu hofudit, ef Erpr lifþi, brodir ockar, er vid vagum a leiþinne, ok sam vid þat of sid.‘ Sem kveþit er: ‚Af veri nu hofudit, | ef Erpr lifþi, | brodir ockar hinn baudfrekni, | er vid a bráuth vagum.‘“ 516 „Þa męllti Loki“. 517 „Hann svarar“ (Übersetzung F.D.). 518 „Brynhilldr fyllde eitt ker ok fęrde Sigurde ok męllti“.  

2.3 Mythisch

103

Die Technik des Hörensagens wird in den Texten der Völsungensage benutzt, wenn die Verfasser dem Gesagten Gewicht verleihen wollen. Zur Emphase werden Quellen herangezogen, die über die Ereignisse Zeugnis abzulegen haben. Auf welche Quellen sich die Verfasser beziehen, ist dabei unterschiedlich und es kann nur in wenigen Fällen sicher herausgelesen werden, ob diese von ihnen fingiert wurden. Wenn die Verfasser ihre eigenen Figuren sprechen lassen, wird es immer ungenau. Besonders wenn es um mythische Elemente geht, neigen die Texte dazu inkonkret zu werden.519 Formulierungen wie ‚Es wird gesagt‘, ‚Manche behaupten‘ oder Ähnliches stehen oft bei Passagen, in denen Mythisches, Magisches, Anderweltliches oder Unalltägliches behandelt wird.520 Diese Formen von Verschleierung mystifizieren und auratisieren die mythischen Episoden. Letztendlich berührt die komplette Technik die Strategie der intertextuellen Mythisierung von Matthias Teichert,521 nur dass der kanonische Subtext eben die Redequellen der vorangegangenen Generationen sind. Die Geschichte lastet nicht allein auf den Schultern der Erzähler, sondern ihr Wahrheitsgehalt wird getragen von all den Stimmen, die sie in ihrer Erzählung als Gewährsleute zu Wort kommen lassen. Dass das Herangehen von bestehenden Quellen oder von Hörensagen nicht auf Falschheit hinweisen soll, sondern auf gewünschte Echtheit des transportierten Materials, zeigt der Anfang des Nibelungenliedes oder zum Beispiel auch die ersten Verse des Hildebrandsliedes: „Ich hörte davon berichten, dass sich allein zwei Krieger trafen, Hildebrant und Hadubrant, zwischen ihren Heeren“.522 Der Prolog der Þiðreks saga rät seinen Lesern sogar, von einem Hinterfragen des Echtheitsgehaltes der Inhalte der Saga abzusehen:523 „Es ist aber einfältig, etwas, was man

519 Jan-Dirk Müller bespricht diese Art des Erzählens – bei ihm „heroisches Erzählen“ (Müller 1998, S. 131) – anhand der Passage, da Siegfried dem Burgundenhof von Hagen vorgestellt wird (vgl. Müller 1998, S. 130–136): „es besteht Einvernehmen darüber, daß im heroischen Epos nicht in linearer Progression und mit Anspruch auf möglichst vollständige kausale Verknüpfung erzählt wird. Das gilt auch sonst an einer Reihe von Stellen für das ‚Nibelungenlied‘, freilich nirgends so auffällig wie in Hagens Erzählung. Hier ist jener Erzählstil so radikalisiert, daß Ursache und Folge, Vorher und Nachher, Entferntes und Benachbartes verschwimmen“ (Müller 1998, S. 133 f.). 520 Partiell beispielsweise auch beim Glamsspuk in der Grettis saga. Während der Verfasser das Setup der Situation noch aus eigener Sicht beschreibt, werden die übernatürlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Glam durch die Wahrnehmung der Figuren geschildert: „Wenig später bemerkten die Leute, daß Glam nicht ruhig lag. […] Bald nach dem Julfest glaubte man, ihn dort daheim auf dem Hof zu sehen. […] Die Leute dort in der Gegend fanden, daß dies ein großes Unglück war“; „Litlu síðar urðu menn varir við þat, at Glámr lá eigi kyrr. […] Þegar eptir jólin þóttusk menn sjá hann heima þar á bœnum. […] Þótti mǫnnum þar í heraðinu mikit mein at þessu“ (Gr 32; Hervorhebungen F.D.). Der letzte Ausbruch der Glamsplage, der die ganze Region letztendlich unbewohnbar macht, wird allerdings vollständig aus der Sicht des Erzählers geschildert (vgl. Gr 33). 521 Vgl. Teichert 2008, S. 81. 522 „Ik gihorta đat seggen, | đat sih urhettun ænon muotin, | Hiltibrant enti Hađubrant untar heriun tuem“ (vgl. Braune 1994, S. 84; Übersetzung F.D.). 523 Vgl. Hallberg 1982, S. 6: „The large amount of strange events, men and weapons of supernatural quality, trolls, giants, dwarfs, dragons and all kind of monsters, in the FAS [Fornaldarsögur] presents a  

















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2. Figuren- und Gattungstypen

nicht gesehen oder gehört hat, Lügen zu nennen, falls man selbst nichts Wahreres darüber weiß“ (Þiðr Prolog).524 In dubio pro reo also. Das ist entgegen einer möglichen modernen Auffassung, dass nur das wahr ist, was sich beweisen lässt. Allerdings zeigt das auch, wie kritisch der zeitgenössische Rezipient die Erzählungen doch wahrgenommen hat, wenn der Prolog für ihren Wahrheitsgehalt so sehr Partei ergreifen muss.525 Echtheit und Wahrheit zu generieren, ist für den Erzähler des 13. Jahrhunderts eine Notwendigkeit.  

picture of the world very different from that of the essentially realistic ÍSS [Íslendingasögur – Isländersagas]. No wonder, perhaps, that the author of the FAS sometimes seem to be a little uneasy about the possible response of the audience to such elements in their stories, which deviate drastically from contemporary experience and the sober atmosphere of the ÍSS. Time and again they try to refute in advance imagined objections. They engage in a both offensive and defensive argument, which may assume a curiously ambivalent character.“ 524 „enn þat er heimskligtt ath kalla þat lyge er hann hefer ei sied edur heyrt enn hann veit þo ecke annat sannara vmm þann lut“. 525 Dagegen weist Theodore Andersson hin auf „[a]n interesting parallel between the prologue of Þiðreks saga and the prologue of Herzog Ernst B […]. Both develop the idea that a man who stays at home and does not participate in heroic deeds is likely to disbelieve the accounts of such deeds and call them lies. […] The gist of these passages is that those who have not participated in bold deeds are apt to cast doubt on them, or call them lies, because they resent the prowess of others. [Er spricht weiterhin von einer] category of ‚Publikumsauswahl,‘ a strategy whereby the author divides his audience into receptive and hostile factions“ (Andersson 1986(a), S. 360 f.).  





3. Mythische Aufladung 3.1 Odin 3.1.1 Odin als Stammvater Im mittelhochdeutschen Nibelungenlied erfährt der Hörer kaum etwas von der Abstammung der Protagonisten. Die Genealogien Siegfrieds und der Burgunden werden nur bis zu ihrer jeweiligen Elterngeneration zurückgeführt (vgl. Nl 20,1–4 bzw. 7,1–4). Die Völsunga saga hingegen beschreibt die Abstammung der Figur Sigurd bis zum Ahnherren der Völsungensippe. Sie ist die Biographie eines Heldengeschlechtes.1 Dieser Stammvater der Völsungen ist Odin.2 Auf den ersten Blick erfährt der Rezipient allerdings nichts über eine mythische Natur der Figur. Zu Beginn der Saga wird Sigi als Odins Sohn bezeichnet: „es wird von ihm gesagt, daß er Odins Sohn hieß“3 (Vs 1). Der Erzähler verunklart die Abstammung der Völsungen in zwei Schritten. Der erste Schritt ist, Sigis Herkunft vage zu machen, indem man sie nur in Form eines Beinamens erwähnt. Die Saga sagt nicht etwa, er sei Odins Sohn, sondern nur, dass er Odins Sohn heiße. Der zweite Schritt besteht darin, das Wissen über diese Abstammung als inkonkret darzustellen, da der Beiname etwas ist, was als eine Form des Allgemeinwissens der Textwelt präsentiert wird. Dem Erzähler gelingt beides: zum Einen die Herkunft Sigis und seines Geschlechtes als intransparent zu gestalten und zum Anderen auf die Oralität seiner Erzählung anzuspielen. Gleich zu Anfang betont der Text selbst, dass er sich seines Erzählungscharakters bewusst ist: Die Formulierungen „Hier wird angefangen und erzählt“, „es wird von ihm gesagt“ und „wird in der Geschichte erwähnt“ (Vs 1)4 sind hierbei die Schlüsselaussagen. Neben dieser nebulösen Erwähnung der Abstammung Sigis existiert eine zweite Stelle, in der sein Verhältnis zur Figur Odin geschildert wird. Als der Knecht Bredi ihn in der Jagdkunst übertrifft, erschlägt er diesen, woraufhin Sigi aus dem Land seines Vaters verbannt wird. Odin geleitet ihn deswegen fort (vgl. Vs 1). Auf den ersten Blick wirkt der Name der Figur Odin erratisch: ein Gott nur dem Namen nach, aber eigentlich eher die profane Gestalt eines weltlichen Herrschers. Die Forschung

1 Vgl. hierzu die Formulierung von Carola Gottzmann: „Die Geschichte eines Königsgeschlechtes“ (Gottzmann 1987, S. 73). 2 Vgl. Grimstad 2000, S. 31: „According to Snorri’s Edda and Heimskringla, one of Odin’s chief roles is that of a god of war and patron of warriors; as such, he is closely associated with death and in fact maintains in Valhalla an army of warriors slain in battle. He is therefore ideally suited to be the patron of famous warrior heroes like the Volsungs“. Für eine Katalogisierung aller Odinsauftritte und -nennungen in der Völsunga saga und in den Heldenliedern vgl. Lassen 2011, S. 155–159 und S. 371–377. 3 „kalladr, at heti son Odins”. 4 „Her hefir upp ok segir fra“, „kalladr“, „er nefndr til saugunnar“.  





https://doi.org/10.1515/9783110649796-003



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3. Mythische Aufladung

hat dementsprechend danach gefragt, wie authentisch die Figur Odin überhaupt als Ahn der Völsungensippe ist oder ob es sich nicht um eine nichtursprüngliche Beifügung zum Völsungensagenstoff handle, die aitiologischen Zwecken dient, nämlich der Rückführung des Stammbaumes des norwegischen Königshauses über Harald hárfagri auf die mythische Götterwelt.5 Das liegt an der Überlieferungssituation der Saga, die in der Handschrift NkS 1824 b 4° direkt vor der Ragnars saga steht.6 Doch um die norwegische Herrscherdynastie vom Gott Odin abstammen zu lassen, bedarf es zweier Elemente. Einmal ist dies die Abstammung der Völsungen vom Gott im ersten Kapitel der Völsunga saga selbst, doch muss zweitens die Saga auch durch die Figur der Aslaug mit der darauffolgenden Ragnars saga verbunden werden. Die Last, eine bloße Einfügung aus genealogischen Gründen zu sein, liegt also nicht nur auf der Abstammungsepisode der Völsungen, sondern vielmehr auf der kurzen Erwähnung der Figur Aslaug in der Völsunga saga. Nun spielt die Tochter Sigurds mit Brynhild in der Völsunga saga, im Gegensatz zur Ragnars saga, wo sie eine prominente Figur ist, eine untergeordnete Rolle. Sie wird nach dem keuschen Beilager Sigurds und Brynhilds und vor der Heirat Brynhilds mit Gunnar nur in einem Satz erwähnt, da ihre Mutter sie in die Obhut ihres Ziehvaters gibt: „Brynhild sprach: ‚Meine und Sigurds Tochter Aslaug soll bei dir [Heimir] aufgezogen werden‘“ (Vs 29).7 Die Beiläufigkeit, mit der sie eingeführt wird, eröffnet die Möglichkeit der Interpolation eines späteren Bearbeiters, der eine Verbindung mit der Ragnars saga beabsichtigte.8 Carola Gottzmann etwa hält dabei eine ursprüngliche Unabhängigkeit

5 Vgl. Finch 1965, S. xxxvii; vgl. Grimstad 2000, S. 16 f.: „The marriage between Sigurd’s and Brynhild’s daugther Aslaug and Ragnar Lodbrok, an important ancestor in the genealogy lists of Scandinavian royalty as well as of several prominent Icelandic families of the late twelfth and early thirteenth centuries, creates yet another integration of fiction and reality so characteristic of medieval Icelandic historiography.“ Vgl. Teichert 2008, S. 131–132. 6 Vgl. Bauer/Böldl 2009, S. 68: „Auf die Vǫlsunga saga folgt in den Handschriften die Saga von Ragnar Lodbrok, einem halbmythischen Dänenkönig; die beiden Erzählungen sind insofern verbunden, als eine nur in der nordischen Tradition bekannte Genealogie aus der Begegnung Sigurds mit Brünhild die Gestalt der Aslaug hervorgehen lässt. Diese wiederum ist die Frau des Sagahelden Ragnar, der als ein Vorfahr des ersten norwegischen Reichseinigers Harald Schönhaar gilt. Es scheint sich hier die Tendenz abzuzeichnen, die norwegischen Könige mit den Helden der Vorzeit in Verbindung zu bringen und zugleich ihren göttlichen Ursprung zu sichern; der Stammvater der Völsunge, Odin, wird somit auch zum Stammvater des norwegischen Königsgeschlechtes und legitimiert dessen Herrschaftsanspruch.“ Vgl. Lange 2006, S. 542: „Die Saga […] ist zusammen mit der Ragnars saga loðbrókar überliefert, die man als deren Forts. betrachten kann oder umgekehrt die V.s. als Einleitung zur Ragnars s. […], denn Áslaug, Sigurds und Brynhilds Tochter, heiratet Ragnar“. 7 „Brynhilldr męllti: ‚Dottur ockar Sigurðar, Aslaughu, skal her upp fęda med þer.‘“ 8 Vgl. Heusler 1969 [1909], S. 507: „Auf germanischer Seite ist nur eine alte Heldensage einem historischen Stammbaum zuliebe angetastet worden: ein Isländer des 13. Jahrhunderts hat in die Brynhildsage den Bankert Áslaug eingeschmuggelt, die Stammutter der norwegischen Könige“. Vgl. Symons 1876, S. 7–15. Vgl. Finch 1965, S. xxxvii: „it seems likely that Aslaug did not appear in the original VS but was deliberately introduced to link VS with Ragnars saga.“ Vgl. Larrington 2012, S. 264: „Some minor adjust 

















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3.1 Odin

der beiden Texte und eine spätere inhaltliche Zusammenführung auf Grund der textlichen Nachbarschaft in der Handschrift NkS 1824 b 4˚ für wahrscheinlich: Es wurde hervorgehoben, daß die Sage aitiologische Zwecke verfolge, indem sie den Ursprung des norwegischen Königtums auf den Ahnherrn Odin zurückführe, um auf diese Weise das Geblütsrecht des Herrscherhauses zu legitimieren. […] So hat diese Auffassung zur Folge, daß die Vǫlsunga saga und die Ragnars saga loðbrókar als Einheit gesehen werden muß. Zwar sind beide Sagatexte zusammen überliefert worden […], aber das heißt noch nicht, daß sie auch ursprünglich zusammengehörten. […] Aber allein schon ein inhaltliches Kriterium weist darauf hin, daß die beiden Sagatexte erst später aufeinander bezogen wurden. Der Hinweis in der Vǫlsunga saga […] auf Aslaug, der Tochter Sigurds und Brynhilds, kann nur nachträglich in den Text interpoliert worden sein, um die Verbindung zu Aslaug in der Ragnars saga herzustellen, da durch die Existenz einer Tochter die Rache Brynhilds völlig unsinnig wird. Denn sie beruht gerade darauf, daß es zu keiner intimen Beziehung zwischen Brynhild und Sigurd gekommen ist.9

Letzteres Argument ist nicht ganz valide, da die Rache Brynhilds darauf basiert, dass sie von den Gjukungen um Sigurd als Ehemann betrogen wurde, unabhängig von vorausgegangener körperlicher Intimität: „Brynhild antwortete: ‚Das sollst du entgelten, daß du Sigurd hast; ich gönne dir nicht, sein zu genießen noch des vielen Goldes. […] Ihr wußtet, daß ihr mich betroget, und das will ich rächen‘“ (Vs 30).10 Zudem ist die Völsunga saga nicht der einzige Text, der Aslaug als Tochter von Sigurd und Brynhild kennt. Snorri erwähnt sie in seinen wohl knapp ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Skáldskaparmál:11 „Nach dem jungen Sigurd lebte eine Tochter, die Aslaug

ments have been made at the level of narrative to make the two stories dovetail: the brief introduction of Áslaug in ch. 29 of Vǫlsunga saga; the brisk beginning of Ragnars saga, which assumes that its audience can remember the references to Heimir and his foster-daughter many chapters earlier.“ Vgl. zur genealogischen Verknüpfung der Völsunga saga mit der Ragnars saga von See 1999 [1994], S. 397–400. Für eine Eigenständigkeit der beiden Sagas argumentiert Rory McTurk, der die Figur der Aslaug ebenso als einen Fremdkörper in der Völsunga saga wahrnimmt: „This redactor […] will have added to Vǫlsunga saga the reference to Áslaug in that saga, and the brief reference to Heimir […] in the part of Ragnars saga dealing with Ragnarr’s wooing of Kráka“ (McTurk 1975, S. 62). McTurks Deutung „allows for the possibility of Vǫlsunga saga and Ragnars saga having originally been independent works“ (McTurk 1975, S. 63). Eine weitere sagen- und motivgeschichtliche Untersuchung McTurks der Ragnarssage wirft ferner die Idee auf, dass die Aslaugfigur gar nicht genuin zum Ragnar loðbrók-Komplex gehört, sondern viel eher in der Sigurd- und Brynhildfabel wurzelt (vgl. McTurk 1991, S. 149–179). Dabei spricht McTurk auch kurz die Brynhild-Sigrdrifa-Frage – siehe 3.2.4 – an (vgl. McTurk 1991, S. 173 ff.). 9 Gottzmann 1987, S. 74 f. 10 „Brynhilldr svarar: ‚Þess skalltu giallda, er þu att Sigurd, ok ek ann þer eigi hans at niota ne gullsins mikla. […] vissu þęr þat, at þer velltud mik, ok þess skal hefna.‘“ 11 Vgl. Byock 1990, S. 4: „Although Snorri and the unknown author of The Saga of the Volsungs were treating the same material, there is no indication that the latter was familiar with Snorri’s Prose Edda.“ Zu den motivlichen Übereinstimmungen der Snorra Edda mit der Völsunga saga und den Heldenliedern der Edda vgl. Ney 2012, S. 83–101, bes. S. 95 zur Aslaugfigur. Barend Symons erhebt allerdings Einwände gegen die Authentizität der Aslaugfigur in den Skáldskaparmál und zweifelt überhaupt an, dass Snorri der Autor der kurzen Nibelungenpassage in der Snorra Edda ist (vgl. Symons 1876, S. 11–13).  



























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3. Mythische Aufladung

hieß und die bei Heimir im Hlymtal aufgezogen wurde. Von ihr stammen große Geschlechter ab“ (Sskm 42 [41]).12 Eine erotische Verbindung zwischen Brynhild und Sigurd wird nicht expliziert – wie bei keiner der Figuren außer Sigmund und Signy (vgl. Vs 7) –, kann aber in Anschluss an die Hindarfjallbegegnung oder in die Episode um Heimir hineingelesen werden. Dass der Gott Odin zum genuinen Sagenmaterial des Völsungenkomplexes gehört, dafür spricht auch die Nennung im Prolog der Snorra Edda,13 da Sigi als Sohn Odins und Stammvater der Völsungen vorgestellt wird. Auch Sigis Sohn Rerir wird erwähnt: „Der dritte Sohn Odins wird Sigi genannt, sein Sohn Rerir. Ihre Nachfahren herrschten über das Land, das jetzt Franken heißt. Von dort stammt das Geschlecht der Wölsungen“ (SnE Prolog).14 Das entkräftet die Position, dass die Abstammung der Völsungen von Odin in der Völsunga saga eine bloße Interpolation eines Sagabearbeiters aus frühestens der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sei. Vielmehr scheint es so, dass die Idee der Völsungen als mythisches Geschlecht bei der Zusammenstellung der Saga bereits präsent war und vom Verfasser in sein Werk aufgenommen wurde, um so die mythische Welt der Völsunga saga zu konstruieren.15 Ein unoffensichtlicher Beleg für eine mythische Atmosphäre im ersten Kapitel der Völsunga saga außerhalb der Namensnennung Odins findet sich in der Ächtung und Verbannung Sigis. Nachdem sich herausstellt, dass Sigi den Knecht Bredi erschlagen hat, erhält er den Namen16 „Wolf an der Weihestätte“ (Vs 1)17 und es wird beschlossen, er dürfe weiterhin nicht mehr bei seinem Vater leben („er durfte jetzt nicht mehr in der Heimat bleiben bei seinem Vater“, Vs 1).18 Die Bezeichnung ‚Wolf‘,  





12 „Eptir Sigurð svein lifði dóttir er Áslaug hét er fœdd var at Heimis í Hlymdǫlum, ok eru þaðan ættir komnar stórar.“ 13 Vgl. zur Entstehung und allgemein zur Snorra Edda Weber 1986, S. 394–412 bzw. Faulkes 1982, S. xi– xxxiv. 14 „Inn þriði son Óðins er nefndr Siggi, hans son Rerir. Þeir langfeðgar réðu Þar fyrir er nú er kallat Frakland, ok er þaðan sú ætt komin er kǫlluð er Vǫlsungar.” 15 Vgl. Grimstad 2000, S. 14: „Snorri mentions that one of Odin’s sons was named Siggi, and from him were descended the Volsungs who ruled over the kingdom known in Snorri’s time as France. Such genealogical information was incorporated into the legends and stories about the Volsungs to which Snorri had access when he compiled his Edda (ca. 1225). As part of the same project linking myth to history and history to myth, an anonymous author some time in the middle of the thirteenth century took the heroic legends relating the deeds of the Volsungs and their tragic dealings with the Gjukungs and the Budlungs, legends that were already well known in oral (and quite likely also in written) poetic form, and retold them in written prose. The result of that creative effort is […] the legendary history Vǫlsunga saga.“ 16 Sarah L. Higley spricht vom „very speech-act that condems“ (Higley 2005, S. 339) denjenigen, der zum Wolf/Warg gemacht wird. Der legale und soziokulturelle Aspekt des Vorgangs beinhält eine Markierung eines Einzelnen durch ein Kollektiv, die zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt. In der Bezeichnung allein liegt bereits Macht. Vor seiner Verbannung wird Sigi durch die Benennung stigmatisiert. 17 „vargh i vęium“. 18 „ma hann nu eigi heima vera med fedr sinum.“  





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3.1 Odin

‚vargr‘, für einen Verbrecher, Geächteten oder Friedlosen ist nicht ungewöhnlich,19 der Zusatz ‚an der Weihestätte‘ hingegen schon. Baetke liefert für ‚vé‘ die Übersetzung „geweihte Stätte, geheiligter Bezirk, Heiligtum, Opferstätte, Tempel“,20 für den feststehenden Ausdruck ‚vargr í véum‘ hingegen „Schänder e[ines] Heiligtums“.21 Tatsächlich erschlägt Sigi Bredi allerdings im Wald und nicht in einem Tempel oder Heiligtum, was die unübliche Formulierung nicht erhellt.22 Die direkte Textnähe zur Erläuterung, er dürfe nun nicht mehr im Lande seines Vaters verbleiben, nachdem er sich des Totschlags schuldig gemacht habe und nun der Wolf an der Weihestätte beziehungsweise der Schänder des Heiligtums geworden ist, impliziert aber einen sakralen oder mythischen Charakter des Landes von Sigis Vater, Odin. Das erste Kapitel der Völsunga saga beschreibt den Eintritt des Völsungengeschlechtes in die menschliche Welt, heraus aus der göttlichen.23 Die räumliche Ferne zwischen den

19 Vgl. Jacoby 1974, S. 39: „Da in indogermanischer Zeit gerade der Reichtum aus ‚Menschen und Vieh‘ bestand und im Wesen zwischen Menschen und Tier wenig Unterschied gemacht worden zu sein scheint, könnte bei den Germanen aus altem Traditionsdenken der flüchtige Totschläger in eine gewisse Relation zum Wolf gestellt worden sein; […] eine Verbindung die sich auch in der Doppelbedeutung von an. vargr ‚Verbrecher, Wolf‘ zeigt.“ Vgl. zum Begriff ‚vargr‘ weiterhin Higley 2005, S. 336–337, S. 352–358 und Beck(b) 2006, S. 268–271. 20 Baetke 2008, s.v. ‚vé‘. 21 Baetke 2008, s.v. ‚vargr í véum‘. 22 Vgl. Finch 1965, S. 1 Anm.: „Literally ‚a wolf in holy places‘, an expression normally used of a man who slays another in a hallowed place or sanctuary (e.g. at an assembly)“. Vgl. Higley 2005, S. 353: Einer, der „exiled from a holy place, because of his murder of a thrall“ ist. Eine solche Formulierung finden wir in der Egils saga, als Eyvind, der Bruder Königin Gunnhilds, einen Mann auf einem Opferfest erschlägt: „Eyvind hatte im Heiligtum gemordet. Er war friedlos geworden und mußte sogleich fliehen“; „Eyuindr hafði vegit í véum, ok var hann vargr orðinn, ok varð hann þegar brott at fara“ (Eg 49; Hervorhebung F.D.). Die Formulierung erklärt sich hier durch den heiligen Charakter der Feierlichkeit: „Aber die Männer da drinnen waren ohne Waffen, wegen der Heiligkeit des Festes“; „en menn voro aller vápnlauser inni, þuí at þar var hofshelgi“ (Eg 49). Ein solcher Sakralcharakter wird bei der Jagd in der Eingangsepisode der Völsunga saga nicht expliziert, weswegen das Heiligtum, das Sigi durch die Bluttat geschändet hat, generell mit seinem Heimatort assoziiert sein muss, den er ja dann wie Eyvind in der Egils saga verlässt. Den meines Wissens einzigen weiteren Beleg für den Begriff ‚vargr í véum‘ finden wir in der Erzählung um den Tempelplünderer Jarl Hákon in der Óláfs saga Tryggvasonar (vgl. ÓTOdd 15) und in der Jómsvíkinga saga der Ausgabe von Carl af Petersens (vgl. Jvs291 7). Hier ist die Vergabe des ‚vargr‘-Titels abermals mit der Schändung eines Heiligtums verbunden. Diese aufsummierten Indizienbeweise lassen hinter der Heimat Sigis und Odins einen nicht ausschließlich profanen Charakter vermuten. 23 Catharina Raudvere vergleicht die Verbannung Sigis aus der Heimat seines Vaters mit dem Ausschluss Adams aus dem Paradies (vgl. Raudvere 2007, S. 120–121). Das Land Odins beschreibt sie als „primeval world“ (Raudvere 2007, S. 120), das Land, in das Sigi nach der Verbannung zieht, hingegen als „a world that appears more human and earthly than the primeval existence out of which Óðinn has guided him“ (Raudvere 2007, S. 121). Anders allerdings Victor Millet. Dieser beschreibt den Ort, von dem Sigi verbannt wird, lediglich als „de[r] Norden“ (Millet 2008, S. 321) und sieht somit keine besondere mythische, göttliche oder anderweltliche Aufladung darin. Er spricht zwar von einer anderen Zeit (vgl. Millet 2008, S. 312), aber nicht von einem anderen Raum.  





















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3. Mythische Aufladung

beiden Bereichen wird als weiträumig beschrieben: „so lange Wege, daß es sehr weit war“ (Vs 1).24 Die Mythenwelt wird allerdings nicht anders als die Menschenwelt geschildert. Skadi und sein Knecht sind nicht übermenschlich, Odin ist kein Gott, sondern nur ein Name. Die Darstellung des Mythos ist minimalistisch und letztendlich so reduziert, dass es der Interpretation des Rezipienten überlassen bleibt, diesen aus den subtilen und impliziten Hinweisen herauszufiltern.25 Am Anfang des Völsungengeschlechtes steht eine Bluttat.26 Sigi erschlägt den Knecht Bredi, der ihn beim Jagen27 übertrifft und versteckt den Toten in einer Schneewehe.28 Das Übertreffen Sigis „vornehmeren Geschlechts“ (Vs 1)29 durch den 24 „sva langa leid, at storu bar“. 25 Jesse Byock übertitelt das erste Kapitel der Saga in seiner Übersetzung mit „Odin Guides Sigi from the Otherworld“ (Byock 1990, S. 35). Das ist keine Übersetzung einer vorliegenden Überschrift aus der Originalhandschrift, sondern eine Interpretation des Übersetzers, der damit das mythische Milieu des Einleitungskapitels wiedergeben will. 26 Zu Ursprungs-, Gründungs- und Anfangsmythen sagt Emil Angehrn: „Das Erste, das kann einerseits der konkrete Gründungsakt sein, der eine Institution ins Leben gerufen hat, das Schöpferwort, das die Welt aus der gestaltlosen Leere hervorgehen ließ. Es kann das heilige Urgeschehen sein – die heroische Tat, das göttliche Opfer, das kosmische Ereignis –, dessen Erinnerung und rituelle Wiederholung einer Gemeinschaft ihre Identität und Sicherheit verleiht; es kann das Vorbild sein, in dessen Nachahmung anderes seine Bestimmtheit findet, aber auch das ursprüngliche Verbrechen, die kosmische Katastrophe, der Sündenfall, deren Bewältigung der Geschichte auferlegt ist“ (Angehrn 1996, S. 100). Dazu Eliade: „Prototyp des Konstruktionsritus ist das Opfer, das bei der Weltschöpfung stattgefunden hat. Nach gewissen archaischen Kosmogonien hat die Welt nun tatsächlich ihr Leben erhalten durch die Opferung eines primordialen Ungeheuers […] oder die Opferung eines kosmischen Riesen“ (Eliade 1953, S. 35). An anderer Stelle nennt er als Beispiel die „Zerstückelung einer Urgottheit“ (Eliade 1961, S. 263). Die Völsunga saga beginnt mit der Beschreibung einer Gewalttat, die die Handlung initiiert. Auch wenn es sich nicht explizit um ein primordiales Verbrechen handelt, definiert die Tat doch die Völsungen als gewaltausübende Sippe. Die Aufarbeitung der Tat ist zwar kein Handlungselement der Saga, doch prägt die Episode die Stimmung der Erzählung nachhaltig. Zur Heimlichkeit der Tat und der Stigmatisierung der Sippe vgl. Grimstad 2000, S. 52–53. 27 Catharina Raudvere beschreibt das Jagen als „a noble occupation, defined by social hierarchy and rank“ (Raudvere 2007, S. 121). Sigi erweise sich dabei allerdings als „hardly noble in his reaction, but rather [as] a bad loser when it turns out that he is not the most successful hunter“ (Raudvere 2007, S. 121). 28 Besonders auffällige Schneewehen würden seitdem ‚Bredis Schneewehe‘ genannt. Es muss allerdings expliziert werden – und damit unterstütze ich Matthias Teicherts Beobachtungen zu Mythisierungsstrategien (vgl. Teichert 2008, S. 139) –, dass es dem Verfasser der Völsunga saga nicht darum geht, die Benennung von Schneewehen zu erklären, sondern einen Text zu imitieren, der die Benennung von Schneewehen erklärt. Es gelingt ihm einen aitiologischen Mythos in seine Erzählung einzuflechten. Erfolgreich ist die Strategie der Textkonzipierung, sobald kurze Zweifel an der Unechtheit der Aussage aufkommen. Selbstverständlich heißen solche Schneewehen nicht Bredis Schneewehe und dürften wohl auch im skandinavischen Mittelalter nicht so geheißen haben. Der Verfasser der Völsunga saga bringt den Rezipienten allerdings kurz dazu, sein Wissen zu hinterfragen. Im modernen Film taktiert das Horrorgenre des found footage-Films ähnlich. Der Inhalt des Films wird dabei insofern als wahre Begebenheit inszeniert, dass das gezeigte Material echt und unediert sei. Einen Regisseur gäbe es nicht, sondern nur einen Herausgeber. 29 „ęttsterri“.  























3.1 Odin

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bloßen „Knecht“ (Vs 1)30 bedeutet einen Bruch der sozialhierarchischen Ordnung der Textwelt. Sigi reagiert gemäß den Vorgaben seines Standes. Es ist an ihm, die Ordnungsstörung mit Gewalt ungeschehen zu machen.31 Das Eingangskapitel der Völsunga saga ist dabei eine Programmepisode für die ganze Erzählung. Ein Hauptmotiv der Saga ist die Inkongruenz von heroischer Kompetenz und tatsächlicher hierarchischer Stellung.32 Das sich wiederholende Motiv wird im ersten Kapitel bereits thematisiert und durchgespielt. Im Nibelungenlied wird Siegfried im Wald getötet. Seiner Ermordung geht eine Jagdepisode voraus, in der er nicht nur alle anderen an Jagdgeschick übertrifft („So trug er bei dieser Jagd vor allen anderen den Ruhm davon“, Nl 934,4),33 sondern auch den Rest der Jagdgesellschaft in „seiner unbekümmerten Ausgelassenheit“ (Nl 950,3)34 vorführt, indem er einen Bären im festlichen Jagdlager loslässt (vgl. Nl 947,1–962,4 sowie 958,1–959,4). Nun hat sich Siegfried zuvor selbst Gunther subordiniert, indem er sich im Zuge der Standeslüge als dessen „man“ (Nl 386,3) bezeichnet, dessen Vasall oder Knecht. Dies ähnelt der Eingangsepisode der Völsunga saga thematisch, wobei sich jedoch nicht nachweisen lässt, ob die Erschlagung des Knechtes, der dem Herren an Jagdgeschick überlegen ist, tatsächlich eine Verarbeitung der respektiven Stelle im Nibelungenlied ist oder nur den Motivkomplex der heroisch-hierarchischen Ordnungsstörung eröffnet. Auf jeden Fall trifft Raudveres Beobachtung zu, dass das erste Kapitel der Saga „stresses that social differentiation in the world of humans and heroes is primary and legiti-

30 „þrel“. 31 Siegfried Gutenbrunner, der sie als verarbeiteten und unverstandenen Mythos wahrnimmt, liefert mehrere mythologische Deutungen für die Episode. Er beschreibt den Wandel vom Naturmythos hin zur Abstammungsepisode der Völsungen, nicht ohne der Tradition der frühen Forschung gerecht zu werden, die Kunst- und Ahnungslosigkeit des Sagaverfassers hervorzuheben: „Als erste Stufe vermute ich eine Geschichte wie die von der Ehe des Njörd und der Skadi: der Mann mit Njörds Rolle führt den Namen Sigi ‚der Regen- und Samenspender‘ (altind. sēká- ‚Benetzung, männlicher Same‘), er hält es im Winterreich der Skadi, der Herrin der Tiere, nicht aus; Skadi schenkt ihre Gunst ihrem Jäger Breði ‚Schneewächte‘ und an diesem rächt Sigi den Treuebruch. […] Als zweite Stufe nehme ich die Einschrumpfung zu einer etymologisch-orientierten Jägersage an: Sigi ist nun der Tröpfler der Schneeschmelze; vom Tauwind angegriffene Schneeverwehungen liefern dem Jäger das Wild aus, da sie wie Fallen wirken (daher ist Bredi der glückliche Jäger); mit fortschreitender Schneeschmelze werden die Schneeschuhe des Jägers unbrauchbar und das Wild wird wieder bewegungsfähig (daher Sigi der weniger glückliche Jäger): also nicht Naturmythe, sondern Naturbeobachtungsgeschichte. […] Auf der dritten Stufe kam die Erzählung in die Hände von Männern der heroischen Überlieferung. […] Daß Sigi den beuteglücklicheren Knecht erschlägt, war nun gesteigertes, vielleicht spezifisch jugendliches Ehrgefühl […]. Zuletzt erscheint Sigi in der vierten Stufe der Vǫlsungasaga als Ahnherr von Sigmunds Geschlecht […]. Die Sagadarstellung zeigt eine verstümmelte Handlung und Einschrumpfung der Motive: sie ist eine magere outlaw-Geschichte“ (Gutenbrunner 1954, S. 399 f.). 32 Siehe 5.2. 33 „den lop er vor in allen an dem gejegde gewan.“ 34 „durch sînen hôhen muot“.  



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3. Mythische Aufladung

mate“35 und dass außerdem „social structure is manifested in human activities (noble pastime)“.36 Die Völsunga saga beginnt mit einer Erschlagung und den damit verbundenen Konsequenzen und endet auch auf diese Weise. Am Ende der Saga steht die Tötung Erps durch seine Halbbrüder Hamdir und Sörli und wiederum deren Erschlagung nach ihrer missglückten Rache an König Jörmunrek, die mit Hilfe des dritten Bruders durchgeführt hätte werden können (vgl. Vs 44). Der Tabubruch, der mit der Ermordung des Knechtes ‚an der Weihestätte‘ korrespondiert, liegt in der Beschmutzung der Steine, auf die Erps Blut fällt:37 „Darin hatten sie auch das Gebot ihrer Mutter außer acht gelassen, daß sie Steine beschädigt hatten“ (Vs 44).38 Die Folge dieses Regelbruches ist die Tötung durch Jörmunreks Männer auf Odins Ratschlag hin.39 Der Sagaautor rahmt seine Erzählung mit den beiden thematisch verwandten Episoden ein, indem er sie mit einer Bluttat beginnen und enden lässt, die beide Konsequenzen für die Ausführenden haben. Odin erscheint dabei als das Alpha und das Omega der Erzählung, zunächst noch hilfreich und unterstützend, letztlich aber verderbnisbringend, indem er den Untergang der beiden Brüder herbeiführt und die Saga somit beschließt. Zu Beginn der Saga wird die Figur niemals als Gott geschildert. Er fungiert als reiner Stammesahn. Nach dem Totschlag des Knechtes ist Odin seinem Sohn Sigi weiterhin gewogen.40 Er hilft ihm, das Land zu verlassen und die Unterstützung mit „Heerschiffen“ (Vs 1)41 und „Gefolge“ (Vs 1)42 sorgt dafür, dass Sigi sich durch Raubzüge eine neue Herrschaft außerhalb des Landes seines Vaters – außerhalb der primordialen mythischen Welt – aufbauen kann. Die Stigmatisierung durch Verbannung und durch den Beinamen bleibt kein permanenter Makel und Sigi wird ein „mächtiger, starker und tüchtiger König“ (Vs 1).43 Odin tritt als Helferfigur auf, die aber keine offensichtlichen göttlichen Züge trägt, sondern genauso gut als Vater oder Herrscher identifiziert werden könnte. Dennoch fällt es nicht schwer, sich unter der Figur den Gott vorzustellen. Auch wenn keines der üblichen Odinsattribute aufgeführt wird,  



35 Raudvere 2007, S. 122. 36 Raudvere 2007, S. 122. 37 Vgl. Herrmann 1923, S. 135 Anm.: „Sie hatten die Steine mit dem Blut ihres Bruders besudelt.“ 38 „I þvi hofþu þeir af brugdit bodi modur sinnar, er þeir hofþu grioti skatt.” 39 Vgl. Grimstad 2000, S. 55: „a demeaning method of execution normally reserved in the Icelandic sagas for such outcasts as witches and wizards.“ 40 Judy Quinn spricht von einer direkten Kongruenz von Sigis und Odins Wesenszügen. Beide seien „envious, murderous, conniving and dishonest“ (Quinn 2009, S. 129). Diese Züge seien allerdings der Götterfigur in der mythischen Welt dienlich, wohingegen sie Sigi als inadäquaten Herrscher und Helden brandmarken würden. Die heroische Qualität würde der Völsungensippe erst durch die Walküre Hljod eingegeben, die Völsung noch vor seiner Geburt sein Ehrengelübde ablegen lassen würde (vgl. Quinn 2009, S. 129). Die Völsungen seien also ein von extern aufgebautes Heroengeschlecht. 41 „herskipa“. 42 „lid“. 43 „rikr konungr ok mikill fyrir ser“.    









3.1 Odin

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passt es zum Portfolio des ambivalenten Schlachtengottes und Walvaters, seinen Schützling mit Kriegsmaterial auszustatten – an späterer Stelle vergibt Odin das Siegesschwert (vgl. Vs 3) – sowie einen Verbannten und Totschläger zu fördern. Doch ist dies die letzte Stelle, da Odin explizit als Stammvater der Völsungen erscheint. Alle anderen Auftritte stellen ihn als mythische Figur dar, die keine Verwandtschaftsbeziehungen zu den Sippenmitgliedern der Völsungen aufzeigt. Das Kapitel um Sigis Abstammung und Verbannung liest sich fast wie eine Episode aus einer Isländersaga. Ein Mann wird nach einem Totschlag verbannt und wird von seinem Vater mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet, das Land zu verlassen.44 Es wird zwar der Name Odins erwähnt, allerdings kein Quent Auskunft über die Natur der Figur gegeben. Von Göttlichkeit ist hier zunächst keine Spur. Wollen wir also die mythische Aufladung der Episode erfahren, müssen wir die oben genannten subtilen mythischen Indikatoren beachten: die zeitliche Entrückung, das Hörensagen, das die Erzählung aus der buchepischen Komposition heraushebt und die Färbung, die Odins Land durch Sigis Benennung als ‚vargr í véum‘ erhält. Wenn Catharina Raudvere also sagt, die Quintessenz des Anfangs der Völsunga saga sei, dass „in the old days the ancient gods walked on earth and acted in the world of humans to support their selected heroes – not primarily as distinctly divine agents, but as messengers from the beginning of the age of human history“,45 dann ist das insofern inkorrekt, dass die ‚ancient gods‘ gar nicht auf Anhieb als solche erkannt werden können. Odin unterstützt zwar seinen ‚selected hero‘, ist aber selbst so sparsam geschildert, dass er nur schwer als die herkömmliche Götterfigur identifiziert werden kann. Die Abstammung des Völsungengeschlechts vom Gott Odin bleibt für die Forschung eine Kontroverse.46 Jan de Vries misst der Völsunga saga denselben historischen Stellenwert für das mittelalterliche Publikum zu wie der Ynglinga saga.47 Er sagt: „Wie sich das für historische Sagen gebührt, geht die Ahnenreihe also bis in die Götterwelt zurück“.48 Hermann Schneider dagegen nimmt die besprochene Passage eher als unerwünschte Modifikation wahr. Er beobachtet: „Die Vorstellung von der Wichtigkeit des Götterglaubens oder Mythus für die Heldensage war aus indischen oder griechischen Verhältnissen erschlossen […] und wurde durch das spärliche Auftreten des Gottes Oðin in einzelnen nordischen Denkmälern befördert.“49 Auf Grund der Bindung anderer Heldensagenkreise an die mythische Götterwelt wurde geschlossen, dass auch der Gott Odin zum germanischen Heldenzyklus gehöre. Schneider sind die Erwähnungen des Gottes allerdings zu unzuverlässig, als dass diese Schlussfolgerung als zutreffend erachtet werden könnte. Er vertritt die Gruppe der Helden 





44 45 46 47 48 49

Vgl. z. B. Grettirs Verbannung in der Grettis saga, Gr 16. Raudvere 2007, S. 122. Zum Verhältnis von Heldensage und Mythos siehe 2.3.1. Vgl. de Vries 1999II, S. 464. de Vries 1999II, S. 467. Schneider 1962, S. 5.  









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3. Mythische Aufladung

und Mythenforscher, die die hochmittelalterliche Rezeption der Heldensage mit großer Skepsis hinsichtlich ihres mythischen Gehalts betrachten und die eventuellen Modifikationen des Materials als einen Angriff auf dessen Integrität auslegen: „Schließlich ist der ‚Heroenmythus‘ ein unklarer und unnötiger Hilfsbegriff. Große Helden und berühmte Dynastien stammen wohl auch für die Germanen von Göttern ab, aber sehr oft ist das eine spielerische Konstruktion später Zeit.“50 Dass der Gott Odin allerdings in irgendeinem Zusammenhang mit dem Völsungengeschlecht steht, kann nicht in Frage gestellt werden und ebenso wenig, dass der Sagaautor mit der Namensnennung des Gottes im ersten Kapitel der Völsunga saga mehr bezweckt hat als mythisches ‚name dropping‘. Ferner ist wohl auf Grund der Passage im Prolog der Snorra Edda auszuschließen, dass die göttliche Abstammung des Geschlechtes ausschließlich aus der Feder des Verfassers der Saga stammt und nur genealogische Zwecke verfolgt.

3.1.2 Fruchtbarkeit Wohingegen Odin am Anfang der Völsunga saga mehr als Ahnherr denn als Gott konstruiert wird, sind seine Auftritte in den übrigen Episoden der Völsungensage die einer Götterfigur. Eine Generation nach Sigi erweist sich die Ehe Rerirs als kinderlos, weswegen er und seine Frau um göttlichen Beistand bitten: „sie baten die Götter mit großer Inbrunst, daß sie Kinder bekämen. Das wird erzählt, daß Frigg ihre Bitte hörte, und Odin ebenfalls, um was sie baten“ (Vs 1).51 Odin schickt daraufhin eine Wunschmaid, die Rerir einen fruchtbarkeitsspendenden Apfel in den Schoß oder auf das Knie fallen lässt (vgl. Vs 1). Der Bereich des männlichen Knies oder Beines und des Schoßes ist ein Symbol der Prokreation, das durch die Berührung mit dem Apfel eine Segnung aus der mythischen Welt erfährt.52 Odin und die ihn umgebenden Figu-

50 Schneider 1962, S. 24. 51 „bidia þau godinn med miklum ahuga, at þau gęti ser barn. Þat er nu sagt, at Frigg heyrir bęn þeirra ok segir Odni, hvers þau bidia.“ 52 Der Vorgang des knésetja bedeutet „sich e[in] Kind aufs Knie setzen zum Zeichen, daß man es als Pflegekind annimmt“ (Baetke 2008, S. 331 f.). Vgl. auch Fritzner 1883–1896, s.v. ‚knésetja‘ und ‚knésetningr‘. In der Þiðreks saga setzt Mime sich den kleinen Jungsigurd auf den Schoß, als er ihn als Ziehsohn annimmt: „Trotzdem nahm Mime ihn zu sich, setzte ihn auf seinen Schoß und hüllte ihn in Kleider“; „en þo tecr mimir hann til sin oc sætr han akne ser. oc legr klæði yuir han“ (Þiðr 269). Die Haralds saga ins hárfagri der Heimskringla beschreibt, wie König Aethelstan die Pflegevaterschaft über einen Sohn König Haralds aufgedrängt wird, indem er ihn auf das Knie gesetzt bekommt: „Da nahm Hauk den Knaben Hakon und setzte ihn König Äthelstan aufs Knie. Der König sah auf den Knaben und frug Hauk, was das bedeuten solle. Hauk erwiderte: ‚König Harald bittet dich, diesen seinen Sohn von einer Dienstmagd aufzuziehen‘“; „Þá tók Haukr sveininn Hákon ok setr á kné Aðalsteini konungi. Konungr sér á sveininn ok spyrr Hauk, hví hann ferr svá. Haukr svarar: ‚Haraldr konungr bað þik fóstra honum ambáttar-barn‘“ (Hkr Haraldz saga ins hárfagra 39). Die griechische Mythologie kennt ferner eine Szene, in der das männ 





3.1 Odin

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ren tauchen als Spender der Fruchtbarkeit für die Sippe der Völsungen auf und gewährleisten ihren Fortbestand,53 wodurch die mythische Aufladung der Sippe intensiviert wird. Odins Rolle als Ahnherr wird dabei allerdings nicht mehr hervorgehoben. Die von Rerir angerufenen Götter wirken anonym und entbehren einen Bezug zum Heldengeschlecht. Odin der Gott sowie Odin der Ahnherr erscheinen als zwei komplett unterschiedliche Figuren. Neben Odin taucht die Göttin Frigg auf, die allerdings nicht als Ahnenmutter der Sippe dargestellt wird, sondern – auf Grund der Tatsache, dass sie die Bitte zuerst hört – als Fruchtbarkeits-, Ehe- und Herdgöttin. Übermittler der göttlichen Hilfe ist eine weitere Figur aus der Mythenwelt, nämlich eine „Wunschmaid, die Tochter des Riesen Hrimnir“ (Vs 1),54 unter der man sich eine Walküre vorstellen kann, die positiv auf den Bestand des Völsungengeschlechts einwirkt.55 Eben jene Wunschmaid tritt eine Generation später abermals auf den Plan: Als Völsung, der aus der durch den Apfel fruchtbar gemachten Ehe hervorgeht, „zum Mannesalter herangereift war, sandte ihm Hrimnir seine Tochter Hljod, die vorhin erwähnt ist […]; er nahm sie zur Frau“ (Vs 2).56 Die mythische Figur, die zur Geburt  



liche Bein als Gegenstand der Prokreation auftritt, nämlich bei der Geburt Dionysos’ aus Zeus’ Schenkel (vgl. Fauth 1967, Sp. 78; vgl. de Vries 1961, S. 284). Vgl. ferner und zum sprachlichen Zusammenhang zwischen dem Knie und der Zeugung oder dem Vorgang ein Kind anzunehmen/anzuerkennen Schuster 1956–1958, S. 100–107. 53 Vgl. Quinn 2009, S. 123: „The attention of the saga to the first stages of the dynasty brings into focus the critical transition from divine progeny to socialised patriarch – from myths of the god to social reality – and the intervention of the semi-divine valkyrie is one of the mechanisms used to effect the transition.“ 54 „oskmey […], dottur Hrimnis iotuns“. 55 Zur Identifizierung Hljods als Walküre vgl. Egeler 2011, S. 67. Die Namen der beiden Figuren, Hrimnir und Hljod, seiner Tochter, sind nicht weiterführend. „Hrímnir [H.i.O] (altnord., ‚der Bereifte‘ oder ‚der Berußte‘) ist der Name eines Riesen, der sowohl in der Skaldendichtung wie in den Eddaliedern […] genannt wird, ohne daß sich eine besondere Stellung im Mythus abzeichnet. Im Hdl werden seine Kinder genannt“ (Simek 2006, S. 202). Der Name Hljod ist nicht darunter. Für ‚Hljóð‘ ließe sich die Übersetzung „Laut, Ton, Klang“ (Baetke 2008, S. 260) anwenden, was an sich für einen Walkürennamen passen würde, indem der Name die Geräusche einer Schlacht meint. Walkürennamen „stellen zumeist Personifikationen des Kampfes und seiner Begleiterscheinungen dar“ (Zimmermann 2007, S. 597); vgl. umfassend zu Walkürennamen Egeler 2011, S. 60–63. Endlich stabt Hrimnir auf Hljod, was aber im Prosatext eine untergeordnete Rolle spielt. Matthias Teichert sieht in der Figur ein Anzeichen einer späten Mythologisierung: „Wie von der germanisch-nordischen Vorzeit im allgemeinen hat der Verfasser der Vǫlsunga saga offenkundig auch von der nordischen Mythologie im besonderen nur unklare Vorstellungen […]. Einigermaßen befremdlich wirkt z. B., daß Óðins ‚óskmey‘, also wohl eine Walküre, als Tochter des Riesen Hrímnir vorgestellt wird, obwohl die altnordische Mythographie die Riesen sonst nur als Erzfeinde der Asen kennt. […] Eine eheliche Verbindung zwischen einem Menschen (Heros) und einer Riesentochter kennt die ‚klassische‘ nordische Mythologie nicht“ (Teichert 2008, S. 141). 56 „var alroskinn at alldri, þa sendir Hrimnir honum Liod, dottur sina, er fyr er getid […]. Nu gengr hann at eiga hana“.  

























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3. Mythische Aufladung

Völsungs beigetragen hat, vermählt sich nun auch mit diesem, wodurch sie gleich in doppelter Weise zur Weiterführung der Sippe beiträgt, einmal als Bringerin der Fruchtbarkeit, ein zweites Mal als fruchtbare Vertreterin des Geschlechtes selbst.57 Nicht nur die Abstammung von Odin verknüpft also die Völsungen mit der mythischen Welt, sondern auch die geschlechtliche Verbindung mit einem Mitglied derselben.58 Die Sippe wird gerade in ihren Anfängen als völlig durchwirkt von mythischen Einflüssen gezeichnet.59 In jeder Generation wird das Völsungengeschlecht vom Mythischen unterstützt: Der Sohn wird sicher außer Landes gebracht, wo seine Herrschaft durch Odins Hilfe garantiert wird, die Ehe des Enkels wird durch den Apfel fruchtbar gemacht, der daraus entstehende Sohn wird sogleich direkt mit der Wunschmaid verheiratet,60 sodass der mythische Anteil des Völsungengeschlechtes konstant aufgefrischt und angereichert wird. Namensgebend für die Sippe ist nicht etwa Sigi, sondern Völsung, der Repräsentant des Geschlechtes in dritter Generation. Sein Name ist ein Patronymicon: Er ist der Nachkomme des Völsi.61 Jan de Vries schreibt zur Abstammung der Völsungen: Die Vǫlsungen sind ihrem Ursprung nach eine Genossenschaft, wie die Ylfinge oder die Hjaðningar; aber der Urahn war in diesem Falle Vǫlsi, also der kultisch verehrte Phallos […]. Der Apfel aus dem Vǫlsungr geboren wurde […], der barnstokkr in seiner Halle […], das Motiv des Werwolfs-

57 Vgl. Byock 1990, S. 9: „The implied incestuousness of this marriage is echoed later in the saga by the sexual union of Volsung’s twin children, Sigmund and Signy.“ 58 Vgl. Schulz 2004, S. 261: „Die Herleitung herrschender Familien von namhaften Vorfahren spielt eine herausragende Rolle in der mittelalterlichen Dichtung und ist ein Kernanliegen der altnordischen Literatur seit der frühen Skaldik“. Die Völsungen stammen nicht nur durch Odin von den Asen ab, sondern bringen durch die Verbindung mit Hljod – einer Wunschmaid – auch das genetische Material von Riesen in ihren Stammbaum (vgl. Schulz 2004, S. 262). 59 Judy Quinn schildert die Sippe der Völsungen als „The Realisation of Mythological Design“ in ihrem gleichnamigen Aufsatz (Quinn 2009, S. 123–142). Völsung nennt sie ein „designer-baby“ (Quinn 2009, S. 131), das mit Hilfe mythischer Mächte im Rahmen einer „strange conception“ (Quinn 2009, S. 131) empfangen wird. 60 Die Heldensage neigt dazu, die Mütter und Ehefrauen der Protagonisten zu mythischen oder anderweltlichen Figuren zu machen. Mircea Eliade führt als Beispiel die Figur des Marko Krajlevic aus der jugoslawischen Heldendichtung an: „[S]eine Lebensgeschichte wurde nach mythischen Normen aufgerichtet. Seine Mutter ist jetzt eine Vila, eine Fee, ganz wie die griechischen Helden zur Mutter eine Nymphe oder Najade hatten. Auch seine Frau ist eine Vila“ (Eliade 1953, S. 64). 61 Vgl. Cleasby/Vigfússon 2006, S. 721: „Vǫlsi, […] the name of a heathen phallus-idol“. Vgl. Heizmann 2006, S. 538: „Ungeklärt ist das Verhältnis zu Völsungr, dem Stammvater des Völsungengeschlechts und Abkömmling von Wotan-Odin […]. Das hier fälschlicherweise als Eigenname verwendete Patronymikon mit dem Suffix ‑ungr führt auf einen Völsi, der in der altenglischen Überlieferung des Beowulf […] als Wæls, Vater des Sigemund, belegt ist. Der Name des Stammvaters würde damit auf dessen Zeugungspotenzen verweisen.“ Vgl. Byock 1990, S. 9: „Volsung has an additional connection with fertility cults: his name corresponds to an Old Norse fertility god called Volsi, whom Norwegian peasants represented as a deified horse phallus in The Tale of Volsi. This short Christian satire on pagan beliefs probably contains elements of actual pagan ritual.“  























3.1 Odin

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lebens und die Blutschande, das sind alles Elemente, die nur in einem Fruchtbarkeitskult ihre endgültige Erklärung finden dürften.62

Weiterhin Otto Höfler: Der Name Vǫlsungar „ist von *Vǫlsi abgeleitet (vgl. ags. Wælse), und das Wort ist lautlich identisch mit an. vǫlsi ‚Phallos‘. Eine kultische Rolle spielte ein solcher nach dem Ausweis der bekannten Vǫlsi-Strophen. Phallische Kulte sind bei den Germanen auch sonst mit Sicherheit nachweisbar.“63 Der Begriff ‚vǫlsi‘ selbst ist „als Name eines heidnischen Phallusidols überliefert und bedeutet vermutlich ‚potens‘ scil. ‚membrum‘ im Sinne der zeugenden Kraft“.64 Rudolf Much vergegenwärtigt außerdem: „Und dass zumal der Name Vǫlsungr eigentlich keine selbständige Person bezeichnet,65 sondern Beiname des Sigmundr ist, geht ja anerkannterweise schon aus Beow. v. 877. 897 hervor, wo Sigemund Wælses eafera und Wælsing genannt wird.“66 Die Völsungen tragen ihre mythisch-kultische Aufladung im Namen. Der Fruchtbarkeitsaspekt wird dabei aber von außen auf die Völsungen appliziert, die ja per se nicht durch herausragende Fruchtbarkeit überzeugen.67 Vielmehr ist es so, dass diese durch Helferfiguren und Hilfeepisoden zum Teil des Geschlechtes gemacht wird, denn eigentlich sind die Völsungen eine verhinderte Sippe. Im Jagen werden sie übertroffen und ihre Ehen bleiben kinderlos. Sie versagen also genau in den Bereichen, die mit Fruchtbarkeit assoziiert werden. Ihre Potenz scheint nur auf den kriegerischen und gewalttätigen Bereich konzentriert.68 Diese Falschver 

62 de Vries 1956, S. 455. 63 Höfler 1934, S. 212. 64 Much 1898, S. 276. 65 Zum Begriff der Nibelungen vgl. Müller 1998, S. 337–343, bes. S. 339. 66 Much 1898, S. 275. Much beobachtet, dass sich mythische Motive auf die ersten Generationen der Völsungen verteilt hätten, wobei die Vertreter des Geschlechtes nicht unbedingt unterschiedliche Personen sein müssten, sondern allesamt Freyhypostasen wären. In einer ursprünglichen Sage wären die Charakteristika und Motive der Völsung-, Sigmund- und Sigurdgestalten in einer einzigen Figur vereint gewesen (vgl. Much 1898, S. 274 ff.). Eine Reminiszenz auf die Nähe zum Gott Frey ist vielleicht Regins ansonsten unklare Umschreibung für Sigurd in den Reginsmál: „Yngwis Sohn“; „Yngva konr“ (Rm. 14). 67 Vgl. Finch 1965, S. xxxvf.: „There are, in fact, definite traces of a fertitlity cult in the Volsung-Sigmund material, e.g. the apple sent to Rerir, the tree in Volsung’s hall, the incest motif, the werewolf episode […]. Volsi was probably a lesser deity closely associated with Odin in his fertility aspect, or else a hypostasis of that god. That Odin should appear instead of Volsi in VS as founder of the Volsung line is thus understandable – less understandable is the appearance of Volsung as Odin’s great-grandson. The name Volsung is a patronymic, as is Wælsing in Beowulf, but Wælsing, i.e. son of Wæls (Volsi), is Sigmund himself. It would thus seem that the Sigi and Rerir of VS are later interlopers and that Volsi-Odin’s son was originally Sigmund“. 68 Vgl. Straubhaar 2012, S. 105: „the Vǫlsungar […], presumably bursting with male potency and prowess if any clue is to be taken from their ancestral name“. Doch der Name erweist sich als ironisch. Sie sind eben zunächst nicht potent im Sinne von Fruchtbarkeit. Ihre Kraft beschränkt sich auf Grausamkeit und Kriegertum.  



















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3. Mythische Aufladung

teilung wird durch mythische Einflüsse – den Gott Odin, die Wunschmaid – korrigiert. Letztlich scheint die Sippe der Völsungen als ein Geschlecht von Mördern und Geächteten, das von den Repräsentanten der mythischen Sphäre zur Fruchtbarkeit erhoben wurde.69 An gewalttätiger Kapazität überbordend, ist das Geschlecht der Völsungen in Hinsicht auf sonstige Kompetenzen hilfebedürftig. Die Geburt Helgis ist von einer mythischen Aura umgeben. In der Völsunga saga heißt es: „Und als Helgi geboren war, kamen Nornen dazu, weissagten ihm sein Schicksal und sagten, er sollte der berühmteste aller Könige werden“ (Vs 8).70 Bei seiner Namensgebung ist eine Lauchgabe involviert („Sigmund […] ging mit einem Lauch seinem Sohne entgegen“, Vs 8)71 und es wurde spekuliert, ob der Name Helgi selbst nicht nur einen Hinweis für die heilige Natur der Figur sei.72 Über die zeitliche und mythische Entrückung, die die Episode in der Helgakviða Hundingsbana erfährt, haben wir schon gesprochen73 („Urzeit war es, als Adler schrien, | heilige Wasser strömten von den Himmelsbergen“,74 HH. 1).75 Die nächsten Strophen des Liedes beschreiben, wie die Nornen nachts das Schicksal des Helgi bestimmen und die Schicksalsfäden weben (vgl. HH. 2–5) und wie sein Vater Sigmund ihn mit Lauch, Ländereien und einem Schwert beschenkt (vgl. HH. 7–8). Die Namen der Orte, über die Helgi die Herrschaft erhält, „Solfjöll, Snäfjöll und Sigarswellir, | Hringstöd, Hatun und Himinwangar“,76 „bedeuten: Sonnengebirge, Schneegebirge, Sigarsfelder und Himmelsfelder. Sämtliche Namen können nicht sicher mit bestimmten geographischen  



69 Catharina Raudvere beschreibt den Aspekt der „extreme fertility“ (Raudvere 2007, S. 125) als eines der Hauptthemen der frühen Kapitel der Völsunga saga. Daneben steht „the hero as being chosen, with an aristocratic life in noble battle, and a life beyond death in the company of Óðinn” (Raudvere 2007, S. 125). 70 „Ok er Helgi var fędr, komu til nornir ok veittu honum formala ok męlltu, at hann skyllde verda allra konunga fręgaztr.“ 71 „Sigmundr […] geck med einum lauk i mot syni sinum“. 72 Vgl. Höfler 1952(a), S. 11: „Der Mann […] war […] ein Edler, ein Geweihter und ein Held. Sein Name ist im Ursprung sakral.“ Vgl. Höfler 1952(a), S. 17: „Könnte auch Helgi ursprünglich ein Kultname gewesen sein […]? Ursprünglich hatte der Name Helgi zweifellos sakralen Sinn und hat einen Geweihten, Geheiligten bezeichnet.“ Vgl. de Vries 1999I, S. 303: „Helgi. Dieser Name bedeutet ‚der Geweihte‘, und das dürfte wohl darauf hinweisen, daß wir in ihm keine geschichtliche Persönlichkeit erblicken dürfen, sondern daß er vielmehr eine mythische Gestalt ist.“ Vgl. auch Harris 1983, S. 214. 73 Siehe 2.1.3. 74 Den Anfang des Liedes deutet Klaus Böldl als Zeichen der Unauthentizität des Mythos in der Heldensage: „so ist das mythische Gepräge der Heldensage doch zu einem Teil das Werk mittelalterlicher Autoren. Deutlich wird dies an den Helgiliedern, die die heroische Abteilung der Liederedda eröffnen. Schon der erste Halbvers des Ersten Helgiliedes […] ist ein Zitat aus der Vǫluspá“ (Böldl 2013, S. 86). Das Argument scheint mir ungenügend, da zwar eine Formulierung entlehnt wurde, dies allerdings aber noch keinen Aufschluss über die Hintergründe des Verfassers gibt, Helgis Geburt mit einer mythischen oder anderweltlichen Atmosphäre zu versehen. 75 „Ár var alda, þat er arar gullo, | hnigo heilog vǫtn af Himinfiollom“. 76 „Sólfiǫll, Snæfiǫll oc Sigarsvǫllo, | Hringstǫð, Hátún oc Himinvanga“.  













3.1 Odin

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Lokalitäten verbunden werden und dürften sagenhafte Fabelnamen sein.“77 Der meteorologisch-kosmische Kontext dieser Namen – Sonne, Schnee, Himmel – kann auf einen mythisch-kultischen Hintergrund der Helgifigur hinweisen, der auf Grund der Natur, die Otto Höfler der Figur attestiert, wiederum in Bezug mit dem Aspekt der Fruchtbarkeit gebracht werden kann.78 Die Völsunga saga berichtet von Helgis Vermählung mit Sigrun, die letztlich als Teil einer „große[n] Schar von Schildjungfrauen“ (Vs 9)79 auftaucht, wobei der ‚skialldmeyia flock‘ als Schar von Walküren gelesen werden kann.80 Expliziter wird Sigrun als solche in ihren spektakulären Auftritten in der Helgakviða Hundingsbana inszeniert (vgl. HH. 15–17, 54). Wie es zwei Generationen zuvor bei Völsung der Fall war, hat auch Helgi eine Walküre zur Frau. Nun wird mangelnde Fruchtbarkeit bei Helgi nicht thematisiert. Vielmehr ist es so, dass die Figur so mythisch aufgeladen ist, dass sie auch eine Vertreterin der mythischen Welt als Ehepartner anzieht.  



3.1.3 Prekärer Helfer Als auf den ersten Blick unproblematische Helferfigur tritt Odin in der Jungsigurderzählung auf. Da Sigurd seinen Ziehvater Hjalprek um ein Pferd bittet, entscheidet dieser, Sigurd möge sich selbst eines aus seinem Besitz aussuchen. Dabei begegnet Sigurd „einem alten Manne mit langem Barte, der war ihm unbekannt“ (Vs 13),81 von dem weiterhin gesagt wird: „Es war aber Odin, der zu ihm gekommen war“ (Vs 13).82 Sigurd bittet den Alten um Ratschlag, wie er sich sein Pferd erwählen solle, worauf Odin antwortet, die Rösser seien in den Fluss zu treiben. Das eine, welches nicht zurück an Land schwimmt, erwählt sich Sigurd und Odin erzählt ihm, dass dieser herausragende Hengst von Sleipnir abstamme. Sigurd nennt ihn Grani (vgl. Vs 13). Eines der Hilfsmittel, die Sigurd als Heros konstituieren, ist sein Pferd, das ihm aus der mythischen Welt zur Verfügung gestellt wird. Doch Grani hat sich davor offensichtlich bereits unerkannt in Hjalpreks Gestüt aufgehalten. Durch die Prüfung wurde er nicht verliehen, sondern nur sichtbar gemacht. Die Kompetenz, das anderweltliche Geschöpf zu identifizieren, ist nicht Sigurd zueigen, sondern kommt vom Ratschlag des unbekannten Alten. Sigurd zeichnet sich allerdings dadurch aus, den weisen Ratgeber zu erkennen, indem er ihn umgehend um Rat bittet: „Ein Roß will ich wählen,

77 Krause 2004, S. 250 Anm. 78 Vgl. Höfler 1952(a), S. 1–67. Höfler bezeichnet Helgi als einen „Vegetations-‚König[…]‘“ (Höfler 1952 (a), S. 43). 79 „skialldmeyia flock mikinn“. 80 Wie z. B. bei Grimstad 2000, S. 111. 81 „einum gaumlum manne med sidu skegge. Sa var honum ukunnigr.“ 82 „Oþinn hafde hann hittan.“  









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3. Mythische Aufladung

gib mir guten Rat dazu“ (Vs 13).83 Diese Eigenschaft beweist Sigurd auch an anderer Stelle.84 Nicht namentlich erwähnt wird Odin bei der Schmiedung des Schwertes Gram (vgl. Vs 13). Sigurd fordert ein Schwert von Regin, das herausragend genug ist, damit er mit ihm große Taten vollbringen kann, etwa die Erschlagung Fafnirs (vgl. Vs 18). Nachdem zwei von Regin erstellte Schwerter nicht potent genug sind und am Amboss zerbrechen, erhält Sigurd von seiner Mutter die Stücke von Odins Siegesschwert, welches dieser dem Sigmund auf dem Schlachtfeld an seinem Speer zerbrochen hat. Aus diesen Stücken schmiedet Regin ein Schwert, das nicht nur den Amboss zerschlagen, sondern auch eine im Fluss treibende Wollflocke zerschneiden kann (vgl. Vs 13 bzw. Rm. Prosa vor 15). Die ursprüngliche Erwerbung des Schwertes durch die Völsungen war stark an die Figur Odins gebunden. Er trat selbst auf und wählte durch das Schwert den herausragendsten Mann der Völsungensippe aus, dem dann auch das Schwert gehören sollte (vgl. Vs 3). Hier bezieht sich die Neuschmiedung des Schwertes auf das Antreten des Erbes Sigmunds, des leiblichen Vaters Sigurds, und nicht darauf, einen Bund mit Odin einzugehen. Die Stelle der Schwertschmiedung läuft märchenhaft ab: Die Dreizahl wird erfüllt, indem erst das dritte Schwert, welches tatsächlich aus den Stücken des ursprünglichen Siegesschwertes gemacht wurde, seine Prüfung besteht.85 Denselben Vorgang finden wir in der Þiðreks saga, in einer Episode von Welent, dem Schmied, als dieser das Wunderschwert Mimung anfertigt. Er potenziert die Qualität des Schwertes noch, indem er es zerraspelt und den Schwertstaub Vögeln zu fressen gibt, aus deren Exkrementen er wiederum ein noch besseres Schwert fertigt. Diesen Vorgang wiederholt Welent ein weiteres Mal, bis er das perfekte Schwert Mimung geschmiedet hat (vgl. Þiðr 103–107). Im Zentrum beider Episoden der Völsunga saga steht das herausragende Schwert und nicht sein Ursprung. Vergleicht man also den ursprünglichen Erwerb des Schwertes durch das Aus-demHolz-Ziehen und die Schmiedung des Schwertes, dann findet man zwei unterschiedli-

83 „Hest skylldum ver kiosa. Rad um med oss.“ 84 Siehe 4.2.1–4.2.4. 85 Dabei ist die Dreizahl nicht nur ein klassisches Märchenmotiv, sondern auch die kleinstmögliche Zahl um ein Muster zu etablieren. Vgl. Aguirre 2002, S. 6 f.: „The technique of spacing out the forging of the sword into a threefold event does several things: a) The division of the operation into three episodes lengthens it, thereby emphasising the difficulty of the task; b) The recurring operation sets up a rhythm in the tale of Sigurd’s sword; c) Delaying success creates a modicum of tension; d) This tension in turn leads to an enhancing of the quality of the final weapon when it is at last forged; e) The initial failures stress the intended owner’s strength; f) The final success also emphasises the worth of the man who can wield and be content with only such a weapon; g) Simultaneously, Regin’s merit as a swordsmith is lessened: it is the sword itself, not Regin’s craft that counts. […] Regin is to be disposed of as a traitor shortly after the killing of Fafnir, hence his excellence must not be such as to make him too attractive to us now. […] It is also important […] that Sigurd’s weapon be inherited rather than created for him entirely anew. […] The sword is not praised by the narrator: its quality is conveyed to us, and its importance highlighted, by the triple forging rather than commentary.“  



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3.1 Odin

che Erzählmuster. Die erste Episode geht vom idealen Schwert aus, das seinen Träger erst noch finden muss. Als Sigmund es zu ziehen vermag, ist es der Beweis für seine Idoneität. Allerdings zieht er es erst, nachdem einige andere Kontrahenten daran versagt haben, was sein Heldentum im Vergleich mit den anderen Figuren der Szene noch weiter kontrastiert. Die Perspektive der zweiten Variante geht vom idealen Helden aus, der nun noch das passende Schwert braucht. Indem er nun das Schwert Odins erhält, geschieht zweierlei. Einmal wird das Siegesschwert, nun Gram, zum besten Schwert erklärt. Auf der anderen Seite wird Sigurd – quasi tautologisch – durch ein reziprokes Verhältnis zum Schwert und damit zur mythischen Welt Odins zum idealen Helden deklariert. Auch diese Erzählung braucht, gleich jenen, die vergeblich versuchten, das Siegesschwert aus dem Holz zu ziehen, einige Fehlversuche, um wirksam zu werden. Ein weiteres Mal begegnet Odin Sigurd, als der ins Land der Hundingssöhne übersetzt und mit seinem Drachenschiff in einen schweren Sturm gerät (vgl. Vs 17, Rm. Prosa vor 16). Anstatt Vorsicht walten zu lassen und die Segel einzuholen, segelt Sigurd noch kühner durch das Unwetter. Auf einem Vorgebirge über dem Meer steht ein Mann, der das vorüberfahrende Schiff anruft. Als er erfährt, dass Sigurd der Herr des Schiffes sei, rühmt der Unbekannte diesen („Alle sagen einstimmig von ihm, daß keine Königssöhne mit ihm verglichen werden können“, Vs 17)86 und bittet auf dem Schiff aufgenommen zu werden. In einer Strophe stellt er sich als „Hnikar, […] Feng oder Fjölnir“ (Vs 17)87 vor, was allesamt Odinsnamen sind.88 Als der Alte aufgenommen wird, legt sich das Unwetter sofort und die Fahrt ins Land der Hundingssöhne wird fortgesetzt. An Land verschwindet Hnikar und Sigurd geht an sein kriegerisches Werk der Vaterrache. Die Aufnahme Odins und das Nachlassen des Sturmes werden in direkten Zusammenhang gestellt, womit seine hilfreiche Natur gegenüber dem Völsungen Sigurd expliziert wird: „Sie […] nahmen den Alten auf in ihr Schiff. Da legte sich das Unwetter“ (Vs 17).89 Ebenso steht Sigurds wagemutiges Verhalten – er hisst die Segel höher, anstatt sie einzuholen90 – im direkten Kontext zum Erscheinen des Alten und seiner Lobrede auf Sigurd. Der heroische Übermut ruft den Schlachtengott  







86 „Allir segia þar eitt fra honum, at eigi megi konungasynir iafnazt vid hann“. 87 „Hnikar […] Feng eda Fiolne“. 88 Vgl. Falk 1924, S. 8, 9, 18. 89 „Þeir […] toku karl a skip sin. Þa tok af vedrit“. 90 Sigurds Handeln ist hier selbstzerstörerisch. Das kontrastiert das sonstige Verhalten des Helden in anderen Episoden der Völsungensage, in denen er überlegt und zurückhaltend auftritt, sodass ihm sogar Zaghaftigkeit vorgeworfen wird (siehe 4.1.5 bis 4.1.6). Die hier untersuchte Passage allerdings erfüllt einen heroischen Topos, der motivgleich auch in der Helgierzählung vorkommt. Als Helgi Sigrun von ihrem Verlobten Hödbrodd erobern will, gerät er bei seiner Heerfahrt in einen Sturm. Sein Vorgehen wird dem Sigurds als nahezu identisch geschildert: „Da überfiel sie ein großer Sturm und eine so hohe See, daß es sich gerade so anhörte, wenn die Wellen an Bord schlugen, als ob die Berge zusammengeschlagen würden. Helgi hieß sie sich nicht fürchten und die Segel nicht reffen, sondern vielmehr sie noch höher hinaufsetzen als vorher“; „Nu giordi at þeim storm mikinn ok sva storan séo, at þvi var likazt at heyra,  

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auf den Plan. Dass dieser die blutigen Taten ermöglicht, die auf Sigurds Seereise folgen, deckt sich mit den vorangegangenen Beobachtungen. Diese Manifestation heroisch übermütigen Verhaltens Sigurds in Form eines todesverachtenden Setzens der Segel finden wir dagegen nicht in den Reginsmál. Die Funktion Hnikars/Odins ist hier eine andere: Es geht weniger darum, Sigurd als wagemutigen Helden zu inszenieren, denn als Wissenssucher. Nach der Aufnahme des Gottes auf das Schiff erfolgt ein mehrstrophiger Dialog von Wissensdichtung (vgl. Rm. 19–25). Über den Sturm sagt Regin jedoch: „uns ist Fahrtwind gegeben für den Tod“ (Rm. 17).91 Das selbstzerstörerische Element ist Teil des Heldendaseins.92 Odins Rolle als Helferfigur belegt dabei Arnulf Krause mit dem Nachlassen des Unwetters: „Die Beruhigung des Sturms zeigt, dass Hnikarr-Odin Sigurd schützt.“93 Jedoch ist diese Hilfe nichts, was der Held für sich verlangt hätte. Seine Natur manifestiert sich darin, mit gesetzten Segeln durch den Sturm zu fahren. Im Nornagests þáttr erhält die Figur des Hnikar deutlichere Odinsattribute: „er trug einen grünen Mantel und blaue Hose, hatte die Schuh hoch an den Füßen hinaufgeschnürt und hielt einen Speer in der Hand“ (Norn 351.94 Die Wissensstrophen sind nahezu identisch mit denen in den Reginsmál, doch gibt es eine signifikante Abweichung in der Prosaeinleitung zu den Strophen. Hier ist es nicht Sigurd, der das Wissen erfragt, sondern es ist die Figur Hnikars, die es anbietet: Hnikar „fragte, ob Sigurd irgend einen Rat von ihm annehmen wolle. Sigurd bejahte es und fügte hinzu, daß der Alte für Männer tüchtig im Rat sein könne, wenn er Gewinn stiften wollte“ (Norn 351).95 Die darauffolgende Strophe identifiziert allerdings wieder Sigurd als den Initiator des Unterweisungsdialoges: „Künd mir das, Hnikar“ (Norn 351).96 Der þáttr konzipiert Sigurd im Gegensatz zu den Heldenliedern und der Völsunga saga nicht als Figur, die Unterweisung sucht, sondern an die Unterweisung herangetragen wird.97 Das Unwetter wird hier als von den Hundingssöhnen heraufbeschworen geschildert („Ein großes durch Zauberei erregtes Unwetter, das viele den Hundingssöhnen zuschrieben“, Norn 351),98 das sofort durch die Aufnahme Hnikars unterbun-

er bylgiur gnudu a bordunum, sem þa er biorgum lysti saman. Helgi bad þa ecki ottaz ok eigi svipta seglunum, helldr setia hvert hęra enn adr“ (Vs 9). 91 „er oss byrr gefinn við bana siálfan“. 92 Siehe 7.2.1. Vgl. Kuhn 1977, S. 147: „Es sind Worte eines unerhört kühnen und stolzen Todestrotzes, wie man sie selten hört. […] Beides [Sigurds und Helgis Verhalten] atmet den Geist einer Hybris, die an Selbstvernichtung grenzt“. Dies ende allerdings mit dem „Versagen der eigenen Kraft und dem ruhmlosen Tod [der] Helden“ (Kuhn 1977, S. 163). 93 Krause 2004, S. 323 Anm. 94 „hann uar j heklu grænni ok blam brokum ok knefta sko a fotum upphafua ok spiot i hende.“ 95 „hann spurde ef Sigurdr uillde nokkut rad af honum þiggja. Sigurdr kuetzst uilia. sagdizst þat (ætla) at hann munde uerda raddriugr ef hann uillde monnum gagnn gera.“ 96 „Segþu mer þat Hnikarr.“ 97 Siehe 4.2.4. 98 „giorningauedr stor ok kendu þat margir Hundings sonum.“  





3.1 Odin

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den wird („da flaute sogleich der Sturm ab, und es wehte der beste Fahrwind“, Norn 351).99 Durch die Unterstützung des schützenden Gottes entgeht Sigurds Mannschaft dem tödlichen Unwetter. Odin schenkt seine Gunst dem Vertreter der Völsungensippe. Zu keinem Moment in der Völsungenerzählung wird darauf zurückverwiesen, dass Odin direkt für den Tod von Sigurds Vater Sigmund verantwortlich ist, indem er diesem das Schlachtenglück entzogen und dessen Schwert hatte zerspringen lassen (vgl. Vs 11). Der Gott fördert nun die Vaterrache für jenen Mann, den er selbst zu fallen auserkoren hatte. Und auch Sigurd hegt keinen Groll gegen den Gott. Ihm reicht es, die Hundingssöhne für das Getane zu bestrafen. Die Episoden von Helgis und Sigurds Seefahrt sowie von Sigmunds und Sigurds Schlacht bedienen sich zwar derselben literarischen Bilder – das Nichtreffen der Segel, Arme blutig bis zur Achsel –,100 entbehren aber einer ansonsten logischen Kausalität. Die Kohärenz ist motivisch, aber nicht inhaltlich.101 Odin erscheint Sigurd ein letztes Mal, als dieser Fafnir gegenübertritt (vgl. Vs 18). Sigurd erhielt von Regin den Rat, dem Drachen nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, sondern eine Grube zu graben, von der aus Fafnir dann von unten erstochen werden könnte. Auf die Frage, wie Sigurd dem Blut des Drachen entgehen solle, wird ihm nur Feigheit vorgeworfen, aber kein Rat erteilt. Die Lösung liefert „ein alter Mann mit langem Barte“ (Vs 18),102 Odin, der sagt: „Das ist unrätlich; mach mehrere Gruben und laß da hinein das Blut rinnen, du aber setz dich dort hinein und stoß dem Wurm das Schwert ins Herz“ (Vs 18).103 Er verschwindet und es gelingt Sigurd, Fafnir auf die angewiesene Weise zu töten. Odins Rolle ist die des hilfreichen Beraters. Es bleibt unklar, inwiefern das Drachenblut verheerende Wirkung auf Sigurd gehabt hätte, wenn es mit ihm in Berührung gekommen wäre, vor allem deswegen, da sowohl Regin als auch Sigurd das Blut des Drachen an späterer Stelle trinken.104 Trotzdem scheint die anfängliche Vorsicht Sigurds gerechtfertigt. Odin bestätigt ihn und weist  





99 „þá fell þegar uedrit ok gerdi hinn bezsta byr.“ 100 Vgl. Vs 9, 11, 17. 101 Vgl. Aguirre 2002, S. 22: „The heroes’ deeds follow a pattern. Motif recurrence and formulaic language have a function in the grammar of myth, as they not only establish a parallelism between Helgi, Sigmund and Sigurd’s prowess but equally intensify the symmetry between defeat and victory. Now one family, now the other, crosses the sea to bring havoc to the other side. This shuttling of the narrative thread conveys a necessary feature of the structure of the world“. Vgl. Haimerl 1991, S. 142: „Darüber hinaus sind Bezugnahmen zwischen HHI. und Jungsigurddichtung anzuführen, die die Funktion haben, Helgi durch Analogie zu Sigurd als strahlenden Helden zu zeichnen: Zu nennen sind das enge familiäre Verhältnis beider Helden […], die Entsprechung der Jugendtaten […] und wörtliche Bezugnahmen von HHI. und Jungsigurddichtung.“ Vgl. auch Haimerl 1992, S. 24–27. 102 „gamall madr med sidu skeggi“. 103 „Þetta er urad. Gior fleire grafar ok lath þar i renna sveitan, enn þu sit i eine, ok legg til hjartanz orminum.“ 104 Anders dagegen in der Ragnars saga: Die Gefahr, die vom Blut des Drachen ausgeht, ist in der Ragnars saga lóðbrokar sehr konkret. Der Protagonist weiß auch schon im Vorfeld genau über die Schädlichkeit des Blutes Bescheid, sodass er sich präventiv Schutzkleidung anfertigt (vgl. Ragn 3).  





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3. Mythische Aufladung

ihm eine Möglichkeit auf, wie er dem Drachenblut entgehen kann. Die Geisteshaltung des Helden, der von Odin unterstützt wird, unterscheidet sich hier auffällig von der in der zuvor untersuchten Stelle. Bei Lyngvi war es Tollkühnheit, die Odin mit seiner Anwesenheit und mit Lobreden belohnt hat. Hier ist es die List des Helden, die der Gott unterstützt. Die Gedankenarbeit, die Sigurd leistet, geht sogar soweit, dass Regin ihn schmäht: „bange bist du vor allem und jedem und gleichst wenig deinen Gesippen an Heldenmut“ (Vs 18).105 Odin bestätigt die Ahnung Sigurds und liefert für die Ausführung der Tötung das richtige Vorgehen. Ein Odinsauftritt bei der Erschlagung Fafnirs findet sich nur in der Völsunga saga, nicht aber in den Fáfnismál. Wohingegen Sigurds Plan in den Heldenliedern („Sigurd grub auf dem Weg eine große Grube und stieg dort hinein“, Fm. Einleitungsprosa)106 suffizient ist und er selbst als listenreicher Held inszeniert wird, erhält seine Reflektiertheit in der Völsunga saga Unterstützung aus der mythischen Welt. Dort stammt der ursprüngliche Plan von Regin, ist aber nicht ausreichend und bringt Sigurd dazu, ihn zu hinterfragen: „Sigurd antwortete: ‚Wie wird es dann ergehen, wenn ich mit dem Blut des Wurms in Berührung komme?‘“ (Vs 18).107 Der Held entlarvt die ungenügende Weisheit seines Erziehers und wird von Odin in seinen Zweifeln bestätigt. Der korrigierte Plan ist selbstverständlich vollkommen oberflächlich: Letztlich geht es nur darum mehr als eine Grube zu graben, um das Drachenblut abfließen zu lassen (vgl. Vs 18). Die Belehrung durch den Gott ist nicht sehr tiefgründig inszeniert. Es wird nur das Modell einer Unterweisung geliefert. Der Verfasser macht das Thema der Episode deutlich, ohne es besonders kreativ auszuführen: Durch seine Gabe der Reflexion gelingt es dem Helden Sigurd in Berührung mit dem Gott Odin zu kommen, der ihn letztendlich in das suffiziente Vorgehen einweiht. Durch die Erschlagung Fafnirs gelangt Sigurd in den Besitz des Schatzhortes, von dessen Ursprung in der metadiegetischen Passage der Erzählung Regins in der Völsunga saga und den Reginsmál mit Odin, neben Loki und Hönir, als Hauptakteur berichtet wird – außerdem in den Skáldskaparmál ohne Metadiegese. Regin berichtet Sigurd von der Vorgeschichte des Hortes (vgl. Vs 14, Rm. Einleitungsprosa, Rm. Prosa vor 13, Sskm 39–40), den nun sein in einen Drachen verwandelter Bruder Fafnir hütet. Nach der Erschlagung des Gestaltwandlers Otr müssen sich die Asen Odin, Loki und Hönir von Hreidmars Sippe freikaufen. Als Loki das Lösegeld beschafft, belegt der Zwerg Andvari den Schatz mit einem Fluch: „daß dieser Goldring jedem, der ihn besitze, den Tod bringen sollte und ebenso all das Gold“ (Vs 14).108 Zurück bei Hreidmar müssen die drei Asen den gesamten Otterbalg des erschlagenen Gestaltwandlersohnes mit dem Gold auffüllen. Schließlich ragt nur noch ein einziges Schnurrhaar hervor, das Odin mit dem verfluchten Andvaranaut bedecken muss. Loki quittiert die  

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„þu ert vid hvartvętna hręddr, ok ertu ulikr þinum frendum at hughreyste.“ „Þar gorði Sigurðr grǫf micla á veginom, oc gecc Sigurðr þar í.“ „Sigurdr męllti: ‚Hversu man þa veita, ef ek verd fyrir sveita ormsins?‘“ „at hverium skyllde at bana verda, er þann gullhring ętti, ok sva allt gullit.“

3.1 Odin

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Wergeldzahlung mit den Worten:109 „Deinem Sohne | Schafft es nicht Segen, | Es bringt euch beiden den Tod“ (Vs 14, vgl. Rm. 6).110 Die Vorgeschichte des Hortes bewegt sich tief in der Mythenwelt und spielt in einer vortextlichen Zeit vor dem Heldenzeitalter. Trotzdem spielt sie sich zu Lebzeiten Regins und seiner Brüder ab. Regin aber ist innerhalb seiner Familie von mythischen Wesen und Gestaltwandlern aus der Urzeit eine Anomalie. Dies belegt er selbst mit den Worten: „ich war der dritte und Untüchtigste an Geschicklichkeit und rüstigem Aussehen“ (Vs 14).111 Seine Qualität ist die Beherrschung des Kunsthandwerks („Doch konnte ich Eisen bearbeiten, und aus Silber und Gold und allen Dingen fertigte ich etwas Nützliches“, Vs 14),112 was ihn letztlich zum Schmied Hjalpreks macht. Die Vorgeschichte stellt eine ambivalente Figur vor, nämlich Regin, der mit einem Fuß in der Familie von Gestaltwandlern aus der Urzeit der Mythen, mit dem anderen aber an Hjalpreks Hof in der heroischen Vorzeit steht,113 wo er für Sigurds Erziehung verantwortlich ist und diese nach höfischen Maßstäben gestaltet (vgl. Vs 13). Die Götter haben keine Autorität in der metadiegetischen Welt. Sie sind einfache Menschen, die die Erzählwelt durchwandern und dem Urteilsspruch Hreidmars unterworfen sind. Nicht Odin, sondern Loki ist die zentrale Figur der Episode, der den Totschlag zu verschulden hat und letztendlich auch für das Bußgeld aufkommen muss. Odin wird nur zu Beginn namentlich erwähnt und an einer Schlüsselstelle am Ende der Vorgeschichte, nämlich als er das Schnurrhaar des Otterbalges mit dem unheilbringenden Andvaranaut bedeckt, ganz offensichtlich – Lokis Strophe belegt dies – von der düsteren Natur des Ringes wissend. Die Asen – und unter ihnen Odin – sind die letzten Besitzer des Ringes, die nicht von seinem todbringenden Fluch betroffen werden, da Odin ihn rechtzeitig an Hreidmar und somit an die Welt der Menschen abgegeben hat. Alle späteren Besitzer des Ringes finden durch den auf Ring und Schatz liegenden Fluch den Tod. Der Gott macht keine Anstrengungen, den Fluch zu brechen oder seine Ausbreitung zu verhindern. Gleich einer Büchse der Pandora lässt er zu, dass der fluchbeladene Hort in die Welt der Völsungen gelangt: „Er wird letztendlich zum entscheidenden Unglücksmotiv der ganzen Nibelungensage“.114 Die Skáldskaparmál inszenieren Loki noch viel deutlicher als Verursacher des Fluches. Es ist Lokis Gier, die den Zwerg Andvari – seines kompletten Reichtums be 









109 Vgl. Quinn 2003, S. 92: „The voices of god and dwarf are not just reproduced as dialogue by the saga author, but reproduced verbatim, in poetry, to body forth the impact of spoken doom.“ 110 „Syni þínum verðrat | sæla skǫpuð, | þat er ykkarr beggja bani.“ 111 „var ek minstr fyrir mer um athgiorfi ok yfirlat.“ 112 „Kunna ek af iarnne giora, ok af silfri ok gulli ok hverium lut giorde ek naukvatt nytt.“ 113 Vgl. Schulz 2004, S. 93: „Allerdings gibt es keine scharfe Grenze zwischen mythischer und menschlicher Welt, in den Reginsmál etwa führt der Erzählstrang von einem Fischzug der Asen über die vielfältige Natur der Hreiðmarr-Nachkommen Reginn, Fáfnir und Otr […] bis hin zum Königshof Hiálpreks in Dänemark und zu Sigurðr.“ Edgar Haimerl fragt, ob man nicht in Regin einen Uronkel Sigurds mütterlicherseits zu verstehen hat (vgl. Haimerl 1992, S. 95). 114 Krause 2004, S. 317.  







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3. Mythische Aufladung

raubt („Loki erwiderte, er solle nicht einen Pfennig zurückbehalten“, Sskm 39)115 – dazu bringt, den Schatz zu verfluchen. der Gott fördert den Fluch sogar, indem er ihn durch späteres Wiederholen wirksam macht: „Loki sagte, dies erscheine ihm gut, und meinte, diese Prophezeiung könne deshalb gelten, weil er sie dem mitteilen wolle, der ihn in Besitz nehme“ (Sskm 39).116 Genau so geschieht es: „da sagte Loki, es solle gelten, was Andwari gesprochen habe“ (Sskm 39).117 Snorri zeichnet die Figur Loki als Schadensbringer, der den Fluch aktiviert. Eine von Loki gesprochene Strophe in den Reginsmál kann so interpretiert werden, dass dieser das Unheil der späteren Nibelungenfürsten prophezeit: „Noch übler ist – was ich zu wissen meine – | der Verwandten Streit um eine Frau;118 | ich glaub, die Herrscher sind noch ungeborn, | denen sie zum Hass bestimmt ist“ (Rm. 8).119 „[D]ieses Unheil betrifft noch ungeborene Fürsten […], die wohl als Sigurd, die Gjukungen und deren Nachkommen zu identifizieren sind.“120 Im Lied verflucht Andvari das Gold mit den Worten „Das Gold […] | wird zwei Brüdern den Tod bringen | und acht Edlen Streit“ (Rm. 5).121 Auch dies ist eine Vorausschau auf den Untergang der späteren Nibelungengenerationen.122 Die Götterfiguren – allen voran Loki – sind für die Entstehung des verfluchten Schatzhortes verantwortlich. Sie handeln in einer mythischen oder primordialen Urzeit, die noch vor der heroischen Vorzeit des Textes angesiedelt ist. Der Fluchhort gelangt durch ihr Tun in die Welt der  









115 „Loki kvað hann eigi skyldu hafa einn penning eptir“. 116 „Loki segir at honum þótti þat vel ok sagði at þat skyldi haldask mega fyrir því, sá formáli, at hann skyldi flytja þeim til eyrna er þá tœki við.“ 117 „þá mælti Loki at þat skyldi haldask er Andvari hafði mælt“. 118 Die Übersetzung der Stelle ‚niðia stríð um nept‘ ist unklar. Vorgeschlagen wird ‚Streit um eine Frau‘ sowie ‚der nicht endende Streit‘ (vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 297 ff.). 119 „Enn er verra – þat vita þicciomc – | niðia stríð um nept; | iofra óborna hygg ec þá enn vera, | er þat er til hatrs hugað.“ 120 von See/La Farge et al. 2006, S. 296. 121 „Þat scal gull, […], | brœðrum tveim at bana verða, | oc ǫðlingom átta at rógi“. 122 Vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 291 ff.: „Andvaris Verfluchung des gesamten Schatzes erhält hier ein besonderes Gewicht als Auslöser eines großen Teils der Auseinandersetzungen, die in der nordischen Nibelungensage folgen […]. Sicherlich sind mit den ‚zwei Brüdern‘ Reginn und Fáfnir gemeint […]. Bereits in der Arnamagnæanischen Ausgabe wird die These aufgestellt, die hier erwähnten ‚acht Fürsten‘ seien Sigurd, Guttormr, Gunnar, Högni, Atli, Erpr, Sörli und Hamðir […], also die männlichen Protagonisten der eddischen Nibelungensage […]. Auch Haimerl meint, es seien exakt acht Fürsten gemeint, doch bezieht er die Aussage auf Sigurd, Gottormr, Gunnar, Högni, Högnis zwei Söhne und seinen Schwager sowie auf Atli […]. Die Zahl ‚acht‘ dürfte hier aber im Sinne von einer ‚nicht kleinen Menge‘ zu verstehen sein […]. Außerdem werden Zahlen häufig in den Stab eingebunden, d. h., die Wahl des Zahlworts àtta ist wohl durch die Erfordernisse des Stabreims bedingt“. Tatsächlich sind Erpr, Sörli und Hamdir niemals im Besitz des Schatzes, weswegen die zweite Namensaufzählung die wahrscheinlichere sein müsste. Mit den Verwandten Högnis wären als Opfer des Fluches die Akteure der Episoden der verräterischen Einladung und des Hallenkampfes abgedeckt. Wenn die Achtzahl nur als größere Mengenangabe interpretiert wird, könnte es sich bei den Brüdern auch um Gunnar und Högni handeln, die von Atli wegen des Schatzhortes getötet werden.  















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3.1 Odin

Völsungen. Die ursprüngliche Tötung Otrs mit dem Stein geschieht aus Übermut; dass das Wergeld mit verfluchtem Gold gezahlt wird, aus Rachsucht und Böswilligkeit. Nun besteht – ähnlich wie zwischen den Episoden von Sigmunds Tod und Sigurds Begegnungen mit Odin – zwischen den Episoden des Hortursprungs und seines Erwerbs durch Sigurd keine inhaltliche Kohärenz. Gerade diese fehlende kausale Verknüpfung führt dazu, dass der Anschein entsteht, Odin würde Sigurd nicht vor dem Hort warnen und als würde er es sehenden Auges zulassen, dass sein Schützling sich mit dem Fluch belädt. Odin berät Sigurd in der Völsunga saga bezüglich des Umgangs mit dem Drachen. Von einer Warnung vor dem Hort finden wir aber keine Spur. Diese erfolgt ausschließlich durch den todwunden Fafnir, der Sigurd die Gefahren des Fluchhortes offenbart (vgl. Vs 18, Fm. 20), welche dieser aber in heroischer Manier ausschlägt.123 Der Text ist sich der Notwendigkeit einer Warnung bewusst, legt diese aber nicht Odin in den Mund. Ein Grund dafür ist die Aufrechterhaltung der Tradition der Heldenlieder, die Fafnir als Warner vor dem Schatzhort inszenieren.124 Der Verfasser der Völsunga saga entscheidet sich allerdings dafür, Odin nicht zusätzlich mit dieser Rolle zu versehen, was den Gott letztlich als Schadensbringer konstituiert. Dazu kommt, dass Sigurd von Odin das passende Pferd erhalten hat, welches zum Abtransport des Goldes fähig ist (vgl. Vs 13). Auf lange Sicht gesehen lässt Odin, obschon er ihm den richtigen Ratschlag zur Drachentötung gibt, Sigurds Untergang zu.  



123 Siehe 7.1.6. 124 Vgl. McConnell 1999, S. 177 ff.: „es gibt keinen Hinweis darauf, daß Fáfnir irgendetwas anderes unternimmt, als durch seine bloße Anwesenheit auf der Gnitaheide alle die abzuschrecken, die auf den Gedanken kommen sollten, sich den Hort anzueignen. Der Drache hat natürlich als Vatermörder seine dunkle Vergangenheit, aber als abschreckendes Hindernis erfüllt er doch eine durchaus positive Funktion. Der Schatz ist verflucht, er repräsentiert zerstörerische, unbegrenzte Macht, Habgier und den Verlust jeglichen Maßes. So ist er machtvoll genug, die Harmonie, den ‚ordo‘ der Gesellschaft zu bedrohen, sogar zu zerstören. Paradoxerweise beschützt also der Drache die Gesellschaft, schützt den Menschen vor sich selbst. […] Der Fluch wird in diesem Sinne neutralisiert. […] Solange Fáfnir den Hort hütete, solange er von keinem Helden, der den Schatz begehrte, besiegt wurde, blieb der Fluch wirkungslos. Fáfnir hat eigentlich den Teufelskreis von Tragik und Zerstörung, den der Fluch förderte, gebrochen. Mit seinem Tod findet jener Fluch neues Leben. Das übliche Symbol des Chaos war in der Vǫlsungasaga und im [sic] Fáfnismál zum Hüter des ordo geworden. Mit seinem Tode wurde das malum, die inordinatio wieder in die Welt gesetzt: der Träger des neuen Chaos ist Sigurd/Siegfried.“ Vgl. auch Teichert 2014, S. 164– 165, bes. S. 165: „Der Heros Sigurd ist es, der den von Fáfnir sorgfältig isolierten Hort als Trophäe in die menschliche Zivilisation mit sich führt und eine infernalische Kettenreaktion auslöst, die ganze Geschlechter in den Untergang reißt.“ Andererseits lässt sich auch annehmen, dass der Drache dem Todesfluch des Schatzhortes genauso unterworfen ist, wie sein Vorbesitzer und jene nach ihm. Er unterbricht den Teufelskreis nicht, sondern ist Teil davon, weil er jenen getötet hat, der den Schatz vor ihm hatte, um dann selbst von dem getötet zu werden, der den Hort nach ihm haben wird. Wenn jemand den Fluchhort ‚neutralisiert‘, dann sind das die Gjukungen, die den Schatz im Rhein versenken. Doch hilft es wenig, denn das Sterben hört dadurch nicht auf: Atli stirbt, obwohl der Schatz nie in seinem Besitz ist, wie auch Hamdir und Sörli. Und auch schon bevor der Schatz in den Besitz der menschlichen Helden der völsungischen Welt gelangt ist, sind sie gestorben. Die Protagonisten der Heldensage kommen dem Tod nicht aus, ganz gleich, ob er durch einen Fluch motiviert ist oder nicht (siehe 3.3.5).  







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3. Mythische Aufladung

3.1.4 barnstokkr Odin ist folglich nur auf den ersten Blick eine unproblematische Helferfigur. Die Prekarität der in die heroische Welt eingreifenden mythischen Figur wird dann noch deutlicher, wenn man sich die weiteren Auftritte des Gottes besieht, die von Störung und Konflikterzeugung begleitet werden. Auf dem Hochzeitsfest zwischen Signy und ihrem inadäquaten Werber Siggeir erscheint „ein Mann […], unbekannt allen von Aussehen. Folgendermaßen war er gekleidet: er hatte einen fleckigen Mantel um, er war barfüßig und trug Leinenhosen, die am Bein zugeknüpft waren; auf dem Haupte hatte er einen lang herabhängenden Hut; er war sehr hochgewachsen und alt und einäugig“ (Vs 3).125 Offensichtlich handelt es sich um den Gott Odin, der allerdings nicht beim Namen genannt wird.126 Er tritt als Unbekannter auf und mit auffälliger Kleidung. Im Gegensatz zu den Darstellungen als hilfreicher Gott oder Stammvater wird er hier als finstere, störende und gegenspielerische Gestalt inszeniert: „Dieser Mann hatte ein Schwert in der Hand und ging nach dem Kinderbaume; er schwang das Schwert und stieß es in den Stamm“ (Vs 3).127 Dies geschieht mit den Worten: „Wer dieses Schwert aus dem Stamme zieht, der soll es von mir als Geschenk erhalten“ (Vs 3).128 Er stößt das Schwert in den barnstokkr, also direkt in den Zentralpfeiler von Völsungs Halle, in das Herz und Innerste seines Heimes. Das Schwert wird als eine Art Hochzeitsgeschenk präsentiert, allerdings nicht direkt für den Bräutigam, sondern für jenen, der es aus dem Holz zu ziehen vermag und sich somit des Schwertes als würdig erweist. Dieser von Odin angestachelte Wettbewerb entlarvt Siggeir als unfähig129 und zeigt den tatsächlich passenden Ehemann für Signy auf, nämlich ihren Bruder Sigmund (vgl. Vs 3). Ein Streit um das Schwert entsteht und die Hochzeitsfeierlichkeiten werden am nächsten Tag vorzeitig beendet, was eine immense Störung der Ordnung darstellt, gerade in einer Gesellschaft, in der Politik und Ordnungsstiftung beim gemeinsamen Mahl und bei Feierlichkeiten geregelt wer-

125 „madr einn […] monnum ukunnr at syn. Sea madr hefir þess-hattar buningh, at hann hefir hecklu flekkotta yfir ser. Sa maðr var berfęttr ok hafðe knyth linbrokum at beine. […] Sa madr hafde […] hautt sidan a hǫfde. Hann var hár miok ok elldiligr ok einsyn.“ 126 Zu dieser Erscheinung und vor allem der Bekleidung des Gottes vgl. Ólafur Halldórsson 1990, S. 471–473. 127 „Sa madr hafde sverd i hende ok gengr at barnstockinum […]. Hann bregdr sverdinu ok stingr þvi i stockinn“. 128 „Sa er þessu sverdi bregdr or stockinum, þa skal sa þat þiggia at mer ath giof“. 129 Oder als nicht auserkoren. Vgl. de Vries 1954/55, S. 101: „Von vornherein kann man sagen, daß es hier einfach eine Probe gilt, durch die der Held sich als der auserwählte Mensch erweist. Er braucht nicht einmal Kraft anzuwenden: das Schwert ist sem laust lægi fyrir honum. Durch den Wink des Gottes wird kundgetan, wer der von ihm bevorzugte Held ist. Das göttliche Schwert gehört nun dem Helden, dem es von vornherein bestimmt ist“. Siggeir hatte also von Anfang an keine Chance.  



3.1 Odin

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den:130 „so zu verfahren ist doch nicht Sitte der Männer“ (Vs 4).131 Der aus diesem Ordnungsbruch resultierende Konflikt führt zum Tode Völsungs und zur beinahen Zerschlagung seiner Sippe (vgl. Vs 5). Im Hyndluljóð findet sich ebenfalls ein Hinweis auf die Schwertgewinnung Sigmunds. Freya nennt mehrere Taten des Heervaters Odin: Bitten wir Heervatern guten Sinns zu sein! | Er vergilt und gibt Gold den Würdigen; er gab Hermod Helm und Brünne, | und Sigmund ein Schwert zu empfangen. | Sieg gibt er manchen, und manchen Reichtum, | Beredsamkeit manchen, und Weisheit den Wesen; | Fahrwinde gibt er den Männern, und Dichtkunst den Skalden, | er gibt Männlichkeit manchem Mann (Hdl. 2–3).132

Die Vergabe des Schwertes an Sigmund erscheint in völlig positivem Kontext innerhalb einer Tatenaufzählung des Gottes, jede einzelne davon wohlwollend, und steht in direktem Zusammenhang mit seiner Freigebigkeit und Großzügigkeit. Die Beschreibung des Heervaters nähert sich einem höfischen Idealbild des mittelalterli-

130 Vgl. allgemein zum Fest Newall 1984, Sp. 1036: „Ein F[est] ist eine Zeit des Feierns, ein Ereignis von bes. Bedeutung für die Gruppe oder Gemeinschaft, in der es stattfindet, ein komplexer Vorgang mit erzieherischen, gesellschaftlichen, religiösen und symbolischen Aspekten, bei dem verschiedene psychische Bedürfnisse befriedigt werden: Es bietet Erholung von den Mühen des Alltags und Abwechslung im Einerlei, fördert Zusammenhalt und Einigkeit in Familie und Gemeinschaft […]. Der Mensch als symbolschaffendes Wesen errichtet Bedeutungssysteme, in deren Rahmen die menschliche Existenz erlebt wird.“ Vgl. zum gestörten Fest Newall 1984, Sp. 1041 f.: „Es ist, als ob mit der Vorstellung des F[este]s auch das Bewusstsein oder Gefühl des unvermeidlichen Endes wie auch des Schein-Charakters des F[este]s sich einstellte.“ Jan und Aleida Assmann beschreiben das Fest als „jene[…] rituell wiederholte[…] Begehung einer heiligen Zeit, die die Kongruenz mit der Idealität wiederherstellt“ (Assmann/Assmann 1998, S. 194). Das Fest scheint der geeignete Zeitpunkt der Störung zu sein, um eine möglichst hohe Fallhöhe zu erzeugen. Die verräterische Einladung wird deswegen so schrecklich, weil sie die Erwartungshaltung eines gemeinsamen Festes oder Mahles, einer ‚hochgezît‘ verletzt. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle die Monographie von Barbara Haupt, die das Fest als literarisches Motiv in der mittelhochdeutschen Dichtung untersucht (Haupt 1989, bes. S. 9– 35). Die Darstellungen von Festen im höfischen Roman können „verstanden werden als Entwürfe von gelingender oder gelungener Herrschaft“ (Haupt 1989, S. 14). Vgl. Grimstad 2000, S. 49: „the theme of hospitality […] is composed of several crucial components: for example, the contract of mutual respect and honor between guest and host; the sharing of food and drink in an atmosphere of conviviality and harmony; and the location of the feast, which functions as a place of sanctuary for the duration of the festivities.“ Umso invasiver und wirksamer erscheinen demnach Störungen der Feste in der Textwelt. Demontiert wird dabei nicht einfach nur die festliche Freude und Harmonie, sondern die Ordnung der Gesellschaft an sich. Diese sozialen Katastrophen sind es, die den Protagonisten des höfischen Romans in die Krise stürzen. Beispiele hierfür sind der dem Wahnsinn verfallende Iwein, dessen Ansehen öffentlich von Lunete, der Dienerin seiner Ehefrau Laudine, beschädigt wird (vgl. Iwein 3102–3200) oder Parzival, der in Ungnade fällt, als die Zauberin Kundrie auf einem Fest verkündet, er habe sich des Grales als unwürdig erwiesen (vgl. Parzival 312,2–319,18). 131 „er ecki þat sidr manna at giora sva.“ 132 „Biðiom Heriafǫðr í hugom sitia! | hann geldr oc gefr gull verðugom; | gaf hann Hermóði hiálm oc brynio, | enn Sigmundi sverð at þiggia. | Gefr hann sigr sumom, enn sumom aura, | mælsco mǫrgom oc manvit firom; | byri gefr hann brǫgnom, enn brag scáldom, | gefr hann mansemi mǫrgom recci.“  













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3. Mythische Aufladung

chen Herrschers, der seine Verpflichtung zur ‚milte‘, also eben zur Freigebigkeit, erfüllt. Allerdings spielt auch das heroische Ideal des Eroberers mit hinein, der die erbeuteten Schätze unter seinen Männern verschenkt und somit das Gold verprasst.133 Zu Odins Gaben zählen auch abstraktere Güter wie Klugheit, Sieg, Wind und Gemüt. Die Schwertverleihung erscheint in der Völsunga saga in anderem Licht, da sie dort an die Inszenierung Odins als Eindringling gekoppelt ist. Die Störung kommt von einem mythischen Draußen direkt ins innerste Herz der Halle, das metonymisch durch den barnstokkr dargestellt wird. Dieser wird einmal als „eik“ (Vs 2), ein weiteres Mal aber als „apalldr“ (Vs 3) beschrieben. Beide Bezeichnungen sind jedoch inkonkret und können sowohl eine Eiche oder einen Apfelbaum, als auch jeweils einfach nur einen fruchttragenden Baum meinen.134 Die Interpretationen von Übersetzern135 und der Forschung divergieren dahingehend. Carola Gottzmann liest den barnstokkr als Eiche und beschreibt seine Symbolik: „Sinnbildliches Zeichen der Prosperität seines Königtums und der geblütsrechtlichen Sicherung ist der Eichenstamm, den Rerir [sic] in der Mitte der Halle, dem Sitz seiner Macht, errichten läßt. Er wird daher konsequent als ‚Kinderpfosten‘ (barnstokk) bezeichnet. Die Herrschaft der Völsungen ist zu diesem Zeitpunkt also in jeder Hinsicht ein gefestigtes Königtum.“136 Eine ähnliche Interpretation liefert Judy Quinn, die den Baum allerdings als Apfelbaum deutet: „the apple-tree […] encodes notions of both warrior values and dynastic prosperity.“137 Odin stört durch das Verletzen des Stammes nicht nur die Harmonie der Feierlichkeit, sondern auch die gefestigte Herrschaft und die Prosperität des Völsungengeschlechtes. Der von ihm losgetretene Wettbewerb bringt die Hierarchie der Festgesellschaft in Unordnung und führt zu den aggressiven Handlungen Siggeirs gegen das Völsungenkollektiv, die zur beinahen Auslöschung der Sippe führen. Nur das Zwillingspaar Sigmund und Signy überleben den Racheakt Siggeirs, der die Folge der von Odin ausgelösten Schmähung ist. Doch ist die festliche Harmonie von Anfang an trügerisch: Völsungs Tochter Signy hat der Ehe nur widerwillig zugestimmt („sie selbst zeigte wenig Lust“,

133 Siehe 5.1.1–5.1.3. 134 Vgl. Heizmann 1993, S. 3 bzw. S. 13. 135 Paul Herrmann übersetzt mit „Eiche“ (Herrmann 1923, S. 42) und kommentiert: „In alten Zeiten war es Brauch, die Wohnung bei oder unter laubreichen, schattigen Bäumen zu errichten, die so mitten in das Haus zu stehen kamen – daran ist der ‚Kinderbaum‘ eine Erinnerung, daher stammt auch die Weltesche. Mit den Früchten dieses Schutzbaumes räucherte man bei Entbindungen, später umfaßten ihn Schwangere in ihrer Not – daher der Name. Der Erzähler, der das nicht mehr wußte, scheint geglaubt zu haben, daß er dem Samen des wunderbaren Apfels entsproßt war, dem Völsung seine Geburt verdankte. Die Änderung von barnstock, ‚Kinderstamm‘, in brandstock, ‚Schwertstamm‘, weil Odin das Schwert hineinstieß, ist lockend, aber nicht nötig“ (Herrmann 1923, S. 42 f. Anm.). 136 Gottzmann 1987, S. 77. Vgl. auch Gottzmann 1979, S. 4: „Vǫlsung erects a socalled ‚children’s tree‘ in the midst of his splendid hall, his centre of royal power, whereby symbolically kingship and descendancy may be seen as unity.“ 137 Quinn 2009, S. 138.  



















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3.1 Odin

Vs 3)138 und ist ihrem Ehemann auch nach der Eheschließung nicht gewogen („Nicht möchte ich mit Siggeir abreisen, und nicht will mein Herz ihm entgegenlachen“, Vs 4).139 Siggeir ist als Partner unpassend. Odin bringt durch die Störung des Festes nun heroische Bewegung in die statische höfische Ordnung. Sein Erscheinen macht die wahren hierarchischen Zustände sichtbar. Der Erwerb des Schwertes ist mit einer Kraftprobe verbunden: Es soll jenem gehören, der es aus dem Stamm zu ziehen vermag. Es eröffnet sich die Problematik, wer es zuerst versuchen dürfe („Nun standen sie auf und überließen es nicht einander, das Schwert herauszuziehen, und der glaubte es am besten zu haben, der es zuerst ergreifen durfte“, Vs 3).140 Darauf wird das Privileg den „vornehmsten Männern zuerst“ (Vs 3)141 gewährt, wobei es keinem von diesen gelingt. Letztendlich versucht es Sigmund „und es war, wie wenn es los da läge vor ihm“ (Vs 3).142 Siggeir bietet an, das Schwert von Sigmund zu kaufen – also heroische Potenz mit materieller Macht aufzuwiegen –, was dieser aber ausschlägt. Die Diskrepanz zwischen der hierarchischen Stellung und der heroischen Kompetenz der ‚vornehmsten Männer‘ führt zur Diskreditierung und zur Entlarvung Siggeirs als ungeeigneten Ehemann.143 Der Eingriff des mythischen Elements Odin macht das Heroische sichtbar, allerdings auf zerstörerische Art und Weise. Völsung überlebt die von Odin arrangierte Kraftprobe nicht lange. Zum barnstokkr: Es wurde bereits die Symbolhaftigkeit des Kinderpfostens in Völsungs Halle betont. Er steht für Reichtum, Fruchtbarkeit144 und ruhende, gefestigte Herrschaft.145 Zur Zeit der größten Prosperität der Völsungensippe, nämlich der vielfachen Kindersegnung des Völsung zusammen mit der Walküre Hljod, steht im Zentrum der völsungischen Macht der Kinderpfosten. Es ist eine Seltenheit, dass die Macht der Sippe in der Völsunga saga so sichtbar dargestellt wird. Für gewöhnlich thematisiert die Erzählung den Überlebenskampf des Geschlechts, das sich stets am Rande der Auslöschung befindet. In kaum einer Generation müssen die Völsungen nicht von Null auf starten. Das beginnt mit Sigi, König und Krimineller. Neben seiner Bedeutung  



138 „hun sialf var þessa ufus“. 139 „Eigi villda ek a brott fara med Siggeiri, ok eigi giorir hugr minn hlęgia vid honum“. 140 „Nu standa þeir upp ok metazt ecki vid at taka sverdit. Þickizt sa bęst hafa, er first nair.” 141 „gofguztu menn fyst“. 142 „ok var, sem laust lęgi fyrir honum.“ 143 Vgl. Gottzmann 1987, S. 80. 144 Otto Rank sieht im Stoßen des Schwertes in den Baum einen koitalen Akt (vgl. Rank 1912, S. 371 Anm.). So gelesen befruchtet sich die Völsungensippe konstant selbst, in Form des Apfels, dann der Wunschmaid, Odins Schwertgabe und letztlich des expliziten Inzests zwischen Sigmund und Signy. Vgl. zum Kinderbaum und der sympathetischen Verbindung zwischen Baum und Kindersegen bzw. zwischen Baum und dem Heil, der Gesundheit des Kindes Beitl 1942, S. 43–44 bzw. S. 85–88. 145 Vgl. de Vries 1957(a), S. 385: „auch in Völsungs Halle steht eine mächtige Eiche, die barnstokkr heißt […], sicherlich weil die kreißende Frau diesen Baum umarmen und unter ihm gebären sollte […]. In diesen Baum steckt Odin das Schwert, das kein anderer Held als Sigmund herausziehen kann; so scheint er mit dem ‚Heil‘ der Familie verwachsen.“  









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3. Mythische Aufladung

als Machtsymbol146 ist der Baum aber auch Symbol des Zentrums, eine Manifestation des geordneten Innens.147 Es geht dabei um eine Darstellung des Kosmos, der „nicht selten analog der eigenen menschlichen Wohnstatt gedacht“148 wird, die „Vorstellung einer makrokosmisch-mikrokosmischen Entsprechung von Welt und Wohnstatt“.149 Mircea Eliade liefert viele Beispiele für Mythen, in denen der Mittelpunkt der Welt durch ein Gebirge, einen Baum oder eine Säule dargestellt wird oder in denen eine Stadt, ein Tempel oder ein Palast als Verbindung zwischen verschiedenen Ebenen des Kosmos dient.150 Konkret sagt er: „von den geheiligten Bäumen wird angenommen, sie hätten ihren Standort im Weltzentrum“151 und an anderer Stelle: „Städte, Tempel, Häuser werden wirklich, weil sie dem ‚Mittelpunkt der Welt‘ ähnlich gemacht werden“.152 Auf diese Weise wird auch die Halle Völsungs als Ort präsentiert, der auf Grund seiner mythischen Konnotation ideal beschaffen ist, dem Auftritt der Figur des Gottes Odin eine Bühne zu liefern.153 Ebenso symbolisch wie der barnstokkr selbst ist das Schwert, das in ihn gestoßen wird. Auf den ersten Blick wirkt das Schwert wie ein Segen, ein göttliches Geschenk für einen herausragenden Helden auf der Festlichkeit. In diesem Stil präsentiert es auch die Strophe im Hyndluljóð. Der Rahmen, in den die Schwertverleihung eingebettet ist, birgt allerdings die Prekarität der Szene. So fragt de Vries:

146 Und ebenso die ihn umgebende Halle. Vgl. Boklund-Schlagbauer 1996, S. 126 f. zur Atlakvíða: Hallensymbolik „dient sowohl der Darstellung von Herrschaft als auch der Charakterisierung der Figuren. […]. Die Schilderung der Halle Gunnars besitzt die gleiche Funktion wie die eines höfischen Festes in der mittelhochdeutschen Literatur. Hier werden die herrschaftlichen Qualitäten Gunnars und die Macht seiner Sippe gegenwärtig gemacht.“ 147 Vgl. zum (Welten-)Baum als kosmogonisches Sinnbild Beck 2008, S. 965–979, bes. S. 966–972. 148 Heizmann 2002, S. 67. 149 Heizmann 2002, S. 68. 150 Vgl. Eliade 1958, S. 49 ff. bzw. Eliade 1953, S. 24 ff. 151 Eliade 1958, S. 52 f. 152 Eliade 1953, S. 15. 153 Zur Verbindung zwischen weltenbaumähnlicher Konstruktion und Erscheinung des Gottes äußert sich de Vries: „Nun ist die Eiche in Völsungs Halle nicht nur der Geburtsbaum, sondern hier findet auch die Epiphanie des Gottes statt. Das gehört eben zu seinem Charakter als Zentrum des Hauses […]. Wo sich ein Zentrum befindet, und das ist in jedem Tempel, in jedem Palast, ja in jeder menschlichen Wohnung, stehen Himmel und Unterwelt mit der Erde in unmittelbarer Verbindung; hier erhebt sich die Weltachse als das unverrückbare Symbol der die drei kosmischen Regionen einigenden Mitte. Man hat diesen mythischen Begriff auf verschiedene Weise auszudrücken versucht: als Pfahl, Leiter oder Berg, aber ganz besonders als Baum. […] Jede Mitte ist im Grunde zugleich eine Weltmitte. Man hat deshalb noch nicht das Recht, den barnstokkr etwa mit dem Yggdrasill gleichzusetzen, aber seiner religiösen Bedeutung nach ist er dennoch gleicher Art. So darf man wohl sagen, daß der barnstokkr die Vorstellung des Yggdrasill impliziert und daß deshalb jeder Baum, der die Mitte bildet, in einem beliebigen Teil der Welt die Funktion der Weltachse hat“ (de Vries 1954/55, S. 97). Und weiterhin: „Der barnstokkr darf, glaube ich, deshalb seiner religiösen Bedeutung nach mit dem Weltbaum gleichgesetzt werden. Es ist deshalb auch gewiß sinnvoll, daß die Epiphanie des Gottes Odin eben an dieser Stelle stattfindet“ (de Vries 1954/55, S. 101).  



   























3.1 Odin

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Was bedeutet das Schwert in Völsungs barnstokkr? Die Erzählung selbst gibt zu verstehen, daß der Held das ihm von Odin bestimmte Schwert auf eine Weise empfängt, die seine Auserwählung offenbar macht. Aber die in so mancher Hinsicht gleichartige Sage von Arthur154 weist in eine andere Richtung: in diesem Fall ist es ein unzweifelhaftes Herrschaftssymbol. War das im Grunde nicht auch die Meinung der Sigmundsage? Ist der heiße Wunsch Siggeirs, das Schwert zu besitzen, einzig und allein dadurch zu erklären, daß er eine gute Waffe begehrt? Oder ist es die Gewissheit, daß ihm damit eben die Herrschaft verliehen wurde?155

Und außerdem: Beide, Baum und Schwert, waren mit Beziehungen zu Werten verbunden, die in einer höheren Welt als der profanen Geltung hatten. Der Baum war Symbol der Mitte, wo die kosmischen Welten miteinander in Verbindung treten, und wo die Götter zu den Menschen hinabsteigen können. Eine kosmische Mitte, und nicht eine geographische. Nicht eine Ortsbestimmung, sondern ein Kräftezentrum, wo sich die göttliche Macht auswirken kann. Das Schwert war Zeichen der Auserwählung des Helden, aber noch mehr als das: Symbol der Königsmacht, die Sigmund von Rechtswegen zukam, aber die der Gott ihm auf eine wunderbare Weise verlieh.156

Sigmund wird nicht einfach zum Auserwählten gemacht, der das Symbol der Königsmacht verliehen bekommt – in diesem Falle hätte man sicher von einem Segen sprechen können. Er wird es anstelle von Siggeir und zwar ausgerechnet auf dessen Hochzeitsfest. De Vries hat absolut Recht, wenn er sagt, dass es Siggeir nicht bloß um ein qualitatives Schwert gehe. Dieser versucht, sich die Königsmacht zurückzukaufen, die ihm auf seiner Hochzeit entzogen wurde.157 Damit lässt die Erzählung verschiedene  

154 Die Forschung hat wiederholt die Gleichartigkeit der besprochenen Passage mit der Artussage hervorgehoben: Vgl. de Vries 1954/55, S. 102: „Eine keltische Sage bietet eine schlagende Parallele zu der Geschichte von Sigmunds Schwert“. Vgl. Tolley 2009, S. 320: „The ‚sword in the stock‘ is clearly a variant of the motif of the ‚sword in the stone‘ of Arthurian legend“. Dazu kommt die Episode der Entrückung von Sinfjötlis Leichnam (vgl. Vs 10), die an die Entrückung des toten Arthurs nach Avalon erinnert. Vgl. zu beiden Motiven Egeler 2015, S. 128 ff. Teichert sieht neben dem Motiv des Schwertes im Baum und der Entrückung noch ein drittes Motiv, nämlich die Inzestverbindung zwischen Sigmund und seiner Schwester, die ihr Gegenstück in der Zeugung Mordreds hat (vgl. Teichert 2008, S. 163 f.). Höfler spricht sich stark gegen die Theorie der Entlehnung aus keltischer Sagentradition aus. Die Motivgleichheit sei nicht kongruent genug, um von einer Übernahme keltischen Erzählguts auszugehen (vgl. Höfler 1934, S. 195). 155 de Vries 1954/55, S. 103 f. 156 de Vries 1954/55, S. 106. 157 Hilda Ellis Davidson 1960, S. 3 f. untersucht ebenfalls die Rolle des Schwertes bei Signys Hochzeitszeremonie. Sie spricht von bis in die Neuzeit bewahrtem skandinavischen Brauchtum, bei dem ein Schwert bei einer Heirat in einen Balken getrieben wird. Umso tiefer das Schwert sitze, umso größer sei das Glück bzw. das Heil der geschlossenen Ehe. In dieser Hinsicht erkläre sich auch die Reaktion Siggeirs, für den das Eheglück nachhaltig verspielt ist: „This gives a new and tragic significance to the scene in the hall, and helps to explain Siggeir’s anger“ (Ellis Davidson 1960, S. 5). Ellis Davidson (vgl. Ellis Davidson 1960, S. 18) spricht ebenso von der weiblichen Rolle als Hüterin des Schwertes als Symbol der Kontinuität der Sippe, die zwar für die barnstokkr-Episode nicht festgemacht, allerdings in die späteren  



























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3. Mythische Aufladung

Wertesysteme kollidieren. Auf der einen Seite steht das geordnet Hierarchische, das, was dem höfischen ordo entspricht. Auf der anderen Seite steht das Heroische, das vom Mythischen erwählt wird. Beim Aufeinandertreffen der Systeme wird die Figur des Siggeir brüskiert.158 Das Schwert symbolisiert etwas, das über bloße Königsmacht hinausgeht. Es steht für die Idoneität Sigmunds, die Siggeir auf seiner Hochzeitsfeier mit dessen Schwester auf peinliche Art vor Augen geführt wird. Durch die Schwertprobe wird Sigmund nicht nur zu Odins Auserwähltem, sondern zum einzig adäquaten Partner für die Braut. Ihr Füreinanderbestimmtsein verwirklicht sich in der späteren Inzestverbindung. Und so verwandelt Odin die Hochzeit zwischen Siggeir und Signy in eine Vermählung von Bruder und Schwester. Es gilt das Prinzip ‚die Schönste dem Besten‘.159 Die Völsunga saga lässt eine höfisch aufgeladene Aktivität – das Hochzeitsfest – in Völsungs Halle, einer mythischen Konstruktion, stattfinden. Die Konfiguration der Halle prädestiniert den Ort, zum Störfaktor für den geordneten Ablauf der ‚hochgezît‘ zu werden.160  



3.1.5 Odin im Tod Ebenfalls namenlos tritt Odin in Sigmunds Todesszene auf. Es ist die erste Stelle in der Völsunga saga, in der der Gott explizit gegen die Völsungen operiert. Er ist zum Schadensbringer geworden. In der Schlacht zwischen Lyngvi und Sigmund erscheint er und bringt Letzterem die Niederlage:

Funktionen Signys und auch Hjördis, die Sigurd die Schwertbruchstücke übergibt, hineingelesen werden kann. 158 Eine ähnliche den ordo zutiefst destabilisierende Situation ergibt sich bei Siegfrieds Ankunft bei den Burgunden im Nibelungenlied. Auch hier treffen heroische Herrschaft und geregelte dynastische Verhältnisse aufeinander (siehe 5.1.4). 159 Vgl. zu diesen „[f]eudale[n] Paarbildungslogiken“ (Schulz 2015, S. 56) Schulz 2015, S. 56–58, bes. S. 56: „Wer zueinander gehört und füreinander bestimmt ist, teilt bestimmte Merkmale.“ 160 Abweichend hierzu die Interpretation von Clive Tolley: „The barnstokkr of Vǫlsunga saga […] may be regarded as a life-tree. The implication of the account is that the barnstokkr, as an apple tree, grew from the apple sent by Óðinn; the tree is thus associated with progeniture both in its first function (the begetting of Vǫlsungr), and in its name. As Vǫlsungr is the eponymous founder of his family the Vǫlsungar, the progeniture emphasises the family more than the individual. As a support of the hall – which symbolises its role as a guardian tree of the family – it possibly reflects the prototypical Læraðr […] supporting Óðinn’s hall, Valhǫll it is also analogous to the ǫndvegissúlur […]. The sword of Óðinn, drawn out of the barnstokkr, proves to be the sign of fortune of the Vǫlsungar: in particular Sigmundr places his fate in Óðinns hands by accepting the sword out of the tree. The symbolic act of Óðinn, when he makes the barnstokkr the receptable of the sword, identifies the guardianship that the stokkr now offers the family […] as a military one“ (Tolley 2009, S. 350). Nach meiner Lesung läutet das Auftreten Odins dagegen das Ende des Machthöhepunktes der Völsungensippe ein.  











3.1 Odin

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da kam ein Mann in die Schlacht, mit herabhängendem Hut und blauem Mantel, er hatte nur ein Auge und trug einen Speer in der Hand. Dieser Mann trat König Sigmund entgegen und hob den Speer gegen ihn empor; und als König Sigmund kräftig zuhieb, traf das Schwert auf den Speer und zersprang in zwei Stücke. Da wandte sich die Niederlage auf Sigmunds Seite, König Sigmunds Glück war gewichen, und er verlor viel Volk (Vs 11).161

Sigmunds Schlachtenglück ist mythisch konnotiert. Vor dem Auftreten Odins wird er von mythischen Mächten beschützt („so schützten ihn seine Spadisen, daß er nicht verwundet wurde“, Vs 11)162 und sein ‚heill‘ besteht im Besitz seines Siegesschwertes. Da Odin es zerbrechen lässt, schwindet nicht nur Sigmunds Heil, sondern es zerbirst auch das Band zwischen dem Vertreter der Völsungen und dem Schutzgott Odin. Zunächst von Odin verliehen, geht der gesonderte Status des Helden mit der Zerstörung des Schwertes verloren. Sigmund überlebt das Entziehen seines Schlachtenglückes nicht. Das unangekündigte Abwenden des Gottes von seiner erwählten Sippe forderte die Forschung zu Interpretationen auf. Warum also muss Sigmund sterben? Carola Gottzmann sieht im Todesurteil durch Odin die Konsequenz von Sigmunds Handeln bei Sinfjötlis Todesszene. Nach ihrer Lesung war der Tod von Sigmunds Sohn eine vermeidbare Fahrlässigkeit: Sigmund beraubt sich damit seines eigenen Nachkommen, so daß es nur konsequent ist, wenn ihm Odin das Königsheil entzieht. […] Odin muß ihm daher auch den Wunsch versagen, daß er seinen toten Sohn aus nachträglicher Einsicht in seine destruktive Tat in das Totenreich begleiten darf, da es Odin vorbehalten sein wird, Sigmund für sein übersteigertes Vertrauen in seine Stärke zu bestrafen.163

Gottzmann spielt auf die nur in der Völsunga saga, nicht aber im Codex Regius bezeugte Trunkenheit Sigmunds an (vgl. Vs 10). Sinfjötlis Tod sei die Folge von Überschwang und Sippenüberschätzung.164 Deswegen bringe Odin Sigmund den Untergang, „als er die größte Fallhöhe erreicht hat, […] da er sich gegen das eigene Geschlecht vergangen hat.“165 Die Deutung von Sigmunds Tod als Strafe für die Fahrlässigkeit bei Sigmunds Vergiftung finden wir ebenso bei Torfi Tulinius.166 Jan de Vries deutet die Passage ganz anders. Er sieht darin ein voreiliges Handeln Sigmunds,

161 „þa kom madr i bardagann med sidan hátt ok heklu bla. Hann hafdi eitt auga ok geir i hendi. Þessi madr kom a mot Sigmundi konungi ok bra upp geirinum fyrir hann, ok er Sigmundr konungr hio fast, kom sverdit i geirinn, ok brast i sundr i tva luti. Siþan sneri mannfallinu, ok voru Sigmundi konungi horfinn heill, ok fell miok lidit fyrir honum.“ 162 „sva hlifdu honum hans spadisir, at hann vard ecki sár“. 163 Gottzmann 1987, S. 86. 164 Zu Sinfjötlis Tod siehe 7.2.2. 165 Gottzmann 1987, S. 86 f. 166 Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 151. Ebenso deutet Torfi Tulinius die Verursachung der Tötung der Brüder Hamdir und Sörli als Strafe Odins für deren Erschlagung ihres Halbbruders Erp (vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 151: „These two Odinic interventions seem to be invented by the saga’s author, who wants to make a statement that at the moment a hero sheds the blood of his own family, he ceases to be a hero.“  









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3. Mythische Aufladung

der es selbst ist, der in der Schlacht aus „Verblendung“167 nach Odin beziehungsweise dessen Speer schlägt, wodurch sein Schwert und seine Bindung zum Gott zerbrechen. Nach de Vries’ Interpretation handle Odin nicht aktiv bei Sigmunds Tod. Rudolf Much liefert eine motivliche Erklärung. Er nimmt Sigmund – sowie andere Vertreter des Völsungengeschlechts – als Abwandlungen des Gottes Freyr wahr, als Freyhypostasen.168 Bei Sigmunds Heilsentzug und Tod handle es sich um „dasselbe mythische Motiv […] wie bei der Tötung Baldrs durch Hödr“.169 Die Völsunga saga expliziert keine Gründe für die Tat des Gottes. Odin tritt in seiner nicht unüblichen Rolle als Schlachten-, Todes- und Schicksalsgott auf und Sigmund begegnet der Situation mit heroischer Schicksalsergebenheit. Er sagt: „von mir aber hat sich das Glück gewandt […]. Odin will nicht, daß ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach; ich habe Schlachten geschlagen, so lange es ihm gefiel“ (Vs 12).170 Da ist weder Klagen, noch eine Beschwerde über ein Abwenden des Gottes. Die Funktion der Odinsfigur hat sich gewandelt. Zunächst inszeniert als reine Helferfigur der Völsungen,171 nimmt die Figur nun ihre übliche Rolle ein, nämlich die des Schicksalsgottes und Todesbringers. Das Mythische operiert nun insofern gegen die Völsungen, dass es keinen Unterschied mehr zwischen der erwählten Sippe und den Unauserkorenen macht. Als Schicksalsmacht ist Odin willkürlich.172 Weder Odin noch Sigmund sehen einen Grund, warum Ersterer dem Anderen auf irgendeine Weise verpflichtet sein sollte und von einer Abstammung ist keine Rede mehr. In den Eiríksmál hat Sigmund selbst die Gelegenheit, Odin zu fragen, warum er herausragenden Kriegern das Schlachtenglück entziehe und sie zu sich rufe. Das Preisgedicht auf den verstorbenen König Eirik Blutaxt aus der Mitte des zehnten Jahrhunderts lässt die Völsungen Sigmund und Sinfjötli in Form eines Cameo-Auftrittes erscheinen und den toten König Eirik in Walhall empfangen. Als besonders herausragende Vertreter von Odins Heroeninventar werden sie selbst vom Totengott aufgerufen: „Sigmund und  



167 de Vries 1954/55, S. 101. 168 Siehe 3.1.2. 169 Much 1898, S. 274. 170 „en horfinn eru mer heill […]. Vill Oþinn ecki, at ver bregdum sverdi, sidan er nu brotnadi. Hefi ek haft orostur, medan honum likadi.“ 171 Vgl. Byock 1990, S. 8 f.: „Odin appears here [in der Völsunga saga] as ancestor and patron of the Volsungs’ line and its scion, the dragon slayer Sigurd. Many of the god’s characteristics described in the saga are corroborated by other sources. For example, Odin appears in other Scandinavian and Anglo-Saxon traditions as a progenitor of royal families. He also often bestows gifts on warrior-heroes, a function that he fulfills several times in the saga. […] Sigurd is an Odinic hero, and at crucial moments for Sigurd’s ancestors, Odin’s intervention assures the continuation of the family that is to produce the monster slayer.“ 172 Vgl. Grimstad 2000, S. 19: „As unpredictable as Zeus in Homer’s epics or Jupiter in the Aeneid, he [Odin] can be regarded as one of the forces steering the course of events in the saga; his appearance at critical moments in the guise of a venerable, bearded man signals a change either for the better or for the worse in the fortunes of a given character.“  









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3.1 Odin

Sinfjötli, | Vom Sitz erhebt euch! | Geht zu des Fürsten Empfang! | Zu uns entbietet ihn, | Wenn es Eirik ist! | Sein harr ich jetzt hier“ (Eiríksmál 5).173 Dabei fragt Sigmund den Gott: „Warum nahmst du ihm das Kampfglück, | Wenn er kühn dich dünkte?“ (Eiríksmál 7)174 Odins Antwort lautet: „Nicht weiß man gewiß, | Wann der Wolf, der graue, | Auf den Asensitz anstürmt“ (Eiríksmál 7).175 Odin liefert mit dieser Antwort auch eine Erklärung für das Zufallbringen Sigmunds in der Völsunga saga. Keinesfalls hätte dieser demnach die Gunst seines Patrons verloren, sondern würde nur von ihm – gleich dem herausragenden König Eirik Blutaxt – an dessen Seite gerufen werden, um das Reich der Götter vor den Vorboten der Ragnarök zu beschützen. Es ist keine Strafe und kein Inungnadefallen, sondern eine Auszeichnung. Odin erwählt den Helden durch den frühzeitigen Tod.176 In der Völsunga saga ist es Odin, der den Tod Hamdirs und Sörlis verursacht, indem er den Wachen des Königs Jörmunrek die Schwachstelle der ansonsten unverwundbaren Rächerbrüder preisgibt.177 Die Figur erscheint in ihrer Gestalt als einäugiger Greis, nachdem die Brüder Jörmunrek beide Arme und Beine abgeschlagen haben, ihnen aber Erp als dritter Bruder fehlt, der für die Abschlagung des Kopfes zuständig wäre (vgl. Vs 44). Die Episode ist von einer märchen- und fabelhaften Atmosphäre durchzogen und wird von der Dreizahl dominiert:178 Drei Brüder sollen den König tö 



173 „Sigmundr oc Sinfiatli risit snarlega | oc gangit I gongu grame | inn þu bioð | ef æirikr se | hans er mer nu von vituð.“ 174 „Hvi namt þu han sigri þa | er þer þotti hann sniallr vera“. 175 „þviat ovist er at vita […] | ser ulfr enn hausve | a siot goða.“ 176 Vgl. Hultgård 2007(b), S. 767–769. Vgl. Schröder 1939, S. 353: „Auf die dumpfe Frage, warum Odin, der im Norden zum eigentlichen Gott der Fürsten und ihrer Gefolgschaft geworden ist, immer wieder die höchsten und hehrsten Helden dahinrafft, gerade seine eigenen Schützlinge unter den Königen dem Untergang weiht, lautet nunmehr die Antwort: Gerade der trefflichsten Helden bedarf der Gott als Gefolgsmannen, er bedarf ihrer als Mithelfer und Kämpfer wider die Mächte des Chaos, wenn am Ende der Tage die Unmenge der feindlichen Dämonen zur weltvernichtenden letzten Schlacht heranstürmt. Was vom menschlichen Standpunkt als Falschheit und Treulosigkeit des Gottes erschien, das erhält so seinen tiefen metaphysischen Sinn, sein erhabenes Ethos.“ Vgl. Schneider 1913, S. 341: „wie kommt es, dass ein held von Odin aufs höchste begünstigt sein kann, dass er auf grund seiner tüchtigkeit ebenfalls sieger zu sein verdiente, und der gott ihm doch den sieg entzieht, ja ihm das leben nimmt? […] dem rechtsgefühl auch des kenners der Sigmundsage wurde genüge getan durch die begründung die Odin hier [in den Eiríksmál] dafür gibt, dass er möglichst zahlreiche und hervorragende helden in seine nähe zu ziehen wünscht“. Margaret Schlauch spricht von Odin als „special protector and helper“ (Schlauch 1934, S. 20) der Völsungen. Dass Odin „calls him [Sigmund] home“ (Schlauch 1934, S. 20), gehöre auch zu den hilfreichen Taten des Gottes für sein bevorzugtes Geschlecht. 177 Eine ähnliche verräterische und schadenbringende Rolle nimmt die undurchsichtige Gestalt des „Blind der Unheilstifter“; „Blindr inn bǫlvisi“ (HH. II Prosa nach 1) ein, hinter dem sich, wenn nicht Odin, dann zumindest eine odinartige Figur verbirgt (vgl. von See/La Farge et al. 2004, S. 650–651; vgl. Kroesen 1985, S. 41). 178 Vgl. von See 1981 [1967], S. 231 bzw. von See 1971, S. 25: „Der Dreizahl der Brüder entsprechend ist die Tötung Joermunrekks in drei Akte zerlegt, auf eine ganz unreale Weise stilisiert.“ Vgl. Böldl 2013, S. 84 f.: „So gehört das Motiv des verachteten und missverstandenen, tatsächlich aber entscheidenden  





















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3. Mythische Aufladung

ten, dessen Körper ebenso in drei Sektionen unterteilt ist, für die jeweils einer von ihnen verantwortlich ist. Als Hamdir und Sörli ihren Halbbruder179 Erp töten, da sie das von ihm aufgegebene Worträtsel nicht verstehen – er würde ihnen helfen „[s]o viel wie eine Hand der anderen oder ein Fuß dem andern“ (Vs 44)180 – erfüllen sie nicht mehr die Voraussetzungen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.181 Erp ist nicht nur Opfer des in die Grausamkeit übersteigerten Heroismus Hamdirs und Sörlis,182 sondern auch seines eigenen Mystifizierungsdranges: Es handelt sich nämlich um das Motiv der missverstandenen Antwort,183 die die beiden erst ein wenig später entschlüsseln können, da sie sich mit Hand und Fuß beim Stolpern vor dem Stürzen bewahren. Da kommt letztlich Reue über die Brüder: „Da gestanden sie sich, übel an ihrem Bruder Erp gehandelt zu haben“ (Vs 44).184 Diese Tat wird ihnen am Ende zum Verhängnis: Sie vermögen es, den auf fabelhafte Weise in drei Segmente unterteilten Körper des Königs Jörmunrek zwar zu verstümmeln – sie schlagen ihm Hände und Füße ab –, können ihn aber nicht töten, da der Bruder, der für den letzten und wichtigsten Abschnitt des Leibes verantwortlich gewesen wäre, nicht mehr da ist.185 Die Unverwundbarkeit der Brüder geht einher mit einer undurchsichtigen Warnung ihrer Mutter Gudrun, die Brüder sollten sich davor hüten, „Steinen oder anderen großen Dingen Schaden zuzufügen: das würde ihnen sonst zum Verderben gedeihen, wenn sie nicht so täten“ (Vs 44).186 Der Erzähler kommentiert die Erkenntnis der beiden, dass sie ihren Bruder nicht töten hätten sollen, mit den Worten: „Darin hatten sie auch das Gebot ihrer Mutter außer acht gelassen, daß sie Steine beschädigt hatten“ (Vs 44).187 Ihre Erschlagung wird mit dem Gebotsbruch in Zusammenhang gestellt.188 Letztlich sind es Steine, die den Rächern den Tod  







jüngsten Bruders dem Volksmärchen an; Gleiches gilt für die eigenartige Logik, dass Erp allein die für Hamdir und Sörli rettende Enthauptung des Königs vorbehalten geblieben wäre.“ 179 Bei Snorri Bruder und nicht Halbbruder (vgl. Sskm 42). 180 „Slikt sem haund hendi, eda fotr fęti.” 181 Von See spricht vom Märchenmotiv der „mißverstandenen Antwort“ (von See 1971, S. 27). 182 Siehe 6.2.5. 183 Vgl. allerdings für eine ebenso berechtigte Deutung Schillinger 1962, S. 136: „Dieser Vergleich, der wohl nicht in erster Linie als ein Rätsel gemeint ist, könnte ausdrücken, daß er, der gerade eben als ‚sundrmoeđri‘ [als von einer anderen Mutter abstammend] bezeichnet wurde, seine Halbbrüder trotzdem so unterstützen will, wie ein echtes Brüderpaar, z. B. das Paar der Füße oder Hände, das fleisch- und blutsverwandt ist, sich gegenseitig Hilfe leisten würde.“ 184 „Kvaduzst þeir nu illa hafa giorth vid Erp brodur sinn.“ 185 Eine ungewöhnliche und wohl eher spekulative Interpretation findet sich allerdings bei Edgar Haimerl, der das Überleben Jörmunreks nicht am fehlenden dritten Bruder festmacht: „In der Tat kann Sörli Hamdir mangelnde sapientia und sogar superbia vorwerfen, da er statt Jörmunreck zu töten, ihn durch Verstümmelung demütigen will“ (Haimerl 1992, S. 232). 186 „ęigi skęþia grioti nę avdrum storum hlutum ok kvad þeim þat at meini mundu verda, ef ęigi giordi þeir sva.” 187 „I þvi hofþu þeir af brugdit bodi modur sinnar, er þeir hofþu grioti skatt.” 188 Vgl. Herrmann 1923, S. 135 Anm: „Sie hatten die Steine mit dem Blut ihres Bruders besudelt.“  









3.1 Odin

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bringen.189 Das Vergießen Erps Blutes, vor allem auf Steinen, wird als eine Ursache für das Misslingen der Rache vom Text präsentiert. Die mittelhochdeutsche Literatur kennt diese Art von gespiegelter Strafe: so wird etwa Anfortas, der Fischerkönig und Parzivals Onkel, im Genitalbereich verwundet, weil er eine andere Geliebte hatte, als ihm vom Gral bestimmt ward (vgl. Parzival 478,8–479,12) und Morolt bekommt von Tristan die Hand, das Zeichen seiner Rechtsfähigkeit, abgehackt, um den Tributstreit zwischen Cornwall und Irland zu entscheiden (vgl. Tristan 7046–7049). Hamdir und Sörli werden mit dem bestraft, an dem sie sich vergangen haben, an den Steinen nämlich. Markant ist dabei nicht der Ursprung des Blutes, das die beiden vergießen, also der Leib des Bruders, sondern die Oberfläche, auf die es trifft, nämlich Steine beziehungsweise andere große Dinge, wie zum Beispiel der Boden. Es geht bei dieser Begründung nicht darum, wer getötet wurde, sondern wo die Tat geschehen ist.190 Hamdir und Sörli werden weniger als Brudermörder inszeniert, denn als zwei Personen, die in dem mythisch aufgeladenen Raum, der die magische Unverwundbarmachung und das rätselhafte Hilfsangebot des Bruders umfasst, nicht bestehen können, weil sie sich gegen die Regeln versündigen. Odin fungiert als mythische, tödliche Konsequenz191 einer fabelartigen Ereignisfolge, in die der tote Bruder Erp Einsicht hatte, nicht aber die beiden anderen Brüder Hamdir und Sörli. Durch die Tötung des Halbbruders wird König Jörmunrek genauso untötbar wie die beiden Rächerbrüder, schließlich kann seinem Kopf ja nichts mehr passieren. Die Textstelle gehorcht ihren eigenen Regeln, die Erp von Anfang an verstanden hat und denen Hamdir und Sörli sich unterwerfen müssen. Es wird nicht einmal versucht, König Jörmunrek nach der Verstümmelung zu töten. Der Gott Odin verursacht als Walvater letztendlich den Tod derer, die in diesem märchenhaften Raum nicht bestehen können.192

189 Tatsächlich wirkt das Kapitel 44 der Völsunga saga in Hinsicht auf Hamdirs und Sörlis Unverwundbarkeit recht unschlüssig. Gudrun feit ihre Söhne gegen Eisen, warnt sie aber davor, sich an Steinen zu vergehen. Durch die Erschlagung des Bruders brechen sie dieses Verbot und schädigen Steine, die ihnen letztendlich den Tod bringen. Was an sich schlüssiger anmuten würde, wäre eine Warnung der Mutter vor Steinen, weil die Brüder dagegen nicht gefeit wären. 190 Vgl. Gottzmann 1973, S. 161–162. 191 Nach Klaus von See müssen die Brüder sterben, weil sie „unheldisch und daher unwillig zur Rache“ (von See 1999 [1994], S. 407) seien. Tatsächlich sind sie das nur anfangs. Später werden sie dann überheldisch. Die Tötung Erps entspricht ihrem umfassenden Vernichtungsdrang, in dem sich ein nachgeahmter heroischer Modus manifestiert (siehe 6.2.5). 192 Der Stil der Sequenz von Hamdir und Sörli weicht von den üblichen heroischen Erzählstrategien der Völsungensage ab. Die Hamðismál erscheinen als ‚Anti-Heldensage‘. Vgl. hierzu von See 1981 [1967], S. 225–249, bes. S. 230: „an der sinnlos-übermütigen Tötung Erps und der späten Reue der Brüder wird demonstriert, daß keine Schuld ungestraft bleibt.“ Die Erschlagung des Bruders ist ebenso Ausdruck heroischen Übermuts wie auch Folge des Motivs der missverstandenen Antwort. Carola Gottzmann sieht in Hamdirs und Sörlis Tod eine Strafe für den Mord am Halbbruder Erp und zwar nicht im metaphysischen, sondern im juristisch-moralischen Sinn: „Statt dem Recht zu dienen, begehen sie selbst Unrecht und können daher auch getötet werden“ (Gottzmann 1987, S. 99).  











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3. Mythische Aufladung

Im Eddalied entstammt der Tötungsratschlag dem Munde König Jörmunreks193 (vgl. Hm. 25). Auch die übrigen Überlieferungen der Sage von Hamdir und Sörli lassen Odin nicht auftreten.194 Allerdings finden wir in den Gesta Danorum eine Überlieferung, die Odin in die Nähe der Episode um die Rächer bringt. Das mit den beiden assoziierte Volk sind die Hellespontier, die die zu Tode getrampelte Swanilda rächen: Die Hellespontier […] wandten sich an eine Zauberin, welche Guthruna hiess. Durch ihren Zauber wurden die Vorkämpfer auf der Seite des Königs plötzlich mit Blindheit geschlagen und wandten ihre Waffen gegen sich selbst. […] Bei diesem Kampflärme erschien Othin, eilte mitten in den Knäuel der Kämpfenden und gab den Dänen, die er immer mit der Liebe eines Vaters begünstigt hatte, das durch den Zauber genommene Gesicht in seiner früheren Kraft zurück. Er belehrte sie, dass die Hellespontier, die ihre Leiber gegen Waffen mit Zaubersprüchen festzumachen pflegten, mit Kieselsteinen geschlagen werden müssten. So wurden beide Heerhaufen in wechselseitigem Blutbade aufgerieben. Jarmerik, beider Hände und Füsse beraubt, wälzte sich verstümmelten Leibes unter den Leichen (Gesta Danorum 8, X14).195

Der Text enthält die Elemente der Sage: die zu rächende Schwester, eine Zauberkundige namens Guthruna, die durch Magie gegen Eisen gefeiten Rächer und die Tötung durch Steinigung, letztlich den verstümmelten König Jarmerik. Anders als in den übrigen Texten der Überlieferung – außer eben der Völsunga saga – ist es der Gott Odin, der die Art und Weise aufzeigt, mit der die Hellespontier getötet werden können. Die kurz nach 1200 entstandenen Gesta Danorum zeigen, dass es keine Besonderheit der Saga ist, dass die Figur Odin im Kontext der Hamdir und Sörlisage auftritt. Matthias Teichert geht von einer Mythisierung des Svanhildmythos’ in der Völsunga saga aus: „Der Verfasser der Völsunga saga hat also das Auftreten Óðins  



193 Heizmann 2014, S. 306 zum Odinsauftritt in der Völsunga saga: „Allenthalben greift dort Odin auch an Stellen in das Geschehen ein, wo die zugrunde liegenden Lieder von Odin gar nichts wissen. Bekanntestes Beispiel ist die Steinigung von Hamðir und Sǫrli in Jǫrmunrekrs Halle“. 194 Vgl. von See 1981 [1967], S. 224: „Die Sage von Hamdir und Sörli ist in mannigfachen Versionen überliefert: in der Gotengeschichte des Jordanes aus dem 6. Jh., deren Bericht der historischen Grundlage noch sehr nahe zu stehen scheint, in den Quedlinburger Annalen, der Würzburger Chronik und der Weltchronik des Ekkehard von Aura aus dem 11. und 12. Jh., in altenglischen Versen, die freilich ebenso wie die deutschen Chroniken kaum mehr als einige Namen liefern, dann vor allem im Norden, angefangen vom vielleicht ältesten Text der altnordischen Dichtung, der Ragnarsdrápa des Skalden Bragi aus der 1. Hälfte des 9. Jhs., und den eddischen Hamðismál bis hin zur hochmittelalterlichen Sagaliteratur, der Vǫlsunga saga, dem Sagenreferat der Snorra Edda und dem lateinischen Geschichtswerk des Saxo Grammaticus, zu guter Letzt noch in einer spätmittelniederdeutschen Ballade, Konic Ermenrîkes dôt, die in der erhaltenen Fassung als fliegendes Blatt um 1560 gedruckt wurde.“ 195 „Hellespontici […] veneficam, cui Guthrunæ erat vocabulum, consulunt. Qua efficiente regiæ parties propugnatores subito oculis capti, in se ipsos arma convertunt. […] Eo tumultu superveniens Othinus mediosque prœliantium globos appetens, Danis, quos paterna simper pietate coluerat, ademptum præstigiis visum supera virtute restituit. Hellesponticos vero, corpora adversum tela carminibus durare solitos, crebro silice converberandos esse perdocuit. Ita utrumque agmen mutua cæde consumptum interiit. Iarmericus, utroque pede ac minibus spoliatus, trunco inter examines corpore rotabatur.”  







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nicht bereits in seiner Quelle vorgefunden, sondern es eigenständig in den Handlungsablauf eingebaut.“196 Ebenso möglich ist es aber, dass die Odinsfigur an dieser Stelle keine Erfindung des Autors der Völsunga saga ist, sondern dieser sich auf eine Quelle bezieht, aus der auch die Gesta Danorum bei eben jener Passage schöpfen, in der das mit Hamdir und Sörli assoziierte Volk durch den Ratschlag des Othinus zu Tode kommt. Und tatsächlich darf meines Erachtens die Rolle Jörmunreks als den zur Steinigung Ratschlag Gebenden in den Hamðismál keinesfalls als hundertprozentig gesetzt betrachtet werden. Das Lied nennt den Ratgebenden „inn reginkunngi“ (Hm. 25). Arnulf Krause übersetzt „der Götterabkömmling“197 und kommentiert, dass damit Jörmunrek gemeint sei.198 Der Frankfurter Eddakommentar schlägt allerdings „der mächtig Kluge“199 vor, was meiner eigenen Lesung als ‚der göttlich Weise‘ entsprechen würde.200 Dass es sich beim mächtig/göttlich Weisen oder beim Götterspross nicht zwingend um Jörmunrek handeln muss, sondern dass damit auch Odin gemeint sein kann, bespricht der Eddakommentar, entscheidet sich dann aber auf Grund eines fehlenden Kontextes gegen den Gott und für den gotischen König.201 Auf jeden Fall ist jedoch eine mögliche Verbindung der Götterfigur Odin in der Steinigungsepisode der Rächerbrüder auch in den Hamðismál nicht von Vornhinein auszuschließen.202 Zumindest ist doch Jörmunrek als Figur mit Odinsanklang inszeniert. Zumeist tritt Odin in der Völsunga saga als eine den Protagonisten hilfreiche Figur auf. Seine für Hamdir und Sörli schädliche Rolle am Ende der Saga kann letztlich daher rühren, dass der Sagakompilator diese Funktion des Gottes so in seinen Quellen vorgefunden hat und sie demnach auch so übernommen hat. Dass Odin ein genuines Element der Jörmunreklegende ist, sollte meines Erachtens nicht von Haus aus abgetan werden.203 Letztlich jedoch bleibt die Frage, ob die Völsunga saga den Heldensagenstoff wirklich mythisiert hat – beziehungsweise mythologisiert nach Teichert204 – oder ob es sich um eine Entmythisierung der Überlieferung in der Heldensage handelt, nicht zu beantworten. Die Völsungen begegnen ihrem Gottahnen Odin bisweilen im Nachleben. Seinen Tod quittiert Sigmund mit den Worten „ich werde jetzt unsere dahingegangenen Ge 



196 Teichert 2008, S. 140. 197 Krause 2004, S. 465. 198 Vgl. Krause 2004, S. 465 Anm. 199 von See/La Farge et al. 2012, S. 968. 200 Vgl. zu den Übersetzungsschwierigkeiten von See/La Farge 2012, S. 970–972. 201 Vgl. von See/La Farge 2012, S. 971 f. 202 Bei Snorri jedoch ist es ganz klar Jörmunrek, der den Ratschlag erteilt: „Jörmunrek sagte, sie sollten sie steinigen“; „Þá kallaði Jǫrmunrekkr at þá skal berja grjóti“ (Sskm 42). 203 Diese Theorie unterstützt für mich überzeugend Caroline Brady, die zumindest Anspielungen auf Odin nicht nur in den Hamðismál findet, sondern auch in der Ragnarsdrápa, die auch vom Fall Hamdirs und Sörlis berichtet (vgl. Brady 1940, S. 910–930, bes. S. 912–917). Vgl. zu den Umschreibungen Jörmunreks in den Hamðismál auch Schillinger 1962, S. 137–138. 204 Vgl. Teichert 2008, S. 139 ff.  























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3. Mythische Aufladung

sippen aufsuchen“ (Vs 12).205 Die Eiríksmál berichten von einer Wiedervereinigung mit Sinfjötli in Odins Reich und überhaupt erfahren die Völsungen nach ihrem Tod eine auffällige Nähe zum Gott Odin.206 Von Rerirs Tod während einer Heerfahrt heißt es: „Auf dieser Fahrt begab es sich, daß Rerir krank wurde, und starb darauf und wollte Odin heimsuchen – vielen erschien das wünschenswert in jener Zeit“ (Vs 2).207 Die Umstände des Todes sind nicht klar. Dass Rerir Odin heimsucht oder zu ihm einkehrt stellt der Text nicht als Tatsache dar, sondern als Rerirs Vorhaben. Gleichzeitig erfahren wir von der Sicht der Textwelt auf Rerirs Tod, der wünschenswert oder in irgendeiner Art ruhmreich ist. Es handelt sich um einen Krankheitstod, der an sich aber keinesfalls wünschenswert sein kann. Nun beschreibt die Stelle möglicherweise einen Freitod und dass Rerir zwar erkrankt, dann aber durch die eigene Hand ums Leben kommt, was in der Textwelt als nachahmungswert erscheinen könnte.208 Alternativ ist das Heimsuchen Odins das, was die Saga als wünschenswert schildert. Die Formulierung ‚Odin heimsuchen‘ dient an anderer Stelle als bloße Umschreibung für das Sterben.209 Dass es sich hier allerdings um eine bloße künstlerische Umformulierung han 

205 „ek mun nu vitia frenda varra framgenginna.“ 206 Judy Quinn vermutet, dass die Begegnung mit dem Gott Odin im (fingierten) Bewusstsein aller Vertreter der Völsungen verankert ist, so auch in Völsungs, da er über seine Kriegerethik monologisiert (vgl. Vs 5): „Óðinn is not mentioned in his [Völsung’s] speech, but […] it is reasonable to assume that Vǫlsungr was in no doubt about his reception in the after-life by the god of warriors“ (Quinn 2009, S. 128 f.). Die Frage danach, was literarische Figuren des Mittelalters denken, birgt stets die Gefahr, diese Figuren zu psychologisieren und von ‚uns‘ auf ‚sie‘ zu schließen. Wenn wir Dinge wahrnehmen, dann haben wir immer das Bedürfnis, das Wahrgenommene zu vervollständigen. Vgl. dazu Schulz 2015, S. 8: „Literarische Figuren erwecken ganz selbstverständlich den Anschein, echte Menschen zu sein. Was uns die Texte nicht über sie erzählen, vor allem über ihr Innenleben, ergänzen wir spontan aus unserem eigenen Erfahrungsschatz, aus unseren eigenen Gefühlen und Gedanken, wenn wir uns vorstellen, in der gleichen Situation zu sein. Das funktioniert selbst dort, wo die Figuren eigentlich recht blaß bleiben, weil wir, wie etwa im Fall von Märchen, nur dasjenige erfahren, was die Figuren tun.“ So erliegen wir oft dem Bedürfnis, echte Menschen aus den Modellen zu machen, die die Literatur uns liefert. Der Völsung der Völsunga saga ist allerdings ein literarisches Produkt des 13. Jahrhunderts und kann deswegen bei seiner Rede Odin nicht im Sinne haben. Genaugenommen hat er garnichts im Sinn, sondern provoziert den Rezipienten nur dazu, selbst etwas im Sinn zu haben. Womit Quinn allerdings Recht hat, ist, dass Völsungs Monolog über seinen Kriegerethos und seine Schicksalsergebenheit im Sinne eines Odinkultes ist, wie er uns aus den mythologischen Quellen überliefert ist. Die Völsungen sind mit der Figur Odins verwoben und Völsungs Geisteshaltung entspricht der der odinverehrenden Kriegeraristokratie („The code of honour Vǫlsungr articulates is a manifesto of dynastic reputation“, Quinn 2009, S. 129). 207 „I þesse ferd vard þat til tidenda, at Rerir tok sott ok þvi nęst bana ok ętladi at sekia heim Odinn, ok þotti þat morgum fysilikt i þann tima.“ 208 Vgl. Finch 1965, S. 81. 209 Vgl. Raudvere 2007, S. 123: „References such as a visit to Óðinn, or going to Hel, are not so much cosmological references to the realm of the dead in a mythological topography but appear rather to be formulaic expressions.” Feststehende Ausdrücke dieser Art finden sich in der Völsungensage an mehreren Stellen, beziehen sich aber ausschließlich auf Hel (vgl. z. B. Vs 18, 35, 38, 39, 40, 43, 44, Fm. 10, Am. 55, 56, 97, Gkv. 19, Hm. 16). Meines Erachtens ist die Erwähnung des Götternamens an der Stelle von Rerirs Tod nicht nur eine bloße Redensart.  



















3.1 Odin

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delt, scheint auf Grund des Zusatzes, es sei wünschenswert, unwahrscheinlich. Kaum wird der Krankheitstod das Wünschenswerte sein. Es muss also der Kontakt mit dem Gott in der Nachwelt gemeint sein. Obschon der Tod des Helden seine Biographie vervollständigt, erfahren wir nicht von Helgis Tod in der Völsunga saga. Die Saga sagt nur, Helgi komme „in dieser Geschichte nicht mehr vor“ (Vs 9).210 Die Helgakviða hundingsbana önnur allerdings berichtet von seiner Erschlagung durch seinen Verwandten Dag. Nach Helgis Tod heißt es: „Ein Hügel wurde über Helgi errichtet. Und als er nach Walhall kam, da bot ihm Odin an, alle Macht mit ihm zu teilen“ (HH. II Prosa nach 38).211 Gemäß der gesonderten Stellung der Völsungen nimmt Helgi auch in der Nachwelt eine besondere Position an der Seite von Odin ein.212 Ob das mit der Abstammung vom Gott zu tun hat, wird nicht ersichtlich, vor allem, weil Helgi, in Form einer kenning und vielleicht aus reimschematischen Gründen, durch einen Beinamen eine andere Herkunft attestiert wird: In der Helgakviða Hundingsbana wird er als „Nachkomme Yngwis“ (HH. 55),213 also Freyrs, angesprochen. Das Angebot Odins, die Herrschaft mit Helgi zu teilen, erfolgt trotz der Todesumstände: „Helgi wurde nicht alt. Dag, Högnis Sohn, opferte Odin um Vaterrache. Odin lieh Dag seinen Speer. Dag traf Helgi, seinen Schwager, an dem Ort, der Fjöturlund heißt. Er durchbohrte Helgi mit dem Speer. Dort fiel er“ (HH. II Prosa nach 29).214 Später benennt Dag gegenüber seiner Schwester Sigrun den wahren Schuldigen an Helgis Tod: „Allein Odin bewirkte das ganze Unglück, | weil er Streitrunen zwischen Verwandte warf“ (HH. II 34).215 Im selben Narrativ nimmt Odin zwei Rollen ein. Er operiert für und wider dieselbe Figur.216 Seine erste Rolle ist die eines unpersönlichen Rachegottes, der durch Opfer angerufen wird. Wer das Ziel der Rache ist, hat dabei keine Bedeutung, Günstling des Gottes oder nicht. Die andere Rolle der Figur ist die des Göttervaters, der den Toten empfängt und ihm Macht in der Nachwelt einräumt. Dass aber die Gunst des Gottes unberechenbar ist, bezeugt Dag selbst: Odin entscheide, zwischen wem es Streit gebe. Der Gott wird als Verursacher für Helgis Tod gezeichnet, obschon er ihn im Nachleben gesondert begünstigt. Wir finden dasselbe

210 „er hann her ecki siþan vid þessa saugu.“ 211 „Haugr var gorr eptir Helga. Enn er hann kom til Valhallar, þá bauð Óðinn hánom ǫllo at ráða með sér.“ 212 Unauthentisch für Klaus Böldl: „eine Erfindung des Dichters, die der Glorifizierung des Helden dient“ (Böldl 2013, S. 87). 213 „áttstafr Yngva“. 214 „Var Helgi eigi gamall. Dagr, Hǫgna sonr, blótaði Óðin til fǫðurhefnda. Óðinn léði Dag geirs síns. Dagr fann Helga, mág sinn, þar sem heitir at fioturlundi. Hann lagði í gogni Helga með geirnom. Þar fell Helgi.“ 215 „einn veldr Óðinn ǫllo bǫlvi, | þvíat með sifiungom sacrúnar bar.“ 216 Otto Höfler erklärt die Rolle Odins in der Erzählung als Residuum eines Opferkultes im Fesselhain, in dem Helgi ja auch im Eddalied ums Leben kommt (vgl. Höfler 1952(a), S. 28–32). Die geliehene Waffe ist hierbei der „Gott-Speer“ (Höfler 1952(a), S. 29), mit dem das geweihte Opfer getötet wird.  





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3. Mythische Aufladung

Muster wie bei Sigmund vor: Der Gott wird zum Verursacher des Todes und doch findet sich der Held später an Odins Seite in der Nachwelt. Die Prosapassage Frá dauða Sinfjǫtla und das zehnte Kapitel der Völsunga saga beschreiben den Tod Sinfjötlis auf nahezu identische Weise. Da Sigmund die Leiche seines Sohnes Sinfjötli fort trägt, trifft er auf einen Odin ähnlichen Fährmann:217 Da sah er einen Mann in einem kleinen Boote; dieser Mann fragte, ob er von ihm über den Fjord gefahren werden wollte. Er bejahte es. Das Schiff war so klein, daß es sie nicht alle trug; die Leiche wurde zuerst aufs Schiff gebracht, Sigmund aber ging den Meerbusen entlang. Und alsbald entschwand das Schiff dem Sigmund aus den Augen und auch der Mann (Vs 10).218

Wie zufällig ist das Schiff zu klein, weswegen der noch lebende Sigmund nicht an der Überfahrt teilnehmen kann. Wie bei Sigis Verbannung aus Odins Heimatland zuvor liefern die Texte keine Erklärung, wohin der tote Sinfjötli gebracht wird oder wie das mythische Land und die Welt der heroischen Vorzeit zusammenhängen.219 Die Episode hat nur einen angedeutet metaphysischen Charakter. Sigmund selbst reagiert in keiner Weise auf das Verschwinden des Körpers des Sohnes.

217 Dass das Odin ist, wird nicht expliziert. Die Forschung geht allerdings davon aus. Vgl. Krause 2004, S. 298 Anm.: „Der namentlich ungenannte Fährmann dürfte Odin gewesen sein.“ Vgl. Herrmann 1923, S. 61 Anm.: „Der Totenferge ist Odin.“ Vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 128: „Möglicherweise verbirgt sich hinter dieser Person Odin“. Vgl. Lionarons 1998, S. 53: „Sinfjǫtli remains a part of the saga’s ‚natural‘ world despite his superhuman resistence to physical torture and his early tenure as a werewolf. When he dies, his body is also sent over the sea, but both the saga’s author and his audience know well who receives the body and what its final destination shall be“. Vgl. Lassen 2011, S. 156: „Den ukendte mand kann være Odin, men der nævnes ingen elementer […], der gør denne identifikation sikker“. Vgl. Egeler 2015, S. 129: „nach allgemeiner Auffassung handelt es sich bei dem enigmatischen Fährmann um den Gott Odin“. Vgl. Teichert 2008, S. 140: „Óðinn […] nimmt in Gestalt eines Fährmanns den Leichnam des ermordeten Sinfjǫtli auf und geleitet ihn in die Totenwelt“. Vgl. Motz 1996, S. 72 f.: „Óðinn […] ferried the dead Sinfjǫtli to his resting place“. Vgl. Grimstad 2000, S. 31: „Odin […] plays the mysterious ferryman who carries the body of Sinfjotli away in his boat“. Vgl. Schlauch 1934, S. 20: „Odin […] himself carries Sinfjótli’s body away – to Valhall, no doubt“. 218 „Þar sa hann mann a einum bate litlum. Sa madr spyr, ef hann villde þiggia at honum far yfir fiordinn. Hann iattar þvi. Skipit var sva litid, at þat bar þa eigi, ok var likit fyrst flutt, enn Sigmundi geck med firdinum. Ok þvi nęst hvarf Sigmundi skipit ok sva madrinn.“ Inhaltlich identisch in Frá dauða Sinfjötla: „Dort war ein kleines Schiff und darauf ein Mann. Er bot Sigmund die Fahrt über den Fjord an. Aber als er die Leiche hinaus aufs Schiff gebracht hatte, da war das Boot beladen. Der Mann meinte, Sigmund solle innen um den Fjord herumgehen. Er stieß das Schiff ab und verschwand schnell“; „var þar scip eitt lítið oc maðr einn á. Hann bauð Sigmundi far of fiorðinn. Enn er Sigmundr bar líkit út á scipit, þá var bátrinn hlaðinn. Karlinn mælti, at Sigmundr scyldi fara fyrir innan forðinn. Karl hratt út scipino oc hvarf þegar“ (Sf.). 219 Vgl. Johnson 1979, S. 44: „the saga writer is not concerned that we feel or ponder any disjunction between this world and the next.“    























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3.1 Odin

3.1.6 Authentizität und Ambivalenz Es wurde angezweifelt, ob die Figur Odins wirklich ein authentischer Teil der Sage von den Völsungen ist oder ob das Heldengeschlecht durch die Literatur des 13. Jahrhunderts nur eine künstliche Verwurzelung in der mythischen Welt erfahren hat.220 Die Monographie ‚Von der Heldensage zum Heroenmythos‘ von Matthias Teichert beschäftigt sich zu einem großen Teil damit, inwiefern die ursprünglichen Sagenstoffe durch Modifikationen in einen pseudomythischen Rahmen gestellt werden. Zur Odinsfigur in der Völsunga saga sagt Teichert:  

Bezeichnenderweise tritt Óðinn außer an den durch die Edda vorgegebenen Stellen in der Vǫlsunga saga ausschließlich in den Teilen auf, die als Vorgeschichten (Sigmundsage), stoffliche Erweiterungen (Sigurds Jugend) oder ‚sekundäre Anwucherungen‘ (Sigi-Rerir-Handlung) zu werten sind und die die gesamten ersten acht Kapitel des Textes sowie spätere Beifügungen in den cap. 13, 17 und 18 umfassen, während er in der eigentlichen Kernhandlung der Völsungen-Nibelungen-Fabel (Brautwerbung und Zank der Königinnen, Sigurds Tod, verräterische Einladung und Burgunden-/Gjukungenuntergang) überhaupt keine Rolle spielt. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit der im Anschluß an Th. Klein formulierten Gesetzmäßigkeit, daß mythisierende Elemente sich zunächst und am leichtesten an der Peripherie eines Stoffes ansetzen und erst spät auf einer weit fortgeschrittenen Mythisierungsstufe auf den konstanteren, schwerer umzuformenden inhaltlichen Nucleus übergreifen.221  

Was die Gewichtung der Episoden betrifft, steht die Aussage Teicherts völlig im Einklang mit der Klaus von Sees: „Allerdings gehören die Jung-Sigfrid-Abenteuer wohl nicht zum Kern der Sage. Mittelpunkt der Sigfrid-Sage ist vielmehr der Tod am Burgundenhof. Die Jugendabenteuer sind sekundäre Anwucherungen, in denen sich märchenhafte oder auch mythenhafte Erzählmotive widerstandslos festsetzen konnten.“222 220 Vgl. von See 1981 [1978], S. 157: „gerade die jüngeren skandinavischen Texte [haben] die Neigung […], Odin in die Sagenhandlung eingreifen zu lassen. Mythische Motive gewinnen hier dieselbe Ausschmückungsfunktion, die andernorts Märchenmotive haben.“ Vgl. von See 1999 [1994], S. 408: „Indem die VRS [Völsunga saga ok Ragnars saga] Odin zum Stammvater und Schutzpatron des Völsungengeschlechts und damit auch des norwegischen Königshauses macht, steht sie in der Nachfolge der Konzeption Snorris, der – wohl nicht zuletzt in der Absicht, dem Kulturimport aus West- und Mitteleuropa entgegenzuwirken – genuine Traditionen zu reaktivieren suchte und den heidnischen Mythos zum Inbegriff einer nordischen ‚Sonderkultur‘ machte.“ Vgl. Teichert 2008, S. 140: „Der Verfasser der Vǫlsunga saga hat also das Auftreten Óðins nicht bereits in seiner Quelle vorgefunden, sondern es eigenständig in den Handlungsablauf eingebaut.“ Vgl. Böldl 2013, S. 86: „Die Odinsmotive in der Völsunga saga können also offenkundig nicht als Schwundspuren einer ehemals stärker mythisch fundierten Nibelungensage aufgefasst werden; vielmehr hat der hochmittelalterliche Autor der Saga der Geschichte diese Sinnebene eingezogen.“ Vgl. als Gegenstimme Buchholz 1980, S. 99: „Wir dürfen seine [Odins] zentrale Funktion in den alten Überlieferungen der Vǫlsunga saga, Hervarar saga, Hálfs saga und Hrólfs saga kraka sowie bei Saxo mit gutem Gewissen für ursprünglich halten.“ 221 Teichert 2008, S. 141. 222 von See 1971, S. 25.  

















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3. Mythische Aufladung

Eine Beurteilung, welche Passagen der Sage ursprünglich und welche Beifügungen sind, scheint nach meinem Dafürhalten kaum möglich. Sigurds Jugendabenteuer und die Erzählung um seine Ermordung sind vor allem im mittelhochdeutschen Nibelungenlied verwoben. Seine Tötung wird erst durch die Offenbarung seiner einzigen verwundbaren Stelle überhaupt möglich (vgl. Nl 899,1–902,4). Generell ist die mythische Vorgeschichte Sigurds im Nibelungenlied keinesfalls eine sekundäre Beifügung eines mythenbegeisterten Erzählers aus dem 13. Jahrhundert, sondern vielmehr ein nicht wegzudenkendes Überbleibsel, das nahezu zum blinden Motiv verkommen ist.223 Der nordische Sigurd erhält seine Identität durch den Drachenkampf, er wird ‚Fafnisbani‘, der Fafnirstöter.224 Diese Identität hat er in den Texten der skandinavischen Nibelungenüberlieferung in den Passagen, die von von See oder Teichert als inhaltlicher Nucleus gedeutet werden, sehr wohl inne, was darauf hinweist, dass die nur scheinbar periphere Episode doch viel konstituierender ist, als von den oben genannten Untersuchungen angenommen.225 So argumentiert auch Wilhelm Heizmann, wenn es um die Gewichtung und den Mythosgehalt der Sage von Sigurds Jugendjahren geht: „An anderer Stelle schießt von See aber in seinem Bemühen, Mythos und Heldensage soweit wie möglich getrennt zu halten für mich [Heizmann] deutlich übers Ziel hinaus. […] Probleme sehe ich insbesondere bei von Sees Beurteilung der Jung-Sigurd-Abenteuer.“226 In seiner Untersuchung belegt Heizmann die bereits frühe Verbindung zwischen Jungsigurderzäh 

223 Vgl. McConnell 1999, S. 179 und Reichert 2003, S. 29–30. Vgl. den Forschungsüberblick bei Mühlherr 2009, S. 462–469 sowie dagegen Anna Mühlherrs eigene Interpretation der mythischen Dinge im Nibelungenlied Mühlherr 2009, S. 489–492. 224 Vgl. Teichert 2014, S. 152: „Sigurds wesentliche Funktion ist fortan die des siegreichen Drachenkämpfers […] und als sein vorrangiges Attribut wird in verschiedenen Eddaliedern wiederholt Fáfnirs Gold erwähnt.“ 225 Sigurd wird bei der Walkürenbegegnung auf dem Hindarfjall (vgl. Vs 21) und bei seiner Beschreibung (vgl. Vs 23) als Fafnirstöter inszeniert. Bei seiner Ankunft bei Heimir heißt es, dass er durch diese Tat Ruhm erlangt hätte (vgl. Vs 24). Dort webt Brynhild seine Tat auch in einen Teppich (vgl. Vs 25). Nach der Hochzeit mit Sigurd isst Gudrun ein Stück von Fafnirs Herz (vgl. Vs 28, Gðr. I Prosa vor 1). Bei der Brautwerbung wird in einer Strophe Bezug auf Regin genommen, der eine Figur aus der Vorgeschichte Sigurds ist (vgl. Vs 29). Beim Frauenstreit wird Sigurds Drachentötung zweimal in der Prosa und einmal in einer Strophe erwähnt (vgl. Vs 30), ebenso im Gespräch mit Brynhild (vgl. Vs 31), bei der Verbrennung seines Leichnams (vgl. Vs 33) sowie in Gudruns Klage nach der Aufreizung ihrer Söhne (Vs 43). Bei der verräterischen Einladung wird auf den Hort von der Gnitaheide angespielt (Vs 35), beim Hallenkampf wird Sigurds Schatzhort erwähnt (Vs 38). Die Eddalieder, die die respektiven Passagen besprechen, beziehen sich vor allem auf den Ursprung des Schatzhortes, der die Erzählungen mit der Handlung um Sigurds Drachentötung verknüpft. Im Dráp Niflunga wird von „Fafnirs Erbe“; „Fáfnis arf“ (Dr.) gesprochen, der Oddrúnargrátr erwähnt „die Rückenlast Granis“; „hliðfarm Grana“ (Od. 21). Selbst in der Atlakviða finden sich Bezüge auf die Gnitaheide (vgl. Akv. 5, 6). Der Schatzhort wird hier als das „Erbe der Niflungen“; „arfi Niflunga“ (Akv. 11) umschrieben und an anderer Stelle „asenentstammt“; „áskunna“ (Akv. 27) genannt. 226 Heizmann 2014, S. 306.  

















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3.1 Odin

lung und Mythos in Text- und Bilddenkmälern.227 Angesichts dieser Verknüpfung ist es nicht unwahrscheinlich, dass auch der Gott Odin nicht ausschließlich dem Bedürfnis der Erzählkultur des 13. Jahrhunderts entspricht, die Heldensage der Völsungen zu mythisieren. Odin ist das Alpha und das Omega der Völsunga saga und von beiden respektiven Passagen wird angenommen, dass es späte Beifügungen sind, um einen pseudomythischen Rahmen für die Saga zu erstellen. Eingedenk der Erwähnungen der Odinsfigur bei Snorri und Saxo scheint mir die Authentizität des Gottes im Kontext der Völsungen allerdings viel weniger unwahrscheinlich als ansonsten von der Forschung angenommen. Die Völsungen sind mit der mythischen, göttlichen Welt eng verbunden.228 Die Mitglieder der Sippe werden im Laufe ihrer jeweiligen Biographie immer mehr mit mythischen Inhalten angefüllt. Sie werden damit zu untypischen Vertretern der germanischen Heldensage, der bisweilen nachgesagt wird, in ihren Ursprüngen völlig unmythisch und unreligiös zu sein.229 Die hier untersuchten Texte inszenieren sie als mythisch konstruierte Helden – als Heroen –230 im Sinne unserer vorangegangenen Definition.231 Für das Handeln Odins beobachtet Victor Millet:  





Wie man sieht, ist Odins Eingreifen selten positiv; es begleiten ihn Tod und Untergang. Und dennoch ist er es, der das Überleben des Geschlechts bis zum Ende der Heldenzeit garantiert, wenn auch immer nur durch einen einzigen Vertreter. So ist die Volsungen-Dynastie unauslöschbar, wenn auch stets begrenzt auf den einzigartigen Repräsentanten, sei es Mann oder Frau (Svanhild), der als göttlich Erwählter erscheint.232

Das Wirken der Götterfigur ist ambivalent und zumeist unberechenbar.233 Oft erweisen sich Handlungen, die zunächst als Segen scheinen, im Nachhinein als schädlich für die Protagonisten der Erzählungen. Eine Wertung über die Figur bleibt dabei allerdings aus.234 Zwei Rollen werden von Odin eingenommen: Zum Einen ist das die des

227 Vgl. Heizmann 2014, S. 305–337. Zur Verbreitung der Motive der Völsunga saga inner- und außerhalb Skandinaviens in Text- und Bilddenkmälern vgl. Aðalheiður Guðmundsdóttir 2012, S. 63–78. 228 Vgl. hierzu Raudvere 2007, S. 122: „The heroic in the saga text seems to be situated between the human and the divine“. 229 Vgl. Heusler 1969 [1909], S. 502; vgl. von See 1971, S. 31–60. 230 Klaus Böldl spricht sich gegen eine Definition der Figuren der nordischen Heldensage als Halbgötter aus. Die Abstammung von Odin sei nicht genug, es bedürfe zusätzlich einer Verschränkung der Götter- und der Heldenwelt wie sie z. B. in der griechischen Mythologie vorliegt. Vgl. Böldl 2013, S. 83: „Die Sphären menschlichen und göttlichen Handelns sind, anders als etwa in den antiken Sagen, streng getrennt. Entsprechend kennt der Norden zwar von Göttern abstammende Könige, aber keine Halbgötter.“ 231 Siehe 2.3.1. 232 Millet 2008, S. 320. 233 Vgl. Buchholz 1980, S. 99 f.: „In der Gestalt des göttlichen Zauberherrn war angelegt, daß keine Partei seines Beistandes für immer sicher sein konnte“. Vgl. Derolez 1963, S. 95–97. 234 Vgl. Lassen 2011, S. 158: „Som det var tilfældet i Hervarar saga ok Heiðreks, er han ikke negativt skildret til trods for sin til tider negative rolle – set fra vølsungernes synspunkt. Odin fremstår som en over 



























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3. Mythische Aufladung

Ahnherren, dessen Einwirken von Wohlwollen gegenüber seiner Sippe geprägt ist. Er verhilft seinen Schützlingen zu Herrschaft, tritt als Fruchtbarkeitsspender auf und erscheint als Helferfigur, die mit Geschenken – das Schwert, Sigurds Pferd – aufwartet oder Rat erteilt. Prekärer ist da schon Odins Auftritt bei Signys Hochzeitsfest. Scheinbar hilfreich und wohlwollend ist er es, der Zwietracht zwischen den beiden Sippen sät und die Ereignisse um Völsungs Tod und die fast gänzliche Auslöschung der Sippe akzeleriert, und zwar auf einem Fest, welches in der zentraleuropäischen Literatur als Institution Kardinalspunkt der gesellschaftlichen Ordnung ist. Zum Anderen nämlich hat Odin seine übliche Rolle als Schlachten- und Walvater inne, der über das Schicksal der Krieger bestimmt und ihnen nach seinem Sinnen den Tod bringt. Auch die Völsungen und die letzten Vertreter der Gjukungen sind vor dem Richtspruch der Götterfigur nicht gefeit. In dieser Funktion lässt die Figur heroisches Handeln zu Tage treten, dessen Ziel allerdings letztlich die Selbstzerstörung ist.235 Diese beiden Extreme der Odinsdarstellung in der Völsungensage begründen sich aus der Unvereinbarkeit seiner eigentlichen ‚kanonisch-mythischen‘ Funktion als Schlachten-, Schicksals- und Totengott236 und der Rolle, die er in der Sage einzunehmen hat, nämlich die eines Helfers, Ahnen und Fruchtbarkeitsgottes.237 Dadurch erhält die Figur den Anschein des Inkohärenten und wirkt nicht aus einem Guss gefertigt.238 Als mythisches ausführendes Organ der Willkür der völsungischen Welt allerdings erfüllt der Gott auf vollkommen angemessene Weise seine Funktion. Hel 



naturlig skikkelse, en gud, der kann intervenere i heltenes jordiske liv; i den kontekst forekommer det irrelevant at dømme hans interventioner som negative eller positive.“ Vgl. auch Gottzmann 1979, S. 14–15. 235 Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 151: „This is entirely in keeping with the tradition of the Odinic hero, accompanied and protected by the god to the same extent that he wages war that will result in warriors dying to swell the host of the einherjar. Óðinn’s ploy is always to put into circulation some object that will excite envy and greed, leading to war.“ 236 Wie z. B. bei Snorri transportiert (vgl. Gylf 20). 237 Vgl. Böldl 2013, S. 84: „Odin ist in der Heldensage besonders präsent, in seiner Funktion als Schlachtengott, aber auch als weiser Ratgeber.“ Vgl. Grimstad 2000, S. 32: „Odin is the most complex of all the deities in Norse mythology, and this complexity is reflected in the roles he plays in the saga. […] Structurally his role is that of a supernatural donor or helper figure, and it is consonant with the saga’s mythological veneer that his interventions sometimes help and other times harm the character involved.“ Vgl. von See 1999 [1994], S. 407: „Der Intention der VS entspricht es, daß Odin in ebendieser Helferund Beschützerrolle auch an den ‚Selektionen‘ beteiligt ist“, nämlich den präzisen Auslöschungsprozessen, die das heroische Potenzial in wenigen Vertretern der Völsungensippe konzentrieren (siehe 4.1.1). Vgl. Brady 1940, S. 926: Odin „is traditionally a perilous helper; his wishes do not always coincide with those of his devotees. He gives them victory and glory, only to bring about their destruction when he finds it desirable to take them to Valhalla.“ Für die Funktionen Odins in den Vorzeitsagas vgl. Lassen 2003(a), S. 213–215. 238 Problematisch wirken deshalb bisweilen Versuche, die unvereinbaren Handlungselemente der Überlieferung in einem einzigen Interpretationsversuch unter einen Hut zu bringen (wie z. B. Gottzmann 1987, S. 73–108).  



















3.2 Walküren

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dendichtung erzählt auf das Ende zu, auf den Untergang der Figuren und Odin tritt als Katalysator auf um diesen herbeizuführen.

3.2 Walküren 3.2.1 Junge Fremdwesen Die Völsungen stehen nicht nur durch ihre Begegnungen mit dem Gott Odin der anderen Welt nahe, sondern auch durch ihre Vermählungen mit Frauen, die durch ihre Natur als Walküren239 oder Wunschmaiden im mythischen Bereich verwurzelt sind.240 Vornehmlich sind diese weiblichen Akteure Hljod, Sigrun241 und Brynhild, wovon letztere bei der Hindarfjallbegegnung in den Heldenliedern als Sigrdrifa242 auftaucht. Die Völsunga saga berichtet über die Herkunft und Natur Hljods: „Odin rief eine Wunschmaid, die Tochter des Riesen Hrimnir“ (Vs 1).243 Die Funktion einer Walküre ist die einer ‚Toten-Wählerin‘.244 Sie wählt aus, wer auf dem Schlachtfeld sein Leben lassen muss. Mit der Wunschmaid verhält es sich ebenso. Mag es zunächst wie eine für den männlichen Helden ganz positive Bezeichnung für eine Frauenfigur klingen, als ob er sich da ein Mädchen – etwa als Sexualobjekt – ‚wünschen‘ dürfe, ist es genau andersherum: Die Maid wünscht sich, wer von den Männern sterben muss.245 Diese Tätigkeit spiegelt sich jedoch in Hljods Rolle als Apfelbringerin und als spätere Ehefrau Völsungs nicht wider. Sie ist eine Fruchtbarkeitsfigur, die die Prosperität der Völsungensippe gewährleistet.246 Die Wunschmaid reist in Krähengestalt von den  



239 Vgl. Egeler 2011, S. 31–115. Matthias Egeler liefert eine umfassende Merkmalssammlung der Walkürenfiguren mit vielen Erwähnungen der Völsungensage. 240 Zimmermann 2007, S. 597: „In der eddischen Heldendichtung zeigt sich […] eine Ausweitung des W[alküren]-Begriffs auf Sagenfiguren, bei denen es sich urspr. wohl nicht um W[alküren] handelte.“ 241 Zu den Walkürenfiguren in den Helgiliedern vgl. de Vries 1957(b), S. 129–134. 242 Vgl. Dörner 1993, S. 43: „Nach herrschender Meinung bezeichnet Sigrdrífa ‚Siegtreiberin‘ als Appellativ ihre Tätigkeit.“ 243 „Hann […] tekr oskmey sina, dottur Hrimnis iotuns“. 244 Vgl. Lionarons 2005, S. 288. Vgl. Egeler 2011, S. 38: „Als valkyrjur sind sie die ‚Wählerinnen der Schlachtentoten‘“. Vgl. Egeler 2011, S. 47: „Sie bestimmen im Auftrag Odins, wer stirbt; sie bestimmen, wer siegt; sie verkünden dem toten König sein Jenseitsschicksal und seine Berufung nach Walhall“. Vgl. Egeler 2011, S. 72: „Die Walküren sind Wesen des Schlachtfelds und der Halle der toten Krieger.“ 245 Alternativ schließt Matthias Egeler eine sexuelle Komponente aus der Bezeichnung nicht aus: „[Die implizite Sexualität der Walküren] legt vielleicht auch eine mögliche Deutung der Walkürenbezeichnung ósk-mær ‚Verlangens-Mädchen‘ nahe: Möglicherweise ist auch dieses ‚Verlangen‘ sexuell konnotiert“ (Egeler 2011, S. 104). 246 Quinn 2009, S. 139: „The role of the valkyrie Hljóð is to graft something of the super-human onto the family tree at a crucial time, to reaffirm the ‚chosen‘ status of Vǫlsungr – wished into life rather than chosen for death, and chosen for greatness – and to furnish him with heroic values appropriate to the patriarch of a great dynasty.“ Der mythische Gehalt des Geschlechtes wird konstant aufgefrischt.  























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3. Mythische Aufladung

Göttern zu Rerir. Eine solche Tiergestaltigkeit247 finden wir auch bei den Walküren der Völundarkviða, wenn es heißt: „Bei ihnen lagen ihre Schwanenhüllen“ (Vkv. Einleitungsprosa).248 Sie werden als fliegend beschrieben: „Mädchen flogen von Süden, durch den Myrkwid, | junge Fremdwesen, das Schicksal zu vollziehen“ (Vkv. 1).249 Schwanenaffin ist auch Brynhild: Beim Treffen mit Sigurd in Gunnars Gestalt, antwortet sie „in Kümmernis von ihrem Sitze, wie ein Schwan von der Woge“ (Vs 29).250 Ferner stellt der Vergleich das Sublime und Erhabene ihres Kummers dar. Von ihren Hüllen251 spricht Brynhild zudem in der Helreið Brynhildar: „Der mutvolle König nahm unsre Hüllen, | von acht Schwestern, unter die Eiche getragen“ (Hlr. 6).252 Sigrun wird die Frau Helgis. Als ihr die Heirat mit einem ungewollten Mann droht, sucht sie den völsungischen Helden auf: „Hödbrodd […] verlobte sich mit Sigrun, Högnis Tochter. Aber als sie dies erfuhr, ritt sie mit den Walküren über Luft und Meer, um Helgi zu suchen“ (HH. II Prosa nach 13).253 Dieses wundersame Reisen, durch die Luft fliegend oder reitend, finden wir auch an anderer Stelle im selben Lied: „Högni hieß ein König. Seine Tochter war Sigrun, sie wurde Walküre und ritt über Luft und Wasser. Sie war die wiedergeborene Swawa“ (HH. II Prosa nach 4).254 Sigrun wird als die wiedergeborene Figur aus der Helgakviða Hiörvarðssonar inszeniert. Helgi nennt sie ein „Fremdwesen“ (HH. II 26)255 und benutzt damit eine Walkürenbezeichnung, die wir auch in der Völundarkviða finden können – „junge Fremdwesen“ (Vkv. 1, 3).256 Die Walküre ist in ihrer Natur andersartig. Sie ist ein entrücktes Wesen, das sowohl in die mythische, als auch in die profane Welt des Textes hineinragt.257 Sigrun wird der mythischen Rolle der Walküren als Schlachten- und Todesfiguren durchaus gerecht. Sie ist ein kriegerisches Geschöpf. Sich durch die Luft bewegend, beschützt sie Helgi in der Schlacht: „Da kamen vom Himmel Helmwesen herab | – der Lärm der Speere wuchs –, die den Fürsten schützten“ (HH. 54).258 Ihre Funktion deckt sich mit der der Disen, die in der Völsunga saga als Schützerinnen Sigmunds im  









247 Vgl. zu den Schwanenhüllen der Walküren und ihrer Vogelgestaltigkeit Egeler 2011, S. 66–79. 248 „Þar vóro hiá þeim álptarhamir þeira.“ 249 „Meyiar flugo sunnan, myrcvið í gognom, | alvitr unga, ørlǫg drýgia“. 250 „af ahyggiu af sinu sęti, sem alft af baru“. 251 Brian Murdoch bemerkt, dass auch die Meerfrauen, denen Hagen ihre Gewänder wegnimmt (vgl. Nl 1534,1–4) in der Nähe des Schwanenjungfernmythos stehen (vgl. Murdoch 2001, S. 869). 252 „Lét hami vára hugfullr konungr, | átta systra, undir eic borit“. 253 „Hǫðbroddr […] fastnaði sér Sigrúno, Hǫgna dóttur. Enn er hon spyrr þat, þá reið hon með valkyrior um lopt oc um lǫg at leita Helga.“ 254 „Hǫgni hét konungr. Hans dóttir var Sigrún, hon varð valkyria oc reið lopt oc lǫg; hon var Sváva endrborin.“ 255 „alvitr“. 256 „alvitr unga“. 257 Für die Helgilieder spricht Arnulf Krause von einem „vermenschlichte[n] Walkürenbild“ (Krause 2004, S. 206), das auf „eine eher romantisierende Beschäftigung mit der heidnischen Vergangenheit“ (Krause 2004, S. 206) hinweise. 258 „Kómo þar ór himni hiálmvitr ofan | – óx geira gnýr –, þær er grami hlífðo“.  













3.2 Walküren

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Kampf vorgestellt werden:259 „so schützten ihn seine Spadisen, daß er nicht verwundet wurde“ (Vs 11).260 Die Schlacht ist der Zeitpunkt der Begegnung zwischen dem Helden und der Walküre Sigrun. So ist es bei ihrer ersten Begegnung: „Als Helgi aus der Schlacht kam, da begegnete er an einem Walde mehreren Frauen, vornehm an Aussehen, doch übertraf eine die andern alle; sie ritten in stattlichem Aufzuge“ (Vs 9),261 wie auch bei ihrem Aufeinandertreffen während der Schlacht gegen den ungewünschten Werber Sigruns: „Helgi ging vorwärts durch die Schlachtreihen, so daß da ein großes Gemetzel entstand. Da sahen sie eine große Schar von Schildjungfrauen, als ob man ins Feuer sähe: da war Sigrun, die Königstochter“ (Vs 9).262 Die Walküre wird inszeniert als Figur, die von siegreichen Helden und von Schlachttaten im Allgemeinen angezogen wird. Das Gemetzel ist ihr Element. Sigrun steht an der Stelle Odins, als Helgi, wie später sein Halbbruder Sigurd, ohne Rücksicht auf das eigene Leben durch den Sturm fährt ohne die Segel zu reffen. Der letztere begegnet bei dieser todesverachtenden Fahrt zur Vaterrache dem als Hnikar auftretenden Gott Odin, der ihm im Sturm zur Seite steht, allerdings auch durch Sigurds heroische und todesverachtende Mentalität erst hervorgerufen wird. In der respektiven Situation begegnet Helgi Sigrun, die ihn wie Odin später seinen Verwandten durch den Sturm geleitet: „Da überfiel sie ein großer Sturm […]. Helgi hieß sie sich nicht fürchten und die Segel nicht reffen, sondern vielmehr sie noch höher hinaufsetzen als vorher. […] Da kam Sigrun, die Tochter König Högnis, oben vom Lande herab zum Strande mit großem Gefolge und brachte sie in einen guten Hafen, der ‚zu Gnipalund‘ heißt“ (Vs 9).263 Ebenso inszenieren die Eddalieder die Walküre als Helferfigur, die auftritt nachdem Helgi die Segel im Sturm höher setzt264 (vgl. HH. 29): „Aber sie selbst und ihre Schiffe | schützte Sigrun von oben“ (HH. 30)265 oder: „Sie bekamen auf dem Meer ein für Menschen gefährliches Unwetter. Blitze kamen über sie, und Strahlen trafen auf die Schiffe. Sie sahen in der Luft, dass neun Walküren ritten, und sie erkannten Sigrun. Da legte sich der Sturm und sie kamen heil ans Land“ (HH. II Prosa  

259 Vgl. Egeler 2011, S. 65. 260 „sva hlifdu honum hans spadisir, at hann vard ecki sár“. 261 „er Helgi ferr fra orostu, þa fann hann vid skog einn konur margar ok virduligar synum, ok bar þo ein af aullum. Þęr ridu med agętligum buninghi.“ 262 „Helgi gengr fram i gegnum fylkinngar. Þar vard mikit mannfall. Þa sa þeir skialldmeyia flock mikinn, sva sem i loga sęi. Þar var Sigrun konungsdottir.“ 263 „Nu giordi at þeim storm mikinn […]. Helgi bad þa ecki ottaz ok eigi svipta seglunum, helldr setia hvert hęra enn adr. […] Þa kom þar Sigrun, dottir Haugna konungs, af landi ofan med miklu lide ok snyr þeim i goda hǫfn, er heitir at Gnipalunde.“ 264 Edgar Haimerl dagegen liest es anders, nämlich als übermütiges Fehlverhalten Helgis im Sturm, das ihn hilfsbedürftig gegenüber der Walküre Sigrun macht (vgl. Haimerl 1992, S. 33). Nach meiner Deutung bedarf es des übermütigen Verhaltens, um sich überhaupt der Hilfe der Walküre – oder des Gottes Odins – als würdig zu erweisen. 265 „Enn þeim siálfom Sigrún ofan, | […] um barg oc fari þeira“.  







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3. Mythische Aufladung

nach 18).266 Wie die Götter- wird auch die Walkürenfigur als anderweltlicher Helfer auf Schlachtfahrten präsentiert, was ihr eine andere Qualität verleiht als Hljod, die zwar auch eine Helferfigur ist, deren Kompetenzen sich aber auf der Fruchtbarkeitsebene abspielen. Sigurd hat mehrere Begegnungen mit der Walküre, die die Völsunga saga ausschließlich Brynhild nennt, die aber in den Heldenliedern bei der Hindarfjallbegegnung als Sigrdrifa vorgestellt wird: „Sie nannte sich Sigrdrifa und war eine Walküre“ (Sd. Prosa nach 4).267 Von einer der Meisen der Fáfnismál wird dem Völsungen das Treffen mit ihr vorhergesagt: Ein Hof steht auf dem hohen Hindarfjall, | außen ist er ganz von Feuer umgeben; | den haben weise Männer geschaffen | aus undunklem Glanz des Stromes. | Auf dem Berg weiß ich das Schlachtwesen schlafen, | und drüber spielt das Verderben der Linde; | Ygg stach sie mit dem Dorn: Andre Männer | fällte die Flachsgöttin, als er haben wollte. | Du kannst, Mann, das Mädchen unterm Helm sehn, | das vom Kampf auf Wingskornir ritt; | man kann Sigrdrifas Schlaf nicht brechen, | […] gegen den Schicksalsspruch der Nornen (Fm. 42–44).268

Die Bezeichnung Sigrdrifas als Schlachtwesen, ‚fólcvitr‘, steht in der Nähe des Begriffes des Fremdwesens, mit dem Sigrun beschrieben wird. Sie ist ein andersgeartetes Geschöpf, das kriegerische Funktion hat. Zu finden ist sie an einem entrückten Ort, auf dem flammenumtosten Berggipfel des Hindarfjall. Der Schlaf ist ein Strafzustand für ihren Verrat am Dienst für den Gott Odin – Ygg –, weil die Toten-Wählerin auf eigene Faust gehandelt und eben nicht den vorgesehenen Krieger auserkoren hat. Als Walküre hat sie nicht richtig funktioniert. Zu ihr gehört kriegerischer Ornat. Sie schläft unter dem Helm und reitet auf dem Pferd Wingskornir. Bei der ersten Begegnung in der Völsunga saga heißt es: „Als er [Sigurd] aber herankam, stand vor ihm eine Schildburg, und über ihr flatterte eine Fahne“ (Vs 21).269 Bei der späteren Brautwerbung findet er Brynhild in einer „schöne[n] Wohnung“ (Vs 29).270 Sie selbst hat „ein Schwert in der Hand, einen Helm auf dem Haupte und war in einer Brünne“ (Vs 29).271 Die Walküre wird als Kriegerin inszeniert: „Sigurd ging durch den Schildzaun und sah, daß da ein Mensch schlief und lag in voller Rüstung. Er nahm ihm zuerst den Helm vom Haupte und sah, daß es ein Weib war: sie war im Panzer, und der saß so  



266 „fengo í hafi ofviðri mannhætt. Þá qvómo leiptr yfir þá, oc stóðo geislar í scipin. Þeir sá í loptino, at valkyrior nío riðo, oc kendo þeir Sigrúno. Þá lægði storminn, oc qvómo þeir heilir til lanz.“ 267 „Hon nefndiz Sigrdrífa oc var valkyria.“ 268 „Salr er á há Hindarfialli, | allr er hann útan eldi sveipinn; | þann hafa horsvir halir um gorvan | ór ódøccom Ógnar lióma. | Veit ec á fialli fólcvitr sofa, | oc leicr yfir lindar váði; | Yggr stacc þorni: aðra feldi | hǫr-Gefn hali, enn hafa vildi. | Knáttu, mǫgr, siá mey und hiálmi, | þá er frá vígi Vingscorni reið; | máat Sigrdrífa svefni bregða, | […] fyr scǫpom norna.“ 269 „Enn er hann kom at, stod þar fyrir honum skialldborg ok upp or merki.“ 270 „fagurt herberghe“. 271 „sverd i hendi ok hialm a haufde ok var i bryniu“.

3.2 Walküren

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fest, wie wenn er ans Fleisch gewachsen wäre“ (Vs 21).272 Hinter ihrer zunächst männlichen Erscheinung steckt die Idee, dass Kleidung Identität verleiht. Sigurd kann Brynhild erst dann als Frau identifizieren, wenn die mit Männern assoziierte Kleidung in Form des Helmes entfernt wurde.273 Wenn Gunnar später um Brynhild wirbt, werden die „Hlymdalir“ (Vs 29)274 als ihr Aufenthaltsort genannt, was als poetische Umschreibung für das Schlachtfeld gelesen werden kann275 und somit ein weiterer Hinweis auf Brynhilds kriegerische Walkürennatur ist. Entsprechend dazu begegnet Helgi Sigrun im „Wolfswald“276 (HH. 16),277 der an die „Wolfstäler“ (Vkv. Einleitungsprosa)278 und den „Wolfssee“ (Vkv. Einleitungsprosa)279 erinnert, wo Völundr und seine Brüder auf die Walküren treffen. Am Ende der Guðrúnarkviða in fyrsta erhält die Erscheinung Brynhilds etwas Monströses. Ihr heroischer Kräfteüberschuss manifestiert sich in der Trauer und im Zorn um Sigurds Tod, indem sie Feuer und Gift speit:280 „Sie stand an der Säule, sie strengte ihre Kraft an. | Brynhild brannte, Budlis Tochter, | Feuer in den Augen, Gift spie sie, | als sie die Wunden an Sigurd sah“ (Gðr. I 27).281 In der Helreið Brynhildar bewegt sich Brynhild nach ihrem Tod mit einem Wagen auf dem metaphysisch transzendentalen „Helweg“ (Hlr. Einleitungsprosa),282 wo sie auf eine „Riesin“ (Hlr. Einleitungsprosa)283 trifft.284 Als mythische Figur selbst hat sie die Kompetenz mit anderen mythischen Figuren zu korrespondieren. Sie zieht das Anderweltliche an, weil sie Teil

272 „Sigurdr geck i skialldborgina ok sa, at þar svaf madr ok la med aullum hervopnum. Hann tok fyst hialminn af haufde honum ok sa, at þat var kona. Hun var i bryniu, ok var sva faust, sem hun veri holldgroinn.“ 273 Kaaren Grimstad bringt das Zerschneiden der Rüstung mit dem Durchdringen von Fafnirs Schuppenhaut in Verbindung (vgl. Grimstad 2000, S. 27). 274 „Hlymdale“. 275 Vgl. Herrmann 1923, S. 98 Anm.: „‚Schall- oder Lärmtäler‘ bezeichnen eigentlich das Schlachtfeld“. 276 Vgl. Krause 2004, S. 252 Anm.: „möglicherweise umschreibt es das Schlachtfeld.“ 277 „ór úlfiði“. 278 „í Ulfdali“. 279 „Úlfsiár.“ 280 Vgl. Sprenger 1992, S. 18 f.: „Die letzte Strophe […] zeigt, wie sie der Verfasser sieht: Sie stemmt sich gegen eine Säule, ein Ausdruck ihrer physischen Überlegenheit, mehr noch, hat Züge eines Ungeheuers, Feuer brennt aus ihren Augen, sie schnaubt Gift; sie ist die große Unglücksstifterin für Sigurðr und das Haus der Gjukungen; ihr Versuch, die Schuld auf Atli abzuwälzen, mißlingt. Der Verfasser hat bewußt ein Gegensatzpaar geschaffen: die große Dulderin Guðrún, die beim toten Sigurðr sitzt, und das Monstrum Brynhildr, die Verursacherin dieses Leides.“ Vgl. auch McKinnell 2014, S. 260–261. 281 „Stóð hon und stoð, strengði hon elvi; | brann Brynhildi, Buðla dóttur, | eldr ór augom, eitri fnæsti, | er hon sár um leit á Sigurði.“ 282 „helveg“ 283 „gýgr“. 284 Vgl. McKinnell 2014, S. 261: „The supernatural figure who lives in a stone may have been an image of death and/or sterility, and certainly represented the heathen past, but the accusations she makes seem to be motivated by ordinary human morality.“  













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3. Mythische Aufladung

davon ist.285 Ähnlich verhält sich das mit Hagen von Tronje bei der Reise der Burgunden an den Etzelhof. Ausschließlich ihm, dessen Wurzeln über die Mauern von Worms hinausragen, offenbaren sich die Meerfrauen und auch erst dann, wenn er allein ist (vgl. Nl 1531,1–1549,4).286 Brynhild dient Sigurd bei ihrer ersten Begegnung als Wissensquell. Sein Weisheitserwerb bei ihr wird ihm sowohl von seinem Onkel, als auch von den Meisen vorhergesagt: „Sie wird dich Mächtigen Runen lehren, | alle, die die Menschen kennen wollen, | und die Sprache eines jeden Mannes sprechen, | Mittel für Heilkunst“ (Grp. 17),287 sagt ihm Gripir und die Meise: „[Sigurd] ritte sodann hinauf nach Hindarfjall, wo Brynhild schläft – dort wird er große Weisheit lernen“ (Vs 20).288 In Sigurds Anrede zeichnet sich Brynhild durch ihre „Schönheit und Weisheit“ (Vs 21) aus.289 Ihr Zusammenkommen geschieht im Zuge eines Aktes der Wissensvermittlung.290 Danach schwören sich die beiden ihre Liebeseide: „Einen gescheitern Menschen als dich gibt es nicht. Und das schwöre ich, daß ich dich zur Frau haben will“ (Vs 22).291 Brynhilds Klugheit ist eines ihrer Hauptmerkmale und das, was sie für Sigurd attraktiv macht.292 Neben der Runenlehre erhält Sigurd eine Reihe von Alltagsratschlägen, von denen die meisten allerdings antiprogrammatisch zu den Geschehnissen der Völsungenerzählungen sind.293 Sie werden im Laufe der Handlung entweder missachtet oder es kommt doch genau so, wie es eigentlich vermieden hätte werden sollen.294 Die Walküre rät ihm etwa: „verführe kein Mädchen und keines Mannes Frau“ (Vs 22,295 vgl. Sd. 32) und doch kommt es so, dass er Brynhild, da sie Gunnar bereits geheiratet hat, bewegen will, seine eigene Frau zu werden (vgl. Vs 31). „Lieber ficht mit deinen Feinden, als daß du dich im Feuer verbrennen läßt“ (Vs 22,296 vgl. Sd. 31), doch Sigurd stirbt im Bett, ohne Gegenwehr zu leisten (vgl. Vs 32). „[S]chwör keinen falschen Eid, denn grimmige Rache folgt dem Friedensbruche“ (Vs 22,297 vgl. Sd. 23), allerdings  



285 Alois Wolf spricht von der „Einbeziehung des ‚Heroischen‘ ins Mythologische“ (Wolf 2009, S. 345). 286 Siehe 2.2.3. 287 „Hon mun ríkiom þér rúnar kenna, | allar, þær er aldir eignaz vildo, | oc á mannz tungo mæla hveria, | lif með læcning“. 288 „ride siþan upp a Hindarfiall, þar sem Brynhilldr sefr, ok mun hann nema þar mikla speke.“ 289 „vęnleik ok vitru“. 290 Siehe 4.2.4. 291 „Einge finnzt þer vitrare madr, ok þess sver ek, at þik skal ek eigha“. 292 Vgl. Quinn 2003, S. 96: „Her wisdom and candour attract others into conversation with her.“ 293 Vgl. van den Toorn 1964, S. 30: „Viele dieser Sentenzen gipfeln in Mißtrauen“. 294 In diesem Sinne nennt Hans Helmut Dörner Sigrdrifas Ratschläge „verlorene Liebesmüh“ (Dörner 1993, S. 52). Vgl. Quinn 2003, S. 91: „Despite the bountiful eddic wisdom the compiler quotes Brynhildr conferring on him, Sigurðr’s ability to use it is shown to be wanting.“ 295 „będi vid meyiar ast ok mannz konu“. 296 „Berst helldr vid uvine þina, enn þu ser brendr.“ 297 „sver eigi ranghan eid, þviat grim hefnd fylgir gridrofe.“  









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wird Sigurd die Verlobungseide bedingt durch den Vergessenstrank nicht einhalten. „Das rat ich dir […], wenn eine schändliche | Hexe am Weg wohnt: | Zu gehn ist besser, denn als Gast zu bleiben“ (Sd. 26),298 doch Sigurd wird völlig in Grimhilds Machenschaften eingesponnen und wird Teil des Gjukungenkollektivs. „Sei auf der Hut vor verräterischen Ränken deiner Freunde. Zwar kann ich wenig von deinem Leben voraussehen – doch sollte nicht Haß von Schwägern über dich kommen“ (Vs 22).299 Letztlich wird Sigurd gerade von seinen Schwägern verraten und getötet. Brynhilds Ratschläge dienen sowohl Sigurd als Unterweisung wie auch dem wissenden Rezipienten als Vorausdeutung auf das kommende Unheil. Doch obschon mit einem Fuße in der mythischen Welt, sind die Walküren doch nicht ausschließlich transzendentale Geschöpfe der anderen Welt. Als Königstöchter sind sie Teil menschlicher Herrschaftsbereiche.300 Von den drei Walküren der Völundarkviða heißt es: „Es waren zwei Töchter König Hlödwers, Hladgud Swanhwit und Herwör Alwit; die dritte war Ölrun, die Tochter Kjarrs von Walland“ (Vkv. Einleitungsprosa).301 Brynhild sei „eines mächtigen Königs Tochter“ (Vs 21).302 Von Gripir wird gesagt: „Auf dem Felsen schläft des Fürsten Tochter“ (Grp. 15),303 wenn er Sigurd von ihr erzählt. Sigrun stellt sich selbst mit ihrer Abstammung vor: „Sie nannte sich Sigrun und sagte, daß sie König Högnis Tochter wäre“ (Vs 9).304 Die Walküren entspringen dem weltlichen Bereich. Sie werden nicht als Walküren geboren, sondern werden im Laufe ihres Lebens dazu. Dennoch umgibt sie eine anderweltliche Aura. Ihr Auftreten ist mit einer Lichterscheinung verbunden. Bei Sigrdrifa ist das der Lichtschein des Feuers auf dem Berggipfel: „Auf dem Berg sah er ein großes Licht, so wie Feuer brennt, und von ihm leuchtete es bis zum Himmel“ (Sd. Einleitungsprosa).305 So auch in der Völsunga saga: „Auf dem Berge sah er vor sich ein großes Licht, wie wenn ein  



298 „Þat ræð ec þér […], ef býr fordræða, | vammafull, á vegi: | ganga er betra, enn gista sé, | þótt þic nótt um nemi.“ 299 „Se vandligha vid velradum vina þinna. Enn litt megu ver sea fyrir um ydart lif, enn eigi skyllde magha hatr a þik koma.“ 300 Walküren treten „häufig mit einem fast vollständig menschlich anmutenden Charakter“ (Egeler 2011, S. 34) auf. Vgl. Steblin-Kamenskij 1982, S. 81: „What strikes one in the female figures of the heroic lays of the ‚Edda‘ is that they as a rule have so to say a double aspect: on the one hand, they are human beings, women, in a tragical situation; on the other hand, they are (not simultaneously, however!) supernatural beings who by their nature are capable of performing what is beyond human power and possess knowledge and wisdom greater than those accessible to mankind.“ Michail Steblin-Kamenskij sieht diese dichotome Natur allerdings nicht nur in den Walkürenfiguren, sondern in allen weiblichen Akteuren der Heldenlieder, so auch in Gudrun, Oddrun und sogar Herkja. 301 „Þar vóro tvær dœtr Hlǫðvés konungs, Hlaðguðr svanhvít ov Hervor alvitr; in þriðia var Ǫlrún, Kiárs dóttir af Vallandi.“ 302 „riks konungs dottir“. 303 „Sefr á fialli fylkis dóttir“. 304 „hun nefndizt Sigrun ok kvęzt vera dottir Haugna konungs.“ 305 „Á fiallino sá hann liós mikit, svá sem eldr brynni, oc liómaði af til himins.“  



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3. Mythische Aufladung

Feuer brennte, und der Schein ging davon bis zum Himmel empor“ (Vs 21).306 Später ist das die Waberlohe: „Sie fanden den Saal und das Feuer und sahen da eine Burg mit goldenem Dache, und es brannte ein Feuer draußen herum“ (Vs 29).307 Sie selbst verfügt über eine eigene Strahlkraft, wenn sie „hell, in der Brünne“ (Grp. 15)308 daliegt. Sigrun dagegen ist explizit von einer Aurora umgeben. Sie und die sie begleitenden Walküren sind Leuchtkörper309 für sich selbst: „Da brach ein Licht von Logafjöll, | und aus diesem Licht kamen Blitze; | hohe Maiden sah man unter Helmen reiten auf Himinwagar, | ihre Brünnen waren mit Blut bespritzt, | und von Speeren gingen Strahlen aus“ (HH. 15)310 und in der Völsunga saga: „Da sahen sie eine große Schar von Schildjungfrauen, als ob man ins Feuer sähe“ (Vs 9).311  

3.2.2 Heirat mit Walküren Völsung, Helgi und Sigurd vermählen sich mit Walküren. Im Falle des Letzteren geschieht das nur nominell. Ihre Verbindung mit diesen Figuren ist Teil ihrer eigenen mythischen Prädisposition. Völsung erhält die Wunschmaid zur Frau, durch die seine eigene Zeugung überhaupt erst möglich gemacht wurde (vgl. Vs 1 und 2) und Sigrun erwählt sich Helgi in einem Akt des Fernverliebens:312 „Sie hatte von ganzem Herzen schon vorher Sigmunds | Sohn lieb gewonnen, eh sie ihn erblickte“ (HH. II 15).313 Sigurd erweckt die schlafende Walküre, die ihm bereits mehrmals vorhergesagt wurde, indem er ihr die Brünne mit dem Schwert durchschneidet. Sie erkennt ihn an seiner Tat: „Sigurd wird hergekommen sein, Sigmunds Sohn, der den Helm Fafnirs hat und

306 „A fiallenu sa hann fyrir ser lios mikit, sem elldr brynne, ok liomade af til himins.“ 307 „Þeir finna salinn ok elldinn ok sea þar borg gulle bysta, ok brann elldr um utan.“ 308 „biǫrt, í brynio“. 309 Diese Leuchtkraft haben sie mit den weiblichen Figuren des höfischen Romans gemein, die Armin Schulz als „Höfische Leuchtkörper“ (Schulz 2015, S. 31) bezeichnet (vgl. Schulz 2015, S. 31–32). Doch auch in der Völsunga saga ist ‚ausgerechnet‘ Sinfjötli so eine Lichtgestalt, wenn er kurz vor seinem Kindesmord mit „lichter Brünne“; „hvitar bryniur“ (Vs 8) beschrieben wird und es vor seiner senna mit Granmar heißt: „Sinfjötli stand auf, er hatte einen Helm auf dem Haupt, geglättet wie Glas, und eine Brünne weiß wie Schnee […] sowie einen goldrandigen Schild vor sich“; „Sinfiotli stendr upp ok hefir hialm a haufdi skygdan sem gler ok bryniu hvita sem snio […] ok gullrenndan skiolld fyrir ser“ (Vs 9). 310 „Þá brá lióma af Logafiollom, | enn af þeim liómom leiptrir qvómo; | þá var und hiálmom á Himinvanga | Brynior vóro þeira blóði stocnar. | Enn af geirom geislar stóðo.“ 311 „Þa sa þeir skialldmeyia flock mikinn, sva sem i loga sęi.“ 312 Vgl. zur „Fernminne, die ihren Ausgang nicht über den Blick, sondern über das Hörensagen nimmt“ (Schulz 2015, S. 194) Schulz 2015, S. 194–195. Vgl. für das Nibelungenlied Müller 2009, S. 82: „Schemagerecht liebt Siegfried aus der Ferne die burgundische Prinzessin“. Zur Liebe Sigruns für Helgi und der Provokation zum Kampf gegen ihre Verwandten vgl. Haimerl 1992, S. 66–67. 313 „Fyrr léz hon unna af ǫllom hug | syni Sigmundar, enn hon séð hafði.“  











3.2 Walküren

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seinen Töter in der Hand?“ (Vs 21).314 Die Figur weiß, dass er der Einzige ist, dem sie zu wecken gegeben ist.315 Wenn sie also wach wird, dann muss der Prädeterminierte dies verursacht haben. Seine Abstammung zeichnet ihn aus und er ist der Fafnirstöter, symbolisiert durch Helm und Schwert. Ein wiederkehrendes Motiv der Völsungenerzählungen ist die Heiratsunwilligkeit der Frauen. Sie lehnen einen bestimmten Ehemann oder das Heiraten generell zunächst ab und es kommt letztlich zu Problemen, wenn diese Absage nicht eingehalten wird. Signy ist unwillig, Siggeir zu heiraten, gibt dann aber ihrem Vater die Entscheidung in die Hand (vgl. Vs 3), wodurch beinahe die Ausrottung der Sippe verursacht wird. So ist es auch bei den Walkürenfiguren Sigrun und Brynhild. Zu Helgi sagt Sigrun bezüglich ihrer Verlobung mit Hödbrodd: „ich aber habe gelobt, daß ich ihn nicht lieber haben will, als das Junge einer Krähe. Aber doch wird dieses vor sich gehen, wenn du ihn nicht hinderst, ihm mit einem Heere entgegengehst und mich hinwegführst, denn mit keinem König möchte ich lieber zusammen wohnen als mit dir“ (Vs 9,316 vgl. HH. 18–19, vgl. HH. II 16–17). Sie provoziert Helgi, den Mann ihrer Wahl und Träger der Idoneität,317 zum Kampf gegen den für sie unpassenden Ehemann. In der Völsunga saga ist das mit keinen für Helgi negativen Konsequenzen verbunden. Im zweiten Helgilied allerdings führt dies zu seinem Tod durch Sigruns Bruder Dag (vgl. HH. II Prosa nach 29).318 Brynhilds Heiratsunwilligkeit und -einschränkung wird in der Völsungensage in zwei Varianten ausagiert. Die Sigrdrifa-Brynhild hat als Wunschmaid ihre Aufgabe nicht nach Plan erfüllt, weswegen sie von Odin mit dem Schlafdorn gestochen wird (vgl. Vs 21, Fm. 43) und zur „Strafe“ (Vs 21)319 ihre kriegerische Karriere beenden muss: „Odin […] sagte, daß ich [Brynhild] nimmer fortan Sieg im Kriege erkämpfen sollte, und er gebot, daß ich mich vermählen sollte“ (Vs 21,320 vgl. Sd. Prosa nach 4). Dass Sigurd ihr Mann werden soll, ist die Folge eines einschränkenden Gelübdes, das sie als Antwort auf Odins Auflage ablegt:321 „Ich aber tat ein Gelübde dagegen, mich

314 „Eda man her kominn Sigurd Sigmundarson, er hefir hialm Fafnirs ok hans bana i hende?“ 315 Ernst Hellgardt spricht von „mythisch begründetem Vorwissen“ (Hellgardt 2002, S. 171). 316 „enn ek hefi þvi heitid, at ek vil eigi eiga hann helldr enn einn krakuungha. Enn þo mun þetta fram fara, nęma þu bannir honum ok komir i mot honum med her ok nemir mik a brott, þviat med engum konungi villdi ek helldr sętr bua enn med þer.“ 317 Höfler 1952(a), S. 17–19 beschreibt wie die Walkürenfigur Helgi zwar das (Sakral-)Königtum verleiht, ihn damit aber auch für seine Opferung prädestiniert. In der literarischen Ausformulierung wird die mythische Segnung zum zweischneidigen Schwert. 318 Vgl. zu den Negativfolgen einer Walkürenliaison für den Helden Egeler 2011, S. 73. 319 „i hefnd“. 320 „Oþinn […] kvad mik alldri sidann skylldu sigr hafa ok kvad mik giptaz skulu.“ 321 Vgl. Hellgardt 2002, S. 172: „Ihr Eid erfüllt sich damit als listiger Versuch einer Desavouierung von Odins Strafverfügung gegen sie. Mit dem Anspruch auf Sigurd scheint die Möglichkeit einer Art mythischer Rehabilitation Brynhilds verbunden. Damit ist der Tiefenstruktur der Erzählung eine mythische Auseinandersetzung zwischen Brynhild und Odin einprogrammiert, die an der Oberfläche der Erzäh 







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3. Mythische Aufladung

keinem solchen zu vermählen, der sich fürchten könnte“ (Vs 21).322 In der Brautwerbungsepisode überlässt ihr Ziehvater Heimir ihr die Gattenwahl: „Heimir sagte, sie hätte die Wahl, wen sie nehmen wollte; ihr Saal wäre nahebei; es wäre zu bedenken, daß sie den allein würde haben wollen, der durch das brennende Feuer ritte, das um ihren Saal entzündet wäre“ (Vs 29).323 Dieses Kriterium trifft offensichtlich nur auf Sigurd zu. Die Budliversion lässt Brynhilds Vater die Entscheidung über ihre Laufbahn treffen. Obschon sie eigentlich nur Krieg führen will, gibt sie seinen Wünschen nach: „Ich [Brynhild] aber erbot mich, das Land zu verteidigen und über ein Drittel des Gefolges Häuptling zu sein. […] Da bedachte ich bei mir, ob ich seinem [meines Vaters] Willen gehorchen [und heiraten] oder manchen Mann erschlagen sollte – ich fühlte mich aber unfähig, mit ihm zu streiten“ (Vs 31).324 In der Sigurðarkviða in skamma ist von einer Strafe Odins keine Spur. Brynhild verhandelt hier mit ihrem Bruder Atli darüber, ob sie heiratet und wird letztlich mit Gold dazu überredet. Es heißt entweder heiraten oder nichts vom eigenen Erbe sehen:  

Und Atli sagte mir [Brynhild] einzig dies, | dass er nicht teilen lasse den Besitz, | weder Gold noch Länder, außer ich ließe mich vermählen […]. | Da war mein Sinn drüber im Zweifel, | ob ich kämpfen und Krieger töten sollte, | kühn, in der Brünne […]. | Wir brachten einen Vergleich zustande. | In Gedanken lockte’s mich mehr, Kostbarkeiten zu nehmen, | die roten Ringe, von Sigmunds Sohn, | eines andern Manns Münzen wollt ich nicht (Sg. 36–38).325

Zu heiraten ist hier eine finanzielle Entscheidung, doch muss es Sigurd sein, von dem der größte Reichtum zu erwarten ist. Da er es dann letzten Endes nicht ist, gibt es ein Problem. In allen Varianten der Sage ist Brynhild heiratsunwillig. Sie muss erweckt, überredet oder gekauft werden. Bevor man die Walküre zur Frau bekommt, muss sie erst überhaupt verfügbar gemacht werden. Das Nibelungenlied berichtet von Prünhilt als einer Königin in der Fremde – „Es saß eine Königin jenseits der See“ (Nl 326,1)326 –, die erst für den Wormser Hof erobert werden muss. Wie Hljod das Krähengewand anlegt, um zu Rerir zu fliegen und  



lung als Konfliktstruktur der Sigurd-Brynhild-Handlung erscheint. Die Tragödie der Brynhild-SigurdLiebe ist auf diese Weise vom Mythos her suprarational motiviert.“ 322 „Enn ek strengda þess heit þar i mot at giptaz engum þeim, er hrędazt kynne.“ 323 „Heimir kvad hennar kior vera, hvern hun skal eigha. Segir þar sál hennar skamt fra, ok qvaz þat hyggia, at þann einn munnde hun eiga vilia, er ride elld brennanda, er sleginn er um sal hennar.“ 324 „Enn ek budumzt til at veria landit ok vera hofdinghe yfir þridiunghe lids. […] Þa hugsada ek med mer, hvart ek skyllda hlyda hanns vilia eda drępa margan mann. Ek þottumzt vanfer til at þreyta vid hann“. 325 „Oc mér Atli þat einni sagði, | at hvárki léz hǫfn um deila, | gull né iarðir, nema ec gefaz létac | […]. | Þá var á hvorfon hugr minn um þat, | hvárt ec scylda vega eða val fella, | bǫll, í brynio […]. | Létom síga sáttmáloccor; | léc mér meirr í mun meiðmar þiggia, | bauga rauða, burar Sigmundar, | né ec annars mannz aura vildac“. 326 „Ez was ein küneginne gesezzen über sê“ (Übersetzung F.D).

3.2 Walküren

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Sigrdrifa-Brynhild in einem Flammenring geweckt werden muss, muss auch die mittelhochdeutsche Prünhilt in der Ferne gewonnen und herübergeholt werden. Als es darum geht, die Ehe zu vollziehen, entsagt sich Prünhilt Gunther und hält ihn sich mit Gewalt vom Leibe. Er wird gedemütigt und gefesselt (vgl. Nl 634,1–642,4). Erst mit Siegfrieds Hilfe kann er sich ihr nähern, da der Xantener Held sie mit Gewalt unterwirft (vgl. Nl 666,1–677,4). Das gewaltsame Ringen der beiden um die sexuelle Dominanz wird zu einer Stellvertreterhandlung für den Geschlechterkonflikt im Allgemeinen. Siegfried tritt im Namen aller Männer gegen Prünhilt an: „‚Ach‘, dachte der Recke, ‚wenn ich hier jetzt mein Leben von der Hand eines Mädchens verliere, dann werden nachher alle Frauen, die sonst gar nicht auf solche Gedanken kämen, auf immer ihren Übermut an ihren Männern auslassen‘“ (Nl 673,1–4).327 Schließlich erkennt Prünhilt Gunthers durch Siegfried vorgetäuschte Überlegenheit an und ergibt sich ihm körperlich: „Niemals wieder will ich mich Deinen Zärtlichkeiten widersetzen. Denn ich weiß nun, daß Du verstehst, eine Frau zu bezwingen“ (Nl 678, 3–4).328 Durch den Geschlechtsakt verliert sie ihre übernatürlichen Qualitäten. Sie wird entmythisiert und in die profane Hofgesellschaft von Worms eingegliedert: „Das Beilager hatte eine solche Wirkung auf sie, daß sie erbleichte und ihre früheren magischen Kräfte verlor. Nun war sie auch nicht mehr stärker als andere Frauen“ (Nl 681, 3–682,1).329 Der Akt der Werbung, Gewinnung und Unterwerfung der mythischen Gestalt ist der Vorgang ihrer Domestizierung.330

3.2.3 Blutrünstigkeit im Alltag Wie verträgt sich nun die eigentlich kriegerische Natur der Walkürenfiguren mit ihrer Darstellung innerhalb der Textgesellschaft der Völsungenerzählungen? Die Einleitungsprosa des Wölundliedes zeigt uns eine Dichotomie von Walkürentätigkeiten: „Früh am Morgen entdeckten sie [Wölund und seine Brüder] am Seeufer drei Frauen, und die spannen Linnen […]. Das waren Walküren […]. Sie wohnten sieben Winter zusammen. Dann entflogen die Frauen, um Kämpfe aufzusuchen, und sie kamen nicht zurück“ (Vkv. Einleitungsprosa,331 vgl. Vkv. 1–3). Neben der Haushalts 

327 „‚Owê‘, gedâhte der recke, ‚sol ich nu mînen lîp | von einer magt verliesen, sô mugen elliu wîp | her nâch immer mêre tragen gelpfen muot | gegen ir manne, diu ez sus nimmer getuot.‘“ 328 „ich gewer mich nimmer mêre der edelen minne dîn. | ich hân daz wol erfunden, daz du kanst frouwen meister sîn.“ 329 „von sîner heimlîche si wart ein lützel bleich. | hei waz ir von der minne ir grôzen krefte gesweich! | Done was ouch si niht sterker danne ein ander wîp.“ 330 Brynhild erweist sich in der neuen Umgebung als „partially domesticated, but profoundly unhappy“ (Larrington 2012, S. 266). 331 „Snemma of morgin fundo þeir á vatzstrǫndo konor þriár, oc spunno lín. […] Þat vóro valkyrior. […] Þau bioggo siau vetr. Þá flugo þær at vitia víga oc qvómo eigi aptr.“  

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3. Mythische Aufladung

und ‚Frauen‘-Aktivität des Leinenspinnens stehen ihre Kriegstaten, die sie nach einem gewissen Zeitraum wieder aufnehmen. Das ist ihre wahre Leidenschaft. Nach der gemeinsamen Zeit mit den Brüdern „sehnten sie sich fort“ (Vkv. 3).332 Brynhild definiert sich durch ihre kämpferische Tätigkeit. Von Gripir wird sie „die hart gesinnte Jungfrau“ (Grp. 27)333 genannt. Der Riesin in der Helreið Brynhildar stellt sie sich vor: „Sie hießen mich alle in den Hlymtälern, | wer mich kannte, Hild unter dem Helm“ (Hlr. 7)334 und Oddrun berichtet vom Wunsch Brynhilds sterbenden Vaters Budli, der für diese vorsieht, eine Walküre zu werden: „Brynhild gebot er, den Helm zu nehmen, | er sagte, sie solle Wunschmaid werden“ (Od. 16).335 Sie fordert „als Brautschatz Erschlagene“ (Vs 31).336 Als Voraussetzung für eine Heirat nennt sie Sigurd in Gunnars Gestalt: „du sollst die erschlagen, die um mich geworben, wenn du dir das zutraust; ich war in der Schlacht mit dem Gardakönig, meine Waffen waren gefärbt in Männerblut, und danach verlangt mich noch jetzt“ (Vs 29).337 Brynhilds Mann müsse ihrer kriegerischen Natur entsprechen.338 Sie ist blutrünstig und dieser Blutdurst wird nicht nachlassen, auch wenn sie verheiratet ist. Sagt sie. Doch Brynhilds Beschäftigungen nach der Hochzeit mit Gunnar sind nicht martialisch, wie sich zuvor abgezeichnet hätte. Wir sehen sie beim Haarewaschen am Fluss (vgl. Vs 30), beim Sitzen in der Kammer („Am Morgen saßen sie in ihrer Kammer“, Vs 30)339 und als ihr Kummer wegen ihrer ungewünschten Ehe groß wird, im Bett liegen (vgl. Vs 31). Als sie sich Gunnar als funktionales Mitglied seines Hofes versagt,340 sagt sie selbst, woraus ihr Alltag bestanden hat: „trinken, […] brettspielen, […] verständig reden, […] mit Gold gute Gewänder überspinnen, […] Rat erteilen“ (Vs 31).341 Nachdem sich ihr Vater Budli im Oddrúnargrátr eine Karriere für seine  



332 „allan þráðo“. 333 „harðugðict man“ 334 „Héto mic allir í Hlymdǫlom | Hildi undir hiálmi, hverr er kunni.“ 335 „Enn hann Brynhildi bað hiálm geta, | hana qvað hann óscmey verða scyldo.“ 336 „at munde felldann val.“ 337 „ok þa skalltu drepa, er min hafa bedit, ef þu hefir traust til. Ek var i orrostu med Gardakonunge, ok voru vopn vár litud i mannablode, ok þess girnumzt ver enn.“ 338 Vgl. Aguirre 2002, S. 25: „Her every union involves the downfall of a prior suitor or consort. The bloody dowry is still due: her ‚first husband‘ must die before the next one is accepted.“ Vgl. Egeler 2011, S. 53 f.: „In solchen späteren Quellen wie den Helgi-Liedern, Helreið Brynhildar oder der Sigurðarqviða in scamma nähern sich die Walkürengestalten in ihrer Darstellung als Kämpferinnen den Schildmaiden an, wie sie so häufig in den Vorzeitsagas auftreten.“ Vgl. Dörner 1993, S. 43: „Mit Walküre kann keine übermenschliche Todesbotin aus Odins himmlischem Gefolge gemeint sein; die ‚Siegbetreiberin‘ ist zweifellos eine Menschenfrau, allerdings eine kriegerische Schildmaid, die an Kampfhandlungen teilnimmt.“ 339 „Ok um morginninn satu þer i skemmu sinne“. 340 Siehe 6.1.3. 341 „drecka […] tefla […] hugat męla […] gulle leggia god klędi […] rad gefa.“  







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3.2 Walküren

Tochter ausgesucht hat, sieht ihr Wunschmaiddasein so aus:342 „Brynhild webte Tuch im Frauengemach, | sie besaß Leute und Länder“ (Od. 17).343 Die Heimirepisode liefert uns ein antithetisches Figurenexposé von Brynhild und ihrer Schwester Bekkhild: Heimir344 „hatte Brynhilds Schwester zur Frau, die Bekkhild hieß, denn sie war daheim geblieben und hatte weibliche Handarbeiten gelernt; Brynhild aber trug Helm und Brünne und zog in den Krieg – darum ward sie Brynhild genannt“ (Vs 24).345 Das Kriegerische ist konstituierend für ihren Namen. Überraschenderweise übertrifft sie dann allerdings die anderen Frauen in genau der Fertigkeit, der sie eigentlich abgeschworen hat. Nachdem sie als Kriegerin eingeführt wurde, tritt sie in der Heimirepisode zuerst als Weberin auf:346 „sie saß im Frauengemach mit ihren Mägden, sie hatte mehr Geschicklichkeit denn andre Frauen. Sie überspann ihr Gewebe mit Gold und stickte darauf die Heldentaten, die Sigurd verrichtet hatte“ (Vs 25).347 Sigurd „dünkte beides gleich wertvoll, ihre Schönheit und die Arbeit, an der sie stickte“ (Vs 25).348 Wohingegen es bei der Hindarfjallbegegnung Brynhilds Weisheit war, die ihm ins Auge gefallen ist (vgl. Vs 21), macht nun ihre Handwerkskompetenz sie für ihn attraktiv, also genau das, was sie eigentlich gemäß ihrer Einführung in dieser Episode nicht haben sollte. Die Heimirepisode etabliert ein anderes Evaluierungssystem als die auf dem Hindarfjall. Brynhilds anderweltliche Entrückung und ihre Wissens- und Weisheitskompetenzen stehen ihrer Eignung als Hofdame des Heimirhofes gegenüber. Ihr Aufenthaltsort ist dort ein Zimmer in einem „hohen Turm“ (Vs 25).349 Das ist kein martialischer Bereich, sondern ein Raum zurückgezogener, weiblicher Aktivität. Alsvinn identifiziert schließlich Brynhild an dieser Webtätigkeit, als Sigurd beschreibt, wen er  

342 Krause 2004, S. 409 Anm.: „In dieser Strophe mischt sich mit der Walkürenvorstellung ein geradezu höfisches Umfeld.“ 343 „Brynhildr í búri borða racþim | hafði hon lýði oc lǫnd um sic“. 344 Wie Bryn- und Bekkhild ist auch Heimir ein sprechender Name. Passend zu seiner Frau ist er „‚der zu einem heim gehörende‘ etwa ‚bauer‘“ (de Vries 1977, S. 219). 345 „atte systur Brynhilldar, er Beckhilldr het, þviat hun hafde heima verit ok numit hanyrde. Enn Brynhilldr for med hialm ok bryniu ok geck at vighum. Var hun þvi kaullut Brynhilldr.“ 346 Vgl. Aguirre 2002, S. 26: „That is to say, she has her sister’s skill as well as the warrior’s; in fact, her sister is but a passing projection of herself.“ Sehr spekulativ erscheinen mir die Ideen James V. McMahons, der sagt, Bekkhild wie Brynhild – und ferner auch Oddrun – würden sich in ihren Fähigkeiten im Weben entsprechen und dass dies eine Ausformulierung der von den drei Schwestern gewirkten Magie sei (vgl. McMahon 1994, S. 480–486). Ernst Hellgardt sieht in dem Sticken einen Ausdruck „prophetische[n] Wissen[s] und mythische[n] Vorwissen[s] von Sigurds Heldentaten“ (Hellgardt 2002, S. 173). Sie sei ferner „trotz dem höfischen, menschlich-familiären Ambiente, in dem Brynhild hier erscheint […], anders als in der ersten Werbungsvariante, unbeeinträchtigt in ihrem mythischen Walkürenstatus“ (Hellgardt 2002, S. 173). 347 „Hun sat i eine skemu vid meygiar sinar. Hun kunne meira hagleik enn adrar konur. Hun lagde sinn borda med gulle ok saumadi a þau stormerki, er Sigurdr hafde giorth“. 348 „Honum þikkir um vert allt saman fegurd hennar ok þat, er hun giorir.“ 349 „hafan turn“.  















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3. Mythische Aufladung

da gesehen hätte: „‚da sah ich ein schönes Weib; sie saß an einem Teppich […].‘ Alsvinn antwortete: ‚Du hast Brynhild gesehen‘“ (Vs 25).350 Sie wird dann allerdings von ihrem Ziehbruder „eine große Heldenjungfrau“ (Vs 25)351 genannt. Der maskuline Begriff ‚skǫrungr‘ – in Herrmanns Übersetzung die ‚Heldenjungfrau‘ – bezeichnet aber eigentlich einen durch Tüchtigkeit, Tapferkeit und Mannhaftigkeit herausragenden Menschen. Der Männerwelt hätte Brynhild, so Alsvinn, zugunsten des Kriegshandwerkes entsagt: „Kein Mann wurde noch jemals gefunden, dem sie den Platz neben sich gewährt oder Äl zu trinken gegeben hätte – an Heerfahrten will sie teilnehmen und Heldentaten vollführen“ (Vs 25).352 Die Texte spielen hier mit uns, den Rezipienten, denn den immer wieder erwähnten kriegerischen Topos erfüllt Brynhild nicht. Er existiert nur in der Rede der Figuren. Obwohl es uns die Texte anderweitig vermitteln wollen, nimmt Brynhild die Rolle einer Hausfrau oder Hofdame ein. Das ist es, was wir von den Erzählungen gezeigt bekommen. Die Verfasser erleben einen Konflikt zwischen dem mythischen Rahmen der Brynhildfigur, der ihnen vom Sagenstoff vorgegeben wird, und ihrer eigenen Möglichkeit sie innerhalb des höfischen Milieus des Heimir- und Gjukihofes zu platzieren und darzustellen. Wollen wir nun aber doch weibliches kämpferisches Handeln sehen, so werden wir bei der Gudrunfigur fündig. Sie, die zunächst überhaupt nicht mit kriegerischen Qualitäten in Verbindung gebracht wird, greift in den Hallenkampf gegen Atli ein:  





Nun sah sie, wie übel ihren Brüdern mitgespielt wurde, faßte einen schnellen Entschluß, kleidete sich in eine Brünne, nahm ein Schwert und half ihren Brüdern im Kampfe; so mutig drang sie vorwärts, wie wenn sie der stärkste Mann wäre – alle sagten übereinstimmend, daß kaum einer sich hätte tapferer verteidigen können als sie (Vs 38);353  

sie dacht an kühne Tat und warf den Mantel ab; | sie griff ein blankes Schwert und wehrte der Verwandten Leben, | nicht sanft war sie im Kampf, wo immer sie zuschlug. | Die Tochter Gjukis ließ zwei Kämpfer fallen, | Atlis Bruder schlug sie, der wurde fortgetragen, | sie führte den Kampf so, schlug ihm einen Fuß ab. | Einen andern hieb sie nieder, dass er sich nicht mehr erhob, | zur Hel sandte sie ihn; doch ihr zitterten nicht die Hände (Am. 49–51 [47–48]).354

350 „‚sa ek eina fagra konu. Hun sat vid einn gulligann borda […]. Alsvidr svarar: ‚Þu hefir sed Brynhilldi.‘“ 351 „er mestr skaurunghr er.“ 352 „Eingi fanz sa enn um alldr, er hun lęde rums hia ser eda gęfi aul at drecka. Hun vill sik i herskap hafa ok allzkonar fregd at fręmia.“ 353 „Nu serr hun, at sarth er leikit vid brędr hennar, hyggr nu a hardręde, for i bryniu ok tok ser sverd ok bardizt med bredrum sinum ok geck sva fram sem hinn hraustazti karlmadr, ok þat saugþu allir a ein verg, at varla sęi meire vornn en þar.“ 354 „hugði á harðræði oc hrauzc ór sciccio; | nøcþan tóc hon mæki oc niðia fior varði, | hœg var at hialdi, hvars hon hendr festi. | Dóttir lét Giúca drengi tvá hníga, | bróður hío hon Atla, bera varð þann síðan, | scappi hon svá scœro, sceldi fót undan. | Annan réð hon hǫggva, svá at sá upp reisat, | í helio hon þann hafði; þeygi henni hendr sculfo.“

3.2 Walküren

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Im Gegensatz zu Brynhild, deren Kampftätigkeiten nur in der Figurenrede sichtbar werden und vor der Handlung der Erzählungen angesiedelt sind, sieht man Gudrun wirklich in Aktion.355 Für das exorbitant überbordende heroische Handeln erfahren die Figuren allerdings auch Kritik innerhalb der eigenen Textgesellschaft. Gudruns Waffennahme ist in der völsungischen Welt unerhört und einzigartig:356 „Keine Frau fährt seitdem | in die Brünne, die Brüder zu rächen“ (Akv. 43).357 Atli selbst sagt dazu, dass er eine „furchtbare Frau“ (Am. 56 [53])358 geheiratet hätte. Als sich die mittelhochdeutsche Prünhilt Gunther nicht hingibt, sagt dieser, er hätte sich „den bösen Satan selbst ins Haus geholt“ (Nl 649,2).359 Im Streitgespräch zählt Gunnar Brynhilds Verfehlungen im Vergleich zu seiner eigenen Mutter Grimhild auf: „nicht war sie [Grimhild] unzufrieden mit ihrem Lose, wie du tust, noch quälte sie tote Männer, noch mordete sie einen, sie lebt mit Lob“ (Vs 31).360 Brynhild wird für ihre Walkürenvergangenheit angegriffen und getadelt.361 In der Helreið Brynhildar wird der Titelheldin durch die Riesin vorgeworfen: „Besser stünd’s dir an, Stoffe zu weben, | als einer andern Mann zu folgen. | […] Du hast […] | von den Händen manches Mannes Blut gewaschen“ (Hlr. 1–2).362 Brynhild hätte sich einer Rollenverfehlung schuldig gemacht. Die Textgesellschaft weiß selbst nicht recht, wie sie mit den kämpfenden Frauenfiguren umgehen soll. Was innerhalb eines Systems als Idealbild inszeniert wird, ist defizitär in einem anderen. Wie Sinfjötli, den sein Wolfs- und Rächerdasein im Wald im Nachhinein stigmatisiert, wird die Walküre Brynhild als ungeeignet für den Gjukungenhof wahrgenommen. Die Erzählungen stellen uns heroische Sinnbilder vor, die aber auf Grund ihrer Exorbitanz in der eigenen intrinsischen Textwelt anecken und denen es letztlich an Integrierbarkeit gebricht. Die Helden sind selbst für die Welt der Heldendichtung zu heroisch. So assimiliert zwar das höfische Milieu Brynhild, allerdings gelingt es nicht, ihre mythische Natur vollständig zu neutralisieren. Sie wurde von Odin ihres Amtes als Walküre enthoben, doch schlägt ihre Funktion als Totenwählerin noch mindestens ein weiteres Mal durch, wenn sie schließlich auch am Gjukungenhof einen Mann dem Tode weiht: Sigurd stirbt auf ihr Geheiß.  

355 Zu diesem Rollentausch – Gudrun als Kämpferin und Brynhild als Hausfrau – vgl. Gvozdetskaya 2006, S. 329–330. 356 David Clark spricht dahingehend von „horrified admiration for the stature of this woman“ (Clark 2012, S. 28). 357 „ferr engi svá síðan | brúðr í brynio brœðra at hefna“. 358 „kono váliga“. 359 „den übeln tiuvel heim ze hûse geladen.“ 360 „eigi unde hun ver sinu, sva sem þu giorir, eda kvalde dauda menn, ok engann myrde hun ok lifir vid lof.“ 361 Zur Erläuterung von ‚tote Männer quälen‘ vgl. Egeler 2011, S. 82 f. 362 „betr semði þér borða at rekia, | heldr enn vitia vers annarrar. | […] | þú hefir […] af hǫndom mannz blóð þvegit.“  











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3. Mythische Aufladung

3.2.4 Mehrfache Brynhild Neben der mythischen363 Sigrdrifa-Brynhild,364 die von Odin mit dem Schlafdorn gestochen wird und die in einem Feuerkreis auf dem Hindarfjall liegt, existiert die höfische Brynhild, die bei ihrem Schwager und Ziehvater Heimir das Leben einer Hofdame führt. Als Sigurd dieser Figur zum zweiten Mal begegnet, sagt sie ihm: „Es ist nicht bestimmt, daß wir beisammen wohnen: ich bin eine Schildjungfrau und trage den Helm bei Heerkönigen – ihnen will ich zu Hilfe kommen, und nicht ist es mir leid, zu streiten“ (Vs 25).365 Der Held antwortet darauf: „Dann wird es uns am besten gehen,  

363 Vgl. Aguirre 2002, S. 16 f.: „from the ring of fire surrounding her, as well as from her well-known valkyrie nature, we know that Brynhild is related to the Otherworld, although to call her ‚goddess‘ would be to simplify and distort the picture: she is otherworldly not because she necessarily has divine attributes but because she is conceived not fully to belong in ordinary human space. The trait […] is just this belonging on or beyond the threshold, from which vantage-point they decisively affect human reality.“ 364 Heusler geht von einer Verschmelzung zweier oder mehrerer Figurenkonzepte in Folge der fortwährenden Neubearbeitung der Sagenstoffe aus (vgl. Heusler 1929, S. 7–44; vgl. dazu auch Andersson 1980, S. 82–84). Nach George K. Anderson sei diese Amalgamierung dem Sagaverfasser eher missglückt und das Produkt sei eine „schizophrenic“ (Anderson 1982, S. 44) Brynhild. Vgl. Reichert 1974, S. 251– 265, der die Brynhild-Sigrdrifa-Frage auch in Hinsicht auf eine mögliche Vorbekanntschaft Prünhilts mit Siegfried im Nibelungenlied untersucht. Zur Vorbekanntschaft vgl. auch Grimm 1957, S. 92 f. bzw. Andersson 1986(b), S. 6: „There is considerable evidence that she has been betrothed to Siegfried before Gunther’s wooing. The poet of the Nibelungenlied has gone to great pains to suppress the prior betrothal in order to cleanse Siegfried’s tarnished image, but the motif continues to haunt the plot.“ Zur Identität von Brynhild und Sigrdrifa vgl. Steblin-Kamenskij 1982, S. 84. Was Motivation und Kunstfertigkeit der Verschmelzung dieser vielleicht ursprünglich eigenständigen Figuren durch den Völsungenverfasser angeht, hält Manuel Aguirre ihm die Stange: „I would hold that the medieval author chose to blend the two types because of resemblances, not in spite of contrasts; that he saw something we perhaps fail to see“ (Aguirre 2002, S. 24). Vgl. Aguirre 2002, S. 26: „The true difference lies not between a valkyrie and a mortal woman but between a loving and a destructive female figure. There is only one type, which sometimes appears in its propitious, sometimes in its hostile avatar. In her beneficient guise she may appear as a guardian or mentor, or else her beauty, her femininity, her homely pursuits will be stressed. In her destructive aspect she will exhibit spite, cruelty, vindictiveness, or else much will be made of her shield-maiden role as a slayer. Is she a woman or a valkyie? It transpires that both display the same ambivalence. If the author did conflate Sigrdrifa with Brynhild, a warrior-maiden with a reluctant princess, this was because he knew that, in the final analysis, the two figures he was blending answered to one type, benign and inimical by turns.“ Diese Verquickung der Figurentypen kann jedoch nicht erst zum Zeitpunkt der Verschriftlichung der Völsunga saga geschehen sein und ist demnach wohl viel weniger ein bewusster Vorgang als Manuel Aguirre es impliziert. Eine der Brynhild der Völsunga saga entsprechende Figur finden wir bereits in der Prünhilt des Nibelungenliedes, in der sicher auch zwei Sagentraditionen zusammengeflossen sind. Der Frankfurter Eddakommentar (vgl. von See/La Farge 2006, S. 167– 169) diskutiert ferner die Frage, ob Sigrdrifa mit der Sigrun der Helgilieder identisch ist. Dem liegt eine Stelle der Grípisspá zugrunde, die den Namen Helgi in Bezug zu Sigrdrifa nennt: „Auf dem Felsen schläft des Fürsten Tochter, | […] nach Helgis Tod“; „Sefr á fialli fylkis dóttir, | […] eptir bana Helga“ (Grp. 15). 365 „Eigi er þat skipat, at vid buim saman. Ek em skialldmęr, ok a ek med herkonungum hialm, ok þeim man ek at lide verda, ok ecke er mer leitt at beriazt.“  



























3.2 Walküren

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wenn wir beisammen wohnen; schwerer ist es, den Kummer zu dulden, der damit in Verbindung steht, als scharfe Waffen“ (Vs 25).366 Ihr zweites Treffen spricht von einer Unvereinbarkeit der beiden, von der bei dem Austausch von Liebeseiden auf dem Hindarfjall noch keine Rede war.367 Das Problem bestünde aus einer Diskrepanz zwischen Brynhilds Natur und der Ehe an sich. Trotzdem kommt es bei dieser viel komplizierteren Begegnung zum abermaligen Schwören von Eiden: „Sigurd sprach: ‚[…] das schwöre ich bei den Göttern, daß ich dich besitzen will oder keine Frau sonst.‘ Sie sagte dasselbe“ (Vs 25).368 Die Figuren sind sich bei ihrer zweiten Begegnung fremd. In der veränderten Textatmosphäre der Völsunga saga nach der Hindarfjallbegegnung muss Sigurd Brynhild ein weiteres Mal kennenlernen. Er kennt sie nicht und sie muss ihm von Alsvinn vorgestellt werden (vgl. Vs 25). Es ist kein erneutes Schwören von Eiden, sondern ein zweites erstes Schwören. Bei Gunnars Brautwerbung kommt es dann zur dritten Brynhildbegegnung und diesmal ist wieder alles anders: Die Werber „ritten dann durch Felsen und Täler zu König Budli und brachten ihre Werbung an. Er nahm sie friedlich auf, wenn sie nicht Nein sagen würde, bemerkte aber, sie wäre so stolz, daß sie nur den zum Manne nehmen würde, den sie wollte“ (Vs 29).369 Es tritt nun wieder die mythisch konnotierte Brynhild auf den Plan, die von einer Waberlohe umgeben ist und nur von dem zu erreichen ist, der die Heldentat begeht, das Feuer zu durchreiten. Vom Hindarfjallgipfel bewegt sich die Figur in den Turm ihres Schwagers und von dort in den Flammenring bei ihrem Vater Budli. Brynhild ist weit davon entfernt, eine schlüssige Figur zu sein. Jedes Mal, wenn der Rezipient sie aus den Augen lässt, verändert sie sich. Sie ‚resettet‘ sich und man begegnet ihr in einem anders inszenierten Milieu.370 Das Kohärenzbedürfnis der mittelalterlichen Erzählung entspricht in dieser Hinsicht nicht unserem heutigen. Die Texte artikulieren jedoch sehr wohl eine Kontinuität zwischen

366 „Þa friǫmzt ver mest, ef ver buum saman, ok meira er at þola þann harm, er her liggr a, enn hvauss vopn.“ 367 Vgl. Schlauch 1967, S. 208: „In the second [der zweiten Begegnung der beiden], he approaches her with elaborate courtesy and is received as if they had never met before.“ 368 „Sigurdr svarar: ‚þess sver ek vid gudinn, at ek skal þik eigha eda eingha konu ella.‘ Hun męllti slikt.“ 369 „Rida nu fioll ok dale til Budla konungs. Bera upp bonordit. Hann tok þvi vel, ef hun vill eigi nita, ok segir hana sva stora, at þann einn mann mun hun eigha, er hun vill.“ 370 R.G. Finch nennt das eine „structural weakness“ (Finch 1965, S. ix). Doch auch Sigurd wird mehrmals von der Saga eingeführt. Die Beschreibung im 23. Kapitel ergänzt den Helden. Nach seinen Jugendtaten wird er dem Rezipienten aktualisiert. Vgl. Larrington 2012, S. 256: „The observation, ‚margs konar kurteisi nam hann í œsku‘ (many kinds of courteous skills he acquired in youth) indicates that the text is moving away from a world in which íþrottir are the most important element in a hero’s education“. Agneta Ney führt diese zweifache Vorstellung Sigurds auf die Zäsur vor dem 23. Kapitel zurück. Der mythische Teil der Saga geht in den höfischen über und sowohl Sigurd, als auch Brynhild sind die einzigen Figuren, die in beiden Sphären, der mythischen und der höfischen, präsent sind. Man begegnet ihnen deswegen in der Saga mehrfach und unter jeweils neuen Gesichtspunkten (vgl. Ney 2000, S. 368–370).  





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3. Mythische Aufladung

den verschiedenen Brynhildvarianten. Die Erzählung lässt die Figur auf Ereignisse referieren, die sich in den unterschiedlichen Begegnungsuniversen abgespielt haben. Dass Brynhild und Sigurd sich bereits vor der Brautwerbung begegnet sind, zeigt der Ring Andvaranaut, den Sigurd ihr abnimmt und durch einen anderen ersetzt (vgl. Vs 29). Den Ring hat er ihr bei ihrer Heimirbegegnung gegeben (vgl. Vs 25). Ebenso erinnert sich die Brynhildfigur an die Hindarfjallbegegnung: „Sigurd […], dem ich Eide schwur auf dem Berge: er ist mein erster Gatte“ (Vs 29).371 Die gemeinsame Tochter Aslaug gibt sie in Heimirs Obhut (vgl. Vs 29). Beim letzten Gespräch mit Sigurd heißt es: Brynhild „gedachte daran, wie sie sich auf dem Berge trafen und sich Eide schwuren“ (Vs 31).372 Die Helreið Brynhildar stellt eine Verbindung zwischen der Brynhild am Gjukungenhof und der Walküre Sigrdrifa her: „Damals ließ ich im Gotenland | den greisen Hjalmgunnar bald zur Hel gehen; | ich gab dem jungen Bruder Audas den Sieg; | darum wurde mir Odin sehr zornig“ (Hlr. 8).373 Diese ersten Brynhildbegegnungen sind also nicht vollständig wie weggeblasen. Die späteren Brynhildvarianten nehmen Bezug auf die vorangegangenen.  

3.3 Magie und Zaubermittel 3.3.1 Eine magische Welt Die Handlung der Völsungensage ist angesiedelt in einem mythisch-magischen Kosmos. Allenthalben stoßen wir auf Zusammenhänge und Korrespondenzen, die sich nur durch feinstoffliche Einwirkung auf das uns Vertraute erklären lassen.374 Magische Mittel und Praktiken sind in der völsungischen Welt allgegenwärtig. Diese Phänomene sind mit einer solchen Selbstverständlichkeit in die Texte gewoben, dass wir Rezipienten dazu verführt werden, sie nicht zu hinterfragen. Magie und Zauberei sind, wenn nicht alltäglich, dann doch nicht unüblich und sicher nicht unmöglich. Von den Fäden der Magie ist die Welt der Völsungen völlig durchwirkt.375 Zauberkundigkeit ist ein Merkmal verschiedener Figuren der Textwelt. Als Sigurd im Nornagests þáttr zur Vaterrache auszieht, versuchen ihn seine Feinde mit einem Sturm aufzuhalten: „ein großes durch Zauberei erregtes Unwetter, das viele den Hun-

371 „Sigurdr […], er ek vann eida a fiallenu, ok er hann min frumverr.“ 372 „minnizt nu a þat, er þau funduzt a fiallinu ok soruzt eida“. 373 „Þá lét ec gamlan á Goðþióðo | Hiálm-Gunnar næst heliar ganga; | gaf ec ungom sigr Auðo bróður; | þá varð mér Óðinn ofreiðr um þat.“ 374 Vgl. Assmann/Assmann 1998, S. 191: „Die mythische Welt […] schafft einen magischen Appellationsraum, innerhalb dessen die Umwelt durch rituellen Mitvollzug kontrolliert werden kann.“ 375 Vgl. Klein 1988, S. 117: „nicht Zauber überhaupt ist […] vorzeitspezifisch, sondern nur das größere Ausmaß und die besondere Ausprägung des Zaubers.“  



3.3 Magie und Zaubermittel

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dingssöhnen zuschrieben“ (Norn 351).376 Die Verursacherin des meisten Übels in den Erzählungen ist die „zauberkundige Grimhild“ (Vs 26),377 die mit ihrer Magie und ihren Tränken mehrmals in das Geschehen eingreift und die Dinge zum Schlimmen wendet. Brynhild macht sie dafür verantwortlich: „Sie ist die Urheberin alles Übels, das an uns nagt – sie brachte Sigurd das arglistige Bier, so daß er sich nicht an meinen Namen erinnerte“ (Vs 30).378 Sigurds Erzieher Regin ist eine grenzgängerische Gestalt zwischen der Welt des Mythischen und dem höfischen Milieu von Sigurds Jugend. Optisch und charakterlich auffällig ist er „kunstfertiger als jeder andere Mann und ein Zwerg an Wuchs. Klug war er, grimmig und zauberkundig“ (Rm. Einleitungsprosa).379 Vor dem Drachen Fafnir verhehlt Sigurd seine Identität, weil er einem Fluch durch den Sterbenden entgehen will (vgl. Fm. Prosa nach 1). Während einige Figuren als Zauberei ausübend inszeniert werden, haftet anderen eine übernatürliche Präsenz an. Bei seiner Geburt werden „die scharfen Augen“ (Vs 13)380 Sigurds bemerkt:381 „Seine Augen waren so scharf, daß wenige wagten ihm unter die Augenbrauen zu blicken“ (Vs 23).382 Dieses Merkmal erbt Sigurds Tochter Svanhild: „sie war aller Frauen schönste und hatte durchdringende Augen wie ihr Vater, so daß nur wenige es wagten, ihr unter die Brauen zu blicken“ (Vs 41).383 Sie schützen nicht nur Sigurd zweimal vor seinem Mörder Gutthorm (vgl. Vs 32), sondern lassen auch die Pferde scheuen, die Svanhild zertrampeln sollen: „als sie ihre Augen aufschlug, da wagten die Rosse nicht, sie zu treten“ (Vs 42).384 Diese einschüchternde Aura umgibt Sigurd schon, bevor er den Schreckenshelm von Fafnir erbeutet. Des Drachen furchteinflößende Präsenz manifestiert sich in Form eines magischen Helmes, den er trägt: des „Schreckenshelm[s], vor dem sich alle Lebewesen fürchten“ (Rm. Prosa nach 14).385 Anders doch ähnlich finden wir das bei der Gestalt Odins, als er auf Signys Hochzeit erscheint: „Allen Männern versagte die Stimme dem Greise gegenüber“ (Vs 3).386 Die Ausstrahlung dieser Figuren lässt andere Statisten des Textes vor ihnen einknicken. Die Erzählwelt ist angefüllt mit magischen und anderweltlichen Erscheinungen. Vor „arge[n] Unholde[n], die die Menschen irre führen“ (Vs 22),387 warnt Brynhild Si 

376 „giorningauedr stor ok kendu þat margir Hundings sonum.“ 377 „Grimhillde ena fiolkungu.“ 378 „Hun velldr aullum uppaufum þess bauls, er oss bitur. Hun bar Sigurdi grimt aul, sva at eigi munde hann mitt nafn.“ 379 „hveriom manni hagari, oc dvergr af vǫxt; hann var vitr, grimmr oc fiolkunnigr.“ 380 „inn haussu augu“. 381 Siehe 4.2.2. 382 „Augu hans voru sva snaur, at farr einn þordi at lita undir hans brun.“ 383 „Hun var allra kvenna vęnst ok hafde snaur augu sem fadir hennar, sva at farr einn þorde at sea undir hennar brynn.“ 384 „Enn er hun bra i sundr augum, þa þordu eigi hestarnir at sporna hana.“ 385 „ægishiálm, er ǫll qviqvindi hrœdduz við.“ 386 „Ollum monnum felluz kveidiur vid þenna mann.“ 387 „illar vettir, þęr menn villa.“

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3. Mythische Aufladung

gurd im weltlichen Teil ihrer Unterweisung. Die Begegnung mit schädlichen, nichtmenschlichen Wesen bewegt sich gemäß der Textlogik im Rahmen des Möglichen. So auch ein Schwert, das nur vom Auserwählten aus dem Holz gezogen werden (vgl. Vs 3) sowie eine Steinplatte durchsägen und einen Amboss durchschlagen kann (vgl. Vs 8, 15) oder eine imposante Waberlohe: „Da erhob sich ein großes Getöse, als das Feuer begann zu rasen, die Erde begann zu erbeben, und die Lohe schlug zum Himmel empor“ (Vs 29).388 Magische und wundersame Effekte wirken auch auf die Figuren ein. Gudrun macht ihre Söhne gegenüber Waffen unverwundbar: „Von Gudruns Söhnen ist nun zu erzählen, daß sie ihre Rüstungen so gefeit hatte, daß kein Eisen sie verletzen konnte“ (Vs 44).389 Dagegen findet sich letztlich aber eine Lösung: „Werft Steine auf die Männer, da Speere nicht stechen | noch eiserne Schwerter“ (Hm. 25).390 Gudrun selbst sucht den Freitod im Wasser. Auf ungeklärte Weise ist es ihr aber nicht möglich zu ertrinken. Ihr Tod ist noch nicht vorgesehen: „Sie konnte nicht versinken“ (Am. Abschlussprosa).391 Stattdessen wird sie von den Wellen an den Ort gebracht, an dem sich ihr weiteres Schicksal erfüllt: „Gudrun schritt einmal an den Strand, schwere Steine in ihrem Busen tragend, und ging so in die See, um sich den Tod zu geben. Da hoben und trugen sie hohe Wogen über die See, mit ihrer Hilfe bewegte sie sich fort“ (Vs 41).392 Um vor Atli ihre Unschuld zu beweisen, muss sie sich an anderer Stelle einem Brandordal in Form einer Kesselprobe stellen, im Rahmen derer sie mit unversehrter Hand Edelsteine aus einem Kessel mit kochendem Wasser fischen muss.393 Die Rechtsbräuche der völsungischen Welt sind mit magischer Praxis vermischt. Der Kessel selbst muss dafür zuvor selbst geweiht werden: „Send zu Saxi, dem Herrscher der Südmänner! | Er kann weihen den wallenden Kessel“ (Gðr. III 6).394 Das semimagische gerichtliche Ritual allerdings beweist nicht die Unschuld. Es ist ein Reinigungseid, der unschuldig macht: „Sie griff mit der weißen Hand bis zum Grund, | und sie holte die Edelsteine herauf: | ‚[…] unschuldig bin ich geworden, | auf geheiligte Weise‘“ (Gðr. III 9).395 Herkja,396 die Gudruns Integrität in Frage gestellt hat, bleibt dagegen nicht unversehrt, sondern verbrüht sich schrecklich im ge 







388 „Nu verdr gnyr mikill, er elldrinn tok at ęsast, enn iord tok at skialfa. Loginn stod vid himin.“ 389 „Þat er nu ad segia fra sonu Gudrunar, ad hun hafdi sva buit þeirra herklędi, at þa bitu ęigi iarn“. 390 „Grýtid ér á gumna, allz geirar né bíta, eggiar né iárn“. 391 „Hon mátti eigi søqva.“ 392 „Gudrun geck eitt sinn til sęvar ok tok griot i fanng ser ok geck a sęinn ut ok villde tapa ser. Þa hofu hana storar barur fram eptir seanum, ok fluttizt hun med þeirra fulltinghe.“ 393 Zur Motivik der Kesselprobe und anderen gerichtlichen Ordalen in der altnordischen Literatur vgl. Sprenger 1992, S. 90–101. 394 „Sentu at Saxa, sunnmanna gram! | hann kann helga hver vellanda.“ 395 „Brá hon til botz biortom lófa, | oc hon up um tóc iarcnasteina: | ‚[…] sycn em ec orðin, | heilagliga“. 396 Hinter dieser Figur verbirgt sich die mittelhochdeutsche Helche oder Herche, „die erste rechtmäßige Frau Etzels, die z. B. im NL stark verherrlicht wird. Im dritten Gudrunlied ist sie zur Kebse Atlis gemacht, eine sonst in der deutschen Heldensage nicht faßbare Rolle der Helche; sie muß wohl altnordisch sein“ (Sprenger 1992, S. 89).  





3.3 Magie und Zaubermittel

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weihten Kessel: „Der sah nie Klägliches, der nicht sah, | wie Herkja sich darin die Hände verbrühte“ (Gðr. III 11).397 Danach wird die Anstifterin entsorgt: „sie führten das Mädchen ins faulende Moor“ (Gðr. III 11).398

3.3.2 Zaubertränke Innerhalb der Handlung der Völsungensage kommen mehrmals Tränke mit spezieller Wirkung zum Tragen.399 Im Falle von Sinfjötli ist das ein profaner Gifttrank, der ihm letztlich sein Ende bereitet. Die Skáldskaparmál erwähnen die kenning des Skalden Bragi „Trank[…] der Völsungen“ (Sskm 42 [41])400 als Umschreibung für Gift. Sie sei zurückzuführen auf Sigmunds Giftimmunität (vgl. Sskm 42), durch die er Gift schadlos trinken könne. Als Kontrast dazu kommt einer seiner Söhne gerade durch Gift um. Daneben berichten die Erzählungen von mehreren Tränken mit übernatürlichem Effekt, etwa dem Vergessenstrank, den Sigurd von Grimhild erhält: „durch diesen Trank dachte er nicht mehr an Brynhild“ (Vs 28).401 Seine Wirkung hält an bis es zu spät ist. Erst nach Gunnars Hochzeit mit Brynhild kommt Sigurd zu sich: „Als sie beendigt war, da erst erinnerte sich Sigurd all der Eide“ (Vs 29).402 Später sagt er zu Brynhild: „Ich erinnerte mich deines Namens nicht […] und erkannte dich nicht eher, als bis du vermählt warst“ (Vs 31).403 Der Vergessenstrank hat ursprünglich eine ordnungsstiftende Funktion. Er dient dazu, Sigurd in die Sippe der Gjukungen zu integrieren und damit deren Gefüge zu festigen.404 Dadurch dass Sigurd allerdings in Folge davon zum Brautwerbehelfer Gunnars und nicht zum Ehemann Brynhilds wird, wird die heroische Idoneität untergraben.405 Der Zaubertrank, der zunächst die Struktur des Gju-

397 „Sáat maðr armlict, hverr er þat sáat, | hvé þar á Herkio hendr sviðnoðo“. 398 „leiddo þá mey í mýri fúla“. 399 Vgl. Grimstad 2000, S. 23: „Because eating and drinking are such basic human activities, they offer considerable potential for dramatic twists and turns in the traditional plot. Although in the real world the consumption of food or drink normally has beneficial consequences, in the world of folklore and myth it is more likely to cause harm than good.“ Vgl. Aguirre 2002, S. 18: „woman is the giver of power, favour, and doom, all three betokened by the drink she bestows.“ 400 „Vǫlsunga drekku.“ 401 „vid þann dryck munde hann ecke til Brynhilldar.“ 402 „Ok er lokit er þessi veizlu, minir Sigurd allra eida“. 403 „Eigi munda ek þitt nafn […] ok eigi kenda ek þik fyrr, enn þu vart gipt“. 404 Siehe 5.1.4. 405 An sich gibt der Werbehelfer die Qualitäten des eigentlichen Brautwerbers wieder: Die Braut „darf nach dem Prinzip der Repräsentation davon ausgehen, daß der eigentliche Werber noch viel vortrefflicher ist als sein Helfer. Auch hier geht es um objektivierbare Adelsqualitäten, nicht um subjektive Leidenschaften. Das Grundprinzip der Paarbildung lautet auch hier: ‚Dem Besten die Schönste‘“ (Schulz 2015, S. 195). Dieses Repräsentationsprinzip wird jedoch durch das Werber-Helfer-Verhältnis zwischen Gunnar und Sigurd aus den Angeln gehoben. Die Falschrepräsentation beim Akt der Werbung um Brynhild irritiert die Völsungen- und Gjukungengesellschaft bis in ihre Selbstzerstörung.  





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3. Mythische Aufladung

kungenhofes festigen sollte, zerstört seine Ordnung vollständig.406 Brynhild sieht diese Störung durch das Zaubermittel voraus: „Grimhild gibt ihm [Sigurd] truggemischten Met, der uns allen großen Streit bringt“ (Vs 27).407 Als Instrument, Ordnung zu reinstallieren wird ein Trank benutzt, der Gudruns Versöhnung mit ihren Brüdern herbeiführen soll. Was kommt nun so alles rein in einen Vergessenheitstrank? Grimhild brachte mir [Gudrun] einen Becher zu trinken, | kalt und herb, damit ich mich des Streites nicht erinnerte; | der war stark durch die Kraft der Erde, | die kühle See und Schweineblut.408 | Ins Horn waren Runen jeglicher Art | geritzt und gerötet, erraten konnt ich sie nicht: | der lange Heidefisch, des Landes der Haddinge | ungeschnittne Ähre, die Eingeweide von Tieren. | Im Bier kamen viele Schadensmittel zusammen, | Wurzeln jedes Baumes und gebrannte Eicheln, | Tau des Herdes, Eingeweide von Opfertieren, | gesottne Schweinsleber, denn sie beschwichtigt Streit. | Dann vergaßen sie, als sie getrunken hatten, | alle im Saal des Fürsten Schicksal (Gðr. II 21–24).409

Außerdem in der Völsunga saga: „Dieser Trank war gemischt mit der Kraft der Erde, der See und dem Blut ihres Sohnes“ (Vs 34)410 sowie in den Liedstrophen der Völsunga saga: „Im Innern des Horns | Waren allerlei Runen | Geritzt und gerötet, | Raten konnt’ ich sie nicht; | Ein langer Heidwurm, | Vom Lande Haddings | Ungeschnittne Ähren, | Das Innere der Tiere. | Viel Böses war | Dem Biere beigemischt: | Allerlei Kräuter, | Der Küche Asche, | Verbrannte Eckern, | Opfer-Gedärme, | Schweinsleber gesotten, | Die den Hader beschwichtigt“ (Vs 34).411 Wie wirkt dieser Trank eigentlich? Er soll das Geschehene vergessen machen, doch erinnert sich die Figur nicht nur, sondern berichtet noch selbst von der Wirkung des Trankes. Vergessen wird nicht erreicht.412 Indem der Text sagt, das Zaubermittel sei böse und schädlich, wird er in seiner Wertung ambivalent, denn das Ergebnis der Einnahme des Trankes ist wün-

406 Vgl. Hellgardt 2002, S. 175: „Magie also eröffnet bei alledem den Weg des Handlungsverlaufs in die Aporie der Liebestragödie des Vierecksverhältnisses Brynhild-Sigurd-Gudrun-Gunnar.“ 407 „Grimhilldr gefr honum meinblandinn miod, er ǫllum oss kemr i mikit strid.“ 408 Unklar ist, um wessen Blut es sich hier handelt. Vgl. von See/La Farge et al. 2009, S. 694 f. zu den verschiedenen Lesarten, die von Schweine-, über Opfer- zu Sohnesblut rangieren. 409 „Fœrdi mér Grímildr full at drecca, | svalt oc sárligt, né ec sacar munðac; | þat var um aukit urðar magni, | svalkǫldom sæ oc sonardreyra. | Vóro í horni hvers kyns stafir | ristnir oc roðnir – ráða ec né máttac –, | lyngfiscr langr, lanz Haddingia | ax óscorit, innleið dýra. | Vóro þeim bióri bǫl mǫrg saman, | urt allz viðar oc acarn brunninn, | umdǫgg arins, iðrar blótnar, | svíns lifr soðin, þvíat hon sacar deyfði. | Enn þá gleymðo, er getið hǫfðo, | ǫll iofurs iórburg í sal“. 410 „Sa dryckr var blandinn med iardar maghne ok sę ok dreyra sonar hennar“ (Übersetzung F.D.). 411 „Voru i þvi horni | hverskyns stafir | ristnir ok rodnir, | rada ek ne mattak: | lyngfiskr langr, | lanz Haddingia | ax uskorit, | innleid dyra. | Voru þeim biore | baul maurgh saman: | urt allz vidar | ok akarnn bruninn, | umdaugg arins, | idrar blotnar, | svins lifr sodinn, | þviat sakar deyfde.“ 412 Vgl. Grage 2001, S. 502: „Gudrun scheint also nichts vergessen zu haben.“ Weiterhin merkt Joachim Grage an, „daß der Trank Gudrun garnicht die Erinnerung an Sigurd rauben soll. Vielmehr soll er dazu dienen, den Streit mit den Brüdern beizulegen“ (Grage 2001, S. 502).  













3.3 Magie und Zaubermittel

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schenswert und positiv: „Darauf, als sie sich versöhnt hatten, herrschte große Freude“ (Vs 34).413 Es handelt sich nicht um einen Vergessenstrank im Sinne der respektiven Sigurdepisode, sondern um einen Versöhnungstrank.414 Der Trank macht Gudrun gefügig und sie für einen Ausgleich und eine Bußzahlung für Sigurd empfänglich. In der Völsunga saga sagt Grimhild nach dem Reichen des Trankes: „Ich schenke dir Gold […]. Damit ist dir dein Mann gebüßt“ (Vs 34).415 Der Trank allein reicht also nicht aus, sondern macht eine Versöhnung durch Bußzahlungen überhaupt erst möglich.416 Das Prosastück Dráp Níflunga schildert den Trank als Schlüssel zu Gudruns Verheiratung mit Atli: Gudrun „gaben sie einen Vergessenstrank zu trinken, ehe sie zustimmte, Atli zu heiraten“ (Dr.).417 Die Aussöhnung mit der Sippe gelingt vollinhaltlich. An späterer Stelle ist von keinem Groll gegenüber den Brüdern wegen Sigurds Verlust mehr die Rede, sondern nur noch von Atlis Defiziten im Vergleich mit dem verlorenen Ehemann.418 Im Konflikt zwischen Atli und den Gjukungen ist Gudrun ganz auf der Seite ihrer Brüder. Sie schickt Warnungen im Vorfeld (vgl. Vs 35) und kämpft später auf deren Seite gegen die Leute Atlis (vgl. Vs 38). Das Handlungselement des Trankes ist ein Hilfsmittel, um die Zusammenführung der verschiedenen Sagenstoffe – die der Sigurdsage und des Unterganges der Gjukungen – für den Rezipienten verdaulich zu machen. Die Versöhnung nach dem unerhörten Verrat am größten aller Helden wird dadurch akzeptabel und die Versatzstelle durch das magische Mittel nachvollziehbar gemacht. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied dagegen hat beide Tränke – sowohl den Vergessenstrank für Sigurd, als auch den Versöhnungstrank für Gudrun – nicht nötig, da es anders mit den Sageninhalten umgeht:419 Siegfried hat zwar ein Vorwissen um Prünhilt, doch kommt es zu keiner vorherigen Begegnung und erst recht zu keinem Austausch von Liebeseiden. Er muss sie nicht erst vergessen gemacht werden. Auf der anderen Seite wird der Konflikt zwischen Kriemhilt und ihren Brüdern und Hagen nie beigelegt. Sie ist nicht nur nicht in deren letztem Kampf auf Seite der Burgunden, sondern hat deren Untergang selbst herbeigeführt. Durch die alternative Zusammenfügung des Sagenmaterials in der nordischen Variante werden die magischen Elemente notwendig. Die Tränke sind in der skandinavischen Völsungensage ein Kohärenzmittel.420  







413 „Ok eptir þat, er vili þeirra kom saman, giordiz fagnadr mikill.“ 414 Vgl. Cronan 1985, S. 178: „The potion […] is not intended to make Guðrún forget Sigurðr, or his murder, or even her grief for him. Its purpose is to make her forget her quarrel with her brothers, to dull the animosity she feels towards them, and to settle her dispute with them. Thus, her later mention of Sigurðr and his death has no bearings on the efficacy of the drink.“ 415 „Ek gef þer gull […], þar er þer bętr þinn madr.“ 416 Siehe 6.2.1. 417 „gáfo henni óminnisveig at drecca, áðr hon iátti at giptaz Atla.“ 418 Siehe 6.1.6. 419 Vgl. zum sparsamen Einsatz von Zaubermitteln im Nibelungenlied Klein 1988, S. 121–122. 420 Nun ist aber wohl die Variante des Burgunden- oder Gjukungenunterganges der nordischen Tradition, da die Atlifigur der Feind ist und die Schwester zur Sippe hält, die ursprünglichere (vgl. Heusler  



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3. Mythische Aufladung

In der völsungischen Welt sind magische Tränke verbunden mit kognitiver Leistung. Als Gegenkonzept zu den Vergessenstränken Grimhilds steht der Erinnerungstrank Brynhilds, den sie ihm als Vorbereitung auf ihre Runenlehre gibt, um seine Gedächtnisleistung zu steigern: „Da nahm sie ein Horn, gefüllt mit Met, und gab ihm einen Erinnerungstrank“ (Sd. Prosa nach 2).421 Dieses Getränk sorgt dafür, Sigurd aufnahmebereit und für die Unterweisung empfänglich zu machen.422 Das hat den Ritualcharakter der Intoxikation vor der Ausübung von Magie. Man nimmt eine Substanz zu sich, um Zugang zu höherem, verschlossenem Wissen zu erhalten. So sagt Brynhild: „Bier ich bringe dir“ (Vs 21)423 und „gern will ich dich lehren […]. Laß uns zusammen trinken: mögen die Götter […] geben, daß […] du dich später dessen erinnerst, das wir reden“ (Vs 21).424 Zynisch ist das dahingehend, da sich Sigurd ja später gerade nicht mehr an das Gespräch und die Begegnung erinnern wird. Dafür sorgt Grimhilds Vergessenheitstrank, der mit dem Erinnerungsbier Brynhilds rivalisiert.425 Mit dem Trinken des positiven Trankes ist die Aufnahme von Wissen verbunden. Runen werden dabei getrunken:426 „Bier bring ich dir […], | mit Macht gemischt und mächt’gem Ruhm; | gefüllt ist’s mit Zauberliedern und Heilungsrunen, | mit guten Zaubersprüchen und Liebesrunen“ (Sd. 5).427 Der Trank bereitet auf die Unterweisung vor, ist aber auch Teil der Wissensaufnahme selbst.428

1969 [1914], S. 524–526; Finch 1965, S. xvi; Grimm 1957, S. 8; Kuhn 1971 [1948], S. 66). Anders dagegen Becker 1953, S. 273. 421 „Hon tóc þá horn, fult miaðar, oc gaf hánom minnisveig.“ 422 Agneta Ney identifiziert den Trank als einen Willkommenstrunk, der ein Pendant im Trank findet, den Sigurd von Brynhild in der Heimirepisode erhält (vgl. Vs 25). Auf diese Weise würden die mythische und die höfische Passage miteinander korrespondieren (vgl. Ney 2009, S. 144). 423 „Bior feri ek þer“. 424 „med þauckum vill ek kenna ydr, […] ok dręckum będe saman, ok gefi godinn […] at […] þu munir eptir þat, er vid rędum.“ 425 Vgl. Aguirre 2002, S. 17: „Brynhild’s two offers of the cup to Sigurd parallel Hjordis’s offer to drink to him on the occasion of her giving him the sword Gram. All three scenes constitute acts of dispensation (of love and/or power). In contrast, Grimhild’s horn is of a pattern with Borghild’s cup: to drink of them is to be doomed. We observe the ambivalence of the cup, now a token of favour, now of destruction.“ Vgl. Aguirre 2002, S. 29: „The three main things a woman’s cup signifies, then, are power, sexual union or doom.“ 426 Wie man sich das vorstellen kann, darüber spekuliert frei Hans Helmut Dörner (vgl. Dörner 1993, S. 51 f.). 427 „Biór fœri ec þér […], | magni blandinn oc megintíri; | fullr er hann lióða oc lícnstafa, | góðra galdra oc gamanrúna.“ 428 Renate Doht sieht im Erinnerungstrank der Walküre die Motivstruktur des Kalypsotrankes, also des Trankes, der dem Helden von einer Unterweltfigur angeboten wird und dessen Trinken die Hochzeit mit der Totengöttin, also sein Sterben, symbolisiert (vgl. Doht 1974, S. 94–101).  



















3.3 Magie und Zaubermittel

173

3.3.3 Runen Von seinem Erzieher erlernt Sigurd „Runen“ (Vs 13).429 Was das genau umfasst, erfahren wir nicht. Für diese inkonkrete Darstellung werden wir allerdings in der Episode von Sigurds Walkürenbegegnung entschädigt, in der detailliert Runen und deren Funktion und Anwendungsgebiete aufgezählt werden. Genannt werden „Siegrunen“ (Vs 21),430 die in den Griff des Schwertes geritzt werden sollen, während der Gott Tyr angerufen wird, „Brandungsrunen“ (Vs 21),431 die in das Steuer und die Ruder des Schiffes eingebrannt werden sollen oder „Älrunen“ (Vs 21),432 die vor giftigen Getränken schützen. Dafür müssten Letztere ins Trinkhorn, auf den Handrücken und auf die Fingernägel geritzt werden. Hier wird das konkrete Runenzeichen ‚Not‘ genannt.433 „Rederunen“ (Vs 21)434 und „Denkrunen“ (Vs 21)435 solle Sigurd kennen, um sich die Menschen gewogen zu machen und klüger zu sein als sie. „Bergerunen“ (Vs 21)436 sind Geburtsrunen, die bei der Entbindung helfen. Sie sollen in die Hand – wohl des Geburtshelfers – geschrieben werden und dann die Kreißende damit umarmt werden, während „hohe Frauen“ (Vs 21)437 – Disen – angerufen würden. Auf sich nach Osten neigende Äste solle man „Astrunen“ (Vs 21)438 ritzen, die Heilkraft in sich bergen (vgl. Sd. 6–13). Vermittelt wird die Vorstellung von Runen als Schutz- und Hilfszeichen in Not- und Alltagslagen, mit denen magisch auf die Umwelt Einfluss genommen werden kann.439 Die Walküre berichtet von magischen und religiös-kultischen Praktiken, die exakte Angaben darüber geben, wo und wie die Runen angebracht werden und welche höheren Entitäten dabei zu Hilfe gerufen werden sollen. Darauf nennt sie den Ursprung der Runen und wie Odin – hier genannt Hropt – sie „erriet, […] ritzte [und] ersann“ (Vs 21).440 In einem mythischen Sowohl-als-auch findet und erfindet der Gott gleichzeitig die Geheimzeichen. Ihre Fund- und Ursprungsorte liegen in verschiede 











429 „runar“. 430 „Sighrunar“. 431 „Brimrunar“. 432 „Aulrunar“. 433 Zu Namen und Symbolik der Runenzeichen des Futhark vgl. Düwel 2008, S. 197–202; vgl. Barnes 2012, S. 21–22. 434 „Malrunar“. 435 „Hughrunar“. 436 „Biarghrunar“. 437 „disir dugha“. 438 „Limrunar“. 439 Im völsungischen Erzählkosmos sind die Runen vornehmlich magischer Natur und nur in zweiter Hinsicht ein Schriftsystem. Was den realhistorischen Kontext angeht, wird die Funktion der Runen in Bezug auf ihre magische Konnotation kontrovers diskutiert (vgl. Düwel 2008, S. 208–211). Vgl. Dörner 1993, S. 44 ff. zur okkulten Komponente der Runen in der Literatur. 440 „red, […] reist, […] hugde“.  









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3. Mythische Aufladung

nen martialischen, mythischen und natürlichen Bereichen (vgl. Vs 21, vgl. Sd. 13–19). Eine magische Konnotation haben auch die Runen, die im Zusammenhang mit dem Versöhnungstrank für Grimhilds Kinder erwähnt werden: „in das Horn waren allerlei Runenstäbe geritzt und mit Blut gerötet“ (Vs 34).441 In den Sigrdrífumál wird der Zauberschlaf der Walküre als „Schlafrunen“ (Sd. 2) 442 bezeichnet. Die Runen sind hier ein pars pro toto für Zauberei an sich. Der Begriff ‚Runen‘ wird bisweilen als metonymische Umschreibung für etwas benutzt. So etwa bei Sigrdrifas Warnung: „Streit und Bier haben vielen Männern | Schmerz bereitet, | manchen Tod, manchen Schadensrunen“ (Sd. 30).443 Die Schadensrunen stehen hier für den Schaden selbst, der durch Streit und Alkohol entsteht. Jemandem „Rederunen“ (Gðr. I 23)444 zu geben, versteht die Guðrúnarkviða I als das Sprechen ermöglichen. „Falschheitsrunen“ (Sd. 32)445 stehen einfach für Falschheit sowie die Streitrunen, die Odin zwischen Verwandte wirft, vom Gott verursachten Streit meinen: „Allein Odin bewirkte das ganze Unglück, | weil er Streitrunen zwischen Verwandte warf“ (HH. II 34).446 Helgi sagt „Kampfreden in Kampfrunen“ (HH. II 12).447 Er spricht in „metaphorischen Ausdrücken“448 von vergangenen Schlachten.449 Die Heldenlieder benutzen die Runen als Begriff, um Abstracta auszuschmücken. Die Passage um die verräterische Einladung erwähnt Runen als nichtmagisches Zeichensystem. Gudrun benutzt die Runen zur Informationsübermittlung, also als Schrift: „Gudrun wusste Verrat und schickte in Runen Wörter, dass sie nicht kommen sollten“ (Dr.).450 Zwar werden bei ihrer Warnung magisch konnotierte Mittel aufgeführt, entbehren aber eines magischen Kontextes: „Da ritzte Gudrun Runen, nahm einen Goldring, knüpfte Wolfshaar darein“ (Vs 35,451 vgl. Am. 4). Bei beidem handelt es sich um profane – im Sinne von weltliche, nichtmagische – Warnzeichen. Das Wolfshaar bedeutet Gefahr und sowohl Sender als auch Empfänger sind sich dieser Semantik bewusst (vgl. Vs 35, vgl. Akv. 8). Sich dieses Systems zu bedienen, so die Texte, erfordere Klugheit. Die Nachrichtenübermittlung gehe schief, wenn Zeichen fehlen und man nicht über das komplette Runenrepertoire verfüge. Kostbera erkennt die Defizite in Gudruns von Atlis Boten verfälschter Nachricht, „doch gelang es ihr bei  





441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451

„i þvi hornne voru ristnir hverskyns stafir ok rodner med blode“. „blunnstǫfom.“ „sǫngr oc ǫl hefr seggiom verit | mǫrgom at móðtrega, | sumom at bana, sumom at bǫlstǫfom“. „málrúnar“. „flærðarstafi“. „einn veldr Óðinn ǫllo bǫlvi, | þvíat með sifiungom sacrúnar bar.“ „í valrúnom vígspioll“. Krause 2004, S. 283 Anm. Eigentlich Val-Runen. Vgl. Beck 2006(a), S. 155–156. „Guðrún vissi vélar oc sendi með rúnom orð, at þeir scyldo eigi koma“. „Gudrun ristr runar, ok hun tekr einn gullhringh ok knyte i vargshar“.  



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3.3 Magie und Zaubermittel

ihrer Klugheit, sie zu verstehen“ (Vs 35,452 vgl. Am. 9–12). Es wundert sie, dass „eine so kluge Frau sie so verworren geritzt haben sollte“ (Vs 35),453 weswegen Verrat im Verzug sei oder es „fehlte ihr [Gudrun] ein Runenzeichen“ (Vs 35,454 vgl. Am. 12).

3.3.4 Magisches Essen und Kannibalismus Neben den Zaubertränken kennt die Völsungensage die Aufnahme von magischen Mitteln durch Verzehr. Auf Grund der Eidesbindung an die beiden Gjukungenbrüder Gunnar und Högni muss Sigurd vom dritten Bruder, Gutthorm, ermordet werden, der zur Tat aufgehetzt und durch Magie auf sie eingeschworen und vorbereitet wird. Eine von Grimhild und den Brüdern gereichte magische Speise bringt ihn in die richtige Stimmung: „Sie nahmen eine Schlange und Wolfsfleisch, ließen es sieden und gaben es ihm zu essen […]. Und durch diese Speise und durch alles zusammen und durch Grimhilds Vorstellungen ward er so wild und kampfwütig, daß er versprach, diese Tat zu vollbringen“ (Vs 32,455 vgl. Br. 4). In der Liedstrophe wird zudem ein magischer Trank erwähnt: „Einen Waldfisch nahmen einige, | Das Wolffleisch schnitten andere, | Andere Gutthorm | Vom Wolf zu essen gaben. | Ins Gebräu sie mischten | Auch mancherlei andres | In Zaubertränken“ (Vs 32).456 Vor dem Mord wird der Täter in flüssiger und fester Form intoxikiert und auf seine Tat eingestimmt. Die genannten Zutaten sind Wolfs- und Schlangenfleisch, Fleisch von Geschöpfen eines kulturfernen Draußen. Diese Tiere spielen auch in der Werwolfsepisode um Sigmund und Sinfjötli bei der Brotteigprobe und der Verwandlung eine Rolle und sind mit Gefahr, Menschenfeindlichkeit und Tod konnotiert. Es sind keine Verzehrtiere der mittelalterlichen Gesellschaft. Der Zauber um Gutthorms Vorbereitung auf die Ermordung Sigurds lässt diese Attribute nun auf den Mörder übergehen. Durch Magie hat er Teil an der Wildheit der verzehrten Tiere.457 Das Problem von Rerirs unfruchtbarer Ehe wird von den Göttern mit einem Apfel gelöst, dessen Kraft durch Verzehr von Rerir aufgenommen wird: „Er […] aß etwas

452 „Hun feck þo skilit af vizku sinne.“ 453 „sva vitra konu, er hun hefir villt ristid.“ 454 „henne vard vant stafs“. 455 „Þeir toku orm einn ok af vargshollde ok letu sioda ok gafu honum at eta […]. Ok vid þessa fęzlu vard hann sva ęfr ok agiarnn, ok allt saman ok fortaular Grimhilldar, at hann het at giora þetta verk.“ 456 „Sumir vidfiska toku, | sumir vitnishrę skifdu, | sumir Gutthorme gafu | gera holld | vid mungate | ok margha lute | adra i tyfrum.“ 457 Vgl. auch die Interpretation Edgar Haimerls: „Das Zurückgreifen auf Magie führt dem Hörer des Mittelalters die Fragwürdigkeit der Tat vor Augen: daß solche Mittel zur Aufreizung nötig sind, zeigt die Widersinnigkeit des Unternehmens. Durch das Verzehren von Tieren geht deren Eigenschaft auf den Menschen über. Soll diese Form der Aufreizung zum Ausdruck bringen, daß sich die Brüder nicht wohlüberlegt wie Menschen verhalten im Gegensatz zu Sigurd, dem horscr halr […]?“ (Haimerl 1992, S. 130).  

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3. Mythische Aufladung

von dem Apfel“ (Vs 1).458 Und es wirkt: „Das ist nun zu erzählen, daß die Königin bald empfand, daß sie mit einem Kinde ginge“ (Vs 2).459 Die darauffolgende Schwangerschaft gibt die besonderen Umstände der Empfängnis wieder. Wie auch die Zeugung selbst durch göttliche Hilfe und die Berührung mit dem Anderweltlichen initiiert werden musste, ist die Schwangerschaft selbst ungewöhnlich und problematisch: „es verging lange Zeit, ohne daß sie das Kind gebären konnte. […] Nun ging es ebenso weiter mit der Krankheit der Königin, daß sie das Kind nicht gebären konnte, und es währte sechs Winter, daß sie dies Leiden hatte“ (Vs 2).460 Letztlich endet es für die Mutter tödlich: „Da erkannte sie, daß sie nicht lange leben würde, und gebot, daß man ihr das Kind ausschneiden sollte“ (Vs 2).461 Völsung kommt durch einen Kaiserschnitt auf die Welt462 und ist bei seiner Geburt bereits entwickelt, ein Produkt mythischen Eingreifens: „es war ein Knabe, und der Knabe war groß an Wuchs, wie zu erwarten war. So wird erzählt, daß der Knabe seine Mutter küßte, ehe sie starb“ (Vs 2).463 Seine Entwicklung bei der Geburt wird später als Qualitätsmerkmal gewertet: „Davon wird alle Welt rühmend reden, daß ich noch ungeboren ein Wort sprach“ (Vs 5).464 Zusammen mit dem Apfel bringt auch die Wunschmaid Fruchtbarkeit in die Sippe. Aus ihrer Verbindung mit Völsung gehen nun elf Kinder hervor, von denen zwei Zwillinge sind, die sich später inzestuös vereinen. Das Produkt dieser Überfruchtbarkeit ist der ultimative Völsunge Sinfjötli. Geburtsschwierigkeiten finden wir außerdem im Oddrúnargrátr: Borgny, König Heidreks Tochter, „konnte keine Kinder gebären, bis Oddrun kam“ (Od. Prosaeinleitung).465 Der Text impliziert, dass es sich nicht um Unfruchtbarkeit handelt, sondern um die Unfähigkeit, die Kinder, die Borgny gerade austrägt, auch zur Welt zu bringen. Wie im Falle von Völsungs Mutter handelt es sich um eine Dauerschwanger-

458 „etr þat epli sumt.“ 459 „Þat er nu at segia, at drottningh finnr þat bratt, at hun mundi vera med barne“. 460 „ferr þessu fram langar stundir, at hun ma eigi ala barnet. […] Nu ferr enu sama fram um vanheilsu drottningar, at hun fer eigi alit barnit, ok þessu fer fram VI vetr, at hun hefir þessa sott.“ 461 „Nu finnr hun þat, at hun mun eigi lengi lifa, ok bad nu, at hana skyllde sęra til barnsins“. 462 Als Motiv ein Punkt in de Vries’ Modell des Heldenlebens: „Der ‚ungeborene‘ Held, das ist das Kind, das von der Mutter durch den Kaiserschnitt erlöst wird. Das vernehmen wir von dem persischen Helden Rustam, dem kymrischen Tristan und dem russischen Dobrynja Nikititsch. Der russische Held wird sogar aus seiner toten Mutter herausgeschnitten“ (de Vries 1961, S. 284). Und auch Julius Caesar wird nachgesagt, durch den nach ihm benannten Kaiserschnitt auf die Welt gebracht worden zu sein: „Ihre Entstehung verdankt diese Benennung einem Etymologisierungsversuch in einer bei Plinius interpolierten Stelle. Dort wird der Name Caesar […] von lat. caedere (caesum) ‚schlagen, auf-, herausschneiden‘ abgeleitet […], da C. J. Caesar durch einen operativen Schnitt zur Welt gebracht worden sei. Diese an sich verfehlte Herleitung des alten römischen Familiennamens ist vielleicht als Beginn einer Mythenbildung anzusehen, die Caesar gleichsam als ungeboren, als göttlich darstellen will“ (Pfeifer 1989, S. 775). 463 „Þat var sveinbarn, ok sa sveinn var mikill vexti, þa er hann kom til, sem vón var at. Sva er sagt, at sea sveinn kysti modur sina, adr hun dęi.“ 464 „Þat munu allar þiodir at ordum giora, at ek męllta eitt ord uborinn“. 465 „Hon mátti eigi fœða born, áðr til kom Oddrún“.  



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3.3 Magie und Zaubermittel

schaft: „Welcher Fürst ihr hat Schande angetan? | Wie kamen Borgnys heftige Leiden?“ (Od. 5),466 fragt Oddrun. Sie erhält Auskunft: „Wilmund […] wärmte das Mädchen mit warmer Decke, | fünf ganze Winter, was sie dem Vater verschwieg“ (Od. 6).467 Die Episode ähnelt den heutigen Urban Legends und Horrorgeschichten, die vor Promiskuität und Sex vor der Ehe warnen.468 Durch ihre Zauberei kann Oddrun die Lösung erwirken: „Oddrun sang kräftig, Oddrun sang mächtig | wirkende Zauberlieder der Borgny“ (Od. 7).469 Die Entbindungsmagie hilft. Borgny kann gebären: „Eine Maid und ein Knabe konnten den Erdweg beschreiten“ (Od. 8).470 Außereheliches Zusammenkommen gegen den Willen des Vormundes ist auch später im Lied ein Thema. Da trifft sich Oddrun mit Gunnar heimlich im Wald, wird aber durch die Leute ihres Bruders entdeckt (vgl. Od. 25–26).471 Neben dem offensichtlichen Stellvertreterkannibalismus bei Gudruns Rache an Atli – „verdaun magst du, Mutiger, die Speise der Menschenleichen“ (Akv. 36)472 – finden wir den Verzehr von Blut und Leichenteilen als implizit magischen oder wundersamen Vorgang in der Drachenkampfepisode. Fafnirs Blut wird in der Völsunga saga zunächst als etwas inszeniert, dem man entgehen muss, da Gefahr davon ausgeht. Sigurd fragt nach der Wirkung des Blutes – „Wie wird es dann ergehen, wenn ich mit dem Blute des Wurms in Berührung komme?“ (Vs 18)473 – und wird dafür von Regin getadelt: „bang bist du vor allem“ (Vs 18).474 Als Vorsichtsmaßnahme gräbt er Gruben, um das Drachenblut unschädlich abfließen zu lassen, doch tatsächlich erweist sich das, obschon von Odin bestätigt („Das ist unrätlich; mach mehrere Gruben und laß da hinein das Blut rinnen“, Vs 18),475 als überflüssig. Am Ende ist Sigurd voll von Fafnirs Blut und es geschieht nichts, wenn er „die ganzen Arme blutig bis zur Achsel hinauf“ (Vs 18)476 hat. Zugunsten des heroischen Bildes, das Sigurd in Sigmunds Tradition treten lässt (vgl. Vs 11),477 wird der mythische Topos des gefähr 













466 „Hverr hefir vísir vamms um leitað? | hví ero Borgnýiar bráðar sóttir?“ 467 „Vilmund heitir vinr haucstalda; | hann varði mey varmri blæio, | fimm vetra alla, svá hon sinn fǫður leyndi.“ 468 Etwa der Mythos um die vagina dentata oder die Horrorfilme Lovers Lane (1999) oder It Follows (2014). 469 „ríct gól Oddrún, ramt gól Oddrún, | bitra galdra, at Borgnýio.“ 470 „Knátti mær oc mǫgr moldveg sporna“. 471 Vgl. Sprenger 1992, S. 107: „Das Thema der – verbotenen – unglücklichen Liebe, die zu einem Liebesverhältnis führt, und das Ertapptwerden des Liebespaares, dies ist Gegenstand der ritterlich-höfischen Dichtung des Mittelalters“. 472 „melta knáttu, móðugr, manna valbráðir“. 473 „Hversu man þa veita, ef ek verd fyrir sveita ormsins?“ 474 „þu ert vid hvartvętna hręddr“. 475 „Þetta er urad. Gior fleire grafar ok lath þar i renna sveitan“. 476 „hefir allar hendr blodgar upp til axlar.“ 477 Siehe 3.1.3 bzw. 4.2.2.  





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3. Mythische Aufladung

lichen Blutes dekonstruiert.478 Das Graben der Gruben als Motiv verkommt. In den Fáfnismál verfolgt Sigurds Grube ein anderes Ziel. Sie ist das Versteck, von dem aus er seinen Drachenstich ausführt. Die Gefahr geht hier von dem Gift aus, das Fafnir schnaubt: „Fafnir […] blies […] Gift, und das fiel von oben Sigurd auf den Kopf“ (Fm. Einleitungsprosa).479 Durch die den Völsungen innewohnende Giftimmunität besteht Sigurd die Situation: „Es wird gesagt, dass Sigmund unempfindlich war, so dass kein Gift ihm weder außen noch innen schaden konnte. Aber alle seine Söhne widerstanden Gift außen auf der Haut“ (Sf.,480 vgl. Sskm 42). Im Nibelungenlied erwirbt Siegfried durch die Berührung mit dem Drachenblut Unverwundbarkeit (vgl. Nl 902,1–4). Seine Immunität ist im Südgermanischen ein Resultat. Vor Gift gefeit zu sein, ist dagegen in der nordischen Tradition nicht die Folge der Drachenbegegnung, sondern die Voraussetzung, diesen überhaupt erst töten zu können. Wie sein Halbbruder Sinfjötli, der die Schlange im Brotteig nur durch seine Giftimmunität töten kann, ist Sigurd für den Drachenkampf prädestiniert. Nach Fafnirs Tod heißt es: „da ging Reginn zu Fafnir und schnitt aus ihm das Herz mit dem Schwert, das Ridill heißt. Dann trank er das Blut aus der Wunde“ (Fm. Prosa nach 26).481 Im Folgenden gebietet er seinem Ziehsohn: „Sitz nun, Sigurd, ich werd schlafen gehen, | und halt Fafnirs Herz ans Feuer! | Das Herz will ich mir schmecken lassen | nach diesem Trank von Blut“ (Rm. 27).482 Ähnlich in der Völsunga saga, wo es aber Sigurd ist, der das Herz herausschneidet: „Darauf schnitt Regin[/Sigurd]483 das Herz aus dem Wurme […]. Da trank Regin Fafnirs Blut und sprach: ‚Gewähre mir eine Bitte, die leicht auszuführen ist: geh zum Feuer mit dem Herzen, brat es und bring es mir zum Essen‘“ (Vs 19).484 Der Bruder wird kannibalisiert. Er wird gegessen, getrunken, wieder aufgenommen. Was der Sippe durch Fafnir verloren ging, nimmt Regin physisch wieder zu sich.485 Dass aber Sigurd das Drachenblut trinkt, ist die Folge eines Un- und Zufalls: Er verbrennt sich und „steckte den Finger in seinen Mund“ (Vs

478 Der Text benutzt zwei unterschiedliche Begriffe für das Drachenblut: ‚blóðigr‘ für Sigurds blutige Arme und ‚sveiti‘ für das Drachenblut, was aber ebensogut ‚Schweiß‘ meinen kann. Es ist nicht sicher, ob die Flüssigkeit, vor der Sigurd sich zuvor hütet, identisch ist mit der, die er dann an den Armen hat. 479 „Fáfnir […] blés […] eitri, oc hraut þat fyr ofan hǫfuð Sigurði.“ 480 „Svá er sagt at Sigmundr var harðgorr, at hvárki mátti hánom eitr granda útan né innan. Enn allir synir hans stóðuzc eitr á hǫrund útan.“ 481 „Þá gecc Reginn at Fáfni oc scar hiarta ór hánom með sverð, er Riðill heitir, oc þá dracc hann blóð ór undinni eptir.“ 482 „Sittu nú, Sigurðr, enn ec mun sofa ganga, | oc halt Fáfnis hiarta við funa! | eiscǫld ec vil etinn láta | eptir þenna dreyra drycc.“ 483 Der Name Sigurd sei nach Völsungenübersetzer Paul Herrmann „fälschlich“ (Herrmann 1923, S. 79 Anm.) eingefügt worden. Ein solcher Übertragungsfehler ist, da die respektive Heldenliedpassage Regin gerade auch in Verbindung mit dem Schwert Ridill nennt, nicht unwahrscheinlich. 484 „Þa skar Sigurdr hiartad or orminum med þvi sverde, er Ridill het. Þa drack Reginn blod Fafnes ok męllti: ‚Veit mer eina bęn, er þer er litid fyrir. Gack til ellz med hiartad ok steik ok gef mer at eta.‘“ 485 Siehe 4.2.3 und 6.2.4.  

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3.3 Magie und Zaubermittel

19).486 Dem Drachenblut wohnt eine Macht inne. Für Sigurd ist das Schmecken des Blutes auf der Zunge mit dem Erlernen der Vogelsprache verbunden: „als das Herzblut des Wurms ihm an die Zunge kam, da verstand er die Vogelsprache“ (Vs 19,487 vgl. Fm. Prosa nach 31). Wissens- und Weisheitserwerb ist zudem an den Verzehr des Drachenherzens gekoppelt.488 Das offenbaren Sigurd die Vögel: „Fafnirs Herz […] sollte er [Sigurd] selbst essen, dann würde er weiser als irgendwer“ (Vs 20,489 vgl. Fm. 32). Nachdem er Regin erschlägt, geht der Kannibalisierungsdrang auf ihn über.490 Dabei bleibt es nicht bei Fafnirs Herz („Darauf aß er einen Teil des Herzens des Wurmes, aber etwas verwahrte er“, Vs 20);491 Sigurd trinkt auch das Blut seines Erziehers: „Sigurd schlug Reginn den Kopf ab, dann aß er Fafnirs Herz und trank beider Blut, Reginns und Fafnirs“ (Fm. Prosa nach 39).492 Beide Vertreter der aus dem mythischen Bereich stammenden Hreidmarssippe, Regin nicht weniger als Fafnir, lösen nach ihrem Tod einen Aufzehr- und Verschlingungsdrang aus.493 Den Rest des Drachenherzens bekommt Gudrun: „Es ist die Erzählung der Leute, dass Gudrun von Fafnirs Herz gegessen hatte und deshalb die Vogelsprache verstand“ (Br. Abschlussprosa).494 Ihre Transformation ist dieselbe, die Sigurd durch das Drachenblut erfahren hat. Die Völsunga saga aber beschreibt die Passage mit anderen Nuancen: „Sigurd gab Gudrun von Fafnirs Herz zu essen, und seitdem war sie weit grimmiger als zuvor, und auch weiser“ (Vs 28).495 Der Zweck des Herzens ist eindeutig: Es soll gegessen werden und damit geht dann eine Veränderung Gudruns einher. Sie wird weiser, allerdings charakterlich auffällig, indem sie grimmiger wird. Ihre

486 „bra fingrinum i munn ser.“ 487 „Ok er hiartablod ormsins kom a tungu honum, þa skilde hann fuglarad.“ 488 Vgl. Schjødt 2008, S. 290 Anm.: „one could form the hypothesis that the heart primarily transfers strength, whereas the blood primarily transfers numinous qualities“. Vgl. Schjødt 2008, S. 296: Fafnirs „death brings about a transformation from a physical to an intellectual entity.“ 489 „Fafnnis hiarta. Þat skylldi hann sialfr eta.“ 490 Vgl. Grimstad 2000, S. 35: „when he eats Fafnir’s heart and drinks his blood, Sigurd not only gains the ability to understand the language of the birds but also internalizes the dragonish essence of the ‚other.‘“ Vgl. Teichert 2014, S. 151: „Das Bluttrinken und die Nekrophagie bedeuten einen grundlegenden Bruch mit den menschlichen Verhaltens- und Wertecodices, sie verleihen Sigurd dämonische Züge. Mit dem Verzehr von Drachenherz und ‑blut nimmt Sigurd das (Un-)Wesen Fáfnirs in sich auf; dies und seine Vogelsprachenkundigkeit dokumentieren die auch sonst zu verzeichnende Durchlässigkeit von Tier-Mensch-Relationen in der altnordischen Heldendichtung und die übermenschliche AußenseiterPosition Sigurds.“ 491 „Ok eptir þetta etr hann suman lut hiartans ormsins, enn sumt hirdir hann.“ 492 „Sigurðr hió hǫfuð af Regin, oc þá át hann Fáfnis hiarta oc dracc blóð þeira beggia, Regins oc Fáfnis.“ 493 Vgl. McConnell 1999, S. 181. Vgl. Hammer 2010, S. 148: „er inkorporiert also regelrecht Teile des Ungeheuers (wobei Blut und Herz darüber hinaus einen ausgesprochen hohen Symbolwert besitzen). […] Der Held gleicht sich auf diese Weise dem von ihm überwundenen Drachen an.“ 494 „Þat er sǫgn manna, at Guðrún hefði etið af Fáfnis hiarta oc hon scilði því fugls rǫdd.“ 495 „Sigurdr gaf Gudrunu at eta af Fafnnis hiarta, ok siþan var hun miklu grimare enn adr ok vittrare.“  











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3. Mythische Aufladung

Kompetenzen verschieben sich. Grimmig zu sein ist ein Teil des heroischen Inszenierungsrepertoires.496 Später – während des Königinnenstreits – wird Gudrun von Brynhild vorgeworfen, „ein grimmes Herz“ (Vs 30)497 zu haben. Der Text benutzt dieselbe Vokabel um den Wandel ihrer charakterlichen Eigenschaften und ihre Gesinnung bei der Provokation Brynhilds zu beschreiben.498  



3.3.5 Schatzhort Entgegen Fafnirs Warnung nimmt Sigurd den Drachenschatz an sich, der zusammen mit dem ihn beinhaltenden Ring Andvaranaut in den Erzählungen bis zum Ende der Gjukungen immer wieder auftaucht. Neben dem Ring und Gold im Allgemeinen umfasst der Schatzhort eine Reihe von auffälligen Gegenständen, die allerdings in den Erzählungen keine Rolle mehr spielen: „Da fand Sigurd sehr viel Gold und füllte damit zwei Kisten. Dort nahm er den Schreckenshelm, die Goldbrünne und das Schwert Hrotti und viele wertvolle Dinge und bepackte Grani damit. Aber das Pferd wollte nicht eher gehen, bis Sigurd auf seinen Rücken stieg“ (Fm. Abschlussprosa).499 Den Zugang zum Schatz eröffnet Sigurds Pferd, das für den Abtransport benutzt wird. Wie später bei der Prüfung mit der Waberlohe wird das Pferd benötigt, um in einen mythischen Raum einzudringen, respektive um etwas aus ihm herauszubringen. Der Schatz wie auch die Walküre kann nur für Sigurd oder die Gjukungen mit Granis Hilfe geborgen werden. Abermals ist es eine Frage der mythischen Determination des Helden. Grani allein reicht nicht aus, sondern es muss der dafür vorgesehene Held auf ihm sitzen. Mit Gunnar als Reiter will das Pferd nicht laufen, ebenso nicht ohne Sigurd, wenn es die Schatzkiste transportieren soll. Held und Ross müssen zu einer mythischen Einheit werden, damit mit der Anderwelt interagiert werden kann. Auf den mythischen Ursprung des Schatzes wird in der Atlakviða Bezug genommen, wenn er als „das asenentstammte Erbe der Niflungen“ (Akv. 27,500 vgl. Akv. 11) erwähnt wird.501  



496 Siehe 2.2.2. 497 „grimt hiarta“. 498 Vgl. Grimstad 2000, S. 62: „Gudrun’s metamorphosis is similar to Sigurd’s transformation into the victorious slayer of Fafnir; they have both internalized the essence of the monstrous ‚other,‘ which contains beneficent as well as maleficent properties“. 499 „Þar fann Sigurðr stórmikit gull oc fyldi þar tvær kistor. Þar tóc hann ægishiálm oc gullbrynio oc sverðit Hrotta oc marga dýrgripi oc klyfiaði þar með Grana. Enn hestrinn vildi eigi fram ganga, fyrr enn Sigurðr steig á bac hánom.“ 500 „in áskunna, arfi Niflunga“. 501 Die Bezeichnung des Hortes deutet Victor Millet als eine späte Beifügung (vgl. Millet 2008, S. 51). Ludwig Wolff spricht von einer generellen Erhöhung der Handlung der Atlakviða in mythische Sphären (vgl. Wolff 1952, S. 100–103). Die Wortwahl des Dichters für Figuren und Dinge im Lied erwecke das „Schauern mythisch-sagenhafter Überwirklichkeit“ (Wolff 1952, S. 103).  







3.3 Magie und Zaubermittel

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Ursprünglich aber kommt der Hort aus dem Besitz des fischgestaltigen Zwerges Andvari. Die Erzählung bewegt sich bei der Ursprungsgeschichte des Hortes innerhalb eines mythisch entrückten Milieus,502 in dem Mythenfiguren und Gestaltwandler die Protagonisten stellen.503 Die Handlung ist in die mythische Urzeit verlagert.504 Nachdem Loki Andvari dessen Schatz als Lebenslösung abgepresst hat, will der Zwerg einen letzten Ring zurückbehalten, der ihm jedoch auch weggenommen wird. Darauf verflucht Andvari den Ring und das Gold: „Der Zwerg […] sagte, daß dieser Goldring jedem, der ihn besitze, den Tod bringen sollte und ebenso all das Gold“ (Vs 14).505 An zweimaliger Stelle wird der letzte Teil des Schatzes, der Ring, zurückgehalten. Einmal von Andvari und ein anderes Mal von Odin, der dann jedoch das letzte Schnauzhaar des Otterpelzes damit bedecken muss (vgl. Vs 14). Zweimal hatte die Welt der Völsungen die Chance, dem Fluch des Hortes zu entgehen, doch das Motiv der Gier506 ist dafür verantwortlich, dass das Übel seinen Lauf nimmt und der Ring seinen Besitzer wechselt. Die Götter trifft der Fluch nicht, dafür aber jeden weiteren Besitzer des Hortes und darüber hinaus jeden Protagonisten der Völsungensage. Dieses vom Schatz ausgehende Unheil ist besonders an den Ring Andvaranaut geknüpft.507 Nach Sigurds Tod nehmen die überlebenden Gjukungenbrüder „das ganze Gold, Fafnirs Erbe“ (Dr.)508 an sich. Der Ring Andvaranaut aber ist weiterhin in Gudruns Besitz. Sie schickt ihn als Zeichen der Warnung vor Atlis Verrat: „Und als Erkennungszeichen sandte sie Högni den Ring Andwaranaut und knüpfte daran ein  

502 Die mythischen Ursprünge der Hortsage deutet Karl Lachmann dahingehend, dass die Nibelungen, die in seiner Interpretation mit den Gjukungen oder Burgunden identisch sind, Sigurd durch den Schatz in ihre Verfügungsgewalt bringen: „So ist der sinn von Siegfrieds sage deutlich und einfach. er hat das gold gewonnen, das den dunkeln geistern zugehört, durch dessen verderblichen besitz er in ihre knechtschaft gerathen ist. bei aller herrlichkeit die es ihm gewährt, ist er der nebelwelt verfallen: er muss die strahlende jungfrau nicht für sich, sondern seinem herrn, dem könig des todtenreichs, gewinnen und ihm durch den ring der vermählung weihen: das gold kehrt zu den dunkeln geistern in die tiefen des Rheins zurück“ (Lachmann 1836, S. 342). Zur mythischen Interpretation der Sigurdfigur siehe 4.2.1. 503 Katja Schulz weist darauf hin, dass Regin wie Fafnir in den Fáfnismál als Riesen, ‚iǫtunn‘, bezeichnet werden (vgl. Schulz 2004, S. 54 Anm.). Die Figuren der Schatzhortvorgeschichte sind Riesen, Zwerge, Drachen, Tiere, Gestaltwandler, Götter und Zauberkundige. Bisweilen manches davon zugleich. Es wurden mehrere Schichten an mythischen Figurentypen übereinandergelegt. Vgl. Hume 1980, S. 11: „Fáfnir’s form and history place him in a world with the gods.“ 504 Siehe 2.1.3. 505 „Dvergrinn […] męllti, at hverium skyllde at bana verda, er þann gullhring ętti, ok sva allt gullit.“ 506 Vgl. Haimerl 1992, S. 96–97; vgl. auch Haimerl 1993, S. 84. 507 Vgl. Byock 1990, S. 9: „Odin, together with the silent god Hoenir and the trickster Loki, sets in motion the events that bring a great treasure from the chthonic world of the dwarves into the world of men. The treasure […] carries a curse and serves to link the human tragedy of the second part of the saga with the supernatural prehistory of the first part. A particular item in the treasure is a special ring called Andvaranaut, a cursed magical object that even Odin is not able to keep for himself.“ 508 „gullit alt, Fáfnis arf.“  











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3. Mythische Aufladung

Wolfshaar“ (Dr.).509 Damit ist Högni nicht nur gewarnt, sondern auch der Gegenstand, der den Todesfluch trägt, wurde ihm gesandt. Der Ring ist weiterhin das Ding, das den Verrat Sigurds und Gunnars an Brynhild für sie sichtbar macht, als Gudrun ihn ihr zeigt und damit offenbart, dass der Ring nun von Brynhild auf sie übergegangen sei (vgl. Vs 30). Er ist ein Wahrzeichen des Verrats und Auslöser von Sigurds und der Gjukungen Niedergang. Nun ist es allerdings ja schön und gut, dass der Hort fluchbeladen ist, doch geschieht durch diesen Todesfluch nichts, was nicht eh zum Rahmen heroischer Dichtung gehört. Die Helden sterben. Das war vor dem Schatzhort so und das ist auch noch so, nachdem er im Fluss versenkt wurde. Im Nibelungenlied versenkt Hagen von Tronje den Nibelungenhort in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im Rhein (vgl. Nl 1137, 1–4). Von einem solchen Vorgehen erfahren wir in der skandinavischen Tradition nur implizit, als Gunnar vor seinem Tod in Feindeshand sagt: „lieber mag denn der Rhein des Goldes walten, als daß die Hunnen es an ihren Händen tragen“ (Vs 39);510 „Der Rhein soll hüten das Kampferz der Krieger, | […] | im rauschenden Wasser glänzen die welschen Ringe“ (Akv. 27).511 Die Generation nach den Gjukungen, die niemals den Schatz besessen hat, ist nicht minder dem Untergang geweiht. Der Aspekt des Todesfluchs ist nur eine mythische Emphase für den heroischen Rahmen der Handlung.512  

3.3.6 Gestaltwandel Eine Möglichkeit der Gestaltwandlung in der Welt der Völsungen ist seine Gestalt mit jemand anderem zu tauschen. Man leiht sich das Aussehen eines anderen und gibt für eine Zeit dafür sein eigenes her. Um mit ihrem Bruder Sinfjötli zu zeugen, nimmt Signy das Aussehen einer Fremden an. Es ist „ein überaus zauberkundiges Hexenweib“ (Vs 7),513 mit dem Signy die Gestalt tauscht:514 Da redete Signy mit ihr: ‚Ich wollte, daß wir die Gestalten vertauschten.‘ Die Zauberin sagte: ‚Du hast darüber zu bestimmen.‘ Darauf richtete sie es mit ihren Künsten so ein, daß sie die Gestalten vertauschten; die Zauberin setzte sich auf ihren Rat an Signys Platz und legte sich abends zu dem König ins Bett, und er merkte nicht, daß Signy nicht bei ihm war (Vs 7).515  

509 „oc til iartegna sendi hon Hǫgna hringinn Andvaranaut oc knýtti í vargshár.“ 510 „Skal Rin nu rada gullinu, fyrr enn Hynir bere þat a haundum ser.“ 511 „Rín scal ráða rógmálmi scatna, | […] | í veltanda vatni lýsaz valbaugar“. 512 Vgl. zum Schatzhort im Nibelungenlied als handlungstragendes Element Mühlherr 2009, S. 483– 489. 513 „ein seidkona fiolkunnig harla miok.“ 514 Vgl. Tolley 2009, S. 160–161. 515 „Þa talar Signy vid hana: ‚Þat villda ek,‘ segir hun, ‚at vid skiptum homum.‘ Hun segir seidkonan: ‚Þu skallt fyrir rada.‘ Ok nu giorir hun sva af sinum brogdum, at þer skipta litum, ok sezt seidkonan nu i  



3.3 Magie und Zaubermittel

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Die gegenseitige Verwandlung gelingt und die Zauberin nimmt während deren Abwesenheit Signys Rolle ein. Ebenso bei der Brautwerbung Gunnars, wo es nur Sigurd gegeben ist, Brynhilds Waberlohe zu durchreiten. Um sie zu täuschen, nehmen Gunnar und Sigurd jeweils die Gestalt des Anderen an: „Sie vertauschten darum die Gestalten, wie Grimhild Sigurd und Gunnar gelehrt hatte“ (Vs 29).516 Auf diese Weise verwandeln sie sich später auch wieder zurück: „sie tauschten wiederum die Gestalten“ (Vs 29).517 Die Magie des Gestaltentauschs erstreckt sich aber auch auf die damit Getäuschte. An anderer Stelle sagt Brynhild zu Sigurd: „ich glaubte, deine Augen zu erkennen, doch konnte ich sie nicht genau unterscheiden wegen der Hülle, die auf meinem Schutzgeiste lag“ (Vs 31).518 Die Magie hat also nicht die Verwandlung allein bewirkt, sondern auch Brynhild umnachtet. Sie spricht von ihrer ‚hamingja‘, wohinter sich die Idee eines Schutzgeistes oder auch die eines segensartigen Glückes verbirgt, welches über das Konzept als positiver Zufall hinausgeht, indem es als persönliche Eigenschaft und Vorsehung durch das Schicksal verstanden wird.519 Diese Glückskraft wird durch Grimhilds Magie getrübt. Eine ähnliche Aussage finden wir im kurzen Sigurdlied, da Brynhild ihren ungewollten Ehemann schmäht: „in den Augen war er [Sigurd] euch nicht gleich, | in keinem Teil seiner Gestalt“ (Sg. 39).520 Ein Gestaltentausch wird nicht erwähnt. Die Idee der andersgearteten Augen und der überlegenen Gestalt dient hier nur als Vorwurf gegenüber dem ungenügenden Gunnar.521 Sigurds hervorstechendes Merkmal, seine scharfen Augen, vermag Grimhilds Zauber in der Völsunga saga nicht ganz zu verbergen. Seine Natur schimmert durch die Magie hindurch. Als Hjördis mit ihrer Magd gänzlich unmagisch die Rollen tauscht („Wir wollen unsere Kleider vertauschen, du sollst dich mit meinem Namen nennen und dich für die Königstochter ausgeben“, Vs 12),522 geschieht Ähnliches. Die beiden vermögen zwar die Kleidung zu wechseln, können aber ihr Wesen nicht verbergen, sodass, als sie auf die Probe gestellt werden, die Königin weiterhin königliches und die Magd gemeines Gehabe zeigt (vgl. Vs 12). Die Verkleidung scheitert, weil die eigene Natur zu stark ist. So wäre das auch in Gunnars und Sigmunds Falle gewesen, wenn nicht auch Brynhilds ‚hamingja‘ beeinflusst worden wäre. Diese Form des Gestaltentausches ist mit Magiekundigkeit verbunden. Die Signyepisode spricht von der Zauberei und den

rum Signyiar at radi hennar ok fér i rekkiu hia konungi um kvelldit, ok ecki finnr hann, at eigi se Signy hia honum.“ 516 „Skipta nu litum, sem Grimhilldr kende þeim Sigurdi ok Gunnare.“ 517 „skipta þeir aptr litum“. 518 „þottumzt ek kenna ydr aughu, ok feck ek þo eigi vist skilit fyrir þeirre huldu, er a la a minne hamingiu.“ 519 Vgl. Beck 1999, S. 478–480. 520 „varat hann í augo yðr um lícr, | né á engi hlut at álitom“. 521 Vgl. Sperberg-McQueen 1985, S. 37–38. 522 „Vid skulum skipta klędum, ok skalltu nefnazt nafne minu, ok segst konungsdottir.“  



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3. Mythische Aufladung

Künsten der ‚seidkona‘ und bei der Brautwerbung werden Grimhilds Lehren als Herkunft des Wissens um den Wandel genannt. Die andere Möglichkeit des Gestaltwandels ist die der tatsächlichen Verwandlung in ein Tier oder ein Ungeheuer. Die Überbringerin des Fruchtbarkeitsapfels kommt nicht in ihrer eigentlichen Gestalt zu Rerir: „Sie […] nahm die Gestalt einer Krähe an und flog“ (Vs 1).523 Nach der Verwandlung kann sie auch fliegen.524 Die Eigenschaften und Verhaltensmuster des Wesens werden mit übernommen. Als Wölfin frisst Siggeirs Mutter nahezu alle Völsungenbrüder auf: Es heiße, „daß diese Wölfin König Siggeirs Mutter gewesen sei, und daß sie diese Gestalt angenommen habe durch Hexerei und Zauberkunst“ (Vs 5).525 Im Oddrúnargrátr ist die Natter, von der Gunnar letztlich im Schlangenzwinger getötet wird, Atlis verwandelte Mutter:526 „Da kam die elende Mutter Atlis527 | herausgekrochen. […] | Und Gunnar biss sie sich ins Herz“ (Od. 32).528 Das Motiv der übelwollenden Mutter des Gegners, die sich in ein Tier verwandelt, finden wir in der Völsunga saga nur in der Wolfsepisode um Sigmund, nicht aber beim Tod im Schlangenzwinger. Da ist es eine gewöhnliche Natter, die Gunnar tötet. Obwohl der Verfasser der Saga eine von Magie durchsetzte Welt zeichnet und die zusätzliche Gestaltwandelsepisode sehr gut in sein Konzept passen würde, verzichtet er an dieser Stelle auf die Aufnahme des Materials aus dem Eddalied.529

523 „Hun […] bra a sig krakuham ok flygr“. 524 Katja Schulz spricht von einer den Riesen – und als solcher qualifiziert sich die vom Riesen Grimnir abstammende Hljod – im Allgemeinen inhärenten Gabe des Gestaltwandelns (vgl. Schulz 2004, S. 204). Als Vergleich führt Schulz unter anderem den in der Skaldik und in Snorris Skáldskaparmál auftauchenden Riesen Þiazi an, der „mehrfach in Gestalt eines Adlers auftritt und als solcher auch fliegen kann“ (Schulz 2004, S. 204). 525 „at su hin sama ylgr veri modir Siggeirs konungs, ok hafe hun brugdit a sik þessu like fyrir trollskapar sakir ok fiolkyngi.“ 526 Wie auch weiter unten zu Sigmund und Sinfjötli besprochen, wird bei Atlis Mutter nicht von einer tatsächlichen Verwandlung gesprochen, sondern die Figur nur mit schlangengleichen Merkmalen inszeniert. 527 Doch ist es auch die Mutter Oddruns, der Sprecherin der Strophe. Diese wünscht ihr, „[s]ie soll[e] verfaulen“; „hon scyli morna“ (Odd. 32). Dieser Wunsch wurzelt in einer nachheroischen Ethik, in der Liebesbindungen mehr gelten als der Sippenverband. Auch Sigrun verflucht ihren Bruder Dag, nachdem er ihren Geliebten Helgi getötet hat (siehe 6.1.6) und Gudrun kann sich nach der Ermordung Sigurds durch die Gjukungen nur durch den Vergessenstrank ihrer Mutter auf die Seite ihrer Brüder bei deren letztem Kampf stellen (siehe 3.3.2 bzw. 6.2.1). Anders dagegen verhält sich das bei Signy und Gudrun gegenüber ihren jeweiligen ungeliebten Ehemännern, zu denen sie keine Loyalität aufbauen, weswegen ihre Ethik dem heroischen Erzählmuster entspricht: Die Sippe geht über die Ehe. Vgl. Teichert 2008, S. 105: „ethische Basis für das Verhalten der betrogenen Ehefrauen ist jeweils die grundsätzlich höhere Wertigkeit der Blutsbande und der Treue zur eigenen Sippe im Vergleich zur niedriger eingestuften Loyalitätspflicht zum Ehegatten und der angeheirateten Familie; dies schließt sogar die Kinder ein, die der Ehe mit dem Gemahl entstammen“. 528 „Þá kom in arma út scævandi, | móðir atla […]! | Oc Gunnari gróf til hiarta“. 529 Vgl. McMahon 1994, S. 486: „The author of the Oddrúnargrátr introduced Atli’s mother to provide a delicious little extra shiver of horror for his audience.“  











3.3 Magie und Zaubermittel

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In ihren Träumen530 sieht Kostbera den Untergang ihres Mannes Högni und seiner Sippe voraus. Dabei sieht sie Atli in der Gestalt eines Adlers: „Ein Aar […] flog herein […] – das wird Schlimmes bedeuten, denn mich dünkte, als ob das König Atlis äußere Gestalt wäre“ (Vs 36);531 „es war der Geist Atlis“ (Am. 19).532 Kostbera spricht von Atlis ‚hamr‘ und bezieht sich damit auf sein Äußeres, seine Hülle, wovon er nicht nur eine hat,533 sondern auch die des Raubvogels annimmt, der Kostbera im Traum die wahren Absichten hinter der verräterischen Einladung offenbart. Eine solche Verwandlung Atlis kommt nur innerhalb dieses einen Warn- und Wahrtraums Kostberas, aber nicht in der restlichen Handlung vor. Sie ist eine Umschreibung für den Symbolcharakter der Tiererscheinung in ihrem Traum und spricht von der Wahrnehmung Atlis durch die Kostberafigur. Sie sieht ihn als Adler, der Unheil bringt, ohne dass er wirklich ein Adler ist. Es geht nicht nur in die eine Richtung, dass die sich Verwandelnden Eigenschaften des Zielwesens annehmen, sondern auch in die, dass das Tier, in das sie sich verwandeln, durch ihr eigenes bereits vorliegendes Wesen bestimmt wird. Die Mütter der Kontrahenten sind übelwollend und verwandeln sich demnach in mit Gefahr und Menschenfeindlichkeit assoziierte Tiere und Atli wird als Raubvogel wahrgenommen. Im Gegensatz zum Gestaltentausch, wo man sich eine Gestalt leiht, muss das Produkt des Gestaltwandels der eigenen Persönlichkeit entsprechen. Die Ursprungsgeschichte des Schatzhortes ist in einem Gestaltwandelmilieu angesiedelt: Regins einer Bruder Otr ist ein „gewaltiger Weidmann“ (Vs 14)534 und ist „am Tage in einer Fischotter Gestalt“ (Vs 14).535 „Meist hatte er die Gestalt einer Fischotter an sich, kam spät heim und aß blinzelnd und einsam, denn er konnte nicht ertragen zu sehen, daß es weniger wurde“ (Vs 14,536 vgl. Rm. Einleitungsprosa). Otter blinzeln tatsächlich während des Fressens. Wie bei Katzen gehört das zu ihrer Kaubewegung.537 Diese Eigenheit des Tieres wird in der Episode zu einem Ausdruck der Persönlichkeit der Otrfigur gemacht. Die Bösartigkeit des anderen Bruders Fafnir, seine Goldgier und seine Natur als Verwandtenmörder artikuliert sich in seiner späteren Form als Drache: „Fafnir war bei weitem der größte  





530 Siehe 7.1.4. 531 „Aurnn þótti mer her inn koma, […] ok mun þat illt vita, þviat mer þotti, sem þat veri hamr Atli konungs.“ 532 „at væri hamr Atla.“ 533 Klaus Böldl spricht in seiner Monographie ‚Eigi einhamr‘ zur Eyrbyggja saga von solchen mehrgestaltigen Personen, die ‚eigi einhamr‘ sind, nicht nur eine Gestalt haben: „eigi einhamr ist demnach jemand, der nicht auf eine stets mit sich selbst identische Gestalt festgelegt werden kann, sondern auch eine andere äußere Erscheinungsform anzunehmen vermag, sich also vermöge magischer oder schamanistischer Praktiken zeitweise etwa in ein Tier verwandelt“ (Böldl 2005, S. 109). 534 „veidemadr mikill“. 535 „i otturs liki um dagha“. 536 „Miok hefir hann otturs liki a ser, kom sid heim ok ath blundande ok einn saman, þviat hann matte eigi sea, at þyre.“ 537 Vgl. Diezel 1826, S. 291.  



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3. Mythische Aufladung

und grimmigste und wollte alles, was da war, ausschließlich sein Eigentum nennen“ (Vs 14).538 Er wird äußerlich zu dem, was sein Verhalten im Vorfeld bereits diktiert:539 „Er wurde so bösartig, daß er sich in die Wildnis zurückzog und keinem gönnte des Hortes zu genießen außer sich; er ward dann zu einem ganz wilden Wurme und liegt nun auf dem Horte“ (Vs 14,540 vgl. Rm. Prosa nach 14). Das Gestaltwandeln geht an Regin selbst vorbei. Nach Eigenaussage hätte er seine Kunstfertigkeit als Schmied, seine Brüder dagegen „eine andere Anlage“ (Vs 14).541 Einen weiteren Gestaltwandler in der magisch-mythischen Episode finden wir allerdings in Andvari: „Ein Zwerg hieß Andvari […], der war immer in dem Wasserfall, der Andvarafors heißt, in Hechtes Gestalt und fing sich da Speise, denn in jenem Wasserfall waren Fische die Fülle“ (Vs 14,542 vgl. Rm. Einleitungsprosa). Die mythische Dichte der Episode wird um Andvari intensiviert. Nicht nur ist er selbst eine Mythenfigur, ein Zwerg, sondern wird auch vom Gott Loki mit einem mythischen Werkzeug, dem Netz der Meeresriesin Ran, gefangen (vgl. Vs 14). Seine Lebensart ist bestimmt durch eine „Unglücksnorne“ (Vs 14).543 Im Gegensatz zu den anderen Gestaltwandlern wie etwa Fafnir, der sich physisch verändert – er wird Drache genannt und ist riesig groß (vgl. z. B. Vs 14 oder 18) –, wird die Verwandlung Sigmunds und Sinfjötlis nicht expliziert. Durch das Anlegen der magischen Wolfspelze werden ihre wölfischen Eigenschaften verstärkt, jedoch nicht unbedingt ihre Physis verändert: „Sie waren ins Mißgeschick geraten, denn Wolfsbälge hingen über ihnen; […] Sigmund und Sinfjötli fuhren in die Wolfsbälge, vermochten aber nicht herauszukommen; den Wolfsbälgen haftete dieselbe Eigenschaft wie früher an – sie heulten wie Wölfe und verstanden beide ihr Geheul“ (Vs 8).544 Ein Merkmal der Pelze oder der Verwandlung ist das Verstehen der Wolfssprache so wie etwa Sigurd auch die Vogelsprache beherrscht. Sinfjötli solle bei Gefahr einen „Wolfsschrei“ (Vs 8)545 von sich geben. An keinem Punkt wird allerdings gesagt, dass sie wirklich körperlich zu Wölfen geworden sind. Sie nehmen nur ihr Verhalten an, indem sie darüber reflektieren, gejagt zu werden („man wird sich darauf freuen, dich zu jagen“, Vs 8)546 und Sigmund Sinfjötli in die Kehle beißt547 (vgl. Vs 8). Die Wolfszeit  









538 „Fafnir var miklu mestr ok grimmastr ok villde sitt eitt kalla lata allt þat, er var.“ 539 Siehe 4.1.3. 540 „Hann giordizt sva illr, at hann lagdizt ut, ok unne aungum at niota fiarins nęma ser ok varþ siþan at hinum versta orme ok liggr nu a þvi fe.“ 541 „adra idn ok naturu.“ 542 „Einn dvergr heitir Andvarri […]. Hann var iafnan i forsinum, er Andvarafors heitir, i geddu liki ok feck ser þar matar, þviat þar var fiolde fiska i þeim fórse.“ 543 „Aumligh norn“. 544 „Þeir hofdu ordit fyrir uskopum, þviat ulfahamir hengu i husinu yfir þeim. […] Þeir Sigmundr foru i hamina ok mattu eigi or komazt, ok fylgdi su nattura, sem adr var, letu ok vargsroddu. Þeir skilldu badir roddinu.“ 545 „ulfsroddu“. 546 „munu menn gott hyggia til at veida þik.“ 547 Dafür muss man nicht zwingend Wolfsgestalt haben, wie Egil in der Egils saga am ansonsten unverwundbaren Atli beweist (vgl. Eg 65).

3.3 Magie und Zaubermittel

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endet mit der Verbrennung der Pelze. Sinfjötli bleibt darüber hinaus jedoch wolfsaffin. Von Granmar wird ihm vorgeworfen, „Wolfsfraß“ (Vs 9,548 vgl. HH. 36), also Aas, gefressen und „mancher kalten Leiche das Blut […] ausgesogen“ (Vs 9)549 zu haben. Er sei „draußen im Walde mit Wölfen“ (Vs 9,550 vgl. HH. 41) gelegen. Sinfjötli kontert mit: „Ich aber erzeugte mit dir neun Wölfe auf Laganes und war der Vater von ihnen allen“ (Vs 9,551 vgl. HH. 39). Er bezeichnet sich und seinen Verband als die „Ylfinge“ (HH. 34).552 Das sind jedoch alles nur Indizienbeweise. Kritisch gelesen liegt uns hier keine physische Wolfsverwandlung vor.553 Die Verwandlung in Tiere oder nichtmenschliche Wesen geschieht in der Völsungensage zumeist ungewollt oder willkürlich. Andvari kommt um seine Hechtgestalt nicht herum. Fafnir ist ein goldgieriger Mörder und wird zum Drachen. Otr ist ein fressneidiger Jäger und wird deswegen zum blinzelnden Otter. Das Outlaw-Dasein macht die Rächer zu Wölfen. Die Figuren haben keine Wahl. Ihr Inneres wird nach Außen gekehrt, sodass ihre Form ihrer Persönlichkeit entspricht.554 Die Lebensführung, die Umstände oder eben das Schicksal zwingen einen dazu, eine andere Gestalt anzunehmen. In der Welt der Völsungen gibt es keine Monster, sondern nur zu Ungeheuern gewordene Menschen.555  

548 „vargamat“. 549 „margt kallt hrę hefir sogit til blods.“ 550 „lat a morkum uti med vorgum“. 551 „ek gat vid þer IX varga a Laganesi, ok var ek fadir allra.“ 552 „Ylfingar“. 553 Nichtsdestotrotz sieht die Forschung nahezu einmündig die Schilderung einer tatsächlichen Wolfsverwandlung in der Episode. Das entspricht – obschon die Verwandlung nur implizit geschildert ist – auch meiner Wahrnehmung (vgl. Deichl 2016, S. 216). Vgl. Grimm 1957, S. 17: „eine Zeitlang in Wölfe verwandelt begehen sie Unthaten“. Vgl. Krause 2004, S. 257 Anm.: „Gudmund bezichtigt Sinfjötli […] ein Werwolf gewesen zu sein. In der Wölsungensage […] hauste [er] als Werwolf im Wald.“ Vgl. Teichert 2008, S. 149: „In cap. 8 folgt die vorübergehende Verwandlung Sigmunds und Sinfjǫtlis in umherstreifende und mordende Werwölfe durch das Anlegen verwunschener Wolfsbälge.“ Vgl. weiterhin Teichert 2009, S. 281–282; Weiser 1927, S. 70; Höfler 1934, S. 191 und Clover 1986, S. 80. Kaaren Grimstad spricht sogar von einem „magic spell [that] causes Sigmund and Sinfjotli to turn into wolves […]. Having found and donned wolfskins in a hut, they immediately assume the shape and all the characteristics of wolves […]. For ten days they live as werewolves until the spell allows them to shed the wolf pelts and resume their human forms“ (Grimstad 2000, S. 28). So konkret wird der Text allerdings bei Weitem nicht. Dagegen sieht Byock 1990, S. 5 von einer Wolfsverwandlung ab: „Away from other humans, the two live in an underground dwelling, clothe themselves in wolfskins, and howl like wolves. They roam the forest as beasts of prey, killing any men they come upon.“ Vater und Sohn würden „like werewolves“ (Byock 1990, S. 5) im Wald leben. 554 Dahingehend erscheinen die verwandelten, monströsen Figuren als Projektionsflächen für deviante menschliche Verhaltensweisen. Vgl. zu dem Konzept Goetsch 2002, S. 4–19. 555 Bei Matthias Teichert sind die vielen Gestaltwandel Ausdrucksform der Strategie der Antikisierung (vgl. Teichert 2008, S. 162).  































4. Heldengenese 4.1 Heldenerziehung 4.1.1 Heroische Verdichtung Provoziert von den Ereignissen auf seinem eigenen Hochzeitsfest, auf dem er durch das Handeln des Gottes als untauglicher Ehemann entlarvt wurde, stellt Siggeir seine angeheirateten Verwandten im Rahmen einer verräterischen Einladung zur Schlacht, bei der Völsung den Tod findet und seine Söhne in Gefangenschaft geraten. Das Geschlecht der Völsungen steht kurz vor der Auslöschung, doch wird sein Fortbestand von Signy erwirkt, die von ihrem Ehemann erbittet, dass ihre Brüder nicht getötet, sondern „in den Stock“ (Vs 5)1 gesetzt werden sollten. Dies scheint Siggeir ein schlimmeres Schicksal als der Tod, doch sadistisch gewährt er den Wunsch und fällt damit auf die List Signys herein („desto besser scheint es mir, je Schlimmeres sie erdulden und je längere Todesqual sie erleiden“ Vs 5).2 Siggeir wird als negative Figur gezeichnet, grausam und unfähig, die Absichten seiner Frau zu durchblicken. Signy dagegen entspricht dem heroischen Ideal, indem ihre Sippentreue über die Treue zum Ehemann hinausgeht. Für Siggeir ist dieses Konzept unnachvollziehbar. Jede Nacht nun erscheint die in eine Wölfin verwandelte Mutter Siggeirs, um einen der Brüder zu töten. Signy lässt diesen Vorgang sich wiederholen, bis nur noch ihr Bruder Sigmund, der einzige der Brüder, den der Text bisher näher beschrieben und mit einem Namen versehen hat, übrig ist. Dann interveniert sie und hilft diesem, sich zu befreien und die Wölfin zu töten, indem sie ihm Honig auf Gesicht und in den Mund streichen lässt. Zwar gibt der Text Auskunft über Signys Reaktion auf den Tod der anderen neun Brüder („Schrecklich schien es ihr, wenn alle auf diese Art sterben sollten, aber helfen konnte sie ihnen nicht“, Vs 5),3 erklärt allerdings nicht, warum sie es durch ihr spätes Eingreifen zu dieser Reduktion der Sippe kommen lässt. Sigmunds Überleben scheint planmäßig.4 Die Hilfe durch Signy kommt gerade im richtigen Moment. Sie erwirkt die Potenzierung des Heroentums, indem sie alles ausmerzen lässt, was nicht das Epitom des Völsungischen ist.5 Die Völsunga saga zeichnet

1 „i stock“. 2 „þess betr þicke mer, er þeir þola verra ok hafa lengri kaul til bana.“ 3 „Henne þotti þetta mikit, ef þeir skulu sva fara allir, enn hun matte ecki duga þeim.“ 4 Vgl. Gottzmann 1979, S. 4. 5 Signy setzt mit ihrem Handeln einen „Selektionsprozeß“ (Gottzmann 1987, S. 80) in Gang. „Erst als von den zehn Brüdern nur ihr Zwillingsbruder Sigmund der einzige Überlebende des Geschlechtes ist, greift sie helfend ein, aber nur so, daß die entscheidende Tat von Sigmund selbst vollzogen werden muß“ (Gottzmann 1987, S. 80). Für Kaaren Grimstad ist Sigmunds Freikommen und das Töten der Wölfin einer von zwei „tests of his power to survive“ (Grimstad 2000, S. 25).  







https://doi.org/10.1515/9783110649796-004

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4. Heldengenese

darauf ein heldisches Bild: Sigmund, der als Geächteter im Walde lebt und auf Rache sinnt an den Tötern seiner Sippe. Dieses Heldentum wird zwar von Sigmund praktiziert, allerdings bleibt Signy der Motor hinter der Handlung. Nicht nur hat sie Sigmunds Befreiung in die Wege geleitet, sondern sorgt nun auch weiterhin für seine Existenz als Rächer und Gesetzloser: „sie faßten den Beschluß, daß er sich dort im Walde ein Erdhaus bauen sollte. Es ging so eine Zeitlang, daß Signy ihn dort verbarg und ihm das gab, dessen er bedurfte“ (Vs 6).6 Sigmund wird zu Signys ausführendem Organ. Die Rache kann allerdings nicht durch ihn allein erfolgen, weswegen Signy sukzessive ihre Söhne zu ihm in den Wald schickt. Es scheint unintuitiv, dass es ausgerechnet die Söhne Siggeirs sein sollen, die die Sippe der Mutter am eigenen Vater rächen, allerdings kann dies als Abwandlung des Motives gedeutet werden, bei dem die Söhne dem Vater zur Rache als Speise serviert werden.7 In beiden Fällen manipuliert man die Sippe zur Selbstzerstörung, wobei die Söhne, sowohl als Miniaturausgaben des Vaters, als auch als Verkörperung seines Vermächtnisses und der Kontinuität der Sippe, als Racheziel besonders geeignet sind. Sie werden von Sigmund einem Test unterzogen, um herauszufinden, wie „beherzt“ (Vs 6)8 sie seien. Keiner von ihnen ist dazu fähig, den Brotteig mit der Schlange darin zu kneten, was Signy dazu bringt, ihren Bruder die Kinder töten zu lassen: „‚Nimm ihn denn und töte ihn; er braucht dann nicht länger zu leben‘; und so tat er“ (Vs 6).9 Signy legt nur Wert auf heroische Fähigkeiten. Alles, was ihren Standards nicht entspricht, ist demnach nicht lebenswert. Siggeir, der Vater der beiden Kinder, wird damit noch weiter erniedrigt. Aus diesem Defizit heraus wird Sinfjötli gezeugt.10 Durch Magie und Inzest11 erschafft sich Signy den maßgeschneiderten Völsungen, das perfekte Racheinstrument. Zuvor bereits wurde das Heroische – das Völsungische – auf das Zwillingspaar konzentriert, das die übrigen Geschwister in jeder Hinsicht übertroffen hat: „sie waren Zwillinge und in allen Dingen die vortrefflichsten und schönsten von den Kindern Völsungs“ (Vs 2).12 Indem nun die übrigen Brüder ausgemerzt werden, teils durch die Tat der wölfischen Mutter Siggeirs, teils aber auch durch Signys Passivität, wird es noch  



6 „taka þau þat rad, at hann giorir þar iardhus i skoginum, ok ferr nu þvi fram um hrid, at Signy leynir honum þar ok fęr honum þat, er hann þurfti at hafa.“ 7 Vgl. Deichl 2016, S. 220 Anm. 8 „hugadr“. 9 „‚Tak þu hann þa ok drep hann. Eigi þarf hann þa lengr at lifa.‘ Ok sva giordi hann.“ 10 Vgl. Aguirre 2002, S. 9: „By delaying success, it is intended to explain how difficult it is to procure a worthy heir to the Volsung line, and how this can only be achieved incestuously, when two Volsungs unite.“ 11 Sinfjötlis inzestuöse Zeugung interpretiert Teichert als eine weitere Belegstelle für die Keltisierungsstrategie der nordischen Nibelungensage (vgl. Teichert 2008, S. 163 f.) Im arthurischen Sagenkomplex fände sich in der Figur des Mordred eine Entsprechung zu Sinfjötli. 12 „Þau voru tviburar, ok voru þau fremst ok vęnst um alla luti barna Volsungs konungs“.  







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4.1 Heldenerziehung

mehr verdichtet.13 Signy erklärt: „Sinfjötli ist unser Sohn. Davon hat er so hohen Heldenmut, daß er beides, Sohnes-Sohn und Tochter-Sohn König Völsungs ist“ (Vs 8).14 Sowohl Sinfjötlis Vater als auch seine Mutter sind völsungischen Geschlechts und haben sich schon zuvor bei Odins Auftritt auf dem Hochzeitsfest als ideale Partner füreinander abgezeichnet, was sich nun in ihrer Inzestverbindung verwirklicht. Alles Nichtexorbitante wurde aus der Sippe entfernt und aus dem, was übrigbleibt, entsteht im Rahmen einer Tabuvereinigung Sinfjötli: der Protovölsunge.15 Er vertritt das, was die übrigen Söhne Signys nicht darstellten. Sinfjötli ist „nach der Art der Völsunge“ (Vs 7)16 und bringt damit die heroischen Kompetenzen mit, die Prüfungen zu bestehen und Sigmund in seinem Rächer- und Ächterleben zur Seite zu stehen. Das Bild, das die Saga von den Völsungen unter Völsung gezeichnet hat, verändert sich. Nicht mehr leben die Völsungen ihre Idealität im Rahmen sesshafter und gefestigter Herrschaft aus. Ihre Macht hat kein Zentrum mehr und ihr Dasein wird zu einer heroischen und entmachteten Existenz im herrschaftsfernen und unhöfischen Draußen.17 Sie nähern sich wieder den Zuständen zur Zeit von Sigis Verbannung an. Als Sinfjötli von seiner Mutter geprüft wird, folgt dies zu seinem Heroenbekenntnis. Signy näht ihm sein Gewand an die Arme und als es ihm nichts auszumachen scheint („er sträubte sich nicht dagegen“ Vs 7),18 reißt sie ihm das Hemd zusammen mit seiner Haut von den Armen. Als Signy sagt, „er empfände wohl Schmerz dabei“ (Vs 7),19 antwortet Sinfjötli mit dem für seine eigene Figur und die Völsungen konstituierenden Satz: „Solches erscheint einem Völsung wenig schmerzlich“ (Vs 7).20 Dies geschieht in Sinfjötlis Knabenalter. Bis auf seine Beschreibung und die Umstände seiner Zeugung ist dem Rezipienten nichts von ihm bekannt. Für die Figur gibt es kein

13 Vgl. von See 1999 [1994], S. 401: „Es scheint nach der Erzählung der VS geradezu das Lebensprinzip der Völsungen zu sein, die Kraft des Geschlechts immer wieder auf wenige Auserwählte zu konzentrieren. Selbst die inzestuöse Verbindung von Sigmund und Signy will die VS unter dem Gesichtspunkt der Kraftkonzentration sehen“. 14 „er Sinfiotli ockar son. Hefir hann af þvi mikit kapp, at hann er będi sonarson ok dotturson Volsungs konungs.“ 15 Vgl. Grimstad 2000, S. 34: „Sinfjotli […] is the pure essence of Volsung courage“. Ähnlich Much, allerdings mit mittlerweile ausrangiertem Vokabular: „das kind, das Signy, nachdem sie mit einer anderen die gestalt getauscht, von ihrem bruder empfangen hat, hätte man kaum als im incest erzeugt aufgefasst, und sicherlich ganz und gar nicht als einen bastard oder als verderbte rasse, sondern im gegenteil als die äusserste hochzucht einer edelrasse“ (Much 1929, S. 16). Zur Inzestgeburt des Helden vgl. Miller 2000, S. 81–84. Zu den Implikationen einer Tabugeburt vgl. Brückmann 2016, S. 402. 16 „miok i ętt Volsungha“. 17 Matthias Teichert geht sogar noch weiter und nennt es „eine zutiefst soziopathische Existenzform, die das Ideal vorbildhafter Heroik ad absurdum führt und die beiden Völsungen zu Outlaws und damit zu vargar im rechtssprachlichen Sinne macht“ (Teichert 2014, S. 155). 18 „Hann brazt ecki vid.“ 19 „honum mundu sart vid verda.“ 20 „Litid mundi slikt sart þickia Vǫlsungi.“  











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4. Heldengenese

Davor. Sinfjötli beginnt erst in dem Moment zu existieren, da er mit abgezogener Haut vor seiner Mutter steht. Ein Völsunge zu sein, ist für Sinfjötli selbstverständlich. Er hat die Sippenidentität verinnerlicht und besteht die Härtetests, die ihm seine beiden Eltern aufgeben. Bei der Prüfung mit der Schlange im Brotteig werden seine Kaltblütigkeit und die Giftimmunität, die Sigmund und ihm zueigen ist, auf die Probe gestellt. Er legt die notwendige Beherztheit an den Tag, die den anderen Söhnen zwar gefehlt hat, sie aber letztlich auch nicht gerettet hätte. Die Proben, die sie bestehen hätten müssen, um sich der Rache, doch vielmehr noch der Sippe der Völsungen als würdig zu erweisen,21 waren eine Farce. Sie konnten sie auf Grund ihrer fehlenden heroischen Prädisposition gar nicht bestehen und dienten nur dazu, sie letztendlich bloßzustellen und zu vernichten. Die Qualitäten, die von Sigmunds Helfer erwartet werden, sind Leidensfähigkeit, Gnadenlosigkeit und Gefühlskälte. Die Sippenmentalität setzt sich bei Sinfjötli aufs Extremste durch.22 Mit der Existenz als doppelter Völsung erhält er auch das Bewusstsein, ein Völsunge zu sein. Dieses Gefühl muss ihm nicht eingegeben werden, sondern es kommt aus ihm heraus. Die Figur erkennt und beschreibt sich selbst. Deswegen empfindet Sinfjötli seinen vermeintlich eigenen Vater auch als minderwertig und treibt Sigmund zur Rache an. Das geht so weit, dass es sogar Sigmund seltsam erscheint. Er fehlinterpretiert die Rachereizungen seines Zöglings und meint, er habe das Üble seines Vaters geerbt. Dabei ist es in Wahrheit der völsungische Rachedrang, der in Sinfjötli brennt: Sinfjötli schien Sigmund recht nach der Art der Völsunge, dennoch glaubte er, daß er König Siggeirs Sohn wäre und dachte, Sinfjötli habe zwar den Heldenmut der Völsunge, aber die Bosheit seines Vaters, denn er meinte, daß er sich wenig um seine Gesippen kümmere, weil er ihn oft an sein Leid erinnerte und ihn sehr reizte, den König Siggeir zu erschlagen (Vs 8).23

Sinfjötli übertrifft zwar seinen Vater nicht an Konstitution und Physis, allerdings an Fanatismus.24 Er und seine Mutter sind vollkommen besessen von der Idee des Völsungengeschlechts und der Ausrottung der Feinde. Sigmund dagegen ist keinesfalls so kompromisslos wie Sinfjötli und Signý: Als es darum geht, die Söhne Siggeirs zu töten, zögert Sigmund. Er würde sie am Leben lassen, sowohl jene, die ihm in den Wald geschickt wurden, als auch jene, die in Siggeirs Halle spielen, als die Rache vollführt wird: „Sigmund aber sagte: ‚Nicht will ich deine Knaben töten, obgleich sie

21 Vgl. van den Toorn 1964, S. 35. 22 Vgl. Quinn 2009, S. 126: „a trait encouraged by and exemplified by Signý.“ 23 „Sigmundi þickir hann miok i ętt Volsunga, ok þo hyggr hann, at hann se son Siggeirs konungs, ok hyggr hann hafa illsku fedr sins, enn kapp Volsunga, ok ętlar hann eigi miok frendrękinn, þviat hann minnir opt Sigmund a sina harma ok eggiar miok at drepa Siggeir konung.“ 24 Matthias Teichert beschreibt Sinfjötlis Verhalten, vor allem ab der Werwolfsepisode, als einen „regelrechte[n] Blutrausch“ (Teichert 2009, S. 288). Im Laufe seiner Biographie würde er zunehmend mehr Dominanz über seinen Vater ausüben, der selbst immer mehr zu einer passiven Figur werden würde (vgl. Teichert 2009, S. 291).  







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4.1 Heldenerziehung

mich verraten haben.‘ Sinfjötli schrak aber davor nicht zurück“ (Vs 8).25 Sigmunds Inzestsohn zeigt jene Gnadenlosigkeit und Gefühlskälte, die Signy für die Rache voraussetzt.26 Diese Kälte zieht sich aber auch in Signy hinein. Die Signy- und die Sinfjötlifigur entsprechen einander in ihrer Inszenierung und agieren wie Maschinen. Das beginnt bereits bei der Zeugung Sinfjötlis. Diese ist eine direkte Reaktion auf die Untauglichkeit und Tötung der beiden ersten Söhne. Ohne Angabe von Motivationen macht sich Signy dann an den Gestaltentausch und geht, wie von einem größeren Plan gesteuert, zu Sigmunds Erdhaus, um mit ihm den Zeugungsakt zu vollziehen (vgl. Vs 7). Ebenso auffällig ist Siggeirs fehlendes Verhältnis zu seinen Kindern. Der Erzähler beschreibt keinen Kontakt mit Sinfjötli und keine Reaktion auf das Fehlen seiner ersten beiden Söhne. Der Kontakt mit den Kindern wird nicht ausgespart, sondern ist einfach nicht da. Siggeir existiert in dieser Episode nicht mehr, sondern wird zum Abstractum, an dem die Rache vollzogen werden muss. Die Passage wirkt dadurch künstlich und konstruiert, wozu auch das nichtchronologische Erzählen bei Sinfjötlis erster Prüfung beiträgt: „Sie hatte mit ihren früheren Söhnen, ehe sie sie zu Sigmund schickte, die Probe gemacht“ (Vs 7).27 Die Dinge treten erst dann in Erscheinung, wenn sie in Erscheinung treten müssen. Abseits davon existieren sie nicht und dies auf eine so auffällige Art und Weise, dass die gesamte Erzählung verzerrt und unnatürlich wirkt. Matthias Teichert führt die Vagheit der Episode auf ihren Charakter zurück. Sie sei ein Zeichen für die Monstrosität des Textes, dessen Zerstückelung die abartige Natur der behandelten Figuren wiedergeben soll.28 Das, was im Wald geschieht, ist unaussprechlich und das spiegelt sich in der unorganisierten Weise wider, in der der Text die Begebenheiten schildert. Außerhalb der Gesellschaft muss der Rächer Sigmund seinen (Zieh-)Sohn erst an „kühne Taten“ (Vs 8)29 gewöhnen, indem er mit ihm auf mörderische Raubzüge geht: „Sie zogen des Sommers weit durch die Wälder und erschlugen Männer, um sie zu berauben“ (Vs 8).30 In Wolfsgestalt töten sie eine mehrfache Übermacht an Feinden und

25 „Sigmundr segir: ‚Eigi vil ek drepa born þin, þott þau hafe sagt til min.‘ Enn Sinfiotli let ser ecki feilazt“. 26 Vgl. Teichert 2014, S. 156: „Insbesondere Sinfjötli […] behält auch nach der Rückverwandlung in Menschengestalt seine antisoziale und amoralische Gesinnung bei“. Vgl. Teichert 2014, S. 164: Sinfjötli zeige eine „ins Groteske übersteigerte heroische Gesinnung“. 27 „Hun hafde þa raun giort vid ena fyre sono sina, adr hun sendi þa til Sigmundar“. 28 Vgl. Teichert 2014, S. 165–168, bes. S. 165: „Darüber hinaus kann der literarische Text – hier nicht vorrangig als Erzählnexus, sondern als System sprachlicher Zeichen betrachtet – den ungeheuren Vorgang, von dem hier die Rede ist, gewissermaßen in der eigenen ‚materiellen‘ Textorganisation abbilden“. Vgl. weiterhin Teichert 2014, S. 168: „Der von einem monströsen Heros erzählende Text der mittelalterlichen Epik nimmt damit Tendenzen vorweg, die sich in der neuzeitlichen Erzählliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert im Zeichen von Modernismus und Postmodernismus Bahn brechen.“ 29 „hardrędi“. 30 „Fara nu um sumrum vida um skogha ok drepa menn til fear ser.“  















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4. Heldengenese

Opfern (vgl. Vs 8). Diese vom Text als „Heldentat“ (Vs 8)31 ausgezeichneten Handlungen sind allerdings so problematisch, dass sie sowohl in der Völsunga saga, als auch in der Helgakviða Hundingsbana von Sinfjötlis Streitgegner als Verstoß stigmatisiert werden. Sie gereichen zur Beleidigung. So wirft Gudmund seinem Kontrahenten in der senna32 vor: „Du hast das Futter der Wölfe gefressen | und deinem Bruder den Tod gebracht, | oft Wunden ausgesaugt mit kaltem Maul, | bist auf dem Steinhaufen stets scheußlich gekrochen“ (HH. 36)33 und: „Siggeirs Stiefsohn warst du, lagst unter Wölfen, | gewöhnt an Wolfsgeheul draußen in den Wäldern. | Über dich kam alles Unheil, | als du deinem Bruder die Brust durchbohrtest. | Diese Freveltaten machten dich berühmt“ (HH. 41).34 In der Völsunga saga trägt Sinfjötlis Streitgegner den Namen Granmar. Er spricht: „Jenes wird wahrer sein, daß du dich lange draußen im Walde von Wolfsfraß genährt und deine Brüder getötet hast; wunderbar ist es, daß du es wagst, mit guten Männern zusammenzukommen, der du mancher kalten Leiche das Blut hast ausgesogen“ (Vs 9)35 und weiterhin nahezu identisch mit der Helgakviða Hundingsbana: „Du bist ein Stiefsohn König Siggeirs und lagst draußen im Walde mit Wölfen; alles Unheil kam auf einmal über dich: du erschlugst deine Brüder und machtest dich im bösen Sinne berühmt“ (Vs 9).36 Was also zunächst als Heldentat geschildert wird, ist für eine Textfigur, die außerhalb des Völsungenkollektivs steht, eine Freveltat.37 Die Wald- und Werwolfsepisode hingegen wertet nicht. Die Rächer und Gesetzlosen erfüllen den Topos des Heroischen mit ihrer Rachetat an Siggeir. Sigmund und Sinfjötli werden stilisiert zu eiskalt mörderischen Sinnbildern. Wir haben bereits über Signy als die treibende Kraft hinter der Rache an ihrem Ehemann gesprochen. Während Sigmund bisweilen geradezu passiv wirkt, verkörpert in Wahrheit sie den prominentesten Vertreter des Völsungengeschlechtes in dieser Generation. Sinfjötli ist ihre Kreation und verkörpert somit vollständig ihren eigenen Rachedurst.38 Zusammen mit seiner Rolle als Anstachler39 gegenüber seinem Vater

31 „fręgdarverk“. 32 Zum Szenentyp der senna in den Helgiliedern vgl. Harris 1983, S. 218–224. 33 „þú hefir etnar úlfa krásir | oc brœðr þínom at bana orðit, | opt sár sogin með svǫlom munni, | hefr í hreysi hvarleiðr scriðit.“ 34 „Stiúpr vartu Siggeirs, látt und stǫðom heima, | varglióðom vanr á viðom úti; | kómo þér ógǫgn ǫll at hendi, | þá er brœðr þínom brióst raufaðir. Gorðir þic frægian af firinvercom.“ 35 „Mun hit sannara, at þu munt lengi hafa fezt a morkum uti vid vargamat ok drepit brędr þina, ok er kynlikt, er þu þorir at koma i her med godum monnum, er mart kallt hrę hefir sogit til blods.“ 36 „ertu stiupson Siggeirs konungs ok lat a morkum uti med vorgum, ok komu þer oll uhaup senn at hendi. Þu drapt brędr þina ok giordir þig at illu kunnan.“ 37 Matthias Teichert argumentiert allerdings, dass die Episode, auf die in der senna angespielt wird, gar nicht mit der Werwolfsepisode der Völsunga saga identisch ist (vgl. Teichert 2009, S. 285). 38 Vgl. Uecker 1972, S. 24: „Signýs ethisch-moralische Pflicht liegt in der Bruder- und Vaterrache, die sie rücksichtslos verfolgt und deren Preis ihr Leben ist. Einzig zu diesem Zwecke der Rache wird Sinfjötli gezeugt.“ 39 Siehe 6.2.4.  





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Sigmund und den Prüfungen, denen er sich unterziehen muss und die beide dem weiblichen Tätigkeitsfeld entsprechen – Nähen und Brotbacken40 –, erhält Sinfjötli einen Berührungspunkt mit der Domäne weiblichen Handelns. Er ist nicht nur ein Grenzgänger, was seine tabuisierte Herkunft und sein Agieren anbelangt, sondern auch im Bereich der Geschlechterrollen der Sagaliteratur.41 Seine Funktion ist so sehr auf die Rache und die Zerstörung ausgelegt, dass nach der Episode kaum noch Platz für ihn bleibt. Während Sigmund sich später als König etabliert („Sigmund war nun ein mächtiger und berühmter König, weise und hochstrebend“, Vs 8),42 bleibt Sinfjötli ein deplatzierter Unliebsamer.43 Signys einziger Lebenszweck ist die Rache, die sie letztlich nicht überlebt. Sie räumt selbst ein, dass ihre Taten so unverzeihlich seien, dass für sie kein Weiterleben möglich sei: „Aber was ich getan habe um der Rache willen, ist derart, daß ich auf keine Weise länger leben darf, und freiwillig werde ich mit ihm sterben, obwohl ich ihn wider Willen zum Manne hatte“ (Vs 8).44 Hier manifestiert sich ein Treuekonflikt, der auch im Nibelungenlied eine prominente Rolle spielt. Es geht um die Verpflichtung gegenüber der Sippe, die mit der Verpflichtung gegenüber dem Ehemann konkurriert. Signy erfüllt die prinzipientreuen Vorgaben ihres Vaters Völsung, wenn es darum geht, Siggeir zu heiraten und zu begleiten (vgl. Vs 3–5), leitet dann aber alle notwendigen Schritte in die Wege, um ihn zu vernichten. Ihre Treue liegt trotz ihrer Prinzipien bei ihrer Sippe, die da nur noch aus ihr selbst, Sigmund und später Sinfjötli besteht.45 Bei Atlis verräterischer Einladung und dem darauf folgenden Hallenkampf gegen die Gjukungen erlebt Gudrun denselben Konflikt. Sie stellt sich auf die Seite ihrer Sippe und kämpft mit ihnen in Waffen gegen die Krieger ihres Mannes (vgl. Vs 38). Nach der Rache an Atli sucht auch sie den Tod, überlebt aber auf wundersame Weise (vgl. Vs 41 bzw. Ghv. Prosa vor 1).46 Beide Episoden zeigen, dass dieser Treuekonflikt für die jeweilige Protagonistin nicht gelöst werden  



40 Otto Höfler nimmt die Natur dieser beiden Proben als unstimmig und somit ebenso als Merkmal von Sinfjötlis Andersartigkeit im Heroenkosmos wahr: „Es paßt nicht zum Geschmack heldischer Dichtung, daß der junge Heros sich beim Brotbacken als Held bewähre oder während ihm seine Mutter den Rock flickt“ (Höfler 1934, S. 201). Es seien „hausbackene[…] Motive[…]“ (Höfler 1934, S. 201). 41 Vgl. zu Geschlechterrollen innerhalb der Bereiche ‚innanstokks‘ und ‚utenstokks‘ Baetke 1944, S. 73–74 bzw. Clover 1993, S. 365–372. Vgl. zur Problematik eines Nichtentsprechens der Geschlechterrollen in der isländischen Text- und Sagawelt Brückmann 2016, S. 400–401. 42 „Sigmundr giorizt nu rikr konungr ok agętr, vitr ok storadr.“ 43 Vgl. Straubhaar 2012, S. 107: Sinfjötli „is marked as imperfect in his very name, and therefore must die.“ Jens Peter Schjødt sagt, dass ungleich Sigmund und Sigurd für Sinfjötli nur eine „parenthetical existence“ (Schjødt 2008, S. 310) vorgesehen sei. 44 „Hefi ek ok sva mikit til unnit, at fram kęmizt hefndinn, at mer er med aungum kosti lift. Skal ek nu deygia med Siggeiri konungi lostig, er ek atta hann naudig.“ 45 Vgl. Höfler 1934, S. 190: „Nach all dem Geschehenen […] darf sie nicht länger leben. So geht sie freiwillig in den Tod. Sie kehrt in das brennende Haus zurück, um mit dem Gatten gern zu sterben, mit dem sie ungern gelebt.“ 46 Siehe 6.2.2.  















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4. Heldengenese

kann. Sie stellen sich zwar gegen ihre Ehemänner, da die Zugehörigkeit zum eigenen Geschlecht vorrangig bleibt, werden allerdings durch dieses Handeln letztlich selbst zerstört. Das unerhörte Ereignis des Nibelungenliedes ist gerade, dass Kriemhilt den Untergang ihrer eigenen Sippe verursacht, da sich in ihrem Fall die Treuebindung zu ihrem Ehemann Siegfried durchsetzt. Auch sie überlebt ihre Rache letztlich nicht, sondern wird als Reaktion auf die Erschlagung Hagens von Hildebrand „in Stücke“ (Nl 2377, 2)47 geschlagen. Sinfjötli ist derjenige, der am Ende die Söhne Siggeirs, seine Halbbrüder, erschlägt und damit dessen Linie den Todesstoß versetzt. Er übertrifft seinen Vater Sigmund an Killerinstinkt, ist allerdings für eine Welt ohne Rache nicht gemacht. Das zeigt sich daran, wie er in den Beschreibungen nach der Racheepisode ausgespart wird. Nur von Sigmund wird gesagt, wie er als Herrscher verfährt (vgl. Vs 8) und nur Helgi wird vom Text als König bezeichnet: „Helgi war König über das Heervolk, Sinfjötli aber war ihm beigegeben, und beide geboten über Kriegsvolk“ (Vs 8).48 In seiner Streitrede muss Sinfjötli von Helgi zurückgehalten werden49 (vgl. Vs 9, HH. 45–46, HH II. 23–24) und als Sinfjötli um eine Frau wirbt, kommt es zum Totschlag (vgl. Vs 10). Die „schöne Frau“ (Vs 10)50 wird danach nicht mehr in der Saga erwähnt, es bleibt offen, ob Sinfjötli sie wirklich zur Ehefrau bekommen hat. Sie tritt nur auf, um den Kampf zu initiieren und spielt selbst keine Rolle. Die Passage dient nur zur Inszenierung Sinfjötlis als Totschläger. Im Anschluss und als Reaktion auf die Episode findet Sinfjötli selbst seinen Tod (vgl. Vs 10 bzw. Sf.). Sein Existenzzweck besteht ausschließlich daraus, mit seinem Vater im Wald zu leben, die Rache vorzubereiten und letztlich auszuüben. Es wird in ihm das Bild eines heroisch determinierten Maschinenmenschen gezeichnet.  





4.1.2 Weihekriegertum Die Passage um Sigmunds und Sinfjötlis Ächterleben im Wald in Wolfsgestalt ist durchsetzt von mythischen und fabelhaften Motiven, was die Stelle zu einer der dunkelsten und enigmatischsten der Völsungensage macht. Nun wurde von der Forschung schon mehrmals die Frage gestellt, ob in der Wald- und Werwolfsepisode die

47 „ze stücken“. 48 „Var Helgi konungr yfir liðinu, en Sinfjǫtli var fenginn til með honum, ok réðu báðir liði.“ 49 Diese Scheltreden Sinfjötlis seien, so Otto Höfler, Ausdruck für das kultische Dämonenkriegertum, das in der literarischen Aufbereitung der auffälligen Heldenfigur transportiert worden sei (vgl. Höfler 1952(a), S. 54). Magnus Olsen bezeichnet die Schmährede als „heftig og uhøvisk“ (Olsen 1923, S. 176). An anderer Stelle habe ich die Dynamik der senna beschrieben (vgl. Deichl 2016, S. 231–234). Sinfjötli kann nur als Gewinner aus dem Beleidigungskontest herausgehen, weil alles, was sein Gegner über ihn sagt, wahr ist. Ihn dahingehend zu beleidigen ist unmöglich. 50 „fagra konu“.  





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4.1 Heldenerziehung

Elemente einer Jünglingsweihe beziehungsweise eines Initiationsritus wiedergegeben würden.51 Die Typologie der Übergangsriten, der rites de passage, hat Arnold van Gennep in seinem gleichnamigen Standardwerk untersucht: Der Ritus beginnt mit einer Phase der Loslösung des Initianden von der Gesellschaft, während der er bisweilen seelische und körperliche Mühsal erdulden muss und imaginiert als tot gilt.52 Während dieser Zeit ist das Individuum gesellschaftsfern. Die darauffolgende Rückführung in die Gesellschaft erfolgt oft durch eine gespielte Wiedererweckung. Die Überführung in die neue Gesellschafts- oder Altersschicht ist dann verbunden mit der Einweihung in die jeweiligen Mysterien und Aufgabenbereiche. Diese Weihe geschieht häufig im Kontext „magisch-religiöse[r] ‚Bruderschaften‘“,53 von Männer- und Geheimbünden, in die man durch die Initiation oder während ihr eintritt beziehungsweise die als Initiationshelfer am Übergangsritus teilnehmen.54 Lily Weiser, die dieses Modell dann auf die Wald- und Werwolfsepisode der Völsungen anwendet, fasst die Merkmale der Übergangsriten zusammen: Die Knaben werden zur Weihe stets von bereits Eingeweihten, gewöhnlich von ihren Vätern oder den Ältesten des Stammes, einberufen, mitunter ihren Müttern gewaltsam entrissen […]. Oft ist jedem Kandidaten ein Lehrer und Helfer, ein ‚Pate‘, zugeteilt. […] Als Schauplatz der feierlichen Handlung wird ein abgelegener und durch zahlreiche andere Maßnahmen vor dem Betreten Unberufener geschützter Platz gewählt […]. Auf diesem Platze werden die jungen Leute völlig abgeschlossen. Die Dauer der Isolierung ist verschieden und schwankt zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren. Nun müssen die Jungen langwierige Prüfungen durchmachen: […] alle möglichen schmerzhaften Eingriffe […]. Dann werden sie angeblich von einem Ungeheuer gefressen, um wiedergeboren zu werden, oder ihr Tod und ihre Auferstehung wird auf eine andere Art symbolisch dargestellt. […] Wichtig ist das Erlernen von Kulttänzen und der Unterricht in der religiösen und moralischen Überlieferung, das Sehen und Kennenlernen der heiligen Gegenstände des Stammes. […] Während der Zeit der Isolierung dürfen die Kandidaten bisweilen ungestraft ihre Umgebung ausplündern und allen möglichen Unfug anstellen. Nach Beendigung der ‚Buschzeit‘ kehren die Geweihten zurück und haben ihr früheres Leben völlig vergessen. Das geht oft so weit, daß sie die gewöhnlichen Dinge, wie Gehen, Essen, neu lernen müssen, auch erhalten sie häufig einen neuen Namen.55

51 Vgl. Weiser 1927, S. 70–71; Höfler 1934, S. 188–219; Grimstad 2000, S. 27–28; Schjødt 2008, S. 304– 312; Eliade 1989, S. 155–157. 52 Vgl. Eliade 1989, S. 14. 53 van Gennep 1986, S. 79. 54 Vgl. van Gennep 1986, S. 70–113, bes. S. 78–79. Zur Klassifizierung der Riten vgl. van Gennep 1986, S. 16–20. Auch Mircea Eliade hat sich mit Initiationsriten beschäftigt, vornehmlich bei präzivilisatorischen und Stammeskulturen. Zur Initiation beschreibt er: „Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existenziellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden“ (Eliade 1989, S. 11). 55 Weiser 1927, S. 13.  























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4. Heldengenese

Gehen wir nun diese Merkmale Stück für Stück durch, so kann gezeigt werden, dass sich dazu durchaus signifikante Entsprechungen in Sinfjötlis Werwolfszeit in der Völsunga saga finden. Ursprünglich sollen Signys Söhne in den Wald geschickt werden, um Sigmund eine Hilfestellung bei dessen eigener Racheunternehmung zu sein: „König Siggeir hatte zwei Söhne mit seiner Frau, und es wird von ihnen erzählt, daß Signy, als sein ältester Sohn zehn Winter alt war, ihn zu Sigmund sandte, damit er ihm Hilfe leisten sollte, wenn er etwas unternehmen wollte, um seinen Vater zu rächen“ (Vs 6).56 Das ungefähr selbe Alter finden wir ebenso bei Sinfjötli. Dieser ist „noch nicht zehn volle Winter“ (Vs 7)57 alt, da er zu Sigmund geschickt wird.58 Der Impuls für diese Zeit der Hilfeleistung beziehungsweise Ausbildung kommt hier allerdings von der Mutter und sie ist es auch, die mit ihrem Test des Hemd-an-die-Haut-Nähens eine Einstiegshürde schafft. Davon, dass die Söhne der Mutter entrissen werden, kann keine Rede sein. Tatsächlich findet sich allerdings ein männlicher Lehrer in einem abgeschiedenen, vom normalen gesellschaftlichen Leben abgetrennten Raum. Letzteres ist der Wald, in dem Sigmund sein Erdhaus eingerichtet hat, das das Zentrum seines Ächterlebens ist. Unzugänglich und gefährlich ist der Wald auf Grund seiner semantischen Belegung als Gegenraum zur sozialen menschlichen Existenz59 und außerdem weil dort Sigmund sein Unwesen treibt und als Outlaw eine Gefahr für Siggeirs Leute darstellt. Wirklich expliziert wird dies aber erst, da Sinfjötli und er selbst sich daran machen, Leute zu töten und auszuplündern. Von schmerzhaften Prozeduren, die – ich nehme nun Weisers Begriff auf – die ‚Kandidaten‘ über sich ergehen lassen müssen, erfahren wir in der Völsunga saga durchaus in Form von Hemd- und Brotteigprobe. Letztere hat bei Nichtbestehen sogar den Tod zur Folge. Diese Prüfungen stehen allerdings am Anfang des Waldaufenthaltes. Die Jungen müssen sich dadurch erst qualifizieren. Sie sind nicht Teil der Ausbildung, sondern erweisen, ob der mögliche Kandidat überhaupt die Grundvoraussetzung für diese Art von Existenz mitbringt. Die  



56 „Siggeirr konungr atti II sonu vid konu sinne, ok er fra þvi sagt, þa er enn ellri son hans er X vettra, at Signy sendir hann til moz vid Sigmund, at hann skyllde veita honum lid, ef hann villde nockut leita vid at hefna fedr sins.“ 57 „eigi allra X vetra“. 58 An sich kein besonderer Schwellenwert in der Alterseinstufung des Mittelalters und der Antike (vgl. Primetshofer/Brauneder 1980, Sp. 470–471). Nach antiker Tradition bezeichnet das Erreichen des siebten Lebensjahres für das Kind den Übergang von der infantia zur pueritia. Der Eintritt in die adolescentia variiert dagegen deutlicher und ist zumeist bei Abschluss des vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahres angesiedelt. Andere Quellen lassen den Zeitpunkt aber auch zwischen zehn und sechzehn Jahren rangieren (vgl. Arnold et al. 1991, Sp. 1142–1149). Die Volljährigkeit erreicht der mittelalterliche (männliche) Mensch variierend zwischen dem zehnten und achtzehnten Lebensjahr, wobei das zwölfte und im Spätmittelalter dann das achtzehnte Jahr am häufigsten belegt sind (vgl. Primetshofer/Brauneder 1980, Sp. 471). Susanne Kramarz-Bein weist für die Þiðreks saga die Vorstellung der Volljährigkeit mit zwölf Jahren nach (vgl. Kramarz-Bein 2002, S. 34–35) und spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Initiationsalter“ (Kramarz-Bein 2002, S. 35). 59 Siehe 2.2.3.  









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4.1 Heldenerziehung

Helden- und Sippenprädisposition spielt stark mit hinein: Die Proben können von Anfang an nur von einem Völsungen bestanden werden. Tatsächlich scheint der Zeitrahmen der Waldzeit mehrere Jahre zu umfassen. Anfangs – mit den knapp zehn Jahren an Alter – ist Sinfjötli für Sigmund „noch zu jung“ (Vs 8),60 um die Rache auszuüben. Es heißt, dass sie die Sommer mit Bluttaten verbringen. Wie viele Jahre das so geht, wird nicht erwähnt, zumindest aber so lange bis „Sinfjötli erwachsen war“61 und für die Rache bereit. Kontakt hat der Junge tatsächlich nur mit seinem Ausbilder und den Opfern seiner Raubüberfälle. Als Sigmund und Sinfjötli in Wolfsgestalt62 sind, gibt es einen Moment, da sie sich mit der Auflage trennen, dass jeder nur gegen eine maximal siebenfache Übermacht antreten darf. Das wird von Sigmund gegenüber Sinfjötli so begründet: „denn du bist jung und mutig, und man wird sich darauf freuen, dich zu jagen“ (Vs 8).63 Sinfjötli stellt also auf Grund seiner Jugend und seiner Kühnheit eine besonders attraktive Jagdbeute dar. Der Text gibt allerdings keinen weiteren Hinweis, ob dies auf eine soziale Sonderstellung der Figur hindeutet, die über seine Natur als junger wagemutiger Wolf hinausgeht. Nach der Überschreitung der Regeln wird Sinfjötli von seinem Vater angefallen, heftig verwundet und vielleicht sogar totgebissen:64 „Da sprang Sigmund so hart gegen ihn, daß er taumelte und fiel; Sigmund biß ihn vorn in die Kehle“ (Vs 8).65 Danach erfährt der Verwundete beziehungsweise Tote Pflege durch seinen Vater: „So legte Sigmund ihn sich auf den Rücken, trug ihn heim in die Hütte und war um ihn beschäftigt“ (Vs 8).66 Heilung erfährt der junge Wolf, als Sigmund sieht, dass die Episode zwischen zwei Wieseln nachgespielt wird:67 „Eines Tages sah Sigmund zwei Wiesel, wie eins dem andern in die Kehle biß; und jenes lief in den Wald, brachte ein Blatt, legte es auf die Wunde und sogleich sprang das andere Wiesel gesund auf“ (Vs 8).68 Das heilende Kraut erhält Sigmund von einem Raben (vgl. Vs 8), der hier als Tier Odins verstanden werden kann. Dies würde neben den bereits genannten Auftritten aber 



60 „of ungr“. 61 „Sinfiotli er frumvaxti“. 62 Siehe 3.3.6. 63 „þviat þu ert ungr ok arędisfullr, munu menn gott hyggja til at veida þik.“ 64 Der Text gibt keinen expliziten Hinweis. Man kann es so und so lesen. Vgl. etwa Schjødt 2008, S. 311: „Sinfjǫtli is killed by Sigmundr“. Vgl. Höfler 1934, S. 192: „weil der heranwachsende Helfer […] mehr Männer tötet als sein Vater und sich dessen rühmt, bringt ihn dieser um“. Vgl. Grimstad 2000, S. 26: Der Kehlenbiss „nearly causes his death. […] His life is saved by the application of a magic healing herb“. Vgl. Clover 1986(b), S. 80: „Sigmund, having fallen in rage on Sinfjǫtli and bitten him unconscious“. 65 „Sigmundr hleypr at honum sva hart, at hann stakar vid ok fellr. Sigmundr bitr i barkan framann.“ 66 „Sigmundr legr hann nu a bak ser ok berr heim i skalan, ok sat hann yfir honum“. 67 Vgl. Doht 1974, S. 142, die die Heilung durch das Kraut zu den Initiationsschritten zählt. Carol Clover geht von einem Bezug der Motive und Inhalte der Wieselepisode zur kontinentaleuropäischen Literatur aus (vgl. Clover 1986(b), S. 80–84). 68 „Sigmundr ser einn dag, hvar hreysekettir II voru, ok bitr annar i barkann odrum, ok rann sa til skogar ok hefir eitt blad ok fęrir yfir sarid, ok spretr upp hreysikattrinn heill.“  











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4. Heldengenese

mals auf eine hilfreiche Rolle des Gottes anspielen. Odin würde hier in seiner in den Handschriften weniger überlieferten Form als Gott der Heilung auftreten, der seinen Schützlingen durch den mit ihm assoziierten Vogel das Heilkraut bringen lässt.69 Dass Sigmunds Tat, das Beißen des jüngeren Wolfes, nicht intentioniert, sondern affektgesteuert war, zeigt, dass er die Wolfsfelle direkt danach zum Teufel wünscht: „aber er hieß die Trolle die Wolfsbälge holen“ (Vs 8).70 Diese Aussage ist ein überraschendes Detail angesichts der sonstigen Zeichnung der Figuren der Episode. Sie zeigt, dass das in einen Wolf Verwandeltsein einen Einfluss auf Sigmunds Gemüt ausübt. Das Verwunden des Sohnes geschieht als Reaktion auf eine Provokation: „Du brauchtest meine Hilfe dazu, um sieben Männer zu töten, aber ich bin ein Kind an Jahren im Vergleich mit dir – und doch rief ich dich nicht um Hilfe, um elf Männer zu töten“ (Vs 8).71 Die Tat allerdings geschieht nicht nur aus Sigmunds heroischem Selbstgefühl heraus und ist nicht ausschließlich durch übermütigen Stolz motiviert, sondern es ist der Wolfsbalg, der durch die Verwandlung Sigmunds Verhalten dahingehend verändert, dass dieser mit gewalttätiger Intensität auf die Beleidigung reagiert und zubeißt.72 Sie ist nicht Ausdruck seines heldischen Wesens, sondern Folge der Transformation. Über den an sich bereits affektgesteuerten Habitus des Helden lagert sich eine zweite Schicht unkontrollierten Handelns. Sinfjötlis Genesung beziehungsweise Wiedergeburt beendet die Wolfszeit. Sie ist deren Abschluss und tatsächlich auch die letzte Episode, die um die Zeit im Wald berichtet wird: „Darauf gingen sie nach der Erdhütte und warteten da, bis zu der Zeit, daß sie die Wolfsbälge ablegen sollten; da nahmen sie die, verbrannten sie im Feuer  

69 Zu Odin als Heilgott beziehungsweise göttlichem Arzt vgl. Böldl 2013, S. 152–156, bes. S. 154 f.: „in der Episode von Sigmund und Sinfjötli ist es natürlich der Rabe, der dem Leser unmissverständlich zu verstehen gibt, dass der Gott nicht nur das heilende Kraut sendet, sondern auch den Auftritt der Wiesel inszeniert hat, um Sigmund eine therapeutische Handlungsanweisung zu geben.“ Vgl. weiterhin Hultgård 2007(b), S. 761: „Eine Mythe über Wodan als heilenden Gott liegt sicherlich einer Aussage im Zweiten Merseburger Zauberspruch zugrunde, wo der Gott zusammen mit vier weiblichen Gottheiten balderes uolon ‚das Pferd Balders‘ durch Rezitieren einer Zauberformel heilt“. 70 „enn bad traull taka ulfhamina.“ 71 „lid til at drepa VII menn, enn ek em barn ad alldri hia þęr, ok kvadda ek eigi lids at drępa XI menn“. 72 Sarah L. Higley argumentiert, dass das Wolfsein von Vater und Sohn positiv bewertet werden könne, weil sie zusammen als Team operieren und demnach ein kriegerisches Kollektiv bilden würden. Das würde sie von Sigi unterscheiden, der als ‚varg í véum‘ auf sich allein gestellt sei. Wohingegen das Wolfsein bei Sigi eine Strafe und die Sichtbarmachung eines Defizits sei, wäre es bei Sigmund und Sinfjötli ein Qualitätsmerkmal, das aber von Sinfjötli durch seinen Alleingang untergraben worden wäre. Der Kehlenbiss sei eine gerechte Maßregelung dafür: „Sigmund’s terrible anger (he bites Sinfjǫtli in the throat) is justified: not only has his son broken the agreement, but he has arrogantly challenged the alpha wolf’s authority. The unspoken point this part of the story seems to make is that man-wolves are admirable only if they work in tandem (‚who there act together‘) in a kind of berserk or díberg arrangement where companionship keeps them from being varg. In fact, this section ends with the positive image of their terrible teamwork“ (Higley 2005, S. 368).  









4.1 Heldenerziehung

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und wünschten, daß sie niemand mehr Schaden brächten“ (Vs 8).73 Das Verbrennen der Felle erweckt den Anschein von etwas Zeremoniellem.74 Für die Textfiguren waren die Instrumente ihrer Verwandlung allerdings schadensbringend und negativ konnotiert. Das zeigt sich auch bei ihrer ursprünglichen Entdeckung, wo es heißt, die ursprünglichen Träger seien „ins Missgeschick geraten“ (Vs 8).75 Die Wolfsfelle sind also in gewisser Weise fluchbeladen. Die Verwandlung wieder zu beenden, ist nur an manchen Tagen möglich: „jeden fünften Tag vermochten sie [die Königssöhne, Sigmunds und Sinfjötlis Vorgänger] aus den Bälgen zu fahren“ (Vs 8)76 und auch Sigmund und Sinfjötli „vermochten aber nicht herauszukommen“ (Vs 8).77 Warum die beiden die Bälge überhaupt erst anziehen wird nicht ersichtlich („Sigmund und Sinfjötli fuhren in die Wolfsbälge“, Vs 8)78 und die Felle scheinen auch insofern einen Zwang auszuüben, dass auch wenn man ab und an wieder aus ihnen herauskommt, man sie nach dem fünften Tage doch wieder anlegen muss. Ihre Verbrennung ist eine präventive Maßnahme um sich und andere zu schützen. Ein Altruismus, der in dieser Formulierung fremd für die Stimmung der hier untersuchten Texte ist. Eine weitere Textstelle, in der sich eine symbolische Auferstehung oder Wiedererweckung verbergen kann, ist der Moment, da Sigmund und Sinfjötli von ihren Feinden lebendig begraben werden. Die Prozedur dient innerhalb des Textes als Hinrichtungsmethode für die Feinde Siggeirs. Er wählt sie, weil es der grausamstmögliche Tod ist, der, „den sie am längsten fühlten“ (Vs 8).79 Die Aufbahrung der beiden erinnert auf Grund ihrer detaillierten Beschreibung an sich an ein zeremonielles Vorgehen: Als der Hügel fertig war, ließ er eine große Felsplatte senkrecht mitten hinein setzen, so daß der eine Rand nach oben gerichtet war, der andere nach unten; der flache Stein war so groß, daß er auf beiden Seiten die Felswand berührte, so daß man nicht an ihr vorbeikommen konnte. Darauf ließ er Sigmund und Sinfjötli ergreifen und in den Grabhügel setzen, auf jede Seite der Felsplatte einen von ihnen (Vs 8).80

Vom Text wird sie allerdings nur als weitere Grausamkeit ausgewiesen: „denn es schien ihm härter für sie“ (Vs 8).81 Das thematisiert ein weiteres Mal das Leiden, das

73 „Eptir þat fara þeir til iardhuss ok eru þar til þess, er þeir skylldu fara ur ulfhaumunum. Þa taka þeir ok brenna i elldi ok badu engum at meini verda.“ 74 Vgl. Buchholz 1980, S. 96. 75 „ordit fyrir uskopum“. 76 „It tiunda hvert dęgr mattu þeir komazt or haumunum.“ 77 „ok mattu eigi or komazt“. 78 „Þeir Sigmundr foru i hamina“. 79 „þann er kendi leingst.“ 80 „er þessi haugr er gior, þa let hann setia hellu mikla i midian hauginn, sva at annarr iadar hellunnar horfdi upp, enn annar nidr. Hun var sva mikil, at hun tok tveggia vegna, sva at eigi matti komazt hia henne. Nu lętr hann taka þa Sigmund ok Sinfiotla ok setia i hauginn sinum meginn hvarn þeirra“. 81 „fyrir þvi at honum þotti þeim þat verra“.  



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4. Heldengenese

Ausdauern, das Fühlen und Ertragen von Härte.82 Diese Kernaspekte der Episode werden durch Siggeirs Figur und das Herrschafts- und Sippenmodell in seinem Machtbereich kontrastiert: Er möchte sich das Schwert, das nur der Herausragendste aus dem Holze ziehen kann, mit Gold kaufen (vgl. Vs 3), er ist grausam, doch selbst heroisch untauglich, seine Söhne sind gemessen am völsungischen Standard verweichlicht, selbst die bis dahin überlebenden Kinder spielen mit Goldringen (vgl. Vs 8), anstatt kühne Taten in der Wildnis zu vollbringen. Die Passage stellt Signy als Adjutantin dar, die den ‚Kandidaten‘ bei der Wiedergeburt unterstützt. Sie lässt anstatt der männlichen Figur also die Mutter Initiationshelferin sein. Durch diese Hilfe (vgl. Vs 8) erhält Sinfjötli das Siegesschwert seines Vaters83 und die beiden können sich aus dem Grab befreien. Wenn es nun um das Erlernen irgendeines Geheimwissens geht, um die Aneignung von kultischen Praktiken oder heiligen Vorgängen, so finden wir in der Erzählung keinen Hinweis darauf. Das einzige, was Sinfjötli erfährt, ist die Gewöhnung an ‚hardrędi‘, an Härte und kühne Taten,84 wodurch die Figur thematisch konstituiert wird. Doch vielmehr wirkt die Figur so, als wäre sie bereits fertig. Das einzige für Sinfjötli relevante Wissen, nämlich das um seine Abstammung als Völsunge, hat er schon.85 Zu keinem Moment hat der Rezipient das Gefühl, Sinfjötli müsse noch vorbereitet oder belehrt werden. Sein Waldaufenthalt erscheint als eine Pro-forma-Handlung.86  

82 Margaret Schlauch beschreibt die Völsunga saga als eine Geschichte von „doom and violence, heroism and devotion and stoical suffering“ (Schlauch 1967, S. 207; Hervorhebung F.D.). 83 Das Schwert ist spätestens im elften Kapitel der Saga zurück in Sigmunds Besitz. 84 Vgl. Baetke 2008, s.v. ‚harðræði‘: „1. fester, kühner Entschluß 2. kühne Tat, gefahrvolles Unternehmen 3. Gewalttat, Untat 4. fester Sinn, Tatkraft, Kühnheit 5. Härte, Strenge“. 85 Die Belehrung durch Signy gilt Sigmund und nicht dem gemeinsamen Sohn (vgl. Vs 8). Anders dagegen Schjødt 2008, S. 309: „And there is absolutely no doubt that Sinfjǫtli has learned something in the final phase that he did not know in the initial phase, something that must have been given to him during his stay in the liminal space.“ Was das ist, erwähnt Jens Peter Schjødt allerdings nicht. 86 Gerade weil die Unterrichtszeit so oberflächlich und unnötig wirkt, meint Otto Höfler, es müsse sich mehr hinter der völsungischen Rachefabel verbergen. Es handle sich um die unverstandenen Trümmer einer Initiationsüberlieferung, die vom Völsungenverfasser zur Wald- und Werwolfsepisode gemacht worden seien. Dass Sigmund allein im Wald lebe und die Klimax der Rache eine brenna, das Niederbrennen von Siggeirs Halle, sei, das ergebe, so Otto Höfler, keinen Sinn: „Eine Rache ist zunächst unmöglich (warum, wird allerdings aus der Saga nicht klar, da Sigmund ein erwachsener Mann und überdies Erbe eines Königreiches ist; in dieses Reich kehrt er jedoch nicht zurück, sondern er lebt wie ein Verbannter allein im Wald […]. Auch bleibt seltsam, daß die so ungeheuer schwer vorbereitete Tat bloß eine nächtliche Brandstiftung ist, bei der die Männer in der Halle nicht einmal einen Ausfall gegen die beiden Mordbrenner versuchen, so daß der Schluß ohne jede wirkliche Heldentat der vielgeprüften Vǫlsungen bleibt.) – Ich habe schon angedeutet, daß sogar in die Haupthandlung, wie sie die Vǫlsungasaga erzählt, Momente eingehen, die aus der Idee der Rachesage nicht abzuleiten sind, ja ihr ins Gesicht schlagen. Warum lebt Sigmund und nachher mit ihm Sinfjǫtli im Wald wie verbannt, statt das Erbe des ermordeten Vaters anzutreten und Streitkräfte zur Rache zusammenzuziehen? Wozu diese Rachevorbereitungen, die ein Menschenalter dauern, nur um schließlich Wehrlose nachts zu verbrennen?“ (Höf 





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4.1 Heldenerziehung

Über die Gewaltakte, die Sinfjötli auszuüben angetrieben wird, haben wir schon ausführlich gesprochen. Was allerdings in seinem Falle nicht gelingt, ist eine Resozialisierung im Sinne Arnold van Genneps und Lily Weisers. Seine Integration nach seiner ‚Buschzeit‘ wird nicht vorgenommen und sein Ächter- und Wolfsdasein stigmatisiert ihn noch im Nachhinein. Sinfjötli erhält nach Abschluss der Racheepisode keinen neuen Namen, sondern er bleibt der, der er ist. Und allein sein Name ist bereits eine Umschreibung: Sinfjötli, althochdeutsch Sintarfizzilo, bedeutet nichts anderes als Wolf.87 Er trägt diesen sprechenden Namen allerdings schon vor seiner Zeit als Wolf – im übertragenen sozialen Sinn als ausgestoßener Verbrecher und im tatsächlichen Sinn. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass in der Darstellung der Werwolfsepisode Aspekte eines Weihe- oder Initiationsritus gesehen werden.88 Viele Hinweise deuten da 

ler 1934, S. 190 f.). Vollkommen mit Höfler im Einklang argumentiert auch Mircea Eliade: „Die Initiationsthemen liegen offen zutage: die Mutprobe, das Ertragen körperlicher Schmerzen, gefolgt von der magischen Verwandlung in einen Wolf. Doch der Verfasser der Vǫlsungasaga war sich der ursprünglichen Bedeutung der Verwandlung nicht mehr bewußt“ (Eliade 1989, S. 157). Nun stimme ich Höfler und Eliade zu, was die Überlieferungstrümmer einer Weihezeit oder eines Initiationsritus angeht. Doch heißt das für mich noch lange nicht, dass die Rachefabel um Sigmund, Signy und Sinfjötli nicht in sich schlüssig gelesen werden könnte. Sigmund kann sich nach der Niederlage der Völsungen auf dem Feld nicht zurückziehen. Mit derselben Logik, mit der Völsung die Schlacht nicht gescheut hat (vgl. Vs 5), holt Sigmund nicht zuerst Hilfe von möglichen Verbündeten, sondern beginnt sofort als geächteter Rächer im Wald mit seinen Vorbereitungen. Alles andere wäre heroische Fahnenflucht (siehe 7.2.1). In der Episode geht es eben genau darum, dass er allein ist, ohne Verbündete, da diese alle mit seinem Vater auf dem Schlachtfeld gefallen sind, und ohne Brüder, da er eben als einziger nicht von der Wölfin aufgefressen wurde (vgl. Vs 5). Er ist der einzige verbleibende Vertreter des Völsungengeschlechtes. An späterer Stelle handelt Sigurd ähnlich, der die Vaterrache auch nicht postponiert, sondern an erste Stelle stellt (vgl. Vs 17). Die Rache selbst besteht auch nicht nur aus einer Brandstiftung, sondern aus dem Töten von Männern im Wald, Sinfjötlis Kindesmord und einem spektakulären Hallenkampf, bei dem die Völsungen einen ordentlichen Blutzoll fordern, bevor sie selbst unterliegen und lebendig begraben werden. Erst als sie dann freikommen, ist das letzte Element der Rache Siggeirs Halle in Brand zu setzen. Und eine solche brenna als Fehdemaßnahme ist ja der isländischen Literatur nicht unbekannt (vgl. etwa Nj 127–130). Neben der verdunkelten Schilderung einer Knabenweihe finden wir in der Völsunga saga ganz klar die Erzählung der schrittweisen, doch vollständigen Zerstörung von Siggeirs Macht und Geschlecht (siehe 6.2.3; vgl. Deichl 2016, S. 229–230). 87 Sinfjötli bzw. althochdeutsch Sintarvizzilo bedeutet etwa ‚der Sinterfüßige‘, ‚der mit den sinterfarbigen (gelblichen) Fesseln/Läufen‘, was in Form eines Tabunamens den Wolf umschreibt (vgl. Ásgeir Blöndal Magnússon 1989, S. 817; vgl. von See/La Farge et al. 2004, S. 207). Vgl. umfassend Much 1929, S. 17–24, bes. S. 24: „Als ergebnis unserer untersuchung können wir also buchen, dass SintarfizziloSinfjǫtli ‚der mit der sinterfarbigen (d.i. strahlend gelben) fessel‘ bedeutet und ein deck- und schmeichelname für den wolf ist. ob er für den zweck der sage erst geprägt ist oder aus schon vorhandenen namen gleicher art ausgewählt, lässt sich nicht sagen. […] auch der eigentliche name des Sinfjǫtli, falls ein solcher vorhanden war und durch diesen beinamen verdrängt wurde, wird mit Sigmundr den s-anlaut, ja wohl das ganze bestimmungswort, geteilt haben.“ 88 Die Handlung der Sinfjötliepisode nennt Weiser „eine vollkommene Initiation“ (Weiser 1927, S. 70). Ihre Elemente bestünden aus „Knabenprobe […], Lehrzeit in Tierverkleidung und mit Tierbesessenheit  























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4. Heldengenese

rauf hin, weichen dann aber wieder in Details davon ab. Letztlich bleibt die Frage, ob es sich um unabsichtliche Ähnlichkeiten oder intentionierte Anspielungen handelt, nicht zu beantworten. Lily Weiser spricht dabei ein Problem an, zu dem es schwer fällt, endgültig Stellung zu beziehen: „Es handelt sich ja um Dinge, die zur Entstehungszeit dieser Berichte im Wesentlichen überwunden waren und daher schon damals nicht mehr ganz verstanden wurden.“89 „Unsere Quellen geben die alte Überlieferung zum Teil unverstanden und formelhaft weiter“.90 Es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht belegbar, dass es sich bei Inhalten, wie sie zum Beispiel in der Werwolfsepisode verarbeitet wurden, um trümmerhafte Überlieferungen handelt,91 wobei aber nicht nachvollzogen werden kann, inwieweit sie vom Sagaautor begriffen wurden. Die Extrempositionen sind zum Einen das reine Nacherzählen ohne oder nur mit unterbewusstem Verständnis des Materials. Das Produkt wäre eine rein zum blinden Motiv gewordene Episode. Das andere Extrem wäre ein durchdringendes Verstehen der Überlieferung durch den Verfasser und eine bewusst inszenierte Neukomposition, die allerdings mit einer gewissen Codierung und einer absichtlichen Unschärfe einherginge. Letztlich muss hier Teicherts Argument wieder aufgegriffen werden, dass die Passagen, die von Wundersamem, Unzugänglichem oder Monströsem sprechen, auch textbildlich das Wesen ihrer Inhalte annehmen.92 Nun bleibt allerdings wiederum die Frage, ob so eine Form der monströsen Textgestaltung intentioniert vorgenommen wird oder gerade an Passagen mit mythischen, wundersamen und vielleicht vormalig kultischem Inhalt unbewusst entsteht.93 Die Frage bleibt beim jetzigen Forschungsstand nicht zu beantworten. Am vernünftigsten erscheint mir eine Position zwischen den oben genannten Extremen, was den Transport von Überlieferungen zu besagten Kultpraktiken zum Sagaverfasser angeht, ebenso wie dessen

[und] Mannhaftigkeitsprobe“ (Weiser 1927, S. 70 f.). „Der Erzähler fasst die Wolfsverkleidung selbstverständlich nicht mehr so auf, sondern er läßt sie die Wolfskleider aus Zufall, aus Missgeschick finden und ganz ohne Grund anziehen“ (Weiser 1927, S. 71). Hier spricht Weiser die Handlungsorientiertheit der Figuren an, die als maschinenhaft und heroisch verstanden werden kann – ähnlich wie bei Sinfjötlis Zeugung. Die Akteure der Episode wirken ergebnisgetrieben. Die Felle würden letztlich verbrannt, „wie man auch sonst Zauberkleider zu verbrennen pflegt“ (Weiser 1927, S. 71). In die Passage von der Wiedererweckung Sinfjötlis sei „das Märchen vom Lebenskraut mit hineinverflochten“ (Weiser 1927, S. 71). 89 Weiser 1927, S. 10 f. 90 Weiser 1927, S. 60. Weiser positioniert sich deutlich: „Man bezeichnet die Motive des alten Erzählstoffes gewöhnlich als Motive der Phantasie. Ich glaube nun, daß ihnen allen zum großen Teil wirkliches und zwar religiöses Leben zu Grunde liegt“ (Weiser 1927, S. 11). 91 Vgl. Jacoby 1974, S. 87: „Dass sie sich als mordende Wölfe vorkamen, scheint unter anderem ihrem jugendlichen Alter zuzuschreiben zu sein. Die Darstellung dieser Episode der Vǫlsunga saga trägt Züge echten Aberglaubens, von Verwandlung kann auch hier wiederum kaum die Rede sein.“ Jacoby versteht die literarische Gestaltung lediglich als phantastische Überformung. Eine Überlieferung der Figuren als ‚vargr‘ müsse es ausschließlich in der Bedeutung als ‚Verbrecher‘ oder ‚Ausgestoßener‘ gegeben haben. Eine Tradition kultischen Inhaltes, die auf eine Tierverwandlung hinauswill, schließt er aus. 92 Siehe 4.1.1. 93 Siehe 2.3.3.  





















4.1 Heldenerziehung

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Verständnis davon. Bei dieser diplomatischen Stellungnahme darf meines Erachtens aber keinesfalls die schöpferische Intention des Verfassers außer Acht gelassen werden. Ideen von einem blinden, verständnis-, konzept- und kunstlosen Nacherzählen scheinen mir als Erklärung für die schwerverständlichen und unzugänglich aufbereiteten Stellen sehr dünn.

4.1.3 Berserkertum Ferner stellt sich die Frage, ob oder inwiefern sich hinter den Figuren Sigmund und Sinfjötli Berserker verbergen beziehungsweise ihre Darstellung von der Beschreibung von Berserkern inspiriert worden ist.94 Weiser erschließt einige95 Merkmale der Berserker: Die Berserker tragen Bären- und Wolfskleider und stehen in Beziehung zum Totenheer. Die Vermummung und Tierbesessenheit weist in Verbindung mit Tiernamen als Personen und Geschlechternamen, mit dem Auftreten in Gruppen, als Brüder oder durch künstliche Verwandtschaft verbunden, mit dem Verzehren rohen Fleisches und Bluttrinken, der Verbindung mit dem Ahnenkult, auf totemistische Grundlagen. Außerdem zeigt sich eine innige Verbindung mit Odin durch die Wolfsmaske, die Verwandlungsfähigkeit, durch ihre Beziehung zum Totenheer, ihr Auftreten in der Julzeit. Weitgehende Maskenfreiheit konnte wahrscheinlich gemacht werden. Einen Bund bildend sind sie stets unverheiratet. Von Aufnahmeriten […] wird berichtet.96

Ein weiteres zentrales Merkmal ist die Raserei, die Kampfekstase der Berserker, also der Berserkergang.97 Ein solches Wüten ist kaum für Sigmund und Sinfjötli festzustellen. Wir erfahren die Figuren durch ihr Handeln und durch ihre direkte Rede. Sie erscheinen als provokant, wirken dabei aber von einem ruhigen Kalkül. Ihre Rache ist nicht affektgesteuert und wird nach jahrelanger Vorbereitung98 kalt serviert. Ein Ele-

94 Byock 1990, S. 5: „This section of the tale may be interpreted in light of traditions concerning some of Odin’s warriors who, according to Snorri Sturluson, behaved like wolves. The description of Sigurd’s kinsmen living like werewolves may also shed light on the ‚wolf warriors.‘ Helmets and sword scabbards decorated with these strange figures, perhaps werewolves or berserkers, date from the sixth through the eighth century and have been found widely in northern and central Europe“. Vgl. Grimstad 2000, S. 29: „The mythic schema refers to initiation into a special warrior cult under the aegis of the god Odin“. 95 Unerfasst bleiben Züge, die den Figuren ansonsten noch in der Sagaliteratur gegeben werden, wie etwa Rüpelhaftigkeit, Unliebsamkeit, Asozialität, Organisation in Zwölfergruppen, Zweikampfbereitschaft usw. (vgl. Zitzelsberger 1979, S. 1–10). 96 Weiser 1927, S. 60. 97 Vgl. Weiser 1927, S. 43; Höfler 1976, S. 302. 98 Vgl. Weiser 1927, S. 61: „Es läßt sich wahrscheinlich machen, daß die Berserker einst die Initiation der jungen Leute in Händen hatten; […] man erfährt, daß es junge Leute gab, die nur in ihrer Jugendzeit ein Berserkerleben führten und später heirateten und tüchtige Hauswirte wurden“. Das trifft in gewisser Weise auf Sigmund zu. Eine Resozialisierung erfolgt allerdings bei Sinfjötli nicht.  













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ment, das die Raserei der Berserker allerdings mit sich bringt, ist ihre Unverwundbarkeit. Höfler spricht von der „Unempfindlichkeit von Ekstatikern gegen Verwundungen“99 und von einer „Anästhesie“100 der Berserker. Nun werden uns die Völsungen zwar nicht als unverwundbar geschildert, allerdings als ausdauernd im Ertragen von Schmerz oder von Gift. Signy hat keine Schwierigkeiten damit, ihrem Sohn die Haut von den Armen zu reißen; dieser sagt nur, dass das ein geringer Schmerz sei. Die völsungische Tugend besteht also nicht darin, keinen Schmerz zu fühlen, sondern sich nichts aus ihm zu machen.101 Wahrscheinlicher scheint, dass an dieser Stelle ein Heroenideal elaboriert werden soll, als dass eine Berserkereigenschaft verarbeitet wurde. Weiterhin ist die Eigenart der Berserker zu nennen, ohne Rüstung in den Kampf zu ziehen. Zumindest während ihres Rachezuges unterscheiden sich Sigmund und Sinfjötli in diesem Merkmal. Da tragen sie „tief herabhängende Helme und lichte Brünnen“ (Vs 8).102 Als nächstes ist da die Tierverwandlung. Sigmund und Sinfjötli – Letzterer bereits den Wolf im Namen tragend – nehmen den Lebensstil von Ausgestoßenen, Plünderern und Mördern an, noch bevor sie tatsächlich zu Wölfen werden. Ihrer physischen geht eine soziale Transformation voran.103 Dieses Phänomen wiederholt sich bei der Verwandlung von Fafnir, von dem es heißt: „er wurde so bösartig, daß er sich in die Wildnis zurückzog und keinem gönnte des Hortes zu genießen außer sich; er ward dann zu einem ganz wilden Wurme und liegt nun auf dem Horte“ (Vs 14).104 In Fafnirs Fall waren es seine drachischen Züge, die ihn letztlich zum tatsächlichen Drachen gemacht haben.105 Das Wesen der Figuren verwirklicht sich in ihrer Verwandlung106 und Sigmunds und Sinfjötlis Wolfsgestalt ist die Artikulation ihrer grenzgängerischen Lebensart.107  



99 Höfler 1976, S. 303. 100 Höfler 1976, S. 299. 101 An anderer Stelle verbrüht sich Sigurd den Finger am kochenden Drachenblut. Als Reaktion darauf steckt er ihn sich „zur Kühlung oder zur Schmerzlinderung“ (Düwel 1986, S. 230) in den Mund. Sigurd reagiert also im Gegensatz zu seinem Halbbruder sehr wohl auf Schmerz. 102 „sida hialma ok hvitar bryniur“. 103 Vgl. Grimstad 2000, S. 29: „This episode makes the abstract idea expressed in the legal terminology visually concrete by depicting Sigmund and Sinfjotli as ‚real‘ outlaw wolves.“ 104 „Hann giordizt sva illr, at hann lagdizt ut, ok unne aungum at niota fiarins nęma ser ok varþ siþan at hinum versta orme ok liggr nu a þvi fe.“ 105 Vgl. Grimstad 2000, S. 29 f.: „As a human, Fafnir is characterized by such voracious greed that in order to get possession of the treasure he commits the vile and unnatural crime of patricide, an act that threatens the social fabric and brands him as an outlaw living outside the boundaries of civilization. Since dragons and serpents commonly represent evil, chaos, and greed in the universal language of symbols, it is singularly appropriate that Fafnir transforms himself into a dragon or giant serpent, the embodiment of all the antisocial characteristics he displayed as a human“. 106 Siehe 3.3.6. 107 Teichert 2014, S. 155 trifft es auf den Punkt: „so dass die […] körperliche Wolfsverwandlung die schon vorher vorhandenen ‚wölfischen‘ Anlagen in Psychogramm und Sozialverhalten der Figuren nur  













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Für Lily Weiser ist die Werwolfsepisode ein Beispiel für die Tierbesessenheit der Berserker. Diese würde „durch das Anlegen von Tierfellen willkürlich hervorgerufen, mindestens vorbereitet und eingeleitet.“108 Die Raserei liegt zwar nicht vor, doch dass insofern von einer Besessenheit gesprochen werden kann, zeigt das zuvor besprochene Zwanghafte der Wolfsverwandlung. Der Zustand kann nicht willentlich beendet werden: „Sigmund und Sinfjötli fuhren in die Wolfsbälge, vermochten aber nicht herauszukommen“ (Vs 8);109 „Gerade an diesem Tage vermochten sie nicht die Wolfsbälge abzulegen“ (Vs 8).110 Die Helgakviða Hundingsbana zeigt, dass allerdings dem Wolfswesen Sinfjötlis eine übergeordnete Bedeutung zuzumessen ist. Nach Helgis Geburt wird Sigmund als der „Verwandte[…] der Ylfinge“ (HH. 5)111 bezeichnet und als Sinfjötli sein Streitgespräch mit Gudmund beginnt, heißt er seinen Gegenüber zu verkünden, „dass die Ylfinge von Osten gekommen seien“ (HH. 34).112 Der Name ‚Ylfingar‘,113 ‚Wölfinge‘, umfasst hier den gesamten Sippenverband der Völsungen und schließt damit auch Helgi ein, der in den Erzählungen nie in Wolfsform auftritt. Die Verwandlungsepisode war identitätsstiftend für die Völsungen der Generation vor Sigurd. Zu denken ist, dass den Verfassern der Name der Ylfinge in Verbindung mit dem Heldengeschlecht vorlag und dadurch die Entscheidung getroffen wurde, der Wolfsaffinität des Namens durch die Werwolfsgeschichte und die Anspielungen darauf Ausdruck zu verleihen. So kann weiterhin theoretisiert werden, ob aus einem realhistorischen Geschlecht oder einem Stamm, der kultische Sympathie114 zum Tier Wolf erlebt, in den Texten wölfische Gestaltwandler geworden sind. Snorri Sturlusons Ynglinga saga nennt die Berserker als Odinskrieger:115 Solche Macht hatte Odin, daß er in der Schlacht seine Feinde blind oder taub machen konnte oder von Schrecken wie gelähmt, und ihre Waffen schnitten dann nicht mehr als Ruten. Aber seine eignen Mannen gingen ohne Brünnen, und sie waren wild wie Hunde oder Wölfe. Sie bissen in ihre Schilde und waren stark wie Bären oder Stiere. Sie erschlugen das Menschenvolk, und weder

noch konsequent in ihre physische Gestalt transformiert. Auf diese Weise setzt die physische Metamorphose einen Schlusspunkt unter die psychopathologische und sozialpsychologische Entwicklung Sigmunds und Sinfjötlis, die damit einen letzten Schritt der sozialen und moralischen Desintegration ausführen […]: der Werwolftöter Sigmund und der Schlangentöter Sinfjötli verwandeln sich auch physisch in Ungeheuer, nachdem sie durch jahrelanges wahrhaft asoziales Hausen in der Wildnis und diverse Mordtaten […] den Weg der psychischen Metamorphose längst gegangen sind.“ 108 Weiser 1927, S. 45. 109 „Þeir Sigmundr foru i hamina ok mattu eigi or komazt“. 110 „Þann dag mattu þeir eigi komazt or ulfahǫmunum.“ 111 „Ylfinga nið“. 112 „at sé Ylfingar austan komnir“. 113 Zur Identifikation der Ylfinge vgl. Schneider 1933, S. 293–296. 114 Als Begriff übernommen von Otto Höfler. Vgl. z. B. Höfler 1976, S. 301. Auch Hermann Reichert spricht vom Wolf als dem „Sympathietier von Sigurds Familie“ (Reichert 2003, S. 34). 115 Vgl. Simek 2006, S. 323–324; Schjødt 2006, S. 889–891. Gegen eine Verbindung der Berserker zu Odin dagegen Liberman 2003, S. 339–340.  















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Feuer noch Stahl konnte ihnen etwas anhaben. Man nannte dies ‚Berserkergang‘ (Hkr Ynglinga saga 6).116

Nun lässt sich eine Verbindung zwischen den Völsungen und ihrem Schutzahn Odin festmachen. Für Sinfjötli im Speziellen besteht diese Nähe aus der Entrückung seines Leichnams durch den wohl mit Odin zu identifizierenden Fährmann und der gesonderten Position, die er zusammen mit seinem Vater in Walhall erfährt, wie es in den Eiríksmál aufgezeigt ist.117 Ein indirekter Odinsauftritt lässt sich weiterhin für die Überbringung des Heilblattes durch den Raben feststellen, die ja an die schwerzugängliche Passage der Heilung respektive Wiedererweckung Sinfjötlis gekoppelt ist. Ein weiteres Merkmal einer Männerweihe oder einer Zugehörigkeit zu einem speziellen Bund ist das rituelle „Anlegen eines Ringes“.118 Tatsächlich finden wir Ringe versteckt in der Sinfjötliepisode, nämlich bei den beiden Königssöhnen, die die Wolfspelze vor den beiden Ächtern innehaben: Sigmund und Sinfjötli „fanden aber ein Haus und in dem Hause zwei Männer schlafend mit dicken Goldringen. Sie waren ins Mißgeschick geraten, denn Wolfsbälge hingen über ihnen; […] sie waren Königssöhne“ (Vs 8).119 Die Nennung dieser Ringe steht in auffälliger Textnähe zu den verwunschenen Fellen. Die Erzählung spart allerdings jegliche Erklärung zu den beiden Königssöhnen aus, die die Felle offensichtlich vor dem Vater-Sohn-Paar getragen haben.120 Es wird nur signalisiert, dass eine Art Zyklus wieder in Gang gesetzt wird, wenn erwähnt wird: „den Wolfsbälgen haftete dieselbe Eigenschaft wie früher an“ (Vs 8).121 Es bleibt nun die Frage offen, ob die beiden Königssöhne eine weitere Funktion erfüllen oder was genau der Hintergrund der eigentümlichen Platzierung dieser Felle ist. Sie hängen über den Schlafenden wie ein Unheil, gleich einem Damoklesschwert. Wenn es wirklich einen Zyklus des Wolfsfelltragens gibt, dann wird er von Sigmund und Sinfjötli auf alle Fälle durch das Verbrennen der Felle beendet. Jedes weitere Detail über die mysteriösen Vorgänger verdunkelt der Verfasser. Nun ist aber zu erwähnen, wie die gerade benannten Motive im Rest der Episode konnotiert sind:  

116 „Óðinn kunni svá gera, at í orrostu urðu óvinir hans blindir eða daufir eða óttafullir, en vápn þeira bitu eigi heldr en vendir, en hans menn fóru brynjulausir ok váru galnir sem hundar eða vargar, bitu í skjǫldu sína, váru sterkir sem birnir eða griðungar; þeir drápu mannfólkit, en hvártki eldr né járn orti á þá; þat er kallaðr berserksgangr.“ 117 Vgl. Höfler 1952(b), S. 184–187. Siehe 3.1.5. Vgl. auch Höfler 1934, S. 197: „Die ‚Werwölfe‘ Sigmund und Sinfjǫtli sind Óðinkrieger. So können wir die dämonischen Kämpfer nennen, deren Leben in geheimnisvoller Weise dem dämonischen Gott geweiht war.“ 118 Weiser 1927, S. 36. 119 „enn þeir finna eitt hus ok tva menn sofandi i hussinu med digrum gullhringum. Þeir hofdu ordit fyrir uskopum, þviat ulfahamir hengu i husinu yfir þeim. […] Þeir voru konungasynir.“ 120 Vgl. Teichert 2009, S. 288: „Die Königssöhne sind lediglich ein Mittel zum Zweck, um die WerwolfErzählung in Gang zu setzen.“ 121 „ok fylgdi su nattura, sem adr var“.  







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Die Rede ist von zwei weiteren Paaren an Königssöhnen. Dies sind alles Söhne Siggeirs und sie werden jeweils als den Völsungen an Heroismus unterlegen dargestellt – die ersten beiden werden nach nichtbestandener Prüfung getötet, die anderen von Sinfjötli während des Racheaktes. Weiterhin finden wir Goldringe beim Spiel von Siggeirs Söhnen: „Signy und der König hatten zwei Söhne, jung an Jahren, die spielten mit Goldringen am Boden der Halle, ließen die Ringe über den Estrich rollen und sprangen ihnen nach“ (Vs 8).122 Der Goldring an sich ist ein Symbol der herrschaftlichen Macht. An dieser Stelle kontrastieren sie Siggeirs Herrschaft im Vergleich zur Besitzlosigkeit und dem Ächtertum der überlebenden Völsungen. Das Spiel der Kinder mit den Ringen symbolisiert eine Verweichlichung und einen Überschuss an Macht und Reichtum, dem das karge, allerdings heroisch idealisierte Leben im Wald gegenübergestellt wird.123 Für die mit Goldringen geschmückten Königssöhne im Missgeschick, die ursprünglichen Träger der Wolfsfelle, wird allerdings keine solche Semantik expliziert. Motive, die an Berserker- und Weihekriegertum erinnern, sind über die komplette Sinfjötliepisode gestreut. Ein expliziter Hinweis findet sich allerdings niemals und gewisse Details führen auch wieder von der Berserkertheorie weg.124 Es bleibt dem Rezipienten überlassen, die Details zusammenzusetzen. Ob der mittelalterliche Hörer oder Leser jedoch das entsprechende Grundwissen hatte, diese Elemente mit Initiationsriten und Berserkertum in Verbindung zu bringen, kann nicht beantwortet werden, noch ob die Streuung der Elemente beabsichtigt ist.  

122 „Þau Signy ok konungr eigu II baurn ungh at alldri. Þau leika ser a golfinu at gulli ok renna þvi eptir golfinu hallarinnar ok hlaupa þar eptir.“ 123 Siehe 6.2.3. 124 Vgl. Samson 2011, S. 168 f.: „Il est bien difficile […] de déterminer si ce type de parcours ‚initiatique‘ comportait une dimension religieuse, associée au culte d’ún dieu particulier. Sur ce point, la Vǫlsunga saga […] ne fournit guère d’informations précises. Ce récit conserve toutefois le souvenir de thèmes mythiques et légendaires très anciens, présentant des affinités indéniables avec le phénomène des guerriers-fauves. L’accueil réservé à Sigmundr et Sinfjǫtli au sein de la Valhǫll rappelle en effet l’affiliation des berserkir à la figure tutélaire d’Óðinn; […] la métamorphose de Sigmundr et Sinfjǫtli ne se confond pas totalement avec le phénomène du berserksgangr: le texte de la Vǫlsunga saga indique clairement les origines magiques de cette mésaventure. En effet, les peaux de loup utilisées par le père et le fils sont enchantées. Ce sortilège intervient de manière décisive dans le processus de transformation subi par les deux personnages. Les figures de Sigmundr et Sinfjǫtli – revêtus de fourrures et menant tous deux l’existence de loups – ont été parfois raprochées des combattants décrits dans les sagas sous le nom d’ulfheðnar. Mais les sources historiographiques n’établissent aucune corrélation entre la magie et l’accoutrement des guerriers-fauves“. Vincent Samson spricht ebenso von den Zuordnungsschwierigkeiten. Die Motive sind in gewisser Weise vorhanden, doch zumeist nicht konkret genug. Weiterhin sei die Verwandlung der beiden Rächer mit Magie verbunden – die Felle sind fluchbeladen –, was den historiographischen Berserkerüberlieferungen widerspräche.  











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4. Heldengenese

4.1.4 Höfische Inhalte von Sigurds Erziehung Einen Kontrast zum Rächer- und Wolfsleben Sinfjötlis bietet das Jugendmodell, das uns in der Form der Erziehung Sigurds präsentiert wird. Spricht man von den höfischen Elementen der Völsunga saga, so kommt einem mitunter die Passage in den Sinn, da von Sigurds Unterweisung durch Regin berichtet wird: „Regin hieß Sigurds Pflegevater, er war Hreidmars Sohn; er lehrte ihn Fertigkeiten, Brettspiel und Runen und in mancherlei Sprachen zu reden, wie es damals geziemend war für Königssöhne, und mancherlei andere Dinge“ (Vs 13).125 Später, als Regin Sigurd über die mythischen Hintergründe des Schatzhortes aufklärt, webt er auch eine kurze Zusatzinformation über die Dichtkunst im Stile der Skáldskaparmál126 ein: „Das Gold wird seitdem Otterbuße genannt, und hiervon sind dichterische Umschreibungen genommen“ (Vs 14).127 Elemente dieser höfisch anmutenden Erziehung128 finden wir auch im mittelhochdeutschen Tristan Gottfrieds von Straßburg. Dort wird die ritterliche Ausbildung des Jungen expliziert: Seine liebe Mutter wandte sich | ihm mit so reizendem Eifer zu, | daß sie es nicht zuließ, | daß er auch nur einmal | hart aufträte. | Als sie das mit ihm | bis zu seinem siebenten Lebensjahr getrieben hatte, | da er Sprache und auch Benehmen | schon verstehen konnte und auch verstand, | nahm sein Vater, der Marschall, ihn | und vertraute ihn einem klugen Manne an. | Mit diesem sandte er ihn dann | ins Ausland, damit er Fremdsprachen lerne. | Außerdem sollte er sofort | mit dem Lesen von Büchern beginnen | und das intensiver betreiben als | alle anderen Studien. | […] | Neben dem Studium | der Bücher und Sprachen | widmete er viele Stunden | allen Arten des Saitenspiels. | […] | Alle höfischen Gesellschaftsspiele | beherrschte er gut und kannte viele (Tristan, 2051–2122).129

Vorgestellt wird hier eine idealtypische Kindeserziehung nach höfischen Maßstäben. Von der Ausbildung in Kampffertigkeiten ist in beiden Erziehungsbeschreibungen nicht explizit die Rede.

125 „Reginn het fostri Sigurdar ok var Hreidmars son. Hann kenndi honum iþrottir, tafl ok runar ok tungur margar at męla, sem þa var titt konungasonum, ok marga luti adra.“ 126 Vgl. Sskm 39: „Aus welchem Grund wird Gold Otterbuße genannt?“; „Sú er sǫk til þess at gull er kallat otrgjǫld“. Es folgt die Ursprungsgeschichte des Schatzhortes. 127 „Gullit er siþan kallat ottursgiolld ok her dęmi af tekinn.“ 128 Vgl. Reichert 2001, S. 223: „Dieses Zusammenspiel von künstlerischen, handwerklichen, sportlichen und kriegerischen Fähigkeiten entspricht dem M[annesideal] der hochma. Dichtungen in Mittelund W.-Europa“. 129 „sîn süeziu muoter leite an in | mit alsô süezem vlîze ir sin, | daz s’ime des niht engunde, | daz er ze keiner stunde | unsanfte nider getraete. | Nu sî daz mit im haete | getriben unz an sîn sibende jâr, | daz er wol rede und ouch gebâr | vernemen kunde und ouch vernam, | sîn vater der marschalc in dô nam | und bevalch in einem wîsen man. | mit dem sante er in iesâ dan | durch vremede sprâche in vremediu lant. | und daz er aber al zehant | der buoche lêre an vienge | und den ouch mite gienge | vor aller slahte lêre. | […] | Under disen zwein lernungen | der buoche unde der zungen | sô vertete er sîner stunde vil | an iegelîchem seitspil. | […] | aller hande hovespil | diu tete er wol und kunde ir vil.“  

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4.1 Heldenerziehung

Sigurd wächst am Hofe seines Ziehvaters, König Hjalprek, auf. Von diesem und seinem Umfeld erfährt er Liebe und Zuneigung: „Er ward dort bei König Hjalprek mit großer Liebe aufgezogen“ (Vs 13).130 Außerdem: „Sigurd wuchs dort auf bei Hjalprek, und jedes Kind liebte ihn“ (Vs 13)131 sowie „Sigurd wurde, je älter er ward, desto beliebter bei allen, so daß ihn jedes Kind herzlich liebte“ (Vs 13).132 Regin ist sowohl in der Völsunga saga als auch in den Heldenliedern eine problematische Figur. Nichtsdestotrotz wird in den Reginsmál die Zuneigung geschildert, die er seinem Zögling entgegenbringt: „Er liebte ihn sehr“133 (Rm. Einleitungsprosa).134 In der Heimirepisode heißt es: „Sigurd und Alsvinn liebten sich sehr, es war ein jeder dem andern hold“ (Vs 24).135 Solche Zurschaustellungen von Emotionalität wirken zunächst wie ein Fremdkörper in der kühlen heroischen Atmosphäre der Erzählungen. Im Nornagests þáttr verhält es sich ähnlich und da wird die Beliebtheit Sigurds begründet: „Alle liebten ihn sehr, denn er war freundlich, leutselig und freigebig mit Gold gegen uns“ (Norn 349)136 sowie auch Nornagest in hohem Ansehen steht: „Er war ein Mann von höfischen Sitten und wurde deshalb von den meisten geliebt und geehrt“ (Norn 347).137 Die Zuneigung, die beide Figuren erfahren, wird im þáttr als Konsequenz ihres Wesens dargestellt. Bei Sigurd ist es die Zurschaustellung seiner Herrschertugenden, bei beiden aber die Erfüllung eines höfischen Ideals. Nun ist der þáttr ein Text von klar christlicher Färbung,138 doch auch in der Helgakviða Hundingsbana wird gezeigt, dass die Jugend Helgis eine nach moderner Vorstellung positive ist. Er wächst auf „an der Brust der Freunde | […], im Glanze des Glückes“ (HH. 9).139 Sigurd erfährt eine ganzheitliche Erziehung, die deutlich höfische Züge enthält – wie sie mitunter im Tristan exemplifiziert werden –, allerdings auch Zugang zu Geheimwissen in Form der Runen.140 Sein Erzieher ist die enigmatische Figur Regin, ein poly 





130 „Hann var þar fęddr med Hialpreki konungi af mikilli ast.“ 131 „Sigurdr ox þar upp med Hialpreki, ok unni hvert barnn honum.“ 132 „Sigurdr var þvi astsęlli, sem hann var ellri, af aullu folke, sva at hvert barn unni honum hugastum.“ 133 Eine Entsprechung gibt es in der Hrólfs saga kraka: „Regin hieß ihr Erzieher, und er liebte die Knaben sehr“; „Reginn hét fóstri þeira ok unni hann sveinunum mikit“ (Hrólf 1). 134 „elscaði hann miǫc.“ 135 „Þeir undu ser nu vel, ok var hvarr audrum hollr.“ 136 „Allir elskudu hann miok þuiat hann uar bæde blidr ok litilatr ok milldr af fe uit oss.“ 137 „hann uar sidsamr madr ok latadr uel. uar hann ok þokkasamr af flestum monnum ok virdizst uel.“ 138 Vgl. Hollander 1916, S. 105–108; vgl. Würth 1991, S. 97–98. 139 „fyr vina brjósti | […] ynðis ljóma”. 140 Dieses Bildungsideal findet sich auch in der Strophe Kali Kolssons in der Orkneyinga saga: „Allen biet’ ich’s im Brettspiel, | bin der Runen kundig, | Bücher versteh’ und Schmiedwerk, | Skilauf kann wie niemand. | Schieß’ und rudre rüstig, | Recht auch meist’r ich, dächt ich, | Saitenspiel und Skaldsang: | So neun Künst’ erfreu’n mich“; „Tafl em ec aurr at efla, | iþrottir kann ec niu, | tyni ec traulla runum, | tiþ er mer boc ok smiþir, | skriþa kann ec a skipum, | skyt ec ok reg, sva at nytir, | hvartveggia kann ec hyggia | harpslatt ok bragþattu“ (Orkn 58).  



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valentes Geschöpf, das selbst mit einem Fuß in der mythischen Welt steht.141 Als Abkömmling von Riesen und Gestaltwandlern (vgl. Vs 14), ist er auffällig an Fertigkeiten und Aussehen: „Er war kunstfertiger als jeder andere Mann und ein Zwerg an Wuchs. Klug war er, grimmig und zauberkundig“ (Rm. Einleitungsprosa).142 Der Raum, in dem diese Ausbildung stattfindet, ist allerdings der Königshof Hjalpreks. Verglichen hiermit wirkt die als Gegenmodell konstruierte Erziehung Sinfjötlis einseitig. Anstatt Zuneigung und Liebe ist er Härte und Grausamkeiten ausgesetzt, die ihn durch schmerzhafte Prüfungen auf ein einziges Ziel vorbereiten sollen. Die kühnen Taten seiner Lehrjahre sind Raubüberfälle außerhalb des zivilisierten Raumes und er erwirbt mit ihnen keine Herrschertugenden – wie Sigurd –, sondern wird ausschließlich zum Zweck der Rache gezeugt und herangezogen. Sigurd erlernt Fertigkeiten, die Königssöhnen angemessen sind. Wie allerdings Sinfjötli mit Königssöhnen verfährt, hat die Racheepisode gezeigt. Auf der Seite Sigurds wird ein vielseitiges, herrschaftsfähiges und teils realistisches Erziehungsmodell präsentiert, auf der Seite Sinfjötlis das heroisch überformte Bild eines geächteten Zerstörers im unhöfischen Raum gezeichnet.143 Die große Liebe, die Sigurd entgegengebracht wird, und die Sorgfalt seiner Erziehung erinnern an die Jugendbeschreibung des Siegfried aus dem Nibelungenlied. Diese trägt „arthurische Resonanzen“144 und läuft ganz nach höfisch-ritterlicher Manier ab,145 nämlich im Rahmen von für Helden auf den ersten Blick eigentümlich anmutender Behütetheit: „Niemals ließ man den Jungen ohne Aufsicht ausreiten.146 Siegmund und Sieglinde gaben den Auftrag, ihn prächtig zu kleiden. Auch umgaben ihn erfahrene Männer, die sich auf feine höfische Sitte verstanden. So konnte er sich auf die Herrschaft über Land und Leute vorbereiten“147 (Nl 24,1–4).148 Dazu kommt seine Kampf 



141 Jens Peter Schjødt spricht von einem Unterweltbezug der Figur auf Grund ihrer Natur als Zwerg (vgl. Schjødt 2008, S. 287). Lotte Motz bringt Regin und die Figur des Zwergs im Allgemeinen mit der des Weisen, des Priesters und des Initiationshelfers in Verbindung (vgl. Motz 1983, S. 95–96; zur Initiation Sigurds siehe 4.2.4). Vgl. dazu auch Miller 2000, S. 260–272, bes. S. 268: „The smith deals with the initiation of the hero not as a guardian but as a prover, or tester, and also as one who may help to form the vital being of the hero in his last, fully emergent phase or imago.“ 142 „Hann var hveriom manni hagari, oc dvergr of vǫxt; hann var vitr, grimmr oc fiolkunnigr.“ 143 Vgl. Deichl 2016, S. 225–234. 144 Millet 2008, S. 202. 145 Vgl. Panzer 1955, S. 289: „Es gibt den ersten Beleg für das Einströmen der ritterlich-höfischen Welt in unser Lied und ist ohne Zweifel durchweg Erfindung des letzten Dichters.“ 146 Vgl. hierzu die respektive Passage in Gottfrieds Tristan (Tristan 2051 ff.). 147 Im Nibelungenlied findet sich allerdings keine Beschreibung von Sprach- oder Brettspielunterricht. Vgl. hierzu Panzer 1955, S. 288: „Von einer Ausbildung in geistigen Dingen, fremden Sprachen, Musik, Schachspiel, Lesen und Schreiben ist keine Rede. Der Abstand dieser Schilderung von der, die etwa Gottfried von Tristans Erziehung gibt, ist weit. Mag sein […], daß hier mit Absicht altertümlicheres, germanisches Denken vom Dichter zu gestalten versucht war.“ 148 „Vil selten âne huote man rîten lie daz kint. | in hiez mit kleidern zieren Sigmund und Siglint. | sîn pflâgen ouch die wîsen, den êre was bekannt. | des mohte er wol gewinnen beide liute unde lant.“  

















4.1 Heldenerziehung

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kraft und Weltversiertheit149 („Er durchstreifte viele Reiche, um sich kämpferisch zu erproben. Um seine Kraft zu beweisen, ritt er in zahllose Länder“, Nl 21,2–3),150 die – neben seiner standesgemäßen Erziehung – vor allem aber durch seine eigene heroische Natur begründet ist: „Man erzog ihn so sorgfältig, wie es seinem Stand zukam. Doch wirklich vorbildlich wurde er aus eigener Veranlagung“ (Nl 23,1–2).151  



4.1.5 Vaterlosigkeit Die südgermanische Variante des Stoffes lässt Siegfried gänzlich nach den Maßstäben seines Adelsstandes aufwachsen und thematisiert demnach einen Sachverhalt nicht, der in den nordgermanischen Fassungen zum Problem stilisiert wird: Sigurd erhält zwar eine holistische Erziehung und wird mit Liebe überschüttet, wächst aber eben nicht im Schoße der Familie – im Gegensatz zu Helgi nicht ‚an der Brust der Freunde‘ – auf. Dieser Sachverhalt der Vaterlosigkeit und des Aufwachsens außerhalb der Sippe der Völsungen – diese sind zu diesem Zeitpunkt bis auf Sigurd ausgelöscht – wird an mehreren Stellen von den Textfiguren stigmatisiert. Brynhild wirft Gudrun während des Königinnenzankes vor: „dein Mann aber war ein Knecht König Hjalpreks“ (Vs 30).152 Fafnir sagt zu Sigurd: „Das weiß ich, daß du, wenn du bei deinen Gesippen aufgewachsen wärst, zornig zu kämpfen wissen würdest. Aber das ist höchst wunderbar, daß ein Kriegsgefangener, der Ketten trug, sich erkühnt haben sollte, gegen mich zu kämpfen – denn Unfreie sind immer voll Angst im Kampfe“ (Vs 18).153 Auch von Regin wird Sigurd einem „Roßknecht“ (Vs 13)154 und „Dorfjungen“ (Vs 13)155 gleich genannt. Die Jugend Sigurds ist also keinesfalls so makellos, wie sie auf den ersten Blick erscheint.156 Solange sich die Erzählung im höfischen Rahmen von Hjalpreks Umfeld bewegt, erfüllt Sigurds Erziehung das Idealbild. Bewegt sie sich aber aus diesem Raum heraus, wird Sigurds Jugend defizitär. Seine Fertigkeiten werden nicht länger thematisiert, sondern nur noch das Fehlen anderer Sippenmitglieder und sein Aufwachsen in einem fremden Kollektiv.  











149 Vgl. zu Siegfrieds doppelter Jugend Millet 2008, S. 202: Die Darstellung von Siegfrieds Jugend im Nibelungenlied lasse „keinen Raum für die Heldentaten, die Sifrit nachgesagt werden“. 150 „er versuochte vil der rîche durch ellenthaften muot. | durch sînes lîbes sterke er reit in menegiu lant.“ 151 „Man zôch in mit dem vlîze als im daz wol gezam. | von sîn selbes muote waz tugende er an sich nam!“ 152 „þinn bonde var þręll Hialpreks konungs.“ 153 „Veit ek, ef þu vęx upp med frendum þinum, at þu mundir kunna at vega reidr. Enn þetta er meire furda, er einn bandingi hertekinn skal þorat hafa at vega at mer, þviat farr hernuminn er frękn til vigs.“ 154 „hestasveinn“. 155 „þorpara sveinar“. 156 Vgl. Byock 1990, S. 10: „In the saga, Volsungs seldom have dependable blood relations. Sigurd grows up without a father, an element of his upbringing for which the dragon mocks him.“  



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Generell legt die Völsunga saga in jeder Generation besonderes Augenmerk darauf, ob der jeweilige Nachkomme bei seiner Sippe aufwächst oder aber nicht. So heißt es bei dem bereits erwachsenen Sigi, er müsse die Heimat seines Vaters verlassen, nachdem er den Totschlag am Knecht begangen hat: „und er durfte jetzt nicht in der Heimat bleiben bei seinem Vater“ (Vs 1).157 Sein Sohn Rerir leidet nicht unter einem solchen Missstand: „er wuchs da auf bei seinem Vater“ (Vs 1).158 Die Saga legt großen Wert darauf, die Idealität der heldischen Jugend zu dokumentieren. Als genealogisches Werk, das mehrere Generationen der heroischen Völsungensippe betrachtet, zeigt sie Probleme in der Sippenkontinuität auf. Obwohl das Aufwachsen abseits der angestammten Familie einen eigenen Heldentopos darstellt,159 impliziert der Erzähler der Saga die Nonidealität dieser Verhältnisse. Die Stelle, an der Sinfjötli, obwohl er nicht nach der Art der Völsungen aufwächst, auf seine eigene Abstammung referiert, ist deswegen umso auffälliger. Das Sippenbewusstsein entstammt seinem Wesen und entsteht aus ihm heraus. Sigurds Identität dagegen wird ihm von außen gegeben. Es ist König Hjalprek, dem Sigurds körperliches Merkmal auffällt („Der König freute sich, als er die scharfen Augen sah, die er im Kopf hatte, und sagte, keinem würde er ähnlich oder gleich werden“, Vs 13),160 Regin weist Sigurd auf sein väterliches Erbe hin (es „fragte Regin Sigurd, ob er wisse, wie großes Gut sein Vater gehabt habe, und wer es aufbewahrte“, Vs 13)161 und spricht ihm letztlich sogar die Gesinnung seiner Sippe ab: „So würde es auch deine früheren Gesippen gedünkt haben; und obwohl die Art der Völsunge an dir ist, so wirst du doch nicht ihre Sinnesart haben, die da zuerst genannt werden, wenn man von tüchtigen Leuten spricht“ (Vs 13).162 Im Nornagests þáttr ist es der Ziehvater, der Sigurd über dessen Herkunft unterrichtet: „Er erzählte ihm von seinen Vorfahren und von wunderbaren Begebenheiten“ (Norn. 349).163 Der Anschein entsteht, Sigurd wisse von all den Figuren am wenigsten über die eigene Sippe Bescheid. Die Sippenidentität wird von Anderen auf ihn appliziert.164  



157 „ma hann nu eigi heima vera med fedr sinum.“ 158 „Hann véx þar upp med fedr sinum“. 159 Vgl. zur bedrohten Jugend des Helden in de Vries’ Heroenbiographie de Vries 1961, S. 284–286. Vgl. generell zum „Modell eines Heldenlebens“ (de Vries 1961, S. 281) de Vries 1961, S. 281–301. Ebenso die daran vorgenommenen Modifikationen Teicherts (vgl. Teichert 2008, S. 40–48) und Dean A. Millers Modell (vgl. Miller 2000, S. 70–132). Weiterhin führt Peter Buchholz Eigenheiten und Hauptstationen der Heldenbiographie auf (vgl. Buchholz 1980, S. 79–111. 160 „Konungrinn vard gladr vid, er hann sa þau inn haussu augu, er hann bar i haufde, ok sagde hann aungum mundu likan verda eda samiafnan“. 161 „spurdi Reginn Sigurd […], ef hann vissi, hversu mikit fe fadir hans hefdi att, eda hverir þat vardveittu.“ 162 „sva mundi þotth hafa hinnum fyrum frendum þinum. Ok þott Volsungha ętt se at þer, þa munþu eigi hafa þeirra skaplynde, er fyrst eru taldir til allz frama.“ 163 „Hann sagde þa fra forelldrum sinum ok suo atburdum undarligum“. 164 Vgl. zur sich im Körper manifestierenden Sippenidentität Schulz 2015, S. 97–98.  















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An späterer Stelle wird Sigurds Vaterlosigkeit thematisiert. Im Gespräch mit dem Drachen Fafnir hält dieser Sigurd die Umstände seines Aufwachsens vor. Dieser antwortet dem Ungeheuer: „Du wirfst mir vor, daß ich fern von meinen Gesippen weilte; aber ob ich auch kriegsgefangen war, so trug ich doch keine Ketten; und du hast es gefühlt, daß ich frei war“ (Vs 18).165 Wie Sinfjötli in seinen Scheltreden mit Granmar beziehungsweise Gudmund, muss sich auch Sigurd die Missstände seiner Jugend vorwerfen lassen. Seinem Argument bezüglich seines eigenen Kindesalters widerspricht er im Gespräch mit Fafnir sentenzenhaft: „keiner ward noch kühn als Greis, der in der Kindheit kraftlos war“ (Vs 18).166 Sigurds Selbstauskunft bezüglich seines Namens und seiner Sippe („Mein Geschlecht ist den Menschen unbekannt. Ich heiße edles Tier, habe keinen Vater noch Mutter, und allein bin ich gewandert“, Vs 18, vgl. Fm. 2)167 trägt wahre Züge hinsichtlich seiner Herkunft und spiegelt durchaus wider, wie er von den anderen Textfiguren wahrgenommen wird: als sippenloser Enteigneter, ungerecht der eigenen Abstammung. In der Aussage finden sich allerdings auch Reminiszenzen einer anderen Jugendgeschichte Sigurds, die in der Þiðreks saga überliefert ist.168 Der junge Sigurd wird dort von einer Hindin aufgezogen (vgl. Þiðr 267). Nach zwölf Monaten ist er „so groß und so stark wie andere Kinder von vier Jahren“ (Þiðr 267)169. Der Schmied Mimir170 nimmt den verwilderten Jungen bei sich auf. Mit neun beziehungsweise zwölf Jahren ist der junge Sigurd „so groß und stark, daß man seinesgleichen nicht fand“ (Þiðr 269).171 Sein Wesen divergiert allerdings stark von dem, wie es in den ansonsten bisher untersuchten Texten präsentiert wird: „Er war so schwierig im Umgang, daß er Mimes Schmiedeknechte zerbläute und verdrosch, so daß kaum einer es bei ihm aushielt“ (Þiðr 269).172 In der Welentsage der Þiðreks saga führt Sigurds Rabaukengemüt dazu, dass Welent seine Erziehung bei Mimir abbricht (vgl. Þiðr 84). In handwerklichen Dingen erweist sich Sigurd als völlig unwillig und ungeeignet. Er benutzt seine große Kraft nur zur Zerstörung und nicht, um damit Dinge zu fertigen (vgl. Þiðr 270). So sagt sein Ziehvater zu ihm: „Noch nie sah ich einen Menschen schrecklicher und ungeschickter zuschlagen! Was auch aus dir werden mag, zum Handwerk wirst du nie taugen“ (Þiðr 270).173 Sigurd sitzt darauf  



165 „Bregdr þu mer, at ek vera fiarre minum frendum? En þott ek vera hernuminn, þa var ek þo eigi heptr, ok þat fanntu, at ek var laus.“ 166 „farr er gamall hardr, ef hann er i bernsku blautr.“ 167 „Ęth min ęr monnum ukunnigh. Ek heite gaufugt dyr, ok a ek engan faudur ne modur, ok einn saman hefi ek farit.“ 168 Vgl. Heusler 1918–1919, S. 173. Zur Idee der Anspielung auf die alte deutsche Sagenform von Sigurd als Findelkind vgl. Kjær 1924, S. 59. 169 „sva stercr oc mikill. sem œnnur born .iiij. vetra gomvl.“ 170 Der Ziehvater trägt in der Þiðreks saga den Namen Mimir, Regin hingegen heißt der Drache. 171 „sva mikill oc sterkr at hans maka sa ængi maðr.“ 172 „han er sua illr viðr æignar at han ber oc brytr sveina mimis sva at varla þickir vært hia honum.“ 173 „alldregi sa ec .i. manz hœg ogvrlegra ne ohaglegra en þetta. oc huat sem annat verðr af þer þa ma þic ækci nyta til iðnar.“  



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bei seiner Ziehmutter in der Stube und brütet (vgl. Þiðr 270). Auch hier wächst der junge Sigurd fernab von seinem eigentlichen väterlichen Erbe auf, wird aber nach heroischem Motiv174 von einem Tier im Wald aufgezogen. Sein späterer Ziehvater ist zwar nicht so mythisch konnotiert wie die Figur Regins, doch sind zum Einen sein Ruf, der Geschickteste aller Menschen zu sein, zum Anderen seine Verwandtschaft zum sich in einen Drachen verwandelnden Hexer Regin (vgl. Þiðr 268) Zeichen für seine außerordentliche Natur. Bei der Beschreibung Sigurds wird dessen feindseliges Wesen und seine Unfähigkeit sich anzupassen augenfällig. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten Schilderungen ist Sigurd keinesfalls vielversprechend. Die Heldentaten der Jugend werden durch Prügeleien und mutwillige Zerstörung ersetzt. Er wird gemaßregelt und sitzt verstimmt bei seiner Ziehmutter. Sigurd fällt in ein anderes Figurenmuster, nämlich in das des Spätzünders und ‚Aschepusters‘.175 Der Knabe ist ein unliebsamer Sonderling, der sich erst später, ganz plötzlich und aus sich selbst heraus, zu größtem Ruhm aufschwingt. Wenn Sigurd dem Drachen Fafnir in der Völsunga saga und den Fáfnismál antwortet, sippenlos, allein und ein Wundertier zu sein, so antwortet zum Teil der Sigurd der Þiðrekstradition,176 der von einer Hindin aufgezogene Sohn der Wildnis.177 Und generell umgibt die Figurd Sigurds eine wiederholt auftretende Hirschsymbolik. Das sind nicht nur seine Jugendgeschichte in der Þiðreks saga und seine Selbstnennung als ‚gǫfugt dýr‘, sondern auch andere Passagen, in denen er mit einem Hirsch verglichen oder in Verbindung gebracht wird, etwa als Gudrun in der Völsunga saga ihren toten Gatten beklagt: „Denn so übertraf er alle Männer wie Gold das Eisen, oder wie Lauch alles Gras überragt, oder der Hirsch andere Tiere“ (Vs 34).178 Dassel-

174 Abermals ein Punkt in de Vries’ Heldenlebenmodell (vgl. de Vries 1961, S. 285). Zum Figurentypus des Bärensohnes, des in der Wildnis von Tieren aufgezogenen Helden vgl. Schröder 1921, S. 39 und Kruse 2017, S. 308 f. Rory McTurk wendet de Vries’ ‚biographical heroic pattern‘ auf die Figuren Ragnar und Aslaug der Ragnars saga an, nimmt dabei aber mehrmals Bezug auf Motive der Völsungensage (vgl. McTurk 1991, S. 62–89). 175 Siehe 2.1.1. 176 Auf eine gedankliche Verwandtschaft mit der Tradition der Þiðreks saga weist vielleicht auch die dreimalige Nutzung des Begriffes „Sveinn“ (Fm. 2), ‚Junge, Knabe‘ in der zweiten Strophe der Fáfnismál hin. Die Þiðreks saga kennt Sigurd als „Sigurðr suein“ (Þiðr 291), ‚Jung-Sigurd‘. 177 Zu gesammelten Interpretationen des Ausdrucks ‚gǫfugt dýr‘ vgl. Kjær 1924, S. 54–55. Kjær selbst deutet das ‚gǫfugt dýr‘ als eine Umschreibung für den Namen Sigurds, wobei das ‚gǫfugt‘ dem ‚Sig‘-Element entspreche und das ‚dýr‘ auf einen rekonstruierten Tiersammelbegriff hinweise, der Sigurds zweites Namensglied erklären würde (vgl. Kjær 1924, S. 56–59). Uneinleuchtend scheint mir die Argumentation Magnus Olsens, der in der Antwort Sigurds an den Drachen eine Form eines Sprachspieles sieht, bei dem sich Sigurd mit einem verklausulierten Kosenamen „Siggi“ (Olsen 1952, S. 32) vorstellt, der aber gleichzeitig Eber oder Wildschwein bedeute und deswegen durch den Begriff des ‚gǫfugt dýr‘ umschrieben würde (vgl. Olsen 1952, S. 30–34). Sehr gut zur restlichen Hirsch-Symbolik der Sigurdfigur passt Otto Höflers Lesung: „Herrlicher Hirsch heiße ich“ (Höfler 1961, S. 52). Vgl. dazu auch Schröder 1921, S. 47. 178 „Sva bar hann af aullum monnum sem gull af iarne eda laukr af audrum grausum eda hiortr af auþrum dyrum“.  





















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be Bild finden wir im zweiten Gudrunlied: „So war Sigurd neben den Söhnen Gjukis, | wie grüner Lauch über das Gras gewachsen, | oder wie der hochbeinige Hirsch über wilde Tiere | oder glutrotes Gold über graues Silber“ (Gðr. II 2).179 Auch der ihm angesippte Helgi wird von seiner Witwe nach seinem Tod mit einem solchen Vergleich gerühmt,180 der eine Tiermetonymie enthält: „So ragte Helgi über die Herrscher | wie eine herrlich gewachsene Esche über den Dornbusch | und wie das Hirschkalb, taubenässt, | das sich über allen Tieren erhebt; | das Geweih glänzt selbst gegen den Himmel“ (HH. II 38).181 Nun ließe sich dagegen halten, dass die Metonymie nur dazu diene, Sigurd oder eben an der respektiven Stelle Helgi als besonders herausragende Figur zu inszenieren. Der Vergleich in der Preisstrophe allein reicht nicht, um Sigurd in den Hirschkontext zu stellen. Schließlich ist er ja auch kein Lauch und nicht aus Gold. Doch weisen auch andere Belege auf eine Hirsch- oder doch zumindest Tierkonnotation der Sigurdfigur hin.182 Das Nibelungenlied verwendet eine Tiermetapher für Siegfried, der von Hagen während einer Jagd ermordet wird: „Um das Tier, das sie erlegten, weinten edle Frauen“ (Nl 1002,3)183 und in der Völsunga saga setzt der sterbende Sigurd sich selbst mit einem Tier in Relation: „Wenn ich das gewusst hätte und mich mit meinen Waffen auf meine Füße stellen könnte, dann sollten viele ihr Leben verlieren, ehe ich fiele, und all die Brüder erschlagen werden; noch schwieriger sollte es ihnen werden mich zu erschlagen als den größten Wisent oder Wildeber“ (Vs 32).184 Die Þiðreks saga, die die Ermordung des Helden auch in den Rahmen einer Jagdszene setzt, spricht ganz deutlich vom toten Sigurd als erjagtes Tier: „Danach starb Jung-Sigurd. Högni aber sprach: ‚Diesen ganzen Morgen haben wir einen Eber gehetzt, und wir vier hätten ihn kaum gekriegt; jetzt aber in kurzer Stunde hab ich allein einen Bären oder einen Wisent erjagt. Uns vieren wär es saurer geworden, Jung-Sigurd zu bezwingen, setzte er sich zur Wehr, als einen Bären zu erlegen oder einen Wisent, das kühnste aller Tiere.‘ Da sagte König Gunnar: ‚Fürwahr, gut hast du gejagt. Bringen wir diesen Wisent meiner Schwester Grimhild, wo sie auch

179 „Svá var Sigurðr uf sonom Giúca, | sem væri grœnn laucr ór grasi vaxinn, | eða hiortr hábeinn um hvǫssom dýrom, | eða gull glóðbrautt af grá silfri.“ 180 Zu den Quellen des Totenpreises vgl. Sprenger 1992, S. 77–88. 181 „Svá bar Helgi af hildingom | sem ítrscapaðr ascr af þyrni, | eða sá dýrkálfr, dǫggo slunginn, | er øfri ferr ǫllom dýrom | oc horn glóa við himin siálfan.“ 182 Vgl. Höfler 1961, S. 27: „Manche von diesen seltsamen Hirsch-Motiven mag man als poetische Bilder von hoher Schönheit, als rein ästhetische Schöpfungen ansehen – bei anderen wird eine solche Deutung nicht gelingen: und gerade sie erweisen sich als besonders altertümlich. Zur ästhetischen Interpretation wird sich deshalb noch eine andere ergänzend gesellen müssen, wenn wir diesen Überlieferungen gerecht werden wollen.“ 183 „ein tier daz si sluogen, daz weinten edliu kint.“ 184 „Ok ef ek hefda vitad þetta fyrir, ok stiga ek a mina fętr med min vopn, þa skylldu margir tyna sinu life, adr enn ek fella, ok allir þeir brędr drepnir, ok torvelldra munde þeim at drepa mik en en mesta visund eda villegault.“  





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sei‘“ (Þiðr 391).185 Beim vorangehenden Königinnenstreit in der Þiðreks saga greift Brynhild gegenüber Grimhild, also der Gudrunfigur, zu einer eigentümlichen Beleidigung: „Lauf du lieber in die Wälder und mach die Pfade der Hindin ausfindig, hinter Sigurd, deinem Mann her“ (Þiðr 388).186 Diese Spitze zielt wohl auf Sigurds unstandesgemäßes Aufwachsen als Wilder ab. Über diese Hirsch- und Tierbilder hinaus begegnet Sigurd der Walküre auf dem Hindarfjall, dem Berg der Hindin (vgl. Vs 21, Sd. Prosaeinleitung) und Snorris Heimskringla kennt einen Nachfahren des Drachentöters Sigurd namens Sigurðr hjǫrtr, Sigurd Hirsch (vgl. Hkr Hálfdanar saga svarta 5).187 Letztlich erscheint die Sigurdfigur seiner zukünftigen Frau in deren Träumen als Tier.188 Gudrun träumt in der Völsunga saga Sigurds Verlust voraus und sieht ihn einmal als Habicht und dann als Hirschen: „Mir träumte, daß ich einen schönen Habicht auf meiner Hand sah, seine Federn waren von goldiger Farbe. […] Kein Ding dünkte mich besser als dieser Habicht, und all mein Gut wollte ich lieber lassen als ihn“ (Vs 26);189 „Es träumte mir, […] daß wir […] sahen einen stattlichen Hirsch, der überragte weit andere Tiere; sein Fell war von Golde“ (Vs 27).190 Im Nibelungenlied erscheint Kriemhilt Siegfried als Falke in ihrem sogenannten Falkentraum: Sie träumt, „sie zöge einen starken, prächtigen und wilden Falken auf, den ihr zwei Adler zerfleischten. Daß sie das mitansehen mußte! Niemals hätte ihr auf dieser Welt etwas Schmerzlicheres geschehen können“ (Nl 13,2–4).191 Die Figur Sigurds ist von einer auffälligen Häufung an Hirsch- und generellen Tierbildern sowie Jagdmetaphern umgeben,192 sodass eine Tierkonnotation der Figur  

185 „oc her eptir dæyr ne Sigurðr svæinn. Nu mœlti haugni. Allan þœnna morgin hofom ver ællt æinn villi gaullt oc ver fiorir fengim hann varla sott en nu a litilli rið hæfi ek væitt æinsaman æinn biorn eda æinn visund oc verra vœri oss fiorom at sœkia Sigurð svæin ef hann væri við buinn en at drepa biorn eða visund er allra dyra er fræcnastr. Nu mœllti Gunnarr konungr vist hæfir þu væl væitt oc þænna visund skolum ver hæim hafa oc fœra Grimilldi minni systor huar sem hon er.“ 186 „hælldr mattu nu fara of skoga at kanna hindar stiga eptir Sigurði þinom bonda“. 187 Vgl. Reichert 2008, S. 147: „Snorris Erzählung vom Tod des ‚Sigurd Hirsch‘ könnte nach deutschen Nibelungenüberlieferungen stilisiert sein […]. Der Beiname ‚Hirsch‘ erinnert an die ‚Hirsch-Sympathie‘ Siegfrieds in der Thidreks saga, hat aber wenig Gewicht, da sich ‚Hirsch-Sympathie‘ bei mehreren Helden findet.“ Die Nennung dieser anderen mit dem Hirsch assoziierten Helden bleibt Reichert leider schuldig. Wir haben oben allerdings bereits von Helgi gesprochen, der in der Lobstrophe auf ihn auch mit einem Hirsch verglichen wird. Doch sowohl Helgi, als auch Sigurd Hirsch exisitieren beide im Umkreis des Drachentöters Sigurd, um den sich eben die meisten Hirsch- und Tiermetaphern ansiedeln. 188 Siehe 7.1.4. 189 „Þat dremde mik, at ek sa einn fagran hauk mer a hende. Fiadrar hans voru med gullighum lith. […] Einge hlutr þotti mer haukinum bętri, ok allt mitt fe villda ek helldr lata enn hann.“ 190 „Þat dreymde mik, […] at ver […] sam einn mikinn hiort. Hann bar langht af audrum dyrum. Har hans var af gulle.“ 191 „wie si züge einen valken, starc schœne und wilde, | den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen! | ir enkunde in dirre werlde leider nimmer geschehen.“ 192 Die Hirschmotivik hinter der Sigurdgestalt bespricht ausführlich Otto Höfler, der auf diesem Wege den germanischen Helden mit dem realhistorischen Cheruskerführer Arminius zusammenführt (vgl.  

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4.1 Heldenerziehung

nicht einfach guten Gewissens von der Hand zu weisen ist. Das sind zum Einen Tiere, die mit heroischer Kraft verbunden sind, wie etwa der Bär, der Eber oder das Wisent, also der Auerochse. Diese Tiere aber treten um Sigurd immer in ihrer Funktion als Jagdwild auf, als Tiere, die dazu da sind, getötet zu werden. Das spitzt sich in der südgermanischen Sagentradition dahingehend zu, dass Sigurd beziehungsweise Siegfried selbst zur Jagdbeute deklariert wird.193 Seine Erschlagung zeichnet Högni oder Hagen als den ultimativen Jäger aus. Denn zum Anderen ist die Sigurdfigur mit volatilen und verwundbaren Tieren assoziiert, mit dem Hirsch oder mit dem Falken, als der er im Traum194 erscheint. Und so ist auch Gudruns Wahrnehmung von Sigurd von Anfang an überschattet. Sie wird ihn nicht für immer behalten dürfen, da er wie das Jagdwild todgeweiht ist.195 Anders als Sinfjötli, der dem aasfressenden Wolf nahesteht, ist Sigurd ein zartes und fragiles Tier, das letzten Endes dem Jäger zum Opfer fällt.

4.1.6 Wortgewandtheit Regin reizt Sigurd zur Erschlagung seines Bruders Fafnir auf. Sein Handeln und Reden verläuft nach den Mustern der hvǫt ab, zu der auch Schmähungen und Vorwürfe gehören.196 Doch Sigurd zeigt sich durchgängig unbeeindruckbar von diesen Beleidigungen und geriert sich als zurückhaltend, vorsichtig und zögerlich. Er antwortet: „ich habe gehört, daß niemand wagt ihm [dem Drachen Fafnir] entgegen zu treten wegen seiner Größe und seiner Schlechtigkeit“ (Vs 13).197 Später beklagt sich Sigurd über die Größe des Drachen. Dieser sei größer als von Regin geschildert (vgl. Vs 18) und als Si-

Höfler 1961, S. 27–46 und S. 48–59; siehe 4.2.1). Höfler untersucht die kultische Tier-Sympathie der Cherusker mit dem Hirschen, deren Namen er „etwa als ‚Hirsch-Menschen‘ oder als ‚Hirsch-Volk‘“ (Höfler 1961, S. 49) liest. Gegen Höfler argumentiert Ulrike Sprenger, die Hirschvergleiche außerhalb des Sigurdkontextes anführt (vgl. Sprenger 1986, S. 167–174). Für eine Stellensammlung der Hirschmotive um Sigurd vgl. außerdem Turville-Petre 1964, S. 199; Reichert 1974, S. 160 sowie Heizmann 1999, S. 605– 606. 193 Vgl. Höfler 1961, S. 62: „der edle Held ist selbst das ‚Wild‘, das bei diesem düsteren Jagdzug erlegt wird. […] Siegfried ist das ‚Tier‘, das bei diesem Jagen sterben muß.“ 194 Wohingehend Sinfjötli tatsächlich zum Wolf wird, erscheint Sigurd nur im Traum als Tier. Agneta Ney führt das zurück auf die unterschiedlichen Milieus, in denen die beiden Helden existieren (vgl. Ney 2000, S. 369 f.). In der mythischen Sphäre sei eine Tierverwandlung möglich, wohingehend das Wilde und Tierische im höfischen Bereich in die Träume ausgelagert sei. 195 Vgl. Höfler 1961, S. 49 f.: „Und es darf sogleich gesagt werden, daß gerade für diesen Helden, der der alten Heldensage als der stärkste und angriffsfreudigste von allen galt, der Vergleich just mit einem Hirsch nicht allzu nahe zu liegen scheint. Zwar ist der Hirsch ein edles, schönes, stolzes Tier. Aber den Menschen ist er vor allem fliehende Jagdbeute, nicht ein solches Sinnbild gefährlicher Kraft wie Wolf oder Bär. […] Und trotzdem ist für Sigurd die Beziehung zum Hirsch so charakteristisch, daß sie […] ein Stück seines Wesensbildes ausmacht.“ 196 Siehe 6.2.4. 197 „hefe ek spurt, at eingi þorir at koma a moth honum fyrir vaxtar sakir ok illzsku.“  























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4. Heldengenese

gurd das mögliche Problem anspricht, vom Drachenblut versehrt zu werden („Wie wird es dann ergehen, wenn ich mit dem Blute des Wurms in Berührung komme?“ Vs 18),198 wird er von Regin getadelt: „Nicht kann ich dir Rat erteilen, denn bange bist du vor allem und jedem und gleichst wenig deinen Gesippen an Heldenmut.“ (Vs 18).199 Diese Schmähungen bleiben bei Sigurd ohne Reaktion.200 Er ist resistent gegenüber den Reizungen Regins. Das Heldenbild, das von Sigurd gezeichnet wird, stellt ihn als nicht aufbrausend und genügsam dar. Er fragt nach, reflektiert und zeigt Desinteresse bezüglich Reichtum und Ruhm. Den vielen Vorwürfen, nicht nach den Völsungen zu schlagen, begegnet er mit Gelassenheit und führt seine Jugend als Argument ins Feld: „Es kann sein, daß ich noch nicht viel von ihrem Mut oder ihrer [der Völsungen] Kühnheit habe; doch nicht verlangt es die Notwendigkeit, sie mir abzusprechen, denn ich bin nur wenig über das Kindesalter hinaus – warum reizest du mich so sehr dazu?“ (Vs 13).201 Diese Aussage über die Jugend des Helden steht im Kontrast zur Sinnesart Sinfjötlis, der Helden- und Gewalttaten trotz seiner Jugend vollbracht hat und auch damit prahlt: „Du brauchtest meine Hilfe dazu, um sieben Männer zu töten, aber ich bin ein Kind an Jahren im Vergleich mit dir – und doch rief ich dich nicht um Hilfe, um elf Männer zu töten“ (Vs 8).202 Die Aussagen der beiden Figuren gewinnen zusätzlich an Bedeutung, wenn man sie als Teile einer Gesamtkomposition wahrnimmt. Es werden zwei unterschiedliche Heldenmodelle generiert, die im Text hintereinandergestellt werden. Gewertet wird vom Text nicht. Der Verfasser exerziert ausschließlich sein Material in unterschiedlich gefärbten, allerdings gleichrangigen Ausformulierungen durch. Trotzdem können die beiden Modelle nicht koexistieren.203 Der Text kann nur eine Atmosphäre zur gleichen Zeit unterhalten, weswegen die Stimmung der heroischen Kompromisslosigkeit der Sinfjötlifigur der der reflektierten und bisweilen zaghaft anmutenden Figur Sigurds die Bühne räumen muss.204  









198 „Hversu man þa veita, ef ek verd fyrir sveita ormsins?“ 199 „Eigi ma þęr rad rada, er þu ert vid hvatvętna hręddr, ok ertu ulikr þinum frendum at hughreyste.“ 200 Vgl. von See 1999 [1993](a), S. 167: „Einige Male wird diese spezifisch ‚heldische‘ Qualität [von See meint „die unleugbare Exorbitanz, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit manchen heldischen Verhaltens“ (von See 1999 [1993](a), S. 166 f.)] noch dadurch profiliert, daß dem Helden ein Freund und Kampfgenosse beigegeben ist, der zwar auch tapfer, vor allem aber – anders als der Held – besonnen und vernünftig ist.“ Zwischen Sigurd und Regin invertiert sich dieses Verhältnis. Der aufhetzerische Erzieher ist Sigurd beigegeben, um die Vernunft und Besonnenheit des Helden zu stilisieren. 201 „Vera ma, at eigi hofum ver mikit af þeirra kappe eda snilld, enn eigi ber nausyn til at frygia oss, er ver erum enn litt af barnsalldri. Eda hvi eggiar þu þessa sva miok?“ 202 „Þu þatt lid til at drepa VII menn, enn ek em barn ad alldri hia þęr, ok kvadda ek eigi lids at drępa XI męnn.“ 203 Vgl. Deichl 2016, S. 234–236. 204 Ich setze nach dem Tod Sinfjötlis eine Zäsur in der Völsunga saga. Der überheroische Sinfjötli wird dann vom höfisch behauchten Sigurd abgelöst. Der Frankfurter Eddakommentar macht diesen Wandel ebenso für den Codex Regius aus: „Das Prosastück Sf. markiert in R sowohl den Abschluß einer Helden-Epoche – Helgi Hundingsbani stirbt in HH. II, und Sf. berichtet vom Tod Sinfjötlis und Sigmundrs – als auch den Beginn einer neuen Helden-Ära, bei der zunächst Sigurd im Mittelpunkt steht“ (von See/La  















4.1 Heldenerziehung

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Das Heldenideal kann sich in den Figuren auch verbal manifestieren und zwar in der Form ihrer Wortgewandtheit und ebenso ihrer Wortgewalt. Die Atlamál nennen die „Trotzreden“ (Am. 105 [102])205 als ein Merkmal der Kraft der Kinder Gjukis und in der Helgakviða Hjörvarðzsonar wird der zuvor schweigsame Helgi von der Walküre geheißen, zu sprechen, wenn er Ruhm und Reichtum erwerben wolle. „[D]er Adler schreit früh“ (HHv. 6),206 sagt sie zu ihm. „Ein Hinweis darauf, dass auch der junge Krieger früh seine Stimme erheben soll.“207 Als Sigrdrifa die Asen anruft, bittet sie um „Wortgewandtheit“ (Sd. 4)208 für Sigurd und sich. Sigurds und Sinfjötlis Art zu reden wird in der Völsunga saga antithetisch präsentiert. Von Sigurd heißt es: „Im Reden  

Farge et al. 2006, S. 114 f.). Zur Völsunga saga vgl. Grimstad 2000, S. 17: „As the narrative [der Völsunga saga] unfolds, the hero in each new generation displaces his predecessor, surpassing him in both quantity and quality of heroic adventures.“ Vgl. zur stofflichen Trennung der Sigmund-Sinfjötli- und der Sigurd-Abschnitte Aðalheiður Guðmundsdóttir 2012, S. 64: „it can be argued that the Vǫlsungar legend itself consists of two main components, the Sigmundr legend, on the one hand, together with a section on his ancestry and a þáttr about Helgi Hundingsbani, and the Sigurðr legend on the other“. Matthias Teichert spricht von einer „sich ab cap. 13 der Saga zunehmend stärker manifestierenden höfischen Kultur“ (Teichert 2008, S. 163). Nun kann allerdings noch eine zweite stilistische Zäsur in der Völsunga saga gesetzt werden, nämlich ab dem Kapitel von Sigurds Beschreibung (Vs 23). An der entsprechenden Stelle beginnt in den Heldenliedern die Lakune. Ab dem 23. Kapitel nimmt neben der höfisch-mentalen Färbung, die bereits in Kapitel 13 ersichtlich wird, auch die höfisch-ästhetische Färbung deutlich zu. Vgl. Würth 2003, S. 105 f.: „Vǫlsunga saga can be divided into a heroic or, due to the heroes’ ancestors, a mythological part, and a courtly part. These two parts can be regarded separately at the beginning of chapter 23, that is, almost exactly in the middle of the saga after the conversation between Sigurd and Brynhild, when Brynhild quotes verses about how to use runes. This sequence of stanzas is the longest quotation to be taken directly from the poetic original. It introduces a formal break from the first part of the saga, which takes place in an uncertain past, at an uncertain place, and which includes a significant supernatural element. The first part of the saga also contains more references to oral tradition than the second part, and the narrator’s voice can be heard more clearly. The second part contains more reflections about textuality and the hermeneutics of literary texts, and gives the impression that the action takes place in a time closer to that of the audience.“ Carolyne Larrington spricht von „strong courtly elements concentrated in its [Völsunga saga’s] second half“ (Larrington 2012, S. 256). Vgl. zum Ton der beiden Abschnitte Grimm 1957, S. 414. Vgl. Byock 1990, S. 8: „The Saga of the Volsungs falls into two distinct parts. The first part, ending with Sigurd’s arrival among the Burgundians, is studded with mythic motifs, although their religious meaning and their coherence are often lost. Characters in this section include many supernatural beings: gods, giants, a valkyrie, a dwarf, and a dragon. It is difficult to discern historical precedents even for the human characters in this section. By contrast, the second part of the saga takes place in a human world with recognizable social problems. Nearly all the characters in this section may be identified with historical figures.“ Vgl. Schjødt 2008, S. 293 Anm.: „whereas part of the saga takes place in a magic universe, another part has been inserted into a more ‚realistic‘, although romantic and chivalric framework.“ Vgl. Ney 2000, S. 367: „Med hänsyn till terminologi föreslår jag därför tills vidare en indelning av Völsunga saga i två tydligt avgränsande delar – en mytologisk del och en hövisk del.“ 205 „þrámæli”. 206 „ǫrn gól árla“. 207 Krause 2004, S. 267 Anm. 208 „Mál“.  































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4. Heldengenese

war er ausführlich und gewandt, er begann nicht von einer Sache zu sprechen, daß er früher aufgehört hätte, als bis es allen schien, wie wenn es nicht anders sein könnte als so, wie er sagte“209 (Vs 23).210 Er wird als ein Mann von großer Überzeugungskraft und von verbalem Durchsetzungsvermögen inszeniert.211 Er versteht es, Leute auf seine Seite zu ziehen und wartet auf mit bestechender Logik. Was meinen aber Völsunga saga und Heldenlieder, wenn sie von Sinfjötli sagen: „Er verstand den Königen Rede zu stehen“ (Vs 9)212 oder: „das war ein Sundwächter, der antworten | und mit den Edlen Worte wechseln konnte“ (HH. 33)?213 In dieser Einstufung der Qualität von Sinfjötlis Eloquenz geht es keinesfalls um seine Überzeugungsgabe und noch weniger um seine Fähigkeit, sich Freunde zu machen. Sie bereitet den Rezipienten auf die Streitrede mit Granmar beziehungsweise Gudmund vor. Was Sinfjötli also kann, ist seinen Gegner zu beleidigen und ihn mit schmählichen Vorwürfen214 einzudecken.215 Seine Art zu kommunizieren ist nur eine weitere Arena für seine heroische Agonalität. Die

209 Eine solche Wortgewandtheit bezeugt die Ynglinga saga auch für die mythische Figur Odin: „Dazu kam, daß seine Rede so gewandt und glatt war, daß alle, die ihr lauschten, meinten, sie allein wäre wahr“; „ǫnnur var sú, at hann talaði svá snjalt ok slétt, at ǫllum, er á heyrðu, þótti þat eina satt“ (Hkr Ynglinga saga 6). 210 „Hann var langhtaladr ok malsniallr, sva at ecki tok hann þat erendi at męla, at hann mundę fyr hętta, enn sva synizt ollum, sem einga leid mune eiga at vera nema sva, sem hann segir.“ 211 Wie Sigurd spricht, untersucht Ulrike Sprenger anhand der Fáfnismál: „Sigurðr wendet Spruchweisheit, z.T auch Sprichwörter an […]. Sigurðr benützt also allgemeine Erkenntnisse; er gibt keine direkte Argumentierung, er sagt z. B. gegenüber Fáfnir nicht, daß er sich nicht vor dem Tod fürchtet, sondern daß jeder einmal sterben muß. Dies schafft Distanz, kühle Reserviertheit. Ein derart ausgedehnter Gebrauch von Spruchweisheit – geradezu im Sinne einer Methode – findet sich in der Heldendarstellung der Edda sonst nicht; vergleichbar ist hier nur noch eine Figur aus der Prosaliteratur: die Grettis in der Grettis saga, bei der man wohl Einfluss der lateinischen mittelalterlichen Rhetorik annehmen muß“ (Sprenger 1991, S. 122). 212 „Sa kunni at męla vid konunga“. 213 „þar var sundvǫrðr, sá er svara kunni | ok við ǫðlinga orðum skipta.” 214 Hinter Sinfjötlis Anschuldigungen steht das Konzept von ‚ergi‘: Wer ‚argr/ragr‘ ist, der entspricht auf negativ wahrgenommene Weise nicht seinem soziogeschlechtlichen Modell. Für einen Mann ist das mit dem breiten Feld der sogenannten ‚Unmännlichkeit‘ verbunden, also feige zu sein, den Kampf zu scheuen, aber auch deviante sexuelle Vorlieben zu haben, vornehmlich den passiven Part im homosexuellen Geschlechtsverkehr einzunehmen. Die weibliche Entsprechung dazu, ‚ǫrg‘ zu sein, bedeutet, nicht den patriarchal geprägten Anforderungen an Weiblichkeit nachzukommen, also undomestiziert zu sein, in kämpferischen Dingen die ‚Männer‘-Rolle einzunehmen oder sexuell aggressiv, promiskuitiv oder ungezügelt zu sein. Die mittelalterliche isländische Literatur stellt eine solche Beschimpfung, das ‚níð‘, als höchst problematischen und explosiven Konfliktauslöser dar. Vgl. zu den Konzepten von ‚ergi‘ und ‚níð‘ Meulengracht Sørensen 1983, bes. S. 14–78; Mundal 1998, S. 3–5; Brückmann 2016, S. 400– 401. Die besagte Schmähung erstreckt sich jedoch nur auf das Ziel von Sinfjötlis Beleidigungen. Seine eigene Ehre wird dadurch, dass er sich als der phallische Aggressor geriert, nicht beschädigt: „what is at stake here is not homosexuality per se, for the role of the penetrator is regarded as not only masculine but boastworthy regardless of the sex of the object. The charge of nið devolves solely on the penetrated man – the sorðinn or ragr man“ (Clover 1993, S. 374 f.). 215 Harris 1981, S. 323: „Sinfjǫtli, a certified specialist in billingsgate.“  





















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4.1 Heldenerziehung

Texte sprechen dabei von der Fähigkeit, mit Edlen und mit Königen zu reden oder zu streiten. Das diesen Textpassagen zugrunde liegende Gedankengut erkennt also das Streitgespräch als die einzige Kommunikation zwischen gleichgestellten Adligen an. Es geht abermals um die Abgrenzung des eigenen Kollektivs gegenüber anderen Verbänden: Sinfjötli kann andere Edle mit Worten vernichten. Die Saga beschreibt Sigurds Unterrichtung in Brettspiel und in Sprachen. Dies sind Fähigkeiten, die in der Literatur des zentraleuropäischen Hochmittelalters mitunter dazu benutzt werden, um die höfischen Damen zu unterhalten und zu umwerben. Im Nibelungenlied wird der höfische Umgang des jungen Siegfried mit Frauen gezeigt: „Die schönen Damen fanden ihn später sehr anziehend“ (Nl 22,4)216 und: „Gewandt diente er schönen Frauen. Und auch für sie wäre es ehrenvoll gewesen, auf das Werben des tapferen Siegfried einzugehen“ (Nl 26,3–4).217 In der skandinavischen Nibelungensage wird Sigurd an mehreren Stellen als Liebender inszeniert. In der Grípisspá fragt Sigurd: „Werd ich das Wort dem Mädchen brechen, | das ich mit ganzem Herzen zu lieben schien?“ (Grp. 32).218 Er spricht von der Jungfrau, „die [er] sehr liebte“ (Grp. 36).219 In der Völsunga saga umwirbt er Brynhild auf dem Hindarfjall: „das schwöre ich, daß ich dich zur Frau haben will, du bist nach meinem Herzen“ (Vs 22).220 In der Heimirepisode sagt er zu Alsvinn: „Sie [Brynhild] muß ich besuchen […] und ihr Gold geben, ihre Liebe erlangen und ihre Huld“ (Vs 25).221 Die Werbung geschieht in der Episode in Form eines längeren Dialoges (vgl. Vs 25). Vor seinem und Brynhilds Tod gesteht er ihr abermals seine Liebe:222 „ich liebe dich mehr als mich selbst“ (Vs 31).223  



216 „sît heten in ze minne diu vil wætlîchen wîp.“ 217 „er begunde mit sinnen werben schœniu wîp; | die trûten wol mit êren des küenen Sîvrides lîp.“ 218 „er ec scal við mey þá málom slíta, | er ec allz hugar unna þóttomc.“ 219 „þeirar ec unna vel.“ 220 „þess sver ek, at þik skal ek eigha, ok þu ert vid mitt ęde.“ 221 „Hana skal ek hitta […] ok gefa henne gull ok na hennar gafne ok iafnadarþocka.“ 222 Die Liebe zu Brynhild ist ungleich dem, was sich zwischen Sigurd und Gudrun abspielt. Das Werben geschieht dort ausschließlich über die Brüder: „Gunnar sagte: ‚Alles wollen wir dazu tun, daß du [Sigurd] lange hier bleibst; beides, unser Reich und unsere Schwester bieten wir dir an; kein anderer würde sie bekommen, wenn er auch um sie bäte.‘ Sigurd antwortete: ‚Habt Dank für eure Auszeichnung! Ich will es annehmen.‘ […] Sigurd trank den Brautlauf mit Gudrun“; „Gunnar męllti: ‚Allt vilium ver til vinna, at þer dvelizt her leinge, będi riki ok vora systur med bode, enn eigi munde annarr fa, þott będi.‘ Sigurdr svarar: ‚hafit þauck fyrir ydra sęmd, ok þetta skal þiggia.‘ […] Dręckr Sigurdr nu brudlaup til Gudrunar“ (Vs 28). Während Brynhild über eine gewisse Eigenständigkeit als mythisch konnotiertes Wesen verfügt, steht Gudrun als Teil des Personenverbandes der Gjukungen vollständig unter der Vormundschaft der männlichen Vertreter ihrer Sippe. Auf diese Weise wird auch Kriemhilt im Nibelungenlied eingeführt: „Für sie sorgten drei edle, mächtige Könige“; „Ir pflâgen dri künege edel unde rîch“ (Nl 4,1). Nun ist es verwunderlich, dass die Ausdrücke von Sigurds Liebe sich ausschließlich in Verbindung mit der mythischen Figur finden und weniger mit der Figur, die auf an höfische Reglementierung erinnernde Weise in ihren Personenverband eingebunden ist, vor allem da in der Völsungensage zumeist die mythischen Figuren heroische Erzählmuster zu Tage fördern. Im Kontakt mit dem höfisch gefärbten Sigurd wird auch die Mythenfigur Brynhild höfisch überformt. 223 „Ek unna þer betr enn mer“.

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4. Heldengenese

Im Erzählkomplex um Sinfjötli dient der Umgang mit Frauen höchstens als Inhalt für eine Beleidigung. In der senna der Helgakviða Hundingsbana spricht Sinfjötli: „Dort wird Hödbrodd Helgi treffen, | den fluchtunwilligen Fürsten, inmitten der Flotte, | der oft Adler gefüttert hat, | während du [Gudmund] an der Mühle Mägde küsstest“ (HH. 35).224 Während er selbst Helgi preist, beleidigt er seinen Streitgegner, indem er ihm Umgang mit Frauen anstelle von Kriegstätigkeiten vorwirft. Wohingegen im höfischen Roman der standesgemäße Kontakt mit den Damen genauso zum Ritterideal gehört wie die kämpferischen Qualitäten des Ritters, schließen sich die beiden Aspekte in der heroischen Atmosphäre der Helgakviða I aus.225 Die Mägde zu küssen ist für Sinfjötli negativ besetzt. Der Held, der sich von den Frauen von Kriegstaten abhalten lässt, ist keiner.226 Als Sinfjötli, der Anwalt des Heroischen, selbst um eine Frau wirbt (vgl. Vs 10), geht das schief. Tatsächlich besteht sein Werben auch nicht aus dem wirklichen Umwerben einer Frau, sondern aus der Auslöschung des Nebenbuhlers. Die Frau bleibt namenlos und ob er sie erhält, wird zwar nicht gesagt, bleibt allerdings auch bedeutungslos. Seine Vergiftung ist die Konsequenz seines Werbens und der Tötung des Nebenbuhlers. Dem rein heroischen Modell des Sinfjötli steht der höfisch touchierte Sigurd gegenüber, der zwar ebenso schmerz- und vor allem furchtarm („niemals kannte er Furcht“, Vs 23)227 ist wie der heroische Archetyp, allerdings emotional weit gehaltvoller ausstaffiert wird.

224 „Þar mun Hǫðbroddr Helga finna, | flugtrauðan gram, í flota miðiom, | sá er opt hefir ǫrno sadda, | meðan þú á qvernum kystir þýiar.“ 225 Vgl. Clark 2012, S. 53 f.: „While in Western culture today this might suggest a successful demonstration of heterosexual and hyper-masculine credentials, in the medieval period a preference for female company (even when engaged in flirting with and kissing them), especially when preferred over martial activity in the company of other men, most often connotes effeminacy.“ 226 In diesem Sinne stellt Jan-Dirk Müller für den Wate der mittelhochdeutschen Kudrun fest: „In der Welt des Hofes ist Wate fremd. Scherzhaft […] fragen ihn die Königin Hilte und ihre gleichnamige Tochter, ob ihm lieber sei, zu kämpfen oder bei schönen Frauen ‚zu sitzen‘. ‚Bei den Damen sitzen‘: so sieht aus heroischer Sicht die höfische Alternative aus, die, der Formulierung zufolge, mit Untätigkeit assoziiert wird. Für jemanden wie Wate ist die Entscheidung nicht schwer: nie habe er bî schœnen frouwen sô sanfte […] gesessen, daß er nicht doch lieber im Kampf gewesen wäre. In der Konversation mit Damen ist solch eine ehrliche Antwort eine komische Taktlosigkeit, die mit Lachen beantwortet wird […], vor allem aber die Fremdheit des Helden zur höfischen Welt anzeigt“ (Müller 1998, S. 404). Dagegen zeigt Wolfgang Hempel auf, wie im höfisch-ritterlichen Wertesystem der Kampf zwar immer noch Priorität hat, allerdings mit der minne, der Liebe, symbiotisch verbunden ist: „Sehr erhellend für die Vorstellungen des jungen Rittertums ist ferner die Antwort, die in der Kaiserchronik der eigens eingeführte edle Held Totila als Sprecher des Rittertums auf die Frage einer Dame gibt, ob er eine schöne Frau oder einen tüchtigen Kampf vorziehe […]. Er wisse als einfacher Mann keine rechte Antwort, aber es sei so, einem Kampf dürfe man nicht ausweichen, ja einem anständigen Mann ginge er wohl vor; doch auch die Liebe passe eigentlich ganz gut dazu, sie mache gesund, jung und auch höfisch, doch vor allem kuone, kampftüchtig und mutig“ (Hempel 1970, S. 107 f.). 227 „alldri vard hann hręddr.“  









4.2 Sigurd als untypischer Held

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4.2 Sigurd als untypischer Held 4.2.1 Das Bild, das wir von Sigurd haben Nun ist es aber keinesfalls damit getan, Sigurd einfach als den höfischen Vertreter der Völsungensippe zu kategorisieren. Vielmehr ist die Figur von einer ausgesprochenen Komplexität, die es schwer macht, ihr eine tatsächliche Sparte zuzuweisen.228 Als „erkennbar eigenartige[…] Heldenfigur“229 beschreibt Elfriede Stutz die Gestalt des Sigurd, deren Ungreifbarkeit sich auf ihren Kompilationscharakter zurückführen lasse. [Sigurd sei] eine zusammengesetzte Figur […], das Ergebnis unkontrollierbarer poetischer Prozesse. Man kann den Helden zerlegen, die Stücke isolieren und sortieren, um ein jegliches einzureihen bei seinesgleichen. Auseinandergenommen verflüchtigt sich Siegfried/Sigurd; die Elemente und Elementchen verteilen sich auf getrennte Kästchen. Etwa für Drachentöter, für Hortgewinner, für Heilbringer, für unbändige Knaben vom Starker-Hans-Typ; […] Die Anatomie des Helden, um nicht zu sagen seine Obduktion, dient als Grundlage für die weitreichenden großen Fragen nach dem Verhältnis der Figur zu Mythos, Sage, Märchen und Geschichtswirklichkeit, nach den Verflechtungen von Imagination, Tradition und Aktualisierungstendenzen.“230 Trotz der Uneinheitlichkeit der Figur fasst Stutz fünf Merkmale zusammen, die allen Varianten des Sigurd gemein sind: „1. Er ist charismatisch. Ihm fallen ohne weitere Erklärung herausragende Eigenschaften zu. 2. Er ist furchtlos. 3. Er schenkt Beistand und Freundschaft. 4. Siegfried tritt allein auf. Er ist völlig einsam, gehört nicht in einen Personenverband. 5. Der Held stirbt durch Meuchelmord.231

Gerade das Charisma des Helden macht die Zuordnung zu einer realhistorischen Person schwierig. Wir haben es bei Sigurd mit einer Figur zu tun, von der die Texte mehrmals behaupten, ihr Ruhm würde andauern, solange die Welt besteht. Diese Aussage ist formelhaft an Sigurd angeheftet. Angesichts der einigermaßen deutlichen historischen Verortbarkeit anderer Figuren im Völsungennexus, etwa Gunnar oder Atli, eröffnet sich die Frage, wer denn nun Sigurd oder Siegfried gewesen sei. Anlass dafür, in Sigurd die historische Gestalt des Arminius zu sehen,232 gibt mitunter die Aussage lateinischer Quellen, dieser werde noch immer in den Preis- und Ruhmesliedern 228 Einen meines Wissens nach seitdem im vergleichbaren Umfang nicht aktualisierten Überblick über die Forschungsauffassung der Sigurdfigur vor allem im Nibelungenlied gibt Hoffmann 1979. 229 Stutz 1990, S. 411. 230 Stutz 1990, S. 415. 231 Vgl. Stutz 1990, S. 424. 232 Größtenteils überzeugend argumentiert dafür Otto Höfler, der für eine Identität Sigurds mit Arminius unter anderem diese Punkte anführt: Arminius’ germanischer Name müsse auf Grund der Namen seiner Verwandten mit dem Element ‚Segi-‘ oder ‚Sigi-‘ begonnen haben. Der Sieg über das römische Heer könnte im Nachhinein symbolisch als Drachenkampf oder Drachentötung geschildert worden sein. Und für mich am einleuchtendsten: Der Name der Cherusker, Arminius’ Volk, lasse sich auf den Hirschen zurücketymologisieren und bedeute etwa ‚Hirsch-Volk‘, was auch Sigurds Hirschaffinität erkläre; siehe 4.1.5 (vgl. dazu Höfler 1961, S. 19–165 sowie Höfler 1978, S. 3–109; für die Argumente, auf denen Höfler aufbaut vgl. Höfler 1961, S. 13–27). Vgl. für Gegenpositionen zu Höflers Arminiusausführungen von See 1971, S. 39–41 bzw. Reichert 2008, S. 152.    













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4. Heldengenese

der Germanen verehrt. Arminius war der Anführer eines Verbandes von cheruskischen Föderatii und spielte in der Varusschlacht eine zentrale Rolle. Dieser Sieg der Germanen über die römischen Truppen im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. war für das römische Reich so traumatisch, dass weitere Versuche, Gebiete östlich des Rheins zu unterwerfen, eingestellt wurden. Unter anderem führte dieses schicksalhafte Ereignis wohl auch dazu, dass das vorliegende Buch in einer germanischen und nicht in einer romanischen Sprache verfasst wurde. Andere Zuordnungsversuche sehen in der Sigurdgestalt den fränkischen König Sigibert (535–575 n. Chr.), der mit einer Brunhilda verheiratet war und durch Verrat innerhalb seiner Verwandtschaft umgekommen ist, oder den katholischen Märtyrer St. Viktor von Xanten.233 Helmut de Boor argumentiert für eine Identität des literarischen Sigurd mit einem namentlich nicht überlieferten enteigneten fränkisch-ripuarischen Fürsten des fünften Jahrhunderts im Exil, der am Burgundenhof Zuflucht gefunden hat.234 Die vielen mythischen Elemente der Figur lassen allerdings auch eine Deutung zu, die diese überhaupt nicht im Geschichtlichen, sondern ausschließlich im Mythischen wurzeln lässt. Sigurd könnte ebenso gut eine zum menschlichen Helden gemachte Götterfigur235 oder aber – wie es vor allem Friedrich Panzer vertritt – eine „heroisierte Märchengestalt“236 sein.237 Neben der Idee, dass die Erzählungen um Sigurd  









233 Vgl. zusammenfassend Schneider 1962, S. 186–187; Turville-Petre 1964, S. 199; Finch 1965, S. xxxiii ff.; Byock 1990, S. 22–25; Lee 2007, S. 297–299. 234 Vgl. de Boor 1961, S. 31–51. 235 Ursprünglich sah Karl Lachmann in Siegfrieds Tod durch Hagen eine Analogie zu Baldrs Tötung durch den blinden Hödr und zeichnet ferner ein Gegensatzpaar bestehend aus dem göttlichen Siegfried und den dämonischen Nibelungen/Niflungen, deren Eigenschaften sich vor allem in der Figur Hagens manifestieren (vgl. Lachmann 1836, S. 342–346). Franz Rolf Schröder argumentiert für eine Amalgamierung verschiedenster Märchen- und Mythenmotive in der Sigurdsage (vgl. Schröder 1921, S. 1–58). Letztere erklärten sich im Zusammenhang mit der Natur der Hagenfigur, in der eine übernatürliche elbische Gestalt – in der späteren Bearbeitung – oder aber ein geisterhaftes Schattenwesen, ein Sturm- oder Todesdämon gesehen werden könne (vgl. Schröder 1921, S. 25–28). An anderer Stelle deutet er Teile der Sigurdsage als eine Verarbeitung des Mythos der Vereinigung von Himmelsgott und Erdgöttin und des Göttersohnes. Vgl. dazu auch Schröder 1961, S. 294–310, bes. S. 301: „Der Tod des Wachstumsgottes ist der Archetyp, nach welchem der Tod des jugendlichen Helden der heroischen Zeit, der in der Blüte der Jahre dahingerafft wird, geschaffen und gebildet worden ist. So Achill, den der Hades für immer aufnimmt, so Sigfrid, der von dem dämonischen Hagen erschlagen, oder älter wohl – wie Adonis und Attis – von einem Eber zerrissen wird. … Und so auch Roland. – Nur ihr Nachruhm ist auf Erden unsterblich.“ Für eine kurze Zusammenfassung vgl. Ehrismann 2002, S. 27–28. In Hinsicht auf einen Ursprung im historischen Gibichungenkontext oder im mythischen Jugendabenteuerbereich sagt Andreas Heusler: „Hat Sigfrid dort oder hier seinen Anfang genommen? Wir wissen es nicht“ (Heusler 1929, S. 21). Und dies muss wohl auch bis auf Weiteres der Weisheit letzter Schluss bleiben. Vgl. ferner Turville-Petre 1964, S. 200–205. 236 Panzer 1955, S. 287. 237 Vgl. Panzer 1955, S. 285: „Wer der Erzählung des NL von Siegfried, seinem Tun und Leiden eine befriedigende sagen- und literargeschichtliche Deutung geben will, muß sich zu der Einsicht durchringen, daß wir es in Siegfried nicht mit einer historischen, sondern einer Märchenfigur zu tun haben.“  











































4.2 Sigurd als untypischer Held

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einen vermenschlichten Gott behandeln,238 liefert Jan de Vries einen sehr diplomatischen Ansatz. Er spricht sich für eine meiner Ansicht nach sehr vernünftige Verschmelzung von mythischem Grundgerüst der Siegfriedgestalt mit historischen Einzelheiten des Arminius aus.239 Ich selbst, der ich auch einen solchen Hybridansatz vertrete,240 stehe voll hinter dem Völsungenübersetzer George K. Anderson, wenn er sagt, dass die Figur zwar ihren Ursprung durchaus im Historischen haben kann, sich allerdings Erzählmuster über sie gelegt hätten, die weit über einen König Sigibert oder Arminius hinausgingen: „In the Saga Sigurd is a manly ideal, a fairy prince, and fairy princes have been around a great deal longer than Hermann or Arminius. Like Sigmund, if Sigurd was ever a historical character, he has long since been translated into folklore. But as Symbolik he looms large.“241 Weiterhin herrscht Uneinigkeit über die intellektuelle Kompetenz der literarischen Figur Sigurds.242 Elfriede Stutz sagt über Sigurds Weisheit: „Der nordische Sigurd besitzt ausdrücklich Verstandeskraft und Redegabe. Man darf also auf Grund der ‚Sigrdrífomál‘, aber auch der ‚Fáfnismál‘ wegen des Motivs der Vogelsprachenkenntnis füglich behaupten, daß Sigurd sowohl mit Tapferkeit wie auch mit Weisheit begabt sei.“243 Anders sieht das bei Peter Wapnewski aus, der den Siegfried des Nibelungenliedes als einen beschreibt, „dem die Kraft der Muskeln und der Überschwang des Gefühls den Verstand bedenklich verkümmert haben“.244 Edgar Haimerl zeichnet den Sigurd der Jungsigurddichtung als einen Helden, dem es an sapientia gebricht, der diesen Missstand allerdings partiell durch seine Lernbereitschaft wettmachen kann245 und Ulrike Sprenger beschreibt in ihrem Artikel zu den Fáfnismál im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde zwei konkurrierende Aspekte Sigurds. Zum Einen sei er zwar „gewaltig, auch geistig überlegen, hortgierig, ungerührt von den Todespro-

238 Vgl. de Vries 1961(b), S. 402: „Siegfried, in dessen Taten das göttliche Urbild unverkennbar durchblickt. Das ist denn auch die Erklärung dafür, daß man ihn so lange als einen vermenschlichten Gott betrachtet hat: einen Sonnen- oder Frühlingsgott, der den Winterdrachen überwindet und die jungfräuliche Erde aus dessen Macht erlöst.“ 239 Vgl. de Vries 1961(b), S. 402 f.. Vgl. auch de Vries 1954, S. 125–135, bes. S. 134 f.: „Die Sonderstellung der Sigfridsage innerhalb der germanischen Heldenepik ist dadurch zu erklären, dass der Heldenstoff der Sigfridtradition in weit ältere Zeit zurückreicht als die Periode der Völkerwanderung, die eine ganz neue Heldensage entstehen liess. Der [sic] ‚Sigfrid‘-tradition sagen wir bequemlichkeitshalber; denn diese vorchristliche Sage braucht überhaupt nicht von einem Sigfrid erzählt worden zu sein.“ 240 Siehe 2.3.1. 241 Anderson 1982, S. 39. 242 Vgl. Haustein 2005, S. 381: „Der S[iegfried] des Nibelungenliedes ist […] als lit[erarische] Figur erst seit den 50er J[ahren] des 20. Jh.s in den Blick genommen worden, ohne daß jedoch ein einheitliches Bild entstanden wäre. Die Diskussion, in der S[iegfried] ein ‚Charakter‘ zugesprochen wurde, hob einerseits auf die Frage ab, ob S[iegfried]s Verhalten als naiv-dumm oder raffiniert-berechnend zu beurteilen sei“. 243 Stutz 1990, S. 422. 244 Wapnewski 1993, S. 66. 245 Vgl. Haimerl 1992, S. 95–124.  























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4. Heldengenese

phezeiungen“,246 zum Anderen jedoch „stark, aber vertrauensselig, dumm, von Vögeln belehrt“.247 Sigurd trage die „Züge eines Dümmlings“.248

4.2.2 Sigurds Drachenkampf249 Es gibt nun Passagen der Sigurdüberlieferung, die die Interpretation der Figur als unbeholfener Simpel durchaus zulassen, vor allem nach modernem Maßstab gemessen. So kann sicher mit dem Moment, da Sigurd sich den Finger in den Mund steckt, nachdem er sich am heißen Bratensaft verbrannt hat, eine gewisse kindliche Tapsigkeit verbunden werden: „und als der Saft herausquoll, rührte er mit seinem Finger daran und probierte, ob es schon gebraten wäre. Er verbrannte sich und steckte den Finger in seinen Mund“ (Vs 19).250 Vielmehr handelt es sich hier aber um das Motiv, dass Wissen wie Nahrung aufgenommen werden kann.251 Sigurd nämlich erwirbt durch diese Aufnahme des heißen Drachenblutes – wenn auch nur über den verbrannten Daumen – die Fähigkeit, die Meisen zu verstehen. Ähnliche Stellen haben wir bei Gudruns Verzehr des Drachenherzens und als Brynhild Sigurd den Erinnerungstrank reicht. Eine solche Passage der Sigurddarstellung, die das Bild tollpatschiger Unvorsicht und Impulshaftigkeit erzeugt, ist für die Völsunga saga und die Heldenlieder einmalig, passt allerdings gut in das Gesamtbild der Heldenjugend Sigurds, das in der Þiðreks saga transportiert wird. Die Saga stellt einen ausgemachten und ausschließlich von seinen Trieben gesteuerten Rohling vor. Neben seinem handwerklichen Ungeschick ist Jungsigurd charakterlich defizitär. Seine Primitivität wird vor allem bei seinem Drachenkampf offenbar. Die Erschlagung des Drachen ist in der Þiðreks saga nicht durch die Reizungen des Erziehers motiviert, sondern dadurch, dass Mimir seinen unliebsamen Zögling beseitigen möchte. Sigurd hackt Holz im Wald, verspeist daraufhin Proviant für neun Tage und trinkt seinen gesamten Wein aus (vgl. Þiðr 271). Nach dieser Völlerei spricht er zu sich: „Kaum kann ich mir den vorstellen, mit dem ich mich jetzt nicht schlagen möchte, wenn er mir in die Quere käme! Ich sollte meinen, einen Menschen totzuschlagen, ginge jetzt nicht über meine  



246 Sprenger 1994, S. 127. 247 Sprenger 1994, S. 127. 248 Sprenger 1994, S. 127. 249 Möglicherweise war Sigmund der ursprüngliche Drachenkämpfer. Die Tat wäre dann erst in späteren Sagenvarianten Sigurd zugeschrieben worden. Vgl. Panzer 1955, S. 297: „Die eddische Erzählung erklärt sich deutlich als eine Übertragung von Sigmunds Drachenkampf, wie er im Beowulf andeutend erzählt wird, auf Sigurd. Auch in unserem Epos zeigt sich noch eine Spur des einstigen Zusammenfließens von Sigmund- und Siegfriedsage.“ Vgl. auch Neckel 1944, S. 302 bzw. Schröder 1921, S. 47. 250 „Ok er freydde or, þa tok hann fingri sínum a ok skyniaþi, hvart steikt veri. Hann bra fingrinum i munn ser“. 251 Siehe 3.3.2–3.3.4.      







4.2 Sigurd als untypischer Held

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Kraft“ (Þiðr 271).252 Als wie zufällig der Drache erscheint, spricht Sigurd weiterhin: „Vielleicht kann ich mich nun schnell erproben, ganz wie ich’s eben wünschte“ (Þiðr 271).253 Bewegt von Mordlust beginnt der Kampf: „Damit sprang er ans Feuer, nahm den größten Baumstamm, der darin glühte, lief auf den Wurm zu und schlug ihn aufs Haupt, daß er nicht Gift schnauben konnte, sondern der Kopf zur Erde sank. Er versetzte ihm Schlag auf Schlag, bis der Drache tot war. Dann packte er seine Axt und schlug ihm damit den Kopf ab. Danach setzte er sich; er war ganz müde geworden“ (Þiðr 271).254 Als Sigurd nach seinem Gelage für neun Tage erneut hungrig wird, beschließt er, den eben erschlagenen Drachen zu verspeisen und bereitet ihn sich zum „Nachtmahl“ (Þiðr 271).255 Obwohl das Essen „wallt[…] und brodelt“ (Þiðr 271),256 steckt Sigurd die Hand in den Kessel. Er verbrennt sich, steckt die Hand in den Mund und sobald die Drachenbrühe auf seine Zunge gerät, versteht er, was die Vögel im Baum über ihm sprechen. Er bestreicht sich mit dem Drachenblut, was seine Haut erhärtet, muss aber den Bereich zwischen den Schultern auslassen, da er ihn nicht erreicht. Mit dem Drachenkopf macht sich Sigurd auf den Heimweg (vgl. Þiðr 271). Die Saga präsentiert das Bild eines gewalttätigen und brachialen Sigurd, der durchaus der Interpretation von Ulrike Sprengers Dümmling entspricht. Im Wald muss er Holzarbeiten verrichten, die im Vergleich zu den zuvor von ihm nicht erledigten Schmiedearbeiten, keine große Kunstfertigkeit verlangen. Wo Sigurd zuvor scheiterte, geht ihm das Holzhacken und ‑verbrennen leicht von der Hand, da für diese Tätigkeiten kein Geschick, sondern reine Kraft von Nöten ist. Nach der Arbeit schlemmt und trinkt Sigurd für neun Tage. So ‚vollgefressen‘ möchte er die überschüssige Energie in Gewalttätigkeit umsetzen. Ihm ist danach einen Menschen zu erschlagen. Als dann der Drache erscheint, geht Sigurd mit ihm nicht anders vor als mit dem Holz: er zerhackt ihn, dann verbrennt er ihn. Der Hunger Sigurds ist unstillbar, also muss auch der tote Drache später als Nahrung herhalten. Die Hand verbrennt Sigurd sich im offensichtlich zu heißen Kessel. Wohingegen der Wissenserwerb in der Völsunga saga und den Eddaliedern im Vordergrund steht, ist es hier die reine Fresslust Sigurds, die ihn das Fleisch des Drachen verzehren lässt („Dann hieb er mit der Axt große Stücke ab“, Þiðr 271).257 Was erhalten  









252 „varla veit ek nu þess mannz vanir er ek munda nu æigi beriaz við ef nu komi han til moz við mic. oc þat hugða ek at æins mannz vig mætti mer vera æcki ofrefli.“ 253 „Nv kann vera at ek mæga skiott rœyna mik allz þo bað ek þess aðan.“ 254 „oc lœypr vpp oc til ællzsins oc tecr nu hit mesta tre þat er avar ælldinum loganda, oc lœypr at orminum oc lystr a hans hœfvð oc lystr hann ormin niðr við hœgit. oc fellr nu ormren til iarðar. oc nv lystr hann huart a annat. til þess er sa ormr er i hæliv. oc nu tecr han sina œxi oc hœgr af hœfuð ormsins. oc nv sæzt hann niðr oc er orðinn all moðr.“ 255 „natverð um kuelldit.“ 256 „oc er vall i katlinum“. 257 „Nv tecr han sina œxi oc brytiar hælldr stort“.

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4. Heldengenese

bleibt, ist die Idee, dass der Verzehr des Drachen das Verständnis der Vogelsprache ermöglicht. Auch hier sind es die Vögel, die Sigurd über den Verrat seines Ziehvaters informieren. Einen Schatzhort gibt es an dieser Stelle nicht.258 Anscheinend ohne Grund behandelt Sigurd seine Haut mit dem Drachenblut, was sie hart wie Horn macht, wobei der Ort zwischen seinen Schultern verwundbar bleibt. Im Nibelungenlied ist es ein Lindenblatt, das die Stelle vom Drachenblut unberührt bleiben lässt (vgl. Nl 902,1–4), in der Þiðreks saga dagegen ist es Sigurds bloßes Unvermögen, mit den Händen an seinen Rücken zu gelangen. Der Kompilator der Saga verarbeitet in der Episode zwar die Motive der nord- und südgermanischen Tradition, beraubt sie allerdings ihres unheilsschwangeren Tones. Stattdessen erhält die Stelle einen schwankhaften Charakter und aus dem Helden Sigurd wird ein komödiantischer schlemmender Schläger. Der Drachen- oder generell der Ungeheuerkampf ist ein zentrales Element der Heroenbiographie und als solches konstituierend für die Figur des Helden.259 Aus der Begegnung und durch die Überwindung des Ungeheuers erwächst dem Helden 258 Obwohl in der Drachenkampfepisode Sigurds in der Þiðreks saga keine Form des Horterwerbs geschildert wird, so findet diese an späterer Stelle Erwähnung. Als Grimhild mit Attila über den Reichtum ihrer Brüder spricht, berichtet dieser: „Ich weiß, Herrin, daß Jung-Sigurd viel Gold besaß, zunächst das, was er dem großen Drachen wegnahm, den er erschlug“; „ek veit fru at Sigvrðr sveinn atte mikit gull. þat fyrst er hann toc vndan þeim mikla dreka er hann hafde drepit“ (Þiðr 385). Die Þiðreks saga ist in ihren Schilderungen oft inkohärent. So heißt der Drache einmal Regin (vgl. Þiðr 268 f.), an anderer Stelle aber Fafnir (vgl. Þiðr 291). 259 Vgl. Haug 1994, S. 312: „Die heroische Urfabel ist deshalb der Drachenkampf. Im Drachen manifestiert sich die Gewalt als dämonisches Ungeheuer, er bedeutet das wesensmäßig Zerstörerische des Historisch-Fremden. Die Drachenkampffabel dürfte zwar ältere mythische Wurzeln haben, sie wird nun jedoch zu einem Kernstück der heroischen Biographie, d. h. dieser Kampf ist nicht mehr Episode eines kosmogonischen Geschehens, sondern konkrete Lebenserfahrung im Zusammenhang des heroischen Aufbruchs des einzelnen Helden. […] Der Ungeheuerkampf taucht in der germanischen Sage zwar in merkwürdiger Beliebigkeit auf, aber er scheint dabei doch allgegenwärtig zu sein. Das spricht für ein – wenn auch noch so abgeschwächtes – Bewußtsein davon, daß er zum Grundbestand des heldenepischen Inventars gehört.“ Der Drache ist die Manifestation des Gegenspielers, der gerade noch im Mythos die chaotischen Mächte des Kosmos repräsentiert, denen sich der Held, der Gott oder der Heros entgegenstellt. Vgl. McConnell 1999, S. 172: „der Drache, zumindest in der abendländischen Tradition, gilt seit dem Mittelalter als Inbegriff des Chaos und des Zerstörungswillens, eine gewaltige Herausforderung an die Verfechter des ‚ordo‘, ganz gleich, ob es sich dabei um den heldenhaften Siegfried/Sigurd oder den legendären Sankt Georg handelt.“ Vgl. Lionarons 1998, S. 6: „if the killing of a dragon constitutes the definition of a hero par excellence, then the dragon is also defined, by implication, as the ultimate adversary.“ Vgl. Hammer 2010, S. 142: „Einen […] ultimativen Gegner repräsentiert bis heute – weit über die europäische Erzähltradition hinaus – der Drache. […] Er ist das personifizierte Chaos. Drachen gelten als unverwundbar und unbesiegbar, und genau diese Eigenschaften sind es, die einen übermenschlichen Kampfpartner erforderlich machen: Nur ein außergewöhnlicher Heros ist überhaupt in der Lage, einem solchen Ungeheuer gegenüberzutreten und es zu bezwingen. Der Sieg über einen Drachen stellt in besonderer Weise die Exemplarizität des Helden unter Beweis, er ist eine exemplarische heroische Tat schlechthin.“ Vgl. Hume 1980, S. 7: „monsters are used to define a man as hero […], to define a hero as a man […], and to comment on the nature of heroism.“  





















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4.2 Sigurd als untypischer Held

seine Identität.260 Damit geht aber oft auch eine Transformation des Helden einher. Es bleibt nicht dabei, dass der Held ebenso große und bisweilen ungeheuerliche Kräfte aufwenden muss, um das Monster zu besiegen.261 Nach der Erschlagung können Eigenschaften des Gegners auf den Helden übergehen, die ihn selbst in den Bereich des Monströsen rücken.262 Ähnlich wie bei Fafnir, bei dem sich seine Wesenszüge physisch manifestiert haben – er war so bösartig, dass er zum Drachen wurde – ergeht es dem Ungeheuertöter: Um sich des Monstrums zu entledigen muss er Kräfte mobilisieren, die so anderweltlich sind, dass er selbst Aspekte des Ungeheuers annimmt. Sigmund tötet die Mutter Siggeirs, als sie in Wolfsgestalt ist und wird später selbst zum Wolf. Dem Siegfried des Nibelungenliedes wird die Haut durch das Drachenblut gehärtet. Sie ist wie Horn, wie das Lied vom Hürnen Seyfried263 den eponymen Helden beschreibt, was der Haut dieselbe äußerliche Beschaffenheit gibt, wie der des zuvor getöteten Drachen. Schon vor der Drachentötung verfügt Sigurd über seinen scharfen Blick264 (vgl. Vs 13, 23, 32), der an die Eigenschaften des Schreckenshelmes erinnert.265 Der durchdringende Blick vererbt sich ebenso auf  

260 Er wird zum Fafnirtöter (siehe 3.1.6). Vgl. Deichl 2015, S. 80–87. Vgl. auch Lionarons 1998, S. 50. 261 Vgl. Haug 1994, S. 312: „Es geht letztlich um die Frage, was geschieht, wenn Gewalt mit Gewalt beantwortet wird.“ Vgl. Lionarons 1998, S. 9: „the two [Held und Ungeheuer] signify […] the maleficent and beneficent aspects of the same mythic violence. […] ‚[G]ood‘ violence is split from ‚bad‘“. 262 Vgl. Haug 1994, S. 314: „Der Gegner in seiner übermächtigen Gewalt kann nur dadurch besiegt werden, daß man selbst gewalttätig wird. Man muß zu dem werden, was der Gegner ist, um ihm gewachsen zu sein. So kommt es zu einer erschreckenden Angleichung des Helden an das Dämonische, das er zu besiegen ausgezogen ist.“ Weiterhin spricht Walter Haug von einer „Dämonisierung“ (Haug 1994, S. 314) und davon, „daß die besiegte Gewalt in den Sieger übergeht, der sie bewußt und damit in gewisser Weise gebrochen weiterspielt und nicht zuletzt dadurch eine Replik herausfordert, die ihm am Ende zum Verhängnis werden kann“ (Haug 1994, S. 315). Kathryn Hume spricht in dieser Hinsicht von einer generellen Prekarität des Monstertöters, dessen Kraft und Gemüt nur allzuleicht seine Gesellschaft zu überfordern vermag: „Any hero whose specialty is deeds of strength, rather than cunning, or sanctity, or other social virtue, has the potential for doing damage to society rather than serving it. Those that have power to hurt and will do none are rare. In […] Vǫlsunga saga […] we find recognition of this dark side of strength“ (Hume 1980, S. 11). Dem gegenüber steht aber auch eine viel ‚unschuldigere‘ Sicht auf den Ungeheuerkampf, die aufzeigt, dass die Wahrnehmung der frühen Forschung auf den Helden viel weniger kritisch war. So sagt Andreas Heusler: „Wo es um Drachen- und Riesenkämpfe geht, da kommt es an auf die Unerschrockenheit, das feste Herz, das nicht erzittert beim Anblick des grausigen Ungetüms. Dazu freilich auch auf die starke Hand und die erprobte Waffe“ (Heusler 1969 [1934], S. 171). 263 Vgl. Brunner 1983, S. 317–319. 264 Der durchdringende Blick ist Merkmal des Drachen und in der Etymologie des Wortes als „scharfblickend(es Tier)“ (Pfeifer et al. 1989, S. 302) verankert. Riti Kroesen bespricht den scharfen Blick allerdings auch als allgemeines Königs- und Herrschermerkmal (vgl. Kroesen 1985, S. 41–58) und weist in diesem Zuge auch auf Helgis in Heldenmanier geschärfte Augen hin (vgl. HH. 6). Vgl. zu Sigurds drachenartigem Blick Kroesen 1985, S. 51–52. 265 Diesen nimmt Sigurd nach seiner Fafnirstötung an sich (vgl. Vs 20). Von Matthias Teichert wird das als Zeichen erkannt, dass Sigurd nun selbst in seinem Wesen in Richtung des Ungeheuers rückt: „Höhepunkt und Abschluss dieser Metamorphose ist die Aneignung des Schreckenshelms, durch den sich zu 

























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Sigurds Tochter Svanhild (vgl. Vs 41) und auch in der Beschaffenheit der Augen seines Nachkommen in der Ragnars saga, Sigurd Wurm im Auge, ‚Sigurðr ormr i auga‘ (vgl. Rs 9), zeigt sich die Abstammung vom Völsungen Sigurd. In seinem Auge trägt er ein Drachenzeichen.266 Durch seine Begegnung mit der anderweltlichen Kreatur wird der Held selbst ein Geschöpf der anderen Welt.267 Sein Drachenkampf ist für ihn mythisch konstituierend in physischer, psychischer und sozialer Sicht.268 In der südgermanischen Tradition um Sigurds Drachenkampf steht die Unverwundbarkeit im Vordergrund, wie das Nibelungenlied, Das Lied vom Hürnen Seyfried und die von hanseatischen Kaufleuten beeinflusste Þiðreks saga zeigen. Weder die Völsunga saga noch die Heldenlieder kennen diesen Aspekt. Die Drachenkampfepisode hat in den skandinavischen Texten den Erwerb von Wissen und Weisheit als Hauptthema. Sie stellt Sigurd nicht nur als wissende und reflektierte Figur dar, sondern beschäftigt sich auch mit dem systematischen Aufbau von Sigurds Wissen und Weisheit. Bei jeder Station, die der Held in der Jungsigurddichtung durchläuft, wer-

vor der in der Wildnis hausende Fáfnir von den Bewohnern der Menschenwelt isoliert hatte und mit dem sich von nun an Sigurd außerhalb und über die menschliche Gemeinschaft stellt. Mit der Inbesitznahme des Schreckenshelms, der mittels seiner furchteinflößenden Macht den schlangengestaltigen Fáfnir in der Wahrnehmung seiner sozialen Umwelt auch wesensmäßig in einen Drachen verwandelt hatte, durch den Drachenkämpfer ist dessen Transformation abgeschlossen“ (Teichert 2014, S. 151 f.). Vgl. zum Schreckenshelm Teichert 2012, Abs. 1–8, besonders Abs. 8 zu einem etwaigen motivischen Zusammenhang zwischen dem scharfen Blick Sigurds und dem Schreckenshelm. Zu den eventuellen metamorphen Eigenschaften des Schreckenshelmes vgl. Teichert 2009, S. 283–284. 266 Was von Aslaug als „Ehrenmal“; „fregdarmark“ (Ragn 9) wahrgenommen wird. 267 Vgl. Klein 1988, S. 136 f. Der Drachenkampf sei, so de Vries, ein Ereignis, das den Helden zum Heroen konstituiere: „Er [der Drachenkampf] gehört ja nicht nur zur Heldensage, sondern auch zum Mythus“ (de Vries 1961(b), S. 401). Er sei ein „Beispiel für die Analogie zwischen Held und Gott“ (de Vries 1961(b), S. 402). 268 Inwiefern der Held selbst monströse Elemente nach seinem Ungeheuerkampf annimmt und zu welchem Grade er diese schon im Vorfeld besitzen muss, um gegen das Monstrum zu bestehen, elaboriert Matthias Teichert ausführlich in seiner Untersuchung zum monströsen Heros (vgl. Teichert 2014, S. 143–173). Ebenso argumentiert Joyce Tally Lionarons für eine Übernahme drachischer Qualitäten durch den Drachentöter: „the dragon conceals itself in a new form that simultaneously reveals itself in the ‚dragonish‘ characteristics acquired by the dragon slayer: Siegfried’s horn-hard skin or his knowledge of the language of birds“ (Lionarons 1998, S. 11). Grimstad 2000, S. 54 spricht von der „idea of interrelationship between hero and monster, the notion that the hero has been tainted by his confrontation with the monster and is now flawed“. Vgl. ebenso Hammer 2010, S. 147 f.: „Hier geht es allerdings weniger darum, die Gesellschaft von einem sie bedrohenden Ungeheuer zu befreien, sondern mit dieser Tat tritt Sigurd/Siegfried nun selbst ein Stück weit aus der Gesellschaft heraus, sie markiert den Umschlagspunkt zum schier übermenschlichen Heroen, als der er von nun an agieren wird und als der er dann auch im Nibelungenlied auftritt, wo sein Drachenkampf nur mehr als kurze Reminiszenz an seine früheren Taten auftaucht, selbst schon in eine heroische Vorzeit verlegt.“ Sein Drachenkampf führe Sigurd in die „Vereinzelung“ (Hammer 2010, S. 161). Vgl. McConnell 1999, S. 175–181, der von dem ‚Enantiodromia‘ genannten Verwandlungsprozess schreibt, der „Verwandlung eines Dinges in sein Gegenteil“ (McConnell 1999, S. 175). Durch das Töten des Drachens werde der Held selbst zum Vertreter des Chaos.  





























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den sein Wissen und sein Zugang zur mythischen Welt intensiviert. In den Drachenkampfepisoden der nordischen Texte liegt das Augenmerk auf der Vorbereitung für den Kampf und auf dem richtigen Vorgehen, das der Drachentöter anwendet, um das Ungeheuer zu besiegen. In den Fáfnismál wird beschrieben, wie Sigurd „auf dem Weg eine große Grube“ (Fm. Einleitungsprosa)269 gräbt, um den Drachen Fafnir von dort aus mit einem einzigen Schwertstoß zu töten. Ähnlich läuft es in der Völsunga saga ab (vgl. Vs 18). Die Ragnars saga erzählt, dass der Titelheld Schutzkleidung herstellt, bevor er den Drachen mit einem einzigen Stoß seines Speeres tötet:  

Er ließ sich Kleider von seltsamer Art machen: eine Bruch und einen Mantel von Loden; als sie fertig waren, ließ er sie in Pech sieden; darauf härtete er sie. […] Er ging allein fort von den Schiffen nach dem sandigen Strand und wälzte sich dort im Sande; […] als er an den Hofzaun kam, wo der Wurm lag, stach er mit seinem Spieße nach ihm. […] Darauf drehte Ragnar sich um und ging weg: da traf ihn ein Blutstrahl zwischen den Schultern, aber die Kleidung, die er sich hatte machen lassen, schützte ihn so, daß er keinen Schaden davon bekam (Ragn 3).270

Die Beschreibung zeigt, dass Ragnar über ein gewisses nicht weiter erklärtes Vorwissen verfügt. Nicht nur weiß er genau, wie die Schutzkleidung, die ihm auch seinen Beinamen ‚Lodenhose‘ verleiht, beschaffen sein muss, sondern er wird tatsächlich von einem Blutstrahl getroffen, der genau durch seine Kleidung unschädlich gemacht wird. Die Texte südlicher Tradition kennen eine solche Vorbereitung auf den Drachenkampf nicht. Im Nibelungenlied heißt es einfach „Er hat mit eigener Hand einen Drachen erschlagen“ (Nl 100,2).271 Weitere Details über Vorbereitung und Kampfhergang erfahren wir nicht. Auch der Iwein Hartmanns von Aue kennt – ähnlich der Þiðreks saga – den Drachenkampf des Ritters nur als spontanen Akt infolge einer Zufallsbegegnung: Als Iwein sieht wie Löwe und Drache einander bekämpfen, schlägt er einfach drauf los:272 „Er saß ab und stürmte auf den Drachen los, | schlug ihn gleich tot | und half dem Löwen aus der Bedrängnis“ (Iwein 3862–3864).273 Anders operiert die Völsunga saga, die das Vorher der Erschlagung Fafnirs besonders elaboriert. Dem tumben, dümmlich anmutenden Sigurd der Þiðreks saga, in der  



269 „grǫf micla á veginom“. 270 „Hann lętr giora ser fauth med undarligum hętte, þat eru lodbrękr ok lodkapa, ok nu er giorr eru, þa lętr hann þau vella i biki. Siþan hirdir hann þau. […] gengr af skipunum einn saman ok þar, er sandr er, ok nu vęlltizt hann i sandinum. […] er hann kemr i skidgardinn, þar sem ormrinn var, legr hann til hans med spiote sinu […] Ok nu snyr Raghnar a brutt. Þa kemr blodboghe mille herda honum, ok þat sakar hann eigi. Sva hlifa honum klęde þau, sem hann let giora.“ 271 „einen lintrachen den sluoc des heldes hant“. 272 Vgl. Deichl 2015, S. 82: „Im Zentrum der Episode steht nicht der eigentliche Kampf, sondern die Entscheidung des in Ungnade gefallenen Ritters. Drache und Löwe stehen als Symbole für das Böse und das Gute. Wie sehr der Ritter in seinen moralischen Grundfesten erschüttert ist, wird durch sein langes Zögern ersichtlich. Letztendlich ist dies sein eigentlicher Drachenkampf. Da der Drache seines inneren Selbstzweifels besiegt ist, ist die Erschlagung des physischen Drachen nur noch eine Tat pro forma.“ 273 „er erbeizte und lief den wurm an | und sluoc in harte schiere tôt | und half dem lewen ûz der nôt.“  

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von Vorbereitung oder vorausgehender Gedankenarbeit vor dem Drachenkampf keine Spur zu finden ist, steht der Sigurd der Völsunga saga gegenüber. Reflektierend, affektkontrolliert und antizipierend entspricht er dem „geistig überlegen[en]“274 Typus. Der Plan zur Erschlagung Fafnirs wird von Regin geliefert, allerdings durchschaut Sigurd, dass das Vorgehen nicht ausreichend sein wird, um ihn selbst vor dem Blut des Drachen zu schützen. Letztlich ergänzt der Gott Odin Sigurds Vorbereitung und gibt ihm als weiser Ratgeber das richtige Handeln an die Hand (vgl. Vs 18).275 Als Fafnir erscheint bleibt Sigurd furchtlos: „Sigurd aber erschrak nicht, noch fürchtete er sich vor dem Getöse“ (Vs 18).276 Nachdem er dem Drachen das Schwert in den Bauch gestoßen hat und von seinem Blut übergossen wird, hat er abermals „die ganzen Arme blutig bis zur Achsel hinauf“ (Vs 18).277 Diese Beschreibung entspricht der heroischen Ästhetik der Schlachten Sigurds und Sigmunds mit Lyngvi, in denen Vater und Sohn identisch dargestellt werden (vgl. Vs 11 bzw. 17).278 Ähnlich wie bei Ragnar, dem die tödliche Gefahr erst nach der Drachentötung erwächst, entsteht bei der Erschlagung Fafnirs die Hauptschwierigkeit erst dann, als dieser die tödliche Wunde bereits empfangen hat.279 Nicht nur folgt auf die Verwundung der Todeskampf des Untiers, bei dem es „alles entzwei brach, was ihm in den Weg kam“ (Vs 18),280 sondern der Held Sigurd muss sich auch dem Drachen im Gespräch stellen.281 Die Fáfnismál betonen das direkte Gegenübertreten von Sigurd und Fafnir: „da sah einer den anderen“ (Fm. Einleitungsprosa).282 Fafnir fragt Sigurd über seine Natur aus. Auf die Frage, wer dieser sei („Wer bist du, und wer ist dein Vater, und welches ist dein Geschlecht, daß du so kühn bist und

274 Sprenger 1994, S. 127. Vgl. auch Sprenger 1991, S. 119. 275 Siehe 3.1.3. Das Hinabsteigen in die Grube, das Töten von unten sowie das Vorfinden des Drachenschatzes in einer unterirdischen Halle deutet Jens Peter Schjødt als den mit einem Initiationsvorgang in Verbindung zu bringenden symbolischen Abstieg in die Unterwelt, als eine Unterweltsreise des Helden (vgl. Schjødt 2008, S. 291–296). 276 „eigi hręddizt Sigurdr nę ottazt vid þann gny.“ 277 „allar hendr blodgar upp til axlar.“ 278 Die bis zu den Achseln blutigen Arme nennt Mathias Kruse eine „stock phrase“ (Kruse 2017, S. 176), die sich als Motiv in zahlreichen Kampf- und Gewaltdarstellungen der isländischen Literatur, vor allem der von ihm untersuchten Ritter- und Abenteuersagas, findet. Für eine Stellensammlung vgl. Kruse 2017, S. 176 ff. 279 Eine Schwierigkeit im Kampf gegen das Ungeheuer besteht nicht darin, es zu töten, sondern die Konsequenzen des Todesstoßes zu überleben. Tristan muss dem Gift und der Agonie des Drachen trotzen. Odysseus muss sich noch mit einer List aus der Höhle schleichen, nachdem er Polyphemos geblendet hat. Beowulf tötet den Drachen, erliegt aber danach seinen Verwundungen (vgl. Deichl 2015, S. 80– 85). 280 „allt brast i sundr, er fyrir vard.“ 281 Kathryn Hume beschreibt Fafnir als einen hochintelligenten und gefährlichen Gesprächspartner (vgl. Hume 1980, S. 9). 282 „sá þá hvárr annan.“  















4.2 Sigurd als untypischer Held

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wagst, die Waffen wider mich zu tragen?“, Vs 18),283 antwortet Sigurd, indem er seine Identität verhehlt: „Mein Geschlecht ist den Menschen unbekannt. Ich heiße edles Tier, habe keinen Vater noch Mutter, und allein bin ich gewandert“ (Vs 18)284 beziehungsweise ähnlich in den Fáfnismál: „Herrliches Tier heiß ich, bin herumgezogen | als mutterloser Sohn; | einen Vater hab ich nicht, wie der Menschen Söhne, | ich geh immer allein“ (Fm. 2).285 Das Eddalied liefert in der vorangegangenen Prosa die Erklärung für Sigurds verschleierte und formelhafte Antwort:286 „Sigurd verheimlichte seinen Namen, weil man in den alten Zeiten glaubte, dass das Wort eines todgeweihten Mannes viel bewirken könne, wenn er seinen Feind mit dessen Namen verfluchte“ (Fm. Prosa nach 1).287 Sigurd antwortet in Form einer „Rätselstrophe“.288 Die Stelle mutet wie ein zauberisches Gespräch zwischen Held und mythischem Untier an. Gleich einem Odysseus, der sich bei Polyphemos als ‚Niemand‘ vorstellt, und somit voraussieht, dass er mit dieser Falschaussage dem Zorn der anderen Zyklopen entgehen kann,289 nennt Sigurd seinen Namen nicht. Dies hält allerdings nicht lange an. In den Fáfnismál fragt Fafnir: „weißt du, wenn du keinen Vater hast, wie der Menschen Söhne, von welchem Wunderwesen du gezeugt wurdest?“ (Fm. 3).290 Die Völsunga saga lässt den Drachen dieselbe Frage stellen, ergänzt allerdings: „Und wenn du mir auch in meiner letzten Stunde deinen Namen nicht nennst, so heiß ich dich Lügner“ (Vs 18).291 Dies bringt Sigurd dazu, sich zu Erkennen zu geben: „Ich heiße Sigurd, und mein Vater Sigmund“ (Vs 18, ähnlich in Fm. 4).292 In den Fáfnismál geht Fafnir auf das Rätsel Sigurds ein293 und entlarvt ihn mit einer weiteren Frage, die Sigurd dazu bringt, Namen und Herkunft zu verraten. Der Zusatz der Völsunga saga, Sigurd sei ein Lügner, wenn er weiter nicht entsprechend antworte, rückt die Passage in eine andere Sphäre. Wohingegen sich die Fáfnismál gänzlich im Rahmen eines mythischen Rätselwettstreites und Zauberdialoges bewegen, wird der listenreiche, seine Identität verhehlende Held in der Völsunga saga zurückgelassen. Da Sigurd Gefahr läuft, ein Lügner genannt zu werden, setzt sich das heroische Selbstverständnis der

283 „Hverr ertu, eda hverr er þinn fadir, eda hverr er ętt þinn, er þu vart sva diarfr, ath þu þorir at bera vopn a mik?“ 284 „Ęth min ęr monnum ukunnigh. Ek heite gaufugt dyr, ok a ek engan faudur ne modur, ok einn saman hefi ek farit.“ 285 „Gǫfuct dýr ec heiti, enn ec gengit hefc | inn móðurlausi mǫgr; | fǫður ec ácca, sem fira synir, | geng ec æ einn saman.“ 286 Siehe 4.1.5. 287 „Sigurðr dulði nafns síns, fyr því at þat var trúa þeira í fornescio, at orð feigs mannz mætti mikit, ef hann bǫlvaði óvin sínom með nafni.“ 288 Schmalzer 2017, S. 104. 289 Vgl. von Geisau 1972, Sp. 1010. 290 „Veiztu, ef fǫður né áttað, sem fira synir, | af hverio vartu undri alinn?“ 291 „Ok þott þu segir mer eigi þitt nafn a banadęgri minu, þa veiztu, at þu lygr nu.“ 292 „Ek heite Sigurdr, enn fadir minn Sigmundr.“ 293 Vgl. Schmalzer 2017, S. 104.  





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4. Heldengenese

Figur durch und die Ehre wird um jeden Preis gewahrt, auch wenn dies bedeutet, sich mitsamt seiner Identität dem Drachen auszuliefern.294 Während Sigurd im mythischen Gespräch der Fáfnismál bald enttarnt wird und somit die ursprüngliche Verschleierung seines Namens für den weiteren Dialog an Bedeutung verliert,295 motiviert die Völsunga saga das schnelle Einknicken des Protagonisten: Zwar war Sigurd unanfällig für die Provokationen Regins, doch kann er den Vorwurf, ein Lügner zu sein, nicht auf sich sitzen lassen. Er muss reagieren, bisherige Affektkontrolle hin oder her. Zwar steht der nordische Typ des Drachentöters mit seiner Vorsicht und seiner antizipatorischen Planung nahe an den Idealen des höfischen Ritters, kann sich allerdings dem heroischen Sog doch nicht entziehen.296

4.2.3 Warum Fafnir nicht zerhackt wird An den Beispielen der Þiðreks saga und des Iwein haben wir gesehen, wie der Held der südgermanischen Tradition mit dem Drachen verfährt. Er ist ihm im Kampf überlegen, verfährt nach Belieben mit ihm und schlägt ihn tot. Sein Sieg steht nicht in Frage. Vor Augen kommen die Abbilder des heiligen Georg, der als Triumphator über dem besiegten Ungeheuer thront und ihm bisweilen im Rahmen einer Calcatio-Geste als Zeichen der Unterwerfung den Fuß auf Kopf, Hals oder Leib stellt. Bei den Drachenkämpfen der nordischen Texte sieht das allerdings ganz anders aus. Was die Deutung von Bildquellen zum Sigurdstoff angeht, verdeutlicht Klaus Düwel die Terminologie, mit der er arbeitet: „Sigurd stößt nur einmal mit dem Schwert zu, dieser eine Stich ist tödlich. Es findet kein Kampf statt, es handelt sich hier um eine Drachentötung […]. Aus dem Typus ‚Drachenkämpfer‘ kann die individuelle Drachentötung durch Sigurd mit Hilfe der genannten Merkmale eindeutig ausgesondert werden.“297 Sigurd – ebenso wie Ragnar loðbrók – scheint seinem Gegner nicht von Haus aus überlegen. Es bedarf der Vorbereitungen und der Schutzmaßnahmen, um den Drachenkampf, oder eben die Drachentötung, um bei Düwels Terminologie zu bleiben, auszuführen. Der Drachenstich ist eine einmalige aus dem Hinterhalt ausgeführte An 



294 Vgl. Haimerl 1993, S. 89: „Neben dem für die Senna typischen Wechsel von Pejorisierung und Dominanzsetzung erlaubt das Streitgespräch Einblick in Sigurds Charakter. Er weiß um das richtige Verhalten – auf die erste Provokation reagiert er mit kluger Zurückhaltung – doch bei der gesteigerten Provokation kann er nicht an sich halten und läßt Sapientia vermissen.“ 295 Vgl. Schmalzer 2017, S. 104: „Überraschenderweise verrät Sigurðr gleich anschließend seine wahre Identität […], was die anfängliche Verheimlichung seiner Herkunft sofort zu einem blinden Motiv des Gedichts werden lässt. Das Auftreten unter falschem Namen und das Verbergen der wahren Abstammung spielen für Sigurðrs intellektuellen Austausch mit Fáfnir jetzt überhaupt keine Rolle mehr.“ 296 Und tatsächlich kann dies auch der Typus des höfischen Ritters nicht. Für ihn gilt ebenso das Prinzip der Bewahrung der êre, des Ansehens, um jeden Preis. Die kompromisslose Ehrerhaltung ist eine heroisch-höfische Invariante. 297 Düwel 1986, S. 230.  









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4.2 Sigurd als untypischer Held

gelegenheit. Er erinnert an ein Attentat.298 Wie passt also nun ein solches Vorgehen zum größten germanischen Helden? „[D]iese Heldentat wird im Gedächtnis fortleben, solange die Welt steht“ (Vs 19),299 sagt Regin, direkt im Anschluss an die Drachentötung. In Anlehnung an die Definitionen Jan Philipp Reemtsmas300 spricht Armin Schulz angesichts der Art und Weise wie mit den Ungeheuern des höfischen Romans verfahren wird von autotelischer Gewalt, also von Gewalt zum Selbstzweck: Autotelische – überschüssige und damit gewissermaßen selbstbezügliche – Gewalt wird etwa dann angewendet, wenn man im Kampf an besonders widerwärtige Gegner gerät, die jenseits des höfischen Comments agieren. Besonders Drachen und andere Monster werden akribisch zerstückelt […]. All diese Erscheinungsformen von Gewalt, […] fungieren in der mittelalterlichen Epik als Mittel der Durchsetzung von Ordnung […]. Sie dienen der Einhegung von Unordnung und auch von unkontrollierten Affekten. Überraschend für uns Heutige ist dabei die ordnungsstiftende Macht realer und auch virtualisierter Gewalt.301  



Gottfrieds Tristan führt das sehr exemplarisch vor. Nachdem Tristan einen Drachen mit einem doppelten Stich ins Herz – erst mit der Lanze, dann mit dem Schwert – getötet hat, bricht er ihm den Kiefer auf und schneidet die Zunge heraus (vgl. Tristan 8979–9062). Dem Mörder seines Vaters spaltet er vollständig den Schädel und durchstößt ihm danach noch das Herz (vgl. Tristan 5450–5455), Morolt, dem Vertreter einer feindlichen Hofgesellschaft, schlägt er die Hand und den Kopf ab (vgl. Tristan 7046– 7085). Der Riese Urgan verliert im Kampf gegen Tristan die Hand und beide Augen, bevor sein Körper durch einen Sturz von einer Brücke zerschellt (vgl. Tristan 16039– 16174). Die völlige Vernichtung und Demontage des Ungeheuers ist die Manifestation der höfischen Gesellschaft in Abgrenzung gegenüber dem Außenstehenden.302 Obwohl dabei der Unterschied zwischen der höfischen Kultur und den unhöfischen Elementen horizontal dargestellt wird – der Hof ist das Innen, das Unhöfische ist das Außen, die  





298 Und dafür erfährt der Held bisweilen Kritik durch die Forschung. Vgl. etwa Steblin-Kamenskij 1982, S. 87 f. Zum Motiv des listenreichen Drachentöters vgl. Ploß 1966, S. 47 ff. 299 „þetta fremþarverk mun uppe, medan verolldinn stendr.“ 300 Vgl. Reemtsma 2008, S. 104–124. Jan Philipp Reemtsma spricht von drei Typen von Gewalt: „Lozierende Gewalt behandelt den Körper des Anderen als Masse, der ein Ort zugewiesen wird. […] Er ist im Weg oder muss irgendwo hingebracht werden, an einen speziellen Ort, wo er gebraucht wird. Raptive Gewalt benutzt den Körper, um an ihm irgendwelche (meist sexuelle) Handlungen zu vollziehen. Autotelische Gewalt will den Körper beschädigen oder zerstören“ (Reemtsma 2008, S. 106). 301 Schulz 2015, S. 74 f. 302 Gleichzeitig ist aber die überbordende Gewalt ebenso ein Merkmal des Außenstehenden und Unhöfischen. Vgl. Friedrich 2005, S. 132: „Die Spannung zwischen Disziplinierung und Entfesselung wird am Beispiel des Kampfverhaltens auf komplexe Art durchgespielt. Rohe unkontrollierte Naturgewalt wird meist auf die Seite der Gegner ausgelagert, auf Tiere, Riesen, wilde Frauen oder affektgesteuerte Kämpfer. Roher Gewalt wird dabei mit kontrollierter Kampftechnik (list) begegnet.“  

















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4. Heldengenese

Wildnis – geht es aber letztlich um vertikale Wertungen. Durch die plakative und totale Gewalt, die im höfischen Roman an den Eindringlingen und Geschöpfen des Draußen ausgeübt wird, verdeutlicht sich das Selbstverständnis des Adels gegenüber den Gegnern seines Standes.303 In der skandinavischen Heldensage ist es dagegen nicht notwendig, die Mächte eines mythischen Draußen in dieser Form durch Gewalt unkenntlich zu machen, da sie nicht den Standesfeind der höfischen Kultur repräsentieren. Das ist nicht irgendein Monster, das Sigurd da erschlägt. Fafnir ist eine in der Erzählung fest verankerte Figur mit Wurzeln und Bezug zur restlichen Textwelt. Er hat durch seine Taten und seine Verwandlung zwar die chaotische andere Welt betreten, ragt allerdings immer noch in das Kollektiv der Textfiguren hinein. Durch seine Erschlagung soll das, was er mit nach draußen genommen hat,304 nämlich der Schatzhort, wieder eingegliedert werden. Regins Motivation, Sigurd gegen Fafnir aufzuhetzen, ist eine Erbstreitigkeit305 und dass die Familienbande durch die Drachengestalt nicht ausgelöscht wurden, zeigt sich auch dadurch, dass nach Fafnirs Tod die Frage nach Schuld und Rachepflicht aufkommt: „Nun stand Regin auf und sah lange Zeit zur Erde nieder, dann sagte er in großer Erregung: ‚Meinen Bruder hast du erschlagen, und schwerlich bin ich selbst schuldlos an dieser Tat‘“306 (Vs 19).307 Später bei den Meisen: „Da sang die fünfte: ‚Nicht ist er so weise, wie ich bisher wähnte, wenn er seiner [Regins] schont, nachdem er vorhin seinen Bruder gefällt hat‘“ (Vs 20).308 Bevor Regin Rache für den toten Bruder nehmen kann, wird er aber von Sigurd in Form eines Präventivschlages getötet. Sowohl das Drachenherz als auch das Drachenblut werden nach Fafnirs Tod verzehrt. Es sind physische Teile Fafnirs, die nicht durch Zerstückelung unkenntlich gemacht werden sollen,309 sondern die man sich einverleibt und die dann auch einen Nutzen mit sich bringen. Es geht bei der Erschlagung Fafnirs nicht um die Abgrenzung durch Zerstörung von etwas Fremdem, sondern darum die Ausgrenzung von etwas  

303 Für drei Beispiele wie im höfischen Roman durch Gewalt Ordnung im unhöfischen Bereich erzeugt wird vgl. Schnyder 2005, S. 366–375. 304 Winder McConnell stellt Fafnir als ein entrücktes Geschöpf dar: „Fáfnir war einst ein Mensch […]. Zu beachten ist, daß […] Fáfnir anscheinend so gut wie gar nicht mehr mit der Welt zu tun hat, nachdem er sich auf die Gnitaheide zurückgezogen hat […]. In der Wüste stellt weder er selbst noch der Hort, den er hütet, eine mittel- oder unmittelbare Gefahr für die Welt dar“ (McConnell 1999, S. 176 f.). 305 Siehe 6.2.4. 306 Siehe 6.1.6. 307 „Nu stendr Reginn ok ser nidr i iordina langha hrid. Ok þegar eptir þetta męllti hann af miklum moþe: ‚Brodur minn hefir þu drępit, ok varla ma ek þessa verks saklaus vera.‘“ 308 „Þa męllti enn fimta: ‚Eigi er hann sva hoskr, sem ek ętla, ef hann vęgir honum, enn drepit adr brodur hans.“ 309 Im Nibelungenlied etwa haut Hildebrant Kriemhilt „ze stücken“ (Nl 2377,2), nachdem sie wiederum Hagen enthauptet hat. Kriemhilts Tat ist von einer so unfassbaren Abwegigkeit, dass sofort geahndet werden muss, dass sie sich am Heroenverband vergriffen hat. Das Zerstören und Unkenntlichmachen ihres Körpers ist das, was einem Ungeschehenmachen am nächsten kommt. Jan-Dirk Müller beschreibt das Zerstückeln als eine Strafe für einen Verräter (vgl. Müller 1998, S. 168).  







4.2 Sigurd als untypischer Held

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Vertrautem ungeschehen zu machen. Der Drache behält eine Identität und eine Persönlichkeit. Er ist ein Geschöpf, unter dem man etwas versteht und ist keinesfalls anonym. Sigurd ist nämlich nicht der Drachentöter, er ist der Fafnirstöter (vgl. Vs 33, 42). Der Wurm des Nordens ist kein Kulturfeind. Dass Vertretern fremder Kollektive allerdings durchaus mit autotelischer Gewalt begegnet wird, beweist Sigurd bei seiner Rachefahrt: „Sie fuhren mit Feuer und Schwert dahin, erschlugen die Männer und verbrannten die Gebäude, und heerten, wohin sie kamen“ (Vs 17),310 heißt es da. Die Wildheit Sigurds und seines Heeres ist größer, „als daß man Beispiele dafür finden könnte“ (Vs 17).311 Sigurd „hieb beides, Reiter und Rosse, nieder“ (Vs 17)312 und trifft letztlich auf seinen Feind Lyngvi „und spaltete ihm Helm und Haupt und den gepanzerten Leib. Darauf hieb er Hjörvard, dessen Bruder, in zwei Stücke und erschlug dann alle Hundingssöhne, die noch am Leben waren, und den größten Teil ihres Heeres“ (Vs 17).313 Die Reginsmál lassen Sigurd den Blutadler in den Rücken seines Feindes schneiden314 (vgl. Rm. 26). Diese Art von überbordender Gewalt315 entspricht der Art und Weise, wie der höfische Roman seine Drachen, Riesen und Unholde behandeln lässt. Bei Fafnir ist allerdings diese Art der Demontage nicht angebracht.

4.2.4 Wissensdialog und Wissensaufnahme Fafnir warnt Sigurd vor dem Hort und prophezeit diesem den Tod, sollte er den fluchbeladenen Schatz an sich nehmen: „dieser Hort, den ich gehabt habe, bringt dich zur Hel“ (Vs 18)316 oder: „Das klingende Gold und der glutrote Schatz, | dich werden diese Ringe töten“ (Fm. 9).317 Hierauf entspinnt sich ein Lehrdialog318 – in den Fáfnismál in  

310 „Þeir lata þegar geisa elld ok iarn, drepa menn, enn brenna bygdina ok eyda þar, sem þeir fara.“ 311 „enn dęme finnizt til.“ 312 „hauggr będi menn ok hesta“. 313 „klyfr hialm hans ok haufud ok bryniadann buk, ok siþan hauggr hann Hiorvard, brodur hans, sundr i tva luti, ok þa drap hann alla Hundingssonu, er eptir lifdu, ok mestan luta lids þeira.“ 314 Vgl. Teichert 2014, S. 150: „Hier dokumentiert sich erstmals in Sigurds Biographie die heroische Eigenschaft der Brutalität: mit der grausamen Hinrichtung seines Feindes beginnt der ‚Übermensch‘ Sigurd Züge des Unmenschlichen anzunehmen.“ Auch Gerd Will bemerkt diese Auffälligkeit: „Seinen Vater und Großvater rächt Sigurð an den Hundingssöhnen. Er ist recht grausam, denn er ritzt dem einen den ‚Blutaar‘“ (Will 1934, S. 41). 315 Zu Gewaltphantasmen dieser Art und dem sogenannten Schwabenstreich, dem Spalten eines Menschen mittendurch, idealerweise mitsamt Pferd vgl. Kruse 2017, S. 241–274. 316 „Enn gull þetta mun þer at bana verda, er ek hefe att.“ 317 „Iþ gjalla gull oc iþ glóðrauða fé, | þér verða þeir baugar at bana.” 318 Vgl. Schmalzer 2017, S. 103: „Die Fáfnismál weisen folgende Motive auf, die sich in den obigen Ausführungen als immanente Züge eines Wissenswettstreits in der altnordischen Überlieferung herausstellen ließen: Es findet ein Austausch in mythologischem Wissen statt, in welchem Sigurðr durch den sterbenden Fáfnir unterwiesen wird. Eine weitere Gemeinsamkeit stellt das anonyme Auftreten des Fragenden dar, da Sigurðr seine Identität zunächst geheim hält und es damit Odin gleichtut, der unter ei 







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Form eines Einschubes von vier didaktischen Strophen – zwischen den beiden Gesprächspartnern. Sigurd ist dabei der Fragende, also der Unterwiesene. Er fragt Fafnir über die Natur der Nornen (vgl. Vs 18, Fm. 12) und über den Ort des Kampfes zwischen den Asen und dem Riesen Surtr. Dabei benutzt er in den Fáfnismál beide Male die fast identische Formulierung „Sag mir, Fafnir, da du für überaus klug giltst | und wohl viel weißt“319 (Fm. 12 und 14).320 Die Art des Fragens erinnert an die Vafþrúðnismál, in denen sich Odin ähnlicher formelartiger Wendungen bedient, wenn er Vafþrúðnir seine Fragen stellt: „Sag das als Drittes [Viertes, Fünftes usw.], da man dich klug [weise] heißt“321 (Vm. 24, 26, 28, 30, 32, 34, 36 u. ö.).322 Diese Formelhaftigkeit ist typisch für Wissensdichtung.323 Sigurds erste Frage findet in der Gylfaginning eine Entsprechung: Im 15. Kapitel fragt hier Gangleri, ob auf Bifröst ein Feuer brenne. Bei der Beantwortung der Frage kommt der Hohe – also Gangleris Gesprächspartner – auch zu den Nornen Urd, Verdandi und Skuld. Die darauffolgende Strophe der Gylfaginning ist identisch mit Fafnirs Antwort: „Ganz verschiedner Herkunft, sag ich, sind die Nornen, | sie haben nicht dasselbe Geschlecht; | manche stammen von den Asen, manche von den Alben, | manche sind Töchter Dwalinns“ (Gylf 15, vgl. Fm. 13).324 Auf Sigurds zweite Frage, nämlich die nach der Insel, auf der die Asen gegen Surt kämpfen, antwortet Fafnir, dass der Ort Óskopnir heiße (vgl. Vs 18 bzw. Fm. 15). Die Entsprechung hierzu findet sich im Kapitel 51 der Gylfaginning, da Gangleri nach den Begebnissen der Ragnarök fragt. Der Ort tritt hier als das hundert auf hundert Meilen große Feld Vigriðr auf (vgl. Gylf 51). Wie der Wissenssucher Gangleri, hinter dem sich der Schwedenkönig Gylfi verbirgt, benutzt auch Sigurd zunächst eine falsche Identität. Beide Decknamen sind Umschreibungen für die wahre Natur der Figur.325 Zunächst wirken Sigurds Fragen wie aus dem Nichts gestellt. Der Einschub des Lehrgespräches über Nornen, Asen, Alfen, Zwerge und Riesen irritiert auf den ersten  







nem Decknamen auftritt.“ Vgl. zum mythodidaktischen Aspekt der Strophen 12–15 der Fáfnismál Kragerud 1981, S. 9–48. 319 In der Völsunga saga: „Sage mir, Fafnir, wenn du viel erfahren bist“; „Segh þu þat, Fafnir, ef þu ert frodr miok“ (Vs 18). 320 „Segðu mér [þat], Fáfnir, allz þic fróðan qveða | oc vel mart vita“. 321 Vgl. hierzu Clunies-Ross 1994, S. 234–237. Clunies-Ross weist Parallelen zwischen dem Gespräch in den Fáfnismál zu denen in Völuspá, Gylfaginning, Vafþrúðnismál und Hyndluljóð auf. 322 „Segðú þat iþ þriðia [fjórða, fimta], | allz þic svinnan [fróðan] qveða“. 323 Nun gehört eine anteilsmäßig große Anzahl an Strophen der Jungsigurddichtung „zu Spruch- und Runenweisheit, Mythen und Mantik und ähnlichem“ (Kuhn 1971 [1950], S. 89). Hans Kuhn zeigt darüber hinaus, dass Teile der Jungsigurdlieder der Götterdichtung nachempfunden sind (vgl. Kuhn 1971 [1950], S. 91–93). 324 „Sundrbornar mjǫk | hygg ek at nornir sé, | eigut þær ætt saman. | Sumar eru Áskunnar, | sumar eru álfkunnar, | sumar dœtr Dvalins.“ 325 Wobei ‚Gangleri‘ ein Odinsname ist (vgl. Gylf 20 bzw. Falk 1924, S. 11).  









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4.2 Sigurd als untypischer Held

Blick so sehr, dass er bereits als Interpolation gedeutet wurde.326 Mindestens ebenso valide ist jedoch die Interpretation des Eddakommentars, Sigurd wolle Fafnirs Wissen mit seinen Fragen prüfen,327 nachdem ihm zuvor vom Drachen der Tod vorausgesagt wurde. Nun will er das Orakel anscheinend auf die Probe stellen, indem er einen prophetischen Gegencheck unternimmt. Die Fragen bezüglich der mythischen Figuren und ihrem Handeln sind so speziell gestellt, dass der Eindruck erwächst, der Fragende selbst kenne die Antwort bereits. Die Teilnehmer der Form des Wissenstransfers, die sich in der altnordischen Literatur als Wissensdialog beziehungsweise als Wissenswettstreit manifestiert, – das wären zum Beispiel Odin oder Gylfi, aber eben auch Sigurd – zeichnen sich ja gerade durch die Kompetenz aus, überhaupt die richtigen Fragen stellen zu können. Diese Figuren haben eine gewisse Einsicht in die Materie und sind auf Grund ihrer Intelligenz und ihres Vorwissens erst in der Lage in den Wissensdialog einzutreten und eben diese Fragen hervorzubringen. Sigurd fragt Fafnir nach Sachverhalten, die ihm bereits geläufig sind. Durch Fafnirs richtige Antwort aber verifiziert Sigurd die Voraussage seines eigenen Schicksals, denn wenn Fafnir vielwissend in Hinsicht auf die erfragten mythischen Zusammenhänge ist, dann ist er es wohl auch in Hinsicht auf zukünftige Geschehnisse. Wir bekommen in der Episode – und das ist dem einschubhaften Charakter der Passage zu danken – allerdings nur die Idee eines wahren Wissensdialoges vermittelt.328 Bald schon – im Lied bereits nach vier Strophen – wendet sich das Gespräch einem anderen Thema zu. Später gerät Sigurd beim Braten von Fafnirs Herz das Drachenblut auf die Zunge, wodurch er die Vogelsprache versteht (vgl. Vs 19). Der Wissensaufbau des Helden geschieht also nicht nur im Dialog mit Fafnir, sondern auch durch die physische Aufnahme des Drachen. Im Gespräch der Meisen, welches Sigurd im Folgenden mithört, taucht immer wieder der Begriff der Weisheit329 auf: Sigurd „würde […] weiser als irgendwer“ (Vs 20),330 wenn er selbst das Drachenherz äße, „Da würde er weiser“ (Vs 20),331 wenn er den Schatz an sich nähme, „Dann wäre er weise“ (Vs 20), wenn er sich Regins entledigen würde und „Nicht ist er weise“ (Vs 20),332 wenn er es eben nicht täte. Letztlich würde er „große Weisheit lernen“ (Vs 20),333 wenn er Brynhild aufsuchen würde. Der Horterwerb ist ein Element des Drachenkampfes. Leicht zu übersehen ist aber ein anderes, nämlich dass es ebenso darum geht, Sigurd nicht nur als Wissenden zu inszenieren, sondern ihn weiterhin als weisen Helden mit Zugang zur  













326 Vgl. Gering/Sijmons 1931, S. 189. 327 Vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 429. 328 Vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 429: „ein mythologisches Wissensgespräch im kleinen“. 329 Durch die Vokabeln ‚horskr‘ und ‚vitr‘, was jeweils ‚klug‘, ‚weise‘ bedeutet, sowie durch ‚speki‘, ‚Wissen, Weisheit‘. 330 „hverium manne vitrare.“ 331 „Þa veri hann vitrare“. 332 „Eigi er hann sva hoskr“. 333 „nema […] mikla speke.“  

   

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mythischen Welt zu konstituieren. So spricht auch Sigurds Beschreibung von seiner Weisheit und seiner hellseherischen Gabe, die mitunter auf seine Vogelsprachenkundigkeit zurückzuführen ist: „Er war ein weiser Mann, so daß er noch ungesehene Dinge voraus wußte; er war vogelsprachenkund, und deshalb kamen ihm wenige Dinge unerwartet“ (Vs 23).334 Wissenszuwachs mit Hilfe eines magischen Mittels335 finden wir auch bei der an die Drachentötungsepisode anschließenden Begegnung mit der Walküre. Sigurds Unterweisung durch Brynhild336 auf dem Hindarfjall geschieht auf zwei Ebenen. Das ist einmal die für uns herkömmliche didaktische Form, nämlich die des Wissensdialoges, zum Anderen aber geschieht der Wissenstransfer auf körperlicher Ebene. Sigurd bekommt von Sigrdrifa im Lied einen „Erinnerungstrank“ (Sd. Prosa nach 2)337 gereicht, zu dem sie folgende Strophe spricht: „Bier bring ich dir, Brünnenthings Apfelbaum, | mit Macht gemischt und mächt’gem Ruhm; | gefüllt ist’s mit Zauberliedern und Heilungsrunen, | mit guten Zaubersprüchen und Liebesrunen“ (Sd. 5).338 Nicht klar wird, wie man sich die Anreicherung des Bieres mit Runen und Zaubern vorzustellen hat. So ist es möglich, dass Macht, Ruhm und die besagten Runen durch das Trinken des Trankes auf Sigurd einwirken, er also ihren positiven Effekt zu spüren bekommt, andererseits aber ebenso, dass das Wissen um diese Dinge nun mit dem Trinken des Bieres auf ihn übergeht. Weiterhin ist vorstellbar, dass der Trank ihn auf die Unterweisung vorbereitet. Tatsächlich aber scheint es so, dass die Zauber und die Runen Teil des Bieres sind, also tatsächlich hineingemischt worden sind und nicht etwa auf das Gefäß, „ein Horn“ (Sd. Prosa nach 2),339 geritzt worden sind, wie bei dem Trank, den Gudrun von Grimhild erhält, damit sie ihren Kummer über Sigurds Tod vergisst: „in  

334 Ähnlich in der Þiðreks saga: „Er war so klug, daß er manche Dinge voraus wußte, die noch nicht geschehen waren. Auch verstand er die Vogelsprache“; „hann er sua vitr maðr at suma luti veit han firir þa er eigi eru fram komnir. oc han kann oc skilr rœdd fugla“ (Þiðr 291). Das Bild des weisen Sigurd hat nun also auch hier das des tumben Schlägers überschrieben. 335 Vgl. Schmalzer 2017, S. 225: „Das zu erlangende übernatürliche Wissen wird in der altnordischen Dichtung metaphorisch als Trank dargestellt, also als ein flüssiges Objekt, dessen Einnahme Weisheit oder besondere Fähigkeiten verleiht.“ 336 Es wurde hierin der Vorgang einer Initiation Sigurds gesehen. Vgl. Doht 1974, S. 222–229. Gro Steinsland spricht von einer „initiasjon, der en kvinnelig mytisk skikkelse innvier en mannlig helt og gir ham kunnskap for livet“ (Steinsland 1997, S. 149). Eine solche Initiations- oder Wissenreise hätte auch „erotiske overtoner“ (Steinsland 1997, S. 140). Jens Peter Schjødt fasst die gesamte Jugendgeschichte Sigurds, begonnen mit seiner Erziehung durch Regin, über Hort- und Wissenserwerb bis zu seiner finalen Beschreibung im Kapitel 23 der Völsunga saga als einen Initiationsvorgang auf (vgl. Schjødt 2008, S. 282–299), im Zuge dessen „a young untried man becomes qualified to be a prince“ (Schjødt 2008, S. 298). Vgl. auch von See/La Farge et al. 2006, S. 506 f. Vgl. zur Rolle Regins Motz 1983, S. 95–96. 337 „minnisveig.” 338 „Biór fœri ec þér, brynþings apaldr, | magni blandinn ok megintíri; | fullr er hann lióða oc lícnstafa, | góðra galdra ok gamanrúna.“ 339 „horn”.  









   







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das Horn340 waren allerlei Runenstäbe geritzt und mit Blut gerötet“ (Vs 34).341 Der Wissenserwerb bewegt sich hier mitunter – wie auch schon zuvor bei der Vogelsprachenkunde durch das Drachenblut und den Weisheitsgewinn durch das Drachenherz – auf der Ebene einer physischen Einnahme des Wissens. Das erinnert an die heutigen Ausdrücke ‚ein Buch verschlingen‘ beziehungsweise es sich ‚einzuverleiben‘. Einen Sachverhalt zu verstehen, zu lernen, bezeichnen wir als ihn zu ‚verinnerlichen‘. Wissen auf diese metaphysische, magische Art aufzunehmen, hat für uns heute auf Grund der Mühelosigkeit und der fehlenden Lernleistung den Hauch des Illegitimen. Es wirkt als hätte Sigurd beim Aufbau seines Wissens und seiner Weisheit ‚geschummelt‘. Nun ist es aber wahrscheinlich, dass diese Form des magisch erlangten Wissens dem zeitgenössischen Rezipienten als höherrangig gegolten hat, zumindest aber nicht den Anschein des Unechten trägt, insofern dass es einer bestimmten Leistung bedarf, überhaupt den Zugang zur mythischen Welt zu erlangen und sich das Wissen von dort zueigen zu machen. Die Unterweisung durch die Walküre geschieht auf Sigurds ausdrücklichen Wunsch hin. Im Eddalied bittet er sie, „ihn Weisheit zu lehren, denn sie wisse Begebenheiten aus allen Welten“ (Sd. Prosa nach 4).342 Der Bitte fehlt die formelhafte Aufforderung von Sigurds Frage aus dem Dialog mit Fafnir, allerdings zeigt sie, dass Sigurd imstande ist, andere Wissende zu erkennen.343 Bei seinen Begegnungen mit den mythischen Geschöpfen betreibt er proaktiven Wissenserwerb. Mehr den Charakter eines Wettstreites hat das Gespräch in der Völsunga saga. Da beruft sich Sigurd nämlich auf das Vorwissen, das er über Brynhild hat: „das habe ich gehört, daß du eines mächtigen Königs Tochter bist; ebenso ist mir erzählt worden von deiner Schönheit und Weisheit“ (Vs 21).344 Nun will er verifizieren, was er über sie gehört hat: „das will ich jetzt erproben“ (Vs 21).345 Er fordert sie auf, ihm „Rat zu hohen [großen] Dingen“ (Vs 21)346 zu erteilen, was Bedeutsames, Gewichtiges, schwer in Erfahrung zu Bringendes und Magisch-Mythisches bedeutet. Die Szene umgibt zunächst eine erotische Atmosphäre. Der Held trifft an einem unzugänglichen Ort eine schlafende Frau und weckt sie, indem er sie zumindest zum Teil entkleidet. Die Begegnung der beiden  



340 Die darauffolgende Strophe konkretisiert, dass sich die Runen „Im Innern des Horns“; „i þvi horni“ (Vs 34) befinden. 341 „i þvi hornne voru ristnir hverskyns stafir ok rodner med blode“. 342 „kenna sér speki, ef hon vissi tíðindi ór ǫllum heimom.“ 343 Ebenso in der Grípisspá: „Keinen Mann kenn ich auf der Erde, | der mehr voraussieht als du, Gripir“; „Mann veit ec engi fyr mold ofan, | þann er fleira sé fram enn þú, Gripir“ (Grp. 22). Auch während der Odinsbegegnung bei der Rossprobe lautet Sigurds erster Satz an Odin: „Ein Roß will ich wählen, gib mir guten Rat dazu“; „Hest skylldum ver kiosa. Rad um med oss“ (Vs 13). 344 „þat hefi ek spurt, at þu ert riks konungs dottir, ok þat sama hefir oss sagt verit fra ydrum vęnleik ok vitru“. 345 „þat skulu vęr ręina.“ 346 „Kenn oss rad til storra luta.“  

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4. Heldengenese

bleibt allerdings eine intellektuelle. Sigurd geht es in erster Linie darum, Wissen zu erlangen und das Wissen seines Gegenübers auf die Probe zu stellen. Die Antwort der Walküre in der Saga besteht zunächst darin, dass sie Sigurd für an Weisheit überlegen hält: „Du wirst der Weisere sein“ (Vs 21).347 Die Sigrdrífumál lassen Sigurd im Gespräch kaum zu Wort kommen. Von den insgesamt 37 erhaltenen Strophen spricht er nur eineinhalb. Zudem spricht er zweimal in der indirekten Rede in den Prosapassagen. Der Held ist außergewöhnlich still. Die Unterweisung ist hier viel umfassender als in den vorangegangenen Fáfnismál und lässt sich in drei Abschnitte unterteilen. Die Strophen Sd. 6–13 beschäftigen sich mit der Art der unterschiedlichen Runen, ihrer Bedeutung und ihren Anwendungsgebieten. Der Abschnitt hat zauberische Praxis zum Inhalt. Beginnend mit Sd. 13 bis zur Strophe Sd. 19 wird Sigurd die Herkunft der Runen erläutert, nämlich ihr Erwerb durch Odin, der hier den Namen Hropt trägt. Dabei werden auch die Orte genannt, an denen die Runen ursprünglich zu finden gewesen sind. Einer davon sei „Granis Brust“ (Sd. 17).348 Was für Sigurd also Wirklichkeit ist – sein Pferd Grani – kommt nun noch mal durch Sigrdrifa als mythische Überlieferung zu ihm. Es kommt zu einem Nebeneinander von mythischen Inhalten.349 Inwieweit Sigurd schon Wissen über die Runen von Regin erhalten hat (vgl. Vs 13) wird nicht klar, allerdings scheint die Episode auf Grund der Reichung des magischen Wissens- oder Erinnerungstrankes im Gesamtgefüge nicht redundant. Die Abschnitte sind in der Völsunga saga inhaltlich identisch (vgl. Vs 21). Die darauffolgenden Strophen Sd. 22–37, also bis zur Lakune, beinhalten eine Reihe von Alltagsweisheiten im Stile der Hávamál. Auf seiner Rachefahrt begegnet Sigurd dem Gott Odin in dessen Identität als Hnikar (vgl. Vs 17 bzw. Rm. 16–25). Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass das, was Sigurd betreibt, nicht Fragerei aus Unwissenheit ist, sondern aktive Wissenssuche. Ebenso wie bei Fafnir oder Brynhild respektive Sigrdrifa hat Sigurd, dessen Wissen selbst in die mythische Welt hineinragt, die Fähigkeit, Hnikar als Wissenden zu identifizieren. Er fragt ihn in Vorbereitung auf seine eigene bevorstehende Schlacht: „Sag mir, Hnikarr, alles weißt du | von den Vorzeichen für Götter und Menschen: | Was sind die besten Vorzeichen beim Schwingen der Schwerter, | wenn man kämpfen muss?“ (Rm. 19).350 Wohingegen in der Völsunga saga keine Belehrung durch Hnikar vorkommt, erhält Sigurd in den Reginsmál eine siebenstrophige Unterweisung in Alltagsweisheiten, die ebenso wie die Lehren der Walküre Ähnlichkeiten mit dem Inhalt der Hávamál haben. Vor allem die Strophe: „Gekämmt und gewaschen soll jeder Kluge sein | und am Morgen satt; | denn ungewiss ist, wohin er am Abend kommt. | Schlecht  





347 „Þer munud bętr kunna.“ 348 „Grana briósti“. 349 Siehe 2.3.3. 350 „Segðu mér þat, Hnicarr, allz þú hvárttveggia veizt | goða heill ok guma: | hver bǫzt ero, ef beriaz scal, | heill at sverða svipon?“

4.2 Sigurd als untypischer Held

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ist’s, vor dem Glück zu fallen“ (Rm. 25)351 findet eine partielle Entsprechung in den Sprüchen des Hohen: „Gewaschen und satt reite der Mann zum Thing“ (Hvm. 61).352 Ebenso entspricht es dem typischen Vokabular des Götterliedes, dass in Hnikars Strophe vom „Kluge[n]“ (Rm. 25)353 gesprochen wird. Alles in allem aber geht Hnikars Antwort nicht sonderlich in die Tiefe. Eigentlich sagt er nur, dass man beim Kämpfen nicht in die Sonne schauen soll und idealerweise dabei nicht hinfällt. Die siebenstrophige Wissensdichtung ist – ähnlich wie im Gespräch mit Fafnir, anders als in der Unterweisung der Walküre – nur angedacht und nicht besonders weit ausgeführt.354 Doch gleich ob nur kurz angesprochen oder umfangreich ausformuliert, die Aspekte von Ansammlung und Austausch von Wissen und Weisheit sind Hauptthematiken in der Jungsigurddichtung.355 Wissend und weise zu sein wird dort als eine Qualität der verschiedenen Figuren herausgearbeitet.356 Das geht soweit, dass, wenn das die einzigen Texte der Sigurdüberlieferung wären, wir Sigurd wohl als einen dem Odysseus ähnlichen Heldentypus wahrnehmen würden, dessen Kernkompetenzen seine Weisheit und List sind.357 Zudem rückt Sigurd in die Nähe anderer mythischer Wissenssucher – Odin und Gylfi wurden genannt. Er scheint bei seinen Abenteuern  





351 „Kemðr oc þveginn scal kœnna hverr | oc at morni mettr; | þvíat ósýnt er, hvar at apni kømr; | illt er fyr heill at hrapa.“ 352 „Þveginn oc mettr ríði maðr þingi at“. 353 „kœnna“. 354 Anders dagegen Edgar Haimerl, der die kurze symbolische Unterweisung als komplexen Unterricht in Kampfdingen interpretiert (vgl. Haimerl 1993, S. 87). Man könnte sich aber ohne Weiteres darauf einigen, dass die oberflächliche Unterweisung stellvertretend für einen großen Wissenserwerb steht, der aber auf Grund des vom Lied vorgegebenen Rahmens verkürzt dargestellt wird. 355 Vgl. Krause 2004, S. 263: „Ohne Zweifel bilden solcherart didaktische Strophen eine gewisse Störung in der Handlungslinie eines Erzählliedes. Die handschriftliche Präsentation dürfte darum nicht der ursprünglichen Form der Gedichte entsprechen.“ Die Wissensdialoge wären demnach ein Produkt der Epoche der Verschriftung der Lieder, wobei aber unklar bleibt, inwiefern der weise und wissende Sigurd ein Ergebnis dieser Zeit ist oder ob die Weisheitsaspekte schon davor mit der Figur verbunden waren. Gut möglich scheint mir diese Färbung Sigurds als ein Ergebnis der Höfisierung des Materials. 356 Auch Sigurds Mutter Hjördis beschreibt die Völsunga saga als „die schönste und weiseste aller Frauen“; „allra kvenna vęnzt ok vitruzt“ (Vs 11; Hervorhebung F.D.). 357 Vgl. allerdings von See 1971, S. 24 f.: „es gibt den listigen Helden freilich gelegentlich schon in der griechischen Heldensage, so Odysseus in der Höhle des Polyphem. In der alten germanischen Heldensage wäre ein solcher Held wohl kaum möglich gewesen. Indessen wird man darauf keine großen Schlüsse ziehen sollen, wie man es allen Ernstes getan hat, indem man den strengen, eingleisig handelnden germanischen Helden dem mittelmeerischen Menschentyp, dem vielgewandten Levantiner, gegenüberstellte. Vielmehr ist auch schon im Griechischen der Odysseus-Typ aus sozial- und wirtschaftshistorischen Verhältnissen zu erklären, die sich gegenüber der Ilias-Zeit bereits gewandelt hatten. Im Germanischen erscheint im Hochmittelalter ein von fern vergleichbarer Heldentyp, der listige, in allen Satteln gerechte Held, als die Heldensage im 13. Jh. unter niederdeutschen Kaufleuten in der nordischen Hafenstadt Bergen erzählt wurde“. Nun entspricht allerdings allein die äußere Form des Drachenstiches Sigurds durchaus der Blendung Polyphems durch Odysseus. Auch weiterhin bespreche ich im Fließtext, dass Sigurd von jener Polyvalenz ist, die von See dem germanischen Heldentypus abspricht.  









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auch immer eine Portion Wissen abgreifen zu wollen. Das geht soweit, dass er Fafnir vor dessen Tod und noch bevor er sich selbst um den materiellen Hortgewinn kümmert, schnell noch einige Informationen entlocken will. Bei Sigrdrifa verlangt er zunächst nach Unterweisung und das sogar, nachdem ihre Brünne durchschnitten ist und ihre Weiblichkeit offenbar gemacht wurde. Der Austausch von Liebeseiden geschieht erst ganz am Schluss. Zunächst geht es Sigurd nur darum, auf intellektueller Ebene von der Walküre zu profitieren. Die erwartete Natur des Abenteuers wird dabei jeweils nicht erfüllt. Statt Kampf oder Erotik geht es darum, Konversation zu halten. Das passt aber insofern zu Sigurd, der sich ja durch seine Rednergabe auszeichnet. Bei den Wissensdialogen in der altnordischen Nibelungendichtung ist Sigurd der ausschließliche Teilnehmer auf heldischer Seite. Keine andere Figur interessiert sich ansonsten für magische oder kosmologische Zusammenhänge. Nun scheint diese Tatsache allerdings unterbewusst so interpretiert zu werden, dass Sigurd der einzige ist, der die Fragerei überhaupt nötig hat. Zwar weist die Tradition des Wildnisburschen der Þiðreks saga auf einen plumpen, grobschlächtigen Sigurd hin, allerdings ist dies nicht die Figur, die die Verfasser von Völsunga saga und Eddaliedern inszenieren wollen.358 In diesen Werken ist Sigurd, was intellektuelle Kapazität und Weisheit angeht, der eindeutige Spitzenreiter.359 Die Vorstellung eines Dümmlings ist für diesen Heldentyp nicht haltbar. Nicht nur ist dieser Sigurd selbst mythisch wissend, sondern er hat auch Zugang zu den mythischen wissenden Figuren. Die typische Begegnung mit einer solchen Figur ist für Sigurd die eines Wissensdialoges. Nun gewähren diese Vertreter der mythischen, anderen Welt dem Helden ihr Wissen freimütig. Selbst Fafnir unterrichtet und warnt diesen mit einem gewissen Wohlwollen.360 Elfriede Stutz hat

358 Edgar Haimerl zeigt, dass vor allem die Jungsigurddichtung den Helden Sigurd als Wissenden inszenieren will (vgl. Haimerl 1993, S. 81–102). Er wird als Held dargestellt, „der Fortitudo mit Sapientia zu verbinden weiß“ (Haimerl 1993, S. 82). 359 An anderen Stellen der Völsungendichtung wird allerdings das Nichterfüllen eines Klugheitsideals thematisiert. Vgl. hierzu von See 1971, S. 164 f.: „mit der […] Szene – der sinnlosen Erschlagung des Halbbruders Erp durch Hamdir und Sörli – will er [der Dichter] dann noch einmal zeigen, daß besonnener Verstand mehr wert ist als unbeherrschter Heldenübermut. […] Ähnlich wird in den Atlamál, einem Eddalied, das unzweifelhaft der jüngsten Schicht angehört, das manvit – die ‚Klugheit‘ im Sinne von Verständigkeit und Lebensklugheit – der heroischen Ethik entgegengesetzt“. Diese Kritik lasse sich auf den Einfluss von „Vorstellungsformen christlicher Herkunft“ (von See 1971, S. 164) zurückführen. 360 Vgl. McConnell 1999, S. 173 zum Drachen: „Bemerkenswert ist, daß die Bezeichnung für ein Ungeheuer, das […] als Verkörperung von Zerstörung und Chaos betrachtet wird, ursprünglich mit scharfer oder durchdringender (Ein)Sicht assoziiert wurde […]. Der Drache repräsentiert also eine gewisse Dichotomie: einerseits ist er zerstörerisch und ein Menschenfeind; andererseits haftet ihm etwas durchaus Positives an, er kann über die Gabe der Weisheit, der Voraussage oder der tiefen Einsicht verfügen.“ Vgl. McConnell 1999, S. 178 zu Fafnir als Helfer- und Ratgeberfigur: „Von Fáfnir erfährt Sigurd noch einmal das, was er schon von Regin über den Fluch mitgeteilt bekommen hatte. Dabei übernimmt der Drache die Rolle des Sehers, des Wahrsagers, sogar des (wenn auch nicht in Anspruch genommenen) Helfers. Er scheint Sigurd durchaus gutgesinnt zu sein: […] Das sind nicht die zornigen (nicht einmal trotzigen) Worte eines sterbenden Gegners, sondern ist eher der wohlgemeinte Hinweis einer fast väterlichen Gestalt  





















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4.2 Sigurd als untypischer Held

vom Charisma der Figur gesprochen, das dafür verantwortlich ist, dass Sigurd gewisse Dinge ohne nähere Erklärung zufallen. So ist es nicht nur so, dass er selbst die Wissenden der anderen Welt identifizieren kann, sondern diese auch ihr Wissen mit ihm teilen. Sie arbeiten daran, den Helden mythisch zu konstruieren361 und ihn mit sonst unzugänglicher Weisheit aufzubauen.362

4.2.5 mâze Das übersummative Produkt, das der Held Sigurd ist, ergibt sich aus einem Zusammenfluss heroischer und mythischer, allerdings auch höfischer Konzepte. Auch das mittelhochdeutsche Nibelungenlied liefert Belege für Siegfrieds hervorstechende Klugheit, welche vor allem offenbar wird, da Siegfried die Standeslüge ersinnt. Als er sich zusammen mit Gunther, Hagen und Dankwart ins Reich der Königin jenseits der See begibt, erkennt er sofort, dass ihr Unterfangen keine Früchte tragen wird, so man nicht die wahre Hierarchie zwischen ihm und Gunther verberge. Darauf fordert er seine Begleiter dazu auf, die Gleichstellung der beiden Fürsten – Siegfried und Gunther – zu verhehlen:  



Und ich möchte Euch Helden den Rat geben, einmütig zu sein und einhellig auszusagen: das scheint mir richtig. Denn wenn wir heute vor Brünhild erscheinen, müssen wir äußerst vorsichtig vor der Königin auftreten. Ihr berühmten Helden, wenn wir die liebliche Jungfrau heute im Kreis ihres Gefolges sehen, dann sollt Ihr nur diese eine Auskunft geben: Gunther sei mein Lehnsherr und ich sei sein Lehnsmann.363 Dann kann nämlich all das, worauf er hofft, in Erfüllung gehen (Nl, 385,1–386,4).364

Mit dem Ersinnen dieser Lüge zeigt Siegfried, dass er nicht nur das höfische System, in dem er sich bewegt, völlig verstanden und durchdrungen hat, sondern weiß auch, wie es zu manipulieren ist, um bei Prünhilt zum Ziel zu kommen.365 Die Regeln des Hofes

auf die Gefahr, die von der Beute ausgeht. […] Sein Rat an Sigurd ist tatsächlich der Rat des alten Weisen“. 361 Vgl. Schjødt 2008, S. 289–290. 362 Vgl. Lionarons 1998, S. 53: „Sigurðr’s successes come as he gains knowledge; his death and the deaths of the Gjúkungar come as a result of his loss of knowledge through Grímhildr’s potion“. 363 Ursula Schulze untersucht, als was sich Siegfried hier überhaupt ausgibt und thematisiert weiterhin die Interpretationsschwierigkeiten von mittelhochdeutsch ‚man‘ (vgl. Schulze 1997, S. 44–49). 364 „Unt will iu helden râten, ir habt einen muot. | ir jehet gelîche, jâ dunket ez mich guot. | swenne wir noch hiute für Prünhilde gân, | so müezen wir mit sorgen vor der küneginne stân. | Sô wir die minneclichen bî ir gesinde sehen, | sô sult ir, helde mære, wan einer rede jehen: | Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. | des er dâ hât gedingen, daz wirdet allez getân.“ 365 Jan-Dirk Müller weist darauf hin, dass auch Hagen nach Siegfrieds Ermordung der Hofgesellschaft vorschlägt, eine einhellige Aussage zur Tötung des Helden zu machen (vgl. Müller 1998, S. 284–285). Beide Heldenfiguren, Siegfried und Hagen, bewegen sich damit einmal mehr auf Augenhöhe.  







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kann er von außen betrachten und sie letztlich auch brechen. Letzten Endes ist die Lüge sogar so wirksam, dass sie das gesamte hierarchische System in Worms zerrüttet und man mit Siegfrieds Ermordung darauf reagieren muss.366 Wissen und Verständnis sind im Nibelungenlied Privilegien der heroischen Welt. Die Helden haben Ahnung, sie kennen sich aus. Dazu erklärt Jan-Dirk Müller: Es sind die größten Helden, Hagen und Sivrit, die ‚alles wissen‘. Sivrit weiß in Prünhilts Welt Bescheid. Folglich wird Hagen zeitweise nicht nur als Krieger, sondern auch als ‚Wissender‘ vom starken Sîvrit verdrängt werden, um die Rolle in dem Augenblick wieder zu übernehmen, in dem Sivrit beseitigt ist. Er seinerseits weiß von Sivrit, […] er kann Fremde identifizieren […] und schätzt Gefahren richtig ein: […] Hagen ‚weiß alles, was man wissen kann‘, weil er die Möglichkeiten der heroischen Welt in höchster Potenz repräsentiert.367

Tatsächlich haben diese Helden ihr Wissen – auch über das höfische System –, weil sie nicht hundertprozentig Teil der höfischen Welt, sondern grenzgängerischer Natur sind. Siegfried blickt in das höfische Gefüge des Wormser Hofes mit einer gewissen Distanz von außen hinein. Wenn es wieder in das Draußen geht, sind Figuren wie er oder Hagen die Kompetenzträger.368 Eines der Bilder, die das Nibelungenlied von Siegfried zeichnet, ist das des vorsichtigen Wissenden. Siegfried übernimmt zwar die Führung, wenn es darum geht, ins Reich Prünhilts zu reisen,369 warnt aber zuvor in antizipatorischer Vorsicht Gunther vor der Brautfahrt nach Isenstein: „‚Davon möchte ich abraten‘, sagte da Siegfried. ‚Die Königin stellt so schreckliche Bedingungen, daß es den, der um ihre Liebe wirbt, teuer zu stehen kommt‘“ (Nl 330,1–3).370 Dem gegenüber steht der kühne, alle Vorsicht in den Wind schlagende Siegfried (vgl. z. B. Nl 55,1–4), dessen Übermut für ihn selbst zur Gefahr wird. So sagt Kriemhilt über ihren Mann: „Darum, daß ihn jemand im Kampf erschlagen könnte […], würde ich mich überhaupt nicht sorgen, wenn er nicht seiner Tollkühnheit so die Zügel schießen ließe. Wenn das nicht wäre, dann wäre der tapfere, treffliche Held für immer sicher“ (Nl 896,1–4).371 Ein solches Oszillieren zwischen kühler Überlegtheit und heroischem ‚übermuot‘ kennt der skandinavische Sigurd nicht. Die Figur – vor allem wie sie in der Drachenkampfepisode präsentiert wird – entspricht überhaupt nicht dem Modell des maßlosen Helden, der ‚drauf  









366 Siehe 5.2.4. 367 Müller 1998, S. 197. 368 Siehe 2.2.3. 369 Vgl. Nl 377,4–378,3. Vgl. Krause 2004, S. 352: „Bevor Sigurd an Gjukis Hof kam, war er bei Brynhild gewesen und hatte sich mit ihr durch Eide in einer Vorverlobung verbunden. Im Nibelungenlied bleibt von dieser Begegnung nur die Reminiszenz, Sigfrid kenne die Wege zu Brünhild, er wisse über sie Bescheid (6. Aventiure).“ 370 „‚Daz will ich widerrâten‘, sprach dô Sîvrit. | ‚jâ hât diu küneginne sô vreislîche sit, | swer umbe ir minne wirbet, daz ez im hôhe stât.‘“ 371 „Ich wære âne alle sorge […], | daz im iemen næme in sturme sînen lîp, | ob er niht wolde volgen sîner übermuot; | sô wære immer sicher der degen küene unde guot.“  



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muss, egal wie‘.372 Der nordische Sigurd handelt überlegt und er kann sehr wohl anders. Sogar gegen Aufreizungen und Schmähungen ist er größtenteils gefeit.373 Den Typus des Helden, der nicht nur nicht nachdenkt, sondern auch gar nicht nachdenken muss, um gegen den Feind zu obsiegen, erfüllt Sigurd nicht. Er ist voller berechtigter Bedenken und handelt maßvoll, was der Figur auch unabhängig von seiner höfisch anmutenden Erziehung (vgl. Vs 13), seiner ritterlichen Manier und seinen höfischen Sitten (vgl. Vs 23, Þiðr 291) eine höfische Färbung verleiht. Sigurds Alterität als Figur der nordischen Heldensage wird ausgemacht durch Eigenschaften, die im höfischen Roman unter dem Begriff der mâze subsumiert werden. Das sind Zurückhaltung, Bescheidenheit, Affektkontrolle und Versöhnungsbereitschaft. Abzulesen sind diese Züge vor allem im Umgang mit Regin, der Sigurd als Kontrastfigur dient. Über dessen Aufhetzungen haben wir schon gesprochen. Sie lassen Sigurd hauptsächlich kalt. Er ist so gefestigt, dass die Ehrenrührigkeit an ihm abgleitet. Die Völsungensage zeichnet ihn als einen ruhigen und ausgeglichenen Menschen, der selbstsicher im modernen Sinne ist. Der erste Satz, den die Völsunga saga Sigurd überhaupt sagen lässt, ist eine Antwort auf Regins Frage nach Sigurds Finanzen. Dieser sagt, dass andere sein Erbe verwalten und dass es auch gut so sei: „Es ziemt sich, daß sie es aufbewahren, bis es mir nützt, denn sie können es besser hüten als ich“ (Vs 13).374 Er lässt Regin, der seine Goldgier anstacheln will, ins Leere laufen. Im späteren Dialog mit Fafnir in den Fáfnismál fällt Sigurds Art zu sprechen auf: Ulrike Sprenger beobachtet, dass Fafnir „[v]ergeblich versucht, […] Sigurðr schlecht zu machen, […] jedoch schließlich Sigurðs Überlegenheit über ihn, Fáfnir, der sich für unüberwindlich gehalten hatte[, anerkennt]. Sigurðr wird auch geistig überlegen dargestellt. Er antwortet Fáfnir in sentenzenhafter, von allgemeiner Weisheit zeugender Manier.“375 Diese Sentenzenhaftigkeit376 stellt Sigurds Überlegenheit im Gespräch dar, seine schon mehrfach angesprochene Rednergabe. Er antwortet seinen Dialogpartnern zuweilen in Sprichwörtern. Als Fafnir den Schreckenshelm anspricht, erwidert Sigurd: „Der Schreckenshelm schützt keinen, | wo Kühne kämpfen werden. | Das findet man, wenn man auf viele trifft, | dass keiner allein der Tapferste ist“ (Fm. 17, ähnlich Vs 18).377 Da Regin ihn nach seinem Sieg über Fafnir preist, antwortet er allerdings ähnlich: „Ungewiss ist, wenn alle zusammenkommen, | der Sieggötter  

372 Siehe 2.2.1. 373 Tatsächlich räumt Sigurd aber in den Fáfnismál ein, dass Regins Provokationen sehr wohl ein Motor für seine Tat waren und nicht ganz spurlos an ihm vorbeigegangen sind: „Du rietst es, dass ich reiten sollte | übers hohe Gebirge hierher. | Über Schatz und Leben herrschte der glänzende Drache, | hättest du mir den kühnen Sinn nicht bezweifelt“; „Þú því rétt, er ec ríða scyldac | heilog fioll hinig; | fé oc fiorvi réði sá inn fráni ormr, | nema þú frýðir mér hvatz hugar“ (Fm. 26). Siehe 6.2.4. 374 „Þat samir, at þeir vardveite þar til, er oss hallkvęmizt, þviat þeir kunnu bętr at gęta enn ek.“ 375 Sprenger 1994, S. 136. 376 Vgl. dazu auch Sprenger 1991, S. 118–121 bzw. Haimerl 1993, S. 92. 377 „Ægishiálmr bergr einugi, | hvars scolo vreiðir vega; | þá þat finnr, er með fleirom kømr, | at engi er einna hvatastr.“  





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Söhne, | wer als unerschrockenster geboren ist“ (Fm. 24).378 Wohingegen die Strophe 17 der Fáfnismál noch als schlagfertige Schmähung Fafnirs Schreckenshelms zu verstehen ist – der Tapferere war hier natürlich Sigurd selbst –, zeigt Sigurd nun, dass er nicht mit zweierlei Maß misst. Das was laut ihm für den Drachen gilt, gilt auch für ihn selbst, denn auch er kann mit der Zeit an Tapferkeit übertroffen werden. Er begegnet Regins Lob bescheiden379 und vor allem realistisch. In der Völsunga saga dagegen besteht Sigurd deutlich mehr auf die Lorbeeren seines Sieges (vgl. Vs 19). Hier geht es direkt um die Schuldfrage an der Tötung von Regins Bruder und um den Verdienst der Erschlagung. Die in der Antwortstrophe begonnene Sentenz führt Sigurd noch weiter: „mancher ist tapfer, der das Schwert nie rötet | in eines andern Brust“ (Fm. 24).380 Mit dieser Aussage propagiert Sigurd ein für die Heldensage unübliches Ideal. Sie erinnert an die Rede Gunnars in der Njáls saga, wenn dieser sagt: „Was weiß ich, […] ob ich darum weniger tapfer bin als andre, weil ich mich schwerer als andre entschließe, Leute totzuschlagen!“ (Nj 54).381 Beide Textstellen sprechen von einem Helden- und Männerbild, bei dem der Mut vom Töten losgelöst ist. Was die Völsungensage angeht, ist diese Form von Moral und Friedfertigkeit einzigartig.  



4.2.6 Versöhnung und Kompromissbereitschaft Diese Andersartigkeit Sigurds wird durch sein Verhalten bei der Katastrophe mit Brynhild am Gjukungenhof unterstrichen.382 Das Handeln des Helden ist hier vollständig auf Versöhnung ausgerichtet. Er nimmt dadurch einen Zug an, der mit der sonstigen heroischen Geisteshaltung absolut unvereinbar ist: Kompromissbereitschaft. Im Gespräch mit Brynhild vergisst Sigurd seinen Stolz und würde sich selbst mit der Dreierbeziehung zwischen ihm, Brynhild und Gunnar irgendwie zufrieden geben: „Lebe und liebe König Gunnar und mich, und all mein Gut will ich dafür geben, daß du nicht stirbst“ (Vs 31).383 Sein Streben ist auf den Lebenserhalt Brynhilds ausgerich-

378 „Þat er óvíst at vita, þá er komom allir saman, | sigtíva synir, | hverr óblauðastr er alinn“. 379 Vgl. Sprenger 1991, S. 122 f. Zur ansonsten fehlenden Bescheidenheit des Helden in der Selbstaussage vgl. Schücking 1978, S. 187–192. Edgar Haimerl interpretiert die Zurückweisung des Lobes Sigurds als Zeichen für das auskühlende Verhältnis mit seinem Ziehvater Regin (vgl. Haimerl 1993, S. 93). 380 „margr er sá hvatr, er hior né rýfr | annars brióstom í.“ 381 „Hvat ek veit, […] hvárt ek mun því óvaskari maðr en aðrir menn sem mér þykkir meira fyrir en ǫðrum mǫnnum at vega menn.“ 382 Vgl. Andersson 1986(b), S. 8: „This confrontation between Sigurd and Brynhild is a remarkable stroke. It contravenes the long-standing practise and tradition of heroic epic, in which it is a defining rule that people, and most particularly lovers, do not speak candidly to one another. When communication begins, heroic epic ends. Heroic epic is a literature of the most contrived and baroque silences. The practise is so taken for granted that the slightest deviation is startling.“ 383 „Lif þu ok unn Gunnare konungi ok mer, ok allt mitt fe vil ek til gefa, at þu deyir eigi.“  









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4.2 Sigurd als untypischer Held

tet, was sich mit sonstigem heldischen Denken nicht deckt. Für gewöhnlich bewertet der Held das Leben nämlich sehr gering. Es steht weit unter dem Ehrerhalt.384 Geradezu unerhört ist auch diese Aussage Sigurds: „stets als ich wieder zur Besinnung gekommen war, härmte es mich, daß du nicht meine Frau warst. Doch suchte ich, soviel ich konnte, den Gedanken von mir fern zu halten, daß ich in der Königshalle war, und freute mich doch, daß wir alle beisammen waren“ (Vs 31).385 Er macht gute Miene zum bösen Spiel. Nicht zu handeln war eine bewusste Entscheidung für Sigurd. Die ‚Hauptsache, wir sind glücklich‘-Mentalität, die der Sagamann seinem Protagonisten verleiht, ist für die sonstige Heldensage undenkbar. Sie verleiht der Völsunga saga einen besonderen Anstrich, aus dem deutlich die gedankliche Strömung des Höfischen spricht. Das Bedürfnis eine fühlende, kompromissbereite Heldenfigur zu zeichnen, die sich in die romantischen Wirrungen der Brynhildtragödie verstrickt, wird mit dem Sigurd der Völsunga saga erfüllt.386 Der Held der archaischen Heldensage gibt sich nicht zufrieden. Der des 13. Jahrhunderts anscheinend sehr wohl.387 Als Kontrastepisode steht hier die Stelle, in der Sinfjötli einen Verwandten wegen einer Frau erschlägt (vgl. Vs 10 bzw. Sf.). Nebenbuhlerschaft kommt für diesen Heldentyp nicht in Frage. Das letzte Angebot und den Lösungsvorschlag Sigurds („Gerne wollte ich, daß wir beide ein Bett bestiegen, und du meine Frau wärest“, Vs 31)388 schlägt Brynhild aus.389 Ihr Stolz wiegt in diesem Moment mehr als der Sigurds:390 „Solches soll man nicht reden, ich mag nicht zwei Könige in einer Halle haben; eher will ich mein Leben  

384 Siehe 7.2.1. 385 „þviat avallt, er ek gada mins geþs, þa harmade mik þat, er þu vart eigi min kona. Enn af mer bar ek, sem ek matta, þat, er ek var i konungshaull, ok unda ek þvi þo, at ver vorum aull saman.“ 386 Vgl. Hellgardt 2002, S. 177: „singulär wohl in der ganzen Sagaliteratur – die Liebe als Passionsliebe“. Für die emotionalen Tendenzen der jüngeren Heldenlieder spricht Alois Wolf von einem „europäische[n] Erotisierungsschub“ (Wolf 2009, S. 337). 387 Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 147: „In his eyes [des Sagaautors] Sigmundr and Sigurðr are indeed heroes; their tragedy is that they have unwittingly done terrible things. It is interesting to observe that the only times they express remorse is when they first become aware of having done these things.“ Torfi Tulinius spricht hier über die Interpretation der Figuren durch den Verfasser der Völsunga saga. Die Figuren seien als Helden nicht geschmälert, allerdings in ihrer Emotionalität den Bedürfnissen des 13. Jahrhunderts angepasst. So erkläre sich Sigmunds Trauer bei Sinfjötlis Tod und die Begründung durch die Trunkenheit, wie auch Sigurds Verhalten, nachdem der Vergessenstrank seine Wirkung verliert. Vgl. ferner Heusler 1929, S. 27 f. 388 „Giarnna villda ek, at vid stigim a einn bed będi, ok vęrir þu min kona.“ 389 Vgl. dazu Torfi Tulinius 2002, S. 144. 390 Judy Quinn merkt an, dass es außerdem um eine Dichotomie von privater und öffentlicher Rede geht: „That which is spoken, in Brynhildr’s view, represents essential cultural values and demands the utmost prudence on the part of the speaker. To forswear oneself is to renounce one’s public identity and to lose social honour. And by extension, in dialogue, what one gives voice to should be culturally valued utterance, not mendacity or duplicity“ (Quinn 2003, S. 95).  

















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lassen, als daß ich König Gunnar betrüge“ (Vs 31).391 Brynhild verkörpert noch vollständig die heroische Fraktion. Für sie gibt es weder Lösung, noch Kompromiss, noch Versöhnung. Sie kann von der starren heroischen Geisteshaltung nicht abweichen und stellt das Gegenteil zu Sigurds Lebenserhaltungsbestreben dar. Das eigene Leben wiegt für sie gering angesichts der eigenen Ehre. Letztlich wird sich die heroische Mentalität in der Krise am Gjukungenhof durchsetzen und Sigurd und Brynhild selbst den Untergang bringen. Auch im Vorfeld versucht Sigurd deeskalierend auf die Situation einzuwirken. Nach der Hochzeit Gunnars mit Brynhild lässt die Wirkung des Vergessenstrankes nach: „da erst erinnerte sich Sigurd aller Eide, die er Brynhild geschworen hatte, verhielt sich aber ruhig. Brynhild und Gunnar saßen da, vergnügten sich und tranken guten Wein“ (Vs 29).392 Abermals ist Nichthandeln Sigurds bewusste Entscheidung. Er zeigt keinen schäumenden heroischen furor als der Verrat und seine Verzauberung offenbar wird.393 Wiederum wirkt die Sigmund- und Sinfjötlisage wie ein greller Kontrast: Im Gegensatz zu seinem Vater stellt Sigurd nämlich nicht den Nebenbuhler und ungeeigneten Ehemann auf dessen Hochzeit bloß (vgl. Vs 3).394 Dass in kritischen Situationen zu schweigen eine Tugend ist, propagieren die Hávamál an mehreren Stellen395 und dieses Ideal spiegelt sich auch in Sigurds Verhalten wider, wenn er die Ruhe bewahrt und eben schweigt. Ähnlich verhält es sich, als er aufgesucht wird und um Hilfe bezüglich der zorn- und trauerstarren Brynhild gebeten wird: „Der erwiderte kein Wort, und dabei blieb es den Abend. Am anderen Tage aber, als er von der Jagd kam, ging er zu Gudrun“ (Vs 31).396 Diese verzögerte Art zu handeln findet sich auch in realpolitischen Ereignissen des Mittelalters wieder. Spätestens Gerd Althoff hat mit der Vorstellung, dass Emotionen in der öffentlich-politischen Kommunikation des Mittelalters willkürlich und spontan seien, gründlich aufgeräumt. Er hat gezeigt, dass diese öffentlich zur Schau gestellten Gefühlsausbrüche „vorrangig eine Demonstrationsfunktion, Signalcharakter hatten und von den Akteuren auf der politischen Bühne in diesem Sinne und Verständnis eingesetzt wurden.“397 Die mittelalterlichen Verhaltenstheorien nämlich untersagen überbordende Emotionen,398 wobei sich allerdings Beispiele aus der mittelalterlichen Politik finden, bei denen zu Gefühlsausbrüchen gegriffen wurde, um das sichtbar zu machen, was zuvor im Ruhigen besprochen wur391 „Ecki er slikt at męla, ok eigi mun ek eiga II konunga i einne haull, ok fyr skal ek lif lata, enn ek svikia Gunnar konung“. 392 „minir Sigurd allra eida vid Brynhilldi, ok letr þo vera kyrth. Brynhilldr ok Gunnar satu vid skemtan ok drucku gotth vin.“ 393 Carola Gottzmann legt das als unheldische Charakterschwäche aus (vgl. Gottzmann 1979, S. 8). 394 Siehe 3.1.4. 395 Vgl. etwa Háv. 4, 6, 7, 15, 17, 19, 27, 29. 396 „Hann svarar enghu, ok er sva buit um kvelldit. Ok annan dagh eptir, er hann kom heim af dyraveide, hitte hann Gudrunu“. 397 Althoff 2014, S. 262. Vgl. auch Althoff 2013, S. 189–194. 398 Vgl. Althoff 2014, S. 263.  









4.2 Sigurd als untypischer Held

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de.399 Sigurds Verhalten ist damit vergleichbar. Er reagiert nicht unmittelbar auf den Reiz, sondern bewahrt zunächst Stillschweigen. Erst nachdem eine gewisse Zeit verstrichen ist, erfolgt seine Reaktion. Deeskalation ist auch weiterhin die Strategie Sigurds während der Brynhildkrise. Nach dem Königinnenstreit spricht Gudrun mit Sigurd, wobei dieser von weiteren Provokationen Brynhilds abrät: „Davon rate ich dir ab – du wirst es bereuen, wenn du es tust“ (Vs 30).400 Um die Situation zu entschärfen setzt er sich beim späteren Versöhnungsversuch mit Brynhild herab beziehungsweise auf gleiche Ebene mit den Gjukungen. Er schmälert seinen eigenen Ruhm und preist vor allem den der anderen: „Ich bin kein vornehmerer Mann als die Söhne König Gjukis – sie erschlugen den Dänenkönig und einen mächtigen Häuptling, den Bruder König Budlis“ (Vs 31).401 Sigurd ist in der Episode der Völsunga saga viel weniger an starres heroisches Handeln gebunden, sondern erhält eine Beweglichkeit, die untypisch für den Protagonisten der Heldensage ist. Letztlich bleiben seine Bemühungen allerdings vergeblich. Die Erzählung exerziert zwar einen Versöhnungsversuch durch, lässt ihn aber scheitern und das Heroische und Untergangsorientierte die Oberhand behalten. Sigurd allerdings wird als vielseitiger Held inszeniert: Neben der rationalen Kühle, die in der Jungsigurddichtung von ihm ausgeht, zeigt die Gjukungenepisode einen Sigurd, der beinahe weich wirkt angesichts der Härte der anderen Figuren und seiner eigenen Geisteshaltung in vorangegangenen Abschnitten. Sigurd bleibt weiterhin unkategorisierbar.  



399 Vgl. Althoff 2014, S. 265–271. 400 „Þess leth ek þik, ok ydrazt muntu, ef þu giorir þat.“ 401 „Ecke erum ver gaufgare menn enn synir Giuka. Þeir drapu Danakonung ok mikinn haufdingia brodur Budla konungs.“  

5. Herrschaft, Macht und Politik 5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik 5.1.1 milte Die milte – die Freigebigkeit – gehört im höfischen Roman zu den Kerntugenden des Ritters und vor allem des Herrschers.1 Sie versteht sich nicht nur im Sinne von güete – Gütigsein, Gutherzigkeit – als christliche Mildtätigkeit gegenüber den weniger Privilegierten, sondern ist Rückgrat des Lehns- und Gefolgschaftssystems. Indem der Herrscher seine Reichtümer, die Manifestation seiner materiellen Macht teilweise an seine Untergebenen abgibt,2 erlangt er ihre Loyalität. Durch diesen Tausch von Tatsächlichem gegen Abstraktes wird die unter triuwe – Treuebindung – subsumierte Reziprozität zwischen Herr und Gefolgschaft erreicht. Durch eben jene milte erlangt Sigurd im Nornagests þáttr die ihm bereits zuvor besprochene von seinen Mannen zukommende Liebe und Zuneigung: „Alle liebten ihn sehr, denn er war freundlich, leutselig und freigebig mit Gold gegen uns“ (Norn 349).3 Dieses Ideal der herrscherlichen Freigebigkeit erfüllt er auch zwei Kapitel später, da er die komplette Beute des Lyngvifeldzuges unter seinen Leuten verteilt: „Da wurde große Beute gemacht, und Sigurds Heermannen erhielten das alles, denn er selber wollte nichts davon haben“ (Norn 353).4 Die goldene Sattelspange, die Nornagests Binnenerzählung von Sigurds Taten überhaupt motiviert, ist ebenso ein Geschenk Sigurds (vgl. Norn 354). Die Erfüllung dieser Fürstentugend lässt die Gípisspá in Bezug auf Sigurd mit der Antithese spielen: „großzügig mit Gold, aber geizig mit Flucht“ (Grp. 7).5 Kernfunktion der Freigebigkeit ist es, Krieger an sich zu binden. Die milte des Herrschers ist die Voraussetzung für seine Macht.6 Die Helgisage berichtet, dass Helgi  











1 Siehe 2.2.1. 2 Das mittelalterliche Fest umfasst regelrechte Beschenkungsorgien. Bei der Feierlichkeit um Siegfrieds Schwertleite im Nibelungenlied heißt es: „Siegmund und Sieglinde wußten, wie sie mit ihrem Besitz großes Ansehen erwerben konnten: davon verschenkten sie viel“; „Sigmunt unde Siglint die mohten wol bejagen | mit guote michel êre; des teilte vil ir hant“ (Nl 29,2–3). Zu geben ist auch für den Schenkenden mit Ehrgewinn verbunden. 3 „Allir elskudu hann miok þuiat hann uar bæde blidr ok litilatr ok milldr af fe uit oss.“ 4 „Þar uar almikit herfang. toku lidsmenn Sigurdar þat allt þuiat hann uillde ekki af hafua.“ 5 „giofull af gulli, en gløggr flugar“. 6 Vgl. Neumann 1924, S. 131: „Auch die streng mittelalterlichen Gestalten hochhöfischer Dichtungen haben Sinn für Reichtum. Zum vollkommenen Fürsten und Herren gehört nicht bloß, daß er Tugenden hat, sondern auch daß er von edler Herkunft ist und im Glanze lebt. Aber der Reichtum darf nicht Ziel des Strebens sein. Er wird als Mittel gewertet, das höchste Maß von Freigebigkeit zu zeigen.“ Ferner Neumann zur Hortforderungsszene im Nibelungenlied: „Man deute dies jedoch nicht dahin, daß die Gier nach dem Horte lediglich eine Art barbarischer Freude am glänzenden Golde sei. Der Besitz des Hortes ist Zeichen und Folge der Macht, die der Starke sich erobert“ (Neumann 1924, S. 131).  



https://doi.org/10.1515/9783110649796-005

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5. Herrschaft, Macht und Politik

seine Männer durch das Verschenken von Gold an sich bindet. Seine Kampfkraft ist eine direkte Folge seines Reichtums: „Darauf sandte Helgi Männer aus mit Geldgeschenken, um für sich Männer zu werben“ (Vs 9)7 beziehungsweise: „Boten sandte der Herrscher von dort, | über Land und See, Heerfolge zu entbieten, | den überreichen Glanz des Stroms | den Männern und ihren Söhnen zu bieten“ (HH. 21).8 Das Nibelungenlied problematisiert das Erlangen von Reichtum, insbesondere wenn er in unerwünschte Hände gerät. Nach Siegfrieds Tod geht der Nibelungenhort auf Kriemhilt über, die nun selbst – als Frau – milte ausüben und sich durch die dadurch erlangte Herrscherkompetenz aus der Vormundschaft ihrer Brüder emanzipieren kann. Sie wird zu einer Bedrohung für die althergebrachte Ordnung des Burgundenhofes und zu einem nichtkalkulierbaren Machtfaktor:  



Als sie den Schatz nun besaß, da lockte sie viele fremde Helden in das Land, und sie schenkte ihnen so viel, daß man niemals eine freigebigere Fürstin hätte sehen können. Ja, sie übte alle Herrschertugend, und man pries die Königin dafür. An die Armen und die Mächtigen verteilte sie nun ihr Gut, so daß Hagen die Warnung aussprach: sie würde, wenn sie noch eine Zeitlang am Leben bliebe, so viele Männer in ihren Dienst verpflichten, daß es für die Burgunden gefährlich werden könnte. […] Hagen sagte zum König: ‚Ein verständiger Mann sollte einen solchen Schatz nicht in den Händen einer einzigen Frau lassen! Mit ihren Geschenken wird sie es noch so weit bringen, daß es für die tapferen Burgunden ein böses Ende nimmt‘ (Nl 1127,1–1130,4).9

Indem ihr der Hort weggenommen wird (vgl. Nl 1132,1–3), wird sie nicht nur des Goldes im eigentlichen Sinne beraubt, sondern auch der Möglichkeit, milte – freigebig – zu sein und Herrschaft auszuüben. Die kenningar der Heldenlieder für Herrscher und Fürst zeigen, wie sehr Herrschaft, Macht und protagonistische Männlichkeit im Allgemeinen mit der Vergabe von Reichtümern verbunden sind. Für Fürst, König, Mann, Held10 finden wir in den Liedern etwa: „Ringbrecher“ (HH. 45, Od. 22),11 „Vernichter der Ringe“ (Fm. 32),12 „Bre 



7 „Eptir þetta sendir Helgi menn med fegiofum at stefna at ser monnum“. 8 „Sendi áro allvaldr þaðan, | of lopt oc um lǫg, leiðar at biðia, | iðgnógan Ógnar lióma | brǫgnom bióða oc burom þeira.“ 9 „Dô si den hort nu hête, dô brâhte si in daz lant | vil unkunder recken. jâ gap der frouwen hant, | daz man sô grôzer milte mêre nie gesach. | si pflac vil grôzer tugende, des man der küneginne jach. | Den armen unt den rîchen begunde si nu geben | daz dâ reite Hagene, ob si solde leben | noch deheine wîle, daz si sô manegen man | in ir dienst gewunne daz ez in leide müese ergân. | […] | Hagene sprach ze dem künege: ‚ez solde ein frumer man | deheinem einem wîbe niht des hordes lân. | si bringet ez mit gâbe noch unz ûf den tac dâz vil wol geriuwen die küenen Burgonden mac.“ 10 Vielleicht hat sogar eine solche Fürstenkenning Tolkien als Inspiration bei der Titelfindung für seinen ‚The Lord of the Rings‘ gedient. So wird nämlich Beowulf vor seinem Drachenkampf bezeichnet: „hringa fengel“ (Beowulf 2345, vgl. Jack 1994, S. 164; etwa ‚der Prinz der Ringe‘). 11 „ringbrota[r]“. 12 „spillir bauga“.  

5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

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cher der Ringe“ (Od. 20),13 „Ringspender“ (Akv. 31)14 oder „des Goldes Verteiler“ (Akv. 37).15 Die Freigebigkeit des Fürsten muss sich allerdings nicht ausschließlich auf Gold beschränken. Nach dem Sieg über Sigmund verteilt Lyngvi die eroberten Ländereien an seine Männer: „Er zog darauf durch das Land und verteilte das Reich unter seinen Mannen“ (Vs 12).16 Auf Regins Drängen hin erbittet sich Sigurd ein Pferd von seinem Ziehvater: „Sigurd ging zu den Königen. Da sprach der König zu Sigurd: ‚Was willst du von uns haben?‘ Sigurd antwortete: ‚Ein Roß möchte ich haben mir zur Unterhaltung.‘ Der König sprach: ‚Wähle dir selbst ein Roß und was du sonst haben willst von unserm Eigentum‘“ (Vs 13).17 Die bedingungslose Zusage Hjalpreks lässt das Konzept des rash boon anklingen, das im höfischen Roman die obligatorische Freigebigkeit des Herrschers thematisiert.18 Es handelt sich dabei um ein Pauschalversprechen, bei dem die uneingeschränkte milte des Idealkönigs missbraucht wird. Nachdem ein Fremder sich eines Versprechens vom König versichert hat, verlangt er etwas, was maßlos über den Anstandsrahmen hinausgeht. Zumeist ist das dann die Unerhörteste aller Forderungen: Der Eindringling verlangt die Frau des Königs, die Königin. So fordert der irische Ritter Gandin von König Marke Isolde selbst als Entlohnung für sein Rottenspiel in der Episode um ‚Rotte und Harfe‘ in Gottfrieds Tristan (vgl. Tristan 13178–13274) und als in Hartmanns Iwein die Königin des Artushofes von einem anonymen Ritter geraubt wird, ist es Gawein, der sie zurückholen muss (vgl. 4275–4302). Bei der Rossbitte ist es aber kein Fremder, der etwas vom König fordert, wie in den rash boon-Episoden des höfischen Romans, sondern ein Mitglied des Kollektivs. Die Passage hebt das absolute Vertrauen Hjalpreks gegenüber seinem Ziehsohn hervor und unterstützt die Aussagen, dass Sigurd mit größter Liebe aufgezogen wird.19 Freigebigkeit ist auch der Vorwand unter dem Atli die Gjukungen im Rahmen der verräterischen Einladung an seinen Hof lockt. Zum Einen sollen sie dort Geschenke empfangen, zum Anderen geht es aber auch um den Erhalt von Herrschaft durch Herrschaftsteilung oder Lehensnahme: „König Atli […] wünscht, daß ihr ihn daheim besucht mit großen Ehren und große Ehren von ihm empfangt, Helme und Schilde,  



13 „bauga deili“. 14 „hringdrifi“. 15 „gullz miðlendr“. 16 „Hann ferr nu yfir landit ok skipar þar sinum monnum rikit.“ 17 „Sigurdr hittir nu konunga. Þa męllti konungr vid Sigurd: ‚Hvat villtu af oss þiggia?‘ Sigurdr svarar: ‚Einn hest vilium ver þiggia oss til skemtanar.‘ Konungr męllti: ‚Kios þer sialfr hest ok slikt, er þu vill hafa af vorre eigu.‘“ 18 Vgl. Hammer 2007, S. 131: „Rash boon bedeutet kurz gesagt das ohne vorherige Gegenleistung erbrachte Versprechen, jeden Wunsch erfüllt zu bekommen. Kennzeichen dieses Motivs ist es, daß ein (übernatürlicher) Fremder unter Ausnutzung des rash boons und ohne besondere Eigenleistung die (oft ebenfalls übernatürliche) Ehefrau des Helden entführt. Letzterer kann sie anschließend, in der Regel durch List, wieder zurückholen, wodurch er seinen legitimen Anspruch auf die Frau noch bestätigt.“ 19 Siehe 4.1.4.  

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Schwerter und Brünnen, Gold und gute Kleider, Heervolk und Rosse und großes Lehen; er sagte, daß er euch am liebsten sein Reich gönne“ (Vs 35, vgl. Akv. 4–5).20 Die von Vingi21 fingierte Begründung lautet: „Es ist nicht zu leugnen, daß König Atli sehr schwerfällig ist und zu sehr altert, sein Reich zu verteidigen; seine Söhne aber sind noch zu jung und zu nichts geschickt. Nun will er euch Gewalt über sein Reich geben, so lange sie noch so jung sind, und er gönnt es euch am liebsten, dessen zu genießen“ (Vs 35).22 Dass Gunnar „eine große Herrschaft geboten“ (Vs 35)23 wird, ist ein Argument der Saga für dessen letztendliche Zusage. Die Gjukungen sollen als Interimsherrscher in Atlis Reich eingesetzt werden. Die Passage zeigt allerdings, dass man Geschenke nicht notwendigerweise annimmt und dass sich mit jeder Gabe auch eine gewisse Problematik ergibt, nämlich das Eingehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zum Schenkenden. Derjenige, der gibt, ist der hierarchisch Höhergestellte.24 So kommt es bei Atlis Einladung zu einer Konkurrenz der Reichtümer beider Reiche, zu einem Aufwiegen der materiellen Macht:25 „Er bietet uns große Herrschaft an, aber keine Könige kenne ich gleich reich an Gold wie uns“ (Vs 35, vgl. Akv. 6–7).26 Ein weiteres Beispiel für einen ‚milten‘ König ist Hrolf aus der Hrólfs saga kraka, von dem gesagt wird,  



daß er in hohem Maße freigebig ist und eine offene Hand hat […]; er spart nicht Gold noch Kleinode, sondern gibt davon allen, die nehmen wollen […]; er ist […] freundlich und umgänglich gegen Arme und gegen alle, die sich ihm nicht widersetzen; er ist der gütigste der Männer, so daß er Armen wie Reichen gleich freundlich antwortet; […] er hat sich auch alle Könige schatzpflichtig gemacht, die in seiner Nähe wohnen, denn alle wollen ihm gerne dienen (Hrólf 15).27

20 „Atle konungr […] villde, at þitt sęktid hann heim med miklum soma ok þęgit af honum mikinn soma, hialma ok skiolldu, sverd ok brynjur, gull ok god klędi, herlid ok hesta ok mikit len, ok ykr lezt hann bezt unna sins rikis.“ 21 Knefröd in der Atlakviða. 22 „Ekki er þvi at leyna, at Atli konungr er þungfer miok ok gamladr miok at veria sitt riki, enn synir hans ungir ok til eingis fęrir. Nu vill hann gefa ydr valld yfir rikinu, medan þeir eru sva ungir, ok ann ydr bęzt at niota.“ 23 „bodit mikit riki“. 24 Vgl. Gottzmann 1973, S. 21: „Das Versprechen von Geschenken muß man als Belohnung für geforderte Dienstleistung verstehen.“ Vgl. Gottzmann 1973, S. 42: „Der reiche Fürst der Giukunge soll sich unterwerfen, doch wird gegen ihn kein Anspruch auf totale Botmäßigkeit, auf bedingungslose Unterwerfung erhoben, sondern für diesen Schritt werden ihm Gegenleistungen zugesichert, die Gunnar entsprechend seinem Stand und seinem Reichtum entschädigen sollen.“ 25 Vgl. Haimerl 1992, S. 180–183. 26 „Hann bydr ockr at þigia mikit riki, en einga konunga veit ek iafnmikit gull eigha sem ockr“. 27 „at hann sé ǫrr ok stórgjǫfull […]; hann spari eigi gull né gersemar nær vid alla, þiggia vilja; hann er […] ljúfr ok hógværr við vesala ok við alle þá, sem ekki brjóta bág i móti honum; manna lítillátastr, svá at jafnblítt svarar hann fátækum sem rikum; […] hann hefir ok skattgilt alla konunga þá, sem eru í nánd honum, því at allir vilja honum fúsir þjóna“.  





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Weiterhin heißt es: König Hrolf lag auf Wikingerfahrten […]; er verschaffte sich eine große Macht, und alle die Könige, die er traf, machte er sich schatzpflichtig, und zwar besonders aus dem Grunde, daß alle die größten Kämpen bei ihm sein und keinem andern dienen wollten, weil er weit freigebiger an Habe war als manche andere Könige (Hrólf 16).28

Vor allem Hrolfs Gutherzigkeit gegenüber den Armen und die Gleichheit, mit der er seine Untergebenen behandelt, machen ihn nicht zuletzt wegen der christlichen Färbung dieser Verhaltensweisen zu einem guten und angenehmen Herrscher im modernen Sinne. In seiner Beschreibung zeigt sich aber auch der Ursprung seines Reichtums: Andere Könige sind ihm tributpflichtig. Er erhält sein Gold von jenen, die er im Kampf unterworfen hat. Zwar dienen sie ihm gern, wie die Saga sagt, allerdings sind der Quell seiner Macht die Wikingerfahrten, auf die er sich begibt. Deutlicher wird das in einer Formulierung der Helgakviða I: „[Helgi] lohnt’ es und gab Gold der Gefolgschaft, | der Fürst schonte nicht den blutbespritzten Schatz“ (HH. 9; Hervorhebung F.D.).29 Wohingegen der höfische Roman verschweigt, woher die Reichtümer des Königs stammen und wie die andauernde verpflichtende milte in einer Welt, in der nur höfische vreude und aventiurende Ritter in Hochstimmung existieren, aufrecht erhalten werden kann, ist die Heldensage überdeutlich: Was der freigebige Herrscher da verschenkt, ist Blutgeld. Die Reichtümer entstammen den konstanten Raub- und Eroberungszügen des Heerkönigs.30

5.1.2 Heerkönigtum Die Völsungensage setzt sich zusammen aus Erzählungen über Könige und deren Kinder.31 Ihr typischer Akteur ist ein Edler.32 Zwar beschäftigt sie sich in Einzelfällen mit

28 „Hrólfr konungr liggr nú í hernaði […]; hann kemr nú undir sik miklum afla, ok alla konunga, sem hann finnr, þá gerir han skattgilda undir sik, ok bar þat mest til, at allir hinir mestu kappar vildu með honum vera ok engum ǫðrum þjóna, þvi at hann var miklu mildari af fé en nǫkkurir konungar aðrir.“ 29 „hann galt oc gaf gull verðungo, | sparði eigi hilmir hodd blóðrekinn.“ 30 Vgl. Clark 2012, S. 51: „the bonds of loyalty [im ersten Helgilied] are predicated on martial dominance.“ 31 Vgl. Grimstad 2000, S. 57: „High social status is a given: all the major characters are of royal rank.“ Vgl. Hermann Pálsson/Edwards 1971, S. 16: „The legendary hero shares certain features with the protagonists in the Kings’ Sagas: both are essentially war leaders and rulers of lands. […] He lives in a world of military power, and it is through his valour and heroic exploits that his personality is realised. The hero, however, is a composite character in cultural terms, for some of his features are borrowed from a later and more refined ethos than that of early Scandinavia. He is a synthesis of viking ideals on the one hand and codes of courtly chivalry on the other.“ 32 Könige sind Sigi und Rerir (vgl. Vs 1), Völsung (vgl. Vs 2), Siggeir (vgl. Vs 3), Sigmund (vgl. Vs 8, HH. II Prosaeinleitung) und sein Sohn Helgi (vgl. Vs 8). Letzterer trifft auf König Hunding (vgl. Vs 9, HH. II Pro 





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der Interaktion besagter Edler mit sozial Geringeren – wie etwa bei der Jagd Sigis mit dem Knecht Bredi (vgl. Vs 1) oder bei dem Vergleich zwischen dem Helden Högni und dem Koch Hjalli (vgl. z. B. Am. 63) –, doch spielen sich die meisten Handlungen zwischen Vertretern der Oberschicht ab. Nun ist die Verfasserfrage für die Heldensage weitestgehend ungeklärt. Wie für die übrige Heldendichtung sind die Autoren der Texte des Völsungenkomplexes anonym. Die Verfasser der höfischen Romane identifizieren sich dagegen selbst in ihren Texten. Hartmann von Aue nennt sich selbst als Autor seines Iweinromans und gibt sogar eine Kurzbiographie zu sich an: „Ein Ritter konnte Latein und las in Büchern, wenn er mit seiner Zeit nichts besseres anzufangen wußte, dichtete er sogar. Er wandte seine Bemühungen auf das, was man gern hören möchte. Er hieß Hartmann und war von Aue. Der hat diese Geschichte gedichtet“ (Iwein 21–30).33 Gottfried von Straßburg impliziert, die Tristangeschichte besser zu verstehen und erzählen zu können als seine Vorgänger (Tristan 131–134). Die Verfasser entstammen der Schicht, über die sie verklärend dichten. Das macht den höfischen Roman zu einer Gattung, der einen ganz klar bestimmten Menschentyp sowie einen ganz bestimmten Stand behandelt. Im höfischen Roman singen Adel und Ritterstand ein Loblied auf ihre eigene privilegierte Kaste. Im Gegensatz zum frühen unverschriftlichten Heldenlied ist dies für die Heldendichtung des 13. Jahrhunderts nicht der Fall. In Heldenepen „firmiert der Erzähler […] als Repräsentant eines kollektiven ‚Wir‘, der das sagt und singt, was alle immer schon wissen – eine archaische Inszenie 









saeinleitung) und auf die Tochter König Högnis (vgl. Vs 9, HH. II Prosa nach 4), welche König Hödbrodd (vgl. Vs 9, HH. 18), einem Sohn König Granmars (vgl. Vs 9, HH. II Prosa nach 13), versprochen ist. Sinfjötli ist selbst kein König, weiß aber, wie mit ihnen umzugehen ist (vgl. Vs 9). Der Nebenbuhler, den er tötet, ist wiederum einer (vgl. Vs 10). König Eylimi ist der Vater von Hjördis (vgl. Vs 11, Sf.), die sich aussuchen darf, ob sie mit König Sigmund oder König Lyngvi (vgl. Vs 11) verheiratet werden will. Letztlich wird sie die Frau König Alfs (vgl. Vs 12), des Sohnes von König Hjalprek (vgl. Vs 12, Sskm 40, Sf.). Ihr Sohn Sigurd ist der herausragendste aller Könige der völsungischen Welt (vgl. Vs 13). Er verlobt sich mit Brynhild, der Tochter König Budlis (vgl. Vs 26, Od. 15), die sich in zweier Könige Streit eingemischt hat (vgl. Vs 21, Sd. Prosa nach 3), heiratet aber Gudrun, die Tochter von König Gjuki (vgl. Vs 26, Sskm 41) und verbrüdert sich mit Gunnar und Högni, die auch Könige sind (vgl. Vs 28, Ghv. 17, Sg. 35). Ihre Beschäftigung ist es, andere Königssöhne zu töten (vgl. Vs 28), während sich Gudrun und Brynhild damit begnügen, sich nur über Könige zu unterhalten (vgl. Vs 26). Weitere Könige sind Atli (vgl. Vs 27, Sskm 42, Dr.), Jonakr (vgl. Vs 41, Sskm 42, Ghv. Einleitungsprosa) und Jörmunrek (vgl. Vs 42, Sskm 42, Ghv. Einleitungsprosa) sowie Gripir, (vgl. Grp. 2), Heimir (vgl. Grp. 27), Þjóðrekr – also Dietrich – (vgl. Gðr. II Einleitungsprosa), Heidrek (vgl. Od. Einleitungsprosa), Half (vgl. Vs 34), Hjörleif, ein Vertrauter König Helgis (vgl. HH. 23–24) und Hamdir und Sörli (Hm. 4). Andere Könige werden nicht namentlich erwähnt oder existieren nur in der Rede der Figuren. So berichtet Helgi von König Starkad (vgl. HH. II 27), Brynhild von einer Schlacht mit dem Gardakönig (vgl. Vs 29) und wie Sigurd fünf Könige erschlagen hat (vgl. Vs 31). Sigurd dagegen berichtet, wie die Gjukissöhne den Dänenkönig erschlagen haben (vgl. Vs 31). Die beiden namenlosen Vorgänger von Sigmund und Sinfjötli sind ebenfalls Königssöhne (vgl. Vs 8). 33 „Ein rîter, der gelêret was | unde ez an den buochen las, | swenner sîne stunde | niht baz bewenden kunde, | daz er ouch tihtennes pflac | (daz man gerne hœren mac, | dâ kêrt er sînen vlîz an: | er was genant Hartman | und was ein Ouwære), | der tihte diz mære.“  









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rung kollektiver Erinnerung.“34 Die Fokussierung auf Könige und Ranghohe verfolgt hier den Zweck, die Atmosphäre der heroischen Vorzeit zu rekonstruieren. Sie betont die Alterität der heroischen Textwelt. Wohingegen der Herrscher des Artusromans ein ruhender und sesshafter König ist, ist der der Heldensage ein fahrender und kriegerischer. Die Heldensage vertritt das Herrschaftsmodell des Heerkönigtums.35 In den Skáldskaparmál heißt es: „Sigurd war der berühmteste aller Heerkönige, was Abstammung, Kraft und Mut betraf“ (Sskm 40),36 im Prosastück Frá dauða Sinfjötla: „in alten Sagen nennt man ihn […] den Herrlichsten der Heerkönige“ (Sf.).37 Neben der Vorausschau der Nornen auf Helgis zukünftiges Königtum (vgl. Vs 8 bzw. HH. 2) sagen auch die Raben die kriegerische Natur seiner Herrschaft voraus: „Der Rabe sprach zum Raben […]: ‚ich weiß etwas. | In der Brünne steht der Sohn Sigmunds, | einen Tag alt, nun ist der Tag gekommen; | er schärft die Augen wie die Helden, | ist der Wölfe Freund, wir sollten froh sein‘“ (HH. 5–6).38 Raben und Wölfe erfreuen sich also über das Wesen Helgis, der als Heerkönig das produziert, was sich die beiden Arten von Aastieren wünschen, nämlich Leichen. Wie auch bei den Söhnen Gjukis („Sie waren immer auf Heerfahrten und vollbrachten manche rühmliche Tat“, Vs 26)39 wird diese Form des Herrschens als vollkommen positiv präsentiert:40 „Der Gefolgschaft schien er ein Fürst zu sein, | sie sagten den Männern sei eine gute Zeit gekommen“ (HH. 7).41 Die Texte inszenieren das Heerkönigtum als standardisiertes Herrschaftsmodell. Es ist die Regel und vollkommen in Ordnung. Das Gefolge wünscht sich einen kriegerischen Anführer.42  

34 Schulz 2015, S. 350. 35 Für den Begriff des Heerkönigs vgl. Wolfram 1999, S. 115–117 sowie ausführlicher Schlesinger 1963, S. 53–87, bes. S. 53: „Heerkönigtum besagt mehr als Führung des Heeres durch den König im Kriege, wie sie immer wieder bezeugt ist. Das Wort weist vielmehr hin auf die Erlangung einer dauernden, eben der königlichen Gewalt auf Grund solcher Führung, nicht nur einer befristeten Amtsgewalt also, sondern einer wirklichen Herrschaft, die sich zwar zunächst nur personell auf die Teilnehmer eines auf Landnahme zielenden kriegerischen Unternehmens erstreckt, mit dem Siege aber sogleich auch transpersonale Züge gewinnt, indem sie auf das unterworfene Gebiet bezogen wird und hier nach der Eroberung nicht wieder schwindet, sondern sich in vielen Fällen im Geschlecht des Heerkönigs vererbt.“ Der Begriff existiert nur in der altnordischen Überlieferung und ist dort wohl bereits deutlich romantisiert (vgl. Schlesinger 1963, S. 54). 36 „Sigurðr var ágætastr allra herkonunga af ætt ok afli ok hug.“ 37 „hann kalla allir menn í fornfrœðum […] gǫfgastan herkonunga.“ 38 „hrafn qvað at hrafni […]: ‚Ec veit noccoð. | Stendr í brynio burr Sigmundar, | dœgrs eins gamall, nú er dagr kominn; | hvessir augo sem hildingar; | sá er varga vinr, við scolom teitir.‘“ 39 „Þeir voru iafnan i hernade ok unnu maurgh agętisverk.“ 40 Vgl. de Vries 1999I, S. 304: „ein echter Wikingerführer.“ 41 „Drótt þotti sá dǫglingr vera, | qváðo með gumnom góð ár komin“. 42 Nun argumentiert Edgar Haimerl allerdings, dass die Helgilieder keinesfalls einen Idealfürsten zeichnen, sondern einen Unruhestifter und Kriegstreiber, der die friedens- und ordnungserhaltenden  











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„[A]uf dem Plünderungszuge“ (Vs 1)43 erwirbt sich Sigi „Land und Reich“ (Vs 1),44 worauf er ein „mächtiger, starker und tüchtiger König [wird]; er herrschte über Hunenland und war ein gewaltiger Krieger“ (Vs 1).45 Sigis Herrschaft ist trotz der Verbindung mit dem Gott Odin nicht mythisch legitimiert.46 Die Hilfsmittel, das Gefolge und die Heerschiffe, kommen zwar durch die Götterfigur zu ihm, doch ist die Basis seiner Macht von da an seine militärische Kraft. Sein Herrschaftsgebiet erhält er, indem er es im Raubzug an sich nimmt. Er stellt einen Erobererkönig dar, dessen Herrschaft an sein Kriegertum gebunden ist. Nach seiner Erschlagung erobert sein Sohn Rerir die Ländereien zurück: „Darauf eignete er sich ihr Land, ihr Reich und Gut zu und wurde jetzt mächtiger als sein Vater“ (Vs 1).47 Ermöglicht wird das durch die Versammlung eines „große[n] Heer[es]“ (Vs 1).48 Die Bemerkung „Rerir machte da große Kriegsbeute“ (Vs 1)49 weist abermals auf die Herkunft des Reichtums hin, der die Freigebigkeit des Heerkönigs der Saga ermöglicht. Später wird gesagt: „Da ereignete es sich, daß Rerir auf eine Heerfahrt ziehen mußte, wie es bei Königen Sitte ist, ihrem Land Frieden zu verschaffen“ (Vs 2).50 Da die Herrschaft etabliert ist, muss sie nun durch weitere kriegerische Unternehmen konsolidiert werden und zwar anscheinend nach üblichem Königsbrauch. Wohl meint das einen Präventivschlag gegen einen Feind außerhalb des eigenen Gebietes. Rerirs Herrschaft stabilisiert sich durch die militärische Schwächung anderer. Der Krieg wird als althergebrachte friedenserhaltende Maßnahme vorgestellt, die zur Stärkung des eigenen Kollektives dient. Rerirs Nachkomme Völsung wird beschrieben als der „größte Kriegsmann und […] siegreich in allen Schlachten, die er auf seinen Heerfahrten schlug“ (Vs 2).51 Die Herrscher der Völsungensage kommen nicht um Siege auf dem Schlachtfeld herum. Sie plündern und heeren. Ihre Herrschaft fußt auf ihrer militärischen Kraft und wird definiert durch die kriegerische Kapazität ihres Gefolges. Da Macht auf Eroberung und gewaltsamer Rücknahme basiert, kämpft der Herrscher der Heldensage andauernd um seinen Platz im Machtgefüge. Diese Form der konstanten Eroberung ist darüber hinaus mit Ehrgewinn für die Figuren der Textwelt verbunden. So heißt es nach der ab-

Fürsten vernichtet (vgl. Haimerl 1991, S. 143–147). Man könnte sich vielleicht darauf einigen, dass dies gerade eben der Idealfürst ist, den sich die Völsungensage wünscht. 43 „heriad“. 44 „land ok riki“. 45 „giorizt hann rikr konungr ok mikill fyrir ser ok red yfir Hunalande ok er hinn mesti hermadr.“ 46 Sigi ist im Vergleich zu Skadi „vornehmeren Geschlechts“; „ęttsterri“ (Vs 1). Die Passage liefert eine der wenigen Belegstellen für eine anderweitige Legitimation von Herrschaft außerhalb von kriegerischer Stärke. Sigis Macht ist mitunter mit seiner Abstammung verbunden. 47 „Nu eignazt hann lond ok riki ok fe, giorizt hann nu meiri fyrir ser enn fadir hans.“ 48 „lidi miklu“. 49 „Rerir feck ser herfangh mikit“. 50 „Þa kemr at þvi, at Rerir skal fara i leidangr, sem sidvenia er til konunga, at frida land sins.“ 51 „Hann giorizt hinn mesti hermadr ok sigrsęll i orostum þeim, sem hann atti i herfaurum.“  

5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

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solut unbegründeten Erschlagung König Hundings – die beiden sind einander einfach nur begegnet (vgl. Vs 9) – für Helgi: „Nun glaubte Helgi, an Ansehen viel gewonnen zu haben, da er einen so mächtigen König erschlagen hatte“ (Vs 9).52 Nach Sigurds Vaterrache wird gesagt: „nun kehrte Sigurd mit glänzendem Siege, großem Gute und Ruhm zurück, so er auf diesem Zuge gewonnen hatte. Da wurden für ihn Gastmähler daheim im Reiche bereitet“ (Vs 17).53 Weiter erklärt das Sigrun in der Helgakviða Hundingsbana nach Helgis Sieg über König Hödbrodd: „Und dir, König, kommt beides zu, | die roten Ringe und das herrliche Mädchen. | Heil sollst du, König, beides genießen, | Högnis Tochter und Hringstad, | Sieg und Länder. Dann ist der Kampf zu Ende“ (HH. 56).54 In der Völsunga saga sagt die Walküre nach Helgis Sieg: „Nun werden die Länder einen anderen Herrn bekommen“ (Vs 9);55 über Helgi heißt es: „König Helgi nahm das Reich in Besitz und weilte dort lange; er nahm Sigrun zur Frau und ward ein berühmter und angesehener König“ (Vs 9).56 Die Herrschaft des Heldensagenkönigs ist an Eroberungen gekoppelt. Diese bedarf keiner weiteren Begründung. Helgi hat die Stärke und er ist herrlich. Sobald er die Truppen aufbringen kann, fällt er in ein Gebiet ein, tötet den Herrscher und nimmt sich sein Land und seine Frau. Das Werben um die gesichtslose Frau Sinfjötlis spielt sich ebenso völlig auf militärischer Ebene ab:57 „Sie [Sinfjötli und sein Nebenbuhler] stritten um diese Heirat in einer Schlacht, und Sinfjötli fällte jenen König. Er heerfahrtete nun weit umher, hatte viele Kämpfe, erstritt aber stets den Sieg. Er ward der ruhmvollste und angesehenste der Männer und kam um den Herbst mit vielen Schiffen und großem Gut heim“ (Vs 10).58 Nachdem Sinfjötli nach dem Heerzug gegen Hödbrodd, nun ohne Helgi, aber mit vermehrtem Ruhm nach Hause kommt, dauert es nicht lang: „Sinfjötli begab sich jetzt von neuem auf Heerfahrten“ (Vs 10).59 Krieg zu führen, zu plündern und zu erobern stellt den kompletten politischen Alltag des Edlen der Saga dar.60 Was sich damit ver 





52 „Nu þickir Helgi hafa vaxit mikit, er hann hefir fellt sva rikan konung.“ 53 „Ferr Sigurdr nu heim med faugrum sigre ok miklu fe ok agęti, er hann hafde fengit i þesse ferd. Voru nu veislur giorvar i mot honum heima i rikinu.“ 54 „Oc þér, buðlungr, samir bæði vel | rauðir baugar oc in ríkia mær; | heill scaltu, buðlungr, bæði nióta | Hǫgna dóttur oc Hringstaða, sigrs oc landa; þá er sócn lokit.“ 55 „Skipt man nu londum.“ 56 „Þat riki tok Helgi konungr ok dvaldizt þar leingi ok feck Sigrunar ok giorþiz grefr konungr ok agętr“. 57 Im Sinfjötlalok geschieht das auf persönlicher Ebene und es wird direkt zu Sinfjötlis Vergiftung übergeleitet. Eine Feldschlacht wird ausgespart: „Aber Sinfjötli […] und er freiten beide um eine Frau, und deshalb erschlug ihn Sinfjötli“; „Enn Sinfiotli […] oc …. báðo einnar kono báðir, oc fyrir þá sǫc drap Sinfiotli hann“ (Sf.). Die Lücke dient wohl der späteren Einfügung eines Namens für Borghilds Bruder. Vgl. auch Sf.: „Borghildr […] átti bróður, er hét ….“ Vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 124. 58 „Þeir þreyta þetta mal med orostu, ok fellir Sinfiotli þenna konung. Hann heriar nu vida ok a margar orostur ok hefir avallt sigr. Giorizt hann manna fregstr ok agętaztr ok kemr heim um haustit med morgum skipum ok miklu fe.“ 59 „Sinfiotli legzt nu i hernad af nyiu.“ 60 Vgl. von See 1971, S. 65: „Es fehlt der Heldensage, obwohl sie doch vorwiegend von Herrschern, von Regierenden handelt, jeder Gedanke an eine Staatsräson, an eine politische Ethik. Von königlichen  



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bindet, ist allerdings von einer gewissen Komplexität. Wie Gudrun in ihrer Rückschau belegt, geht es beim königlichen Normalhandeln um mehrere Dinge, nämlich um die zuvor besprochene milte, um das Ausüben von Gewalt sowie um das Bestimmen über Andere: „Damals lebte ich glücklicher, als ich noch bei Sigurd war: wir erschlugen Könige und schalteten über ihre Schätze, wir gaben Frieden denen, die es wollten, Häuptlinge unterwarfen sich, und wir machten den mächtig, der es wollte“ (Vs 40).61 Ähnlich stellt die Figur es in den Atlamál vor: „Einen König erschlugen wir, nahmen uns das Land, | die Hersen huldigten uns, das zeigt’ ihre Furcht; | wir holten aus dem Wald, wen wir freisprechen wollten, | wir machten den reich, der nichts besaß“ (Am. 99 [96]).62 Gezeichnet wird der Inbegriff einer vollkommenen Willkürherrschaft. Gudrun hat mit Sigurd zusammen schalten und walten können nach ihrer beider Belieben. Weiterhin besteht der politische Alltag der Protagonisten aus präventiven Vernichtungskriegen. Wir finden genügend Passagen, die thematisieren, dass ein feindliches Geschlecht oder Kollektiv vollkommen ausgerottet werden muss, um den eigenen Verband zu schützen.63 Nach Lyngvis Sieg über Sigmund heißt es: „Er glaubte das ganze Geschlecht der Völsunge erschlagen zu haben und meinte, daß er sie fortan nicht mehr zu fürchten brauche“ (Vs 12).64 Nachdem Siggeir Völsungs Sippe nahezu ausgelöscht hat, heißt es: „König Siggeir aber wähnte, daß alle Völsunge tot wären“ (Vs 6),65 doch er wird von Sigmund eines Besseren belehrt: „und wir glauben jetzt, daß du merken wirst, nicht alle Völsunge sind tot“ (Vs 8).66 Identisch formuliert das später sein Sohn Sigurd: „ich wollte, daß sie wüßten, daß die Völsunge noch nicht alle tot sind“ (Vs 17)67 und Brynhild packt den Auslöschungsgedanken in eine ihrer Belehrungen: „Traue nicht dem, dem du zuvor den Vater getötet hast oder den Bruder oder einen andern nahen Verwandten, wenn er auch noch jung ist – oft erwächst dir ein Wolf in einem Waisenkind“ (Vs 22).68 Der Text ist dahingehend deutlich: Vollständige Vernichtung ist der einzige Weg zur Friedenserlangung.69 Das Rad  



Pflichten und Rücksichten gegenüber dem Volk ist nie die Rede.“ An anderer Stelle exemplifiziert von See die eigentliche Herrschaftsuntauglichkeit der Heerkönige durch eine Anekdote Snorris über König Olaf den Heiligen (vgl. von See 1999 [1993](a), S. 157 bzw. 1999 [1993](b), S. 362). 61 „ok var betri ęfi var þa, er ek var med Sigurde. Drapum konunga ok redum um eignir þeirra ok gafum grid þeim, er sva villdu, enn haufdingiar gengu a hendr oss, ok letum þann rikann, er sva villde.“ 62 „Konung drápom fyrstan, kurom land þaðra, | hersar oss á hǫnd gengo, hrœzlo þat vissi; | vágom ór scógi, þannz vildom sycnan, | settom þann sælan, er sér né áttið.“ 63 Vgl. Haimerl 1991, S. 149 Anm.: „gerechte Rache als Vollzug der Gesetze gilt als Erhaltung des Friedens“. 64 „Þickizt nu hafa drępit alla ętt Volsungha ok ętlar þa eigi munu þurfa at ottaz heþan fra.“ 65 „Enn Siggeirr konungr ętlar, at þeir se allir daudir Volsungar.“ 66 „ok ętlum vid nu, at þat skuler þu vita, at eigi eru allir Volsungar daudir.“ 67 „ok villde ek, ath þeir visse, at Volsunghar veri eigi allir daudir.“ 68 „ok tru ecki þeim, er þu hefir felldan fyrir faudur eda brodur eda annann náfrenda, þott unghr se. Opt er ulfr i ungum syni.“ 69 Vgl. Vs 22: „Werde nicht uneinig mit Toren auf dem Thing […] – töte ihn am andern Tage und lohne so seine Lüge“; „Verd lit mishuge vid uvitra menn a fiolmennum mothum. […] Dręp hann annars dags ok gi 







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der Rache dreht sich ansonsten immer weiter. Einen solchen Präventivschlag führt Lyngvi gegen Sigmund, da klar ist, dass nach der unversöhnlichen Situation bei der Werbung um Hjördis Repressalien von den Völsungen zu fürchten sind: „Sie wollten der Kampflust der Völsunge zuvorkommen, zogen nach Hunenland und sandten König Sigmund Botschaft: sie wollten sich nicht an ihn heranstehlen und wüssten wohl, daß er nicht fliehen würde“ (Vs 11).70 Die Passage spricht von der ausgesprochenen militärischen Aggressivität des Völsungengeschlechtes und letzten Endes von der der Heerkönige der Heldendichtung im Allgemeinen. Eine versöhnliche Lösung ist ausgeschlossen. Die Frage lautet nur, wer zieht als erster in den Krieg.

5.1.3 Gefolgschaft Das Instrument der militärischen Macht des Heerkönigs ist sein Gefolge.71 Der in den Heldenliedern auftauchende Begriff „Völkskönig“ (eine Benennung für Gripir, Grp. 1 bzw. für Jonakr, Ghv. 14)72 verdeutlicht dieses Verhältnis zwischen Herrscher und Un 



allt honum sva heiptyrde.“ Brynhilds Rat verdeutlicht die eiskalte Ethik der Saga. Vgl. Miller 1990, S. 190: „In any event, killers expected their victims to be avenged and some people took preemptive measures, on occasion extraordinarily cold-blooded, to prevent it.“ Die in den isländischen Sagas präsentierte Fehde würde eine „collective liability [beinhalten]. The target need not be the actual wrongdoer“ (Miller 1990, S. 180). Fehde- und Rachehandlungen umfassen in den isländischen Sagas komplette Sippen und bisweilen sind die einzelnen Opfer auch nur Stellvertreter für das eigentliche Racheziel. In der Völsungensage ufert Rache zu vollständigen Ausrottungskampagnen aus. 70 „Vilia þeir nu fyrirkoma kappe Volsungha. Koma nu i Hunaland ok senda Sigmundi konungi ord ok vilia eigi stelaz a hann, enn þikiazt vita, at hann mun eigi flygia.“ 71 Vgl. von Olberg 1989, Sp. 1171–1172. Vgl. Heusler 1969 [1909], S. 499: „Das Personal der Heldensage ist die druht mit ihrem druhtin, die Kriegerauslese um den Fürsten herum.“ Vgl. Weddige 2008, S. 215: „Gefolgschaft […] ist ein Verhältnis zwischen Gefolgsherrn […] und freien Männern, das freiwillig für eine Zeitlang oder auf Dauer eingegangen wird, auf gegenseitige Treue gegründet ist und die Gefolgsmannen zu Rat und kriegerischer Hilfe, den Gefolgsherren zu Schutz und Freigebigkeit […] verpflichtet. […] Der Krieg ist der eigentliche Zweck der Gefolgschaft.“ Vgl. Schlesinger 1963, S. 18–30, S. 40–52, bes. S. 18: „Auf freiwilliger Unterordnung Freier unter einen Herrn zu kriegerischem Zweck beruht die Gefolgschaft. Gefolgschaftsverhältnisse können in sehr verschiedener Form entgegentreten […]. Unter Gefolgschaft wird im folgenden ein Verhältnis zwischen Herrn und Mann verstanden, das freiwillig eingegangen wird, auf Treue gegründet ist und den Mann zu Rat und (kriegerischer) Hilfe, den Herrn zu Schutz und ‚Milde‘ verpflichtet. Es verstand nicht ein Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen, das Gehorsam erforderte. Gehorsam kannte der freie Germane nicht, am wenigsten unbedingten Gehorsam. Was Führer und Gefolgsmann fester verkettete als er, war das Band der Freundschaft und der Treue. In späterer Zeit schwört der Gefolgsmann dem Herrn trustem et fidelitatem, Trost, d. h. Hilfe, und Treue. Treue ist ein Gesamtverhalten und ein wechselseitiges Verhältnis; nicht nur der Mann war sie dem Herrn schuldig, sondern auch der Herr dem Mann.“ Vgl. auch Naumann 1939, S. 7–29 bzw. Kuhn 1972 [1938], S. 447. 72 „þióðkonung[i]“.  





















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tertanen.73 So heißt es weiter über Gripir: „Gripir heißt der Männer Herrscher, | ders feste Land beherrscht und die Menschen“ (Grp. 1).74 Ein König über Land und Leute. König Jonakr „war ein mächtiger König über viel Volk“ (Vs 41)75 und Siggeir sei ein „König“ (Vs 3)76 und „herrsch[e] über Gautland; er war ein mächtiger König und hatte viele Mannen“ (Vs 3).77 Beim Gastmahl seines Hochzeitsfests mit Signy werden die Gäste seiner und Völsungs Partei gesondert erwähnt: Es „kamen die Gäste König Völsungs und ebenfalls König Siggeirs […] dorthin“ (Vs 3).78 Weiter hat Siggeir „manchen angesehenen Mann bei sich“ (Vs 3).79 Helgis Gegner Hunding erfüllt dieselben Kriterien: „er war ein mächtiger König, reich an Mannen und herrschte über viele Länder“ (Vs 9).80 Im Falle von Hjalpreks Sohn Alf sehen wir, wie sich der Fürst fortbewegt: „der war mit seinem Heere an dem Lande vorbeigefahren“ (Vs 12).81 Die typische Form der Reise des Edlen ist inmitten seines Heeres, wie auch generell der abstrakte Ort des Herzens der Gefolgschaft den Lebensmittelpunkt des Vorzeitfürsten darstellt. Am Ende seines Aufenthaltes bei Heimir heißt es von Sigurd: „Darauf ging er hinweg zu seinen Mannen und war da eine Weile mit großem Ruhme“ (Vs 25).82 Bei einer Jagd wird gesagt: „eines Tages […] ritt Sigurd in den Wald mit seinen Hunden und Habichten […] und vielem Gefolge“ (Vs 25).83 Sigurds Mannschaft ist hier kein Heer, sondern eine Jagdgesellschaft, zu der auch Jagdtiere gehören. Das Gefolge gehört zur höfischen Ausstattung des Fürsten. Ebenso verfügt die obere Schicht der Textwelt über einen Hofstaat. Bei Gudrun sind das mehrere Mägde (vgl. Vs 26) und im ersten Gudrunlied wird von den Jarlen und deren Frauen berichtet:84 „Sehr kluge Jarle traten hinzu“  

73 Vgl. Weddige 2008, S. 155: „Der Grundunterschied von Herrschaft und Dienst bestimmt die gesellschaftliche Ordnung im Mittelalter. Dienst ist verknüpft mit Unfreiheit, Herrschaft mit Freiheit.“ So ist wohl das mittelalterliche Feudalsystem zu bewerten. Eventuell kann man sich für das germanische Gefolgschaftswesen größere Reziprozität vorstellen. 74 „Grípir heitir gumna stióri, | sá er fastri ræðr foldo oc þegnom.“ 75 „Hann var rikr konungr ok fiolmennr.“ 76 „konungr“. 77 „Hann red fyrir Gautlandi. Hann var rikr konungr ok fiolmennr.“ 78 „komu þar bodsmenn Volsungs konungs ok sva Siggeirs konungs“. 79 „margar virdulega menn med ser.“ 80 „Hann var rikr konungr ok fiolmennr ok red fyrir londum.“ 81 „Hann hafde farit fyrir land fram med her sinum.“ 82 „ok gengr hann i brott til sinna manna ok er þar um hrid med miklum bloma.“ 83 „Ok einn dag er fra þvi sagth, at Sigurdr reid a skog vid hundum sinum ok haukum ok miklu fiolmenni.“ 84 Vgl. Sprenger 1992, S. 9: „Der harte Realismus bei der Darstellung des Toten in Gðr. I steht in schroffem Gegensatz zu der vornehmen Umgebung, in der sich die Szene abspielt […]. Der Gebrauch von ítr entspricht an unserer Stelle dem von ‚schön, herrlich‘ in jenem allgemeinen, idealisierenden Stil, der die hochmittelalterlichen höfischen Werke charakterisiert. […] Man mag in diesem Zusammenhang z. B. an die vielen Kleiderstrophen im NL erinnern“.  





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(Gðr. I 2);85 „Herrliche Frauen der Jarle“ (Gðr. I 3).86 Brynhild arrangiert ihre Feuerbestattung zusammen mit Sigurd so, dass ihr ihre Dienerschaft mit auf den Scheiterhaufen folgt:87 „Laß mir zur einen Seite Sigurd verbrennen, den hunischen König, ihm zur andern Seite aber meine Mannen, zwei zu Häupten und zwei zu Füßen, und zwei Habichte […]. Auch ist unser Leichenbegängnis nicht armselig, wenn ihm fünf Mägde und acht Diener folgen“ (Vs 33, vgl. Sg. 47, 66–67).88 Ebenso große Macht erwächst dem Fürsten nicht nur aus dem ihm untergebenen Gefolge, sondern auch aus seiner Sippe, Familie und Nachkommenschaft. Der ruhende König lebt sein Kriegshandwerk durch seine Söhne weiter aus:89 „Hunding hieß ein mächtiger König […]. Er war ein großer Kriegsmann und hatte viele Söhne, die auf Kriegszug waren“ (HH. II Einleitungsprosa).90 Die Herrschaft König Gjukis ruht vor allem auf den Schultern seiner renommierten Söhne: „Die Macht der Gjukunge stand in großer Blüte, und zumal durch Gjukis Kinder, die die meisten weit überragten“ (Vs 26).91 Vergleichbar ist Völsungs Herrschaft, die sich durch eine Vielzahl an überragenden Nachkommen auszeichnet (vgl. Vs 2). Problematisiert wird in den Skáldskaparmál Jörmunreks Lage, dessen Sippe an Macht verliert, nachdem er von seinem üblen Berater dazu verleitet wurde, seinen eigenen Sohn zu töten: „Aber als Jörmunrek den Falken sah, erkannte er, daß seine Macht zu Ende ging, weil er alt und ohne Sohn war, so wie der Vogel nicht fliegen konnte und keine Federn hatte“ (Sskm 42 [41]).92 Eine funktionierende Herrschaft ist die, die Kontinuität erzeugt. Zur Intrige Bikkis gehört nicht nur die Veranlassung der Tötung Randvers, Jörmunreks Sohnes, sondern auch die Svanhilds. Die Hamðismál lassen Gudrun den dadurch an ihrer Sippe erwachsenen Schaden gegenüber ihren Söhnen artikulieren: „Nachdem man euch gemindert hat als Volkskönige, | lebt allein ihr von meinem Geschlecht. | Einsam bin ich geworden wie eine Espe im Wald, | beraubt der Verwandten wie eine Föhre der Zweige“ (Hm. 4–5).93 Gleichzeitig stellt das Lied ein Problem vor, das sich aus der Dis 

85 „Gengo iarlar alsnotrir fram“. 86 „ítrar iarla brúðir“. 87 Eine realhistorische Entsprechung findet die Szene in Ibn Fadlāns Beschreibung der „Feuerbestattung eines warägischen Edlen […], die ein Schiff, vollständigen Hausrat und das Opfer einer Leibsklavin einschloß“ (Richter-Bernburg 2000, S. 316). 88 „Lat […] brenna mer þar a adra haund þenna enn hynska konung, enn a adra haund honum mina menn, II at haufde, II at fotum, ok II hauka […], ok er var leidzla þa ecki aumlig, ef honum fylgia fim ambattir ok atta þionir“. 89 So auch nach Matthias Teichert Sigmund, nachdem er seine Herrschaft gefestigt hat. Er erfülle den „Typus des ruhenden Herrschers“ (Teichert 2009, S. 293). 90 „Hunding hét rícr konungr. […] Hann var hermaðr mikill oc átti marga sono, þá er í hernaði vóro.“ 91 „Rad Giukungha stod med miklum bloma, ok mest fyrir sakir barna hans, er miok voru um fram flesta.“ 92 „En er Jǫrmunrekkr konungr sá haukinn þá kom honum í hug at svá sem haukrinn var ófleygr ok fjaðralauss, ok svá var ríki hans ófœrt er hann var gamall ok sonlauss.“ 93 „Eptir er ycr þrungit þióðkonunga | lifið einir ér þátta ættar minnar. | Einstœð em ec orðin sem ǫsp í holti, | fallin at frœndom sem fura at qvisti“.  



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krepanz zwischen der heroischen Verpflichtung zur Rache und dem Erhalt des eigenen Geschlechtes ergibt: Da Gudrun Rache für ihre Brüder an ihrem ungeliebten Ehemann Atli nimmt, schadet sie ihrer eigenen Familie, indem sie die Kontinuität seiner Sippe zerstört, also seine Söhne tötet,. Die Macht ihres eigenen Geschlechtes wird geschmälert, wie ihr von Hamdir vorgeworfen wird: „Atli glaubtest du zu schaden, mit Erps Mord | und mit Eitills Tod, dir war’s noch übler; | jeder sollt dem andern das Wunden beißende Schwert | zum Totschlag gebrauchen, ohne sich selbst zu schaden“ (Hm. 8).94 Gudrun konnte Atli nicht schaden, ohne nicht auch ihrem eigenen Kollektiv Leid anzutun.95 Macht definiert sich durch Personenstärke und durch Anzahl. Wir haben bereits über die Idealität von Helgis Aufwachsen gesprochen („Da begann [Helgi] heranzuwachsen an der Brust der Freunde“, HH. 9).96 Über seine Herrschaft heißt es: „Helgi war hochherzig und reich an Freunden, er übertraf die meisten andern Männer in jeglicher Geschicklichkeit. Das wird erzählt, daß er sich auf Heerfahrt begab, als er fünfzehn Winter alt war. Helgi war König über das Heervolk“ (Vs 8).97 Wenn die Erzählungen der Völsungensage von Helgis Freunden berichten, dann geschieht das in einem anderen Kontext als wir Heutige das verstehen würden. Bei der Vielzahl an Freunden geht es nicht darum, dass Helgi am Samstagabend nicht allein zu Hause sitzen muss, sondern dass er Macht im militärischen Sinne hat. Das Gefolge und die Kriegsmannschaft rekrutieren sich aus den Verbänden der Verbündeten. Freunde bedeuten dabei Sicherheit und die Möglichkeit Gewalt auszuüben.98 Man ist durch ein komplexes Verpflichtungssystem an sie gebunden und durch sie in ein Kollektiv integriert.99 In Krisenzeiten gewinnt diese Einbindung an Bedeutung. Als Sigi in Ungnade fällt, „besorgte [Skadi] Leute“ (Vs 1),100 um den totgeschlagenen Bredi zu suchen und  

94 „Atla þóttiz þú stríða at Erps morði | oc at Eitils aldrlagi, þat var þér enn verra; | svá scyldi hverr ǫðrom veria til aldrlaga | sverði sárbeito, at sér né stríddit.“ 95 Siehe 6.2.5. 96 „Þá nam at vaxa fyr vina briósti“. 97 „Hann giorizt storlyndr ok vinsęll ok fyrir flestum monnum odrum at allri atgiorfi. Þat er sagt, at hann ręzt i hernad, þa er hann var fimtan vetra gamall. Var Helgi konungr yfir lidinu“. 98 Auf Grund des Fehlens staatlicher Regierungsorgane fällt die Durchsetzung des Gesetzes und des eigenen Rechtes dem Einzelnen und dem Verband zu. Vgl. Miller 1990, S. 219 für das mittelalterliche Island: „In early Iceland, no particular institution, such as the law, which it had, or the state, which it didn’t have, had a monopoly on legitimate violence.“ 99 Vgl. Byock 1990, S. 10: „Marriage creates new kinship alliances, which are often vital for survival in societies like the one pictured in the saga, where there is no effective central order and only rudimentary judiciary. Many of the saga’s major characters are kings or noble retainers, individuals prepared to fight regularly to maintain their status. Even though pledges were exchanged between lord and retainer, the most trustworthy defense lay in the family.“ Vgl. Grimstad 2000, S. 41: „Kinship solidarity was of fundamental importance in the society portrayed by the sagas, a society in which honor of an individual or a family was constantly at risk through the actions of another party, and often blood revenge was the only or the preferred means of restitution.“ Vgl. zu Verwandtschaftsbindungen Miller 1990, S. 178. 100 „Fęr menn“.  







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Sigis Verbannung durchzusetzen. Seine Macht artikuliert sich dadurch, dass er über eine bestimmte Mannschaft gebietet. Der verbannte Sigi erhält von Odin „Heerschiffe […]“ (Vs 1).101 Ebenso wie bei Skadi beruht Sigis Macht fortan auf dem „Gefolge, das ihm sein Vater gegeben hatte“ (Vs 1).102 Verwundbar wird er, da er „nur ein kleines Gefolge bei sich“ (Vs 1)103 hat. In seinem letzten Kampf findet er „mit seinem ganzen Hofgesinde“ (Vs 1)104 den Tod. Ebenso fußt auch die Rücknahme der Ländereien des Vaters durch Rerir auf dessen militärischer Macht: „er empfing so großes Heer von seinen Freunden und Landeshäuptlingen, daß er sich beides, Land und Königtum, nach seinem Vater Sigi zueignete“ (Vs 1).105 Es wird uns hier ein Einblick in die Infrastruktur von Rerirs Machtverhältnissen gegeben. Seine Mannschaft setzt sich zusammen aus dem Gefolge von Verbündeten und ihm unterstellten Fürsten respektive Häuptlingen. Wie dieser Bund aussieht, ob es sich um Freundschaftsdienst oder Pflicht handelt, erklärt der Text nicht. Ähnlich ist bei der Verteidigung des Landes König Hödbrodds vor den Truppen Helgis von einem Heergebot die Rede: „Veranstalten wir denn ein Heergebot durch unser ganzes Reich und ziehen ihm entgegen. Keiner von denen sitze zu Hause, die fechten wollen! Senden wir Botschaft den Hringssöhnen, König Högni und Alf dem Alten, das sind große Kämpfer“ (Vs 9, vgl. HH. 51–52 bzw. HH. II Prosa nach 24).106 Selten werden die Vertreter der Gefolgschaft und die Verbündeten wie in diesem Falle individualisiert.107 In den meisten Fällen bleibt die Gefolgschaft eine Ansammlung anonymer Statisten. So sticht der Fürst aus der gesichtslosen Masse seiner Mannschaft hervor. Die Tat der Gemeinschaft, des kriegerischen Kollektivs wird zur Tat des individuellen Akteurs, unter dessen Namen sich sowohl er selbst als auch seine Gefolgschaft metonymisch subsumiert. Der Vernichtungsschlag, den Sigurd mit Hjalpreks Hilfe gegen die Ländereien Lyngvis führt, ist Sigurds Vaterrache („König Hjalprek gab Sigurd eine Schiffsmannschaft für die Vaterrache“, Rm. Prosa nach 15),108 Lyngvis Reaktion auf die Bedrohung ist sein mutiges Handeln („König Lyngvi ließ durch sein ganzes Reich ein Heergebot ergehen. Er wollte sich nicht auf die Flucht begeben, sondern entbot sich alle Mannen, die ihm Hilfe

101 „herskipa“. 102 „lid, er fadir hans feck honum“. 103 „hann var falidr fyrir“. 104 „med hird sinne allri.“ 105 „fęr hann ser mikit lid af vinum sinum ok landzhofdingium, sva at hann eignadizt będe land ok konungdom eptir Sigha fedr sinn.“ 106 „Giorum þa bod um allt vart riki ok sękium i mot þeim. Siti sa engi heima er beriazt vill. Sendum ord Hrings sonum ok Haugna konungi ok Alfi enum gamla, þeir eru bardagamenn miklir.“ 107 Namentlich genannt werden zum Beispiel einige den Gjukungen unterstellte Kämpfer bei der Rückholung Gudruns (vgl. Vs 34) oder der Kämpe Orkning (vgl. Vs 37) bei Auszug der Gjukungen. Einen Namen – Vingi (vgl. Vs 35) – trägt der Führer der Gesandtschaft Atlis und selbstverständlich sind Regin (vgl. Vs 17) und Nornagest (vgl. Norn 4) stark ausgemalte Figuren aus der Gefolgschaft Sigurds. 108 „Hiálprecr konungr fecc Sigurði scipalið til fǫðurhefnda.“  



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leisten wollten“, Vs 17).109 Da Thjodrek beziehungsweise Dietrich sein Gefolge verliert, wird er zu einem König im Exil und somit handlungsunfähig: „König Thjodrek war bei Atli und hatte dort fast alle seine Männer verloren“ (Dr., vgl. Gðr. III 5).110 Als Gudrun in den Gjukungenhof reintegriert, das heißt ihr ein Versöhnungsangebot wegen des toten Sigurds gemacht werden soll, wird ein großer Zug ausgerüstet. Die Familienkrise wird zur politischen Sache. Die Gefolgschaft wird involviert. Schließlich dringt man bei dem Versöhnungsversuch in das Territorium eines anderen Herrschers ein: „Da schickten sie nach ihren Freunden und rüsteten ihre Rosse, Helme und Schilde, Schwerter und Brünnen und allerlei Heergeräte. So ward ihre Reise aufs feinste ausgerüstet, und kein Held, der bedeutend war, blieb daheim […]. Sie hatten im ganzen fünfhundert Mann, auch vornehme Männer hatten sie mit sich“ (Vs 34, vgl. Gðr. II 18–19).111 Die Erzählungen der Völsungensage sind sich gänzlich uneinig, welche Größenordnungen sie dem jeweiligen Gefolgschaftspersonal der Figuren geben wollen. Die Größe von Atlis Schar bewegt sich in durchaus überschaubaren Dimensionen: „Wir hatten ein großes und stattliches Heer und gewaltige Helden […]: neunzehn meiner Kämpen habt ihr erschlagen, elf nur sind noch übrig“ (Vs 38),112 oder: „wir waren dreißig kampftüchtige Krieger, | elf überlebten“ (Am. 54 [51]).113 Dass das ein großes, stattliches Heer sein soll, lässt den Rezipienten vielleicht stutzen. Die Atlamál geben für die Zahl der ausziehenden Gjukungen an: „fünf fuhren gemeinsam, doppelt so viele Knechte | waren dabei“ (Am. 30 [28]).114 Der Zug besteht aus so geringer Zahl, dass selbst der Übersetzer Arnulf Krause kommentiert: „Die Schar besteht also nur aus fünfzehn Männern.“115 Vergleicht man das mit den Massen, die Helgi zur Eroberung Sigruns mobilmacht, scheint es, als hätte sich dort die ganze Vorzeitwelt zu diesem Kriegszug versammelt: „zwölftausend Mann, aber das zweite Heer ist dennoch ein halbmal so groß“ (Vs 9).116 Derselbe Text beschreibt Heerscharen, die zwischen dem zwei- und fünfstelligen Bereich rangieren. Dass letzterer Zahlengigantismus auf eine amplificatio117 zurückzuführen ist, zeigen die Ausmaße des Heeres in der Vorlage, die um den Faktor zehn reduziert sind: „Zwölfhundert treue Männer; | doch sind in Hatun

109 „Lynge konungr letr nu fara um allt sitt riki herbod, vill eigi a flotta leggiaz, stefnir til sin aullum þeim monnum, er honum vilia lid veita.“ 110 „Þióðrecr konungr var með Atla oc hafði þar látið flesta alla menn sína.“ 111 „Senda eftir vinum sinum ok bua hesta sina, hialma, skiolldu, sverd ok bryniur ok allzkonar herklędi. Ok var þesse ferd buinn it kurteislista, ok einge sa kappe, er mikill var, sat nu heima. […] Þeir haufdu allzt V hundrut manna.“ 112 „Ver hofdum lid mikit ok stora kappa […], drepit nitian kappa mina, enn ellifu einir eru eptir.“ 113 „várom þrír tigir […], | eptir lifom ellifo“. 114 „fóro fimm saman, fleiri til vóro | hálfo húskarlar“. 115 Krause 2004, S. 435 Anm. 116 „XII þusundir manna, ok er þo halfdu fleira annat.“ 117 Siehe 2.2.2. Nicht nur der Umfang der Beschreibung schwillt an, sondern auch die beschriebenen Dimensionen.  

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5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

doppelt so viele“ (HH. 25).118 Später im selben Lied nimmt der Umfang wieder zu: „Fünfzehn Scharen gehen an Land, | doch sind in Sogn draußen siebentausend“ (HH. 50).119 „[Z]ehnhundert Goten“ (Hm. 22)120 finden sich an Jörmunreks Hof.  

5.1.4 Wie Sigurd assimiliert wird Sigurd umgibt ein Charisma, was nicht nur seinen Charme, seine Persönlichkeit meint, die sich zum Beispiel durch seine Redegewandtheit artikuliert, sondern eine schwer zu fassende Aura, die ihn überlebensgroß macht. Ohne weitere Vertiefung fallen der Figur die Dinge zu, so Elfriede Stutz.121 Der Held verfügt über das Heil des Herrschers. Diese Tatsache manifestiert sich in nahezu jeder Situation, wenn Sigurd in einen Bereich eindringt. Sobald er auf ein fremdes Kollektiv trifft, fordert allein seine Präsenz eine extreme Reaktion, typischerweise Unterwerfung, wie zum Beispiel am Hof Heimirs: „sie gingen ihm [Sigurd] entgegen und begrüßten ihn freundlich. Alsvinn bot ihm an, bei ihm zu bleiben und von ihm anzunehmen, was immer er wollte. Sigurd nahm das an. Es wurde angeordnet, daß man ihm in ehrenvollster Weise diente“ (Vs 24).122 Auch bei Gjuki wird Sigurd pauschal alles gewährt, was er möchte: „König Gjuki sprach: ‚Du sollst hier bei uns willkommen sein, und empfange hier das, was du willst.‘ Er ging in die Halle, und alle waren klein neben ihm; alle dienten ihm, und er war dort in großem Ansehen“ (Vs 28).123 Sigurds Herrschaft und sein Fürstentum werden ihm – ebenso wie in Helgis Fall mit den Nornen – durch andere prophezeit. Gripir sieht voraus: „Du wirst der berühmteste Mann unter der Sonne sein | und höher gestellt jedem Fürsten“ (Grp. 7)124 und Sigmund verkündet im Sterben liegend die übergroße Rolle, die sein noch ungeborener Sohn spielen wird (vgl. Vs 12). Diese Vorausschauen sind die Legitimation von Sigurds Macht. Er ist der größte aller Fürsten, weil es so im Vorhinein gesagt wurde. Ebenso wie sein Ahn Sigi ist allerdings auch er auf Unterstützung von außen angewiesen (vgl. Vs 1). Wie dieser zuvor erhält auch Sigurd Hilfe von Hjalprek in Form seiner Gefolgschaft, wobei auch Sigurds Ziehvater ihm alles gewährt, wonach er verlangt. Ei 





118 „Tólf hundruð tryggra mann; | þó er í Hátúnom hálfo fleira“. 119 „Ganga fimtán fólc up á land, | þó er í Sogn út siau þúsundir“. 120 „tío hundruð gotna“. 121 Vgl. Stutz 1990, S. 424. 122 „Gengu i moth honum ok faugnudu honum vel. Alsvidr bydr honum med ser at vera ok af ser at þiggia slikt, er hann vil. Hann þiggr þat. Honum er ok skipat vegligha at þiona.“ 123 „Giuki konungr męllti: ‚Vel skalltu her kominn med oss ok þigg her slikt, sem þu villt.‘ Ok hann gengr inn i hollina, ok voru aller lagir hia honum, ok aller þionodu honum, ok var hann þar i miklu yfirlęte.“ 124 „Þú munt maðr vera mæztr und sólo | oc hæstr borinn hveriom iofri“.  

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5. Herrschaft, Macht und Politik

ne mythische Legitimation finden wir außerhalb dieser prophetischen Vorausschau auf Sigurds und Helgis Herrschaft nicht. Macht ist in der Völsungensage – trotz der Abstammung von Odin in der Völsunga saga – säkular. Dass Sigurd zu jeder Zeit freiwillig Dienst angetragen wird, geschieht allerdings nicht vollständig ohne Erklärung und ist nicht ausschließlich auf sein Charisma zurückzuführen. Das Nibelungenlied berichtet, dass Siegfried, obschon er eigentlich um Kriemhilt freien wollte, bei seiner Ankunft am Wormser Hof letztlich als Eroberer auftritt. Seine ursprüngliche Absicht125 – „Ich traue es mir zu, ihnen Herrschaft und Land mit Gewalt abzunehmen“ (Nl 55,4)126 – äußert er in Worms auch gegenüber Gunther: „Alles was Ihr in Eurem Besitz habt, Reiche und Burgen, will ich Euch mit Gewalt abnehmen. Alles werde ich in meine Hände bekommen“ (Nl 110,3–4).127 Gunthers Reaktion ist Unverständnis: „Womit hätte ich es verschuldet, […] das Reich, das mein Vater in hohem Ansehen lange Jahre regiert hat, jetzt durch die Gewalt eines anderen zu verlieren? Wir würden damit ja zugeben, daß wir keine wahren Ritter sind“ (Nl 112, 1–4).128 Der Burgundenhof existiert in einer Form von dynastischer Herrschaft, die höfisch geordnet, althergebracht und stabil ist.129 Genau das ist es auch, was innerhalb dieser Ordnung Ritterschaft ausmacht. Würde man von diesen Mustern abweichen, dann wäre man kein wahrer Ritter mehr. Dieses dynastische System kollidiert mit Siegfrieds Eroberertum.130 Er vertritt ein heroisches System, das die bestehende hö 









125 Siegfrieds ursprünglicher Grund, zu den Burgunden zu reisen, ist Kriemhilts Ruf und Schönheit (vgl. Nl 44,1–49,4). Doch bei der Ankunft am Wormser Hof ist ihm das nicht mehr wichtig, sondern es geht ihm nur noch darum, sich mit dem Burgundenkönig zu messen und um die Herrschaft zu kämpfen. Es ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem höfischen Werbungswillen Siegfrieds und seinem kriegerischen Eroberungsdrang. Das Bindeglied zwischen den beiden Aspekten ist die Strophe 55 des Nibelungenliedes. Siegfried beschließt hier, nachdem er vor den Burgunden gewarnt wurde, zur Not mit Gewalt vorzugehen: „Was ich von ihnen nicht im Guten bekomme, das werde ich durch Tapferkeit erlangen“; „“swaz ich friuntlîche niht ab in erbit, | daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant“ (Nl 55,2–3). Vgl. Müller 1998, S. 405 f.: „Dadurch daß Frauendienst Element eines Machtspiels ist, ist er mit dessen anderen Komponenten verknüpft. Schon in Sivrits Entschluß zur Werbung war der minne-Wunsch mit Aggressionsphantasien verbunden. Bei der Vorbereitung der Werbung um Kriemhilt taucht der Gedanke an Gewalt auf […] – so wie sich umgekehrt Sivrit mitten im aggressiven Disput mit den Wormsern seiner minne erinnert […]. Die entgegengesetzten Handlungsmöglichkeiten werden ausagiert: Sivrit tritt wie im Brautwerbungsschema als Herausforderer der Königssippe auf; doch dann verfällt er wie in höfischer Minnewerbung in tatenloses Warten. Indem die minne den Sieg davonträgt und Sivrit seine Angriffspläne aufgibt, gerät die Handlung in eine Sackgasse.“ 126 „ich trouwe an in ertwingen beide liute unde lant.“ 127 „ich wil an iu ertwingen swaz ir muget hân: | lant unde bürge, daz sol mir werden undertân.“ 128 „Wie het ich daz verdienet […], | des mîn vater lange mit êren hât gepflegen, | daz wir daz solden verliesen von iemannes kraft? | wir liezen übele schînen daz wir ouch pflegen ritterschaft.“ 129 Der Hof wird in der ersten aventiure als „ein hierarchisch abgestuftes politisches Gebilde“ (Weddige 2008, S. 229) vorgestellt. 130 Vgl. Weddige 2008, S. 230: „Für Siegfried ist Legitimität von Herrschaft auf persönliche Stärke und Leistung gegründet. Gunther beruft sich auf die rechtmäßig ererbte und ausgeübte Herrschaft – eine ‚traditionale‘ Herrschaft, die im Unterschied zur archaisch-‚charismatischen‘ Siegfrieds keines besonde 











5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

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fische Etablierung aufzubrechen sucht und innerhalb dessen sein Handeln als Aggressor vollkommen legitim ist.131 Siegfrieds Motivation („Mein höchster Wunsch ist es, zu erreichen, daß die Leute von mir sagen, ich hätte Land und Herrschaft zu Recht“, Nl 109,2–3)132 steht gleichwertig neben der Erklärung Gunthers. Symbolisiert wird diese Unvereinbarkeit beider Systeme im Begrüßungszeremoniell, das die Xantener in Worms erfahren. Gunthers Leute empfangen die Gäste höflich, indem sie ihnen „[n]ach gutem alten Brauch“ (Nl 75,2)133 die Pferde abnehmen wollen. Siegfried lässt das aber nicht zu: „Laßt mir und meinen Gefolgsleuten nur ja die Pferde stehen! Wir wollen nämlich bald wieder fort von hier“ (Nl 76,3–4).134 Durch das Scheitern dieses Rituals und durch die Tatsache, dass Siegfried nur kurz bleiben möchte und sich nicht als Gast gebärdet, wird die Störung offenbar.135 Letztlich gelingt es Gernot, der Ag-

ren Idoneitätserweises bedarf“. Vgl. Müller 2009, S. 84: „Verhandelt wird das Verhältnis von dynastisch-genealogischer Kontinuität und Eignung zur Herrschaft durch überlegene Gewalt.“ Vgl. auch Müller 1974, S. 92 f.: „Legitimität (von rehte) der Herrschaft wird auf persönlicher Stärke des Herrschers gegründet, diese garantiert die Erfüllung seiner wichtigsten Aufgabe: den Schutz von Untertanen und den Landfrieden […]. Sîvrits Herausforderung ist also gar nicht so ungewöhnlich. Herrschaft um 1200 hängt von der Fähigkeit des Herrschers ab, sie nach innen und außen durchzusetzen […]. Die Hypostasierung dieser Tatsache in der Weise, daß der Tapferste deshalb Herrscher sein müsse und Herrschaft beanspruchen könne, wird allerdings durch die Reaktion der Wormser Könige in ihre Grenzen verwiesen.“ Vgl. Müller 1974, S. 98 f.: „nur bei Sîvrits Jugendtaten galt, daß der Stärkste sich ein Königreich erstreitet: konsequent gehören sie damit in die Vorgeschichte; nur im fernen Isenstein und im Nibelungenland decken sich persönliche Tüchtigkeit und Herrschaftslegitimation. In Worms ist Sîvrits Anspruch einerseits nicht realisierbar (gegenüber dem entwickelteren politischen Gebilde), andererseits Usurpation (gegenüber von alters legitimierter Herrschaft).“ Vgl. auch Ehrismann 2002, S. 72–77. Eine Gegenstimme zur Idee der kollidierenden Systeme allerdings lässt Günther Eifler laut werden, der die Szene keinesfalls als das Aufeinandertreffen verschiedener Legitimationsmodelle von Herrschaft liest, sondern in ihr kohärentes und homogenes Minneritter- und Brautwerberverhalten findet; vgl. Eifler 1989, S. 283–290, bes. S. 288: „Das genannte Kräfteverhältnis bestimmt ebenso die […] von langer Hand geplante, mit dem Vater beratene und keinesfalls unbeherrscht-impulsive Strategie Siegfrieds. Der Versuch, sein provokatives Verhalten als Ausfluß einer archaischeren Kultur unkontrollierten Handelns, eines affektbestimmten Heroenethos kriegerischer Aggressions- und Konfliktbereitschaft zu erklären, ist gleichfalls auf von außen herangeholte Gründe angewiesen. Die Dichtung weiß von alledem nichts. Ihre Menschen repräsentieren nicht zwei Kulturen (Lebensformen), sie stehen nicht für Archaik und Modernität, unverkennbar gehören sie einer Kultur an, und diese Kultur ist feudaladlig-ritterlich, sie ist hochmittelalterlich vorgestellt. Die Konflikte dieser Menschen entspringen der Gleichartigkeit ihrer Lebensform, worauf im übrigen für den zeitgenössischen Hörer wie für den heutigen Leser die Dramatik der Geschehnisse beruht.“ 131 Vgl. Millet 2008, S. 203: „das juristische System der Erbschaft […] gegen das heroische Gesetz des Stärkeren“. 132 „ich wil daz gerne füegen daz si von mir sagen | daz ich habe von rehte liute unde lant.“ 133 „daz was michel recht“. 134 „lât uns stên die mœre, mir und mînen man! | wir wellen schiere hinnen“. 135 Auch Siggeir hat das Hochzeitsfest vor der Zeit beendet (vgl. Vs 3). Vorzeitige Enden zeigen ein Problem auf.  

















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5. Herrschaft, Macht und Politik

gression Siegfrieds mit höfischem Gestus zu begegnen:136 „‚Ihr und Eure Begleiter, Ihr sollt uns herzlich willkommen sein! […] Meinen Verwandten und mir wird es ein Vergnügen sein, Euch jeden Wunsch zu erfüllen.‘ Da gab man den Auftrag, den Gästen einen Begrüßungstrunk zu reichen. Da sagte der Herr des Landes: ‚Alles, was wir haben, steht zu Eurer Verfügung, sofern Ihr davon angemessen Gebrauch macht. Gut und Leben wollen wir mit Euch teilen.‘ Da wurde der Herr Siegfried schon etwas besänftigt“ (Nl 126,1–127,4).137 Gernot138 lässt das heroische Aggressionspotenzial Siegfrieds, der vom archaischen und unhöfischen Denkmodell des Eroberers – des Heerkönigs – geprägt ist, durch seine Pro-forma-Unterwerfung ins Leere laufen.139  



136 Vgl. Haug 1989 [1987], S. 330: „Schon von Anfang an ist die Form, das höfische Normverhalten, nicht mehr wie im arthurischen Roman ein Idealkonzept, das die Handlung strukturiert, indem es über diese Handlung die Gegenwelt zuläßt, um sie zu überwinden oder aufzuheben und damit sich selbst zu bestätigen. Das Höfische im Nibelungenlied ist vielmehr immer schon eine bewußt ergriffene und eingesetzte Form, ja ein kommunikatives Regelsystem, das weniger dazu dient, Konflikte durchzuspielen, als sie zu verhindern […]. So wird denn gezeigt, wie die Burgunden alles versuchen, um mit Hilfe dieses Modells das mit dem Handlungsmuster vorgegebene Konfliktpotential zu entschärfen.“ 137 „‚Ir sult wesen willekomen […] | mit iuwern hergesellen, die mit iu komen sint! | wir sulen iu gerne dienen, ich und die mâge mîn.‘ | dô hiez man den gesten schenken den Guntheres wîn. | Dô sprach der wirt des landes: ‚allez daz wir hân, | geruochet irs nâch êren, daz sî iu undertân, | und sî mit iu geteilet lip unde guot.‘ | dô wart der herre Sîvrit ein lützel sanfter gemuot.“ 138 Ob Gernot oder Gunther spricht, wird aus dem Text nicht ganz klar. Jan-Dirk Müller und Walter Haug etwa lesen Gunther (vgl. Müller 1998, S. 410; Haug 1989 [1974], S. 298). 139 Vgl. Classen 2003, S. 301: „Not surprisingly, his [Siegfried’s] appearance at the court in Worms causes severe conflicts as it proves to be radically different from the social and ethical norms espoused by the Burgundians. When he arrives in Worms, he has no idea of courtly manners, diplomatic exchanges, or political rules of public behavior, and can only be appeased by means of pretended submission under his command“. Vgl. Millet 2008, S. 204: „Die Herausforderung wird vergessen, und alle (insbesondere der Held) werden Mitglieder einer zivilisiert handelnden Gemeinschaft, in der die Gewalt im Spiel abgefangen wird, Macht durch Erbschaft legitimiert ist und elaborierte Normen den sozialen Umgang regeln. Das ist die höfische Welt des 12. Jahrhunderts. Doch die Episode hat durchscheinen lassen, dass unter dem schönen Aussehen und dem erlesenen Benehmen der Vasallen immer noch der Geist der brutalen Krieger und Drachentöter lauert. Die Mitglieder des Hofes haben heimlich Teil an der Welt, die ihn in Frage stellt. Hierin manifestiert sich möglicherweise eine typisch klerikale Kritik an der weltlichen Hofkultur. […] Die vorgestellte Welt basiert auf der Sichtbarkeit dessen, was am Hof geschieht. Sifrits Heldentaten aber sind unsichtbar und nur bekannt, weil Hagen von ihnen berichtet hat. Der gewalttätige Charakter der Krieger wird durch die Hülle höfischer Förmlichkeit verdeckt, und er wird dann gefährlich, wenn er, wie in der Szene von Sifrits Empfang, durchscheint. Der Dichter hat also sehr bewusst der Harmonie, die im sichtbaren Bereich des Hofes konstituiert wird, die Brutalität und Gewalt entgegengesetzt, welche auf Ebenen stehen, die dem Blick nicht zugänglich sind.“ Vgl. jedoch Müller 1974, S. 90 f.: „In der parataktischen, nicht kausal verknüpfenden Darstellung wird nicht einmal so klar […], was Sîvrit schließlich zum Nachgeben veranlaßt: der Gedanke an Kriemhilt […], die geringen Erfolgsaussichten […], das Angebot der Gastfreundschaft […] oder gar der ‚Herrschaft‘ […]. Eindeutig ist nur, daß hier ein nicht weiter reflektierter Zusammenhang von Minne und Kampf um die Herrschaft besteht.“ Vgl. an anderer Stelle Müller 1998, S. 410 f.: „Ermöglicht wird die Lösung durch eine höfische Geste Gunthers. Seine Worte erfüllen genau das, was Sivrit gefordert hatte, und erfüllen es doch auch nicht. […] Es ist eine besondere Leistung höfischer Rede, die diese Lösung ermöglicht […]: Zurücknahme der pragmatischen  



















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Das Nibelungenlied expliziert das, worauf die Völsunga saga mehrmals anspielt. Die Sagawelt ist sich der Naturgewalt des Helden bewusst, weswegen man ihm unaufgefordert gibt. Die Dinge fallen ihm also nur auf den ersten Blick ohne weitere Erläuterungen zu. Sigurds wahres Charisma besteht aus seiner Gewalt und seinem Heerkönigtum. Herrschaft und Dienst erhält er angeboten, weil man schlicht Angst vor ihm hat und weil man dem zuvorkommen will, dass er kriegerisch gegen den eigenen Verband agiert. Die Kraft Sigurds, der Einmannarmee, muss ausmanövriert, gebändigt und – wie wir gleich sehen werden – auch domestiziert und letztlich integriert werden. Nachdem Sigurd am Gjukungenhof aufgenommen wurde und zwar auf die eben besprochene Weise, die sicher stellt, dass durch nichts seine Eroberungslust geweckt wird, wird den Gjukungen offenbar, welcher Nutzen ihnen aus dem Helden entsteht. So findet sich immer wieder in Verbindung mit ihm der Begriff ‚traust‘, ‚Beistand‘ oder ‚Stütze‘. Vor allem Grimhild erkennt das Potenzial, das in Sigurd steckt:  



Sie erwog bei sich, daß es ein größeres Glück wäre, wenn er sich hier festsetzte und König Gjukis Tochter zur Frau nähme; sie sah, daß keiner sich mit ihm vergleichen konnte, sah auch, welche Stütze an ihm war, und daß er übergroße Schätze hatte, viel mehr, als daß man ein andres Beispiel dafür gewußt hätte. Der König benahm sich gegen ihn wie gegen seine Söhne, diese aber schätzten ihn höher als sich selbst (Vs 28).140

Diese Stärkung des eigenen Geschlechts ist später auch Högnis Argument gegen die Erschlagung Sigurds: „Auch haben wir eine große Stütze an ihm – keine Könige sind uns gleich, wenn dieser hunische Herrscher lebt, und einen solchen Schwager bekommen wir niemals wieder“ (Vs 32).141 Ähnlich spricht er in der Sigurðarkviða in skamma: „Wir kennen auf der Erde keine glücklicheren Männer, | solang wir vier über das Volk herrschen | und dieser hunnische Heerfürst lebt“ (Sg. 18).142 Nach Sigurds Tod ist die Sippe geschwächt. Sigurd sagt selbst im Moment seines Sterbens: „Schlimm haben sie für ihre Sache gesorgt – niemals erhalten sie einen solchen Schwager noch Schwestersohn, der auch mit ihnen in den Kampf ritte, wenn er es erreichen würde, aufzuwachsen“ (Vs 32).143 Gudrun verkündet ihren Brüdern: „wenn ihr zum Kampfe kommt, da werdet ihr merken, daß Sigurd euch nicht mehr zur einen Hand ist, und  



Konsequenzen des Sprechaktes Unterwerfung (die Sivrit fordert) auf die bloße sprachliche Geste bei Suspension des Wortsinns (wodurch sich Gunther nichts vergibt) und dadurch nurmehr symbolische Erfüllung dessen, was das Gegenüber fordert.“ 140 „Hugsar fyrir ser, at þat veri meire gipta, at hann stadfestizt þar ok ętte dottur Giuka konungs, ok sa, at einge matte vid hann iafnazt, sa ok, hvert traust at honum var, ok hafde ofr fiar, miklu meira, enn menn visse dęmi til. Konungr var vid hann sem vid sonu sina, enn þeir virdu hann framar enn sik.“ 141 „Er oss ok mikith traust at honum. Eru eingir konungar oss iafnar, ef sea inn hynski konungr lifir, ok slikan magh fam ver alldri“. 142 „Vitoma við á moldo menn in sælli, | meðan fiórir vér fólki ráðom | oc sá inn húnsci herbaldr lifir“. 143 „illa hafa þeir fyrir sinum lut sed. Ecki fa þeir slikan magh at rida i her med ser, ne systurson, ef sea nęde at vaxa.“

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dann werdet ihr sehen, daß Sigurd euer Heil und eure Stärke war; wenn er ihm gleiche Söhne hätte, so könntet ihr unterstützt werden durch seine Nachkommen und seine Verwandten“ (Vs 32).144 Gunnar „wusste überhaupt nicht, | was ihm am geeignetsten zu tun wäre, | oder was ihm am besten zu tun wäre, | denn er wusste sich des Wölsungs beraubt | und dass Sigurd ein großer Verlust sei“ (Sg. 13).145 Schließlich erkennt selbst Atli, was den Gjukungen nach Sigurds Tod an diesem verloren ging: „er fällte eine starke Stütze, er schadete sich sehr“ (Am. 2).146 Thematisiert wird mehrmals der Machtgewinn, den die Gjukungen durch Sigurds Aufnahme erfahren und wie sie diese Macht letztlich wieder verlieren. Nach dem Tod des Helden erfolgt vor allem eine Verlustrechnung. Es reicht den Gjukungen nach Sigurds Ankunft nicht aus, dessen Gewalt durch Höflichkeit und zuvorkommenden Dienst einzudämmen. Sie wollen sich die Macht des Helden, die sich sowohl in seiner Person, als auch in seinem Reichtum manifestiert, zu eigen machen. Er wird von der Gjukungensippe assimiliert: „König Gjuki soll dein Vater sein und ich deine Mutter, Gunnar und Högni sollen deine Brüder sein und alle, die ihr einander Eide leistet – so werden sich eures Gleichen nicht finden“ (Vs 28),147 spricht Grimhild zu Sigurd im Rahmen des Bruderschwures. Um ihn noch weiter an das Geschlecht zu binden, rät sie ihrem Mann die Verheiratung Sigurds mit Gudrun:148 „Hierher ist nun der größte Kämpe gekommen, der auf der Welt gefunden werden kann, an ihm wäre uns eine große Stütze – gib ihm deine Tochter mit großem Gut und einem solchen Reiche, wie er will“ (Vs 28).149 Dabei werden die Grenzen des Üblichen überschritten: „Ungebräuchlich ist es, seine Töchter anzubieten; doch ehrenvoller ist es, sie ihm anzubieten als daß andre um sie werben“ (Vs 28).150 Letztlich ist die ganze Sippe der Gjukungen dahinter, Sigurd nicht nur als Gast aufzunehmen, sondern zu einem der ihren zu machen: „Viel Gutes erweisest du uns, Sigurd, [sagen Gjuki und Gunnar] und kräftig hast du unsre Herrschaft gestärkt. […] Alles wollen wir  





144 „er þer komit til bardaga, þa muno þer finna, at Sigurdr er eigi a adra hond ydr, ok muno þer þa sea, at Sigurdr var ydur gęfa ok styrkr, ok ef hann ętte ser slika sonu, þa mętte þer styrkiazt vid hans afkveme ok sina frendr.“ 145 „hann vissi þat vilgi gorla, | hvat hánom væri vinna sœmst, | eða hánom væri vinna bezt, | allz sic Vǫlsung vissi firðan | oc at Sigurð sǫcnuð mikinn.“ 146 „feldi stoð stóra, stríddi sér harðla“. 147 „Þinn fadir skal vera Giuki konungr, enn ek modir, brędr þinir Gunnar ok Haugne ok alle, er eida vinnid, ok munu þa eigi yþrir iafninghiar fazt.“ 148 Ebenso im Nibelungenlied. Vgl. Millet 2008, S. 205: „Giselher überzeugt ihn zu bleiben mit dem Argument, man werde ihn schöne Frauen (also Kriemhilt) sehen lassen. Die Burgunden nutzen also die Frau, um Sifrit als Freund am Hof zu halten. Die Gewalt ist so besser kontrollierbar und bei Bedarf gezielt einsetzbar.“ Vgl. de Boor 1961, S. 42: „Allein da ist darauf hinzuweisen, daß Siegfried in aller Nibelungentradition von Belang als Einzelner, Umherirrender und Einsamer an den burgundischen Hof kommt und nach seiner Verheiratung dort verbleibt.“ 149 „Her er nu kominn enn meste kappe, er finnazt man i verolldu. Vere at honum mikit traust. Gipt honum dottur þina med miklu fe ok sliku riki, sem hann vill“. 150 „Fatitt er þat, at bioda fram dęttr sinar, enn meire vegr er at bioda honum, enn adrir bide.“  



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dazu tun, daß du lange hier bleibst; beides, unser Reich und unsre Schwester bieten wir dir an“ (Vs 28).151 Um die Heirat aber erst möglich zu machen, bedarf es des Vergessenstrankes. Ein Teil von Sigurds Identität und Geschichte wird ausgelöscht: „‚nimm hier das Horn und trink.‘ […] Und durch diesen Trank dachte er nicht mehr an Brynhild“ (Vs 28).152 Durch Schwüre, Heiratspolitik und Zauberei wird Sigurd in das Kollektiv der Gjukungen eingesponnen.153 Gleich wohin Sigurd kommt, es fällt ihm die Herrschaft in den Schoß, doch am Gjukihof war er zu attraktiv. Grimhild erkennt sein heroisches Potenzial und leitet alles in die Wege, um Sigurd der eigenen Sippe einzuverleiben. Sein Heldentum wird den Völsungen weggenommen und von den Gjukungen geschluckt. Er wird aus seiner eigenen Sippe ausgegliedert und Teil des fremden Kollektivs. Sigurd ist nun ein Gjukunge. Der Verband profitiert von der Vermischung mit der fremden heroischen Macht. Das Produkt dieser Eingliederung ist die ideale heroische Sippe, deren eh schon herausragende Voraussetzungen mit dem größten Helden der völsungischen Textwelt ergänzt werden. Die Völsungen spielen ab diesem Zeitpunkt nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Völsungensage wird zu einer Geschichte der Gjukungen. Herrschaft und Macht definieren sich über das zur Verfügung stehende Personal. Indem nun Sigurd ein Teil der Sippe Gjukis wird, erreicht die Macht des Geschlechts ihren Zenith: „Sie zogen weit durch die Lande und vollbrachten manche Heldentat, erschlugen viele Königssöhne; kein andrer verrichtete solch Heldenwerk wie sie – dann fuhren sie heim mit großer Beute“ (Vs 28).154 Die Gjukungen leben ihre Macht zusammen mit Sigurd im großen Stil und ohne Einschränkung aus. Die drei Schwurbrüder rauben, plündern und töten, wie es ihnen beliebt. Ihre Herrschaft – das, was der Text als ‚fregþarverk‘, ‚rühmliche Tat‘,155 bezeichnet – besteht aus nichts anderem, als möglichst viele Rivalen zu töten und sich ihren Besitz anzueignen.  





151 „Mart gott veitir þu oss, Sigurdr, ok miok hefir þu styrkt vart riki. […] Allt vilium ver til vinna, at þer dvelizt her leinge, będi riki ok vora systur med bode“. 152 „‚Tak her vid horne ok dreck.‘ […] ok vid þann dryck munde hann ecke til Brynhilldar.“ 153 Vgl. Byock 1990, S. 10: „The absence of the support that blood relations might supply exacerbates Sigurd’s problems with in-laws, who are often untrustworthy. Germanic societies tended to be patrilocal: that is, a man married a woman outside his group and brought her to live with his family instead of their living with hers. Sigurd breaks the usual social pattern after marrying the Burgundian princess Gudrun by settling among his in-laws […]. There the protection of both his person and his treasure is dependent upon the goodwill of his wife’s Burgundian kinsmen.“ Ulrike Sprenger spricht von der „Heiratspolitikerin Grímhildr“ (Sprenger 1992, S. 40), die Gudrun an Sigurd verheiratet, „indem sie ihn durch den Vergessenheitstrank für dieses Heiratsprojekt – das auch der Machtpolitik diente – zugänglich machte“ (Sprenger 1992, S. 40). 154 „Þeir foru nu vida um laund ok vinna maurgh fregþarverk, drapu margha konungarsonu, ok eingir menn giordu slik afrek sem þeir. Fara nu heim med miklu herfannghe.“ 155 Vgl. Baetke 2008, s.v.  









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5. Herrschaft, Macht und Politik

5.1.5 Politisches Miteinander Der Ort des nichtkriegerischen herrscherlichen Handelns, des politischen Miteinanders, ist in der Welt der Völsungensage die Halle oder die Burg. Es fiel in diesem Zusammenhang bereits der Begriff des Machtzentrums, welches die Völsunga saga in Form der Halle, die Völsung um den barnstokkr errichtet, expliziert (vgl. Vs 2). Bei Sigurds Ankunft bei den Gjukungen heißt es, er „ritt, bis daß er nach der Halle König Gjukis kam“ (Vs 28),156 welche auch als „Burg“ (Vs 28)157 beschrieben wird.158 In der Werwolfsepisode besteht als Gegenstück zum vorherigen völsungischen Machtzentrum, der Halle, das „Erdhaus“ (Vs 6)159 Sigmunds im Wald.160 Die Völsungen sind hier herrschaftsfern. Ihre Rache besteht aus der Dekonstruktion der Elemente von Siggeirs Macht.161 Die Rächer existieren zunächst am Rande von Siggeirs Domäne und schleichen sich in die Peripherie seiner Halle, von wo sie ins Innere gelangen, seine Nachkommenschaft töten („Sinfjötli […] tötete beide Knaben und warf sie ins Innere der Halle, König Siggeir zu Füßen“, Vs 8)162 und beginnen, seine Gefolgschaft auszumerzen („Der König erhob sich und rief seine Mannen auf, die Männer zu ergreifen, die sich am Abend in der Vorstube versteckt hätten. Da liefen die Männer hinaus und dorthin, und wollten Hand an sie legen; die aber wehrten sich wohl und heldenmütig, und der meinte es da lange am schlimmsten zu haben, der ihnen am nächsten war“, Vs 8).163 Gegen die völsungischen Individuen mit ihrem Heldenmut steht die anonyme Vertretung der Herrschaft Siggeirs, die ihm zu Befehl stehenden Männer, die aber von Sigmund und Sinfjötli demontiert werden. Zuletzt – und nachdem sie lebendig begraben wurden – legen die Völsungen Feuer an Siggeirs Halle selbst, in dem Siggeir zusammen mit Signy und seiner Gefolgschaft umkommt: „Darauf fand sie hier den Tod  



156 „Hann ridr þar til, er hann kom at hǫll Giuka konungs.“ 157 „i borgina.“ 158 Vgl. Larrington 2012, S. 259: „The Gjúkungs’ borg in Vǫlsunga saga is very much conceived of as a court, with ladies-in-waiting, courtiers, serving-women, gossip and politics“. Dadurch verändert sich auch die Form zwischenmenschlicher Interaktion im Vergleich zum ersten Teil der Saga: „a space where private rooms are the locus of intimate conversations. Dialogues between pairs […] contrast powerfully both with the open confrontations of the earlier (northern) half of the saga […]. The Gjúkung court is also a romance-oriented ambit, in which public and private behaviour are frequently at odds with one another.“ 159 „iardhus“. 160 Vgl. Schjødt 2008, S. 307: „Sigmundr stays in hiding, first in the forest, which is clearly here contrasted with the ‚civilised‘ society of human beings and so connotes the ‚uncivilised‘, then in a jarðhús, that is a space under the ground“. 161 Siehe 2.2.3 bzw. 3.1.4. 162 „Enn Sinfiotli […] drepr hvarttveggia barnit ok kastar þeim innar i haullina fyrir Siggeir konung.“ 163 „Konungr stendr nu upp ok heitr a menn at taka þa menn, er leynst hofdu i forstofunni um kvelldit. Nu hlaupa menn utar þanngat ok vilia haundla þa, enn þeir veria sig vel ok drengiliga, ok þickizt þa sa verst hafa lengi, er nęst er.“  



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5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

mit König Siggeir und seinem ganzen Gefolge“ (Vs 8).164 Die Rache der Völsungen löscht sämtliche Manifestationen von Siggeirs Macht aus, Nachkommenschaft, Gefolge, Ehefrau, Herrschaftssitz und letztlich natürlich den König selbst. Sobald Siggeir und die Seinen vernichtet sind, läuft die Konstituierung von Herrschaft in der Erzählung wieder in den gewöhnlichen Bahnen ab. Bereits im nächsten Satz heißt es: „Vater und Sohn verschaffen sich Heervolk und Schiffe. Sigmund steuerte auf sein Geschlechtserbe zu und vertrieb den König aus dem Lande, der sich nach König Völsung darin festgesetzt hatte. Sigmund war nun ein mächtiger und berühmter König, weise und hochstrebend“ (Vs 8).165 Die Schilderung der Herrschaftsrücknahme ist kurz und unproblematisch. Nun, da der Störfaktor in Form von Siggeir beseitigt ist, funktioniert auch das völsungische Königtum wieder nach dem bisher etablierten Muster. Es wird wieder zu einem Heer- und Erobererkönigtum. Der namenlose Rivale, der sich im von König Völsung hinterlassenen Machtvakuum festgesetzt hat, wird widerstandslos vertrieben. Wenn die Texte Luxus, Reichtum und Pracht beschreiben, so geschieht das mitunter im Kontext der Darstellung der königlichen Hallen. Die Atlakviða etwa beschreibt Gunnars Halle: „zum Hof Gjukis kam er [Knefröd, Atlis Gesandter] und zu Gunnars Halle, | zu den Bänken um den Herd und zum lieblichen Bier“ (Akv. 1).166 Die Gäste werden auf einem Ehrenplatz, „auf der Hochbank“ (Akv. 2),167 installiert. Von Atlis Halle heißt es: „Sie sahen Atlis Halle und tiefe Seitenbänke, | Bikkis Krieger stehn auf der hohen Burg, | den Saal überm Südvolk, von Sitzbäumen umgeben, | verbundnen Rändern, hell glänzenden Schilden, | Spießen, Speeren; dort trank Atli | den Wein in der Walhalle“ (Akv. 14).168 Die Bänke machen die Halle zum Gemeinschaftsort, zu einem Ort des Aufenthalts. Hier geschieht das gesellschaftliche Miteinander der Edlen und Ranghohen. Die Orientierung der Bänke erlaubt abermals eine Hierarchisierung der Gefolgschaft. Die martialische Ausstattung weist auf deren Natur hin: Es sind die Oberen einer agonalen Gesellschaft. Das Kollektiv definiert sich durch seine Streitbarkeit. Dass Atli Wein trinkt, ist ein Indikator für die Stabilität seiner Herrschaft. Zu trinken ist festliches Verhalten und weiterhin signalisiert das Genussmittel Reichtum und eine störungsfreie Ordnung des Hofes von Atli. Diese Freiheit von Irritationen wird an anderer Stelle allerdings von Gudrun in Frage gestellt, die ihrem Mann vorwirft, er könne nicht für Frieden und Reglementierung an seinem eigenen Hof sorgen: „Hier ist  





164 „Siþan feck hun þar bana ed Siggeiri konungi ok allri hird sinne.“ 165 „Þeir fręndr fa ser lid ok skipa, ok helldr Sigmundr til ęttleifdar sinnar ok rekr or landi þann konung, er þar hafdi i sezt eptir Volsung konung. Sigmundr giorizt nu rikr konungr ok agętr, vitr ok storadr.“ 166 „at gǫrðom kom hann Giúca oc at Gunnars hǫllo, | becciom aringreypom oc at bióri scásom.“ 167 „á becc hám“. 168 „Land sá þeir Atla oc liðsciálfar diúpar, | Bicca greppa standa á borg inni há, | sal um suðrþióðom, sleginn sessmeiðom, | bundnom rǫndom, bleicom scioldom, | dafar, darraða; enn þar dracc Atli | vín í valhǫllo“.

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oft großer Streit in deinem Hofe gewesen, oft schlugen sich Verwandte und Freunde, eins war dem andern feind“ (Vs 40,169 vgl. Am. 97). Ebenso wird dieses Hallenideal in der Heldendichtung wieder dekonstruiert. Das Nibelungenlied trägt, als die brodelnde Situation zwischen Nibelungen und Hunnen eskaliert, diese Merkmale höfischer Stabilität und Freude nach und nach ab oder verkehrt sie ins Gegenteil.170 Hagen verstümmelt einen Spielmann, sodass er nicht mehr fiedeln kann (vgl. Nl 1963,1–1964,4). Der Musiker wird als Repräsentant der höfischen Feierlichkeit beschädigt. Volker hingegen, der Fiedler auf nibelungischer Seite, wird zum Krieger. Sein Spiel wird dahingehend pervertiert, dass er nun seinen Feinden den Tod fiedelt: „Sein Fiedelbogen erklang laut in seiner Hand. Da fiedelte der Gefolgsmann Gunthers auf eine ungewohnte Weise. Eine Unzahl von tapferen Hunnen machte er sich zu bitteren Feinden“171 (Nl 1966,2–4).172 Die Kulmination der Gewalt in Etzels Saal wird bis zuletzt unter dem Bild der Feierlichkeit behandelt („Es ist ein schlimmes Fest, das uns die Königin ausrichtet“, Nl 2119,4,173 vgl. auch Nl 2122,4) und Dietrich kommentiert die Kriegskunst Hagens mit einer Gastmahlsmetaphorik: „Hier schenkt Hagen den allerschlimmsten Trank ein!“ (Nl 1981,4).174 Anstatt dass die Frauen Met, Bier oder Wein einschenken (vgl. z. B. Vs 28), serviert Hagen den Hunnen nun den Tod. Letztlich wird die Halle selbst in Brand gesetzt und die höfische Harmonie unwiederbringlich vernichtet (vgl. Nl 2111,1–4). Die Perversion des Gastmahlbildes gipfelt darin, dass die nibelungischen Helden sich vor der Hitze nur retten können, indem sie das Blut ihrer Feinde an des Weines statt trinken: „Da sagte Hagen von Tronje: ‚Ihr ed 

169 „Her hefir verit opt mikil stiriolld i þinum garde, ok baurduzt opt frendr ok vinir, ok yfdizt hvat vid annat“. 170 Wie Jan-Dirk Müller sagt, „gibt es höfischen Comment nur noch als blutige Karikatur“ (Müller 1998, S. 428). 171 Volkers Fiedel und sein Schwert werden dabei gleichgesetzt. Er lässt Letzteres metaphorisch erklingen: „Fiedelnd schritt er durch den Palas. Ein scharfes Schwert erklang wieder und wieder in seiner Hand“; „er begunde videlende durch den palas gân. | ein hertez swert im ofte an sîner hende erklanc“ (Nl 1976,2–3). Später wird über ihn gesagt: „Seine Gesänge klingen schrecklich, seine Bogenstriche sind blutrot. Seine Töne bringen vielen Helden den Tod“; „Sîne leiche lûtent übele, sîne züge die sint rôt: | jâ vellent sîne dœne vil manegen helt tôt“ (Nl 2002,1–2). Vgl. Müller 1998, S. 429: „Gar nicht genug bekommt der Erzähler von dem Witz, daß das wahre Fest erst jetzt richtig losgeht, endlich mit besserer Musik.“ Vgl. dazu auch Braun 2005, S. 384–387, der bespricht, dass die Darstellung der Exorbitanz des Fiedlers nicht zu Schrecken oder Befremdung beim Rezipienten führe, sondern einen komischen Effekt erzeuge. Vgl. bes. Braun 2005, S. 386 f.: „Das Nibelungenlied verharmlost das Töten von Menschen, indem es dieses als Form musikalischen Ausdrucks darstellt, und die Komik vermittelt ein affirmatives Verhältnis zur Ausübung von Gewalt. Im wohl wirkmächtigsten Heldenepos des deutschen Mittelalters gehört das Verfahren, Gewaltakte durch die Reibung inkongruenter Vorstellungsbereiche komisch erscheinen zu lassen, ins Register der Möglichkeiten, Gewalt sprachlich umzusetzen.“ 172 „sîn videlboge im lûte an sîner hende erklanc. | dô videlte ungefuoge Guntheres spilman. | hei waz er im ze vîende der küenen Hiunen gewan!“ 173 „ez ist ein übel hôchzît, die uns diu küneginne tuot.“ 174 „hie schenket Hagene daz aller wirseste tranc.“  











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5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

len, trefflichen Ritter, wer vom Durst gequält wird, der soll hier das Blut trinken. Das ist in solcher Hitze noch besser als Wein. In einer Lage wie dieser läßt es sich leider nicht besser einrichten.‘ Da ging einer der Recken zu einem Toten. Er kniete neben dessen Wunde und band den Helm vom Kopf. Da machte er sich daran, das fließende Blut zu trinken. Wenn es ihm auch ungewohnt war, so schien es ihm doch das Richtige zu sein. ‚Nun möge Euch Gott lohnen, Herr Hagen‘, sagte der müde Mann. ‚Daß ich auf Eure Belehrung hin so köstlich getrunken habe. Mir ist noch niemals ein besserer Wein kredenzt worden […].‘ Als die anderen hörten, daß es für ihn köstlich schien, da wurden es viele, die auch das Blut tranken“ (Nl 2114,1–2117,2).175 Die höfische Hochstimmung wird durch heroischen Überschwang ersetzt.176 Ähnliche Demontagen der Herrschafts- und Idealitätssymbole in Saal und Halle finden wir auch in der skandinavischen Nibelungensage. Högni stößt beim Hallenkampf einen seiner Gegner ins Feuer (vgl. Akv. 19), Atli wird dazu gebracht, das Blut seiner Söhne zu trinken und ihre Herzen zu essen (vgl. Akv. 33–36). Seine Halle wird im Rahmen von Gudruns Rache ebenfalls vollkommen niedergebrannt (vgl. Akv. 41– 42). Die Halle Jörmunreks wird Schauplatz des Endes der Gudrunssöhne: „Dort fiel Sörli an der Wand des Saales, | und Hamdir sank nieder am Hausende“ (Hm. 31).177 Die Feier in der Halle zum Zeitpunkt des Eindringens der beiden repräsentiert das ideale Miteinander des Gefolges, nämlich Gelage und gemeinsames Betrinken: „Lärm war in der Halle, die Männer waren biertrunken“ (Hm. 18).178 Als die Rache der Brüder beginnt, wird das kontrastiert: „Lärm entstand in der Halle, Becher fielen herunter, | Männer lagen im Blut, geflossen aus der Brust der Goten“ (Hm. 23).179 Das fröhliche Lärmen, die Geräusche der Feierlichkeit, werden nun zu Kampflärm. Die Becher – als Gegenstände des Gelages – fallen um. Das fröhliche und geordnete Miteinander der Gefolgschaft wird in Chaos verwandelt und das statische Ideal reglementierter Ordnung wird durch die heroische Ästhetik des Hallenkampfes abgelöst. Es sind genau die Dinge, die Idealität repräsentieren, die nun im heroischen Sog ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt und zu gewalttätigen Sinnbildern gewandelt werden: das sind Feuer – im Sinne von Herdfeuer –, das nun zur Vernichtung dient (mitunter auch für Jörmunreks Körper selbst: „Deine Füße siehst du, deine Hände siehst du, | Jörmun 













175 „Dô sprach von Tronege Hagene: ‚ir edeln ritter guot, | swen twinge durstes nôt, der trinke hie daz bluot. | daz ist in solher hitze noch bezzer danne wîn, | ez enmac an disen ziten et nu niht bezzer gesîn.‘ | Dô gie der recken einer da er einen tôten vant. | er kniete im zuo der wunden, den helm er ab gebant. | dô begunde er trinken daz vliezende bluot. | swie ungewin er wære, ez duhte in grœzlichen guot. | ‚Nu lône iu got, her Hagene‘, sprach der müede man, | ‚daz ich von iuwer lêre sô wol getrunken hân. | mir ist noch vil selten geschenket bezzer wîn […].‘ | Do die andern daz gehôrten, daz ez in dûhte guot, | dô wart ir michel mêre, die trunken ouch daz bluot.“ 176 Vgl. Müller 1998, S. 427–434. 177 „Þar fell Sǫrli at salar gafli, | enn Hamðir hné at húsbaki.“ 178 „Glaumr var í hǫllo, halir ǫlreifir“. 179 „Styrr varð í ranni, stucco ǫlscálir, | í blóði bragnar lágo, komið ór briósti Gotna.“  

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rek, geworfen ins heiße Feuer“, Hm. 24)180 sowie Essen und Trinken, die zu Bluttrinken und Kannibalismus werden. Bei der Ankunft der Boten Atlis bei den Gjukungen schildern die Atlamál ein ungestörtes Hallenmiteinander: „Erfreut waren sie und zündeten Feuer an, | dachten nicht an List, als sie gekommen waren; | sie nahmen Geschenke, die ihnen der Treffliche sandte, | hängten sie an die Säule, nicht schien’s von Bedeutung“ (Am. 5).181 Das gastfreundliche Zeremoniell umfasst das Empfangen von Geschenken der Gäste, deren Zurschaustellung an einer der Säulen der Halle zur Sichtbarmachung der Harmonie zwischen Gast und Gastgebern dient. Dieses plakative Herzeigen dessen, was zwischen den Personengruppen unsichtbar vor sich geht, beweist wie empfindlich die Friedensverhältnisse zwischen den verschiedenen Kollektiven der Heldensagenwelt sind. Weil man sich der Gewaltbereitschaft des jeweils Anderen bewusst ist, sind die Parteien bedacht auf die gegenseitige Versicherung, dass alles in Ordnung ist. Im Falle der verräterischen Einladung geschieht das natürlich nur zum Schein. Wie delikat der korrekte Ablauf von politischen Ritualen selbst in der mittelalterlichen Textwelt ist, haben wir bereits an der Empfangszeremonie Siegfrieds in Worms gesehen. Der Gast lässt sich hier nicht auf die ehrerbietenden Begrüßungshandlungen des Gastgebers ein. Das hat Irritationen zur Folge.182 Die ordnungsgemäße Durchführung von demonstrativen Höflichkeitsgesten entscheidet über Harmonie und Störung, über Krieg und Frieden.183

180 „Fœtr sér þú þína, hǫndom sér þú þínom, | Iormunreccr, orpit í eld heitan.“ 181 „Ǫlværir urðo oc elda kyndo, | hugðo vætr véla, er þeir vóro komnir; | tóco þeir fórnir, er þeim fríð sendi, | hengðo á súlo, hugðoð þat varða.“ 182 Aus demselben Grund ist es nach moderner Ansicht unratsam, den Kaffee bei einem Vorstellungsgespräch abzulehnen. 183 Gerd Althoff sagt dazu, „daß der mittelalterliche Kommunikationsstil in der Öffentlichkeit ausgesprochen demonstrativ war. Man zeigte Rang und Stellung, Macht und Reichtum ebenso wie seine Gesinnung, sei sie freundschaftlich oder feindselig, mitleidig oder unbarmherzig. Hierfür stand mittelalterlichen Menschen ein differenziertes Arsenal vor allem nonverbaler Ausdrucksmittel zur Verfügung – das Spektrum reicht von der Kleidung und Ausrüstung über Mimik und Gestik bis zu den Ritualen etwa der Begrüßung und des Abschieds. Die so permanent ausgesandten Signale verhinderten Mißverständnisse und Überraschungen, bescherten den öffentlichen Interaktionen das Maß an Sicherheit, das eine waffentragende Gesellschaft ohne Gewaltmonopol gewiß dringend benötigte“ (Althoff 2014, S. 261). Es „dominierten in der Zeit des Mittelalters in der Öffentlichkeit Akte nonverbaler Kommunikation, Akte, die wir mit den Begriffen Ritual oder Zeremoniell belegen, in denen etwas gezeigt, zur Schau gestellt, zur Anschauung gebracht wurde. […] Es sind Mähler und Feste, bei denen das gleiche geschah oder auch die Gleichrangigkeit der Teilnehmer demonstriert, die Herstellung oder Fortdauer von Frieden und Freundschaft gezeigt und kundgetan wurde. Überblickt man die Tätigkeiten der Könige wie der geistlichen und weltlichen Funktionsträger, der Großen des Mittelalters, sind sie weit mehr von solchen Akten bestimmt als von dem, was wir modern unter ‚politischer Kommunikation‘ verstehen, die wir uns vorrangig als verbale denken. […] Dem mittelalterlichen Menschen stand ein differenziertes System von Zeichen, Symbolen und Verhaltensmustern zur Verfügung, mit dem er nonverbal Stand, Stellung und Rang, sein Verhältnis zum jeweiligen Gegenüber, Freundschaft und Freude, Feindschaft und Unwillen ausdrücken  



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Einen dementsprechenden Akt politischer Reglementierung durch zeremonielle Gesten sehen wir bei der Begegnung zwischen den Königen Eylimi und Sigmund in der Völsunga saga: Sigmund suchte König Eylimi heim. Dieser rüstete ein großes Gastmahl für ihn, für den Fall, daß er nicht eine Heerfahrt gegen ihn vorhätte. Es gingen Boten zwischen ihnen hin und her, daß die Fahrt in freundschaftlicher Absicht unternommen würde und nicht mit Kriegsrüstung. Das Mahl war mit den besten Vorräten gerüstet, und eine große Gefolgsmenge war dazu eingeladen. Dem König Sigmund wurde Kaufgelegenheit und andere Reisebequemlichkeit geboten; sie kamen nun zu dem Gastmahle, und beide Könige nahmen in einer Halle Platz (Vs 11).184

Als sich der unbekannte und potenziell feindliche König Eylimis Gebiet nähert, ist sehr viel Spannung im Raum und es wird viel Aufwand betrieben, um Sigmund mildtätig zu stimmen. Ihm wird signalisiert, dass er auch ohne Waffengewalt bekommt, was er möchte. Die gastfreundlichen Gesten sind keine erratischen Zufälle oder Nettigkeiten, sondern Akte sorgfältiger Kommunikation. Begrüßungsrituale – bei Jan-Dirk Müller der ‚gruoz‘ – schaffen das Fundament einer gewaltfreien Begegnung: „Gruoz ist das Versprechen friedlichen Umgangs. Das Ritual des gruoz macht soziale Ordnung anschaubar. Es wird umständlich inszeniert […], denn der Empfang lenkt Aggression ab“.185 Die Texte der skandinavischen Nibelungensage beschreiben in unterschiedlicher Detailfülle eine Reihe von Begrüßungsszenen. Die Reginsmál berichten: „Eines Tages, als er [Sigurd] zum Hause Reginns kam, wurde er freundlich begrüßt“ (Rm. Prosa nach 12).186 Die einzige detaillierte Begegnung zwischen Sigurd und seiner Mutter beschreibt die Völsunga saga: „Er ging zu seiner Mutter, sie empfing ihn freundlich; sie redeten miteinander und tranken“ (Vs 15).187 Die Saga expliziert selbst bei Begegnungen zwischen Sippenmitgliedern die Bedeutsamkeit von Begrüßung und gemeinsamem Mahl,188 respektive Trinken in diesem Falle.189 Bei der Ankunft der Boten Atlis übernehmen die Pflicht des Willkommenheißens die Frauen der Fürsten: „Da kam Kostbera […] und begrüßte die beiden; |  



konnte“ (Althoff 2014, S. 230 ff.). Vgl. weiterführend zu Ritualen im Sinne von politischen Symbolhandlungen Dörrich 2002, S. 1–27 und S. 34–43. 184 „Sigmundr sękir heim Eylima konung. Hann giorir veizlu i moth honum mikla, ef hann hefdi eigi herferd þangat. Fara nu bod þeirra i mille, at med vinsemd var nu farit, enn eigi med herskap. Veizla þesse var gior med hinum bęstum faunghum ok med miklu fiolmenni. Sigmundi konungi var hvartvetna set torg ok annar faragreidi. Koma nu til veizlu, ok skipar baþir konungar eina haull.“ 185 Müller 1998, S. 375. 186 „Einn dag, er hann kom til húsa Regins, var hánom vel fagnat.“ 187 „Geck nu til moþur sinar. Hon fagnar honum vel. Talaz nu vid ok drecka.“ 188 Vgl. Müller 1998, S. 424: „In archaischen Gesellschaften ist das Mahl Ort ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit: Es begleitet Vertragsabschlüsse und Verschwörungen und stellt soziale Ordnung zeichenhaft dar. Das gemeinsame Mahl steht metonymisch für enge Verpflichtungen“. 189 Vgl. Aguirre 2002, S. 6: „the sword is given by the woman to her son in a context in which drinking takes place. Now these three motifs (a female figure of authority, her offer of drink to the hero, and her be 













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froh war auch Glaumvör […], | sie umsorgte die Gäste“ (Am. 6).190 Bei der Begrüßung Sigurds durch Gjuki wird der Hofstaat involviert: „Der König ging hinaus mit seinem Hofgesinde [und] grüßte den Mann“ (Vs 28),191 wobei ein weiteres Element des Begrüßungsrituals vorgeführt wird: Das Entgegengehen. Hierarchie wird dadurch sichtbar gemacht, wer zu wem hin muss.192 Das Auf-Sigurd-Zugehen ist bei seiner Ankunft bei Heimir ein Zeichen der Ehrerweisung des Hofgefolges (vgl. Vs 24).193 Es ist ein erster Akt der späteren deutlichen Unterwerfung. Dass nicht immer nur der Gastgeber auf den Gast zugehen muss, zeigen zwei Verse der Guðrúnarkviða önnur: „Drei Könige kamen mir [Gudrun] vors Knie, | eh sie [Grimhild] selbst mich zum Gespräch aufsuchte“ (Gðr. II 24).194 Die Position, in der Gudrun, während sie von den Königen und ihrer Mutter aufgesucht wird, verbleibt, ist Zeichen ihrer Macht und Stellung. Das Entgegengehen bleibt aus, die Könige stehen, sie hingegen darf sitzen bleiben.195 Gudrun ist in einer Vergabesituation, in der die sie Aufsuchenden etwas von ihr wollen. Seine Reisen machen Sigurd zur meistbegrüßten Figur der Völsungensage. Bei der Begegnung mit seinem Onkel Gripir heißt es: „Aus der Halle kam der Herr der Krieger | und begrüßte wohl den gekommenen Herrscher: | ‚Sei willkommen, Sigurd! Früher wäre besser gewesen, | und du, Geitir, nimm ihm Grani ab!“ (Grp. 5).196 Das Abnehmen des Pferdes ist eine Spielart des Marschall- oder Stratordienstes197 oder auch Steigbügeldienstes. Indem man die Zügel oder Steigbügel des Pferdes hält, während der Gast absitzt, stellt man seine Ehrerbietung und seine Untertänigkeit zur Schau.198 Hier wird nur ein Wegführen des Pferdes expliziert. Im Gegensatz zum Begrüßungsritual in Worms, bei dem Siegfried die Abnahme der Pferde nicht geduldet hat (vgl. Nl 75,1–76,4), scheitert dieses Zeremoniell bei Gripir nicht. Begrüßung, Entgegengehen und Pferdedienst laufen korrekt ab und das Miteinander zwischen Neffe und Onkel ist friedlich und harmonisch. Dass die Inszenierungen politischen Miteinanders kein spontaner Akt höfischen Hochgefühls sind, zeigt Gudruns Ankunft zu ihrer eige 



stowal of a sword) shape one expression of a mythic theme […]: the woman’s drink and the bestowal of power go together.“ 190 „Kom þá Kostbera […] | oc qvaddi þá baða; | glǫð var oc Glaumvor, […] sýsti um þǫrf gesta.“ 191 „Konungrinn gengr ut med hird sina ok kvadde manninn“. 192 Vgl. Müller 1998, S. 376 zur Ankunft Siegfrieds in Worms: „Man geht dem Gast entgegen, wie es seinem königlichen Rang entspricht“. 193 Vgl. 5.1.4. 194 „qvómo konungar fyr kné þrennir, | áðr hon siálfa mic sótti at máli.“ 195 Vgl. Sprenger 1992, S. 37 für den Begriff ‚ koma fyrir kné‘. 196 „Gengr ór scála scatna dróttinn | oc heilsar vel hilmi komnom: | ‚Þiggdu hér, Sigurðr! væri sœmra fyrr, | enn þú, Geitir, tac við Grana siálfom!‘“ 197 Vgl. Kreiker 1993, Sp. 325; Picot-Sellschopp 1998, S. 37–40. 198 Vgl. Schulze 1997, S. 37: „Für die zeitgenössischen Rezipienten [des Nibelungenliedes] veranschaulichte der Zügel- und Bügeldienst als rechtssymbolische Handlung die lehnsrechtliche Unterordnung.“  









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nen Hochzeit mit Atli: „Viel Volks ging Gudrun entgegen. Da war ein herrliches Mahl gerüstet, wie schon vorher mit ihm verabredet war: es verlief glänzend und sehr prächtig“ (Vs 34).199 Wie das Gastmahl auszusehen hat, wurde schon im Vorfeld festgelegt. Die Ehrerbietungen entsprechen einem im Voraus verhandelten Zeremoniell. Man einigt sich nicht nur über den Frieden oder die Hochzeit, sondern auch darüber, wie diese sichtbar inszeniert werden sollen. Wie das Gelingen des Willkommensgestus über die spätere Harmonie entscheidet, so spiegelt sich auch antizipierte Eskalation im vorhergehenden Zeremoniell wieder. Den Gjukungen ist bewusst, dass es in Atlis Reich zu Mord und Totschlag kommen wird und ihre Begegnung mit Atli selbst wird zur Karikatur eines Begrüßungsrituales: „Sie ritten nach der Burg, aber sie war verschlossen, Högni erbrach das Tor, und so ritten sie in die Burg“ (Vs 37).200 Empfangen werden sie von Atli und seiner Kriegsmannschaft. Der Gruß des Gastgebers wirkt geradezu ironisch: „König Atli [ordnete] sein Kriegsvolk zum Kampfe, und so stellten sich die Schlachtreihen auf, daß ein eingehegter Platz zwischen sie zu liegen kam. ‚Seid uns willkommen!‘ rief Atli ihnen zu“ (Vs 38).201 Das Entgegengehen und die Begrüßung durch ihre Schwester steht gleichzeitig unter dem Zeichen des Abschiedes: „Darauf ging sie [Gudrun] hinaus, begrüßte die Angekommenen, küßte ihre Brüder und bezeigte ihnen Liebe – dies war ihre letzte Begrüßung“ (Vs 38).202 Wie das Nibelungenlied für den Kampf im Saal konsequent das Bild des Festes benutzt, wird auch in der Völsunga saga das Gemetzel in Atlis Halle mit einem Gastmahl verglichen: „Vielleicht hast du für Adler und Wolf großartig und höchst freigebig dieses Mahl gerüstet“ (Vs 38),203 spricht Gunnar. Atlis königliche milte besteht in der Ausrichtung eines Festessens für die Leichentiere.  

5.1.6 Vasallentum Das Gefolge des Königs oder Fürsten hat nicht ausschließlich militärische Funktion, sondern wird auch in Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden.204 Diese Ganzheitlichkeit des mittelalterlichen Dienstmannes wird unter der Formel ‚consilium et

199 „Henne gek þar i moth mikit fiolmenne, ok var þar buinn agętlig veizla, sem adr haufdu ord i mille farit, ok for hun fram med sęmd ok mikilli pryde.“ 200 „Þeir rida at borginne, ok var hun brygd. Haugni brauth upp hlidit, ok rida nu i borgina.“ 201 „Atli konungr skipar lidi sinu til orrostu, ok sva vikuzt fylkingar, at gardr nockurr vard i millum þeirra. ‚Verit velkomnir med oss,‘ segir hann“. 202 „Eptir þat geck hun ut ok heilsade þeim, er komnir voru, ok kyste bredr sina ok synde þeim ast, ok þessa var þeirra kvędia enn sidarsta.“ 203 „Kann vera, at þu veitir þessa veizlu stormannligha ok af litilli eymd vid aurnn ok ulf.“ 204 Zum Stellenwert der Berater in der mittelalterlichen Politik vgl. Althoff 2014, S. 157–184 bzw. Althoff 2013, S. 16–18.  



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5. Herrschaft, Macht und Politik

auxilium‘ subsumiert.205 Die Gefolgsleute, die ab dem späten Frühmittelalter unter dem Begriff der Vasallen, der Vasallität firmieren, leisten ihrem Fürsten Rat und Hilfe. Die Hilfe ist der bereits besprochene Kriegsdienst. Der Rat umfasst Unterstützung in politischen Angelegenheiten, Beratung, Verwaltung und Gerichtsdingen. Diese Form der Interaktion existiert auch in der Welt der Völsungensage. Könige beraten sich mit ihrem Gefolge oder auch untereinander: „Atli war ein gewaltiger König, mächtig und klug, und hatte viel Volks; er hielt Rat mit seinen Mannen“ (Vs 35);206 „Fünf Halbjahre war Sigurd dort, so daß sie bei einander in Ruhm und Freundschaft saßen, und die Könige berieten zusammen“ (Vs 28).207 Entscheidungen sind in der mittelalterlichen Politik ein gemeinschaftlicher Akt.208 Die Atlamál stellen uns die verräterische Einladung als einen kollektiven Beschluss des Atlihofes vor: „Gehört haben die Menschen vom Verrat, den einst Männer | in der Versammlung berieten […]; | sie führten geheime Gespräche“ (Am. 1).209 Hinweise auf Vasallentum sehen wir im Zusammenhang mit Gunnar und Högni.210 An mehreren Stellen holt sich Gunnar seinen Bruder zur Beratung: „Er ließ sich Högni zum geheimen Gespräch rufen, | da hatt’ er den engsten Vertrauten“ (Sg. 14).211 Doch geht es dabei nicht ausschließlich um das Element des consiliums, sondern ebenso um das des auxiliums, des Leistens von militärischem Dienst. Högni verfügt über ein eigenes Gefolge, das von Gunnar angefordert wird: „Er ließ Högni zum geheimen Gespräch holen: | ‚Ich will, dass alle Männer in die Halle kommen, | deine mit meinen‘“ (Sg. 44).212 In der mittelhochdeutschen Variante der Sage ist dieses Verhältnis zwischen den beiden Figuren nicht nur eine Färbung, sondern ganz klar als Vasallentum inszeniert. Hagen ist dort nicht der Bruder Gunthers, sondern einer der „Recken“ (Nl 8,3)213 der Burgundenkönige, ein Ritter und Gefolgsmann, der durch ein reziprokes Treueverhältnis an die Herren gebunden ist.

205 Vgl. Weddige 2008, S. 164. 206 „Atle var mikill konungr ok rikr, vitr ok fiolmennr, giorir nu rad vid sina menn“. 207 „V missere var Sigurdr þar, sva at þeir satu med fregd ok vingan, ok rędazt konungar nu vid.“ 208 Vgl. auch etwa Gunthers Reaktion auf die Kriegserklärung in der Sachsenkriegepisode im Nibelungenlied: „‚Gebt mir eine kleine Bedenkzeit‘, sagte der edle König, ‚bis ich es mir überlegt habe. Dann werde ich Euch meinen Entschluß verkünden. Meinen treuen Gefolgsleuten – vorausgesetzt, ich habe welche – darf ich diese gefährlichen Nachrichten nicht vorenthalten: es ist meine Pflicht, sie ihnen mitzuteilen‘“; „‚Nu bîtet eine wîle‘, sprach der künec guot, | ‚unz ich mich baz versinne! ich künde iu mîn muot. | hân ich getriuwer iemen, dine sol ich niht verdagen | disiu starken mære sol ich mînen friunden klagen.‘“ (Nl 147,1–4). 209 „Frétt hefir ǫld ófo, þá er endr um gorðo | seggir samkundo […]; | œxto einmæli“. 210 Vielleicht deren ursprüngliches Figurenverhältnis. Vgl. Finch 1965, S. xxvi: „yet the Scandinavian texts show clear traces of his [Högnis] NL [Nibelungenlied] rôle as Gunnar’s right-hand man and elder counsellor, an unusual capacity for a younger brother or half-brother“. Vgl. auch Neumann 1924, S. 132–133. Zur Sagengeschichte von Hagen als Vasall oder Bruder vgl. Heusler 1969 [1914], S. 522–524. 211 „nam hann sér Hǫgna heita at rúnom, | þar átti hann allz fulltrúa.“ 212 „Nam hann sér Hǫgna hvetia at rúnom: | ‚Seggi vil ec alla í sal ganga, | þína með mínom“. 213 „recken“.  









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5.1 Eckpfeiler völsungischer Politik

Mit der bewussten Loslösung vom Rat der Vasallen spielt die Passage um Gunnars Entschluss zum Auszug zu Atli in der Atlakviða: „Nicht die Verwandten rieten Gunnar, noch ein andrer Naher, | weder Vertraute noch Rater, noch die, welche mächtig waren. | Gunnar sprach da, wie’s ein König soll, | […] mit großem Mut“ (Akv. 9).214 Dem höfischen Comment entspricht, dass der König seine Entscheidungen mit seinen Beratern abstimmt. Rat bei seinen Vertrauten zu suchen ist kein Zeichen von Insouveränität, sondern von Weisheit und Herrschaftskompetenz. Die Klugen fragen bei anderen Klugen nach.215 Im Gregorius Hartmanns von Aue handelt so der sterbende equitanische König: „Als ihm der Tod bevorstand, tat er wie es die Weisen tun: er ließ die Besten des Landes zu sich kommen, denen er vertraute und denen er seine Seele und auch die Kinder anbefehlen wollte“ (Gregorius 192–199).216 Diese Besten des Landes sind Vertreter seiner Vasallität. Dem Ruf nach consilium nachzukommen fällt in ihr Aufgabenfeld. Vor seinem Tod rät der König dem Sohn, es sich zur Gewohnheit zu machen, in Gesellschaft weiser Männer zu sein: „Halte dich gern bei den Weisen auf“ (Gregorius 255),217 ein Ratschlag, den ähnlich auch Herzeloyde ihrem Sohn Parzival mit auf den Weg gibt: „Hält dich ein alter, erfahrener Mann zu gutem Benehmen an, dann folge willig seiner Lehre und zürne ihm nicht“ (Parzival 127,21–24).218 Bei Gunnars Beschluss wird nun dieses Ideal gebrochen. Er entscheidet sich ohne oder sogar gegen den Rat seiner Berater, was angesichts der politischen Einbindung der beratenden Vasallen impulshaft und affektgesteuert wirkt. Der König handelt aus einer Laune heraus.219 Ginge es nur um das reine Wohl seines Kollektivs, so wäre seine Entscheidung schädlich und asozial.220 Der Text ist in seiner Bewertung allerdings unmissverständlich: ‚sem konungr skyldi‘, wie’s ein König soll. Gunnar handelt nach rechter Königsart und außerdem mit großem Mut. Dies bedeutet nicht nur Tapferkeit im heutigen Sinne, sondern umfasst auch eine hohe und erhabene Gesinnung, eine heroische Hochstimmung. Das Lied expliziert also ein weiteres Ideal: Neben den sich beratenden Königen des Völsungenkomplexes erzählt die Atlakviða von einem König  

214 „Niðiargi hvǫtto Gunnar né náungr annarr, | rýnendr né ráðendr, né þeir er ríkir vóro; | qvaddi þá Gunnarr, sem konungr scyldi, | […] af móði stórom“. 215 Siehe 4.2.4. 216 „dâ er […] | sich des tôdes entstuont, | dô tet er sam die wîsen tuont: | zehant er besande | die besten von dem lande | den er getrûwen solde | und in bevelhen wolde | sîne sêle und ouch diu kint“ (Übersetzung F.D.). 217 „wis den wîsen gerne bî“ (Übersetzung F.D.). 218 „Ob dich ein grâ wîse man | zuht will lêren als er wol kan, | dem soltu gerne volgen, | und wis im niht erbolgen.“ 219 Vgl. Haug 1989 [1974], S. 297 f.: „das Risiko beginnt eine Art Faszination auf ihn auszuüben, der er nicht widerstehen kann […]. Dieser Typus heroischer Dichtung arbeitet also damit, daß er bestimmte Situationen stellt, durch die zwingende Verhaltensmechanismen ausgelöst werden; […] oft handelt es sich […] um die Herausforderung zum Unerhörten, in dem der Held untergehend über sich selbst hinauswächst“. 220 Siehe 2.1.2.  



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5. Herrschaft, Macht und Politik

mit heroischem Gestus,221 der unabhängig von seinen Vasallen und untergangsorientiert entscheidet.222

5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status 5.2.1 Gunnar, der unscheinbare Gjukunge So heroisch resolut Gunnar auch in der Szene des Beschlusses zum Auszug in den Untergang in der Atlakviða scheinen mag, so insouverän wirkt er in den übrigen Passagen der Völsungenerzählungen. Seine Kompetenz steht zu jeder Zeit zumindest implizit in Frage. Da Sigurd an den Hof der Gjukungen kommt, steht Gunnar zusammen mit Högni in seinem Schatten: „Sie ritten alle Tage zusammen, Sigurd, Gunnar und Högni; aber Sigurd übertraf sie in jeder Geschicklichkeit, und doch waren sie alle gewaltige Männer“ (Vs 28).223 Die Gjukissöhne „schätzten ihn höher als sich selbst“ (Vs 28).224 Aber auch im Vergleich mit anderen Figuren der völsungischen Welt erscheint Gunnar zurückhaltend und kraftlos. Im Dráp Niflunga heißt es: „Gunnar hatte um Oddrun gebeten, Atlis Schwester, und sie nicht bekommen. Da heiratete er Glaumwör“ (Dr.).225 Angesichts dessen, was andere Figuren in Bewegung setzen, um die Frau zu bekommen, die sie wollen – etwa Helgi (vgl. Vs 9, HH. 20) oder Sinfjötli (vgl. Vs 10, Sf.), aber  

221 Ganz anders deutet Edgar Haimerl die Gunnarfigur der Atlakviða. Er sieht in ihr eine Christus- oder Davidanalogie, in der sich heidnisches Heldentum mit christlichen Moralvorstellungen vermengen und so den Idealkönig ausmachen würden. Den Auszug in den eigenen Untergang deutet Haimerl als bewusste Sühne für die Ermordung Sigurds. Mit diesem Freitod wolle Gunnar Buße für seine Tat leisten (vgl. Haimerl 1992, S. 188–213). 222 Andreas Heusler betont dahingehend die literarische Gestalt der Fürstenfigur der Heldensage: „Der Fürst ist keine politische Gestalt, kein Herrscher, der Länder verwaltet, zu Gericht sitzt, Volkskriege denkt: er ist der ideale, daher hochgeborene, über einen Hort und ein Gefolge gebietende Krieger“ (Heusler 1969 [1909], S. 499). So auch Jan-Dirk Müller für das politische Gesellschaftsmodell des Nibelungenliedes: „Das entworfene Bild gesellschaftlicher Integration ist um 1200 bereits archaisch. Es wertet ökonomische und politische Strukturen oberhalb persönlicher Bindungen ab, die auf Kosten aller anderen idealisiert und untereinander harmonisiert sind“ (Müller 1998, S. 159). Dass allerdings die heroische Tat im Konsens mit dem eigenen (Sippen-)Kollektiv geschehen muss, vertritt Ragnhild Boklund-Schlagbauer: „Sigrun, Brynhild und Guðrún sprechen die Gemeinschaft als die Instanz an, die dem Helden seine kriegerische Identität verleiht. Ohne diesen Verbund hat seine Existenz keine Legitimation, sein Ruhm erlangt nur Geltung durch die Bestätigung der Gemeinschaft. Durch die Verletzung oder gar Zerstörung derselben entzieht der Protagonist sich selbst jegliche Identitätsgrundlage. Die ‚heroische‘ Tat hat nur innerhalb des Sippenverbandes einen Sinn“ (Boklund-Schlagbauer 1996, S. 159). Carola Gottzmann erklärt Gunnars Handeln als einzige Alternative zu Feigheit oder Unterwerfung (vgl. Gottzmann 1973, S. 56–59). 223 „Þeir rida allir saman Sigurdr ok Gunnar ok Haugne, ok þo er Sigurdr fyrir þeim um alle atgiorfe, ok eru þo allir mikller menn fyrir ser.“ 224 „virdu hann framar enn sik.“ 225 „Gunnarr hafði beðit Oddrúnar, systor Atla, oc gat eigi; þá fecc hann Glaumvarar“.  









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5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

auch eine Nebenfigur wie Lyngvi (vgl. Vs 11) –, überrascht die Widerstandslosigkeit, mit der Gunnar seine Abweisung hinnimmt. Er holt sich die gewünschte Frau nicht mit Gewalt, sondern wählt einfach eine andere. Da Sigurd in das Kollektiv der Gjukungen integriert wird, ergibt sich eine Divergenz zwischen den wahren Macht- und Kraftverhältnissen der Figuren und deren sozialem Rang. Obwohl ihnen offensichtlich an Herkunft, Bestimmung, Gewalt und heroischem Potenzial überlegen, wird Sigurd zum gleichgestellten Schwurbruder der Gjukungen, wenn nicht zum Untergebenen Gunnars und Gjukis. Der Status der Figuren spiegelt nicht länger ihre tatsächliche kriegerische und heldische Kompetenz wider. Dabei scheitert es allerdings kein bisschen an Sigurds Integrationswillen. Der Völsunge tut alles, um sich Gunnar und seiner Wahlfamilie zu subordinieren.226 Obschon die Vorzeichen gut stehen für Sigurd – Gripir sagt ihm voraus: „Du wirst der berühmteste Mann unter der Sonne sein | und höher gestellt jedem Fürsten“ (Grp. 7)227 –, erfüllt sich sein Schicksal nur zum Teil. Zwar übt er eine große und gewaltige Herrschaft aus, tut das aber nicht als Völsunge, sondern zusammen mit seinen Schwurbrüdern, in deren Sippe Sigurd seinen Dienst stellt. Sein wahrgenommener Rang entspricht nicht dem, was man von seiner heroischen Determination erwarten würde. Fafnir bereits nennt ihn einen „Kriegsgefangene[n]“ (Vs 18,228 vgl. Fm. 7) und Brynhild beschimpft ihn gegenüber Gudrun: „dein Mann aber war ein Knecht König Hjalpreks“ (Vs 30).229 Das Aufwachsen in der fremden Sippe hat die Figur für immer gebrandmarkt und auch bei den Gjukungen wird er zu einem Gleichen unter Anderen und nicht zu einem völsungischen König wie etwa sein Vater Sigmund (vgl. Vs 8). Sigurds Status ist ungreifbar. Im Nibelungenlied ist die Undefinierbarkeit des Ranges der Figur klar eine bewusste Verklärung in Form der Standeslüge (vgl. Nl 385,1–386,4). Siegfried greift auf diese intentionierte Verschleierung zurück, als die Werbung um  







226 Vgl. Larrington 2012, S. 257: „By settling at the court of the Gjúkungs and marrying into the family, Sigurðr completes his transition from dragon-slaying hero to courtier.“ Der Held ist zivilisiert und gebändigt. Vgl. weiterhin Gottzmann 1979, S. 11, die diese Unterordnung als Versagen Sigurds, die eigene Sippentradition aufrechtzuerhalten auslegt: „The significance of this section for the Vǫlsungs’ family is that Sigurd, although he had all the capabilities required to bring about the supreme prestige for the reign of Vǫlsungs’ kings, he was not able to do so, because of his own failings. To the contrary, he even subordinates himself to the feeble ruling power of the Gjúkungs, in that he allows himself to be integrated into their family. Thus all his deeds do not serve the aim to establish his own sovereignty but to strengthen another weak kinship.“ Ähnlich beim Siegfried des Nibelungenliedes: „But as soon as Siegfried feels that they [die Burgunden] have satisfactorily accepted him as their equal, if not as their superior, he succumbs to the courtly rules and puts aside his previous arrogance and hubris. […] Although Siegfried operates as an equal among the Burgundian kings, he is fully manipulated by them and proves to be almost a puppet in their hands“ (Classen 2003, S. 301). 227 „Þú munt maðr vera mæztr und sólo | oc hæstr borinn hveriom iofri“. 228 „bandingi hertekinn“. 229 „enn þinn bonnde var þręll Hialpreks konungs.“  





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Prünhilt zu scheitern droht, da er mit seiner Erscheinung und Reputation seine Gefährten überstrahlt (vgl. Nl 411,1–416,4).230 Die Unklarheit, die er hervorruft, gipfelt in einer Begrüßung der Gäste Prünhilts in problematischer Reihenfolge (vgl. Nl 419,1–4). Problematisch dahingehend, dass der eigentliche Werber im Rahmen des Begrüßungszeremoniells von Prünhilt als der Rangniedrigere inszeniert wird, was ihn als ihren zukünftigen Ehemann ungeeignet macht. Siegfried versucht die Situation zu retten, indem er Gunther deutlich als seinen Herren vorstellt:231 Frau Brünhild, edle Fürstentochter, Ihr seid viel zu gütig, mich vor diesem edlen Recken, der hier vor mir steht, zu begrüßen. Denn er ist mein Herr, und daher ist es mein Wunsch, nicht auf diese Weise geehrt zu werden. […] Mir hat der edle Recke den Befehl erteilt, hierherzufahren. Wenn es in meiner Macht gestanden hätte, dann wäre ich mit Vergnügen von diesem Auftrag zurückgetreten (Nl 420,1–422,4).232

Wie der mittelhochdeutsche Siegfried macht sich auch der skandinavische Sigurd gegenüber seinen gjukungischen Schwurbrüdern kleiner als er ist. Zugunsten von Gunnar verzichtet er freiwillig auf Brynhild als seine Frau und übergibt sie Gunnar: „Der Mann aus dem Süden legte ein Schwert, | eine verzierte Waffe, zwischen sie; | er küsste die Frau nicht, | der hunnische König nahm sie nicht in den Arm. | Die blutjunge Maid übergab er dem Sohn Gjukis“ (Sg. 4).233 Langfristig erweist sich dieser Dienst am Schwurbruder als problematisch. Als sich dann Risse in der Ordnung des Gjukungenhofes abzeichnen, versucht Sigurd Brynhild zu versöhnen, indem er ihr Gunnar vor sich schmackhaft macht: „Ich bin kein vornehmerer Mann als die Söhne König Gjukis – […] ein ruhmreicher König [also Gunnar] zahlte dir den Brautschatz. […] Das ist entsetzlich, […] einen solchen König nicht zu lieben“ (Vs 31).234 Sigurds Subordination hilft zwar bei seiner reibungslosen Integration, ist aber allerdings letztlich Ursache  

230 Vgl. Weddige 2008, S. 231: „Die Dienstmannenfiktion wird notwendig, weil bei Gunther persönliche Qualität und sozialer Rang divergieren“. 231 Vgl. Müller 1974, S. 105 f.: „In Isenstein zählt allein der Stärkste. Deshalb sieht man hier auch den berühmten Sîvrit, nicht Gunther sogleich als den Brautwerber an. Anders als in Worms berechtigt ja hier persönliche Stärke tatsächlich zur Herrschaft, zum Erwerb von Frau und Land. Angesichts seiner physischen Präpotenz muß Sîvrit, um nicht als Werber angesprochen zu werden, sich zum man [also zum Untergebenen] erklären, was nach seinem wie Prünhilts Codex nur heißen kann, daß Gunther der Stärkere ist, vielleicht ihn im Kampf unterworfen hat wie er es mit Gunther vorhatte. Daß Sîvrit auf Isenstein den man spielt, ist nur Kehrseite der Tatsache, daß er in einer Welt, in der persönliche Stärke sich unmittelbar in Herrschaftsverhältnissen abbildet, nicht als Werber, d. h. als präsumptiv Stärkster, auftritt.“ 232 „Vil michel iuwer genâde, mîn frouwe Prünhilt, | daz ir mich ruochet grüezen, fürsten tohter milt. | vor disem edelen recken, der hie vor mir stât, | wande er ist mîn herre: der êren het ich gerne rat. […] ja gebot mir her ze varne der recke wol getân: | möhte ich es im geweigert han, ich het ez gerne verlân.“ 233 „Seggr inn suðrœni lagði sverð necqvið, | mæki málfán, á meðal þeira; | né hann kono kyssa gerði, | né húnscr konungr hefia sér at armi; | mey frumunga fal hann megi Giúca.“ 234 „Ecke erum ver gaufgare menn enn synir Giuka. […] gallt vid þer mund agętr konungr. […] Þat er ogurlight, […] at unna eigi slikum konungi.“  







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der Störung und damit seines und des späteren Unterganges der Gjukungen. Die Textwelt hält eine solche Diskrepanz zwischen Macht und Status nicht aus.235

5.2.2 Brautwerbung und Königinnenstreit Den Impuls um Brynhild zu werben erhält Gunnar von Grimhild: „Deine Macht steht in voller Blüte, abgesehen davon, daß du unvermählt bist“ (Vs 28).236 Es bleibt nicht bei Sigurds Assimilation allein. Neben dem heroischen Element, das dieser in die Sippe bringt, soll nun noch das mythisch Ferne in Form der Walküre dem Geschlecht eingegliedert werden. Der Vergessenheitstrank war nicht nur ein Mittel, um Sigurd für die Gjukungen zu gewinnen, sondern dient auch dazu, Brynhild von Sigurd freizumachen, sodass nun Gunnar um sie freien kann. Das enorme Konfliktpotenzial der Situation erwächst allerdings nicht nur aus der gemeinsamen Vergangenheit von Sigurd und Brynhild, um die Grimhild weiß („Grimhild gewahrte, wie sehr Sigurd Brynhild liebte, und wie oft er sie erwähnte“, Vs 28),237 sondern vor allem daraus, dass Gunnar bei der Werbung um Brynhild von Sigurd abhängig ist. Brynhild hat gelobt, „daß sie den allein würde haben wollen, der durch das brennende Feuer ritte, das um ihren Saal entzündet wäre“ (Vs 29).238 Nun mangelt es bei Gunnar nicht an Versuchen, die Waberlohe zu durchreiten, wie die Völsunga saga berichtet: Gunnar spornte den Hengst [Goti] gegen das Feuer, aber er wich zurück. Sigurd sprach: ‚Weshalb weichst du zurück, Gunnar?‘ Der antwortete: ‚Der Hengst will nicht durch dies Feuer springen‘, und bat Sigurd, ihm Grani zu leihen. ‚Das kann geschehen,‘ erwiderte Sigurd. Gunnar ritt nun abermals gegen das Feuer, aber Grani wollte nicht gehen. Gunnar vermochte es also nicht, dies Feuer zu durchreiten (Vs 29).239

Ähnlich wie die Söhne Signys vor Sinfjötli, hat auch Gunnar von Anfang an keine Chance, die Probe zu bestehen. Er ist weder heroisch, noch mythisch vorbestimmt, Brynhild zum Gemahl zu werden. Neben einem Test der Kühnheit ist das Durchreiten des Feuers auch ein Test der Pferde, einer des richtigen Instruments. So sagt Gudrun: „Grani wollte nicht ins Feuer laufen unter König Gunnar, aber er wagte es zu reiten –  

235 Vgl. Weddige 2008, S. 232 für denselben Sachverhalt im Nibelungenlied: „die Kollision von […] persönlicher Leistung und formalem Rang führt zu Verstrickungen, die sich nur mit dem Tode aller Beteiligten lösen lassen.“ 236 „Ydart rad tendr med miklum bloma, fyrir utan ein luth, er þęr erut kvonlauser.“ 237 „Þat finnr Grimhilldr, hve mikit Sigurdr ann Brynhilldi, ok hve oppt hann gętr hennar.“ 238 „at þann einn munnde hun eiga vilia, er ride elld brennanda, er sleginn er um sal hennar.“ 239 „Gunnar keyrir hestinn at elldinum, enn hann hópar. Sigurdr męllti: ‚Hvi hopar þu, Gunnar?‘ Hann svarar: ‚Eigi vill hestrin hlaupa þenna elld,‘ ok bidr Sigurd lia ser Grana. ‚Heimillt er þat,‘ segir Sigurdr. Gunnar ridr nu at elldinum, ok vill Grane eigi ganga. Gunnar ma nu eigi ride þenna elld.“  

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man darf ihm nicht Mangel an Mut vorwerfen“ (Vs 30).240 Es fehlt ihm nicht an Tapferkeit, doch ganz klar an Determination. Die Probe dient nicht dazu, den Mutigsten zu ermitteln oder den besten Reiter, sondern dazu, jenen herauszufiltern, dem es von Anfang an bestimmt ist, Brynhild zu erhalten, nämlich den, dem Sleipnirs Nachkomme von Odin zugewiesen wurde.241 Wer Gunnar allerdings mit diesem Argument eine Lanze brechen will, der steht auf dünnem Eis. An anderer Stelle nämlich ist der Text sehr deutlich in der Bewertung des Flammenritts: „Von des Königs Recken | war keiner so kühn | Durch die Glut zu dringen | Noch drüber zu steigen“ (Vs 29).242 Wie immanent das Bedürfnis nach hierarchischer Klarheit in der Welt der Saga ist, zeigt der umgehend auf die Hochzeit folgende Königinnenstreit (vgl. Vs 30). Bedingt durch die unklare Rangfolge der Ehemänner kommt es zur Auseinandersetzung beim Haarewaschen am Rhein. Wohingegen diese Diskrepanz für Gunnar und Sigurd kein Problem darstellt – Sigurd ist gebändigt; die Strategie ihn ins Leere laufen zu lassen und die Assimilation haben ihn domestiziert; er subordiniert sich bei Bedarf freiwillig –, eskaliert der Streit zwischen ihren Ehefrauen, die nicht wissen, wie sie sich einzuordnen haben. Es gebricht ihnen an Selbstverständnis im sozialen System der Sagagesellschaft. Das größere Heldentum, so Brynhilds Argument, müsse auch durch die höhere Stellung widergespiegelt werden. Der Konflikt beginnt damit, dass dies in Frage gestellt wird. Tatsächlich geht es Brynhild an dieser Stelle nicht mehr darum, Sigurd als Mann zu haben. Liebe – wie etwa für Sigurd243 – spielt für sie überhaupt keine Rolle. Es geht ihr ausschließlich um ihren eigenen Rang, den sie durch ihren Mann auslebt. So sagt sie zu Gudrun: „Zufrieden würde ich sein, […] wenn du nicht einen edleren Mann hättest als ich“ (Vs 30).244 Und zufrieden war sie ja auch, solange die Täuschung durch den Gestaltwandel nicht offenbar wurde: „Brynhild und Gunnar saßen  







240 „Grane rann eigi elldinn undir Gunnare konungi, enn hann þorde at rida, ok þarf honum eigi hugar at fryja.“ 241 Ganz anders sieht das Völsungenübersetzer Paul Herrmann: „Der Ritt durch das Feuer ist natürlich keine Probe des Rosses, sondern des Reiters: das Tier gehorcht dem überlegenen Männerwillen, unter dem schwachen Mannesmut Gunnars will es nicht vorwärts“ (Herrmann 1923, S. 99 Anm.). Vgl. ebenso Aguirre 2002, S. 10: „it is not the horse but the quality of its rider that determines success or failure.“ Vgl. ferner Grimstad 2000, S. 27: „Sigurd […] executes the maneuver with ease, thus winning the peerless Brynhild for the secondrate Gunnar“. Andreas Heusler argumentiert vielleicht sogar aus eigener Reiterfahrung: „Das Nichtvorwärtswollen der Pferde versinnbildlicht Gunthers schwächeren Mannesmut: nur wer nie im Sattel saß, konnte dies tadeln als eine Probe des Tieres, nicht des Helden“ (Heusler 1929, S. 18). Jens Peter Schjødt allerdings räumt die Notwendigkeit eines mythischen Hilfsmittels in Form von Grani ein, das den Flammenritt überhaupt erst möglich macht: „As a mediator, we have first of all Grani, who carries Sigurðr through the flames to Sigrdrífa (as Sleipnir is able to ride to the underworld in the Baldr myth, Grani is the only horse which can force its way through the flames to The Other World)“ (Schjødt 2008, S. 296). 242 „Far treystizt þar | fylkiss recka | elld at riþa | ne yfir stigha.“ 243 Siehe 4.1.6. 244 „Una mundu ver, […] ef eigi ęttir þu gaufgara mann.“  









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da, vergnügten sich und tranken guten Wein“ (Vs 29).245 Ferner sagt die Figur: „Weshalb soll ich mich hierin dir gleichstellen, eher als in anderm? Ich dachte, daß […] mein Mann viele Heldentaten vollbracht habe und durch brennendes Feuer geritten sei – dein Mann aber war ein Knecht König Hjalpreks“ (Vs 30).246 Brynhild gefällt sich durchaus in der Position als Gunnars Frau, solange dieser ihr als der Mächtigere scheint. Erst als Gudrun ihr den Ring Andvaranaut an ihrer eigenen Hand zeigt (vgl. Vs 30), da bricht ihre Welt zusammen. Dass ihr Ehemann der an Macht Geringere ist, wird damit sichtbar und deswegen für die Figur wirklich. Da nun Gunnar als der auf der heroischen Skala Niedrigrangigere entlarvt ist, stellt sich Brynhild sofort auf die Seite Sigurds: „Sigurd fällte Fafnir, und das ist mehr wert als das ganze Reich König Gunnars, wie es im Liede heißt: […] Wahrlich, dein Bruder | Wagte weder | Durch die Glut zu dringen | Noch drüber zu steigen“247 (Vs 30).248 Brynhild sagt eine Schmähstrophe gegen Gunnar auf, die sowohl aus ihrem Munde kommt sowie sie auch dem Liederrepertoire der Völsungenwelt entstammt. In dem Moment, da das Versagen Gunnars an der Waberlohe offenbar wird, wird es zu allgemeinem Wissen in der Textwelt und wie aus dem Nichts beginnen Lieder und Strophen davon zu existieren. Brynhild, die nun gegen Gunnar spricht, arbeitet mit einem von der Erzählung fingierten Beleg.249 In der späteren Konfrontation mit ihrem Ehemann äußert Brynhild letztlich das vernichtende Urteil über Gunnar, der der Idoneität nicht entspricht und Brynhild als heroisch prominente weibliche Figur ohne den zauberischen Einfluss Grimhilds nie als Ehefrau erhalten hätte:250 Sigurd „erschlug den Wurm und Regin und fünf Könige, nicht aber du, Gunnar, der du erbleichtest wie eine Leiche – du bist weder König noch Kämpe“ (Vs 31).251 Diese Anschuldigung verunheldet und verun‚mannt‘ Gunnar. Er wird als heroische Figur kastriert. Doch Gunnars Reaktion darauf fällt spärlich aus: Die Beleidigung übergeht er und nimmt ausschließlich seine Mutter Grimhild in Schutz: „Manche Lügenworte hast du gesprochen, du bist ein böses Weib, da du die Frau schmähst, die dich weit überragt – nicht war sie unzufrieden mit ihrem Lose, wie du tust, […] sie lebt mit Lob“ (Vs 31).252  







245 „Brynhilldr ok Gunnar satu vid skemtan ok drucku gotth vin.“ 246 „Hvi skal ek um þetta iafnazt vid þik helldr enn um annad? Ek hugda, at […] minn madr unnid maurgh snilldarverk ok ride elld brennanda, enn þinn bonde var þręll Hialpreks konungs.“ 247 Das wirkt wie eine Schmähstrophe, die die Liedstrophe aus Vs 29 komplementiert. 248 „‚Sigurdr va at Fafnne, ok er þat meira vert enn allt riki Gunnars konungs,‘ sva sem kvedit er: […] Enn hlyre þinn | hvarke þordi | elld at rida | nę yfir stigha.“ 249 Siehe 2.3.3. 250 Vgl. Schillinger 1962, S. 177: „Dem Mann, der ihr eine Daseinsverwirklichung, wie sie sie für sich verlangt, nicht gewähren kann, missgönnt sie eine Verbindung mit sich, und sie wird sich bemühen, sich diesem in Zukunft zu entziehen.“ 251 „drap orminn ok Reginn ok fim konunga, enn eigi þu, Gunnar, er þu faulnadir sem nár, ok ertu eingi konungr ne kappe.“ 252 „Maurg flęrdaord hefir þu męllt, ok ertu illudigh kona, er þu amęlir þeirre konu, er miok er um þik fram, ok eigi unde hun ver sinu, sva sem þu giorir, […] ok lifir vid lof.“  

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5. Herrschaft, Macht und Politik

Ähnlich Sigurd angesichts der Reizungen Regins, handelt Gunnar nicht.253 Auffällig ist das verglichen mit der Explosivität, die andere Helden- oder Sagafiguren an den Tag legen, wenn es darum geht, eine Beleidigung zu ahnden. Sigmund zerbeißt seinem Sohn Sinfjötli die Kehle, weil dieser ihn provoziert hat (vgl. Vs 8), aber auch Aggression gegen Frauen kommt nicht zu knapp: In der Gísla saga bietet der Kopfjäger Eyjolf der Frau von Gísli dem Geächteten Geld an, damit diese ihren Ehemann verrät und bekommt dafür von ihr die Nase gebrochen. Seine Leute müssen ihn darauf zurückhalten, Gíslis Frau zu töten (vgl. Gísl 31). In der Egils saga hetzt Skallagrim in Raserei eine Magd von einer Klippe und tötet sie noch im Stürzen mit einem Stein, weil sie ihn davon abgehalten hat, seinen Sohn zusammenzuschlagen (vgl. Eg 40). Angesichts dieser überschäumenden Aggressivität254 wirkt Gunnar verhalten, wenn er die heftige Beleidigung Brynhilds völlig unbeantwortet lässt. Ebenso wie bei Sigurds Vermählung mit Gudrun die Regeln umgangen werden mussten – „Ungebräuchlich ist es, seine Töchter anzubieten“ (Vs 28)255 –, ist die Zurückweisung Gunnars durch Brynhild unerhört: „Bisher war’s nicht vorgekommen, | dass Frauen auf die Königswürde verzichteten“ (Sg. 14).256 Die Strahlkraft eines Einzelnen zerrüttet die Ehe und Herrschaft eines Anderen völlig. Sigurd ist so herrlich, dass er zur Irritation wird. Diese Verwirrung der Verhältnisse muss letztlich gewaltsam ausgelöscht werden. So fordert Brynhild Gunnar auf: „‚Ich will nicht leben,‘ sagte Brynhild, ‚denn Sigurd hat mich betrogen und nicht minder dich, da du ihn in mein Bett in einer Halle steigen ließest. Als Weib zweier Männer will ich nicht weiterleben, eines von uns dreien muß sterben, Sigurd oder du oder ich“ (Vs 31);257 „Du sollst Macht und Hort verlieren, dein Leben und mich, und ich will zurückkehren zu meinen Verwandten und betrübt dort sitzen, wenn du Sigurd nicht erschlägst und seinen Sohn“ (Vs 32);258 „außer du lässt Sigurd sterben | und wirst ein mächtigerer Fürst als die andern“ (Sg. 11).259 In der letztzitierten Sigurðarkviða in skamma geht Brynhilds Aufforderung kein Königinnenzank voraus, sondern nur eine bloße Laune und die Eifersucht auf Gudruns Position. Sie will Sigurd als Mann für sich haben: „Halten will ich Sigurd – Oder er muss sterben! –, | den blutjungen Mann, in meinem Arm“ (Sg. 6).260 Gunnar ist nicht attraktiv genug und kann die Frau nicht  









253 Siehe 4.2.5. 254 Was Sigmunds und Skallagrims Handlungen gegenüber ihren Söhnen angeht, spricht Dean A. Miller von einem heroischen „father-son antagonism“ (Miller 2000, S. 92); vgl. Miller 2000, S. 88–92. 255 „Fatitt er þat, at bioda fram dęttr sinar“. 256 „þat var eigi árar títt, | at frá konungdóm qvánir gengi“. 257 „‚Ek vil eigi lifa,‘ sagde Brynhilldr, ‚þviat Sigurdr hefir mik vellt, ok eigi sidr þik, þa er þu lęzt hann fara i mina sęngh. Nu vil ek eigi II menn eiga senn i einne holl, ok þetta skal vera bane Sigurdar eda þinn eda minn“. 258 „Þu skalt lata będi rikit ok feit, lifit ok mik, ok skal ek fara heim til frenda minna ok sitia þar hrygg, nema þu drepir Sigurd ok son hans.“ 259 „nema þú Sigurð svelta látir | oc iofur ǫðrom œðri verðir.“ 260 „Hafa scal ec Sigurð – eða þó svelti! –, | mǫg frumungan, mér á armi.“  







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5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

halten.261 Grund für die Störung am Gjukungenhof sind, wie Högni sagt, „Brynhilds übergroße Begierden“ (Sg. 19).262 Gunnar gibt Brynhilds Forderung nach. Ebenso wie ihr Status durch sein – bestehendes oder fehlendes – Heldentum definiert wird, wird er dadurch bestimmt, sie zur Frau zu haben. Eine Existenz ohne sie wäre eine Niederlage, die sich für ihn nicht verschmerzen ließe: „Brynhild ist mir lieber als alles, aller Frauen hehrste ist sie, und eher will ich das Leben lassen als ihre Liebe verlieren“ (Vs 32).263 Brynhild selbst stellt sich nach Sigurds Tod völlig auf die Seite des ermordeten Helden. Sie erhebt ihn über die Gjukungenkönige – „in den Augen war er euch nicht gleich, | in keinem Teil seiner Gestalt; | auch wenn ihr euch Volkskönige dünkt“ (Sg. 39)264 – und sucht selbst den Tod (vgl. Vs 33, Sg. 66–71). Auch dieser Geringschätzung gegenüber bleibt Gunnar inaktiv. Sein Verhalten ist zwar nicht im gleichen Maße auf Deeskalation und Schadensbegrenzung gerichtet, wie wir es bei Sigurd gesehen haben, doch geht es ihm in Brynhilds Fall um Lebenserhaltung: „Da sprang Gunnar auf, schlang die Arme um ihren Hals und bat, sie möchte leben bleiben und Gut zur Buße annehmen“ (Vs 32,265 vgl. auch Sg. 42). Dieses flehende Verhalten spiegelt das Vorgehen Grimhilds wider, da diese von ihrem Mann Gjuki etwas erreichen möchte: „Einmal ging Grimhild vor König Gjuki, legte ihre Hände um seinen Hals und sagte […]“ (Vs 28).266 Gunnars Handeln, das an Grimhilds weiblichen Gestus angelehnt ist,267 wird ergänzt durch die Bereitschaft zur Wergeldzahlung. Dass auch dies einer weicheren Heldenmentalität entspricht, sehen wir bei Sigmunds Versöhnungsversuch gegenüber seiner Frau Borghild: „Sigmund […] erbot sich, ihr Buße zu leisten durch Gold und großes Gut, obschon er vorher noch nie für einen Mann Buße gezahlt hatte; er sagte es nütze nichts mit Weibern zu streiten“ (Vs 10).268 Sigmund knickt wie Gunnar gegenüber seiner Frau ein, wenn es darum geht, Schaden zu entgelten. Die Regeln der heroischen Welt lassen also in diesem Falle eine Ausnahme zu, wie es ferner auch bei der Versöhnung  







261 Vgl. Grimstad 2000, S. 48: „In Sigurd’s generation the warrior maiden Brynhild is the most desirable bride, and her failure to secure an equal match brings violence and death in its wake.“ 262 „Brynhildar brec ofmikil“. 263 „Brynhilldr er mer aullu betri, ok fregzt er hun allra kvenna, ok fyr skal ek lif lata enn tyna hennar ast.“ 264 „varat hann í augo yðr um lícr, | né á engi hlut at álitom; | þó þicciz ér þióðkonungar.“ 265 „Þa reis Gunnar upp ok lagde henndr um hals henne ok bad, at hun skyllde lifa ok þiggia fe“. 266 „Ok eitt sinn geck Grimhilldr fyrir Giuka konung ok lagde hendr um hals honum ok męllti […].“ 267 Sicherlich signalisiert die Geste auch einfach körperliche Intimität (vgl. Will 1934, S. 28–30) wie zum Beispiel zwischen Sigurd und Brynhild vor dem Vergessenheitstrank: „er faßte sie um den Hals, küßte sie und sprach“; „Hann tok um hals henne ok kyste hana ok męllti“ (Vs 25). Vgl. allerdings zu Gunnars Geste Wolf 2009, S. 344: „Das provoziert eine Reaktion Gunnars, die man in einem heroischen Kontext nicht vermuten würde […]. Die Gísla saga kennt so eine Geste – hier allerdings sinnvollerweise auf die Ehefrau bezogen, wenn es von Ásgerðr, der Gattin Þorkels, heißt, sie wisse, wie sie ihren Mann beschwichtigen könne.“ 268 „Sigmundr […] bydr at bęta henne med gulli ok miklu fe, þott hann hefdi aungan fyre bętt mann, kvad engi frama ath sakazt vid konur.“  







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5. Herrschaft, Macht und Politik

zwischen Gudrun und den restlichen Gjukungen der Fall ist: „Gunnar sprach und zeigte sich bereit, ihr Gold zu geben und so ihren Harm zu büßen“ (Vs 34).269 Brynhild überlebt Sigurd nicht: „Hierauf starb Brynhild und verbrannte mit Sigurd – also endete beider Leben“ (Vs 33).270 Im Tode wird sie zu Sigurds Frau.271 Gunnar bleibt völlig außen vor. Er wird durch die gemeinsame Feuerbestattung der beiden zum Gehörnten. Gemäß der Idoneität wurde er letztlich ausgestochen. Das ist nicht einmal bei dem völlig negativ besetzten Siggeir geschehen, dessen eigentlich unpassende Frau Signy letzten Endes mit ihm verbrannt ist, obwohl sie zum Teil die Partnerin ihres Bruders Sigmund war. Das Charisma des toten Sigurd ist so groß, dass der Held selbst im Nachhinein die Frau erhält und Gunnar glanz- und anziehungslos zurücklässt.  

5.2.3 Högnis prominente Rolle Sigurd war im Vergleich mit Gunnar die an Determination und heroischer Kraft prominentere Figur. Die Diskrepanz zwischen den Kompetenzen der Figuren und ihrem Rang in der Erzählwelt erzeugte eine Irritation, die zur gewaltvollen Eskalation geführt hat und deren Nachspiel der Gjukungenuntergang sein soll. Doch auch Högni verfügt über eine besondere Wirkung neben seinem außer in Einzelfällen – wie etwa dem Gjukungenauszug in der Atlakviða (vgl. Akv. 9) oder dem Harfenspiel im Schlangenzwinger (vgl. Akv. 31, Am. 66, Od. 28–30, Vs 39) – kraftlos erscheinenden Bruder. Zumeist wird Gunnar nicht nur von Sigurd, sondern auch von Högni überragt.272 Allerdings provoziert dieser Umstand nie eine gewalttätige Reaktion, sondern fliegt, was ihr internes Konfliktpotenzial für den Gjukungenhof angeht, unter dem Radar. Nach dem Tode Sigurds und auch Gutthorms treten die Figuren als kollektives Brüderpaar auf (vgl. Vs 35). Trotzdem handelt an vielen Stellen der Völsungensage Högni für Gunnar. Im Nibelungenlied ist das vasallitische Verhältnis zwischen Gunther und Hagen  







269 „Gunnar segir, kvęzt vilia gefa henne gull ok bęta henne sva harma sina.“ 270 „Ok eptir þetta deyr Brynhilldr ok brann þar med Sigurde, ok lauk sva þeirra ęfi.“ 271 Siehe 2.1.2. Vgl. Finch 1965, S. xxiv: „It is not atonement for instigating the murder of the man she loved […]. It is closely connected with her love for Sigurd – separated in life, united in death. It can also be seen as a form of ‚suttee‘ whereby Brynhild claims her place at Sigurd’s side“. Vgl. auch Steinsland 1997, S. 115 f. Vgl. McKinnell 2014, S. 256 f.: „One might have expected to see in them an attempt to assert that she is Sigurðr’s real wife, but she goes beyond that, almost to the extent of taking over his funeral rather than sharing in it. The splendid trappings and the dead servants are all hers, and the magnificence of their reception in the next world will be guaranteed: […] The assertion seems to be, not so much ‚I was really his wife‘ as ‚He was really my husband‘“. Vgl. Kuhn 1971 [1948/1950], S. 80: „Diese gemeinsame Verbrennung […] ist symbolisch: die beiden, denen im Leben die Vereinigung versagt war, sollten wenigstens im Tod vereint sein. Brünhild hat Sigurd erschlagen lassen und folgt ihm nach.“ 272 Zum Verhältnis von Gunnar und Högni in den Atliliedern vgl. Schillinger 1962, S. 143–151 bzw. S. 159–164.  















5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

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explizit ausformuliert, doch auch im skandinavischen Erzählnexus fungiert die Figur des Högni als exekutives Organ des Gjukungenverbandes. Er ist der Vorkämpfer der Gjukungen. Wie wir zuvor beim vasallitischen Prinzip von consilium et auxilium besprochen haben,273 ruft sich Gunnar seinen Bruder in Krisensituationen zu Hilfe. Als es um die Ermordung Sigurds geht, heißt es: Gunnar „rief seinen Bruder Högni zu sich und sprach: ‚Ich bin in große Bedrängnis geraten‘“ (Vs 32).274 Als die Versöhnungsversuche zwischen Gunnar und Brynhild scheitern, „ging er fort und suchte Högni auf und bat ihn, zu ihr zu gehen; der sagte aber, daß er keine Lust dazu habe, ging jedoch dennoch hin und erlangte ebenfalls nichts von ihr“ (Vs 31).275 Högnis eigener Wille und Absicht divergieren zwar zum Teil von denen seines Bruders, doch verfügt Gunnar über implizite Entscheidungsbefugnis. Die Figur verkörpert die Stimme des Warners, wird aber dabei letztlich selbst zur Handlung gezwungen. Bei der Planung von Sigurds Tod hält Högni dem Schwurbruder die Stange. Er versteht die Konsequenzen, die den Gjukungen aus dem Verlust des ‚traust‘, der Stütze erwachsen und will Gunnar von der Tat abhalten: „Der Rat scheint mir übel angebracht, und wenn er in die Tat umgesetzt wird, so werden wir dafür Bestrafung empfangen, daß wir einen solchen Mann verraten haben“ (Vs 32,276 vgl. Br. 1, 3).277 Als im Brot af Sigurðarkviðu die Entscheidung gefällt ist, ist es Högni, der den Mördern Sigurds voransteht und Gudrun den Tod ihres Mannes verkündet: „Allein Högni gab Antwort: | „Wir haben Sigurd mit dem Schwert erschlagen, | den Kopf hängt nun das graue Pferd über den toten König“ (Br. 7).278 Dieselbe Rolle nimmt er im zweiten Gudrunlied ein: „Das Haupt neigte Gunnar, Högni sagte mir | von Sigurds Wundentod“ (Gðr. II 7).279 Und das nicht wenig plakativ:280 „Da hörst du Raben krächzen, | Adler schrein, des Futters froh, | Wölfe heulen über deinen Gatten“ (Gðr. II 8).281 Da die Tötung Sigurds erstmal vollbracht ist, geht Högni völlig in seiner Rolle auf. Vom vorherigen Abraten findet sich keine Spur. Ebenso verhält es sich bei der verräterischen Einladung. Die Verfügungsgewalt liegt bei Gunnar, aber Högni signalisiert, dass er sich – wenn auch gegen seine eigene  

273 Siehe 5.1.6. 274 „kallar til sin Haugna brodur sinn ok męllti: ‚Fyrir mik er komit vannmęli mikit.‘“ 275 „Gengr nu a brott ok hittir Haughna ok bidr hann finna hana. Enn hann kvezt vera ufuss ok fer þo ok fekk ecki af henne.“ 276 „Þar rad lizt mer illa sett, ok þott fram kome, þa munu ver giolld fyrir taka at svikia slikan mann.“ 277 Vgl. Krause 2004, S. 352: „Högni spielt in ihm [dem Brot af Sigurðarkviðu] nicht die Rolle des Parteigängers der beleidigten Königin; er ist im Gegenteil derjenige, der von den Mordplänen abrät.“ 278 „Einn þvi Hǫgni andsvor veitti: | ‚Sundr hǫfom Sigurð sverði hǫgginn, | gnapir æ grár iór yfir gram dauðom.‘“ 279 „Hnipaði Gunnarr, sagði mér Hǫgni | frá Sigurðar sárom dauða“. 280 Edgar Haimerl erkennt Högnis heftige Rede im Brot als Antwort auf eine Provokation Gudruns, die im Zuge ihres Nachfragens, wo ihr Ehemann sei, diesen über die Brüder gestellt hätte (vgl. Haimerl 1992, S. 133–134). Vgl. Haimerl 1992, S. 159: „während Gunnar sein Haupt senkt, behauptet sich Högni.“ 281 „þá heyrir þú hrafna gialla, | ǫrno gialla, æzli fegna, | varga þióta um veri þínom.“  





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5. Herrschaft, Macht und Politik

Überzeugung – danach richtet: „Eure Entscheidung wird bestehen müssen, und folgen werde ich dir – aber wenig Lust habe ich zu dieser Fahrt“ (Vs 35).282 Als der Auszug dann aber erstmal beschlossene Sache ist, rückt Högni in den Fokus. Er spricht die Abschiedsworte der Gjukungen: „Seid fröhlich, wie es uns auch ergeht!“ (Vs 37)283 und er ist es, der die Tür zu Atlis Heim einschlägt (vgl. Vs 37). Er spricht die Trotzworte zum verräterischen Vingi, woraufhin dieser von den Gjukungen getötet wird: „‚Dir geben wir nicht nach, und selten, denke ich, wichen wir zurück, wo Männer kämpfen sollten. Dir aber nützt es nichts, uns zu schrecken, und übel soll es dir bekommen!‘ Da stießen sie ihn nieder und warfen ihn mit Streitäxten zu Tode“ (Vs 37).284 Er ist der Letzte der Gjukungen, der steht und sein Leben teuer verkauft:  



Da ward König Gunnar angegriffen, und infolge der Übermacht ward er gefangen genommen und in Fesseln gelegt. Högni aber kämpfte dann noch weiter mit großer Tapferkeit und hohem Heldenmute: er fällte zwanzig der bedeutendsten Kämpen König Atlis. Er stieß manchen in das Feuer, das in der Halle brannte. Alle waren darin einig, daß man einen solchen Mann noch nie gesehen hätte (Vs 39).285

Die Atlakviða inszeniert die Figur dabei als herausragendsten Kämpfer der Gjukungen und als Beschützer seines Bruders: „Sieben erschlug Högni mit scharfem Schwert, | und den achten stieß er ins heiße Feuer; | so soll der Kühne sich der Feinde erwehren, | wie Högni Gunnar wehrte“ (Akv. 19).286 Für das leibliche Wohl seiner Sippe sorgt er, da der Konflikt zwischen Brynhild und Gunnar seinen Höhepunkt erreicht: „‚geneigter wäre ich, dich zu erschlagen.‘ [Sagt Brynhild zu Gunnar.] Darauf wollte sie König Gunnar töten.287 Högni aber legte sie in Fesseln“ (Vs 31).288 Als es um die Verteidigung von Gudruns Ehre geht, bezieht sich diese auf Högni: „mit dem Schwert würd Högni solche Schmach rächen, | nun muss ich mich selbst von der Anklage befreien“ (Gðr. III 8).289  

282 „Ydart atkvęde mun standa hliotha, ok fylgia mun ek þęr, enn ufuss em ek þessarar ferdar.“ 283 „Verit katar, hversu sem med oss ferr.“ 284 „‚Eigi munu ver fyrir þer vęgia, ok litt hygg ek at ver hryckim, þar er menn skylldu beriazt, ok ecki tioar þer oss at hręda, ok þat mun þer illa gefazt.‘ Hrundu honum siþan ok baurdu hann auxarhaumrum til bana.“ 285 „Nu er sott at Gunnare konungi, ok fyrir sakir ofreflis var hann haundum tekinn ok i fiotra settr. Sidann bardizt Hauggne af mikilli hreysti ok dreinghskap of fellde ena stęrstu kappa Atla konungs XX. Hann hratt maurgum i þann elld, er þar var gior i haullunne. Allir urdu a eitt sattir, at varla sei slikann mann.“ 286 „Siau hió Hǫgni sverði hvǫsso, | enn inom átta hratt hann í eld heitan; | svá scal frœcn fiándom veriaz, | sem Hǫgni varði hendr Gunnars.“ 287 In der Übersetzung von Paul Herrmann sind die Namen vertauscht (vgl. Herrmann 1923, S. 105 f.). 288 „‚fusare vęrim ver at drepa ydr.‘ Siþan villde hun drepa Gunnar konung, enn Haugne sette hann i fiotra.“ 289 „sverði myndi Hǫgni slícs harms reca, | nú verð ec siálf fyr mic synia lýta.“  



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5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

Doch bei einer Gelegenheit divergieren die Modelle der Figuren Gunnars und Högnis so sehr, dass Högni sich Gunnars Wunsch widersetzt: Da es Brynhild zu sterben verlangt, heißt es in der Völsunga saga: „Da rief Gunnar Högni herbei und fragte ihn um Rat; er bat ihn, hinzugehen und zu versuchen, ob er ihren Sinn besänftigen könne; er sagte es wäre ein großes Bedürfnis vorhanden, sie zu beschwichtigen, bis einige Zeit verginge. Högni antwortete: ‚Niemand halte sie vom Sterben zurück, denn sie ist uns nicht zum Heile und keinem andern, seitdem sie hierher kam‘“ (Vs 32).290 Inhaltlich identisch ist Högnis Antwort im kurzen Sigurdlied: „‚Hindre sie niemand am langen Gang […]! | Sie kam übel vor die Knie der Mutter, | für immer geboren zum Unglück, | manchem Mann zum Kummer.‘ Missmutig wandt er sich vom Gespräch ab“ (Sg. 45–46).291 Im Nachspiel von Sigurds Ermordung entscheidet sich Gunnar für die ‚weiche‘ Lösung. Er bemüht sich um die Bewahrung von Struktur und Ordnung, indem er Brynhild beruhigt wissen will, bis Gras über die ganze Sache gewachsen ist. Brynhild soll um jeden Preis als seine Frau am Leben erhalten werden. Er stellt seine Ehe – und die damit zusammenhängenden Aspekte von Ansehen und Status – über das Wohl des Gesamtverbandes. Högni auf der anderen Seite liegt nicht an Schlichtung, wenn er das Überleben Brynhilds von einem Kosten-Nutzen-Standpunkt aus betrachtet: Sie ist schädlich, also kann sie ruhig sterben. Seine Position ist eine rigorose, die auf die Ausmerzung dessen hinaus will, was dem Kollektiv schadet. Högni greift nicht ein und Brynhild stirbt. In mehr als einer Episode wird Högni als die Galionsfigur der Gjukungen inszeniert. Ich habe zuvor den Begriff des Vorkämpfers benutzt. Obwohl zunächst zumeist zurückhaltend, überlegt und nach heutiger Sicht sicherlich vernünftig, ist es Högni, der die Entscheidungen des Bruders ausführt. Die heroische Natur der Erzählung fordert den Untergang ihrer Figuren ein. Entscheidungsträger ist dabei Gunnar, der mitunter als schwach und handlungsunfähig gezeichnet wird, in der Atlakviða aber den heroischen Vorzeigekönig darstellt. Der Ausführende dieser selbstvernichtungsorientierten Beschlüsse ist allerdings Högni, der im Vorfeld zwar eine selbsterhaltende Alternative ‚anteasert‘, letztlich aber auch vom Vernichtungsstrudel erfasst wird und in den Todeswindungen des Gjukungengeschlechts als prominenteste Figur hervorsticht. Obwohl er die Vernichtung des Geschlechts mit seinen Ratschlägen abwenden will, wird er in seinen Taten zum Anwalt des Untergangs, was letzten Endes in seiner spektakulären Tötung gipfelt.292 Die schillernde Heroik Högnis aber konkurriert gera 



290 „Siþan hét Gunnar a Haugna ok spyr hann rada ok bad hann til fara ok vita, ef hann fenge mykt skaplynde hennar, ok kvad nu ęrna þaurf vera a haundum, ef sefaz mętte hennar harmr, þar er til fra lide. Haugne svarer: ‚Leti engi madr hana at deyja, þviat hun vard oss alldri at gagne ok aungum manne, siþan hun kom higat.‘“ 291 „‚Letia maðr hána langrar gǫgno | […]! | Hon krǫng of komz fyr kné móður, | hon æ borin óvilia til, | mǫrgom manni at móðtrega.‘ | Hvarf sér óhróðugr andspilli frá“. 292 Siehe 7.2.4.

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5. Herrschaft, Macht und Politik

de auf Grund der Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Brüdern – der eine als der Entscheidende, der andere als der Handelnde – nicht mit dem Rang Gunnars. Im mittelhochdeutschen Epos ist diese Kompetenzenverteilung so überdeutlich, dass Hagen gar nicht mehr als Bruder des Burgundenkönigs auftritt, sondern zu seinem Vasallen gemacht wird.293 Die Dynamik von Hagens Verhalten entspricht der des nordischen Högni. Zunächst tritt er als die zur Vorsicht gemahnende Stimme auf.294 Als Rüdiger im Namen Etzels um Kriemhilt wirbt, ist Hagen der einzige, der von der Eheschließung abrät: „Alle rieten ihm [Gunther] zu, nur Hagen nicht […]: ‚Wenn ihr vernünftig seid, so unterbleibt es. Wenn Kriemhild dem zustimmen sollte, dürft wenigstens Ihr niemals darauf eingehen‘“ (Nl 1203,1–4).295 Sogar als Gunther insistiert, „sagt[…] wiederum Hagen: ‚Hört auf mit dieser Rede! Kenntet Ihr Etzel doch so, wie ich ihn kenne! Wenn Kriemhild, wie ich Euch sagen höre ihn heiraten wird, so habt in erster Linie Ihr Grund, Euch vor Gefahren zu fürchten‘“ (Nl 1205,1–4).296 Die Episode der Werbung durch Rüdiger exerziert im Kleinen das durch, was später im Makrokosmos der Erzählung um die verräterische Einladung geschieht. Auch hier ist Hagen die lauteste Stimme der Warnung vor der Annahme der Einladung. Als – der Text lässt sieben Jahre vergehen – die Einladung durch die Spielleute Etzels an den Hof Gunthers gebracht wird, verhält sich die Hofgesellschaft folgendermaßen:  







Da sagten viele, er solle ruhig in das Land Etzels reiten. Die Besten unter seinen Leuten rieten ihm zu, nur Hagen nicht. Den erfüllte es mit grimmigem Verdruß. Heimlich sagte er zum König: ‚Ihr rennt in Euer eigenes Verderben! Ihr wisst doch ganz genau, was wir getan haben. Von Kriemhilds Seite werden wir immer mit Gefahren zu rechnen haben. Denn ich habe ihren Mann mit eigener Hand erschlagen. Wie könnten wir es wagen, in das Land Etzels zu reiten? (Nl 1457,4– 1459,4).297

Gegen seinen Ratschlag wird dennoch die Fahrt beschlossen. Als Hagen vorgeschlagen wird, er solle in Sicherheit in der Heimat bleiben, beantwortet er das Angebot wütend: „Da wurde der Held von Tronje von Zorn ergriffen: ‚Ich lasse es nicht zu, daß Ihr jemanden mit auf Eure Reise nehmt, der mutiger mit Euch zu Hofe reitet als ich! Da

293 Über den mittelhochdeutschen Hagen sagt Hans Kuhn, die burgundischen Könige stünden „tief in seinem Schatten“ (Kuhn 1971 [1948], S. 66). 294 Vgl. Hoffmann 1987, S. 132: „Für das Nibelungenlied mag der Name Hagen genügen, um zu verdeutlichen, wie kontrovers diskutiert und diskutierbar die Rolle des Helden innerhalb der Gemeinschaft ist, der er angehört – als ihr unerbittlicher Anwalt oder als der sie zerstörende Bösewicht?“ 295 „Si rietenz al gemeine niwan Hagene | […]: | „habt ir rehte sinne, sô wirt ez wol behuot, | ob sis volgen wolde, daz irz nimmer getuot.“ 296 „Dô sprach aber Hagene: „nu lât die rede stân! | het ir Etzeln künde, als ich sîn künde hân! | sol si in danne minnen, als ich iuch hœre jehen, | sô ist iu aller êrste von schulden sorgen geschehen.“ 297 „vil maneger sprechen dô began, | Daz er wol möhte rîten in Etzelen lant. | daz rieten im die besten, die er dar under vant, | âne Hagene eine. dem waz ez grimme leit. | er sprach zem künege tougen: ‚ir habt iu selben widerseit. | Nu ist iu doch gewizzen waz wir haben getân. | wir mugen immer sorge zuo Kriemhilde hân, | wande ich sluoc zu tôde ir man mit mîner hant. | wie getorste wir geriten in daz Etzelen lant?‘“  





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5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

Ihr nun nicht von Eurem Vorhaben ablassen wollt, werde ich Euch das beweisen!“ (Nl 1464,1–4).298 Gerade der letzte Satz expliziert die Mentalität der Figur. Für den Tronjer kommt nicht in Frage, dass jemand anderes seinen Herrn auf der gefährlichen Fahrt begleitet und ferner scheint er als einer der Wenigen die Kompetenz zu haben, den Zug auf dem beschwerlichen Weg anzuführen. Das mittelhochdeutsche Epos zeigt hier deutlich das Konzept von Vasallentum, in dem der Untergebene, also Gunthers man, zu consilium et auxilium verpflichtet ist. Hagens Bereitwilligkeit, den Zug in den unausweichlichen Untergang zu begleiten, ist allerdings nicht allein durch seine triuwe als Vasall motiviert, sondern auch durch sein Streben nach heroischer Erfüllung.299 Auf dem Zug wirft er nach dem Spruch der Meerfrauen den Kaplan über Bord300 (vgl. Nl 1539 ff. bzw. 1574 ff.) und zerstört danach die Fähre um den Rückweg unmöglich zu machen (vgl. Nl 1581,1–4). Nun, so Hagen, müssten jene ertrinken, die den Weg mit den Burgunden nicht bis zum bitteren Ende gehen wollten:301 „wenn wir auf dieser Fahrt einen Feigling bei uns haben, der sich aus feiger Furcht aus dem Staube machen will, dann wird der an dieser Wasserflut ein schmähliches Ende finden“ (Nl 1583,2–4).302 Er gibt sich wie sein nordisches Pendant vollkommen dem – um Jan-Dirk Müllers Formulierung zu benutzen – „Rausch der Vernichtung“303 hin. Das gipfelt in der Tötung des Knaben Ortlip (vgl. Nl 1961,1–4), was die Lage zwischen Hunnen und Nibelungen unwiederbringlich eskalieren lässt. Hans Naumann gibt ihm dahingehend den dramatischen, doch zutreffenden Titel „Zeremonienmeister des Todes“.304 Am Ende ist Hagen der einzig noch lebende Nibelunge, der dann durch Kriemhilt seinen Tod findet (vgl. Nl 2373,1–4). Vergleicht man die Figuren Högnis respektive Hagens der nordischen und südlichen Traditionen, so entdeckt man nicht zwei Figuren, sondern eine, auf die nur die jeweilige Schablone der Gattung der Erzählung gelegt wurde. Es handelt sich um  









298 „Dô begunde zürnen von Tronege der degen: | „ine will daz ir iemen füeret ûf den wegen, | der getürre rîten mit iu ze hove baz. | sît ir niht welt erwinden, ich sol iu wol erzeigen daz.“ 299 Vgl. Höfler 1961 [1941], S. 72 zum Hagenbild der Heldensage: „Das Heldenlied wie die Saga hat vermocht, Helden gegen Helden zu stellen, nicht Schurken gegen Gerechte […]. Die altgermanische Dichtung aber versteht man nicht, solange man in ihr einen Streit zwischen Tugend und Laster sucht. Denn nur Hohe sind würdig, im Heldenlied besungen zu werden […]. Hagen aber war der altgermanischen Dichtung immer ein Held. Und er blieb es, solange diese heroische Kunst lebendig geblieben ist. Noch das staufische Epos hat den Töter des herrlichen Siegfried aus ganzem Herzen verherrlicht. Nicht die Bestrafung von Schlechten verewigt das Heldenlied, sondern den Gang großer Menschen durch große Taten, die geschehen müssen“. 300 Vgl. Klein 1988, S. 117: „Niedere Mythologie und christliche Elemente verbinden sich […] zu ein und derselben Sphäre des Übernatürlichen.“ 301 Vgl. Weddige 2008, S. 233: „er weiß und will, daß es kein Zurück mehr gibt.“ 302 „ob wir an dirre reise deheinen zagen hân, | der uns entrinnen welle durch zägelîche nôt, | der muoz an disem wâge doch lîden schameclîchen tôt.“ 303 Vgl. z. B. Müller 2009, S. 163. 304 Naumann 1939, S. 64.  











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5. Herrschaft, Macht und Politik

eine heroische Figur, die eine gewichtige Position innerhalb der Personensystematisierung der Hofgesellschaft einnimmt. Sie spielt die Rolle eines ‚Mannes fürs Grobe‘,305 der ausführt, was der Herr der Gjukungen anordnet. In der nordischen Überlieferung wird dabei das nibelungische Vasallentum zwischen Hagen und Gunther durch die vielen Male simuliert, da Gunnar sich bei seinem Bruder Högni ‚Rat und Hilfe‘ sucht. Nun ist dieses Ungleichgewicht zwischen heroischer, handelnder Kompetenz und etablierter, ruhender Herrschaft zwischen Högni und Gunnar keineswegs auf die Art und Weise unruhestiftend, wie es in Sigurds Fall war, wo nicht einmal dessen konstante Subordinationen das Chaos abwenden konnten. Das Nibelungenlied verleiht Siegfried das Bewusstsein um die Notwendigkeit einer Standeslüge, um die tatsächlichen Machtverhältnisse zu verschleiern. Für die Figuren Högni und Hagen allerdings erschaffen die Texte eine Nische, innerhalb derer diese ihre Heroik praktizieren können, ohne mit Gunnar beziehungsweise Gunther zu konkurrieren. Eine Verklärung ihres Heldentums durch eine Standeslüge ist für diese Figuren nicht notwendig.

5.2.4 Warum Sigurd sterben muss Ein wiederkehrendes Motiv der Völsunga saga ist, dass es kompliziert wird, wenn Rang und Macht divergieren.306 Die Eingangsepisode um Sigi und den Knecht Bredi eröffnet dieses Thema. Sigi ist sogar unter seinesgleichen „der mächtigere und vornehmeren Geschlechts“ (Vs 1).307 Ihm wird Bredi gegenübergestellt, ein „Knecht“ (Vs 1).308 „[E]r besaß Fertigkeiten und Geschicklichkeiten in demselben Maße wie die, die sich bedeutender dünkten, oder noch etwas mehr als manche“ (Vs 1),309 wird über den Rangniedrigeren gesagt. Die Saga expliziert also, dass Kompetenz nicht unbedingt an hierarchische Stellung gekoppelt sein muss. Während einer Jagd übertrifft Bredi Sigi, was seine gewaltsame Ausmerzung zur Folge hat: „da hatte Bredi weit mehr und größeres erjagt, als Sigi, was ihm übel gefiel, und er sagte, er wundere sich, daß ein Knecht ihn im Weidwerk übertreffen sollte, lief deshalb auf ihn zu und er 

305 Vgl. Wapnewski 1993, S. 64 zur Polyvalenz der Figur: „Der Hagen des Nibelungenliedes ist, um es gleich in gebührender Deutlichkeit zu sagen, keine Gestalt aus einem Guß. Die Wissenschaft hat es längst gezeigt, er ist eine Kunstfigur, komponiert aus den verschiedenen Schichten des heteronomen Sagenstoffs.“ 306 Vgl. Grimstad 2000, S. 42: „any perceived imbalance in power and prestige in an alliance can provoke treachery“. Vgl. Grimstad 2000, S. 47: „inequality in power and prestige between the parties is a key factor in the repeated violations of marital kinship ties that eventually destroy the entire social fabric of the saga.“ 307 „enn rikari ok ęttsterri“. 308 „þrel“. 309 „Hann hafde iþrottir ok athgiorfi iafnframt hinum, er meira þottu verdir eda umfram nauckura.“  





5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

303

schlug ihn“ (Vs 1).310 Sigi tötet Bredi ohne zu zögern. Die Irritation, die sich aus der Diskrepanz zwischen sozialer Stellung und Jagderfolg ergibt, ist so groß, dass sie eine sofortige Korrektur erfordert. Durch Bredis Tod wird die Störung unkenntlich gemacht. Diese von mir bereits als Programmepisode311 bezeichnete Passage wiederholt sich im Großen bei der barnstokkr-Stelle, da der Kinderpfosten von Odin mit dem Schwerte durchbohrt wird. Nach dem Erscheinen des Gottes eröffnet sich sofort die Problematik, wer überhaupt als erstes versuchen dürfte, das Schwert aus dem Stamm zu ziehen: „Nun standen sie auf und überließen es nicht einander, das Schwert herauszuziehen, und der glaubte es am besten zu haben, der es zuerst ergreifen durfte“ (Vs 3).312 Das Privileg kommt den „vornehmsten Männern zuerst“ (Vs 3)313 zu. Umso härter fällt die Kritik der Saga an den Ranghohen aus, da es keinem von diesen Vornehmsten gelingt, das Schwert herauszuziehen, obwohl sie ja klar einen Vorteil haben. Wie bei der Beschreibung des Knechtes Bredi wirft der Völsungenerzähler die Frage auf, ob die Hochgestellten ihren Rang auch wirklich verdienen oder ob sie sich nur höher dünken. Wie zum Hohne zieht es Sigmund heraus, „wie wenn es los da läge vor ihm“ (Vs 3).314 Wie die übrigen Prüfungen der Völsungenerzählung ist auch diese eine Farce, bei der der vorherbestimmte Sieger ausgezeichnet wird und die anderen Teilnehmer gedemütigt oder zerstört werden. Angesichts von Sigmunds heroischer und mythischer Determination wird Siggeirs Rang bedeutungslos. Das Schwert ist ein Symbol der Macht und die war Letzterer nicht fähig auszuüben.315 Dennoch erfordert diese öffentliche Demütigung auf dem eigenen Hochzeitsfest eine Reaktion. Dass Siggeir darüber „ergrimmt[…]“ (Vs 3),316 lässt er sich nicht anmerken, ersinnt „aber noch den selben Abend […] Vergeltung dafür“ (Vs 3).317 Am Morgen darauf verlässt er die Feierlichkeit vorzeitig. Die folgenden Episoden handeln davon, wie Siggeir die Völsungen auf Verrat sinnend einlädt, Völsung in der Feldschlacht tötet und Sigmund und seine Brüder gefangen nimmt, foltert und einen nach dem anderen auffressen lässt (vgl. Vs 4–5). Die öffentliche Ordnungsstörung, die durch Siggeirs vorzeitigen

310 „þa hafdi Bredi veitt miklu fleira | enn Sigi. huad honum lijkadi stǫr illa. ok ſeiger at sig undre ad eirn þræll ſkuli sig yferbuga J dÿra weide. hleypur þui at honum ok drepur hann.“ Ich weiche ab ‚enn Sigi…‘ auf die Edition von Grimstad 2000, S. 76 aus, da die zitierte Stelle im von Olsen edierten Manuskript verdorben ist. 311 Siehe 3.1.1. 312 „Nu standa þeir upp ok metazt ecki vid at taka sverdit. Þickizt sa bęst hafa, er first nair.” 313 „gofguztu menn fyst“. 314 „sem laust lęgi fyrir honum.“ 315 Vgl. Gottzmann 1987, S. 78: „Die große Kinderschar Völsungs und die Ehe Signys haben Odin offensichtlich veranlasst, den stärksten Mann entweder aus der agnatischen oder der kognatischen Sippe zu ermitteln, um diesem das Königsheil zu verleihen.“ 316 „reiddizt“. 317 „þat sama kvelld hugdi hann laun fyrir þetta”.  



304

5. Herrschaft, Macht und Politik

Abbruch des Festes auch noch bestätigt wurde, wird nun durch den Gewaltausbruch korrigiert. Der entstandene Makel wird unkenntlich gemacht.318 In den besprochenen Episoden geht es um die heroische Legitimierung von Herrschaft und um die Feststellung heldischer Tauglichkeit. Dabei sind es gerade Ereignisse gesellschaftlicher Stabilität, wie etwa die Jagd oder das Fest, die dazu einladen, bestehende Strukturen zu hinterfragen. Zu diesen Gelegenheiten treffen die verbindlichen Standesreglementierungen der Textwelt auf die provokative Zurschaustellung heroischer Potenz. Im Nibelungenlied geschieht es ausgerechnet vor Siegfrieds Ermordung, dass der Held durch sein übermütiges Jagdverhalten die komplette Hofgesellschaft irritiert und seine überschäumende Kraft ein letztes Mal vor seinem eigenen Tod beweist (vgl. Nl 932,1–963,4). Herrschaft steht in der völsungischen Erzählwelt auf einem sehr sandigen Fundament und kann jederzeit durch die Demonstration exorbitanten Heldentums erschüttert werden. Wir haben bereits über den Konflikt zwischen Gunther und Siegfried bei deren Begegnung im Nibelungenlied gesprochen. Die beiden gehören unterschiedlichen Denksystemen an, in denen Macht entweder vom eigenen sozialen Rang abhängt oder von der persönlichen Kraft und dem eigenen Heldentum. In der Völsungensage erreicht das Konfliktpotenzial sein Maximum durch die betrügerische Brautwerbung um Brynhild. Durch den Gestaltentausch gelangt Sigurd mit dem Aussehen Gunnars zu Brynhild, die von Anfang an Zweifel am Ausgang der Brautwerberprobe hat – natürlich nicht zuletzt weil sie eigentlich Sigurd erwartet hätte: „Gunnar, […] rede nicht solches zu mir, wenn du nicht jedem Manne überlegen bist“ (Vs 29),319 sagt sie zum verzauberten Sigurd. Der Gestaltenwandel erzeugt exakt diese besprochene Diskrepanz zwischen der Stellung der Figuren und ihrer heroischen Determination und obschon Sigurd sein Bestes tut, um die Eskalation zu verhindern, indem er versucht, sich den Gjukungen anzugleichen,320 ist die Irritation so immanent, dass die Erzählwelt sich gewaltsam davon freischüttelt.321 Wenn Theodore  

318 Grimstad nennt das einen „devious plot to repair the damage to his prestige“ (Grimstad 2000, S. 43). 319 „Gunnar, […] ręd ecki slikt vid mik, nema þu sert hverium manne fremre“. 320 Vgl. Uecker 1972, S. 3: „Der Held endet meistens tragisch […], da ihn sein heroisches Temperament daran hindert, sich freiwillig einer stärkeren Macht zu unterwerfen.“ Das ist korrekt für viele Figuren der Heldensage. Die Sigurdfigur unterwirft sich allerdings sowohl in den Texten der nord- als auch südeuropäischen Tradition der Nibelungensage sehr wohl einer anderen – wenn auch nicht unbedingt stärkeren – Macht. Das daraus resultierende Problem ist, dass er dadurch eine Stellung einnimmt, die für den Helden ungeeignet ist. Er ist zu groß für sie und ragt über ihren Rahmen hinaus. Die damit einhergehende Irritation folgt schließlich zu seiner gewaltsamen Entfernung. 321 Vgl. Höfler 1961, S. 60, der sich auf das Brot af Sigurðarkviðu bezieht: „der edle Held wird nicht wegen Brünhild getötet, sondern weil er seinen Verwandten zu mächtig geworden war“. Ebenso argumentiert Hans Naumann, wenn er sich auf die Rolle Hagens im Nibelungenlied bezieht, der den Störenfried beseitigt (vgl. Naumann 1939, S. 63–66). Der Tronjer nehme dabei die Rolle des „Gefolgschaftsältesten [n]“ (Naumann 1939, S. 66) ein. So spricht sich Naumann auch gegen einen mythischen Zug der Ermor 













305

5.2 Die Diskrepanz zwischen Macht und Status

Andersson sagt: „In the Nibelungenlied Siegfried dies for no good reason at all“,322 meint er dass die Begründung der Erzählung um die Fakten der Tradition herummodelliert worden ist. Der Tod der Figur ist eine sagengeschichtlich verankerte Tatsache. Wie es der jeweilige Text allerdings begründet, ist eine Frage des Spielraumes der Gattung. Die Völsunga saga ist eine Erzählung hierarchischer Unklarheiten, aus deren Wirren sich die Untergangsorientiertheit der Handlung erklärt. Deswegen muss Sigurd sterben.

dung Siegfrieds aus, sondern argumentiert, dass in der Sage ein Ereignis aufbereitet wurde, das für die germanische Gefolgschaftsdynamik alltagstypisch ist: „Das alles ist nicht mythologisch in seinen Gründen, sondern völlig menschlich aus dem Kreis und der sozialen Lage heraus“ (Naumann 1939, S. 66). Siegfrieds Tod im Nibelungenlied ist für Albrecht Classen eine Konsequenz dessen eigener Verfehlungen, die aus dessen bis zur Arroganz übersteigerten Heroismus erwachsen (vgl. Classen 2003, S. 304– 305). Winder McConnell erklärt die Notwendigkeit der Tilgung des Helden aus der Gesellschaft dadurch, dass durch seine Drachentötung die chaotischen und zerstörerischen Aspekte des Ungeheuers auf ihn übergegangen sind und er deswegen zum zu entfernenden Störfaktor wird (vgl. McConnell 1999, S. 180). Zu den sagengeschichtlichen Aspekten von Sigurds Ermordung vgl. Schröder 1921, S. 48–58. 322 Andersson 1978, S. 38. Auch Walter Haug sagt, dass Siegfrieds Tod durch heroische Motive begründet würde, die aber durch die höfischen Einflüsse auf das Epos abgetönt worden wären und deswegen die Ermordung des Helden nicht mehr vollwertig rechtfertigen könnten (vgl. Haug 1989 [1987], S. 330– 331). Es käme „zum Mord […] ohne konkreten Grund“ (Haug 1989 [1987], S. 331).  













6. Krisenreaktionen 6.1 Trauern 6.1.1 Gestörter Weltzustand Der Eintritt einer Krise zwingt die völsungische Textwelt zur Reaktion. Wenn etwas nicht passt oder nicht nach Wunsch ist, äußern die Figuren ihren Unmut darüber. Eine Möglichkeit dies zu tun, ist Trauer,1 die sich in Weinen und Klagen niederschlägt und damit – nach der Beobachtung Jan-Dirk Müllers für das Nibelungenlied – „einen beschädigten Weltzustand“2 markiert. Sie kann Reaktion auf Verlust, antizipierten Verlust oder auf eine generelle Irritation der gesellschaftlichen Stabilität sein. Die Hamðismál schicken ihrer Handlung folgende Sentenz voraus: „Auf dem Weg entstanden traurige Taten […]. | Früh am Morgen erwecken alle Sorgen | um der Menschen Nöte Kummer“ (Hm. 1).3 Hier wird reflektiert über die Natur dessen, was gleich berichtet werden wird. Auf Kummer werde nur noch mehr Kummer folgen. Die Natur aktiven heroischen Handelns bringt die statische Weltordnung in Gefahr. Heroische Erzählungen bewegen sich in einer Abwärtsspirale des Leids. Das Trauern ist dabei der Ausdruck der Figuren darüber, dass ihre Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. So wirft Atli Gudrun vor: „oft ließest du deine Schwiegermutter in Tränen sitzen“ (Vs 40,4 vgl. auch Am. 96). Die Tränen sind der lieblosen Ehe zwischen Sohn und Schwiegertochter geschuldet und entstehen auf Grund fehlender Harmonie. Dasselbe gilt für Brynhild, die wegen ihres unpassenden Ehepartners aller Lebensqualität beraubt ist: „seitdem ihr mich um alle Wonne betrogen, achte ich das Leben für gar nichts“ (Vs 31).5 Nun spart allerdings das heroische Erzählen oft an expliziten Gefühlsäußerungen. Anstatt auf Trauer als Reaktion auf einen Missstand zurückzugreifen, lässt die Völsungensage ihre Figuren Verstimmung durch Ablehnung oder Wut signalisieren. Als Sigi vom Knecht Bredi bei der Jagd ausgestochen wird, berichtet die Völsunga saga darüber nur, dass ihm das „übel gefiel“ (Vs 1).6 Zu Rerirs ungewollter Kinderlosigkeit wird gesagt: „Das gefiel ihnen [Rerir und seiner Frau] wenig“7 (Vs 1).8 Missmut  



1 Vgl. zu weiblichem, männlichem und dem Trauern von Tieren in den Heldenliedern Will 1934, S. 32– 39. 2 Müller 1998, S. 208. Vgl. generell Müller 1998, S. 208–212, bes. S. 208: „Zorn und trûren sind angemessene Reaktionen auf leit, aktiv die eine, passiv die andere, wobei der passive Zustand auch in den aktiven umschlagen kann und umgekehrt.“ 3 „Sprutto á tái tregnar íðir, | […] | ár um morgin manna bǫlva | sútir hveriar sorg um qveyqva.“ 4 „þina svęru lęztu opt med grate sitia.“ 5 „siþan þer svikut mik fra aullu ynde, oc ecki hirde ek um lifit.“ 6 „lijkadi stǫr illa“ (Wegen Textverderbnis in der Vorlage der Olsenausgabe zitiert nach Grimstad 2000, S. 76). 7 Vgl. Raudvere 2007, S. 124: „one of the first references to personal feelings in the text“. 8 „Þat hugnar þeim badum illa“.  









https://doi.org/10.1515/9783110649796-006



308

6. Krisenreaktionen

wird emotionslos durch verneinte Zustimmung artikuliert.9 Zum Königinnenstreit, dem Konflikt, der die komplette Textwelt aus den Angeln hebt, sagt die Saga nur: „Daraus entstand große Verstimmung“ (Vs 30).10 Als Signy ihren Unwillen gegenüber dem ungewünschten Ehemann ausdrückt, geschieht das sachlich und ohne sichtliche emotionale Regung, obwohl offensichtlich auch Gefühle involviert sind: „Nicht möchte ich mit Siggeir abreisen, und nicht will mein Herz ihm entgegenlachen“ (Vs 4).11 Als sie mit dem Verlust ihrer Brüder konfrontiert ist, wird zwar das ‚Was‘ genannt, nicht aber das ‚Wie‘: Es scheint ihr schwerwiegend, eine große Sache, zu sein (vgl. Vs 5),12 dass ihre Brüder aufgefressen werden sollten. Nachdem Gudrun Atli die eigenen Söhne als Essen vorgesetzt hat, lässt die Völsunga saga ihn antworten: „Grausam bist du, da du deine Söhne mordetest und mir ihr Fleisch zu essen gabst – schnell läßt du Böses auf Böses folgen“ (Vs 40, vgl. Am. 85).13 Die Reaktion auf den Verlust der Söhne ist eine Bemerkung über Gudruns Wesen. Ansonsten bleibt Atli völlig ungerührt.14 Die Folge der Tat sind „Zornesworte“ (Vs 40)15 und nicht Trauer. Beim Königinnenstreit antwortet Gudrun „voll Zorn“ (Vs 30)16 und Siggeir „ergrimmt[…]“ (Vs 3)17 als Reaktion auf die Beleidigung durch Sigmund. Das heroische Erzählen lässt seine Figuren ihre Gefühle nach außen abgeben. Diese ‚fühlen‘ ihre Emotionen weniger, als dass sie sie sichtbar machen.18 Thematisiert wird deswegen mehrmals das Verhehlen von Emotionen als Reaktion auf eine Krise oder einen Missstand. In Siggeirs Fall wird das als charakterliches Defizit ausgelegt: „Weil es aber so beschaffen mit ihm war, daß er ein heimtückischer Mensch war, so stellte er sich so, wie wenn er auf diese Worte nicht achtete“ (Vs 3).19 Doch dieses Vorgehen finden wir nicht nur bei den negativ gezeichneten Figuren der Völsungenerzählungen. Einer von Brynhilds Alltagsratschlägen an Sigurd etwa lautet, erstmal gute Miene zum bösen Spiel zu machen: „töte ihn am andern Tage und lohne  

9 Die Ausdrucksweise heroischer Figuren ist kaum herzlich und wenig wortreich. Oft bedienen sich die Helden des Stilmittels der Litotes. Wie Helden sprechen untersucht Roberta Frank (vgl. Frank 2014, S. 19–43). Für verbale und nonverbale Ausdrucksformen des Helden, das heroische Aussehen und den heldischen Gestus vgl. Miller 2000, S. 188–241. 10 „þar af stod mikill ufagnadr“. 11 „Eigi villda ek a brott fara med Siggeiri, ok eigi giorir hugr minn hlęgia vid honum“. 12 „Henne þotti þetta mikit“. 13 „Grimm ertu, er þu myrdir sonu þina ok gaft mer þeirra holld at ęta, ok skammt lętr þu illz i mille.“ 14 Vgl. Sprenger 1992, S. 47: „In Am. ist der Vater in Atli nicht dargestellt. Er selbst redet sogar in Str. 85 gegenüber Guðrún von barna þinna, die sie ihm zur Speise vorgesetzt hat […]. Obschon aus der ganzen Strophe sein Abscheu sprechen mag, kommt sein Gefühl für die Kinder nicht zum Ausdruck.“ 15 „heiptarord.“ 16 „med reide“. 17 „reiddizt“. 18 Vgl. Haimerl 1992, S. 158: „Das Innenleben der Protagonisten wird durch Äußeres ausgedrückt, das für Inneres steht.“ 19 „fyrir þvi at honum var sva varit, at hann var undirhyggiumadr mikill, þa lętr hann nu, sem hann hirde ecki um þetta mal“.  







6.1 Trauern

309

so seine Lüge“ (Vs 22).20 In gewissem Grade hält sich Sigurd daran, da er des Betruges an sich und Brynhild gewahr wird: „da erst erinnerte sich Sigurd aller Eide, die er Brynhild geschworen hatte, verhielt sich aber ruhig“ (Vs 29).21 Dass sich Figuren wie in Siggeirs Fall entgegen ihrer Gefühlswelt verhalten, begegnet uns sowohl bei Gudrun als auch bei Brynhild. Nach der Tötung ihrer Brüder „stellte [Gudrun] sich nun freundlich in Worten, dennoch stak in Wirklichkeit dahinter ihre frühere Gesinnung“ (Vs 40).22 Um den Königinnenzank zu beenden, verstellt sich Brynhild: „‚Lassen wir das unnütze Geschwätz,‘ sagte Brynhild, ‚ich schwieg lange von meinem Kummer, der mir in der Brust wohnte: aber ich liebe deinen Bruder allein – beginnen wir ein anderes Gespräch!‘ Gudrun antwortete: ‚Im Herzen bist du ganz anders gesonnen‘“ (Vs 30).23 Anatomisch wird ihr Leid in der Brust verortet. Gudrun allerdings durchschaut Brynhild: Sie spricht sie auf ihren anders gearteten ‚hugr‘ an – neben dem Herzen auch der Sinn, das Gemüt –, der nicht mit ihrem äußeren Handeln übereinstimmt. Bekümmert ist die Innenwelt der Figur. Sobald das nicht nach außen transportiert wird, entsteht eine Diskrepanz von Gefühl und sichtbarem Gemütszustand. Thematisiert wird in den respektiven Passagen, dass die Figuren der heroischen Erzählwelt ihre Gefühle sehr wohl im Griff haben können und keinesfalls gezwungenermaßen affektgesteuert handeln. Andererseits kann ihnen bei einem solchen Verklärungsversuch auch auf die Schliche gekommen werden. Nicht zwingend ist Kummer Reaktion auf eine Krise, sondern kann auch durch Antizipation einer Katastrophe hervorgerufen werden. Wenn das Unheil bevorsteht, schlägt sich das atmosphärisch auf die gesamte Textwelt nieder und wird für Protagonisten und Statisten gleichermaßen spürbar. Durch ihr Trauern leben die Figuren ihr Vorwissen aus und signalisieren damit den Ordnungsbruch, der vom kommenden Untergang zeugt. Als sich Völsung nicht von der Fahrt zu Siggeir abbringen lassen möchte und bewusst in sein Verderben zieht, heißt es von seiner sonst gefühlsstrengen Tochter: „Da weinte Signy bitterlich und bat, daß sie nicht zu König Siggeir zurückzukehren brauchte“ (Vs 5).24 Ähnlich verhält sich der daheimbleibende Gjukungenverband – die Verwandten, das Volk, die Untertanen – als Gunnar und Högni ihrem Ende entgegenziehen: „Das Volk geleitete sie hinaus mit Weinen“ (Vs 37).25 Dabei weiß das Volk noch gar nichts vom Verrat. Die Gjukungen folgen nur einer Einladung. Kein Grund zu trauern eigentlich. Und doch antizipiert das zurückbleibende Kollektiv das Unheil und wird von der Erzählung benutzt, um dem Rezipienten die Stimmung  











20 „Dręp hann annars dags ok giallt honum sva heiptyrde.“ 21 „minir Sigurd allra eida vid Brynhilldi, ok letr þo vera kyrth.“ 22 „Giorir hun sik nu blida i ordum, enn þo var samth undir raunar.“ 23 „‚Leggium nidr unyt hial,‘ segir Brynhilldr. ‚Ek þagda leinghe yfir minum harme, þeim er mer bio i brioste, enn ek ann þinom brodur, at eins, ok taukum annat tal.‘ Gudrun segir: ‚Langt ser hugr þinn um fram.‘“ 24 „Nu grętr Signy sarliga ok bad, at hun skyllde eigi koma til Siggeirs konungs.“ 25 „Siþan leidde lidit þa ut med grate.“

310

6. Krisenreaktionen

der Episode zu kommunizieren. Es soll kein fröhlicher Auszug sein: Die Brüder ziehen in den Tod. Diese Technik finden wir mehrmals im Nibelungenlied. Da Siegfried nach Worms auszieht, um um Kriemhilt zu freien, trauert seine Mutter im Bewusstsein seines Todes: „Schwere Sorgen um ihren lieben Sohn quälten sie. Denn sie fürchtete, Gefolgsleute Gunthers könnten ihn töten. So brach die edle Königin in heftiges Weinen aus“ (Nl 60,2–4).26 Beim Auszug der Nibelungen an Etzels Hof wird gesagt: „Als man die tapferen Recken nun zu ihren Pferden schreiten sah, da sah man viele Frauen traurig stehen. Ihr Herz sagte ihnen eine lange Trennung und sogar einen bitteren Verlust voraus. Eine solche Vorahnung tut immer von Herzen weh. […] Auf beiden Seiten der Berge weinten Frauen und Männer“ (Nl 1521,1–1522,3).27 Als die Burgunden sich auf den Weg nach Isenstein machen, um um Prünhilt zu werben, heißt es: „Strahlende Augen verloren da ihren Schein und füllten sich mit Tränen“ (Nl 371,4);28 „Jedenfalls weinten sie allesamt, was auch immer man ihnen an Trostworten zusprach. Von den Tränen, die aus ihren Augen herabflossen, trübte sich ihr goldener Brustschmuck“ (Nl 373,2–4)29 sowie: „Da brachen die schönen Frauen in lautes Weinen aus“ (Nl 376,4).30 Im letzten Fall ist das Personal des Epos besonders feinfühlig. Es trauert nicht wegen einer direkten Gefahr, sondern wegen einer zukünftigen Störung. Die Werbung um Prünhilt ist zwar nicht mit dem Tod der Protagonisten verbunden, doch gerät der Wormser Hof dadurch letztlich so sehr aus den Fugen, dass es den Untergang Aller zur Folge hat. Der Erzähler lässt das Gefolge des Hofes diese Konsequenz erahnen und durch Weinen kommentieren. So wird das zum Klagen zur Verfügung gestellte Personeninventar zu einem Instrument der Rezipientenführung. Das heroische Schicksal schwebt über den Wegziehenden und das wird auch für das höfische Personal emotional spürbar. Die Weltordnung ist in Gefahr. Ein weiterer Trauerauslöser ist die Zukunftsschau. In der Helgakviða I sagen die Raben Helgi ein kriegerisches Schicksal voraus. Seine Nahen reagieren kummervoll darauf: „Eines bereitete dem Verwandten der Ylfinge Furcht [Kummer] | und der Frau, die den Liebling gebar“ (HH. 5).31 Trauer ist die Antwort Grimhilds im zweiten Gudrunlied auf den prophezeiten Untergang ihrer Söhne, der ihr von ihrer Tochter als Konsequenz einer Ehe mit Atli genannt wird: „Weinend vernahm Grimhild das Wort, | das ihren Söhnen Schaden verhieß | und ihren Kindern gewaltiges Unheil“ (Gðr. II 32).32  



26 „si begunde trûren umbe ir liebez kint, | daz vorhte si verliesen von Guntheres man. | diu edele küneginne vil sêre weinen began.“ 27 „Dô man die snellen recken sach zen rossen gân, | dô kôs man viel der frouwen trûreclichen stân. | daz ir vil langez scheiden sagte in wol ir muot | ûf grôzen schaden ze komene. daz herzen niene sanfte tuot. | […] | beidenthalp der berge weinde wîp und man.“ 28 „des wurden liehtiu ougen von weinen trübe unde naz.“ 29 „si weinten al gelîche, swaz îeman gesprach. | ir golt in vor den brüsten wart von tränen sal, | die vielen in genôte von den ougen hin ze tal.“ 30 „dâ wart von schœnen frouwen michel weinen getân.“ 31 „Eitt var at angri Ylfinga nið | oc þeiri meyio, er munuð fœddi“. 32 „Grátandi Grímhildr greip við orði, | er burom síno bǫlva vætti | oc mǫgom sínom meina stórra“.

6.1 Trauern

311

Von der Vermählung lässt sie aber trotzdem nicht ab. „Sorge“ (Grp. 20)33 beziehungsweise Kummer ist die Regung Sigurds, da er erkennt, dass Gripir ihm etwas über seine Zukunft verschweigt und prophetische Träume machen Gudrun in der Völsunga saga unglücklich: „Einmal sagte Gudrun zu ihren Mägden, daß sie nicht froh sein könnte. Eine Frau fragte sie, was sie traurig machte. Sie antwortete: ‚Ich hatte unglückliche Träume‘“ (Vs 26).34 Die Träume werden im Detail von Brynhild gedeutet und Gudrun wird sowohl ihre als auch Sigurds vollständige Zukunft vorausgesagt, was Letztere kommentiert: „Übermäßiger Kummer ist es mir, solches zu wissen“ (Vs 27).35 Die Figuren handeln alle im völligen Bewusstsein um ihr zukünftiges Los, doch dienen Trauer und Vorwissen nicht dazu, Unheil zu verhindern, sondern nur dazu, Protagonisten und Rezipienten gleichermaßen auf dem Weg dorthin zu begleiten. Krisenhafte Brüche von Ordnung, Idealität und Weltverständnis der Figuren führen neben Trauerausbrüchen auch zu Passivität und Handlungsunfähigkeit. Die nichtirritierte Figur der völsungischen Welt ist aktiv. Schwindet ihre Aktivität, ist das ein Indikator für ein negatives Verlassen ihres Normalzustandes. Als Sigurd in Gunnars Gestalt bei Brynhild erscheint, ist ihre Sprachlosigkeit nicht nur ein Zeichen von Störung, sondern auch von Verstörung. Sobald das Gespräch zwischen Figuren der völsungischen Erzählwelt versiegt, ist Ärger im Verzug: „Nicht weiß ich genau, wie ich darauf antworten soll“ (Vs 29),36 sagt Brynhild. Als sie dann antwortet, geschieht das „in Kümmernis“ (Vs 29).37 Obschon der Hof nach der Ermordung Sigurds zumindest zu Teilen in Hochstimmung ist, ist diese Freude nur oberflächlich. In Wahrheit machen sich die ersten Risse im Idealgefüge des Verbandes bereits bemerkbar. Auf diese Störung reagiert Gunnar mit nervöser Unentschlossenheit: „Da ward Gunnar bekümmert in seinem Gemüte und wähnte nicht zu wissen, was ihm obläge […]; bald dies, bald das kam ihm in den Sinn“ (Vs 32).38 Der Kummer macht den Herrscher handlungsunfähig. Diese Starre expliziert ebenso das kurze Sigurdlied: „Erbittert wurde Gunnar und traurig, | er grübelte in Gedanken, saß den ganzen Tag. | Er wusste überhaupt nicht, | was ihm am geeignetsten zu tun wäre, | oder was ihm am besten zu tun wäre […]. | Vieles überlegt’ er in gleich langer Zeit“ (Sg. 13–14).39 Das Brot af Sigurðarkviðu hebt diese Diskrepanz zwischen augenscheinlicher Freude über den Mord und Gunnars Innenwelt hervor:40 „Spät am Abend war’s, viel war getrunken, | viel  

33 „angr“. 34 „Eitt sinn segir Gudrunn meyium sinum, at hun ma eigi glaud vera. Ein kona spyrr hana, hvat henna se at uglede. Hun svarar: ‚Eigi fengum ver tima i draumum.‘“ 35 „Ofrharmr er oss þat at vita slikt.“ 36 „Eigi veit ek giorla, hversu ek skal þessu svara“. 37 „af ahyggiu“. 38 „Gunnar vard nu miok hugsiukr ok þottiz eigi vita, hvat hellzt la til […], ok lek ymest i hug“. 39 „Reiðr varð Gunnarr oc hnipnaði, | sveip sínom hug, sat um allan dag; | hann vissi þat vilgi gorla, | hvat hánom væri vinna sœmst, | eða hánom væri vinna bezt, | […] | Ýmist hann hugði iafnlanga stund“. 40 Vgl. auch Haimerl 1992, S. 140–142.  

312

6. Krisenreaktionen

Freudenreden waren gesprochen worden. | Alle schliefen, die ins Bett gingen, | allein Gunnar wachte länger als alle. | Das Bein bewegt’ er, viel besprach er, | der Heervernichter überlegte, | was die beiden im Baume sagten“ (Br. 12–13).41 Die Harmonie der Welt von Sigurds Mördern ist instabil. Gunnar wird durch die Tat der Schlaf geraubt. Er ist unruhig und brütet über der Voraussage des Gjukungenunterganges durch den Raben (vgl. Br. 5).42

6.1.2 Trauern mit dem Körper Das Brot af Sigurðarkviðu stellt Gunnars Irritation durch sein unruhiges Bein dar.43 Seine innere Aufgewühltheit wird körperlich manifest. Wir haben bereits angesprochen, dass der hugr, das innere Vorgehen der Figur in Form von Trauerakten nach außen transportiert werden kann. Die Vertreter der völsungischen Welt trauern mit ihrem ganzen Körper. Wie traumatisch ein solcher Trauerakt sein kann, zeigt uns der höfische Roman. In Hartmanns Iwein wird erzählt von einem „Mädchen […], das vollkommen schön gewesen wäre, wäre es nicht durch Weinen entstellt gewesen“ (Iwein 1153–1154).44 Das Mädchen wäre ‚rîterliche‘ gewesen, hätte sie sich nicht ‚verclaget‘. Ihre höfische Fassade wurde abgetragen, indem sie nicht nur geklagt, sondern sich ‚ver‘klagt hat. Das Leiden war ein so intensiver Akt, dass es selbstzerstörerisch wurde. An anderer Stelle ist das Trauerhandeln explizit autoaggressiv: „Vor Jammer raufte sie [Laudine, die Witwe des toten Askalon] ihre Haare und zerriß die Kleider“ (Iwein 1310–1311).45 Beschrieben wird, wie „sie sich raufte und schlug“ (Iwein 1339).46 Iwein selbst verfällt auf Grund seiner Verfehlungen, die die Trennung von seiner Frau und den Verlust seines Ansehens zur Folge haben, in eine trauernde Raserei, der mehrere melancholische Attacken folgen (vgl. Iwein 3201–3260). Sigurds Kummer in der Völsunga saga ist nicht weit entfernt von dem, was wir unter dem heroischen furor verstehen. Nach dem unbereinigbaren Bruch mit Brynhild heißt es von ihm: „so schwollen vor Kummer seine Seiten, daß die Brünnenringe entzweisprangen“ (Vs 31).47 Und in der Liedstrophe: „Hinaus ging Sigurd | Voll schwerer Sorgen | Fort vom Gespräch, | […] | Daß das stahlgeflochtne | Streithemd dem Fürsten | 41 „Fram var qvelda, fiolð var druccit, | þá var hvívena vilmál talið; | sofnoðo allir, er í sæing qvómo, | einn vacþi Gunnarr ǫllom lengr. | Fót nam at hrœram fiolð at spialla, | hitt herglǫtuðr hyggia téði, | hvat þeir í bǫðvi báðir sǫgðo“. 42 Vgl. McKinnell 2014, S. 258: Das kurze Sigurdlied zeige, dass „even murderers may be deeply distressed at what they have felt compelled to do.“ 43 Auf Isenstein irritiert Hagens unsteter, umherschweifender Blick die Diener (siehe 2.2.2). Das Zucken, die unkontrollierte Bewegung ist ein sichtbarer Störungsindikator innerhalb der Hofgesellschaft. 44 „eine rîterliche maget, | enhete sî sich niht verclaget.“ 45 „von jâmer sî vürder brach | ir hâr und diu cleider.“ 46 „sî sich roufte und sluoc.“ 47 „sva þrutnudu hans sidur, at i sundr gengu bryniuhringar.“  

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6.1 Trauern

An beiden Seiten | Zu springen drohte“ (Vs 31).48 Sein Leid wird als Gewicht dargestellt. Der Held selbst trauert gewaltig in Form eines Kraftakts und einer Darbietung heroischer und überschüssiger Kraft. Er sinkt dabei nicht ein, sondern gewinnt an Volumen. Von außen wirkt Sigurds Trauern explosiv.49 Das kurze Sigurdlied berichtet vom Trauervokabular, dessen sich Gudrun bedient, als ihr Mann ermordet wird: „Die Frau stöhnte auf, der König verlor das Leben; | so kräftig schlug sie ihre Hände zusammen, | dass die Kelche in der Ecke klirrten | und die Gänse im Hof schrien“ (Sg. 29).50 Je größer der Kummer, desto größer auch die Kraft, die für die körperlichen Klagegesten aufgewandt wird. Gudruns „laute[s] Klagen“ (Sg. 30)51 hallt durch den gesamten Sitz der Gjukungen. In der mittelalterlichen Literatur ist Trauern sichtbar, hörbar und auch spürbar. Es ist aggressiv und physisch präsent. Wenn die selbstzerstörten Frauen im Iwein gezeigt werden, sieht man sofort: Die haben nicht still geweint. Anders dagegen trauert Brynhild. Als ihr der Betrug an ihr durch das Vorzeigen des Ringes sichtbar gemacht wird, heißt es ob dieser Erkenntnis: „da erbleichte sie, als wenn sie tot wäre“ (Vs 30).52 Gunnar fragt Brynhild nach Sigurds Tod: „warum verlierst du deine Farbe?“ (Vs 32)53 oder: „Warum verlierst du die helle Farbe | […]? Ich glaub dich dem Tod nahe“ (Sg. 31).54 Ihre Erschütterung ist optisch erkennbar und die Figuren der Textwelt haben ein Auge für diese körperlichen Reaktionen. Nach seinem schrecklichen Mahl beschreibt die Atlakviða Atli als „[b]leichnasig[…]“ (Akv. 35)55 und nennt das Erbleichen wahrscheinlich als körperliche Reaktion auf die Offenbarung darüber, was Atli gerade gegessen hat.56 Die Völsunga saga berichtet: „Gudrun aber holte mühsam Atem“ (Vs 32).57 Damit und mit einem „Seufzen“ (Vs 32)58 reagiert sie auf Sigurds Tod. Dies steht dem überschäumenden Trauern Sigurds gegenüber. Stattdessen artikuliert sich der Kummer dieser Figuren auf stille Weise, durch Kälte und Todesähnlichkeit. Brynhilds Reaktion auf die Krise des Königinnenstreites ist Lebensverneinung – „Nach diesem Gespräche legte sich Brynhild zu Bett; die Kunde kam vor König Gunnar, daß sie krank wäre; […] sie antwortete nichts und  



48 „Ut geck Sigurdr | anspialle fra | […] | ok hnipnade, | sva at ganga nam | gunnarfusum | sundr of sidur | serkr iarnofinn.“ 49 Vgl. Anderson 1982, S. 151: „This is a rather familiar trait among epic heroes: when enraged they become swollen and even, as in the case of the Irish hero Cuchulain, grossly distorted.“ 50 „Kona varþ ǫndo, enn konungr fiorvi; | svá sló hon svára sinni hendi, | at qváðo við kálcar í vá | oc gullo við gæss í túni.“ 51 „giallan grát“. 52 „Þa faulnar hun, sem hun daud vere.“ 53 „hvi hafnar þu þinum lit?“ 54 „Hví hafnar þú inom hvíta lit | […]? Hygg ec, at feig sér.“ 55 „neffǫlom“. 56 Vgl. Krause 2004, S. 424 Anm.: „wohl ein Hinweis darauf, wie er während ihrer Worte erbleicht.“ 57 „Enn Gudrun blęs mędiliga audunne.“ 58 „andvarp“.  



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6. Krisenreaktionen

lag, wie wenn sie tot wäre“ (Vs 31)59 – und tatsächlich ist der Kummer, nicht nur im übertragenen Sinne, weil er ein Konfliktkatalysator ist, sondern auch im eigentlichen Sinne, der Gesundheit abträglich: Sigrun ist durch Helgis Tod so gezeichnet, dass ihr das das Leben verkürzt: „Sigrun lebte aus Kummer und Schmerz nur kurz“ (HH. II Prosa nach 51).60 Das Nibelungenlied lässt Kriemhilt, da sie vom Tod ihres Mannes erfährt, das komplette Spektrum an Trauerreaktionen durchexerzieren. Zunächst wird sie leblos, um dann aber dem Kummer mit aller Gewalt nachzugeben, was bis zur körperlichen Schädigung geht: „Da sank sie ohnmächtig zur Erde, so daß sie nicht mehr sprechen konnte. Man sah die schöne unglückliche Frau am Boden liegen. Dann aber fand der Ausbruch ihres Schmerzes keine Grenzen mehr: Da schrie sie nach ihrer Ohnmacht so laut auf, daß die ganze Kemenate davon widerhallte. […] [I]hr schoß vor tiefem Schmerz Blut aus dem Mund“ (Nl 1009,1–1010,2).61 In der Guðrúnarkviða I wird dagegen beschrieben, dass Gudrun in der äquivalenten Situation bewusst vom zuvor besprochenen Repertoire an Trauergesten absieht:62 „Einst war’s, dass Gudrun zu sterben wünschte, | als sie kummervoll bei Sigurd saß. | Sie weinte nicht noch schlug sie die Hände, | noch klagte sie, wie andre Frauen“ (Gðr. I 1, vgl. Gðr. II 11).63 Ihr Kummer verleiht ihr einen Todeswunsch, doch verzichtet sie auf die damit verbundene Autoaggression, indem sie eben keinen Gebrauch vom üblichen körpersprachlichen Trauervokabular macht. Gudrun ist „harðhuguð“ (Gðr. I 5), ‚hartgesinnt‘.64 Anstatt wie Sigurd zuvor explosiv zu trauern, richtet sich der durch die Krise erzeugte heroische Kräfteüberschuss bei Gudrun nach innen. Sie explodiert nicht, sie implodiert: „Sie weinte nicht wie andere Frauen, aber sie zersprang fast vor Schmerz“ (Br. Abschlussprosa)65 oder: „doch Gudrun konnte nicht weinen, | sie war so betrübt, sie hätt’ zer 

59 „Eptir þetta tal legzt Brynhilldr i reckiu, ok komu þesse tidende fyrir Gunnar konung, at Brynhilldr er siuk. […] hun svarar engu ok ligr, sem hun se daud.“ 60 „Sigrún varð scammlíf af harmi oc trega.“ 61 „Dô seic si zuo der erden, daz si niht ensprach. | die schœnen vreudelôsen man dô sach. | Kriemhilde jâmer wart ummâzen grôz. | do erschrê si nâch unkrefte daz al diu kemenâte erdôz. | […] | daz bluot ir ûz dem munde von herzen jâmer brast.“ 62 Vgl. Sprenger 1992, S. 74: „Sie, die Schmerzversteinerte, kann weder – als Zeichen der Trauer – mit den Händen schlagen noch jammern. Die Szene ist in hochmittelalterlichem höfischem Stil gestaltet; Guðrún ist umgeben von einem Kreis vornehmer Männer und Frauen. Wie der Halbvers […] zeigt, gehört das Händeschlagen (und Klagen) zur Äußerung von Trauer bei Frauen; man könnte versucht sein, hier von einer Art Zeremoniell zu reden. Bei Guðrún nun wird das Fehlen dieser Trauergebärde und das Nichtäußern von Schmerz hervorgehoben. Bezogen auf die anwesende vornehme Gesellschaft, die zweifellos gewohnt war und erwartete, daß man bei Trauer auf die beschriebene konventionelle Art reagierte, fällt sie damit aus ihrer Rolle (wodurch natürlich die Größe ihres Schmerzes markiert wird).“ 63 „Ár var, þaz Guðrún gorðiz at deyia, | er hon sat sorgfull yfir Sigurði; | gerðit hon hiúfra né hǫndom slá, | né qveina um sem konor aðrar.“ 64 Carolyne Larrington schlägt die Interpretation als ‚traumatisiert‘, „perhaps as trauma“ (Larrington 2008, S. 13) vor. 65 „Hon grét eigi sem aðrar konor, enn hon var búin til at springa af harmi.“  







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springen können“ (Gðr. I 2).66 Um den herausragendsten aller Helden muss auch ungewöhnlich getrauert werden, weswegen sich das Leid seiner Witwe nicht im Rahmen der sonstigen Klagekonventionen bewegt.67 Sigurds Exorbitanz hallt noch in seinem Tode wider und manifestiert sich in Gudruns untypischer Reaktion sowie darin, dass durch sein Sterben letztlich das Gjukungengefüge unwiederbringlich destabilisiert wird.

6.1.3 Trauern durch die Umwelt Neben der Beschreibung körperlicher Veränderungen verfügen die Verfasser heroischer Erzählungen über ein weiteres Mittel, um die Trauer ihrer Figuren innerhalb der Erzählung optisch greifbar zu machen, nämlich indem sie sie ihren Kummer an ihrer Umwelt ausleben lassen. Das Leid der Figuren wird nicht ausschließlich an deren Körper inszeniert, sondern durch deren Handeln und Einfluss auf das Umfeld. Brynhilds Konsequenz auf ihre Unzufriedenheit mit der Sigurdsituation ist die bewusste Absage an die Harmonie des Hofes – was wir heute als passiv-aggressives Verhalten beschreiben würden. Zu Gunnar sagt sie: „Kümmere dich nicht darum, denn nimmer siehst du mich fortan fröhlich in deiner Halle, weder trinken noch brettspielen, noch verständig reden, nimmer siehst du mich mit Gold gute Gewänder überspinnen, noch dir Rat erteilen“ (Vs 31).68 Gesprochen wird von demonstrativen Akten höfischer Freude: Trinken, Spielen, Stickerei und Konversation. Dies alles versagt Brynhild nun ihrem Umfeld.69 Sie wird ein höfischer Makel, wobei sie nicht unhöfisch wird, sondern antihöfisch. Als Figur des Hofes und als Teil des Kollektivs wird sie unfunktional und ist nicht länger bereit, die Leistungen zu erbringen, die von ihr erwartet werden. Wenn sie das dann doch tut, wird darin ihr furor sichtbar. Sie handelt zum Trotz und ihr heroischer Kräfteüberschuss lässt sie dabei die höfischen Requisiten demontieren:70 „Sie richtete sich auf und begann so heftig zu weben, daß das Ge 

66 „Þeygi Guðrún gráta mátti, | svá var hon móðug, mundi hon springa.“ 67 Ulrike Sprenger spricht von einer Entsprechung zur altnordischen Trauerdarstellung der Jungfrau Maria (vgl. Sprenger 1992, S. 3–5). 68 „Hird eigi þat, þviat alldri ser þu mik glada siþan i þinne haull eda drecka ne tefla ne hugat męla ne gulle leggia god klędi nę ydr rad gefa.“ 69 Vgl. Althoff 2014, S. 278: „Auch die Traurigkeit hatte in diesem System [der mittelalterlichen symbolischen Kommunikation] eine wichtige Funktion: Tristitia oder gar tristitia magna, öffentlich gezeigt, signalisierte eine Trübung von Beziehungen, hatte die Funktion einer ernsten Warnung, die ausgesandt wurde, bevor man sich entfernte und zu den Waffen griff. Konkretisiert wurde sie durch die Verweigerung jener heiter-leutseligen Stimmung, mit der sich die Mitglieder einer Gruppe gegenseitig den guten Zustand ihrer Beziehungen testierten.“ 70 Vgl. Larrington 2012, S. 257: „Brynhildr […] joins the household only under duress; […] her rupture from the courtly world is signalled in ch. 29 [31] by her rejection of the traditional courtly female occupation“.  





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webe zerriß“ (Vs 31).71 Diese Form von Brynhilds Krisenreaktion nimmt Sigurd als „zorniges Erbeben“ (Vs 31)72 wahr und deutet dies korrekt als ein Vorzeichen für die kommende Katastrophe: „Brynhild wird sterben“ (Vs 31),73 schlussfolgert er. Doch gerade die maßvolle Auseinandersetzung mit dem Weben wirkt für Gudrun nach Sigurds Tod wie eine Beschäftigungstherapie. Da sie sich bei Thora in der Halle König Halfs aufhält, heißt es: „Die stellte ihr einen Webstuhl auf, half ihr beim Einschlag des Gewebes und wirkte daran viele Heldentaten […]. Damit ergötzten sie sich, und Gudrun tröstete sich ein wenig über ihr Leid“ (Vs 34,74 vgl. Gðr. II 14–16). Die Wiederaufnahme des Handwerks, des für Frauen üblichen höfischen Alltagshandelns, hat heilsame und tröstende Wirkung auf die Trauernde.75 Nachdem wieder mit dem Weben begonnen wurde, beginnt sich auch die Ordnung langsam wiederherzustellen und die gesamthöfische Harmonie76 kann den Seelenzustand der Einzelnen korrekt darstellen.77 Andersherum ist es Grimhilds erste Reaktion, mit dem Weben aufzuhö-

71 „Hun settizt upp ok slo sinn borda, sva at sundr geck“. 72 „hrollr“. 73 „mun Brynhilldr deyia.“ 74 „hun slo borda yfir henne ok skrifade þar a maurgh ok stor verk […]. Slikt var þeirra gaman ok huggadizt Gudrun nu nockut harms sins.“ 75 Vgl. Larrington 2012, S. 258: „Denmark’s royal women share an understanding of appropriate courtly behaviour with that imagined by Vǫlsunga saga for the southern domains of the Gjúkungs.“ Larrington argumentiert, dass sich gemäß der Vorlage der respektiven Stelle im zweiten Gudrunlied eine Gegenüberstellung südlichen und nördlichen Stils zeigen würde. Das Webhandwerk, die höfischen Tätigkeiten, würden vom Lied als südlich identifiziert und vom dänischen Hof imitiert werden, um Gudrun einen Zeitvertreib zu bieten (vgl. Larrington 2012, S. 257–258). Die Alterität zwischen südlicher und nördlicher Tradition werde noch immanenter beim Auszug der Gjukungen zur Rückholung Gudruns: „Denmark […] remains identifiable a place of security: Sigurðr’s childhood home is where Guðrún goes to find sanctuary, until Grimhildr’s machinations and a mixed party of foreign southerners, Langbarðar, Frakkar ok Saxar, drag her back south – a long way, twelve days’ travel south – back to the unidentified territories where Buðli, Atli, Jǫrmunrekkr, Iónakr live. The Langbarðar (Lombards) come from Guðrúnarkviða II, st. 19, the second half of which is cited in the saga. The Frakkar and Saxar, the French and Saxon Germans, represent the vectors of cultural innovation to Norway and Iceland: the French romance of Hákon’s translation programme, the Hanseatic German version of southernness epitomised by Þiðreks saga. These suðrona Sali (southern halls), which Guðrún was earlier able to contain and distance by representing them in her embroidery, are shown to be perilous places where northern heroic behaviour does not thrive“ (Larrington 2012, S. 261). 76 Vgl. Cronan 1985, S. 183: „The magnificence and might valued by her [Gudrun’s] culture are the subjects of the pictures she and Þóra embroider.“ 77 Eine Entsprechung hierzu haben wir im mythischen Bereich: Als nach den weltzerstörerischen Ereignissen des Eschatons bei den Ragnarök wieder Ruhe in die Welt einkehrt, berichtet Snorri über die überlebenden und wiedergekehrten Götter: „Dann finden sie im Gras die Goldtafeln, die die Asen besessen haben“; „Þá finna þeir í grasinu gulltǫflur þær er Æsirnir hǫfðu átt“ (Gylf 53). Matthias Teichert betont nun, dass es sich bei den ‚gulltǫflur‘, den Goldtafeln, nicht um Schrifttafeln, sondern um Brettspieltafeln oder eben Spielsteine handelt (vgl. Teichert 2013, S. 133–134; anders dagegen Birger Nerman, der sie als Goldbrakteaten wahrnimmt, vgl. Nerman 1963, S. 123–125). Die Passage reflektiert die Strophe 8 der Völuspá, da die Götter sich mit Brettspiel unterhalten, bis sie der Steine verlustig gehen: „Vergnüg 















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ren, da sie von Gudruns Aufenthaltsort erfährt: „Sie warf das Tuch weg und rief die Söhne“ (Gðr. II 17).78 Ihr aktives Handeln durchbricht das statische Ruhen am Hof. Signalisiert wird das durch das Beenden von Stabilität markierenden, höfischen Alltagstätigkeiten. Ein Aspekt von Brynhilds Reaktion auf die Krise ist, das Reden zu versagen: „nimmer siehst du mich fortan […] verständig reden, […] noch dir Rat erteilen“ (Vs 31).79 Sie straft ihr Umfeld mit Schweigen und entfernt sich selbst aus dem konstanten, Funktionalität signalisierenden Hofdialog. Nach der Offenbarung des Betruges an ihr heißt es: „Brynhild ging heim und sprach kein Wort den Abend über“ (Vs 30).80 Für die übrigen Figuren ist das ein lesbares Zeichen. Sie erkennen das als Kummer. In scheinbarer Unwissenheit fragt Gudrun – obwohl sie es eigentlich wissen sollte – Sigurd: „Warum ist Brynhild so unfroh?“ (Vs 30).81 Gudrun hat an dieser Stelle zwei Funktionen: Sie nimmt zum Einen die Rolle der Provokateurin ein, zum Anderen hat sie aber auch die Funktion, das Trauern Brynhilds anzusprechen, zu offenbaren und innerhalb der Narration zum Gespräch zu machen. Weiter heißt es: „Am Morgen saßen sie in ihrer Kammer, und Brynhild war schweigsam“ (Vs 30).82 Die Norm ist der vergnügte Dialog. Das konstante Gespräch zeigt an, dass zwischen den Figuren alles in Ordnung ist, wie etwa beim kurzen Einschub der Begegnung Sigurds mit seiner Mutter („sie redeten miteinander und tranken“, Vs 15)83 oder mit seinem Onkel Gripir („Sie begannen zu  



ten sich beim Brettspiel auf dem Hof, sie waren heiter, | […] | bis drei Töchter der Riesen kamen“; „Teflđo í túni, teitir vóro, | […] | unz þriár qvómo þursa meyiar“ (Vsp. 8), ebenso wie deren Rückerlangung in Strophe 61: „Dort werden sie wieder die wunderbaren | goldenen Tafeln im Gras finden, | die sie in Urzeittagen besessen hatten“; „Þar muno eptir undrsamligar | gullnar tǫflor í grasi finnaz, | þærs í árdaga áttar, hǫfðo“ (Vsp. 61). Indem die Brettspielsteine wiedergefunden und somit das Spiel, der Luxus und die angenehme Zerstreuung wiederaufgenommen werden, wird eine Rückkehr in harmonische Idealzustände signalisiert. Vgl. Teichert 2013, S. 134: „Vereinfacht gesagt deutet diese Forschungsrichtung die goldenen Spielfiguren als Chiffren für das Goldene Zeitalter der primordialen Anfänge, ihren Raub durch die Riesenmädchen als Verlust derselben und ihr Wiederauffinden nach den Ragnarǫk als Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters, also als Realisierung einer typischen Drei-Stufen-Dialektik mit den Etappen Blüte – Verfall – Aufstieg zu neuer Blüte.“ Nun weist Teichert aber auf eine Zyklisierung des Unheils hin, die durch das Wiederfinden der Tafeln markiert werden würde: „Dies ist die eigentliche Pointe des Wiederauftauchens der goldenen Spielsteine nach den Ragnarǫk: Es symbolisiert die zyklische Zeitkonzeption der nordischen Mythologie, deren postapokalyptische Neue Welt im Gegensatz zur christlichen keine qualitativ völlig neue Existenzform darstellt, sondern nur einen ‚Reboot‘, den Beginn eines neuen Zyklus im Kreislauf ewiger Wiederkehr“ (Teichert 2013, S. 148). Auch Gudruns kurzes Ausruhen bei Thora in Dänemark und die Rückkehr in den höfischen Idealalltag repräsentieren nur ein vorübergehendes harmonisches Plateau auf dem ansonsten bergab führenden Weg in den Niedergang. 78 „hon brá borða oc buri heimti“. 79 „alldri ser þu mik […] hugat męla […] nęydr rad gefa.“ 80 „Brynhilldr for heim ok męllti ecki ord um kvelldit.“ 81 „Hvi er Brynhilldr sva ukat?“ 82 „Ok um morginninn satu þer i skemmu sinne, ok var Brynhilldr hliod.“ 83 „Talaz nu vid ok drecka.“  











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6. Krisenreaktionen

sprechen und vieles zu plaudern“, Grp. 6).84 Wenn die Rede versiegt, dann signalisiert das eine Störung des idealen Gesellschaftszustandes. Brynhilds Schweigen bringt Gudrun dann auch zur aktiven Aufforderung zum Fröhlichsein: „Sei vergnügt, Brynhild – betrübt dich unser Gespräch? Oder was steht deiner Freude entgegen?“ (Vs 30).85 Der Vertreter des Verbandes ist verpflichtet, der Hochstimmung jederzeit durch seine Laune gerecht zu werden. So fordert Gudrun ihre Schwägerin auf: Vergnüge dich, repräsentiere unser Lebensgefühl, handle aktiv gegen dein passives Schweigen. Brynhilds ‚silent treatment‘ erstreckt sich auch über den Ehedialog mit Gunnar. Er versucht sie auf ihren Kummer anzusprechen, „[a]ber sie antwortete nichts“ (Vs 31).86 Gunnar „versuchte auf manche Weise, ihr Worte abzugewinnen, konnte aber keine Antwort bekommen“ (Vs 31).87 Högni ergeht es ebenso (vgl. Vs 31). Als Sigurd dann aufgesucht wird, um die Situation mit Brynhild zu entschärfen, ist dieser vom Verhalten Brynhilds infiziert: „Da ward Sigurd aufgesucht und gebeten, zu ihr zu gehen. Der erwiderte kein Wort“ (Vs 31).88 Das Gespräch am Hof der Gjukungen kommt zum Erliegen. Letztlich spricht Sigurd mit Brynhild und erfragt den Grund ihres Verhaltens: „Warum redest du nicht mit Männern – was betrübt dich denn?“ (Vs 31).89 Nach der gescheiterten Versöhnung antwortet Sigurd Gunnar uneindeutig: Dieser fragt, „ob er wisse, welcher Kummer sie quäle, und ob sie ihre Sprache wieder habe. Sigurd sagte, daß sie sprechen könne“ (Vs 31). Die Wiederaufnahme des Gespräches bedeutet aber keinesfalls eine Wiederherstellung der Harmonie. Eine Schlichtung konnte nicht erreicht werden. Als Brynhild dann ihren Mann wieder mit sich in Dialog treten lässt, fordert sie Sigurds Tod (vgl. Vs 31). Das Miteinandersprechen ist nun nicht mehr länger Zeichen für bestehende Stabilität, sondern der Weg zu Sigurds Untergang. Ebenso wird die Existenz einer Krise dadurch inszeniert, dass die Figuren beginnen, sich des höfischen Luxus zu enthalten. Von Brynhild heißt es: „manchen Tag trank sie weder Met noch Wein, sie hat der Götter Zorn empfangen“ (Vs 31).90 Eine ihrer Reaktionen auf ihren Kummer ist die Nichtteilnahme am gesellschaftlichen Miteinander, womit sie beginnt, das Kollektiv zu destabilisieren. So handelt auch Gudrun in der Atlakviða bei der Ankunft ihrer Brüder. Dass Verrat im Verzug ist, ist ihr bewusst. Das Wissen von kommendem Unheil wird durch Enthaltsamkeit dargestellt: „Ihre Schwester erfuhr sofort, dass sie zum Saal kamen, | […] vom Bier war sie nicht [bzw. wenig] betrunken: | ‚Verraten bist du, Gunnar, | […] [g]eh schnell aus der Hal 







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„Mælo námo oc mart hiala“. „Ver kat, Brynhilldr. Angrar þik okkart vidrtal, eda hvat stendr þer fyrir gamne?“ „Enn hun svarar engu“. „leitar margha vegha malsenda vid hana ok fęr ecki af um svaurinn.“ „Ok er hittr Sigurdr ok bedinn at finna hana. Hann svarar enghu“. „Hvi męlęr þu eigi vid menn, eda hvat angrar þik?“ „maurgh degr drack hun eigi miod ne vin, ok hefir hun fengit goda reidi.“

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le!‘“ (Akv. 15).91 Das Lied geht soweit, Betrunkenheit, also das Aufgehen in Gelage und Luxus, als Normalzustand darzustellen. Eine Abweichung davon ist ein Krisenmerkmal. Die konstante Trunkenheit ist Teil der Inszenierung heroischer Hochstimmung am Atlihof. Die unbetrübte Figur feiert und trinkt andauernd. Ist das nicht länger gegeben, steht eine Katastrophe bevor. Gleichermaßen verhält es sich mit dem Unterlassen von alltäglichen Normaltätigkeiten. Gudrun berichtet Atli vom Tod seiner Söhne, indem sie ihm sagt, was diese nun gezwungenermaßen nicht mehr machen können. Der Atlihof verliert in ihnen zwei Idealitätsträger: „Jetzt rufst du nicht mehr an deine Knie | Erp und Eitill, bierfröhlich beide; | jetzt siehst du nicht mehr mitten im Saal | des Goldes Verteiler Speere schäften, | Mähnen schneiden und Pferde treiben“92 (Akv. 37).93 Träume lassen Gudrun schon im Vorfeld über ihren vorausgeahnten Verlust trauern und dieser Kummer wird in Kontrast gestellt zu der eigentlichen herrschaftlichen Pracht, die sie umgibt. Sie wird unzugänglich für die höfische Freude:  



Der Saal war innen bemalt und reich mit Silber geschmückt, Teppiche waren ihnen unter die Füße gebreitet, und alle dienten ihnen; sie hatten mancherlei Spiele. Gudrun aber war wortkarg. Brynhild sprach: ‚Warum kannst du dich nicht freuen? Tu nicht also, sondern wir wollen uns allesamt vergnügen (Vs 26).94

Ihre Trauer schleicht sich in das höfische Milieu ein und verdirbt die Hochstimmung. Die von Brynhild dagegen vorgeschlagene Ablenkung, nämlich über ruhmreiche Könige zu sprechen, scheitert, da das Gespräch wieder doch nur unweigerlich auf Sigurd zufließt, der nach Brynhilds Aussage Gudruns Brüder „weit übertrifft“ (Vs 26).95

91 „Systir fann þeira snemst, at þeir í sal qvómo, | […] bióri var hon lítt druccin: | ‚Ráðinn ertu nú, Gunnarr, | […] hǫll gacc þú ór snemma!“ 92 Ferner zeigt uns die Passage, wie der männliche Alltag in der Völsungensage aussieht. Wie der weibliche ist auch dieser nicht tatenlos, sondern angefüllt mit martialischem Handwerk und Kampfvorbereitungen, wie etwa hier der Beschäftigung mit Speeren und Pferden. Die Heimirepisode gewährt weiterhin Einblick in den Idealalltag des Helden beziehungsweise des ritterlichen Protagonisten: Alsvinn steht allen voran „an ritterlichem Anstand“; ist „kurteisaztr“ (Vs 24). „Sie unterhielten sich damit, ihre Waffen zuzurüsten, hölzerne Pfeilschäfte zu schnitzen und mit ihren Habichten zu beizen“; „Þat haufdu þeir ser at skemtan at bua vopn sin ok skepta aurvar sinar ok beita haukum sinum“ (Vs 24). „Alsvinn […] schäftete seine Pfeile“; „Alsvidr […] skepte aurvar sinar“ (Vs 25). Heroischer und ritterlicher Alltag ist konstante Auseinandersetzung mit dem Kampf und der Jagd, manchmal auch in spielerischer Form: „Dort spielten Männer draußen“; „Þar leku menn ute“ (Vs 24). In seiner Zeit daheim übt der Held das, was er auf dem Kriegszug praktiziert (Siehe 5.1.2). 93 „Kallarðu síðan til kniá þinna | Erp né Eitil, ǫlreifa tvá; | séraðu síðan í seti miðio | gullz miðlendr geira scepta, | manar meita né mara keyra.“ 94 „Salrinn var skrifradr innann ok miok silfri buinn. Klęde voru breidd undir fętr þeim, ok þionudu allir þeim. Þęr hofdu marghsskonar leika. Gudrun var faord. Brynhilld męllte: ‚Hvi meghe þer eigi gledi bella? Gior eigi þat. Skemtum oss allar saman ok rędum oss allar saman‘“. 95 „miok af þeim bera“.

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6. Krisenreaktionen

Das Thema, das Gudrun also trauern lässt, ist so unausweichlich im Kleinen wie der fatale Ausgang der Erzählung selbst im Großen. Gudrun führt das Gespräch zurück zur „große[n] Unruhe“ (Vs 26),96 die sie durch ihre Träume erfährt. Trauer wird bisweilen so physisch präsent, dass sie von der tierischen Umwelt repräsentiert und widergespiegelt wird. Als Sigurd am Heimirhof beim Anblick Brynhilds in Liebeskummer versinkt, weitet sich sein Gemütszustand auch auf seine Tiere aus: „Er ging in die Halle und wollte keine Unterhaltung mit den Männern haben. Da sprach Alsvinn: ‚Warum bist du so schweigsam? Dies dein Gebaren härmt mich und deine Freunde – warum kannst du nicht fröhlich sein? Deine Habichte lassen den Kopf hängen und ebenso dein Hengst Grani‘“ (Vs 25).97 Sein Pferd nimmt bei seiner Ermordung abermals menschliche Züge an und trauert zusammen mit Gudrun: „Laut schnob Grani, als er seinen Herrn verwundet sah. Da redete ich [Gudrun] mit ihm wie mit einem Menschen, er aber senkte das Haupt zur Erde – er wußte, daß Sigurd gefallen war“ (Vs 34)98 sowie: „Weinend ging ich, mit Grani reden, | mit feuchten Wangen, das Pferd fragt ich nach Neuem; | da ließ Grani den Kopf hängen, berührt’ damit das Gras; | das Pferd wusst’s: Sein Herr lebte nicht mehr“ (Gðr. II 5).99 Das Pferd, von dem Gudrun die Todesbotschaft erhält, gibt ihre eigene Stimmung wieder, indem es selbst mit einem gewissen Trauergestus operiert, der später auch von Gunnar benutzt wird, um körpersprachlich Scham und Trauer wiederzugeben: „Das Haupt neigte Gunnar“ (Gðr. II 7).100 Als Högni Gudrun im Fragment eines Sigurdliedes von der Tötung ihres Mannes berichtet, benutzt er dasselbe Bild: „den Kopf hängt nun das graue Pferd über den toten König“ (Br. 7).101 Seine Aussage spricht sowohl vom Triumph über Sigurd als auch von der Folge der Tat. Die Konsequenz ist das trauernde Pferd, durch das der Missstand sichtbar gemacht wird. Anstatt von Gefühlen zu sprechen, greift der Text auf die Technik zurück, Kummer bildhaft auszudrücken. Als sich die Versteinerung Gudruns in der Guðrúnarkviða in fyrsta schließlich löst, erstreckt sich ihre Trauer nicht nur über ihren ganzen Körper, sondern wird auch von den Gänsen im Hof aufgefangen und weitertransportiert: „Da sank Gudrun gebeugt aufs Kissen; | ihr Haar löste sich, die Wange errötete, | ein Regentropfen fiel ihr aufs Knie. | Dann weinte Gudrun, Gjukis Tochter, | so dass ihre Tränen niedertropften, | und die Gänse schrien dazu  



96 „mikillar ahyggia“. 97 „Kemr i haullina ok vill aunga skemtan vid menn eigha. Þa męllti Alsvidr: ‚Hvi eru þer sva falatir? Þessi skipa þin harmr oss ok þina vine. Eda hvi mattu eifi ględi hallda? Haukar þinir hnipa ok sva hestrin Grane.‘“ 98 „Mikinn gny giorde Grane, þa er hann sa sarann sinn lanardrottinn. Siþan rędda ek vid hann, sem vid mann, enn hann hnipte i iordina ok visse, at Sigurdr var fallinn.“ 99 „Gecc ec grátandi við Grana rœða, | úrughlýra, ió frá ec spialla; | hnipnaði Grani þá, drap í gras hǫfði; | iór þat vissi: eigendr né lifðot.“ 100 „Hnipnaði Gunnarr“. 101 „gnapir æ grár iór yfir gram dauðom“.

6.1 Trauern

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im Hof, | herrliche Vögel, die die junge Frau hatte“ (Gðr. I 15–16).102 Gudruns Kummer wandert von innen nach außen, von ihrem sich öffnenden Haar, zu den wiederdurchbluteten Wangen, über das Weinen und letztlich steckt sie mit dem Klagen auch die Tiere an.103 Die Umwelt stimmt sich auf ihre Trauer ein. Wenn die Trauer vom Einzelnen ausgelagert wird, dann spüren das nicht nur die Tiere, sondern auch das gesamte Kollektiv. In Kriemhilts Klagen im Nibelungenlied stimmt ihr Hofgesinde mit ein: „Zusammen mit ihrer lieben Herrin klagte und schrie die gesamte Dienerschaft“ (Nl 1013,1–2).104 Der Verband empfindet einmütig über den Verlust des Herrn und artikuliert darüber ein kollektives Gefühl. In der Atlakviða geht das so weit, dass das Gefolge anstatt des Herren trauert, nachdem Gudrun den Mord an ihren Kindern öffentlich gemacht hat: „Lärm entstand auf den Bänken, heft’ges Geschrei der Männer, | Getöse zwischen edlen Tüchern, der Hunnen Söhne weinten“ (Akv. 38).105 Inszeniert wird diese Reaktion nicht nur durch das offensichtliche Weinen der Männer, sondern vor allem durch die entstehende Geräuschkulisse. Trauern ist laut und verbunden mit in der kompletten Halle spürbarer Unruhe. Es sind Bänke und Wandbehänge, also abermals Bereiche höfischen Luxus’ und von Idealität, in deren Zusammenhang der laute Kummer am deutlichsten greifbar ist. Das Resultat daraus, die Katastrophe gerade an diesen Zentren von Macht- und Prachterleben stattfinden zu lassen, ist Fallhöhe: Wo es zuvor schön war, ist es das nun nicht mehr. In ihrem Leid wirkt Brynhild bewusst auf die Hofharmonie ein. Sie macht ihren Kummer hörbar und lässt ihn durch die Halle der Gjukungen wandern, wodurch sie zum aktiven antihöfischen Störfaktor wird:106 „sie gebot ihre Kammertüren aufzuschließen,  

102 „Þá hné Guðrún hǫll við bólstri; | haddr losnaði, hlýr roðnaði, | enn regns dropi rann niðr um kné. | Þá grét Guðrún, Giúca dóttir, | svá at tár flugo tresc í gognom, | oc gullo við gæss í túni, | mœrir fuglar, er mær átti.“ 103 Vgl. Sprenger 1992, S. 12 f.: „Da die Gänse Guðrún gehören, läßt sich die Reaktion der Tiere auch im Sinne ihres Mitleidens mit Guðrún auffassen […]. Empfindsame – weinende – Tiere gibt es vor allem in der späteren Literatur. Das Motiv des Mitklagens von belebter und unbelebter Kreatur ist kaum einem älteren Lied zuzuschreiben“. Vgl. Kramarz-Bein 2002, S. 186 f. 104 „Allez ir gesinde klagete und schrê | mit ir lieben frouwen“. 105 „Ymr varð á becciom, afkárr sǫngr virða, | gnýr und guðvefiom, gréto born Húna“. 106 Vgl. Larrington 2012, S. 258 f.: „once Brynhildr knows the truth about her deception, she utters a number of performatives – largely harmtǫlur (tallying-up of grief) – which, although they ostensibly stem from uncontrollable emotion, are in fact staged performances, produced with a keen eye for effect. Thus although Gunnarr tries to placate her privately – and Guðrún and Sigurðr also troop into Brynhildr’s bedchamber – she takes her attacks on her former lover into public space“. Brynhilds Trauerakte sind wohlüberlegte Inszenierungen und unterscheiden sich demnach nicht viel von den demonstrativen Handlungen der mittelalterlichen Politik (siehe 5.1.5). Vgl. Larrington 2008, S. 11: „Her declaration is public; she utters it outside, speaking ‚bert‘ (openly). In the case of this verse, and in VS Brynhildr’s ‚harmtölur‘ are clearly performative in nature, for they ultimately operate to bring about Sigurðr’s death, to make concrete the alternative to which she gives voice here. Initially after the quarrel with Guðrún she ostentatiously retreats to her bed and refuses to speak, but once she decides on her course of action her complaints increasingly become public performances. Gunnarr tries to placate her privately, […] but  

























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6. Krisenreaktionen

damit man ihre Wehklage weite Wege hören möchte. Da hob Brynhild laut Klage an und man hörte sie durch die ganze Burg“ (Vs 31).107 Ihr Handeln zeigt Wirkung, denn Brynhilds Klagen ist ansteckend und infiziert die Gesellschaft der Gjukungen. Der Kummer erstreckt sich letztlich bis auf die Dienerinnen ihrer Rivalin: „Gudrun fragte ihre Kammermägde, warum sie so unfroh und betrübt wären“ (Vs 31).108 Brynhilds Leid wird im Herrschaftssitz der Gjukungen omnipräsent: „Das ist ein unseliger Tag, unsere Halle ist voll von Harm“ (Vs 31),109 sagt eine der Dienerinnen Gudruns. In der Guðrúnarkviða I ist das Gefühl von Trauer und Verlust so universell, dass es von Gudrun auf den Rest des Personeninventars abfärbt und eine Reihe von leidenden Figuren aus dem Nichts beschwört, von denen jede ihre eigene Trauergeschichte zu erzählen hat und damit ihren eigenen Kummer mit dem Gudruns vergleichen will. Vorgestellt wird das als Tröstungsversuch: „Frauen und Männer kamen, um sie zu trösten. Aber das war nicht leicht“ (Br. Abschlussprosa).110 Dabei werden Figuren mit unterschiedlicher Leidensfähigkeit vorgeführt, die alle eine Reihe von Verlusten erlitten haben (vgl. Gðr. I 4, 6–10), welche aber nicht mit dem Gudruns in Relation gesetzt werden können. Das Gudrunlied stellt uns den Trauervergleich als scheiternden Versuch vor, Gudruns Leid zu lindern. Ihr Verlust ist individuell und den toten Sigurd kann man nicht mit anderen Gefallenen vergleichen, egal wie viele es sind.111 Was ihre Erstarrung letztlich löst ist die von ihrer Schwester Gullrönd vorgeschlagene Konfrontationstherapie durch das Vorzeigen von Sigurds totem Körper.112 Das, was Gudrun in ihrem Leid gefangenhält, „die Leiche des Fürsten“ (Gðr. I 11),113 über der sie erstarrt ist (vgl. Gðr. I 1, 5, 11), ist nun das Mittel um den Kummer zu lösen. Getrauert wird mit dem Körper und es ist wiederum ein Körper, die Leiche Sigurds, der offenbart – sichtbar gemacht – werden muss und als Mittel zur Trauerbewältigung eingesetzt wird: „Sie [Gullrönd] riet, die Leiche des toten Fürsten zu enthüllen. | Sie zog das Tuch von Sigurd | und schob ein Kissen vor die Knie der Frau: | ‚Blick auf den Geliebten, drück  



Brynhildr takes her attack into public space […]; her loud and public lamentation is meant to coerce her husband.“ 107 „bad sva luka skemmudyrum, ath langa leid mętte heyra hennar harmtaular.“ 108 „Gudrun spyrr skemmumeyiar sinar, hvi þęr se sva ukatar eda hryggar“. 109 „Þetta er utimadagar. Var hǫll er full af harme.“ 110 „Til gengo bæði konor oc karlar at hugga hana; enn þat var eigi auðvelt.“ 111 Vgl. von See/La Farge et al. 2009, S. 228: „Obwohl Giaflaug mit achtzehn verstorbenen Familienmitgliedern den – in absoluten Zahlen gemessen – größten Verlust hinzunehmen hat, während Herborg acht Verwandte und Gudrun allein Sigurd betrauert, wird ihr über die strukturelle Aufbereitung des ‚Wettklagens‘ (Giaflaug ist die erste Klagende und spricht auch nur eine einzige Strophe) dennoch das geringste Leid aller Beteiligten zugeschrieben […]. Die Anzahl der Betrauerten steht somit im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Intensität des Leids, das sich weder beziffern noch bildlich zum Ausdruck bringen läßt.“ 112 Vgl. Will 1934, S. 34–35. 113 „hrer fylkis.“  







6.1 Trauern

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den Mund auf die Lippen, | wie du den heilen Fürsten umarmtest‘“ (Gðr. I 12–13).114 Gullrönd gibt den Rat, das nachzuspielen, was im Leben war und Sigurd wie lebendig zu behandeln. Eine Entsprechung hierzu finden wir im zweiten Helgilied, als der tote Helgi als Wiedergänger aus dem Totenreich zu Sigrun zurückkehrt. Seine Witwe will da das Eheleben mit dem belebten Toten auf dem Bett im Grabhügel nacherleben (vgl. HH. II Prosa vor 47).115 Die Guðrúnarhvöt thematisiert, was geschieht, wenn der Kummer des Einzelnen eben nicht auf den Verband abfärbt. Die um Svanhild trauernde Mutter wirft ihren Söhnen vor: „Was sitzt ihr hier, was verschlaft ihr’s Leben? | Warum betrübt’s euch nicht, mit Freude zu sprechen?“ (Ghv. 2).116 Hamdir und Sörli erleben die Trauer nicht im gleichen Maße wie Gudrun selbst und behalten trotz des Todes der Schwester die Fähigkeit, freudvoll miteinander umzugehen. Gudrun empfindet den Tod ihrer Tochter von ihren Söhnen durch deren Verhalten nicht richtig gewürdigt. Mit ihrer vorwurfsvollen Frage geht es ihr aber nicht um fehlendes produktives Handeln, sondern um das Ausbleiben heroischen Handelns, das in seinem Kern selbstzerstörerisch ist. Das Leben zu verschlafen bedeutet, sich nicht der Trauer und der damit einhergehenden Racheverpflichtung anzuschließen. Gudrun entstammt einer vorhergehenden Generation,117 in der ein Heldenideal propagiert wurde, dem die Söhne nun nicht gerecht werden, da sie ganz offensichtlich zu friedlich – zu passiv – sind. Für den Helden bedeutet sein Leben nicht zu verschlafen, es durch heroische Taten aufs Spiel zu setzen. Die Folge der Diskrepanz zwischen den Trauerempfindungen Gudruns und ihrer Söhne ist ihre hvǫt, ihre Aufreizung zur Rache.118 Während der Brynhildkrise enthält sich Gudrun zunächst der allgemeinen Missstimmung am Gjukihof. Erst als Sigurd sie auf die entstehenden Rachevorhaben Brynhilds hinweist, erreicht die Trauer letztlich auch sie, die von den Affekten der Gesellschaft bisher nicht berührt wurde: „Da sprach Gudrun unter Tränen: ‚Das ist ein großer Harm, deinen Tod zu wissen‘“ (Vs 31).119 Erst als sie selbst droht, geschädigt zu werden, da sie Sigurd in Gefahr erkennt, also ihr Mikrokosmos im Kollektiv bedroht wird, greift die allgegenwärtige Störung auch auf sie über.  





114 „Varaði hon at hylia um hrør fylkis. | Svipti hon blæio af Sigurði | ac vatt vengi fyr vífs kníam: | ‚Líttu á liúfan, legðu munn við grǫn, | sem þú hálsaðir heilan stilli.‘“ 115 Vgl. Lionarons 2005, S. 293: „In a sense, the entire love affair may be seen as an extended metaphor, in which the grave is portrayed as a marriage-bed for the warrior and his valkyrie-bride.“ Die Nähe und Liebe zur Walküre führt den Helden am Ende in den Tod. 116 „Hví sitit, hví sofit lífi? | hví tregrað ycr teiti at mæla?“ 117 Vgl. Sprenger 1992, S. 122: „der ‚alte‘ Rächer handelt, ohne zu diskutieren, so wie das Guðrún in Akv. tut.“ 118 Siehe 6.2.4–6.2.5. 119 „Þa męllti Gudrun med grate: ‚Þat er mikill harmr at vita þinn bana.‘“  



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6. Krisenreaktionen

6.1.4 Lachen, obwohl’s nicht komisch ist Da Odd in der Ǫrvar-Odds saga der Witwe seines Freundes Hjalmar einen Ring mitsamt der Todesbotschaft bringt, wird berichtet: „Sie nimmt den Ring, sieht ihn an und antwortet kein Wort. Sie sinkt vom Stuhl und stirbt auf der Stelle. Da bricht Odd in schallendes Gelächter aus: ‚Das hat nicht länger gedauert, als gut war. Nun können sie im Tode genießen, was ihnen im Leben nicht vergönnt war‘“ (Ǫrv 107).120 Das schallende Lachen ist vielleicht nicht die erwartete Reaktion auf den Tod der Witwe des kurz zuvor verstorbenen Freundes und doch ist es die Regung, die der Text den wikingischen Protagonisten der Vorzeitsaga zeigen lässt: Lachen aus Zufriedenheit, da die Eheleute nun im Tode vereint sind, Lachen aus Überraschung über den plötzlichen Tod der Frau oder Lachen über ihre Anfälligkeit. Wie auch immer ist Lachen die für den Vorzeithelden geziemendere Reaktion auf das Geschehen, als darüber zu trauern. Indem er lacht, setzt sich der Held über die Krise hinweg, ‚ver‘lacht, verkleinert und belächelt sie. Die Völsungensage zeigt uns an mehreren Stellen, dass die Figuren eine Katastrophe nicht nur mit Kummer beantworten, sondern dass zu lachen eine mögliche Gefühlsregung ist. Dabei ist das aber nicht Lachen aus genuiner Belustigung, sondern Lachen im Übermut, aus Verzweiflung, Hysterie oder innerer Zerrüttung. Wohl ist der Moment, da Sigmund darüber lacht, dass Sinfjötli die Schlange in den Brotteig geknetet hat, der einzige, in dem Lachen in der Völsunga saga mit einer für uns positiven Emotion verbunden ist (vgl. Vs 7). Es geschieht aus Familienstolz und zur Würdigung von Sinfjötlis Kaltblütigkeit. Alles übrige Lachen geschieht aus Trotz, Heldenmut oder im Wahn.121 So etwa im Moment von Högnis Tod: „Da lachte Högni, als sie ihm das Herz herausschnitten, | […] zu klagen kam ihm nicht in den Sinn“ (Akv. 24).122 Das Klagen wird hier als etwas Negatives und Unheldisches verstanden, zu dem das Lachen im Kontrast steht. Es ist Ausdruck von Högnis überlegenem Heldentum: „Und so groß war sein Heldenmut, daß er lachte, während er diese Qual aushielt“ (Vs 39).123 Indem er darüber lacht, fingiert Högni, dass sein Sterben für ihn keine wirkliche Krise ist.124 Das kommentiert er auch mit Worten: Es gäbe Schlim 

120 „Hon tekr við hringinum ok lítr á ok svarar allz engu ok hnígr aptr at stólsbrúðum ok deyr þegar. Þá skellir Oddr upp ok hlær: ‚eigi hefir þat fleira verit um hríð, at vel hafi at farit; uú skulu þau njótaz dauð, er þau máttu eigi lifandi.‘“ 121 Vgl. Will 1934, S. 23: „Lachen ist [in den Eddaliedern] nicht selten. Aber nie ist es harmlos, befreiend, sondern stets Ausdruck einer höhnischen Überlegenheit. Der klassische Ausdruck für diese Überlegenheit ist das Hagensche Lachen in der Todesstunde […]. Unbeugsamer Stolz gibt seiner Verachtung für den Gegner so einen gültigen Ausdruck.“ Vgl. Meletinsky 1986, S. 20: „Statements beginning with the verb ‚to laugh‘ in the 3rd person, past tense (hló) usually express joy and triumph or scorn for enemies and for death“. 122 „Hló þá Hǫgni, er til hiarta scáro | […] kleqva hann sízt hugði“. 123 „Ok sva var mikill þrottr hans, at hann hló, medan hann beid þessa kaul“. 124 Zu Högnis Lachen in den Atliliedern vgl. Schillinger 1962, S. 153–157 bzw. S. 166–168.  







6.1 Trauern

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meres als von Atlis Leuten das Herz herausgeschnitten zu bekommen – „Heiter werd ich’s erwarten, | […] ich litt früher Schlimmres“ (Am. 60 [57]).125 Wohingegen Högni lacht, anstatt zu klagen, ist Lachen in Brynhilds Fall ihre Art, ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Zwar lacht sie, als ihre Pläne aufgehen und aus Schadenfreude über Gudruns Schmerz – „Das hörte Brynhild und lachte“ (Vs 32,126 vgl. Sg. 30), nachdem sie hört wie Gudrun um Sigurd trauert –, doch ist das kein Zeichen von Belustigung, sondern Gefühlsreaktion auf die Eskalation am Gjukihof.127 Für Gunnar ist dieses Lachen durchschaubar: „Nicht lachst du deshalb, weil du im innersten Herzen froh wärest“ (Vs 32,128 vgl. Sg. 31). Er erkennt die Diskrepanz zwischen dem, was geschehen ist und der Angemessenheit von Brynhilds Reaktion.129 An anderer Stelle bleibt Brynhild in ihrer Vielschichtigkeit für die anderen Figuren unverständlich: „Niemand wußte sich zu erklären, daß Brynhild das lachenden Mundes erbeten hatte, was sie jetzt weinend beklagte“ (Vs 32).130 Sie zeigt widersprüchliche Gefühlsregungen, ist innerlich zerrissen131 – „Worte sprach ich nun, ich bereu sie hinterher“ (Sg. 7),132 sagt sie im kurzen Sigurdlied – und wird als emotional tiefgängige Figur inszeniert.133 Diese Figurenkomposition erreicht aber die anderen Figuren des Textes nicht, für die Brynhilds widersprüchliche Reaktionen undeutbar bleiben. Entweder man ist froh über den Tod Sigurds oder aber eben nicht. Dass sich Genugtuung und Verzweiflung abwechseln, dazu haben die anderen Figuren keinen Zugang. Im Brot heißt es nach Sigurds Tod: „Dann lachte Brynhild – der ganze Hof  













125 „glaðr munc þess bíða, | […] reynt hefi ec fyrr brattara“. 126 „Þat heyrir Brynhilldr ok hlo“. 127 Vgl. Steblin-Kamenskij 1982, S. 83 f.: „This laughter does not mean, of course, that Sigurðr’s death made her glad. […] Brynhildr’s laughter is the same ‚heroic laughter‘ that Hǫgni laughs when his heart is being cut out of his breast […] or Iǫrmunreccr when he learns that those who want to kill him are at hand […] or Guðrún when her sons set out on an expedition that will be fatal to them […]. Heroic laughter expresses triumph over death or over what, as an irretrievable loss, is equivalent to death.“ Vgl. Will 1934, S. 24: „Brynhilds Lachen ist kein Ausdruck reiner Freude, sondern der Ausbruch eines gequälten Gemütszustandes. Wohl empfindet sie Genugtuung über das Leid der Nebenbuhlerin und die wiederhergestellte Ehre, aber diese Freude wird durch den Tod des Geliebten wieder wett gemacht.“ 128 „Eigi hlęr þu af þvi, at þer se glatt um hiartarętr“. 129 Vgl. Larrington 2008, S. 7: „Gunnarr knows that the laughter is no sign of satisfaction; that his hopes of saving his marriage and his face are foundering. Something not immediately explicable is happening in terms of Brynhildr’s emotional register; Gunnarr reads her somatic response as at odds with her behaviour.“ 130 „Nu þottizt enghe kunna at svara, at Brynhilldr beide þess hlęgiande, ed hun harmade med grate.“ 131 Vgl. Meletinsky 1986, S. 21: „Contrasting symbols are typical in the depiction of emotional states in Eddic poetry, as in folk literature generally. For example, weeping and laughter form a sort of semantic pair expressing sorrow and joy“. 132 „Orð mæltac nú, iðromc eptir þess“. 133 Vgl. Larrington 2008, S. 5–9. In Brynhilds Verhalten finde sich „a sense of paradox“ (Larrington 2008, 7).  











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6. Krisenreaktionen

schallte – | einmal von ganzem Herzen: | ‚lang sollt ihr nutzen Länder und Krieger, | da ihr den tapfren Fürsten fallen ließt‘“ (Br. 10).134 Obschon aus ganzem Herzen hat dieses Lachen nichts Heiteres. Es geschieht aus Zynismus und im Angesicht des Unterganges Aller. Die Mörder Sigurds sind todgeweiht und werden ihn nicht lange überleben sowie auch Brynhild selbst mit ihm sterben wird. An späterer Stelle wird ihre heroische Haltung von Kummer abgelöst, „als sie weinend zu erzählen begann, | wie sie lachend die Männer aufreizte“ (Br. 15)135 und ihre wahren Gefühle sich den Weg bahnen. Gudruns Reaktion auf die Zusage ihrer Söhne zur Rache ist Lachen: „Gudrun ging lachend fort“ (Vs 43).136 Das kann als Triumphlachen gesehen werden,137 da sie nun durch ihre Söhne die Zerstörung ihrer Feinde in die Wege geleitet hat.138 Es erinnert ebenso an Högnis Reaktion auf seine eigene Ermordung. Lachen im Angesicht des Todes ist die Demonstration heroischer Überlegenheit. Högnis Verhalten zeigt die hohe Gesinnung des Helden. Das Lachen demonstriert, wie lächerlich doch letztlich seine Häscher in seinen Augen sind, obwohl er in ihrer Gewalt ist und sie Hand an ihn legen. Gudrun lacht jedoch nicht im Angesicht des eigenen Todes, sondern dessen ihrer Söhne. Wahrscheinlicher ist also, dass hier die zerrüttete Seelenwelt der Figur aufgezeigt wird. In ihrem Lachen spiegelt sich ferner Brynhilds Verhalten wieder, da diese die Ermordung Sigurds befohlen hat. Gudruns Gefühlszerrissenheit wird in der Guðrúnarhvöt durch dasselbe Bild inszeniert, indem sie nur mit einer Strophe dazwischen sowohl als lachend wie auch als weinend dargestellt wird: „Lachend lief Gudrun“ (Ghv. 7)139 heißt es in der siebten Strophe und in der Strophe neun wird in Form eines Chiasmus gesagt: „Gudrun ging weinend“ (Ghv. 9).140 Ihr  





134 „Hló þá Brynhildr – bœr allr dunði – | eino sinni af ǫllom hug: | ‚Lengi scoloð nióta landa oc þegna, | er þér frœcnan gram falla létoð‘.“ 135 „er hon grátandi gorðiz at segja, | þat er hlæiandi hǫlða beiddi.“ 136 „Gudrun geck hlęgiande“. 137 Vgl. Larrington 2008, S. 12: „her laughter […] indicates triumph; she has achieved what she wanted, insistently privileging revenge for Sigurð’s daughter over the lives of Ionákr’s sons.“ 138 Ein solches Triumphlachen begegnet uns in den Hamðismál, wenn Jörmunrek erfährt, dass sich die Gudrunssöhne nähern und sich seiner Meinung nach bald in seine Gewalt begeben würden: „Da lachte Jörmunrek, strich sich den Schnurrbart, | er war sein eigner Schaden, war beim Wein kampflustig“; „Hló þá Iǫrmunreccr, hendi drap á kampa, | beiddiz at brǫngo, bǫðvaðiz at víni“ (Hm. 20). Zu den Schwierigkeiten von ‚beiddiz at brǫngo‘ vgl. von See/La Farge et al. 2012, S. 944–946. Vgl. von See/La Farge et al. 2012, S. 943: „Iǫrmunrekr reagiert lässig und sorglos auf die Meldung der Ankunft von Hamðir und Sǫrli. Er fühlt sich der Situation gewachsen: Die Brüder sollen nur kommen, er wird mit ihnen fertig.“ Vgl. Hollander 1962, S. 59: „But the king only scornfully laughs in the overweening pride which comes before a fall – he has surrounded himself with ten hundred Gothic warriors […] and boastfully declares that he would be glad to see Hamðir and Sorli in his hall“. Sein Lachen erweist sich am Ende als nicht gerechtfertigt. Er überlebt den Angriff der Brüder nur vollkommen entstellt. 139 „Hlæiandi Guðrún hvarf“. 140 „Guðrún grátandi […] | gecc“.  













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6.1 Trauern

heroischer Triumph, der sich im Lachen äußert, wird in dem Moment, da sie ihre Söhne in den Tod geschickt hat, durch die Trauer abgelöst, die ihre Innenwelt letztlich zur Ruine macht.141

6.1.5 Liebeskummer Einer von Brynhilds Ratschlägen an Sigurd lautet: „Laß dich nicht schöne Frauen betrügen, wenn du sie auch bei Festen siehst, so daß es dir den Schlaf raubt oder du davon Herzenskummer erhältst – locke sie nicht an dich mit Küssen oder andrer Freundlichkeit“ (Vs 22).142 Der Inhalt dieses Ratschlags ist gewichtig, gerade weil er uns so vertraut erscheint. Er impliziert, dass die Sagawelt Liebeskummer genauso wahrnimmt und ebenso darauf reagiert, wie wir Heutige: nämlich mit Schlaflosigkeit und Herzschmerz. Liebeskummer ist eine reale Sache in der mittelalterlichen Erzählwelt und wird vom Verfasser der Zeilen, der sie Brynhild in den Mund legt, auf für uns nachvollziehbare Weise erlebt. Die Heimirepisode zeigt uns, wie Sigurd damit umgeht, als er kummervolle Sehnsucht nach Brynhild erlebt:  

Er ging in die Halle und wollte keine Unterredung mit den Männern haben. Da sprach Alsvinn: ‚Warum bist du so schweigsam? Dies dein Gebaren härmt mich und deine Freunde – warum kannst du nicht fröhlich sein? […]‘ Sigurd antwortete: ‚Guter Freund, höre, was ich überlege: mein Habicht floh auf einen Turm, und als ich ihn fing, da sah ich ein schönes Weib; […] – diese Frau hat mir am besten gefallen auf der Welt‘ (Vs 25).143  



Wir haben bereits darüber gesprochen, dass sich diese Gefühlsempfindung sogar auf Sigurds Tiere erstreckt (vgl. Vs 25). Der Liebeskummer macht ihn schweigsam, das bringt den Hallendialog zum versiegen, ein Indikator für eine Störung der konstanten Hochstimmung. Nun ist aber das Umwerben von Frauen und ebenso dadurch Leid und Leidenschaft zu erfahren zentraler Inhalt höfischer Erzählung.144 Wie der Held auf Brynhild reagiert, ist ein Zeichen des höfisch gefärbten Milieus, in dem sich die

141 Vgl. Sprenger 1992, S. 132: „sie ist also nicht imstande, die Konsequenzen der Rache seelisch zu bewältigen, sie bricht zusammen. Diese Guðrún ist anders als die frühere eine gebrochene, gespaltene Persönlichkeit.“ Vgl. Clover 1986(a), S. 158: „Guðrún in Hamðismál laughs and cries at the same time (‚laughing‘ in anticipation of revenge, ‚crying‘ in grief), while Guðrún in Guðrúnarhvǫt laughs first and cries later. The point is the same: whetting and lamenting are two sides of the same coin.“ 142 „Lat eigi tęla þig fagrar konur, þott þu seair at veizlum, sva at þat stande þer fyrir svęfne, eda þu fair af þvi hugaręcka. Teygh þer ecki at þer med kossum eda annarre blidu.“ 143 „Kemr i haullina ok vill aunga skemtan vid menn eigha. Þa męllti Alsvidr: ‚Hvi eru þer sva falatir? Þessi skipan harmr oss ok þina vine. Eda hvi mattu eigi ględi hallda? […].‘“ Sigurdr svarar: ‚Godr vinr, heyr, hvat ek hugsa. Minn haukr flo a einn turn, ok er ek tok hann, sa ek eina fagra konu. […] Su kona hefir oss bęzt synzt i verolldu.“ 144 Vgl. Schulz 2015, S. 53–56.  





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6. Krisenreaktionen

Episode abspielt.145 Der Wunsch Brynhild zu erlangen ist so groß, dass er mit Leiden verbunden ist. Sigurds Möglichkeiten liegen hier aber außerhalb des Rahmens, der ansonsten vom Heerkönigtum146 vorgegeben wird, und Brynhild einfach zu erobern, ist keine Option. Er muss zum Gespräch zurückgreifen und darauf hoffen, dass sie den gleichen Gefühlen unterliegt wie er. Das spricht von einer ganzheitlichen Betrachtung der Angebeteten. Sie ist kein ‚Objekt‘ der Begierde. Kummer in Verbindung mit Verlangen ist nur dann sinnvoll, wenn über das Erlangen der Frau keine Gewissheit besteht. Im Kontrast hierzu empfindet Jörmunrek „Zorn“ (Vs 42)147 über den angeblichen Betrug Svanhilds mit seinem eigenen Sohn Randver, da sich Leute, über die er gebietet, Dinge, die ihm gehören, nicht so verhalten haben, wie sie es seiner Meinung nach sollten. Das Begehren zwischen Sigurd und Brynhild ist dagegen nicht hierarchisch, sondern es werden die geschlechtlichen Hierarchien der Vorzeitwelt umgekehrt. Als im dritten Gudrunlied Gudrun Opfer der hunnischen Gerüchteküche wird, erfährt Atli Liebeskummer durch den Irrglauben, dass er gehörnt werde, indem Gudrun zu nah mit Thjodrek verkehren würde (vgl. Gðr. III 2). Diese Treffen haben aber tatsächlich Trauerverarbeitung zum Zweck. Letztlich spricht Gudrun Atli auf sein eigentümliches Verhalten an: „Dir betrübt es den Sinn; warum lachst du nie? | Es würde den Jarlen besser dünken, sprächst du mit den Männern und sähest du mich“ (Gðr. III 1).148 Atli verweigert sich, macht sich rar und das Gespräch an seinem Hof versiegt. Damit destabilisiert er das Gefüge und reduziert die politische Funktionalität seines eigenen Herrschaftsbereiches.149 Als dann Gudruns Unschuld bewiesen ist, löst sich auch Atlis Kummer auf: „Da lachte Atli das Herz in der Brust“ (Gðr. III 10).150 Uneindeutig ist das kurze Sigurdlied über das Leid, das den Männern durch Brynhilds Karriere als Schlachtmaid erwachsen würde: „Das wär dann überall bekannt geworden, | manchem Mann zum Seelenkummer“ (Sg. 37).151 Wohl ist beides gemeint:  



145 Vgl. Larrington 2012, S. 257: „The world in which Heimir (and Brynhildr insofar as she lives with him) and the Gjúkungar live is a courtly one“. 146 Siehe 5.1.2. 147 „af reide“. 148 „er þér hryggt í hug; hví hlær þú æva? | hitt myndi œðra iǫrlom þiccia, | at við menn mæltir ok mic sæir“. 149 Vgl. Schillinger 1962, S. 77: „Gudrun umschreibt Atlis Gestimmtsein, das allen sichtbar und bemerkbar durch sein nicht-mehr-lachen-Können oder lachen-Wollen zum Ausdruck gebracht wird, indem sie von seiner veränderten Lebensweise und -haltung spricht: Er redet nicht mehr mit den Männern, er zieht sich von ihnen zurück und vergräbt sich in seinen Kummer. Er meidet das Leben, das den Fürsten der Völkerwanderungszeit ebenso wie denen der Wikingerzeit als höchste und schönste Pflicht erschienen war: in der Halle zu sitzen an der Spitze der Gefolgsmänner, mit ihnen zu zechen und über vergangene und zukünftige Ruhmestaten zu reden.“ Vgl. Schillinger 1962, S. 79: „das nicht-mehr-lachen-Können [ist] ein eindeutiger Beweis dafür, dass der Mensch einer Aufgabe, die ihm zu bewältigen auferlegt ist, im Moment nicht genügen kann.“ 150 „Hló þá Atla hugr í briósti“. 151 „Þat myndi þá þióðkunt vera | mǫrgom manni at munar stríði.“  





6.1 Trauern

329

Der Kummer, der daraus entsteht, dass mancher Mann dadurch getötet würde und dass Brynhild als Geliebte und Ehefrau der Männerwelt verschlossen bliebe. Dasselbe Lied zeigt, wie Brynhild ihren Kummer darüber demonstriert, dass Sigurd nicht mit ihr, sondern mit Gudrun verheiratet ist. Er wird nicht verbalisiert, sondern durch Handlungen inszeniert:152 „Oft geht sie [Brynhild] hinaus, von Üblem erfüllt, | von Eis und Firn, jeden Abend, | wenn er und Gudrun ins Bett gehen, | und Sigurd sie [Gudrun] in die Decke hüllt“ (Sg. 8).153

6.1.6 Schadenskalkulation Wir erfahren in der Völsungensage mehrmals von genuinen Gefühlsregungen als Reaktion auf den Verlust einer anderen Textfigur. Voran steht diesen wohl die ausschließlich in der Völsunga saga überlieferte Trauer Sigmunds nach dem Tod seines Sohnes:154 „Sigmund stand auf, und sein Kummer ging ihm fast ans Leben; er nahm die Leiche in seine Arme“ (Vs 10).155 Lebensgefährlicher Verlustschmerz wird auch im Oddrúnargrátr geschildert, der als Klage ja schon per Definition Seelenqual thematisiert. Hier klagt Oddrún nach Gunnars Tod: „Oft wundert’s mich, wie ich danach | […] das Leben behalten kann, | denn ich glaubte den kampfschnellen Teiler der Schwerter | zu lieben wie mich selbst“ (Od. 33).156 Die Völsunga saga zeichnet das Bild aufrichtiger Erschütterung bei Regin angesichts des Todes von Fafnir, seinem Bruder: „Nun stand Regin auf und sah lange Zeit zur Erde nieder, dann sagte er in großer Erregung: ‚Meinen Bruder hast du erschlagen, und schwerlich bin ich selbst schuldlos an dieser Tat‘“ (Vs 19).157 Das wird ein paar Zeilen später emphatisch wiederholt: „Da sagte Regin zu Sigurd mit großem Kummer: ‚Du hast meinen Bruder erschlagen, und schwerlich bin ich selbst schuldlos an dieser Tat‘“ (Vs 19).158 Im Fokus der Helgakviða Hundingsbana steht der Sieg Helgis über seine Feinde. Nach der Erschlagung des ungewollten Ehemannes Sigruns preist die Walküre Helgi:

152 Vgl. Haimerl 1992, S. 132: „Draußen zu stehen scheint als Topos in Situationen von Leidgeschehen und Leiderfahrung Verwendung zu finden“. 153 „Opt gengr hon innan, illz um fyld, | ísa oc iocla, aptan hvern, | er þau Guðrún ganga á beð oc hana Sigurðr sveipr í ripti“. 154 Diese Regung finden wir ausschließlich in der Völsunga saga. Die Erzählung Frá dauða Sinfjötla geht direkt zur Handlung Sigmunds über und berichtet nicht von seinen Gefühlen: „Sinfjötli trank und war bald tot. Sigmund trug ihn weite Wege“; „Sinfiotli dracc oc varð þegar dauðr. Sigmundr bar hann lanngar leiðir í fangi sér“ (Sf.). 155 „Sigmundr ris upp, ok geck harmr sinn nęr bana, ok tok likit i fang ser“. 156 „Opt umdromc þat, hví ec eptir mác, | […] lífi halda, | er ec ógnhvǫtom unna þóttomz, | sverði deili, sem siálfri mér.“ 157 „Brodur minn hefir þu drępit, ok varla ma ek þessa verks saklaus vera.“ 158 „Þu drapt minn brodur, ok varla ma ek þessa verks saklaus.“  

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6. Krisenreaktionen

Er hat siegreich die Frau erobert.159 Die Helgakviða Hundingsbana önnur liefert dagegen ein differenzierteres Bild, das die Reaktion Sigruns auf die Erschlagung ihrer Sippe durch den zukünftigen Ehemann (vgl. HH. II Prosa nach 24) keinesfalls ausspart, wie das erste Helgilied das getan hat. Obschon Sigrun zunächst „hocherfreut“ (HH. II Prosa nach 25)160 über den Sieg Helgis ist – sie will ja von ihm gewonnen werden –, reagiert sie mit Weinen („Da weinte Sigrun“, HH. II Prosa nach 28)161 auf die Nachricht des Todes ihrer Verwandten. Beides wollend, den herausragenden Mann und ihre Sippe, ist sie hin- und hergerissen: „Lebend möchte ich machen, die gestorben sind, | und könnt ich dir doch in den Armen ruhn“ (HH. II 29).162 Im Fokus der Helgakviða I steht der Siegespreis des erobernden Heerkönigs,163 während das zweite Helgilied tatsächlich die Konsequenzen für die Verliererseite beleuchtet. Obwohl Sigrun natürlich von Helgi erobert werden will, gehen die Umstände des Verlustes ihrer Sippe nicht spurlos an ihr vorbei.164 Übrigens auch an Dag nicht, dem letzten verbliebenen Bruder Sigruns, der Helgi darauf aus Rache tötet (vgl. HH. II Prosa nach 29). Als Sigrun von Helgis Tod erfährt, ist ihre Reaktion, ihren Bruder zu verfluchen und ihm nur das Schlimmste zu wünschen (vgl. HH. II 31–33). Das Weinen kommt erst später, da Helgi Sigrun in Wiedergängergestalt erscheint.165 Helgi spricht da von Sigruns Tränen sowie er sie auch zum Weinen auffordert:166 „Du nur bewirktest, Sigrun von Sewafjöll, | dass Helgi mit Kummertau bedeckt ist. | Weine, Gold 

159 Manuel Aguirre liefert eine mythoallegorische Deutung der Frauenfiguren der Völsungensage. Sie würden Macht, Herrschaft und Land symbolisieren, die man sich zusammen mit ihrer Gunst aneignen und auch wieder verlieren würde (vgl. Aguirre 2002, S. 32–33). 160 „allfegin“. 161 „Þá grét Sigrún.“ 162 „Lifna mynda ec nú kiósa, er liðnir ero, | oc knætta ec þér þó í faðmi felaz.“ 163 Vgl. Genzmer/Heusler 1920, S. 135: Der Dichter erzählt „in aller Ausführlichkeit die Sigrunsage – aber ohne den düsteren Schluß: er entläßt uns, nachdem er seinen Helden auf die Höhe des Sieges geführt hat. Das ganze Lied schon ist auf Erfolg und Glanz gestimmt; wir fühlen uns auf der Grenze zwischen heroischer Sage und einem Preislied auf den lebenden Fürsten.“ Vgl. de Vries 1999I, S. 306: Das erste Helgilied „ist seinem Charakter gemäß eigentlich gar nicht ein eddisches Heldenlied. Die tragische Lebenshaltung der germanischen heroischen Kunst fehlt hier durchaus; das Helgilied ist vielmehr eine jauchzende Verherrlichung eines jungen Heerführers, dessen siegreiche Taten durch eine romantische Liebe gekrönt werden. Heldenlied können wir das kaum mehr nennen; es ist Wikingerpoesie, die mit stolzer Lebensbejahung Krieg und Kampf verherrlicht.“ Vgl. Klingenberg 1974, S. 41: „Mit hymnischem Jubel beginnt der Heldenliedteil.“ Das Lied ist skaldisch beeinflusst (vgl. de Vries 1999I, S. 304–305; Schneider 1933, S. 252; Larrington 2016, S. 151). 164 Jan de Vries sieht darin die „gefühlsselige[…] Art einer späteren Zeit“ (de Vries 1957(b), S. 139). 165 Für den Einfluss des zweiten Helgiliedes auf das erste Gudrunlied vgl. Sprenger 1992, S. 5–9. 166 Für eine heldenkritische Deutung vgl. Haimerl 1992, S. 72–74. Nach Haimerls Interpretation würde Sigrun ihren toten Mann übermäßig betrauern und dadurch seine Ruhe im Nachleben stören: „Sigruns maßlose Klage führt sie selbst in ein Reich zwischen Lebenden und Toten und hält den Toten als Wiedergänger in diesem Zwischenreich fest. Damit behindert sie den Verstorbenen in seiner neuen Bestimmung im Jenseits“ (Haimerl 1992, S. 74). Ich deute die Passage dagegen dahingehend, dass gerade Sigruns heftiges Trauern – wie eben auch Gudruns außergewöhnlicher Kummer um Sigurd – Helgi als  



























6.1 Trauern

331

geschmückte, bittre Tränen, | […] eh du schlafen gehst“ (HH. II 45).167 Zunächst mit Wut anstatt mit Kummer beantwortet auch Gudrun die Todesnachricht Sigurds im Brot. Sie verflucht Gunnar und will Rache für den Toten: „Grimmige mögen Gunnar holen, den Mörder Sigurds!“ (Br. 11)168 oder im zweiten Gudrunlied: „Warum musst du mir, Högni, solchen Kummer | sagen, der Freudlosen? | Dein Herz sollen die Raben reißen“ (Gðr. II 9).169 Die Trauer über den Verlust des Ehemannes manifestiert sich als Aggression auf seine Töter. Zuvor haben wir besprochen, dass Liebeskummer im Erzählkomplex sich nicht sehr von seinem heutigen Konzept unterscheidet. Auf den ersten Blick verhält es sich auch so mit den Verlustreaktionen der Figuren. Wut, Trauer und Schmerz scheinen uns als vertraute Regungen. Aus den Texten ist allerdings zu lesen, dass sich der Kummer der Figuren noch auf eine weitere Bedeutungsebene erstreckt, die auf eine Andersartigkeit von Verlustwahrnehmung hindeutet und mit einem unerwünschten Wandel ihres sozialen Ranges verbunden ist. Was im gleichen Umfang betrauert wird wie der eigentliche Verlust ist der verringerte Status.170 Expliziert wird das in den Atlamál, da Gudrun Atli mit ihrer eigenen Sippe und mit Sigurd vergleicht (vgl. Am. 98– 101). Sie wurde vom Mächtigen zum Geringen gereicht.171 So sagt die Figur auch in der Guðrúnarhvöt: „Schlimmren Kummer konnt ich nicht erleben, | mehr Schaden schienen sie mir zuzufügen, | als mich die Edlen Atli gaben“ (Ghv. 11).172 Sigurd zu verlieren ist schlimm, aber danach auch noch den sozialen Abstieg erleiden zu müssen, macht ihren Kummer perfekt.173 Gudruns „Klage“ (Vs 43),174 ihr „harmerfüllt[er]“ (Vs 43)175 Monolog in der Völsunga saga behandelt die Verluste, die sie Zeit ihres Lebens erlitten hat:  





Drei Männern war ich vermählt […]. Dann sandte ich Svanhild mit großem Gute aus dem Lande fort zur Vermählung, und das ist mir das Schmerzlichste meiner Leiden nach Sigurds Tode, daß sie unter Rosseshufen zertreten ward. Am meisten aber hat mich erbittert, daß Gunnar in einen

herausragenden Helden kennzeichnet. Hinweise, dass das Trauern Helgi im Nachleben schaden könnte, finde ich im Text nicht. 167 „Ein veldr þú, Sigrún frá Sefafiollom, | er Helgi er harmdǫgg sleginn; | grætr þú, gullvarið, grimmom tárom, | […] áðr þú sofa gangir“. 168 „gramir hafi Gunnar, gǫtvað Sigurðar!“ 169 „Hví þú mér, Hǫgni, harma slíca, | vilia laussi, vill um segia? | þitt scyli hiarta hrafnar slíta“. 170 Vgl. Schillinger 1962, S. 176. 171 Vgl. Larrington 2016, S. 151: „The subject positions of women, unwillingly exchanged in marriage, denied their autonomy, and surviving as sole witnesses to male violence, are particularly highlighted in the Codex Regius poems.“ 172 „Svára sára sácað ec né kunna, | meirr þóttuz mér um stríða, | er mic ǫðlingar Atla gáfo.“ 173 Zur sozialhierarchischen Komponente von Kriemhilts Trauer im Nibelungenlied vgl. Müller 1998, S. 224–229. 174 „harmtaulum.“ 175 „harme aukinn“.  





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6. Krisenreaktionen

Schlangenzwinger gesetzt ward; doch das Härteste ist, daß Högni das Herz ausgeschnitten ward (Vs 43).176

Der persönliche Verlust zieht einen Verlust an Rang und Macht mit sich. Ihre darauf erwachsende Einsamkeit und Isoliertheit in der Erzählwelt illustrieren die Hamðismál mit dem Bild des entlaubten Baumes: „Einsam bin ich geworden wie eine Espe im Wald, | beraubt der Verwandten wie eine Föhre der Zweige, | beraubt der Freude wie ein Baum des Laubs“ (Hm. 5).177 Der Kummer entsteht aus dem Alleine-in-der-Welt-Zurückbleiben: „Doch ich allein lebe“ (Gðr. I 4),178 sagt Gjaflaug im ersten Gudrunlied. Macht haben die Frauen durch ihre Ehemänner ausgelebt. Dieser beraubt sind sie letztlich ausgeliefert: Da Herborg im selben Lied ihre komplette Sippe – Gatte, Söhne, Eltern, Geschwister – verliert (vgl. Gðr. I 6 ff.), wird sie zur Kriegsgefangenen, zur Sklavin eines Fürsten, tyrannisiert von dessen Frau. Gudrun sagt über sich selbst: „Ich schien auch des Königs Männern | höher als jede Dise Herjans. | Nun bin ich so klein wie ein Blatt | an der Lorbeerweide, wegen des getöteten Fürsten“ (Gðr. I 19).179 Ihre soziale Existenz war vollkommen an ihren Mann gekoppelt. Durch dessen Verlust ist auch ihr Selbstbild erschüttert. „Ich vermisse auf der Bank und im Bett | meinen Vertrauensfreund“ (Gðr. I 20),180 sagt sie weiterhin und klarifiziert damit die Dualität der ehelichen Existenz Gudruns und Sigurds. Er fehlt ihr als Geliebter im Bett, aber eben auch auf der Bank als soziales Instrument. Deswegen haben Gudrun und Thjodrek auch eine gemeinsame Basis, wenn es heißt, sie „klagten einander ihren Kummer“ (Dr.).181 Beiden geht es um den Verlust ihrer Macht. Thjodrek ist durch den Verlust seiner Männer ein König im Exil geworden und Gudrun ist der Macht beraubt, die sie durch ihren nun toten Ehemann erfahren hat. Ihrer beider Probleme sind letztlich dieselben. So ist das Preisen Sigurds und der Idealzustände in den ersten beiden Strophen im zweiten Gudrunlied (vgl. Gðr. II 1–2) nur dazu da, um die Fallhöhe Gudruns zu explizieren. Ihr Weg führte sie von höchstem Ruhm zu niedrigsten Zuständen. Gerade wegen dieser quasimateriellen Einschätzung von Verlusten gebricht es den Erzählungen der Völsungensage nicht an Kompensations- und Tröstungsversuchen. Bei Sigurds Tod heißt es: Gudrun „erwachte mit unsagbarem Harme, da sie  







176 „Þrimir monnum var ek gipt […]. Siþan gipta ek Svanhilldi af lande i brott med miklu fe, ok er mer þat sárazt minna harma, er hun var trodinn undir hrossafotum, eptir Sigurd. Enn þat er mer grimmazt, er Gunnar var i ormgard settr, enn þat hardazt, er or Haugna var hiarta skorit“. 177 „Einstœð em ec orðin sem ǫsp í holti, | fallin at frœndom sem fura at qvisti, | vaðin at vilia sem viðr at laufi“. 178 „þó ec ein lifi.“ 179 „Ec þóttac oc þióðans reccom | hverri hærri Herians dísi; | nú em ec svá lítil, sem lauf sé | opt í iolstrom, at iofur dauðan.“ 180 „Sacna ec í sessi oc í sæingo | míns málvinar“. 181 „kærðo harma sín á milli.“

6.1 Trauern

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in seinem Blute schwamm; so sehr jammerte sie mit Weinen und Wehklagen, daß Sigurd sich von seinem Kopfkissen aufrichtete und sprach: ‚Weine nicht,‘ sagte er, ‚deine Brüder leben dir zur Freude‘“ (Vs 32).182 Getröstet wird, indem auf den ansonst stabilen Familienverband hingewiesen wird (vgl. Sg. 25). Sigurd weist darauf hin, dass Gudrun ihre Machtposition nicht komplett verliert, da das Gjukungenkollektiv anderweitig noch intakt ist.183 Nach seinem Tod wird der Wert des Helden dann von seiner Witwe aufgerechnet und es wird seine Ersetzbarkeit erwogen: „wenn er ihm gleiche Söhne hätte, so könntet ihr [die Gjukungen] unterstützt werden durch seine Nachkommen und seine Verwandten“ (Vs 32).184 Die Ersetzbarkeit von Menschen und Verstorbenen ist für uns heute ein unerhörtes Konzept. Im Gegensatz dazu heißt es allerdings im Nibelungenlied, als nach dem Tod von Etzels Ehefrau Helche die Ehe mit Kriemhilt vorgeschlagen wird: „‚Wolle Gott‘, sagte Gotelind, ‚daß das geschieht! Da wir ihr so viel Ehrenvolles nachrühmen hören, könnte sie uns später einmal unsere liebe Herrin Helche ersetzen‘“ (Nl 1170,1–3).185 Nach einem Verlust möchte die mittelalterliche Erzählwelt die entstandene Lücke schließen und zwar gleichwertig oder besser. Dabei kommt ein weiteres uns fremdes Konzept ins Spiel, nämlich der materielle Wert eines Menschen. Nach dem Tod einer Figur muss festgestellt werden, was sie eigentlich wert war, damit ihr Verlust auf die eine oder andere Art aufgewogen werden kann. Beim Tod des Gestaltwandlers Otr geht die Sippe, nachdem sie vom Tod ihres Mitglieds erfahren und Hand an die Asen gelegt hat, sofort zur Kompensationslösung über. Eine emotionale Reaktion findet nicht statt: „Da nahmen wir sie fest und legten ihnen als Buße und Lebenslösung auf, daß sie den Balg mit Gold füllten“ (Vs 14,186 vgl. Rm. Einleitungsprosa), berichtet Regin von dem Vorfall. Geschildert wird ein routinierter Umgang mit Verlust, wobei die Kosten des toten Sohnes respektive Bruders sofort aufgerechnet werden. Otr ist bezahlbar.

182 „vaknade vid oumrędiligan harm, er hun flaut i hans blode, ok sva veinade hun med grat ok harmtaulur, at Sigurdr reis upp vid hegendit ok męllti: ‚Grat eigi,‘ sagde hann. ‚Þinir bredr lifa þer til gamans.‘“ 183 John McKinnell liest das als missglückten und uneinfühlsamen Tröstungsversuch: Gudrun „is the recipient of a strange dying speech from Sigurðr in which he says that her brothers still live, that his own son will be killed, that Brynhildr has caused the trouble because she loved him better then anyone else, and that he himself has kept his oaths to Gunnarr […]. This is a strange sort of consolation; it adds to Guðrun’s grief by foretelling the murder of her son as well as her husband and recognising the passion of Brynhildr, and its only positive points are that her brothers are still alive (but they are murderers) and that he himself has been loyal to her“ (McKinnell 2014, S. 257). 184 „ef hann ętte ser slika sonu, þa mętte þer styrkiazt vid has afkveme ok sina frendr.“ 185 „‚Daz wolde got‘, sprach Gotelint, ‚und möhte daz geschehen! | sît daz wir ir hœren sô maneger êren jehen, | si ergazte uns mîner frouwen lîhte in alten tagen.“ 186 „Þa toku ver þa hǫndum ok sǫgdum a þa gialld of fiorlausn, at þeir fyllde belginn af gulli“.  

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6. Krisenreaktionen

6.2 Rache 6.2.1 Fehlschlagende Kompensation Nach einem Verlust kommt der Wert eines Menschen ins Spiel. Der Anthropologe und bekennende Anarchist David Graeber sagt in einem Interview in Sternstunde Philosophie über das Wesen von Geld: Etwa bei Rechtsstreitigkeiten: Fünfundzwanzig Stück von diesem ist gleich einem Stück von dem. Das ist das Wesen von Geld. Zu berechnen, dass die Menge von etwas gleich viel bedeutet wie die Menge von etwas anderem. Viele Ersatzansprüche entstehen etwa, wenn jemand verletzt oder getötet wird und eine Blutfehde vermieden werden soll […]. Wenn alle sehr zornig sind und Gewalt ausbrechen könnte, dann wissen die Leute genau, was sie wollen. Und wenn Sie nicht genau das haben, was der Kodex verlangt, müssen Sie etwas von exakt gleichem Wert aufbringen. Dieser Link zwischen Geld und Gewalt zieht sich durch die Geschichte der Menschheit.187

Nachdem eine Figur oder ein Kollektiv in der völsungischen Welt verletzt wurde, entweder durch einen Angriff, eine Beleidigung oder einen Verlust, bedarf es einer Form von Entschädigung, die in Form von Geld,188 Blut oder dem Verschwinden des Verursachers der Verletzung geschehen muss. Nachdem Sigi für den Totschlag am Knecht Bredi verbannt wird (vgl. Vs 1), ist die Sache erledigt. Es wurde eine entsprechende Strafe beziehungsweise Kompensationshandlung für die Tat gefunden, da der Knecht in seiner Natur aufzuwiegen war. Was geschieht nun aber, wenn der Wert eines Menschen oder einer Verletzung eben durch eine Entschädigungsleistung doch nicht aufgewogen werden kann? Die Figuren wenden sich dann dem Ausweg der Rache zu, der Auslöschung des Verursachers.189 Grundvoraussetzung für die Notwendigkeit dafür ist das Nichtzustandekommen eines Vergleiches respektive das Scheitern einer Versöhnung. Jan-Dirk Müller bespricht für das Nibelungenlied die Problematik, die mittelhochdeutsch ‚suone‘, also ‚Versöhnung‘, und ‚ergetzen‘, also ‚entschädigen, wiedergutmachen‘, als höfische Reglementierungsmaßnahmen in der heroischen Welt beinhalten. Die Funktion dieser Vorgänge ist das Beseitigen eines Defektes, das Schließen einer Lücke im sozialen Gefüge. Dabei bedeute ergetzen „Vergessen-machen durch Aus-

187 youtube.com/watch?v=IX7uuuHFpyQ, zuletzt aufgerufen am 13.05.2017. 188 Ulrike Sprenger spricht von Bußzahlung als für die Heldenlieder eigentlich unübliches Motiv, das als junges, isländisches Gedankengut in das zweite Gudrunlied geraten ist (vgl. Sprenger 1992, S. 34). Sprenger geht es in ihrer Untersuchung vor allem darum, die heroische Elegie – die Gudrunlieder, den Oddrúnargrátr und die Guðrúnarhvöt – als junge, isländische Schöpfungen auszuweisen (vgl. Sprenger 1992, S. v). Dass Entschädigungszahlungen ein für diese Lieder alleiniges Merkmal im gesamten Liedereddakomplex sein sollen, sehe ich nicht (vgl. etwa HH. 11–12 bzw. Sf.). 189 Kuhn 1971 [1948/1950], S. 82: „Die Rache war das oberste aller Gebote.“ Vgl. umfassend Beck/Böttcher 1978, S. 81–101, vor allem S. 82–85.  











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6.2 Rache

gleich“.190 Es schließe „Wiedergutmachung im umfassenden Sinn ein und [betreffe] deshalb auch die verschiedenen Versuche, Verlust anders als auf gewaltsamem Wege zu tilgen.“191 Letztlich scheitern im mittelhochdeutschen Epos allerdings alle Versuche einer Aussöhnung und „Kriemhilts Rache setzt sich gegen alle Handlungsalternativen durch“.192 „Zwischen den Hauptkontrahenten [sei] suone nicht mehr vorstellbar […], weil kein gerechter Ausgleich für das gegenseitig zugefügte leit mehr denkbar [sei]“.193 Die meisten Figuren der heroischen Welt sind unbezahl- und unersetzbar, sodass keine Einigung auf eine Entschädigung gefunden werden kann. Tödliche Rache bleibt die einzige Möglichkeit der Wiedergutmachung. Fehlschlagende ‚Ent‘geltung führt zu ‚Ver‘geltung.194 Nachdem Sinfjötli Borghilds Bruder wegen Nebenbuhlerschaft getötet hat (vgl. Vs 19 bzw. Sf.), misslingt der Versuch einer Versöhnung durch eine Entschädigungsleistung. Wie in Sigis Fall wäre Verbannung das, was Borghild gegen ihren Stiefsohn erwirken will: „Sie gebot Sinfjötli aus dem Reich hinwegzufahren und sagte, sie wolle ihn nicht mehr sehen“ (Vs 10).195 In erster Instanz müsste Sinfjötli also eigentlich gar nicht mit dem Leben für die Erschlagung bezahlen, sondern es würde reichen, wenn er einfach nicht mehr da wäre, für Borghild nicht mehr sichtbar. Problematisch wird es erst dann, als Sigmund etwas an der gewünschten Kompensationsleistung ändern will: „Sigmund sagte, er ließe ihn nicht wegziehen und erbot sich, ihr Buße zu leisten durch Gold und großes Gut, obschon er vorher noch nie für einen Mann Buße gezahlt hatte; er sagte, es nütze nichts mit Weibern zu streiten. Sie konnte also dies nicht durchsetzen“ (Vs 10).196 Auf der darauffolgenden Totenfeier für den Bruder vergiftet sie ihren Stiefsohn. Obschon es eine Möglichkeit zur Sühne gegeben hätte, war Borghilds Bruder nicht mit einem Geldbetrag aufzuwiegen. Nur das Entfernen des Verursachers allein wäre suffizient gewesen. Da das nicht freiwillig geschehen ist,

190 Müller 1998, S. 369. 191 Müller 1998, S. 370. 192 Müller 1998, S. 368. 193 Müller 1998, S. 369. 194 Vgl. Sprenger 1992, S. 261: „Es ist ein Begriff, der für das frühe Altnordisch zentral ist: harmr. [harmr] darf nicht lediglich als ‚Leid, Kummer‘ verstanden werden; harmr bedeutet zwar ‚Kummer‘, doch wird dieser Kummer gleichzeitig als Kränkung empfunden, d. h. als etwas, das vom Betroffenen ein anderes Vorgehen als Klage verlangt, nämlich die Wiederherstellung seiner Ehre, seiner Integrität, in erster Linie also Durchführung von Rache“. Vgl. Sprenger 1992, S. 268: „Harmr ist eine Kränkung, die nicht hingenommen wird; auf sie wird aktiv oder aber fordernd (Buße) geantwortet.“ Der Verletzte befindet sich dann gegenüber dem Täter in einer Bringschuld, wie William Ian Miller das veranschaulicht, indem er die Metapher des zurückzuzahlenden Geschenkes aufbringt: „Wrongs done to someone, like gifts given to him, unilaterally make the recipient a debtor, someone who owes requital“ (Miller 1990, S. 182). Vgl. zur Fehde Kuhn 1972 [1938], S. 444–445. 195 „Hun bidr Sinfiotla fara brott or rikinu ok lęzt eigi vilia sea hann.“ 196 „Sigmundr kvezt eigi lata han i brott fara ok bydr at bęta henne med gulli ok miklu fe, þott hann hefdi aungan fyre bętt mann, kvad engi frama ath sakazt vid konur.“        











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6. Krisenreaktionen

musste es gewaltsam durchgesetzt werden. In der Völsunga saga trifft Borghild dann eben die Strafe, die sie eigentlich für Sinfjötli vorgesehen hätte. Sie wird verbannt: „Darauf […] verstieß Sigmund die Königin; bald darauf starb sie“ (Vs 10).197 Ihr Ende wird von der Saga nicht offen gelassen. Das Fragment Frá dauða Sinfjötla hingegen erzählt das verknappt: „Und als er heimkam, da befahl Borghild ihm fortzugehen. Aber Sigmund bot ihr Geldbuße und die nahm sie an“ (Sf.).198 Das hält Borghild nicht davon ab, den Stiefsohn zu vergiften. Als Kompensation war die Entgeltung nicht angemessen. Die Völsunga saga berichtet, dass Bußzahlungen überhaupt ein Ausnahmefall für Sigmund sind. Sein herrscherlich-heroisches Selbstverständnis lässt eine solche Kompensationsleistung im Normalfall nicht zu, sondern motiviert prinzipiell die gewaltsame Lösung. Dasselbe Verhalten finden wir bei seinem Sohn Helgi vor. Er zieht konstant herum und betreibt ‚Heerkönigtum‘. Er und Hunding stoßen aufeinander und bekämpfen sich ausschließlich aus dem Grund der militärischen Rivalität. Hundings Erschlagung setzt dann allerdings bereits das Rad der Rache in Gang. Ab nun gibt es einen Grund für die gegenseitige Gewalt: „König Hundings Söhne aber boten ein Heer gegen Helgi auf und wollten ihren Vater rächen“ (Vs 9).199 Eine Vermeidung durch Bußzahlung ist dabei für Helgi keine Option: „Darauf forderten Hundings Söhne, | von Sigmunds Sohn Reichtum und Ringe; | denn sie hatten dem Fürsten zu vergelten | großen Raub und des Vaters Tod. | Der Fürst bot keine Buße dafür | noch den Verwandten Kopfgeld; | hoffen könnten sie auf das große Unwetter | der grauen Speere und auf den Zorn Odins“ (HH. 11–12).200 Selbst eine Zahlungsforderung wird nur mit noch mehr Gewalt beantwortet.201 Der heroische Heerkönig ist extrem aggressiv und steht über dem Gesetz von Kompensationsleistungen. Durch den Betrug an Brynhild – durch Vergessenheitstrank und Gestaltwandel – ist diese beleidigt im eigentlichen Wortsinn. Es wurde ihr ein Leid zugefügt, das kaum mehr gut zu machen ist. Sigurds Tröstungsversuch ist unbeholfen und wirkt doch aus moderner Sicht vertraut: „Sigurd […] schlug die Decken von ihr zurück und sprach: ‚Wach auf, Brynhild, die Sonne scheint über die ganze Burg, genug ist geschlafen –  





197 „Ok eptir þat […] rekr nu i brott drottningina, ok litlu siþar do hun.“ 198 „Enn er hann kom heim þá bað Borghildr hann fara á brot, enn Sigmundr bauð henni fébœtr, oc þat var hon at þiggia.“ 199 „Synir Hundings bioda nu ut her i moth Helga ok vilia hefna faudur sins.“ 200 „Ǫvǫddo síðan Sigmundar bur | auðs oc hringa Hundings synir, | þvíat þeir átto iofri at gialda | fiárnám mikit oc fǫður dauða. | Létað buðlungr bótir uppi, | né niðia in heldr nefgiold fá; | ván qvað hann mundo veðrs ins micla | grára geira oc gremi Óðins.“ 201 Vgl. Haimerl 1991, S. 143: „Fragwürdig wird Helgis Insistieren auf althergebrachtem Rachedenken in der anschließenden Auseinandersetzung mit den Hundingssöhnen. Unmißverständlich bringen sie ihre Absicht zum Ausdruck, den Konflikt zu befrieden, indem sie sich mit Geldbußen für den Vater zufriedengeben […]. Dabei laufen sie in hohem Maße Gefahr, als unehrenhaft zu gelten. Doch Helgi weist ihr Friedensangebot mit einem ‚Weder-Noch‘ […] zurück und kündigt mit provokativen Worten Krieg an. Damit wird er zum Aggressor in der folgenden Auseinandersetzung.“  

6.2 Rache

337

wirf den Harm von dir und nimm Fröhlichkeit an‘“ (Vs 31).202 Das Trauern zu beenden wird als aktive Entscheidung inszeniert. Brynhild trauere nur, weil sie sich noch nicht dazu entschieden hat, es zu unterlassen. Was Brynhild aber wirklich fehlt, ist eine Entschädigung für ihr Leid, die nur durch die gewaltsame Entfernung des Grundes ihres Kummers erreicht werden kann. Sie will Sigurd tot sehen: „Das ist das Schmerzlichste meiner Leiden, daß ich es nicht zuwege bringen kann, daß ein scharfes Schwert in deinem Blute gerötet werde“ (Vs 31),203 sagt sie zu ihm. An heroischer Kapazität übertrifft Sigurd die komplette Erzählwelt, weswegen er auch als Ehemann nicht ersetzbar ist.204 Die Beleidigung, nicht mit ihm vermählt zu sein, ist für Brynhild so unbereinigbar, dass Rache die einzig mögliche Konsequenz ist:205 „Ihr wußtet, daß ihr mich betroget, und das will ich rächen“ (Vs 30),206 sagt sie: „Nun aber bin ich eidbrüchig dadurch, daß ich ihn nicht habe, und deshalb werde ich deinen [Gunnars] Tod bewirken“ (Vs 31).207 Diese Rache besteht aus der völligen Destabilisierung des Gjukungenkollektivs. Als antihöfisches Element zerstört sie den Verband von innen. Zur Voraussage seines Onkels fragt Sigurd in der Grípisspá: „Was wird diese Braut als Buße nehmen, | weil wir dem Weib Trug bereiteten?“ (Grp. 46).208 Dieser antwortet: „Sie wird Gunnar genau sagen, | dass du die Eide nicht gehalten hast | […] | Da wird’s Gudrun bitter um’s Herz, | wenn ihre Brüder dir den Tod bringen“ (Grp. 47–51).209 Doch nicht nur Sigurds Tod ist ein Racheakt für ihre Beleidigung, sondern auch ihr eigener Tod. Dieser führt nämlich zu einem Entschädigungsanspruch Atlis an die Gjukungen, der auch nur mit Blut gezahlt werden kann. Das kurze Sigurdlied lässt sie voraussagen: „all das wird Atli später erkennen, | wenn er meine Todesreise genau erfährt […]. | Das soll Rache für mein Leid sein“ (Sg. 40–41).210 Oddrun spricht im Oddrúnargrátr: „Dafür ließ sie [Brynhild] grausame Rache geschehn | […]; | das wird unter den Menschen in jedes Land dringen, | wie sie sich selbst wegen Sigurd umbrachte“ (Odd. 19).211 Das Prosastück Dráp Niflunga inszeniert demnach die  



202 „Sigurdr […] bra af henne klędum ok męllti: ‚Vake þu, Brynhilldr, sol skin um allann bęinn, ok er ęrit sofit. Hritt af þer harme ok tak glede.‘“ 203 „Þat er mer sarazt minna harma, at ek fę eigi þvi til leidar komit, at biturt sverd vere rodit i þinu blode.“ 204 Vgl. für die Siegfriedfigur Müller 1998, S. 373: „Für Sivrit ist keinerlei materielle Kompensation ausreichend“. 205 Vgl. Gottzmann 1979, S. 8–11. 206 „vissu þęr þat, at þer velltud mik, ok þess skal hefna.“ 207 „Nu erum ver eidrofa, er ver eigum hann eigi, ok fyrir þetta skal ek radande þins dauda.“ 208 „Hvat mun at mótom brúðr sú taca, | er vélar vér vífi gerðom?“ 209 „Mun hon Gunnari gorva segia, | at þú eigi vel eiðom þyrmðir | […]. | Þá er Guðrúno grimt um hiarta, | er brœðr hennar þér til bana ráða“. 210 „alt mun þat Atli eptir finna, | er hann mína spyrr morðfor gorva | […];| þá mun á hefndom harma minna.“ 211 „Þess lét hon harðar hefndir verða, | […] | þat mun á hǫlða hvert land fara, | er hon lét sveltaz at Sigurði.“  



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6. Krisenreaktionen

Heirat Gudruns mit Atli als versuchte Kompensationsleistung für den Tod Brynhilds unter der Obhut der Gjukungen: „Unfriede gab es zwischen den Gjukungen und Atli. Er gab ihnen die Schuld an Brynhilds Lebensende. Sie schlossen einen Vergleich, dass sie ihm Gudrun zur Frau geben sollten“ (Dr.).212 Diese Entschädigung erweist sich als nicht ausreichend und es kommt zur verräterischen Einladung, die in der Völsunga saga von Atli neben dem Goldgiermotiv zusätzlich noch als Racheakt für den ermordeten Schwager geschildert wird:213 „Lange schon hatte ich es in meinem Sinn, […] euch ans Leben zu gehen, um über das Gold zu schalten und euch das Neidingswerk zu vergelten, daß ihr euern besten Verwandten verraten habt – ihn will ich rächen“ (Vs 38).214 Eine Versöhnung wird vor dem Hallenkampf durch Gudrun versucht, scheitert allerdings: „‚Kann es noch etwas nützen, Sühne zu versuchen?‘ Das aber verneinten alle entschieden“ (Vs 38)215 beziehungsweise: „Sie sprach mit Klugheit, ob sie sich versöhnen könnten, | niemand ließ sich dazu raten, alle verneinten es“ (Am. 48 [46]).216 Der letzte destabilisierende Faktor von Brynhilds Rachemaßnahme ist ihr Tod selbst. Nur Sigurd zu töten ist nicht genug. Die Beleidigung an ihr war so unaussprechlich, dass jeder Beteiligte unkenntlich gemacht werden muss und somit natürlich auch sie selbst. Für den toten Sigurd bietet Gunnar Brynhild an, Reichtümer zu zahlen (vgl. Vs 32).217 Die Zahlung wird vor diesem Hintergrund als Mittel benutzt, welches etwas wieder in Ordnung bringen soll, das aus den Fugen geraten ist. Sie ist eine Symbolhandlung Gunnars, das Gefüge zu restabilisieren. Damit inszeniert er Brynhild als Ehefrau des getöteten Sigurd und macht seine eigene Ehe mit ihr zur Travestie. Das Angebot allerdings wirkt nicht. Es wird nicht angenommen und ist auch fehl am Platz. Unvertraut erscheint uns vielleicht auch die Handlung Sigmunds an seiner Schwester nach der Rache an ihrem verhassten Ehemann Siggeir: „Er forderte seine Schwester auf, herauszukommen und von ihm gute Achtung und große Ehre zu empfangen: so wollte er ihr ihres Gatten Tod büßen“ (Vs 8).218 Obwohl Signy vor allen anderen hinter der Vernichtung Siggeirs stand, thematisiert die Saga trotzdem das Problem, das sich aus dem Verlust ihres Mannes ergibt. Es ist nicht selbstverständlich, dass das ohne eine Entschädigungsleistung für sie abläuft, denn eigentlich stünde sie nach seinem Tod noch immer in einer Rachepflicht – nun Sigmund gegenüber. Ihr Bruder ist sich  







212 „Ófriðr var þá milli Giúcunga oc Atla. Kendi hann Giúcungom vǫld um andlát Brynhildar. Þat var til sætta, at þeir scyldo gipta hánom Guðrúno“. 213 Zusätzlich wurde Grimhild wohl von Atli zu Tode gehungert als Reaktion auf den Verrat an Sigurd und dem darauffolgenden Tod der Schwester Brynhild (vgl. Vs 38). Dies geschieht aber nur ‚off screen‘. 214 „Fyrir launghu hafda ek þat mer i hug, […] at na ydru life, enn rada gullinu ok launa ydr þat nidingsverk, er þer svikut ydarnn enn bęsta magh, ok skal ek hans hefna.“ 215 „‚Mun nockut tioa at leita um sęttir?‘ Enn allir neituþu þvi þverligha.“ 216 „Mælti af manviti, ef myndo sættaz, | ecci at réðuz, allir ní qváðo.“ 217 „þiggia fe“. 218 „Hann bidr systur sina ut ganga ok þiggia af honum god mętord ok mikinn soma ok vill sva bęta henne sina harma.“

6.2 Rache

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dieses Anspruches gewahr und formuliert deswegen seinen Kompensationswillen. Es ist keine materielle Buße, mit der Siggeirs Wert aufgewogen wird, sondern eine Form von Respektsbezeugung der Schwester gegenüber. Sigmund lässt sich seine Tat, obwohl diese vollkommen in Signys Sinne geschehen ist, trotzdem noch einmal von ihr absegnen. Die Ehebindung spielt auch bei Gudruns Rache an Atli eine Rolle. Obschon ihr letztes Gespräch eine Schimpftirade über Atlis Unfähigkeit ist (vgl. Vs 40), sorgt Gudrun doch für seine angemessene Bestattung: „‚Das will ich tun und dir eine ehrenvolle Bestattung bereiten in stattlicher Steinkiste, ich will dich in schöne Tücher hüllen und alles Nötige für dich besorgen.‘ Darauf starb er; sie aber tat, wie sie verheißen hatte“ (Vs 40).219 Ebenso in den Atlamál: „Ein Schiff will ich kaufen und einen bemalten Sarg, | ein Leinentuch will ich wachsen, dass es deinen Leib umhülle, | will auf alles Nötige achten, als ob wir uns noch schätzten“ (Am. 103 [100]).220 Auch nach der Rache – der Ermordung von Kindern und Ehemann – bleiben die Frauen noch immer die Ehegattinnen der Toten. Die Reglementierung der Welt der Heldensage ist darin starr und streng. Einmal verheiratet kommen die Figuren der völsungischen Welt nicht mehr aus dieser Rolle heraus und unterliegen dem mit dem Verlust der Ehemänner verbundenen Problemkomplex. Vor den bisher erwähnten Hintergründen ist es umso überraschender, dass es ausgerechnet gelingt, Gudrun mit dem Rest ihrer Sippe zu versöhnen. Dies wird Gunnar bereits von Brynhild vorausgesagt: „Versöhnt werden du und Gudrun, schneller als du glaubst“ (Sg. 54).221 Als es dann geschieht, ist es ein Freudengrund: „Darauf als sie sich versöhnt hatten, herrschte große Freude“ (Vs 34).222 Zu Anfangs steht die Überlegung, wie die sich von den Gjukungen abgewandte Gudrun für den Tod Sigurds entschädigt werden kann. Die Völsunga saga berichtet: Grimhild „berief ihre Söhne zu einer Unterhaltung und fragte sie, wie sie Gudrun für Mann und Sohn Buße leisten wollten; das wäre ihre Schuldigkeit. Gunnar sprach und zeigte sich bereit, ihr Gold zu geben und so ihren Harm zu büßen“ (Vs 34,223 vgl. auch Gðr. II 18). Um Gudruns anfängliche Unwilligkeit – „Jeder wollte mir […] | Kostbarkeiten schenken und Trost sprechen, | wenn sie mir für manche Schmerzen | Ersatz bieten dürften, ich traute dem nicht“ (Gðr. II 20)224 – zu überbrücken, bringt Grimhild den Vergessenstrank ins Spiel: „Sie wollten ihrer Schwester gute Gaben darbringen und redeten freundlich mit ihr –  









219 „‚Þat mun ek giora at lata þer giora vegligan grauft of giora þer virduligha steinþro ok vefia þik i faugrum dukum ok hyggia þer hveria þaurf.‘ Eptir þat deyrr hann. Enn hun giordi, sem hun hétt.“ 220 „Knǫrr mun ec kaupa oc kisto steinda, | vexa vel blæio at veria þitt líki, | hyggia á þǫrf hveria, sem við holl værim.“ 221 „Sátt munoð iþ Guðrún, snemr, enn þú hyggir“. 222 „Ok eptir þat, er vili þeirra kom saman, giordiz fagnadr mikill.“ 223 „heimtir a tal sonu sina ok spyrr, hveriu þeir vilia bęta Gudrunu son sinn ok mann, kvad þeim þat skyllt. Gunnar segir, kvęzt vilia gefa henne gull ok bęta henna sva harma sina.“ 224 „Hverr vildi mér […], | hnossir velia oc hugat mæla, | ef þeir mætti mér margra súta | trygðir vinna, né ec trúa gerðac.“

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6. Krisenreaktionen

sie aber traute ihrer keinem. Darauf gab ihnen Grimhild einen schädlichen Trank; sie mußten ihn annehmen und dachten seitdem an keinen Streit mehr“ (Vs 34).225 Was der Trank aber eigentlich gewährleistet, ist nicht Vergessen. Er macht Gudrun nur für die Versöhnung mit ihrer Familie empfänglich.226 Eine Bußzahlung ist weiterhin von Nöten, doch wird Sigurds Witwe durch den Trank überhaupt erst in eine Position gebracht, in der sie sie annehmen kann. Die Entschädigung geschieht auf zwei Ebenen. Zum Einen muss Gudrun der Verlust des Mannes materiell vergolten werden: „Ich schenke dir Gold und allerlei Kleinode, daß du sie empfängst als dein Vatererbe, köstliche Ringe und Teppiche von hunischen Mädchen gewebt, die die feinsten sind. Damit ist dir dein Mann gebüßt“ (Vs 34).227 Der andere Aspekt allerdings ist die Aufrechterhaltung ihres sozialen Status, die durch eine Weiterverheiratung mit Atli erreicht werden kann. Mit den sie erwartenden Reichtümern und der damit verbundenen Macht soll Gudrun der neue Ehemann schmackhaft gemacht werden: Ich geb dir, Gudrun, Gold als Gabe, | die Menge allen Besitzes, nach des Vaters Tod, | rote Ringe, Hlödwers Hof, | alle Decken des gefallnen Fürsten. | Hunnische Mädchen, die mit Hölzer weben | und mit Gold sticken, was dir Freude gibt. | Allein sollst du herrschen über Budlis Reichtum, | mit Gold beschenkt und Atli vermählt (Gðr. II 25–26).228

Gudrun muss also auf zweifache Weise gekauft werden. Ab dann besteht ihr Groll nicht länger gegen ihre Brüder,229 sondern nur noch gegen Atli, da der Sigurd un225 „Þeir villdu velia systur sinne godar giafir ok męllto vel vid hana, enn hun trude engum þeirra. Siþan ferde Grimhilldr henne meinsamligan dryck, ok vard hun vid at taka ok munde siþan einghar sakar.“ 226 Anders dagegen Ulrike Sprenger: „Für ihre Zwecke wendet Grímhildr zuerst ein praktisches Mittel an: den Vergessenheitstrank; der aber hält, wie sich später zeigt, nicht an. Die einfachste Erklärung hierfür ist die Ungeschicklichkeit des Verfassers; immerhin könnte dieses Nichtanhalten der Wirkung (auch wenn dies im Lied nicht zum Ausdruck kommt) das tatsächliche Unvermögen der Guðrún, vergessen zu können, klar machen“ (Sprenger 1992, S. 39 f.). 227 „Ek gef þer gull ok allzkonar gripe at þiggia eptir þinn fedr, dyrliga hringa ok arsal hynskrameyia, þeirra er kurteisastar eru, þa er þer bętr þinn madr.“ 228 „Gef ec þér, Guðrún, gull at þiggia, | fiolð allz fiár, at þinn fǫður dauðan, | hringa rauða, Hlǫðvés Sali, | ársal allan, at iofur fallinn. | Húnscar meyiar, þær er hlaða spioldom | oc gora gull fagrt, svá at þér gaman þicci; | ein scaltu ráða auði Buðla, | gulli gǫfguð oc gefin Atla.“ 229 Die Motivation der Hochzeit mit Atli unterscheidet sich in der skandinavischen Tradition sehr stark von der zentraleuropäischen. Die nordischen Texte verstehen nach dem Vergessenstrank, der Wergeldzahlung und der erneuten Heirat Gudrun als mit ihren Brüdern versöhnt. Jeglicher weitere Konflikt ergibt sich nicht zwischen ihr und ihren Verwandten, sondern mit dem neuen Ehemann, der auf Grund von Brynhilds Tod eine Racheabsicht gegen die Gjukungen hegt. Die Zerstörung des Atlihofes ist in der nordischen Tradition die Antwort Gudruns auf die Tötung ihrer Brüder. Die südliche Variante dagegen motiviert Kriemhilts Heirat mit Etzel allerdings gerade dadurch, dass eben keine Versöhnung zwischen ihr und Gunther und vor allem Hagen erreicht werden kann. Die zweideutige Bemerkung ihres Bruders Giselher, „Er [Etzel] kann Dich für all Dein Leid entschädigen“; „Er mac dich wol ergetzen“ (Nl 1244,1), wird in der Absicht ausgesprochen, dass Kriemhilts sozialer Rang durch eine Ehe mit dem Hunnenkönig mehr als wiederhergestellt ist, doch aufgefasst, dass dadurch Vergeltung für Siegfried geübt werden könnte (vgl. Müller 1998, S. 372–373). Kriemhilt sieht in der neuen Ehe gerade die Chance, Rache an Hagen aus 





6.2 Rache

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gleich ist: „mir ziemt’s nicht“ (Gðr. II 27),230 Atli zu heiraten, sagt Gudrun zu ihrer Mutter. Grimhild heißt sie, über ihren Kummer hinwegzusehen. Atli würde ihrer Tochter den toten Ehemann schon aufwiegen, wenn sie erstmal über das Vergangene hinwegsähe: „Erinnere dich nicht des alten Haders, sondern gehab dich so, als ob Sigurd und Sigmund [der gemeinsame Sohn] noch lebten, wenn du mit Atli Söhne hast“ (Vs 34,231 vgl. Gðr. II 28). Letztlich ist es das Flehen der Mutter, das Gudrun zur Heirat überredet (vgl. Gðr. II 32–34). Sie bleibt allerdings bis zuletzt unwillig und Träume deuten auf den Unheilsstern hin, der über der Ehe steht (vgl. Gðr. II 37–43). Als Antwort auf die Erschlagung seiner Verwandten tötet Dag Helgi (vgl. HH. II Prosa nach 29), worauf er seiner Schwester Sigrun, nun Helgis Witwe, Kompensation in Form von Gold und Ländereien zu leisten hat: „Dir bietet der Bruder rote Ringe, | ganz Wandilswe und Wigdalir; | du erhältst das halbe Reich als Buße für den Kummer, | ringgeschmückte Frau, und deine Söhne!“ (HH. II 35).232 Sigrun nimmt die Buße nicht an. Sie preist dagegen den getöteten Ehemann und inszeniert ihn damit als unentgeltbar (vgl. HH. II 37–38). Das einzige, was ihr Helgi ersetzen könnte, wäre Helgi selbst (vgl. HH. II 36). Nach demselben Muster verläuft Gudruns Trauer über Sigurd in der Guðrúnarkviða I. Gullrönd inszeniert die Liebe zwischen Sigurd und Gudrun als einzigartig (vgl. Gðr. I 17). Gudrun preist darauf den toten Sigurd mit ähnlichem Vokabular, wie Helgi von Sigrun gerühmt wurde (vgl. Gðr. I 18). Im Grunde wäre auch er unersetzlich, wenn nicht auf das Hilfsmittel des Trankes zurückgegriffen würde. Als Hjördis beim sterbenden Sigmund sitzt, lässt die Völsunga saga diese sagen: „Nichts dünkte mir zu fehlen, wenn du geheilt würdest und meinen Vater rächtest“ (Vs 12).233 Der tödlichen Verwundung ihres Mannes geht die Erschlagung ihres Vaters Eylimi voraus. Hier wird von der Entgeltung direkt zur Vergeltung übergegangen. Der Tod des Feindes geschieht nicht anstatt einer Entschädigung, sondern ist die Entschädigung selbst. Der tote Vater spielt ab dann keine Rolle mehr. Rache zu üben ist in der Welt der Heldensage ein probates und funktionales Kompensationsverfahren. Jedoch stirbt Sigmund. Als Ersatz für sich sagt er aber ihrer beider herausragenden Sohn Sigurd vorher: „Einem andern ist das bestimmt. […] Gib dich damit zufrieden“ (Vs 12).234 Der Ersatz für den sterbenden Sigmund ist der noch ungeborene Sigurd. In einer weiteren seiner Vorausschauen sagt Gripir zu seinem Neffen: „Zuerst wirst du, Fürst, den Vater rächen | und Eylimi allen Kummer vergelten“ (Grp. 9).235 Eylimi, der Großvater,  

zuüben. Der Untergang der Burgunden und die weitläufige Vernichtung des Etzelhofes sind die Konsequenzen des nicht beizulegenden Konflikts zwischen Kriemhilt und ihrer Familie. 230 „samir eigi mér“. 231 „Eigi skalltu nu a heiptir hyggia, ok lat, sem lifi Sigurdr ok Sigmundr, ef þu att sonu.“ 232 „Þér býðr bróðir bauga rauða, | ǫll Vandilsvé oc Vígdali; | hafðu hálfan heim harms at gioldom, | brúðr baugvarið, oc burir þínir!“ 233 „Enkis þętti mer avant, ef þu yrdir gręddr ok hefndir fedr mins.“ 234 „Audrum er þat ętlat. […] Uni nu vid þat.“ 235 „Fyrst muntu, fylkir, fǫður um hefna | oc Eylima allz harms reca“.

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6. Krisenreaktionen

ist bereits tot, doch liegt ein Kummer auf ihm, der durch die Rache gelindert werden kann. Vergeltung dient nicht nur zur eigenen Entschädigung, sondern ist auch eine Verpflichtung am Toten.236 Nachdem Atli die Brüder Gudruns hat töten lassen, strebt er Versöhnung mit ihr durch Entschädigung an: „Mit Mägden will ich dich trösten, mit herrlichen Kostbarkeiten, | mit schneeweißem Silber, was du selbst willst“ (Am. 70 [67]).237 Diese Zahlung von Reichtümern und Personal kommt für Atli in Frage, obwohl zuvor die grausame Tötung der Gjukungen als sadistischer Akt gegenüber seiner Frau geschildert wurde: „Bemüht euch eifrig, dass Gudrun klage! Ich will’s erblicken, dass sie sich unglücklich fühlt“ (Am. 58 [55]).238 Nun ist Gudrun überdeutlich. Sie sagt, dass mit der Buße keine Versöhnung erreicht werde und dass sie sie nur unwillig annehme, weil sie unter der Verfügungsgewalt ihres Mannes stehe: „Hoffnung gibt’s nicht, ich will’s ablehnen, | ich verweigerte Vergleiche, deren Gründe geringer“ (Am. 71 [68]).239 Ähnlich misslingt der Schlichtungsversuch zwischen Atli und Gudrun in der Völsunga saga: „‚Wir wollen uns versöhnen[, sagt Atli]: ich will dir deine Brüder büßen mit Gold und kostbaren Kleinoden nach deinem Wunsche.‘ Sie erwiderte: ‚[…] Niemals könntest du mir meine Brüder so büßen, daß ich zufrieden wäre. […] Du allein hast über meine Lage zu entscheiden. So muß ich mich denn in diese Lage fügen‘“ (Vs 40).240 Atli übergeht ihre Unwilligkeit und die gescheiterte Versöhnung völlig. Als es dann zu Gudruns Rache für die getöteten Brüder kommt, wird das Motiv von Entgeltung und Vergeltung umgedreht. Nun ist sie es, die zu Atli geht, um „mit goldnem Kelch, dem Fürsten Vergeltung zu reichen“ (Akv. 33).241 Was sie ihm aber gibt, ist nicht Gold als Entschädigung, sondern sie setzt ihm die getöteten Söhne als Speise vor. Als Atli fragt, wo seine Söhne seien, antwortet seine Frau mit größter Gehässigkeit: „Ich werde es dir sagen und dein Herz erfreuen“ (Vs 40).242 Die Tötung der Söhne ist nur ein Teil der Rache. Der andere ist die Tötung von Atli selbst. In Völsunga saga, Atlamál und  

236 Dahingehend ist Sigurd ein ebensolches Racheinstrument wie Sinfjötli (siehe 4.1.1). Im Sterben liegend zeichnet Sigmund Sigurds Determination zur Rache vor, indem er prophezeit, dass ihm ein Rächer geboren werde. Intensiviert wird das nochmals durch die Übergabe des Schwertes des Vaters an den Sohn durch Hjördis. Vgl. Grünzweig 2009, S. 395: „Es ist äußerst interessant, daß das Schwert erst wiederhergestellt werden muß, genauso wie der Rächer-Sohn erst geboren wird. […] Als Sigurðr herangewachsen ist, schmiedet ihm Regin das Schwert neu. Die erste Heldentat, die Sigurðr damit vollbringt, ist die Rache für seinen Vater, die gleichzeitig die für den Vater seiner Mutter ist.“ 237 „mani mun ec þic hugga, mætom ágætom, | silfri snæhvíto, sem þú siálf vilir.“ 238 „kostit svá keppa, at kløcqvi Guðrún! | siá ec þat mættac, at hon sér né yndit.“ 239 „Ón er þess engi, ec vil því níta, | sleit ec þá sáttir, er vóro sacar minni“. 240 „‚Vid skulum nu giora ockra sętt, ok vil ek bęta þer brędr þina med gulle ok dyrum gripum eptir þinum vilia.‘ Hun svarar: ‚[…] Muntu ok alldri bęta brędr mina sva, at mer hugne, […] mantu nu einn vid mik rada. Mun ek nu þenna kost upp taka‘“. 241 „með gyltom kálki, at reifa giold rǫgnis“. 242 „Ek mun þat segia þer ok glada þitt hiarta.“  

6.2 Rache

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Skáldskaparmál taucht zu dieser Tat wie aus dem Nichts243 Niflung, ein Sohn Högnis, als Rächer auf, der sich mit seiner Verwandten in Verbindung setzt, damit die Tat gemeinsam vollführt werden könne. Niflung, heißt es, „hatte einen großen Haß auf König Atli und sagte zu Gudrun, er wolle seinen Vater rächen. Die nahm das wohl auf, und sie hielten Rat“ (Vs 40,244 vgl. Am. 86). Die Rachetat wird als ‚joint effort‘ von Tante und Neffe inszeniert: „Gudrun nahm ein Schwert und stieß es dem Könige Atli vorn in die Brust – beide setzten sie es ins Werk, Gudrun und Högnis Sohn“ (Vs 40,245 vgl. Am. 91, vgl. Sskm 42). Niflung hat für die Tat selbst keine Funktion. Er wurde zuvor nicht erwähnt und verliert im Nachhinein vollkommen an Bedeutung. Er existiert allein, um Kontinuität aufzuzeigen. Mit seinem kurzen Erscheinen soll gezeigt werden, dass Högni einen Nachkommen hat, der in seiner Vertretung Hand an Atli legt.  

6.2.2 Schreckliche Rachetaten Die Erzählungen der Völsungensage verdeutlichen uns, dass Rachetaten – anders als die konstante Kriegsführung der Protagonisten – keinesfalls Alltäglichkeiten darstellen. Rache ist schrecklich und unerhört und erschüttert bisweilen auch die ausübenden Figuren. Beim Kampf in Atlis Halle kämpft Gudrun auf der Seite ihrer Brüder gegen die Hunnen. Danach heißt es dazu in der Atlakviða: „Keine Frau fährt seitdem | in die Brünne, die Brüder zu rächen“ (Akv. 43).246 Ihre Tat wird als einzigartig dargestellt und als nie wieder dagewesen. Es ist der Höhepunkt weiblichen heroischen Handelns. Zur Vaterrache zieht Rerir mit einem „Heere gegen seine Verwandten; es schien ihm, sie hätten es vorher gegen ihn verschuldet, wenn er ihre Verwandtschaft gering schätzte. Das tat er denn: er hörte nicht eher auf, als bis er alle Mörder seines Vaters erschlagen hatte, so unnatürlich es auch in jeder Hinsicht war“ (Vs 1).247 Die vollständige Auslöschung der Täter ist Rerirs Antwort auf den Verwandtenmord. Dass die Verwandtschaftsbindung nichts mehr zählt, ist dem verräterischen Initialhandeln der Brüder von Rerirs Mutter zuzuschreiben. Er zahlt ihnen ihre Tat mit gleicher Münze heim und nachdem die Mutterbrüder die Sippenbindung verraten haben, bedeutet sie ihm selbst auch nichts mehr. Der Text markiert es dennoch als ‚uskapliga‘, unnatürlich, sich auf diese Weise an seinen Verwandten zu vergehen. Als unangemessen beschreibt auch Atli die Rache Gudruns in Form der Tötung der gemeinsamen Kin 





243 Vgl. Krause 2004, S. 374 Anm.: „unvermittelt“ sei das Auftauchen Niflungs. 244 „hafde mikla heipt vid Atla konung ok sagde Gudrunu, at hann villde hefna fedr sins. Hun tok þvi vel, ok giora rad sin.“ 245 „Gudrun tok eitt sverd ok leggr fyrir briost Atla konungi. Vela þau um będe ok son Haugna.“ 246 „ferr engi svá síðan | brúðr í brynio brœðra at hefna“. 247 „ferr nu a hendr frendum sinum med þenna her, ok þickia þeir fyr giort hafa sakar vid sik, þo at hann męti litils frendsemi þeirra, ok sva giorir hann, fyrir þvi at eigi skilzt hann fyrri vid, enn hann hafde drepit alla fedrbana sina, þo at uskapliga veri fyrir allz sakir.“  

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6. Krisenreaktionen

der:248 „Bist zum Totschlag gegangen, unnatürlich ist er“ (Am. 92 [89]).249 Es sind die weiblichen Figuren der Erzählungen, die von den Rachetaten besonders in Mitleidenschaft gezogen werden. In der männlichen Heroenbiographie ist die Rache zumeist die erste Großtat. Sie steht am Anfang des Heldenlebens und ist das, was der junge Held leisten muss, um überhaupt als solcher zu gelten. Die Tat markiert den Eintritt in den Heroenkosmos.250 Für die Frauenfiguren stellt der Racheakt zumeist ihre letzte Tat dar, mit der sie ihre eigene unwiederbringlich zerrüttete Existenz letztlich vollständig in den Untergang treiben. Selten überleben sie ihre Rache selbst.251 Signy ist sich der Exorbitanz der eigenen Rache am verhassten Ehemann bewusst: „Aber was ich getan habe um der Rache willen, ist derart, daß ich auf keine Weise länger leben darf, und freiwillig werde ich mit ihm sterben, obwohl ich ihn wider Willen zum Manne hatte“ (Vs 8).252 Für sie ist in der Welt danach kein Platz mehr. Ebenso würde es sich mit Gudrun verhalten, die nach ihrer Rache und dem Mord an ihren Kindern todgeweiht ist. „Weise wollt Gudrun sich selbst töten“ (Am. 104 [101]),253 heißt es in den Atlamál. In der Erzählwelt darf man nach einem solchen Verhalten nicht weiterleben und das ist auch mit einer gewissen Selbsterkenntnis Gudruns verbunden. Der Text befürwortet ihren Todeswunsch. Dieser wird ihr aber an dieser Stelle noch nicht erfüllt: „Gudrun aber wollte nicht länger leben nach dieser Tat – jedoch ihr Todestag war noch nicht gekommen“ (Vs 40).254 Das bedeutet aber keinesfalls, dass die Tat selbst als verwerflich präsentiert wird.255 Die Atlamál stellen die Tötung der Kinder als die einzig richtige Reaktion auf das dar, was Gudrun von Atli angetan wurde: „sie tat, was sein musste, durchschnitt beiden den Hals“ (Am. 79 [76]).256 Es ist das Gesetz heroischer – und vor allem weiblicher – Rache, seinen Feind vollständig zu vernichten und schließlich sich selbst.257 Was von Atli später im Lied als abartig angesehen wird (vgl. Am. 92 [89]), inszeniert der Text an dieser Stelle selbst als das einzig richtige  





248 Dass Kinder in der Sagaliteratur im Normalfall als Racheziele ausgeschlossen sind, erwähnt William Ian Miller (vgl. Miller 1990, S. 207). 249 „Vaðit hefir þú at vígi, þótt værið scaplict“. 250 Für Rerir vgl. Vs 1, für Sigmund und Sinfjötli Vs 6–8. Vs 17 sowie die Ereignisse der Reginsmál für Sigurds Vaterrache. Für Hamdir und Sörli stellt die Rache ihre erste und letzte große Tat dar (vgl. Vs 44 sowie die Hamðismál). 251 Vgl. zum Freitod der Frauen in der Völsungensage Kuhn 1971 [1948/1950], S. 82–85. 252 „Hefi ek ok sva mikit til unnit, at fram kęmizt hefndinn, at mer er med aungun kosti lift. Skal ek nu deygia med Siggeiri konungi lostig, er ek atta hann naudig.“ 253 „fróð vildi Guðrún fara sér at spilla“. 254 „Gudrun villde nu eigi lifva eptir þesse verk, enn endadagr hennar var eigi enn kominn.“ 255 Vgl. Kuhn 1971 [1948/1950], S. 85: „Alles, was sie taten, geschah um Rache willen und war dadurch gerechtfertigt.“ 256 „sciptit scapliga, scar hon á háls báða.“ 257 Vgl. Kuhn 1971 [1948/1950], S. 87: „weil es in der heroischen Schicht die Forderung gab, daß die Rächerin dem erschlagenen Gatten nachfolgte.“  







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6.2 Rache

Handeln.258 Weibliche Rache ist in der Welt der Völsungen so umfassend, dass sie die Figuren lebensunfähig macht. Den Tod findet Gudrun letztlich in der Guðrúnarhvöt, da sie ihren Leuten befiehlt, einen Scheiterhaufen für sie zu errichten (vgl. Ghv. 20), nachdem sie auch ihre letzten Söhne, Hamdir und Sörli, in den Tod geschickt hat. So stirbt sie als letzte der zentralen Frauen der Völsungensage in den Flammen.259 Nach der Ermordung Sigurds wird den Gjukungen die Schrecklichkeit der eigenen Tat bewusst: „diese böse Tat können wir nie wieder gut machen“ (Vs 32),260 kommentiert Högni und Gunnar wirft Brynhild vor, auf Grund ihrer Machenschaften den Schwurbruder verloren zu haben, weswegen sie nun selbst – in Form einer gespiegelten Strafe – den eigenen Bruder verlieren sollte. Idealerweise solle sie sogar dabei zusehen, um die Intensität der Strafe noch zu steigern: „Ein großes Ungeheuer bist du […]. Keiner hätte es mehr verdient als du, den König Atli vor sich erschlagen zu sehen, du müßtest eigentlich dabeistehen“ (Vs 32,261 vgl. Sg. 32). Die Rache an Sigurd wurde zwar durchgeführt, doch konnte dies Brynhilds Kummer nicht beseitigen. Sie lacht, als sie Gudruns Leid über den Tod ihres Mannes gewahr wird, doch wird sie danach leichenblass („Warum verlierst du deine Farbe?“, Vs 32).262 Die von ihr initiierte Tat wird von ihr nun „weinend beklagt[…]“ (Vs 32).263 Letztlich stirbt Brynhild nach ihrer Aufstachelung der Gjukungen gegen Sigurd mit diesem vereint auf dem Scheiterhaufen.264 Wie schon vom völsungischen Helden vorausgesehen („du wirst mich nicht überleben“, Vs 31),265 lebt Brynhild nach der Rächung ihrer Schmach nicht lange wei 





258 Es wurde argumentiert, dass es sich allerdings auch um einen Schreibfehler handeln könnte (vgl. von See/La Farge et al. 2012, S. 605). Gudrun würde dann eben nicht handeln, wie sie solle oder wie es angemessen sei, sondern ihre Tat wäre schrecklich und unerhört. Meines Erachtens gibt es angesichts der auch anderswo in den Texten der Völsungensage elaborierten weiblichen Heldenmentalität (vgl. etwa Vs 6–8 und 43 oder Ghv. 2–8 bzw. Hm. 2–10) keinen Grund, hierin eine Textverderbnis zu sehen. Gudrun handelt nach schrecklicher, allerdings angebrachter Heldenmanier. Vgl. Clark 2012, S. 30: „the poet seems to depict Guðrún as a kind of impressive monster in her inhuman self-control.“ 259 Nicht aber in der Völsunga saga. George K. Anderson interpretiert das als intentionierte Steigerung der Tragik der Gudrunfigur durch den Sagaautor, der bereits zuvor berichtet, dass Gudrun der Freitod in den Wellen verwehrt bleibt. Anders als die übrigen Helden ist sie nicht zum Sterben, sondern zum Überleben verdammt (vgl. Anderson 1982, S. 49). Eine sagengeschichtliche Erklärung liefert Hans Kuhn: „Gudrun war die Heldin der Hamdirsage geworden […], und diese war in die Zeit nach dem Untergang der Burgunden eingeordnet. Gudrun durfte also nicht sterben. Eh diese Sagenverknüpfung kam, muß ihr der Selbstmord aber wohl geglückt sein“ (Kuhn 1971 [1948/1950], S. 82). 260 „þetta ed illa verk, er ver fam alldri bót.“ 261 „mikit forat ertu […] ok engi vere makligri til at sea Atla konung drepinn fyrir augum þer, ok ęttir þu þar yfir standa.“ 262 „hvi hafnar þu þinum lit?“ 263 „harmade med grate.“ 264 Durch Schwert und Feuer in der Völsunga saga (vgl. Vs 33). Alternativ nur durch das Schwert in der Guðrúnarkviða I (vgl. Gðr. I Abschlussprosa). 265 „þu munth eigi eptir mik lifa“.  









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6. Krisenreaktionen

ter.266 In der Welt ist nun kein Platz mehr für sie: „Brynhild wollte nach Sigurd nicht mehr leben“ (Gðr. I Abschlussprosa).267

6.2.3 Kalt serviert Nachdem in der Færeyinga saga der junge Sigmund und sein Cousin Thorir Zeuge der Tötung ihrer Väter werden, beginnt Thorir zu weinen. Sigmund sagt darauf zu ihm: „Lass uns nicht weinen, Verwandter, aber uns umso länger daran erinnern“ (Fær 7).268 Weine nicht, erinnere dich! Die heroische Figur vergisst nicht. Wird in der heroischen Welt eine Verletzung irgendeiner Art verübt, dann schwelt die Angelegenheit so lange, bis sie irgendwann auf den Verursacher zurückkommt. Wir haben bereits besprochen, welch hohen Stellenwert deswegen die komplette Auslöschung des Feindes im Erzählkosmos hat.269 In einer Gesellschaft, in der nicht vergessen wird und Versöhnung nahezu ausgeschlossen ist, darf niemand überleben, der sich der Verletzung erinnern kann. Die Figuren der Völsungensage sind extrem nachtragend. Ihre Rache servieren sie zumeist kalt und bisweilen dauert es Jahre oder eine komplette Generation bis sie ihre Vergeltung üben,270 die jedoch letztlich unaufhaltsam ist. Nach jahrzehntelangem Eheleben mit Siggeir sagt Signy, nachdem sie ihre Rache durchgeführt hat, zu ihrem Bruder und Geliebten: „Nun sollst du werden gewahr, ob ich dem König Siggeir den Mord König Völsungs nachgetragen habe“ (Vs 8).271 Das hat sie. Dasselbe gilt allerdings auch für ihren Ehemann. Dieser trägt den Völsungen die Bloßstellung nach, die er auf seiner Hochzeitsfeier durch Sigmund und Odin erfahren hat. Sofort kreisen seine Gedanken um Rache. Die eigentliche Tat allerdings wird postponiert: „aber noch denselben Abend ersann er eine Vergeltung dafür, eine Rache, die später ausgeführt wurde“ (Vs 3).272 Als Gudrun nach dem Königinnenstreit zu Sigurd sagt, dass Brynhild vor Kummer schlafe, durchschaut dieser, was gerade geschieht: „Sie schläft nicht – sie beschäftigt sich mit großen Plänen gegen uns“ (Vs 31).273 Ihre Rache wird vorbereitet, ist gut durchdacht und nonimpulsiv. Dasselbe Bild finden wir nach der Erschlagung der Gjukungen durch Atli. Gudruns Kummer ist stets präsent  



266 Vgl. Heusler 1929, S. 16: „dann muß sie in den Tod gehen: nicht nur um die unwürdige Ehe zu verlassen, sondern um ein sühnendes Selbstgericht zu vollziehen: nach solcher Tat kann sie nicht länger leben!“ 267 „Brynhildr vildi eigi lifa eptir Sigurð.“ 268 „gratum eigi frændi en munum læíngr“ (Übersetzung Andreas Schmidt). 269 Siehe 5.1.2. 270 In der isländischen Sagawelt ist diese lange hinausgezögerte Rache eine Tugend (vgl. Miller 1990, S. 193). Je länger der komplette Rachevorgang dauert, umso wirksamer die damit einhergehenden Akte des Terrors. Vorschnelle Rachetaten seien nach Miller kleingeistige und gewöhnliche Handlungen. 271 „Nu skalltu vita, hvart ek hefi munad Siggeiri konungi drap Volsungs konungs.“ 272 „enn þat sama kvelld hugdi hann laun fyrir þetta, þau er sidar komu fram.“ 273 „Eigi sefr hun. Hun hefir storrędi med hondum vid ockr.“  



6.2 Rache

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und lässt sie schlaflos auf Rache sinnen. In den Heldenliedern sagt sie: „Ich schlief sehr selten, seit sie fielen“ (Am. 81 [78])274 oder: „Seitdem lag ich – nicht schlafen wollt ich – | trotzig im Bett“ (Gðr. II 44).275 In der Völsunga saga wird beschrieben, wie sie ihren Zorn verhehlt und im Geheimen die Rache plant: „Sie stellte sich nun freundlich in Worten, dennoch stak in Wirklichkeit dahinter ihre frühere Gesinnung. […] Gudrun aber gedachte ihres Harms und sann darauf, wie sie dem König eine Schmach antun könnte“ (Vs 40).276 Einmal destabilisiert, beginnt sich die heroische Gesellschaft zu zerstören. Harmonie ist nur ein kurzes, zerbrechliches und vorübergehendes Gebilde, das beim kleinsten Anstoß in langwierig geplanter Selbstvernichtung aufgeht. Rerir verübt seine Vaterrache erst, nachdem er seine eigene Macht und Herrschaft gefestigt hat: „als er glaubte, in seinem Reiche festen Fuß gefasst zu haben, da erinnerte er sich der Händel, die er mit seinen Mutterbrüdern hatte, die seinen Vater erschlagen hatten“ (Vs 1).277 An erster Stelle steht für ihn die Stabilisierung des eigenen Königtums. Die Rache kommt bei ihm zuletzt. Anders verhält sich das bei Sigmund, dessen Vaterrache als Gegenmodell hierzu aufgebaut ist. Es ist die heroische Rache eines Gesetzlosen, ausgeübt aus einem herrschafts- und gesellschaftsfernen Draußen. Dennoch wird Sigmunds und Signys Rache beinahe unverständlich lange vorbereitet, da die Erzählung die Rächer einen solchen Wert auf die Rachehelfer legen lässt, ohne die die Rache anscheinend nicht vollführt werden kann. Der Text lässt Jahre mit gesichtslosen Rachevorbereitungen im Wald vergehen. Die Saga berichtet dann, „daß Signy, als sein [Siggeirs] ältester Sohn zehn Winter alt war, ihn zu Sigmund sandte, damit er ihm Hilfe leisten sollte, wenn er etwas unternehmen wollte, um seinen Vater zu rächen“ (Vs 6).278 Doch dass Sigmunds Söhne in den Wald geschickt und dann zu Rächern gemacht werden sollen, ist nicht nur Hilfe zur Rache, sondern bereits Teil der Rache selbst. Es ist ein langwieriger Ausrottungsprozess, in dem die Söhne vom Vater entfernt, als unterlegen entlarvt und dann entsorgt werden sollen („Ich ließ unsre Kinder töten, weil die mir zu träge zur Vaterrache schienen“, Vs 8).279 Ihr Versagen im Wald ist Siggeirs Versagen als heroische Figur.280 Die Völ 



274 „svaf ec mioc sialdan, síðans þeir fello“. 275 „Læga ec síðan – né ec sofa vildac – | þrágiarn í kǫr“. 276 „Giorir hun sik nu blida i ordum, enn þo var samth undir raunar. […] Nu hyggr Gudrun a harma sina ok sitr um þat at veita konungi nockura mikla skaumm.“ 277 „ok nu er hann þickizt hafa fotum undir komizt i riki sinu, þa minnizt hann a þer sakir, er hann atti vid modurbrędr sina, er drepit hofdu faudr hans“. 278 „þa er enn ellri son hans er X vettra, at Signy sendir hann til moz vid Sigmund, at hann skyllde veita honum lid, ef hann villde nockut leita vid at hefna fedr sins.“ 279 „Ek let drępa baurn ockr, er mer þottu ofsein til faudurhefnda“. 280 Otto Höfler dagegen fragt, warum die Episode so umständlich aufbereitet sei. Dass Siggeirs Söhne Rachehelfer sein sollten, ist für ihn unschlüssig: „Sigmund also erzöge sich, um seinen Schwager Siggeir zu töten, dessen vermeintlichen eigenen Sohn zum Krieger heran, ein Gedanke, der dem altgermanischen Sippenrecht geradezu Hohn spricht. – Ähnlich unmöglich ist die Geschichte von den zwei älte 





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6. Krisenreaktionen

sungenerzählungen schicken uns im Moment von Gudruns Rache an Atli Högnis Sohn Niflung, der zusammen mit seiner Tante die Rache vollstreckt. Er ist eine Miniaturausgabe des Vaters, der eigens für die Situation erschaffen scheint, um an Högnis statt Atli zusammen mit Gudrun den Todesstoß zu versetzen.281 Doch auch die Episoden um die Tötung von Siggeirs und Atlis Söhnen verstehen die Kinder als kleine und vor allem verwundbare Varianten des Vaters.282 Die Kinder beider ungewollter Ehemänner legen dabei dasselbe Verhalten an den Tag: Siggeirs Söhne „spielten mit Gold[…]“ (Vs 8)283 und die Atlis werden getötet „als sie am Hochsitzpfeiler spielten“ (Vs 40).284 Gezeichnet wird das Bild von verweichlichten, spielenden Kindern im Inneren der Halle. In beiden Fällen klingt ein Reichtums- und Herrschaftsmotiv an, das aber negativ konnotiert ist. Gegenüber der behüteten, weichen, aber letztendlich hilflosen Herrschaft steht das harte und von außen eindringende rächende Element der heroischen Völsungen. Durch den Tod der Kinder wird die Dynastie der Racheziele zerstört und damit ihre herrscherliche Kontinuität. In Atlis Fall geschieht das durch Stellvertreterkannibalismus, was für uns mit einem besonderen Schrecken und Ekel verbunden ist.285 Dem Vater wird vorgespielt, er hätte seine Kinder aus Unwissenheit selbst getötet. Das Grauen besteht gerade darin, dass man unwissentlich zum Mittäter gemacht wird.286 Der Inzest zwischen Bruder und Schwester, der zur Zeugung Sinfjötlis führt, ist ebenso Teil der Rache. Siggeir wird gehörnt und ihm wird ein Kuckuckskind untergeschoben, das sich aber seiner eigenen Sippenüberlegenheit bewusst ist und dann willig zum Mörder der Halbbrüder wird. Zur Rache gehört also nicht nur die Demontage

ren Brüdern, die vor Sinfjǫtli ‚geprüft‘ werden, ob sie zur Vollstreckung der Rache taugen. Da hat man gar Siggeirs wirkliche leibliche Söhne zu Kandidaten der heiligen Sippenrache an ihm gemacht!“ (Höfler 1934, S. 191). Diese – für mich nur scheinbare – Ungereimtheit rühre von den dem Text zugrundeliegenden, doch vom Sagaverfasser unverstandenen Motiven einer männerbündischen Initiationsweihe (vgl. Höfler 1934, S. 188–219; siehe 4.1.2). 281 Vgl. Finch 1965, S. xxxi: „Hogni’s son was clearly invented as an instrument of vengeance“. 282 Vgl. Deichl 2016, S. 220 Anm. 283 „leika ser […] at gulli“. 284 „er þeir lęku vid stocke.“ 285 Analogien zu dieser Rachepraxis finden sich in der griechischen Mythologie im Rahmen des Atreusmahles und der Tat der Prokne (vgl. von Geisau 1964, Sp. 714 f.; Grimstad 2000, S. 24 f.; Teichert 2008, S. 103–108). Doch auch in unserer modernen Unterhaltungskultur gilt der Stellvertreterkannibalismus noch immer als die ultimative Rachehandlung. In ‚Game of Thrones‘ (2016, Staffel 6, Episode 10) setzt Arya Stark Walder Frey seine Söhne in Form einer Pastete vor, bevor sie ihn selbst tötet und im komödiantischeren South Park (2001, Staffel 5, Episode 1) serviert Eric Cartman seinem Erzfeind dessen Eltern in Form eines scharfen Chilis, während er ihn mit dem Satz ‚i made you eat your parents‘ verspottet. Diese Akte sind gerade auf Grund ihrer Perversion so wirksam. Judy Quinn nennt es „the worst crime in history“ (Quinn 2003, S. 99). 286 Vgl. zu Atlis Tat in Bezugnahme zu Gunnars Eidbruch Kuhn 1971 [1948/1950], S. 81: „Selbst nach der Sitte würde ihn [Gunnar] die Unwissenheit wenig entlastet haben, so wie sie Atli nicht von der furchtbaren Schuld befreit hat, daß er die Herzen seiner Söhne aß.“  























6.2 Rache

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von Siggeirs Herrschaft,287 sondern auch die Dekonstruktion seiner Figur. Als Sigmunds Sohn ihm als Rachehelfer geschickt wird, berichtet die Völsunga saga, „daß dem Sigmund Sinfjötli noch zu jung zur gemeinsamen Rache erschien, und er wollte ihn daher zuvor an kühne Taten gewöhnen“ (Vs 8).288 Die Mordtaten im Wald sind Platzhaltertaten, wo das im Kleinen geübt wird, was später im Großen ausgeführt werden soll.

6.2.4 Regins und Sigurds Vaterrache Ein Gegenmodell zu den ansonsten nicht funktionalen Entschädigungsbestrebungen der Völsungensage finden wir bei der Wergeldzahlung der Asen für Otr. Nachdem Loki den Gestaltwandler aus einer Laune heraus mit einem Stein erworfen hat, kommen die Götter in die Lage, sich freikaufen zu müssen. Die Zahlung ist zwar auf Grund der fluchbeladenen Natur des Wergeldes auf andere Art prekär, an sich gelingt es den Asen aber, sich von ihrer Schuld gegenüber Otrs Sippe zu befreien. Es handelt sich um einen Akt funktionierender Kompensation: „Die Asen boten für sich Lösegeld, so viel, wie Hreidmarr selbst fordern wollte. Und so wurde es mit ihm vereinbart, und die Eide wurden gesprochen […]. Das sollte ihre Versöhnung sein“ (Sskm 39).289 Das, was für den Toten zu zahlen ist, steht in direktem Zusammenhang mit seiner Physis. Um seine Sippe zu ‚ergetzen‘, muss sein Körper wahrhaft aufgewogen werden. In den Reginsmál erzählt Regin: „Da packten wir sie mit den Händen und auferlegten ihnen als Lösegeld, den Otterbalg mit Gold zu befüllen und ihn außen mit rotem Gold zu bedecken“ (Rm. Einleitungsprosa).290 Je körperlich präsenter der Tote, desto mehr ist er auch wert und erst als er vollkommen bedeckt wird, ist Sühne erreicht: „Dann sollten die Asen Gold darüber legen und ihn bedecken. Aber als das geschehen war, trat Hreidmarr hervor und sah ein Barthaar. Er befahl, es zu bedecken“ (Rm. Prosa nach 5).291 Der tote Sohn wird komplett durch Gold ersetzt und erst dann, wenn wirklich nichts mehr von ihm sichtbar ist und der Makel seines Verlustes komplett unsichtbar gemacht wurde, kann über seine Erschlagung hinweggesehen werden. Nach der erfolgreichen Buße der Asen ergeben sich dennoch sippeninterne Probleme: „Fafnir und Reginn forderten von Hreidmarr Verwandtenbuße für Otter, ihren

287 Siehe 4.1.1 bzw. 5.1.5. 288 „at Sigmundi þickir Sinfiotli of ungr til hefnda med ser, ok vill nu fyst venia hann med nockut hardrędi.“ 289 „Æsir bjóða fyrir sik fjǫrlausn svá mikit fé sem Hreiðmarr sjálfr vill á kveða, ok varð þat at sætt með þeim ok bundit svardǫgum. […] svá skal þat vera at sætt þeira.“ 290 „Þá tóco vér þá hǫndom oc lǫgðom þeim fiǫrlausn at fylla otrbelginn með gulli oc hylia útan oc með rauðo gulli.“ 291 „Þá scyldo æsirnir hlaða upp gullino oc hylia. Enn er þat var gort, gecc Hreiðmarr fram oc sá eitt granahár, oc bað hylia.“

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6. Krisenreaktionen

Bruder. Er sagte nein dazu. Da tötete Fafnir den schlafenden Hreidmarr, seinen Vater, mit dem Schwert“ (Rm. Prosa nach 9).292 Der tote Otr ist zwar durch die Goldzahlung und vollständige Bedeckung für den Vater gebüßt, allerdings geht die Bußpflicht nun von den Asen auf den Vater über, der den übrigen Söhnen die Zahlung verweigert. Anstatt nun an den Asen den toten Bruder zu rächen, muss der Vater durch den Sohn293 für eine unterlassene Bußzahlung sterben. Obwohl Hreidmar für Otr ausgezahlt worden ist, sind die Söhne noch nicht befriedigt. Die Texte stellen es als extrem schwierig dar, nach dem Tod einer Figur die Harmonie der Sippe zu restabilisieren, obwohl die Entschädigung erfolgreich war. Die Hinterbliebenen zufriedenzustellen ist grenzwertig unmöglich. Ins Spiel gebracht wird von den Reginsmál bei Hreidmars Erschlagung die Tochter Lyngheid, die den Totschlag kommentiert: „Selten wird die Schwester, auch wenn sie den Vater verliert, | den Schmerz am Bruder rächen“ (Rm. 10).294 Es kommt die Frage auf, wie mit Fafnirs Tat umzugehen ist. Der Verwandtenmord muss abermals durch Blutrache vergolten werden. Lyngheid kommt für diese Tat am Bruder Fafnir nicht in Frage: das sei unüblich, so sie selbst. Was zerrüttet wurde, wird sie selbst nicht wieder in Ordnung bringen. In des sterbenden Hreidmars Antwort darauf wird das Bedürfnis nach einem Rächer laut, der umständlich für die Situation gezeugt werden soll: „Gebär doch eine Tochter […], | wenn du keinen Sohn hast mit einem Fürsten; | gib dem Mädchen einen Mann in großer Not! | Dann kann ihr Sohn deinen Schmerz rächen“ (Rm. 11).295 Hreidmar thematisiert die Erschlagung Fafnirs, des eigenen Sohnes. In seinen letzten Atemzügen verlangt er nach einem Rächer für sich selbst. Zur Not solle von der Tochter eine Enkelin geboren werden, die dann verheiratet werden solle, um den Rächer zu gebären. Nach dem Racheinstrument wird falls nötig noch in der dritten Folgegeneration gesucht. Als Fafnir dann gleich seinem Vater zuvor Regin die Bruderbuße versagt, holt sich dieser Rat bei seiner Schwester Lyngheid (vgl. Rm. Prosa nach 11). Dieser lautet: „Den Bruder sollst du freundlich bitten | ums Erbe und edlere Gesinnung; | es ziemt sich nicht, dass du mit dem Schwert | von Fafnir den Schatz forderst“ (Rm. 12).296 So etwas kennen wir von den weiblichen Figuren des Völsungenkosmos nicht. Lyngheid versucht zu deeskalieren. Sie heißt Regin, auf die gewaltsame Lösung zu verzichten und an die Güte des Bruders zu ap-

292 „Fáfnir oc Reginn krǫfðo Hreiðmar niðgialda eptir Otr, bróður sinn. Hann qvað nei við. Enn Fáfnir lagði sverði Hreiðmar, fǫður sinn, sofanda.“ 293 Ebenso in der Völsunga saga (vgl. Vs 14). In den Skáldskaparmál stirbt Hreidmar durch beide überlebende Söhne (vgl. Sskm 39). 294 „Fá mun systir, þótt fǫður missi, | hefna hlýra harms.“ 295 „Al þú þó dóttur […], | ef þú getrað son við siclingi; | fá þú mey mann í meginþarfar! | þá mun þeirar sonr þíns harms reca.“ 296 „Bróður qveðia scaltu blíðliga | arfs oc œðra hugar; | era þat hœft, at þú hiorvi scylir | qveðia Fáfni fiár.“

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6.2 Rache

pellieren. Auf heroische Weise das Gold mit Gewalt zu gewinnen, kommt der mythischen Figur Regin297 nicht zu. Es zieme sich nicht für ihn. Die Schwester sucht nach einer versöhnlichen und friedlichen Lösung. Seinem Zögling Sigurd erzählt Regin in der Völsunga saga: „Später erschlug Fafnir seinen Vater […] und versteckte den Ermordeten, ich aber bekam nichts von dem Schatze“ (Vs 14).298 Da ist ein großes Unrecht geschehen, das nun wieder gut gemacht werden muss. Der Vater ist erschlagen – das geschah heimlich299 – und Regin ist um seinen Anteil an der Wergeldzahlung für den toten Bruder betrogen: „ich entbehre des Vatererbes und der Bruderbuße“ (Vs 14).300 Das heißt aber nicht, dass es ihm einfach an Reichtum mangelt. Der fehlende Schatz ist ein Symbol für seine zerstörte Sippenintegrität. Sigurd versteht Regins Familiensituation: „Viel hast du verloren, und sehr böse sind deine Gesippen gewesen“ (Vs 14).301 „Da stachelte Reginn Sigurd auf, Fafnir zu töten“ (Fm. Prosaeinleitung),302 erzählt die Einleitung der Fáfnismál. Regins Reizungen Sigurds, den Drachenschatz zurückzuholen, dienen der Entstörung des Missstandes in Regins Familie. Goldgier ist bei der Aufhetzung zur Drachentötung nur ein zweitrangiges Motiv. Hauptsächlich ist es eine Rachetat, die die Sippenintegrität wieder restituieren soll. Die zahlreichen ehrenrührigen Provokationen des Ziehvaters gegenüber Sigurd verstehen sich vor diesem Hintergrund als hvǫt. Diese – die Aufhetzung oder Aufreizung – ist der schematische Akt303 der Anstachelung einer Figur zur Rache. Das geschieht dadurch, dass eine Figur, der zukünftige Rächer, durch den Vorwurf von Feigheit, Tatenlosigkeit, fehlender Heldenhaftigkeit und sogenannter Unmännlichkeit provoziert und auf die Rache eingeschworen wird. Die hvǫt setzt die Handlung in Gang304 und katalysiert innerhalb des heroischen Erzählens heldisches und untergangsorientiertes Handeln. Das Ziel der hvǫt wird einem Druck ausgesetzt, dem es nicht standhalten kann, ohne dabei dem Heldenideal zu widersprechen.305 Der Ausübende der Aufhet 







297 Siehe 3.3.6. 298 „Siþan drap Fafnir faudur sinn […] ok myrde hann, ok nada ok aungu af fenu.“ 299 Die Verbrechen Mord und Totschlag werden ebenso wie Diebstahl und Raub im germanischen Recht anhand der Heimlichkeit der Ausführung unterschieden. Vorsatz, Brutalität und Gewalt spielen im Gegensatz zum heutigen Rechtsverständnis eine untergeordnete Rolle. Vgl. dazu Hahn 2016, S. 147. 300 „ek misse faudur arfsins ok brodurgialldana.“ 301 „Mikit hefir þu latid, ok storillir hafa þinir frendr verit.“ 302 „Þá eggiaði Reginn Sigurð til at vega Fáfni.“ 303 Vgl. Wolf 1965, S. 110 f.: dem „Szenentyp der hvöt […] eignet eine bestimmte Starre, das Zwanghafte und Überpersönliche ist stark ausgeprägt, das ‚Äußerliche‘ spielt herein und dem freien Entschluß des Individuums ist nur ein begrenzter Entfaltungsraum zugemessen.“ 304 Vgl. Hahn 2016, S. 146: „As a narrative technique, the hvǫt speeds the action and forces an evaluation of the conflicting intradiegetic moral values represented by the participating characters.“ 305 Vgl. Boklund-Schlagbauer 1996, S. 148: „Das Erzählmuster der hvǫt übt sehr wohl einen Handlungszwang aus, der aus übergeordneten Normvorstellungen resultiert.“  









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6. Krisenreaktionen

zung ist dabei in der altnordischen Literatur zumeist weiblich besetzt.306 Ihre Gewalt und Rache übt die weibliche Figur durch ihre männlichen Sippenvertreter aus.307 So zum Beispiel Signy in der Völsunga saga, die die alleinige Architektin der Rache an Siggeir ist. Letztlich erfüllt sich alles nach ihrem Plan, beginnend mit der Ausdünnung der eigenen Brüder bis zur kompletten Vernichtung von Siggeirs Halle im Feuer und ihrem eigenen Freitod. Im Wald nimmt Sinfjötli ihre Stelle ein, der an Signys statt nun Sigmund konstant an seine Rachepflicht erinnert. Die Saga erzählt, dass er diesen „oft an sein Leid erinnerte und ihn sehr reizte, den König Siggeir zu erschlagen“

306 Rolf Heller identifiziert die „Hetzerin“ (Heller 1958, S. 98) als den prominentesten weiblichen Rollentyp in den Isländersagas (vgl. Heller 1958, S. 98–122). Vgl. Hahn 2016, S. 145 f.: „Whilst male relatives, such as elderly fathers, can also perform a hvǫt, it is most often a female character who incites the male hero to bloody action.“ Auf Grund dieser Natur, die Ehre der einzelnen männlichen Vertreter anzugreifen, um die Sippenehre, die Ehre des Kollektivs zu wahren, verleiht Preben Meulengracht Sørensen den weiblichen Sagafiguren den Titel „Ærens vogtere“ (Meulengracht Sørensen 1993, S. 238), Wächter der Ehre. In ihrer Monographie ‚Old Norse Images of Women‘ untersucht Jenny Jochens die Gründe für diese Geschlechterverteilung bei der Initiierung von Rachehandlungen: „Demanding less brute endurance than extended warfare but requiring more cerebral and emotional stamina, such acts admirably suited female performers“ (Jochens 1996, S. 133). Wegen der notwendigen „cerebral activity of whetting“ (Jochens 1996, S. 132) müssten diese Tätigkeiten den Frauenfiguren zufallen. Schlüsse solcher Art sind allerdings wohl kaum mehr zeitgemäß. 307 Vgl. Hahn 2016, S. 144: „The grieving widow […] chooses an avenger“. Vgl. Miller 1990, S. 212: „a woman […] was playing a central role in organizing the actions which she was socially disabled from undertaking herself. The conventional woman of the sagas is strong-willed and uncompromising. She is the self-appointed guardian of the honor of her men and as such she generally sees honor as unnuanced heroism. […] The saga woman provoked her reluctant men to action by impugning their manhood. They were no better than women, they would better have been their father’s daugthers, they have the memories of pigs, or they are merely contemptible“. Während Miller auf Rolf Heller und Jenny Jochens hinweist, die die Rolle der aufhetzenden Frau als „literary commonplaces“ (Miller 1990, S. 212) wahrnehmen, spricht er dem Figurentyp einen realhistorischen Platz zu (vgl. Miller 1990, S. 212). Was für die Isländersagas und die von Miller von den Sagas abgeleitete historische Realität zutrifft, stimmt auch für die Völsungenwelt: „The social significance of goading was complex. Besides validating power and status differences, goading actually did allow the relatively disenfranchised to participate in group decision making, even if the range of views they could express was severely narrowed by the conventions governing the terms of their participation“ (Miller 1990, S. 213). Vgl. ferner Mundal 1993, S. 724: „The important female characters in the sagas are roughly divided into two groups only, the strong women and the weak women, most belonging to the first group. […] The woman who urges the men to take revenge is a character found in many of the Íslendingasǫgur. She may be described as very hard, and even more eager than the men to protect the honor of the family. The woman’s passive role, which did not allow her to act herself, could explain such uncompromisingly hard incitement. But, in terms of narrative function, the author needs the women to speed the action. The goading scene, which to great extent has formed our view of the saga women, is part of the author’s literary technique, and must be judged in that light.“ Ohne Weiteres trifft dies auch auf die weiblichen Figuren der Völsungenerzählungen zu, wobei diese aber in ihrer eigenen Handlungsmöglichkeit weitaus weniger eingeschränkt sind. Bisweilen werden sie auch selbst zur Rächerin. Vgl. Mundal 1993, S. 724: „In the nonrealistic sagas, such as fornaldarsǫgur and riddarasǫgur, women often take a more active part in the narrative.“ Zum Beispiel als „executor of revenge“ (Mundal 1993, S. 724).  





























6.2 Rache

353

(Vs 8).308 Was traditionell Signys Aufgabe wäre, wird hier auf den Sohn ausgelagert. Anstelle einer hvǫt erhält Sigmund Sinfjötli von Signy.309 Die Situation um den toten Otr wurde nie ganz gelöst. Der Drachenhort ist für Regin nicht mehr nur Kompensation für den von den Asen aus Leichtsinn erschlagenen Bruder, sondern auch die Buße für den toten Vater. Er selbst wird aber als ungeeignete Rächerfigur inszeniert – auf Grund seiner mythischen Konfiguration und des Rates der Schwester –, weswegen er einen Rächer braucht, den er im Ziehsohn Sigurd findet und dessen er sich bedienen muss, um sein dysfunktionales Sippengefüge zu reparieren. Regin appelliert an Sigurds heroischen Instinkt: „ich erhoffe mir Kampf vom gierigen Wolf“ (Rm. 13).310 Die Beleidigungen Regins entsprechen dem Muster der hvǫt. Es handelt sich um ein ritualhaftes und Handlungszwang auslösendes Aufhetzen des Rächers, dessen Heldentum und Männlichkeit nach einem Schema in Frage gestellt werden und wodurch dieser auf seine Rachetat eingeschworen werden soll. Dass Regin der Aufreizer bei dieser hvǫt ist, macht ihn noch mehr zu einer devianten Figur, die nicht nur grenzgängerisch in die mythische Welt hineinragt, sondern auch die Geschlechtergrenzen verschwimmen lässt – die Aufhetzerin ist üblicherweise weiblich. Nach der Drachentötung wirft ihm Sigurd Feigheit vor: „während du dich im Heidekraut verkrochst und Himmel und Erde nicht unterscheiden konntest“ (Vs 19,311 vgl. Fm. 28), dich also nur zusammengekauert hast. Das weiblich konnotierte Handeln, die Feigheit und die mythischen Züge machen Regin zu einem Abweichler und Sonderling, zu einem Fremdkörper in der heroischen Welt, einem Anstachler und Unruhestifter. Dass Fafnirs Erschlagung Teil einer Rachehandlung ist, durchschaut dieser sofort. Er fragt Sigurd: „Wer reizte dich zu dieser Tat, und wodurch ließest du dich dazu reizen?“ (Vs 18).312 Auch das Heldenlied thematisiert: „Wer trieb dich an, warum ließest du dich aufstacheln, | mein Leben zu rauben?“ (Fm. 5).313 In beiden Texten durchschaut der Drache den Drahtzieher hinter Sigurds Handeln: „Regin, mein Bruder, riet mir den Tod, und das freut mich, daß er auch dir den Tod rät – so geschieht es dann, wie er wollte“ (Vs 18)314 oder: „Reginn verriet mich, er wird auch dich verraten, | er bringt uns beiden den Tod“ (Fm. 22).315 Dass Regins Aufhetzung Wirkung zeigte, bezeugt Sigurd, wenn er zu seinem Ziehvater sagt: „Du rietst es, dass ich reiten sollte | über hohe Gebirge hierher. | Über Schatz und Leben herrschte der glänzende Drache, | hättst du mir den kühnen Sinn nicht bezwei 







308 „minnir opt Sigmund a sina harma ok eggiar miok at drepa Siggeir konung.“ 309 Vgl. Deichl 2016, S. 223–225. 310 „er mér fangs vón at frecom úlfi.“ 311 „meþan þu lat i einum lyngrunne, ok vissir þu eigi, hvart ed var himinn eda iord.“ 312 „Hverr eggiade þik þessa verks, eda hvi lettu at eggiazt?“ 313 „Hverr þic hvatti, hví hvetiaz lézt, | míno fiǫrvi at fara?“ 314 „Ręginn brodir minn velldr minum dauda, ok þat hlęgir mik, er hann velldr ok þinum dauda, ok ferr þa, sem hann villde.“ 315 „Reginn mic réð, hann þic ráða mun, | hann mun ocr verða báðom at bana“.  

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6. Krisenreaktionen

felt“ (Fm. 26).316 Wäre Sigurd nicht in Frage gestellt worden, hätte er den Drachen in Ruhe gelassen. Die hvǫt war also letztlich ein voller Erfolg. Es gelingt, Fafnir zu töten und den Drachenschatz zurückzugewinnen. Fafnir war mythisch entrückt, herausgetreten aus der profanen Welt, verändert in Gestalt und an einem ausgelagerten Ort. Die Tat war eine Rückholung, eine Reintegration eines anderweltlich gewordenen Elements.317 Doch auch nach ihrem Gelingen setzen sich die höchst komplizierten Verstrickungen fort. Die Tötung des drachischen Bruders führt umgehend zu einer weiteren Irritation. Nun ist der Ziehsohn der Mörder des Bruders, was eine abermalige Rachepflicht in die Welt setzt.318 Regins erste Reaktion auf den Tod Fafnirs ist Trauer,319 doch bald sagen die Meisen Sigurd seine mörderische Absicht vorher: „Dort liegt Reginn, beratschlagt sich, | will den Mann verraten, der ihm vertraut; | er sinnt voll Zorn üble Gedanken, | der Ränke-Schmied will den Bruder rächen“ (Fm. 33, vgl. Fm. 36 bzw. Vs 20).320 Auch wenn Regin die Rachehandlung durch seine hvǫt vorübergehend auf Sigurd auslagern konnte, würde er letztlich doch selbst zum Rächer werden müssen. Sigurd erspart ihm das durch seinen Präventivschlag. Obschon die ursprüngliche Kompensation für den toten Otr erfolgreich war, wurde die Sippe durch den Totschlag an ihm vollkommen und unwiederbringlich zerrüttet. Die Asen haben die Selbstzerstörung von Regins Sippe losgetreten. Für Sigurd steht die eigene Vaterrache an erster Stelle. Er setzt seine innere Motivation über äußere Anstachelungen und über das Versprechen von Reichtümern. Seine Rache unter die von Regin zu priorisieren, die für ihn nur als Gelegenheit gedeutet wird, Schätze zu erwerben, würde bedeuten, der heroischen Ehre verlustig zu gehen. So antwortet er Regin auf dessen Drängen: „Laut würden Hundings Söhne lachen, | die Eylimi das Leben nahmen, | wenn’s den Fürsten mehr verlangte, rote | Ringe zu er-

316 „Þú því rétt, er ec ríða scyldac | heilog fioll hinig; | fé oc fiorvi réði sá inn fráni ormr, | nema þú frýðir mér hvatz hugar.“ 317 Vgl. Grimstad 2000, S. 35: „Fafnir represents all that is antipathetical and threatening to a heroic society – he is a greedy tyrant, hoarding gold instead of sharing it, and an evil father-murderer who has violated sacred kinship bonds. In slaying him Sigurd acts to uphold social order“. Vgl. Hammer 2010, S. 146: „Charakteristisch ist […], dass der Sieg über den Drachen die Ordnung, wie es vergleichbar in Schöpfungsmythen zu beobachten ist, nicht einfach nur wiederherstellt, sondern in erneuerter, vollkommenerer Weise dauerhaft installiert.“ 318 Terry Gunnell weist darauf hin (vgl. Gunnell 1995, S. 220), dass die Aufforderung Regins an Sigurd, er möge das Drachenherz zum Essen vorbereiten in der Snorraedda „at sætt“ (Sskm 40) geschehe, also ‚zur Versöhnung‘, ‚als Entschädigung‘. Eine vergleichbare Formulierung finden wir weder in den Fáfnismál, noch in der Völsunga saga. Sigurd wird also in den Skáldskaparmál dazu angehalten, Fafnirs Herz als eine Geste der Versöhnung für Regin zu braten oder aber das Drachenherz soll der Preis des Sieges sein und Sigurd mit seinem Ziehvater auf Grund der zuvor gefallenen Schmähworte im Zuge der Aufhetzung aussöhnen. Wie es auch immer sei, die Versöhnung scheitert und Regin wird bald darauf von Sigurd getötet. 319 Siehe 6.1.6. 320 „Þar liggr Reginn, ræðr um við sic, | vill tæla mǫg, þann er trúir hánom; | berr af reiði rǫng orð saman, | vill bǫlva smiðr bróður hefna.“  







6.2 Rache

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halten als Rache des Vaters“ (Rm. 15).321 Regin lockt Sigurd mit Reichtum und Ruhm: „Zu wenig Gut hast du […]: aber ich kann dir sagen, wo Aussicht ist, großen Hort zu erlangen, und es ist wohl zu erwarten, daß es Ehre bringt, ihn zu suchen, und Ansehen, wenn du ihn gewinnst“ (Vs 13).322 Darüber steht für Sigurd aber die heroische Pflichterfüllung gegenüber der Völsungensippe. Noch mehr Ansehen ist für ihn zu holen, wenn er Lyngvi tötet. Regin will Sigurd zur eigenen Vaterrache missbrauchen. Zunächst lässt er sich aber eben nicht zum „gierigen Wolf“ (Rm. 13)323 machen. Was bei Sinfjötli funktioniert hat, scheitert bei Sigurd. Er lässt sich nicht auf die gleiche Weise instrumentalisieren. Zweimal verschiebt er zu Gunsten der eigenen die Rache Regins: „Ich werde es erfüllen, aber vorher noch etwas anderes, nämlich meinen Vater rächen“ (Vs 15)324 sowie: „Das will ich tun, doch zuvor noch etwas anderes, nämlich König Sigmund rächen und andere unserer Gesippen, die dort in jener Schlacht fielen“ (Vs 16).325 Dass er seine Rache nicht verschleppt, markiert der Text mit Brynhilds Worten als Zeichen seines Heldentums: „Er war damals noch ein Kind, als er erschlug die Söhne Hundings und rächte seinen Vater und Eylimi, seiner Mutter Vater“ (Vs 26).326 Im Kontrast dazu werden zwei heroische Negativbeispiele genannt, wenn Gudrun über die Hamundssöhne spricht: „Groß waren sie und berühmt, aber doch raubte Sigar ihre Schwester und verbrannte andre im Hause, und säumig sind sie es zu rächen“ (Vs 26).327 Der Rachepflicht nicht nachzukommen, ist ein Makel. Sigurds Rachefahrt selbst ist ein Sammelsurium heroischen Beispielhandelns. Im Sturm zeigt er selbstzerstörerische Todesverachtung, was den Gott Odin auf den Plan ruft. Später praktiziert er die totale Auslöschung seiner Gegner und lässt all seine Verachtung am Sippenfeind aus. Die Reginsmál lassen seine Rache im spektakulär grausamen Schneiden des Blutaars gipfeln: „Nun ist der blut’ge Adler mit scharfem Schwert | dem Töter Sigmunds in den Rücken geschnitten“ (Rm. 26).328 Sigurd verfällt in einen Zerstörungsrausch.329 Erst als diese blutigen Rachetaten ausgiebig und vollständig an den Feinden der Sippe verübt wurden, wendet sich Sigurd anderen Aufgaben zu: der Restituierung von Regins Familienerbe („Ich werde das erfüllen, was ich verheißen

321 „Hátt muno hlæia Hundings synir, | þeir er Eylima aldrs synioðo, | ef meirr tiggia munar at sœkia | hringa rauða enn hefnd fǫður.“ 322 „Oflitid fe eigu þer. […] Enn ek veith mikla fevon at segia þer, ok er þat meiri van, at þat se some at sękia ok virding, ef þu nęþir.“ 323 „frecom úlfi“. 324 „Efna munum ver, ok þo annad fyr, at hefna faudur mins.“ 325 „Giora skal þat, ok þo annat fyr, at hefna Sigmundar konungs ok annara fręnda vorra, er þar fellu i þeirre orrostu.“ 326 „Hann var þa barn, er hann drap sonu Hundings konungs ok hefnde faudru sins ok Eylima modurfaudur sins.“ 327 „Miklir voru þeir ok agętir, enn þo nam Sigar systur þeirra, enn hefir adra inne brennda, ok eru þeir seinir at hefna.“ 328 „Nú er blóðugr ǫrn bitrom hiorvi | bana Sigmundar á baki ristinn“. 329 Siehe 4.2.3.

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6. Krisenreaktionen

habe – es kommt mir nicht aus dem Gedächtnis“, Vs 17)330 und dem Aufbau des eigenen Reichtums.  

6.2.5 Antivölsungensage Die Erzählungen von Hamdir und Sörli der nordischen Texte unterscheiden sich stilistisch von anderen Passagen um Aufhetzung und Rache der Völsungensage. Das Heroische wird aus einer distanzierten Position heraus von einer kritischen Seite angestrahlt und das heldische Ideal wird dekonstruiert. Zu den übrigen Erzählungen verhält sich die Episode wie der moderne Antiwestern zum Western.331 Sie beschreibt eine ‚Antiheldensage‘, die den Glanz der Gattung vermissen lässt und die Geschehnisse ‚more gritty‘ wiedergibt. Das Heroische in seiner Unbeweglichkeit und Kompromisslosigkeit wird thematisiert. Die Figuren handeln nicht länger aus ihrer heroischen Geisteshaltung heraus, sondern aus den ihnen auferlegten Zwängen. Das Unmenschliche der Heldensage wird in der Antiheldensage thematisiert, allerdings als so unausweichlich dargestellt, dass man ihm letzten Endes doch nicht entgehen kann.332 Dazu

330 „Efna munu ver þat, sem ver haufum þar um heitid, ok ecki fellr oss þat or minne.“ 331 Das in den 60er Jahren entstandene Genre (auch Spät-Western und ab den 80ern der Post-Western) ist eine Gegenströmung zum frühen, klassischen Western. Es demaskiert die idealisierende und stereotype Darstellung von amerikanischem Heldentum, indem es sich klassischer Handlungsstränge und Stilmittel bedient, diese allerdings nicht auf die althergebrachte Weise verwendet. Der Antiwestern bricht die Ideale des ursprünglichen Westerns auf, nimmt ihm die Romantik und beraubt ihn seiner Schönheit. Tatsächlich sind wohl die meisten Western, die uns geläufig sind, in Wahrheit Antiwestern (vgl. Seeßlen 1995, S. 133–250). Vgl. Kiefer 2011, S. 773: „Die letzten bedeutenden Western, die noch entstanden, bewahren die Mythologie des Genres nicht, sondern wenden sie gegen sie.“ 332 Das knüpft an Beobachtungen Klaus von Sees zur Hamdir- und Sörlisage an. Vgl. von See 1981 [1967], S. 230 zu den Hamðismál: „Einwandfrei feststellbar ist […] die antiheroische Tendenz, die sich durch das ganze Gedicht hindurchzieht“. Inspiriert von der Grundhaltung der heroischen Elegie hätte der Dichter die Stimmung des Gedichtes der der jüngeren Schicht der Eddalieder angepasst. So sagt von See: „Der Hamð[ismál]-Dichter hat sie von dort übernommen, denn sie entsprach seinem Konzept, ja, er hat die elegischen Töne, die er in ihr vorfand noch weiter verstärkt auf Kosten der heroischen“ (von See 1981 [1967], S. 226). Das Produkt sei – an anderer Stelle – „eine förmliche – von einer antiheroischen und reflektierend-moralisierenden Tendenz getragene – Überarbeitung des alten Sagenstoffes“ (von See 1981 [1977], S. 251). Von See spricht in der Fragestellung der Antiheldensage von „ein[em] Problem […], das für die jüngere Gruppe der Eddadichtung charakteristisch sein mag, die der alten heroischen Gesinnung schon ein wenig fremd, ja verständnislos gegenübersteht und nüchterner, realistisch-ökonomischer, mehr ‚bürgerlich-bäuerlich‘ als ‚aristokratisch‘ denkt: das Verhältnis von Mut und Verstand“ (von See 1981 [1967], S. 228). Festgemacht wird dies zum Beispiel an Gudruns Aufhetzung: „Wie Gudrun einst ihre Söhne Erp und Eitil getötet hatte, um sich an Atli zu rächen, so ist sie auch jetzt wieder bereit, um einer Rache willen die eigenen Söhne zu opfern, und diese Widersinnigkeit des alten heroischen Ethos, diese das natürliche Gefühl vergewaltigende Starrheit will der Bearbeiter an seiner Sagenfabel demonstrieren“ (von See 1981 [1967], S. 228). Das entspricht größtenteils auch den Beobachtungen Ulrike Sprengers, die im Zuge ihrer Untersuchungen zur heroischen Elegie „einen Wandel in der Auffassung der Hel 





















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6.2 Rache

kommt, dass ein neues Denkmuster in das übliche Schema der alten Gefolgschaftsdichtung einfließt, das in Form der Reflexionen der Figuren beginnt, das heroische Alles-oder-Nichts-Denken zu hinterfragen und dem kompromisslosen heroischen Handeln Alternativen anzubieten.333 Nachdem Jörmunrek Svanhild aus Eifersucht töten hat lassen, provoziert Gudrun ihre Söhne zur Rache: „Wie könnt ihr so ruhig dasitzen und Scherzworte reden, obwohl Jörmunrek eure Schwester getötet und schmachvoll unter Rosshufen zertreten hat lassen?“ (Vs 43).334 Hamdir und Sörli nämlich zeigen – und das ist an Helden nicht untypisch – eine eigentümliche Passivität, wenn es ans Handeln geht.335 Der heroische Impetus entstammt der weiblichen Rolle. Die Söhne würden dabei nicht in die heroische Tradition ihrer Sippe, in diesem Falle ihrer beiden Onkel Gunnar und Högni treten, sie seien nicht von der „gleiche[n] Sinnesart“ (Vs 43).336 In der Guðrúnarhvöt reizt Gudrun ihre Söhne „starrgesinnt“, „harðhuguð“ (Ghv. 1) auf, also ‚hartgesinnt‘. Auf dieselbe Weise wurde ihr Kummer in der Guðrúnarkviða I inszeniert.337 Die Beschreibung artikuliert ihr Nichtabweichen und die Alternativlosigkeit der Situation und macht Svanhilds Unersetzbarkeit sichtbar. Diese Kollision der moralischen Systeme der Figuren in Form der Aufhetzung wird vom Erzähler als „fürchterlichste[…]  





densagenfiguren [beschreibt]: Im Zuge einer intensiven Beschäftigung mit diesen Figuren gab man ihnen einen anderen, menschlicheren Gehalt“ (Sprenger 1992, S. v). Weiterhin erhält von See Unterstützung von Edgar Haimerl (vgl. Haimerl 1992, S. 226–227). Tatsächlich scheinen uns die Aussagen der Figuren Hamdir und Sörli sehr nachvollziehbar, verwandt mit unserem eigenen Denken, bevor sie in ihren heroischen Modus verfallen. Die Reden Hamdirs vor seiner heroischen Transformation seien nach Klaus von See eine „gezielte[…] Polemik gegen die starre gefühlsharte Haltung des Heldenpersonals in der älteren Dichtung“ (von See 1981 [1977], S. 258). Zwar stimme ich alles in allem mit den Beobachtungen von Sees zur Tonalität der Lieder überein, allerdings fußt seine Beobachtung auf der spekulativen Voraussetzung, dass die Hamðismál zur jüngeren Schicht der Eddalieder gezählt würden und dass sich dadurch die antiheroische Atmosphäre begründe. Diese Datierung sollte auf jeden Fall in Frage gestellt werden (vgl. Clark 2012, S. 6). Die Forschung ist sich uneinig. Vgl. z. B. Gschwantler 1993, S. 264: „It [Hamðismál] has usually been regarded as belonging to the oldest group of heroic eddic poems (10th century).“ Vgl. Hines 2007, S. 178: „Hamðismál can reasonably be argued to be one of the earliest eddic poems.“ Der Eddakommentar hält sich bezüglich der Datierung der Hamðismál bedeckt, gibt allerdings eine Abhängigkeit von der allgemein als jung geltenden Sigurðarkviða in skamma und damit einen Terminus post quem an (vgl. von See/la Farge et al. 2012, S. 856 bzw. von See/la Farge et al. 2009, S. 317). Nun wäre ein Beleg des Stilwandels durch das junge Alter des Liedes gar nicht notwendig, womit von Sees Argument nicht zwingend entkräftet ist. Die antiheroischen Tendenzen sind zu beobachten, jung oder nicht. Daniel Sävborg hinterfragt ferner den Begriff der heroischen Elegie im Allgemeinen und löst ihn dahingehend auf, indem er zeigt, dass Merkmale, die die heroische Elegie als solche definieren, allgemeine Phänomene in den Heldenliedern sind (vgl. Sävborg 1997, bes. S. 60–128). 333 Klaus von See nennt es „bäuerlich-nüchternes Nützlichkeitsdenken“ (von See 1981 [1967], S. 229). 334 „Hvi site þer sva kyrir eda melit glediord, þar sem Iormunrekr drap systur yckra ok trad undir hestafotum med svivirding?“ 335 Siehe 2.1.1. 336 „likt skaplynde“. 337 Siehe 6.1.3.  



















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6. Krisenreaktionen

Streitrede“ (Ghv. 1)338 bezeichnet. Den Konflikt, den Gudrun gegenüber den Mördern ihrer Tochter erfährt, lebt sie nun an ihren eigenen Söhnen aus. Darauf folgt die Anschuldigung, dass die beiden, Hamdir und Sörli, ihrer Abkommenschaft nicht gerecht würden: Sie glichen „nicht Gunnar und den seinen, [wären] noch so gesinnt, wie’s Högni war“ (Ghv. 3);339 kurzum, wenn sie die Mentalität ihrer beiden Onkel mütterlicherseits hätten, „den Mut […] | oder das harte Herz der Hunnenkönige“ (Ghv. 3),340 würden sie sich aufmachen um Svanhild zu rächen. Die Beleidigung, die das Kollektiv von außen erfahren hat,341 wird nun durch die Mutter artikuliert. Hamdir erhebt nun seinerseits einen Vorwurf: „Wenig hast du Gunnar und Högni gelobt, als sie Sigurd erschlugen und du von seinem Blute gerötet warst“ (Vs 43).342 Er durchschaut Gudruns Strategie der Aufreizung: Gunnar und Högni nun zu rühmen, ist nur ein Vorwand um die Söhne bloßzustellen. In Wahrheit sind die Gjukungen durch den Mord an Sigurd makelbehaftet. Hamdir wirft Gudrun auch die Rache an Atli vor: „übel war deine Bruderrache, als du deine Söhne tötetest“ (Vs 43),343 sagt er, und zwar mit folgender Begründung: „besser hätten wir alle zusammen König Jörmunrek erschlagen können“ (Vs 43).344 Zwei Konzepte stehen sich gegenüber: Das ist zum Einen die heroische Rigorosität Gudruns, die das Heldische ihrer Brüder überhöht, dabei – und innerhalb des Textes auch durch den Vergessenstrank motiviert – über den Makel der Brüder hinwegsieht und letztlich sogar ihre Kinder tötet um Rache an Atli zu nehmen. Zum Anderen aber ist das die sachliche Reflektiertheit Hamdirs, der die Dinge ins Verhältnis setzt und in Aspekten von Nützlichkeit und Versöhnung denkt. Im Gegensatz zu ihm verkörpert Gudrun das maschinenhaft Heroische der Heldensage, das sie ohne Abweichung durchexerziert. Letztendlich gerät Hamdir auf dieselbe Schiene: Auch er wird zusammen mit seinem Bruder zum automatenhaften Helden, allerdings nicht ohne zuvor diesen Figurentypus von außen betrachtet und sich darüber hinausentwickelt zu haben. Die Guðrúnarhvöt bezeichnet Hamdir bei seiner Antwort als „inn hugomstóri“ (Ghv. 4), also etwa ‚der Großgesinnte‘.345 Die Auffassung der Figuren durch den Erzähler divergiert von der Haltung Gudruns ihren Söhnen gegenüber. Diese hat Hamdir eine Textzeile zuvor einen Mangel an ‚hartem Herz, an harter Gesinnung‘ vorgeworfen, ein Fehlen der Eigenschaft, die ihre eigene hvǫt motiviert. Die Szene zeigt die Unvereinbarkeit starren heldischen Denkens und  











338 „senno slíðrfengligsta“. 339 „Urðoa iþ glíkir þeim Gunnari, | né in heldr hugðir, sem var Hǫgni“. 340 „ef iþ mód ættið minna brœðra | eða harðan hug Húnkonunga.“ 341 Siehe 5.1.3. 342 „Litt lofadir þu Gunnar ok Haugna, þa er þeir drapu Sigurd, ok þu vart rodinn i hans blode“. 343 „illar voru þinar brędarhefndir, er þu drapt sonu þina.“ 344 „betr mettim ver allir saman drepa Iormunrek konung“. 345 Nun hängt das sicher mitunter mit dem Reimschema zusammen: hugomstori stabt auf Hamdir. Vgl. Hines 2007, S. 181: „The term […] can be taken as a rather general heroic epithet: someone with a lot of the right sort of heroic attitude. In Hamðismál, though, we are clearly asked to compare, evaluatively, Hamðir’s great-mindedness with Sǫrli’s wisdom.“  

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6.2 Rache

realistischer Rationalität. Hamdirs Antwort ist von kühler Überlegung, wenn er seiner Mutter vorwirft, sie hätte „[w]enig Grund [gehabt], Högnis Tat zu preisen“ (Ghv. 4),346 als Sigurd von seinen Schwurbrüdern getötet und die Laken der Bettstatt der beiden in Blut getränkt wurde. Er bemängelt die von Gudrun verursachte Schwäche des Kollektivs, die die Rachetat nun erschwert: „Wir alle könnten mit vereintem Sinn | an Jörmunrek die Schwester rächen“ (Ghv. 5),347 wenn Gudrun nicht ihren mit Atli gemeinsamen Söhnen „schlimm und schmerzlich“ (Ghv. 5)348 den Garaus gemacht hätte. Damit hat die vor Rachedurst rasende Mutter zwar ihre heroische Vergeltungspflicht erfüllt, allerdings ein anderes Gesetz der heroischen Welt verletzt: Der eigene Personen- oder Verwandtenverband steht über allem. Hamdir beschließt den Vorwurf in den Hamðismál zusätzlich mit einer Sentenz: „jeder sollt dem andern das Wunden beißende Schwert | zum Totschlag gebrauchen, ohne sich selbst zu schaden“ (Hm. 8).349 Diesen Ratschlag350 kann er im momentanen rationalen Modus noch geben, wird ihn aber später selbst brechen, da er mit seinem Bruder zusammen Hand an Erp legt. Sörli fragt dann, ob es denn etwas gäbe, was der Mutter Trost bringen würde: „Was verlangst du, Gudrun, das dir kein Leid bringt?“ (Hm. 9).351 Er fragt also nach der Ersetzbarkeit der Getöteten, wie man das Geschehene wieder gut machen und irgendwie Versöhnung erreichen könne. Eine gewaltlose Lösung kann jedoch keine Kompensation bringen und so lässt das Lied die nicht zielführende Frage nach der Verringerung des Leids der Mutter unbeantwortet verklingen. Die Brüder werden letztlich vom Sog der Aufreizung erfasst und in das Muster heldischen Handelns hineingezerrt. Hamdir sagt in der Völsunga saga: „Aber den Vorwurf der Feigheit wollen wir nicht auf uns sitzen lassen, da wir so heftig gereizt sind“ (Vs 43).352 Die hvǫt verfehlt ihre Wirkung nicht und übt ihre Macht auf Hamdir aus, der zwar über die Grenzen heroischen Handelns hinwegdenken, den Rahmen, der ihm als Figur der heroischen Erzählung auferlegt ist, allerdings nicht überschreiten kann. Der Text lässt seine Figuren über Versöhnungsmöglichkeiten und Handlungsalternativen nachdenken, gibt ihnen aber nicht die Handlungsfreiheit, diese auch zu ergreifen.353 Mit seiner Antwort auf die hvǫt handelt Hamdir demonstrativ und zum Trotze. Der Verfasser zeichnet das heroische Handeln hier so bewusst nach, dass er die Illusion erzeugt, seine Figur wüsste über die Kriterien der Gattung Be 







346 „Lítt mundir þú leyfa dáð Hǫgna“. 347 „knættim allir Iormunrecci, | samhyggiendr, systor hefna.“ 348 „slíðrar oc sárar“. 349 „svá scyldi hverr ǫðrom veria til aldrlaga | sverði sárbeito, at sér né stríddit.“ 350 Für Hans Kuhn ist der Ratschlag eine „Banalität“ (Kuhn 1971 [1952], S. 103). 351 „hvers biðr þú nú, Guðrún, er þú at gráti né færat?“ 352 „ok eigi munu ver standazt fryiuord, sva hart sem ver erum eggiadir.“ 353 Vgl. Clark 2012, S. 20: „in Hamðismál, Guðrún and her sons are both made representatives of the ‚heroic ideal‘, and simultaneously are also vehicles through which the poet can explore the dilemma of heroic society“.  



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6. Krisenreaktionen

scheid, innerhalb derer sie sich bewegt. Hamdirs Erklärung zu seiner Gereiztheit erfolgt schematisch. Fast ‚nimmt man es ihm nicht ab‘. Nun den Gestus der ihm vorangegangenen Helden annehmend, erreicht Hamdir einen dem Helden typischen Moment der Klarheit angesichts seiner bevorstehenden Tat. Ein solches Phänomen trifft auf nahezu alle Figuren im Völsungennexus zu, nämlich im Moment ihres Todes.354 Auch Hamdir sieht nun sein Ende voraus und benutzt diese Einsicht als letzten Hieb gegen seine Mutter: „Dies ist der letzte Abschied, den wir von einander nehmen, und bald wirst du erfahren, was sich begeben hat – dann kannst du unser beider und Svanhilds Totenfeier begehen“ (Vs 43).355 Ähnliche Abschiedsworte spricht Sörli in den Hamðismál direkt im Anschluss an seine Frage nach möglicher Wiedergutmachung (vgl. Hm. 9): „uns wirst du auch, Gudrun, beide beweinen, | sitzen hier todgeweiht auf Pferden, fern sterben wir“ (Hm. 10).356 In beiden Fällen wird der Begriff ‚grátr‘ beziehungsweise ‚gráta‘ verwendet, ‚das Weinen‘ oder ‚weinen‘. Es wird also nun durch das heroische Handlungsmuster genau der Kummer erreicht, der zuvor durch Aussöhnung vermieden hätte werden sollen. Auf diese Weise entbieten Hamdir und Sörli ihrer Mutter ihr Lebwohl. Die Rächerbrüder treten in die Tradition ihrer Onkel, wenn Hamdir gebietet: „Bringt die Ausrüstung der Hunnenkönige!“ (Ghv. 6).357 Der Begriff, der zuvor für Gunnar und Högni benutzt wurde, fällt nun im Zusammenhang mit Gudruns Söhnen. Ihre Transformation beginnt, da sie „aufgestachelt [sind] zum Schwerterthing“ (Ghv. 6)358 und ihre Passivität durch aktives heldisches Handeln ersetzt wird.359 „[V]or Zorn schnaubend“ (Hm. 11)360 machen sich die Brüder in den Hamðismál auf den Weg.361 Sie aktivieren ihren heroischen furor und werden vom Gewaltsog des Heldischen erfasst. Auf dem Weg zum Ziel ihrer Rache treffen die beiden auf den dritten  





354 Siehe 7.1.3. 355 „Her munu ver skilia efsta sinne, ok spyria muntu tidendin, ok muntu þa erfi drecka eptir ockr ok Svanhilldi.“ 356 „ocr scaltu oc, Guðrún, gráta báða, | er hér sitiom feigir á mǫrom, fiarri munom deyia.“ 357 „Berið hnossir fram Húnkonunga!“ 358 „hvatta at hiorþingi.“ 359 Vgl. Wolf 1965, S. 27: „Hamdir und Sörli reiten nicht deshalb ins Verderben, weil das heldische Gesetz, das in ihrer Brust geschrieben ist, es ihnen auferlegt, sondern weil sie geradezu gezwungen werden, weil es den festen Typ ‚Hetzerin‘ gibt und die Form der hvöt. Das heroische Aussageschema […] ist zunächst nicht Sprachform der beiden.“ 360 „gorvir at eiscra“. 361 Alois Wolf sieht hierin die „typisierte Darstellung berserkerhaften Schnaubens“ (Wolf 1965, S. 27). Dazu kommt auch, dass ihre Unverwundbarkeit durch Waffen, wie später von Jörmunrek bezeugt – „Werft Steine auf die Männer, da Speere nicht stechen noch eiserne Schwerter, auf Jonaks Söhne“ „Grýtið ér á gumna, allz geirar né bíta, | eggiar né iárn, Íonacrs sono“ (Hm. 25) sagt er –, eben nicht durch eine magische Behandlung von Gudrun erklärt wird, sondern in ihrer Berserkeraffinität für sich steht. Helmut de Boor deutet es als „zorniges Widerstreben“ (de Boor 1951, S. 60); ein Ausdruck der Widerwilligkeit, mit der sie ihrer Rachepflicht nachkommen und Reaktion auf die Beleidigung, die sie während Gudruns hvǫt erfahren haben.  









6.2 Rache

361

Bruder, Erp, der ihnen auf kodierte Weise sagt, er würde ihnen beistehen „wie eine Hand der andern oder ein Fuß dem andern“ (Vs 44).362 „Das dünkte sie nichts zu sein, und sie erschlugen ihn“ (Vs 44),363 heißt es sodann. Erps Hilfe ist ohne Bedeutung für sie. Die Konsequenz der verklausulierten Formulierung ist sein Tod. Das verträgt sich nicht mit der bisherigen Geisteshaltung der Brüder, die sich ja zuvor gewünscht hätten, es gäbe mehr Brüder und Verwandte, mit denen man mit vereinter Kraft die Schwester rächen könnte. Dieses nachvollziehbare und rationale Nützlichkeitsdenken wird nun durch heroische Logik abgelöst: Die Brüdermenge muss kondensiert werden. Heroisches Vermögen muss auf wenige Vertreter des Geschlechtes konzentriert und somit verstärkt werden.364 In dem Moment, da Erp von den beiden Rächern als nicht nützlich empfunden wird, reicht es nicht länger, ihn im Niemandsland stehen zu lassen. Er muss getötet werden.365 In den Skáldskaparmál wird allerdings ein ganz anderer und vielleicht auch menschlich-psychologischerer Grund für die Tötung des Bruders Erp genannt. Hier ist es nämlich keinesfalls der ‚Overkill‘ überstilisierten heroischen Handelns, der das Todesurteil für ihn bedeutet, sondern sein Tod wird als Konsequenz der hvǫt Gudruns beschrieben. Wütend auf ihre Mutter („Sie wurden dann auf ihre Mutter zornig, weil sie sie mit haßerfüllten Worten auf den Weg gebracht hatte“, Sskm 42 [41])366 wollen die aufgehetzten Söhne sie nun da erwischen, wo es besonders weh tut; und das ist ihr Lieblingssohn. So berichtet Snorri: „Sie wollten etwas unternehmen, das für sie am übelsten schien, und erschlugen Erp, denn ihn liebte sie am meisten“ (Sskm 42 [41]).367 Die willkürlich anmutende Erschlagung des Bruders Erp wird in den Skáldskaparmál als Ventil des Frustes geschildert. In den Hamðismál gestaltet sich das Verhalten der Rächerbüder gegen Erp als herablassend. Sie nennen ihn einen „braune[n] Knirps“ (Hm. 12),368 als sie ihn nach seiner Nützlichkeit befragen. Als dieser auf die bereits besprochene Art antwortet, geben sie ihm zurück, dass sie darin keine Hilfe sähen. Die missverstandene Antwort wird hier kaum thematisiert.369 In den Hamðismál geht es darum, sich vom Halbbruder abzugrenzen. Das geschieht durch die Erwähnung seiner Haarfarbe. Erp ist wohl braunhaarig, was vielleicht einen optischen Unterschied zur äußeren Erscheinung der Gjukungen darstellt.370 Die Abgrenzung geschieht aber auch qualitativ: Es geht darum, den „Bruder

362 „Slikt sem haund hendi, eda fotr fęti.“ 363 „Þeim þotti þat ecki vera ok drapu hann.“ 364 Siehe 4.1.1. 365 Vgl. Hines 2007, S. 187: „They prepare to kill in vengeance for their maternal step-sister by gratuitously cutting down their paternal step-brother.“ 366 „Þeir váru svá reiðir móður sinni er hon hafði leitt þá út með heiptyrðum“. 367 „þeir vildu gera þat er henni þœtti verst ok drápu Erp, þvíat hon unni honum mest.“ 368 „iarpscammr“. 369 Siehe 3.1.5. 370 Rabenschwarzes Haar ist in den Skáldskaparmál das Sippenmerkmal der Gjukungen oder Niflungen. Allerdings trifft es auch auf Erp zu, der da ein Sohn Gudruns ist: Gudrun „hatte drei Söhne, die so hießen: Sörli, Hamdir und Erp. Sie hatten alle rabenschwarzes Haar wie Gunnar, Högni und die anderen  

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6. Krisenreaktionen

einer anderen Mutter“ (Hm. 13)371 zu diffamieren, da der heroische Modus, den die beiden Rächerbrüder bei ihrem Auszug angenommen haben, es nicht zulässt, dass eine andere Sippe neben der eigenen steht. Es wird der Anschein erweckt, dass die beiden Rächer die Antwort des Jüngeren absichtlich nicht verstehen wollen.372 Erp antwortet ihnen, indem er sagt: „Schlimm ist’s, einem Feigen die Wege zu weisen“ (Hm. 14).373 Die Aussage lässt mehrere Deutungsmöglichkeiten zu:374 Meint Erp, dass er selbst den Brüdern nicht seine Hilfe hätte anbieten sollen, oder sagt er, dass Gudrun falsch gehandelt hat, indem sie sie überhaupt losgeschickt hätte? Oder ist er vielleicht selbst der Feige und die Brüder würden schlimm daran handeln, seine Hilfe nicht anzunehmen? Auf jeden Fall ergeht hier eine Form von Provokation, die die Brüder beantworten, indem sie ihre Schwerter ziehen und ihren Halbbruder niedermachen.375 Wie Gunnar und Högni es zuvor mit Sigurd getan haben, haben auch Hamdir und Sörli ihre Macht selbst geschmälert: „sie minderten ihre Stärke um ein Drittel“ (Hm. 15).376 Sie haben eben nicht „das Wunden beißende Schwert | zum Totschlag gebraucht, ohne sich selbst zu schaden“ (Hm. 8).377 So wurden sie letztlich zu genau dem Typus von Heldenfigur, den sie selbst kritisiert haben.378 Später, da sich Jörmunrek als untötbar erweist, wird über die Tat reflektiert und Erp nach seiner Erniedrigung doch zum vollwertigen Bruder erhoben: „Ab wär nun der Kopf [sagt Hamdir], wenn Erp lebte, | unser kampfkühner Bruder, den wir auf dem Weg erschlugen, |

Niflungen“; „Áttu þau þrjá sonur er svá hétu: Sǫrli, Hamðir, Erpr. Þeir váru allir svartir sem hrafn á hárslit sem Gunnarr ok Hǫgni ok aðrir Niflungar“ (Sskm 42 [41]). Vgl. zu Haarfarbe und Erscheinung Erps und der Gjukungen von See/La Farge et al. 2012, S. 913–915. Vgl. Straubhaar 2012, S. 107: Die Zurückweisung und Tötung des Halbbruders geschehe „not only because of his cryptic hand-and-foot answer to them, but because he looks foreign, not like a kinsman: he is chestnut-haired (iarpr) and short (skammr). We can quite reasonably postulate at least one basic underlying assumption held by early narrators of this particular story: namely, that foreigners are not to be trusted, not to be allowed into the family“. Vgl. Sprenger 1992, S. 127: „Erpr bedeutet ‚dunkelbraun‘; der Name bezeichnet somit einen Nichtgermanen (Halbgermanen).“ 371 „inn sundrmœðri“. 372 Vgl. Schillinger 1962, S. 136: „hier zeigen jene [Hamdir und Sörli] nun besonders deutlich, dass sie seiner [Erps] Begleitung und seiner Freundschaft wahrhaftig nicht bedürfen und auch nie ernsthaft mit ihnen rechneten. Ihre Unternehmung kann ebenso gut auch ohne ihn ausgeführt werden“. 373 „Illt er blauðom hal brautir kenna“. 374 Die Stelle ist undurchsichtig hinsichtlich des Rezipienten, ihrer Bedeutung und der Platzierung im Lied. Der Eddakommentar fasst die Schwierigkeiten zusammen (vgl. von See/la Farge 2012, S. 903 ff.). 375 Vgl. zur Provokation Erps Hines 2007, S. 184–188, der gegen eine Emendation der Strophen Hm. 11–17 argumentiert. 376 „þverðo þeir þrótt sinn at þriðiungi“. 377 „svá scyldi hverr ǫðrom veria til aldrlaga | sverði sárbeito, at sér né stríddit.“ 378 Vgl. Haug 1989 [1975], S. 280: „Sie sterben in der Erkenntnis, daß sie sich mit der Ermordung Erps selbst zugrunde gerichtet haben.“ Vgl. Clark 2012, S. 22: „This is even more striking if one makes a comparison with Guðrúnarhvǫt, insofar as Hamðir does exactly that for which he reproaches his mother: he acts without foresight. The connection may be underlined by the repeated use of the name ‚Erpr‘ – paralleling the two murders: one by a mother, one by a brother.“  



















6.2 Rache

363

der schlachtmut’ge Mann […] | der kampfheil’ge Krieger“ (Hm. 28).379 Als Erklärung für die Tötung Erps liefert Hamdir: „Disen reizten uns – […] – sie trieben uns zum Totschlag“ (Hm. 28).380 Das Handeln der Brüder schien nicht ihr eigenes gewesen zu sein, da sie in den Tötungsrausch versetzt waren. Sie haben sich nach einem Muster verhalten. Sie wurden, wie die Helden, die sie nur wider Willen werden wollten, von mythischen Mächten in den Unheilsschlund gesogen.381 Laut Klaus von See wird Erp „im Übermut getötet“.382 An anderer Stelle sagt er, Erps Erschlagung sei „Ausdruck raschen, unüberlegten Heldenübermutes.“383 Was genau meint aber ‚im Übermut‘? Im Nibelungenlied wird der junge Siegfried von seinem Vater Siegmund vor den Vertretern des Wormser Hofes gewarnt: „wenn es niemand sonst wäre außer Hagen, dem Helden: | sein erhobenes Gemüt grenzt an Anmaßung, | sodass ich stark befürchte, dass es uns zum Leid gereichen kann, | wenn wir um die allerherrlichste Jungfrau werben wollen“ (Nl 53,4–54,4).384 Da legen die Helden ein Verhalten an den Tag, einen Übermut, und zwar nicht im modernen Sinne – also bis einer weint – sondern einen hohen muot, eine gehobene Gesinnung, die aber eben schon mal dazu führen kann, dass jemand umgebracht wird, der einen beleidigt oder bei dem man sich eine Respektlosigkeit eben auch nur einbildet.385 Jan-Dirk Mül 







379 „Af væri nú haufuð, ef Erpr lifði, | bróðir occarr inn bǫðfrœcni, er við á braut vágom, | verr inn vígfrœcni […], | gumi inn gunnhelgi“. 380 „hvǫttomc at dísir – […] – gorðomz at vígi –.“ 381 Vgl. Hines 2007, S. 188: Die Hamðismál erzählen „how Hamðir and Sǫrli have become the pawns of their circumstances and of their own primitive, instinctive reactions to those – whereas, in fact, their fate lay in their own hands all along.“ 382 von See 1981 [1967], S. 239. 383 von See 1981 [1967], S. 242. 384 „Ob ez ander niemen wære wan Hagene der degen: | der kan mit übermüete der hôchverte pflegen, | daz ich des sêre fürhte, ez müge uns werden leit, | ob wir werben wellen die vil hêrlîchen meit“ (Übersetzung F.D.). 385 Die Wertung des Nibelungenliedes als ‚übermuot‘ sei nach Friedrich Neumann als das Ergebnis einer Kollision unterschiedlicher textintrinsischer ethischer Vorstellungen zu verstehen: „Das Fremdartige, das dem Verhalten der Vorzeithelden für das höfische Mittelalter anhaftet, ließ sich offenbar durch den undeutlichen, nicht scharf umgrenzten Begriff übermuot passend wiedergeben. Wenn man das Tun eines Helden nicht aus einer Gesinnung ableiten kann, die dem vorbildlichen Ritter gemäß ist, und es doch begründen will, so stellt sich als Helfer in der Not der Begriff übermuot ein“ (Neumann 1924, S. 135). Wolfgang Hempel deutet den übermuot im Nibelungenlied allerdings christlich im Sinne der negativen superbia. Vgl. dazu Hempel 1970, S. 217–224, bes. S. 219 f.: „Hier, wie in den meisten anderen Fällen, umgibt die übermüeten Helden eine Aura der Gefährlichkeit, Unberechenbarkeit und Grausamkeit. Der archaische, heldenhafte Selbstbehauptungswille und Kampfgeist erscheint als eine schreckerregende, unverständliche Wildheit und Gefährlichkeit. Die Eigenschaft des übermuotes erscheint als eine hemmungslose, zerstörende Kraft, die dennoch Bewunderung abringt. Der Dichter übernahm also offenbar aus seinen Vorlagen die Vorstellung eines übermuotes mit dem alten positiven Ethos des überschwellenden Heldenmutes und der unbändigen Kampfkraft. Doch konnte ihm, dem christlich erzogenen Christen, nicht wohl dabei sein, er wußte auch als höfischer Mensch, genau wie seine Zuhörer, mit dieser Unbändigkeit nichts anzufangen. So ist der Begriff bewußt oder unbewußt vom Dichter aus seiner höfisch 









   









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6. Krisenreaktionen

ler erklärt dazu: „Was aber zeigt sich in der Epiphanie des Heros? Ihr Kern scheint in überlegener Stärke zu liegen. […] Der Überschuß an Kräften heißt übermuot. Seit langem weiß man, daß übermuot als Bezeichnung für einen Charakterzug missverstanden wäre, denn er meint eine Kraft, die oberhalb charakterlicher Besonderungen wirkt.“386 „Das als übermuot qualifizierte Selbstgefühl macht die Qualität des Heros aus, der seine Stärke kennt und sich um die der anderen nicht kümmern zu müssen glaubt.“387 Es gehe hierbei eben nicht um superbia,388 sondern um Ausdruck heldischen Seins.389 Die Erschlagung Erps erfolgt in Völsunga saga und Liederedda aus dem Missverständnis seiner Antwort, vor allem aber aus heroischem Übermut. Dazu manifestiert sich darin das Bedürfnis, seine eigene Sippe zu überhöhen und sich von anderen Sippen – in diesem Falle vom Halbbruder – abzugrenzen. Das passt allerdings gar nicht zum anfänglichen Denken der Brüder, die sich weitere Rächer in Form der erschlagenen Söhne Atlis wünschen würden. Hamdir und Sörli nehmen also nur in Form einer Imitation das sippenüberhöhende Denken der früheren Heldengenerationen an, obwohl es eigentlich nicht ihrer eigenen ratio entspricht.390 Das führt zur Erschlagung des Bruders und dem Nachahmen von heroischem furor auf Grund der scheinbar nutzlosen Antwort. Ihr Nützlichkeitsdenken wird bei der Tötung Erps nun pervertiert: Zunächst war es rational und Hamdir wollte mehr Verbündete. Nun merzen die beiden alles aus, was nicht absolut hilfreich erscheint. Letztendlich scheitern  



christlichen Sicht heraus über verschiedene Stufen negativiert. Zwar bleibt als Grundlage der Wert der Kampfkraft, des Mutes und der Selbstsicherheit, jedoch erscheint der übermuot vor allem als die negative Übersteigerung dieser Gefühle, die gewöhnlich im Begriff hôher muot ausgedrückt werden.“ Und ferner Hempel 1970, S. 223 f.: „Siegfried, Brünhild, Kriemhild und zumal Hagen, sie alle sind in ihrem wilden Trotz und ihrer hemmungslosen Selbstbehauptung und Rachsucht große Bilder der archaischen, germanischen Virtus. Und so erscheinen sie dem Dichter der christlich-hochhöfischen Zeit zwar als beeindruckende Titanen und Helden, stehen jedoch, den Anschauungen der Zeit ausgesetzt, unvermeidlich im Lichte der superbia.“ 386 Müller 1998, S. 237. 387 Müller 1998, S. 239. Vgl. auch Hempel 1970, S. 110: „Der Hohe Mut entwickelt sich auf der Grundlage des einheimischen Kriegerethos. Allen seinen Komponenten, die die frühmittelhochdeutsche Literatur noch in der Entwicklung zeigt, liegt die Virtus zugrunde. Der frühhöfische hôhe muot besteht in der stolzen, selbstbewußten und zuversichtlichen Gesinnung und Stimmung, die auf dem Bewußtsein persönlicher Tüchtigkeit und Geltung beruht. Der germanische Virtus-Gedanke lebt also im Rittertum weiter, verschiebt sich jedoch merklich. Er betont und entwickelt neben dem objektiven Wertsein besonders die subjektive, emotionale Komponente der Wertschätzung und des Wertgefühls.“ 388 Vgl. Müller 1998, S. 238. Zur superbia aus religiös-theologischer Perspektive, als in die Egozentrik gesteigerten Egoismus vgl. Hempel 1970, S. 1–37. 389 Für eine linguistische Untersuchung der Begriffe ‚móðr‘ und ‚hugr‘ – also etwa ‚Gemüt‘ und ‚Verstand/Gesinnung‘ – im heroischen Kontext, auch im Zusammenhang mit Übermut vgl. Beck 1988, S. 137–145. 390 Vgl. Gschwantler 1993, S. 264: „Throughout the poem, a reflective, antiheroic tone is combined with proverbial wisdom. The idea that sober-minded reason is more important than unrestrained heroism is stated several times.“ Doch ist es letzten Endes das selbstzerstörerische Heldentum, das sich durchsetzt.  





















6.2 Rache

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die Brüder daran, dass sie mit ihrer eigenen heroischen Gewalt nicht haushalten können.391 Sieht man sich die hier besprochenen Varianten der Hamdir- und Sörlisage an, so erhält man unweigerlich den Eindruck einer Erzählung des Scheiterns.392 Wir erfahren von Hamdir und Sörli nichts, außer dass sie für die Rache in den Tod gehen, obwohl das gar nicht aus ihrem eigenen Antrieb geschieht. Sie werden dazu verpflichtet – ich benutze die Formulierung Matthias Teicherts – „ein[em] destruktive[n] Ehrbegriff“393 zu folgen, bleiben dabei aber Helden wider Willen, die eigentlich gar kein Bedürfnis danach hätten, ihr Leben in Heldenmanier zu opfern. Das heroische Verhalten, wie es von Gudrun vertreten wird, ist für sie unvernünftig. Hinsichtlich des Wandels in Atmosphäre und Erzähllogik ist die Erzählung um Hamdir und Sörli in der Völsunga saga als Kontrastepisode zur Sinfjötligeschichte konstruiert. Die Protagonisten werden jeweils von der Mutterfigur als Rächer ‚designed‘. Doch haben Hamdir und Sörli kein Sinfjötliformat – und das ist nun eher horizontal denn vertikal wertend zu verstehen, da sie keine Maschinenmenschen sind, eben keine seelenlosen Killer, die ihren Auftrag wie nach einer Formel erfüllen. Trotzdem versuchen sie dieses Verhalten der früheren Heldengenerationen nun anzunehmen, sozusagen zu imitieren. Sie treten in die Fußstapfen ihrer Vorgänger und werden dabei zu einer Variante der Figuren Gunnar und Högni: Sie dringen in die Halle ihres Feindes ein, werden allerdings auf dessen Geheiß hin getötet, bevor sie ihm das Leben nehmen können. Sie töten Erp, in ihrem Falle den Halbbruder, so wie Gunnar und Högni den Tod Sigurds, ihres Schwurbruders, verursacht haben. Durch beide Taten schwächen die Ausführenden in einem Maße ihre eigene Sippe, sodass sie die darauffolgende Herausforderung nicht bestehen können. Der Text setzt das Scheitern in beiden Fällen in direkten Zusammenhang mit dem Tötungsakt: „Abgeschlagen würde jetzt das Haupt sein, wenn Erp lebte, unser Bruder, den wir auf dem Weg erschlagen haben – zu spät sahen wir das ein“ (Vs 44)394 und an anderer Stelle: „jetzt werdet ihr an der Spitze der Schar in den Krieg reiten, und wenn ihr zum Kampfe kommt, da werdet ihr merken, daß Sigurd euch nicht mehr zur einen Hand ist, und dann werdet ihr sehen,  







391 Vgl. Clark 2012, S. 42: „The only reason to leave Iǫrmunrekkr undecapitated is to emphasize the brothers’ need of Erpr. That is, the need for a community transcending the circle of the immediate kinship group is foregrounded, along with the need for wisdom rather than short-sighted heroics.“ Gerd Will nennt die Erschlagung Erps eine „Impulshandlung[…]“ (Will 1934, S. 45). 392 Vgl. Gottzmann 1987, S. 75: „Die genealogische Folge ist deutlich durch eine aufsteigende und eine absteigende Linie gekennzeichnet.“ Vgl. Gottzmann 1987, S. 76: „Gudrun und ihre Sippe sind nicht fähig, das Erbe der Völsungen zu erhalten oder ihm neue Kraft zu verleihen.“ Vgl. Boklund-Schlagbauer 1996, S. 174: „Die Brüder sind nicht würdig, die Tradition der Völsungen weiterzuführen.“ Vgl. Quinn 2003, S. 99: „So unpromising are the last of the Gjúkings, Óðinn intervenes one last time to ensure the line is extinguished“. 393 Teichert 2014, S. 167. 394 „Af munþi hofudit, ef Erpr lifþi, brodir ockar, er vid vagum a leiþinne, ok sam vid þat of sid.“  













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6. Krisenreaktionen

daß Sigurd euer Heil und eure Stärke war“ (Vs 32).395 Es wird dieselbe Handlung zweimal hintereinandergestellt, aber in verschiedenen Färbungen erzählt: während Gunnar den Aufbruch zu Atli in den Untergang nach Königsmanier („sem konungr skyldi“, Akv. 9) befiehlt,396 werden Hamdir und Sörli dazu von ihrer Mutter genötigt. Sie sind Helden eines anderen Kalibers. In der Hamdir- und Sörliepisode in der Völsunga saga und den Heldenliedern finden wir einen Abgesang auf das Heroische, in dem die Verfasser die Atmosphäre ihrer Komposition nutzen um ihr Thema in einer Variation ein letztes Mal zu spielen. Die Erzählung endet mit einer Antihelden-, Antivölsungensage. Bis zuletzt sind Hamdir und Sörli unwillig und erkennen, dass sie in den Tod geschickt werden.397 Sie erfüllen ihre Aufgabe trotzdem, und nicht weil es in ihrer Natur liegt. Sie sind keine Helden im Sinne der Völsungen,398 denen heroisches Verhalten sozusagen im Blut liegt. Stattdessen beugen sie sich den Anforderungen heroischen Verhaltens. Im Heldentum gehen sie nicht auf und reflektieren bis zuletzt aus der Distanz über ihr Handeln und darüber, wie sie von ihrer Mutter, die ja an Helden des eben beschriebenen Heldentypus gewöhnt ist, in einen heroischen Rahmen gezwungen wurden. Die Figuren Hamdirs und Sörlis sind inszeniert als reflektierende Postheroen, die die moralische Einstellung ihrer Vorgängergenerationen durchblicken und kritisieren, sich selbst allerdings dem Sog ihres Sippenschicksals nicht entziehen können und letztlich die Haltung annehmen, die sie selbst verabscheuen.399 Helden mimend sterben sie den Heldentod, befohlen von Odin oder Jörmunrek, getrennt voneinander in der Gewalt ihrer Feinde.  

395 „Nu munu þer rida i her fyst, ok er þer komit til bardaga, þa muno þer finna, at Sigurdr er eigi a adra hond ydr, ok muno þer þa sea, at Sigurdr var ydur gęfa ok styrkr“. 396 Siehe 5.1.6. 397 Vgl. Steblin-Kamenskij 1982, S. 86: „Guðrun is ready to make a heroic sacrifice – to avenge her daughter by her first and beloved husband at the price of the lives of her sons by her third husband.“ Vgl. Larrington 2008, S. 12 f.: „Guðrún urges her two surviving sons by her third marriage to Iónakr on what is effectively a suicide mission […]; they recognise all too well how she has manipulated them into undertaking a fatal mission.“ 398 Rein technisch gesehen sind Hamdir und Sörli Gjukungen. 399 Vgl. Wolf 1965, S. 116 zu Hildigunnrs hvǫt in der Njáls saga: „Diese in exakter Prosa geschriebene Szene zeigt aber nicht Menschen, welche sich im Vollbewußtsein ihrer inneren Freiheit entscheiden, sondern läßt ein umfassendes feinmaschiges Netz von unentrinnbaren Bezügen hervortreten, stellt eine starre unheimliche Frauengestalt ins Zentrum und zieht den vernünftigen, friedliebenden Menschen in ein heilloses Kraftfeld hinein. […] Flosi, der versöhnliche und vernünftige Bauer gerät in dieses Netz hinein, er durchschaut es und doch kann er sich nicht befreien.“ Das kann unverändert auch auf Hamdir, Sörli und Gudruns hvǫt angewendet werden.  









7. Untergang 7.1 Schicksal 7.1.1 Doom Die Gattungen der Heldendichtung werden von einem Konzept regiert, das wir in den Übersetzungen der Texte unter dem Begriff des Schicksals subsumieren.1 Doch diese Übersetzung trifft den Kern der Sache nicht hundertprozentig. Gemeint ist nämlich das üble, tödliche Schicksal. Das Englische kann das differenzierter wiedergeben: Während wir im ‚fortune‘ – dem ‚good fortune‘ eben – das positive Schicksal haben, meint das englische ‚fate‘ das Schicksal im Allgemeinen und beschreibt, was vorherbestimmt ist, ganz gleich ob gut oder schlecht. Das Schicksal des Protagonisten der Heldendichtung allerdings zeichnet den Weg des Helden in den Untergang voraus. Am Ende seines Pfades steht unweigerlich sein gewaltsamer Tod.2 Der heroische Schicksalsbegriff ist also der des englischen ‚doom‘, der von drohender Verdammnis.3 Dem Rezipienten völsungischer Heldendichtung wird das Konzept des Schicksals konstant von den Figuren der Texte vor Augen geführt. Es ist nichts, was von außen auf die Erzählungen angewandt wird, sondern etwas, das für die Figuren selbst ein valides und greifbares Konzept darstellt. Die Erzähler lassen die Figuren über ihr Schicksal reflektieren und wiederholt dessen Unausweichlichkeit thematisieren. Helgi sagt im zweiten Helgilied: „Herrscher widerstehen nicht dem Schicksal“ (HH. II 29).4 Könige und Herrscher sind die Protagonisten der Heldensage5 und gerade diese Mächtigen sind es, die einer Schicksalsmacht unterworfen sind. Im Gespräch mit seinem Onkel sagt Sigurd: „vorausbestimmt ist alles“ (Grp. 24).6 Sein Dialog mit Gripir offenbart ihm sein eigenes tödliches fatum, dem er nicht entgehen kann. Die Völsunga saga bestätigt das vor seiner Erschlagung: „auch konnte er sich nicht seinem Geschick ent 





1 Vgl. Reichert 1999, S. 269 f.; Simek 2004, S. 8–10; Simek 2006, S. 363–364. Vgl. Aguirre 2002, S. 11: „By fate one need not seek to understand esoteric concepts of mysterious entities and personified forces. Fate may simply be an entailment of narrative structure, of a system of textual interrelations which pre-exists and conditions events, including the characters’ conduct.“ Außerdem umfassend die Monographien von Walther Gehl und Gerd Wolfgang Weber (vgl. Gehl 1939; Weber 1969). 2 Vgl. Grimstad 2000, S. 18: Die Völsunga saga „ends on an apocalyptic note.“ 3 Vgl. Simek 2004, S. 9: „Für ein über den Göttern stehendes Schicksal finden sich allerdings Belege in den Liedern der Edda […]. Wie diese sind […] auch andere Begriffe für Schicksal durchwegs negativ besetzt […], so daß diese Art von Schicksal nicht offen gedacht, sondern in der Bedeutung von ‚Tod, Verderben‘ gebraucht wird.“ Vgl. für das Schicksalvokabular der Liederedda Neumann 1955, S. 11–22. 4 „vinnat scioldungar scǫpom.“ 5 Siehe 5.1.2. 6 „lagt er alt fyrir“.  















https://doi.org/10.1515/9783110649796-007

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7. Untergang

ziehen noch seinem Lebensziele“ (Vs 32).7 Hier taucht der Begriff des Lebenszieles, ‚aldrlag‘, des Lebensendes und Todes auf. Er beschreibt den Punkt der Heldenbiographie, auf den die Handlung zustrebt und an dem sich der ‚doom‘ des Helden erfüllt. Das Lebensziel des heroischen Protagonisten ist das Erreichen des Moments, da sein Untergang manifest wird. Alle Bestrebungen diesem zu entgehen sind vergeblich. So sagt Gudrun zu ihren Brüdern, nachdem sie entgegen aller Maßnahmen der verräterischen Einladung gefolgt sind: „Ich suchte Hilfe, euch daheim zu halten, | dem Schicksal entweicht niemand, ihr solltet doch herkommen“ (Am. 48 [46]).8 Am Anfang desselben Liedes heißt es über die geschilderten Ereignisse: „Das Schicksal erwuchs den Fürsten, sie wurden Todgeweihte“ (Am. 2).9 Wer ‚feigr‘ – todgeweiht – ist, ist „(vom Schicksal) zum Tode bestimmt, dem Tode verfallen“.10 Die Macht des Schicksals ist dabei etwas, das eine einem Eigenwillen gleichende Entscheidungsgewalt hat. Im kurzen Sigurdlied wird beschrieben, wie es das Schicksal Sigurd nicht vergönnt Brynhild zur Frau zu haben: „er besäß sie, hätt er sie haben dürfen“ (Sg. 3).11 Das letzte Veto gibt immer das fatum. Ebenso verhält es sich zwischen Brynhild und Gunnar. Vor ihrem Tod sagt diese ihm, dass die Kühle in ihrer Ehe auf fehlendes „glückliches Schicksal“ (Sg. 58)12 zurückzuführen sei. Das Schicksal kommt dem in die Quere, der zunächst Anzeichen von Herausragendem gezeigt hat. Das ist nicht nur bei Sigurd der Fall. Budli spricht über seine Tochter Brynhild: „kein bessres Mädchen werde | auf der Erde geborn, vernichte sie nicht das Schicksal“ (Odd. 16).13 In Oddrúns Klage spricht die Titelfigur vom „üblen Geschick“ (Odd. 34)14 ihrer selbst und der Gjukungen. Das geschieht in einem Rückblick. Das Schicksal ist hier bereits eingetreten und liegt nun düster auf der Figur.  



7.1.2 Die Nornen Das Schicksal wird in den Texten der Völsungensage bisweilen in Form der mythischen Nornen15 personifiziert. Sie sind es, die den Figuren das Schicksal bestimmen und ihnen letztlich ihr Verderben bringen.16 Über Brynhild heißt es im kurzen Sigurd-

7 „matte hann ok eigi vid skaupum vinna ne sinu alldrlaghe.“ 8 „Leitaða ec í lícna, at letia ycr heiman, | scǫpom viðr mangi, oc scoloð þó hér komnir.“ 9 „Scǫp œxto sciǫldunga – scyldoat feigir“. 10 Baetke 2008, s.v. ‚feigr‘ 11 „hann um ætti, ef hann eiga knætti.“ 12 „góð um scǫp“. 13 „ina œðri alna myndo | mey í heimi, nema miotuðr spilti.“ 14 „mǫrg ill um scǫp“. 15 Vgl. Dillmann 2002, S. 388–394; Simek 2006, S. 306–307; Weber 1969, S. 115–125 bzw. S. 149–154. 16 Vgl. Lionarons 2005, S. 284: „Despite their stated capacity to bestow good as well as evil fortune, however, once again the evidence of both the Eddaic poetry and the sagas would indicate that norns in general are most often equated with bad fortune and specifically with death.“  











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7.1 Schicksal

lied: „Sie hatte im Leben keine Schande erfahrn | und im Lebensgeschick kein Unheil, | das ein Fehler gewesen wär oder zu sein schien. | Dazwischen gingen die grimmigen Schicksalsmächte“ (Sg. 5).17 Urð ist der Name einer Norne,18 der hier im Plural steht: ‚Urðir‘. Der Übersetzer gibt das mit ‚Schicksalsmächten‘ wieder. Dahinter steht allerdings die Idee, dass es mythische Kräfte sind, die bewusst und übelwollend – grimmig, also dem heldischen Sinn entsprechend – auf die Figur Brynhilds einwirken. Zwei Strophen später begründet Brynhild selbst, was hinter ihrem Leid steht und warum Sigurd sterben muss: „Grausame Nornen schufen uns lang Unheil“ (Sg. 7).19 Es ist ein schadenbringender Wille von außen, dem man sich allerdings doch nicht entziehen kann. Für den Zwerg Andvari ist es eine Norne, die über seine komplette Lebensweise entscheidet. Er lebt in einem Wasserfall: „Unglücksnorne | In der Urzeit mir schufs, | Im Wasser mein Wesen zu treiben“ (Vs 14,20 vgl. Rm. 2). Helgi ist eiskalt, als er Sigrun über den Tod ihrer Nahen informiert: Das Schicksal habe es so entschieden und durch die Nornen und Sigrun selbst („Hild21 bist du uns gewesen“, HH. II 29) 22 sei es ihm gegeben gewesen, ihre Verwandten zu erschlagen:23 „Dir ist nicht in allem Glück, Fremdwesen, gegeben, | doch nenn ich auch Nornen daran schuld“ (HH. II 26).24 Der eponyme Held und Protagonist der Rahmenhandlung des Nornagests þáttrs – der die Nornen ja bereits im Namen trägt – wird Opfer einer rachsüchtigen Norne.25 Da sie sich von ihren Schwestern und den Gästen Nornagests Vaters geschmäht fühlt, verheißt sie ihm ein kurzes Leben: „denn ich will ihm das zuteilen, daß er nicht länger leben soll, als die Kerze brennt, die hier bei dem Knaben angezündet ist“ (Norn 358).26 Das erweist sich als ‚blessing in disguise‘, da Nornagest 300 Jah 







17 „Hon sér at lífi lǫst né vissi | oc at aldrlagi ecci grand, | vamm þat er væri eða vera hygði. | Gengo þess á milli grimmar urðir.“ 18 Vgl. von See/La Farge et al. 2009, S. 328–329. 19 „liótar nornir scópo oss langa þrá.“ 20 „Aumligh norn | skop oss i ardaga, | at ek skyllda i vatnę vada.“ 21 Für Bezüge des Liedes zur Hjaðningensage vgl. de Vries 1957(b), S. 123–129. 22 „Hildr hefir þú oss verið“. 23 Vgl. Schulz 2004, S. 294: „Das Bedürfnis, Machtverhältnissen und Ereignissen, sogar den eigenen Taten einen personalen Verursacher jenseits der menschlichen Welt zuzuschreiben, ist nicht nur den Fornaldarsögur eigentümlich; betrachtet man die eddische Heldendichtung, so wird etwa in HH. II die Verantwortung für alle Kämpfe und Totschläge übernatürlichen Mächten zugeschrieben – und die menschliche Schuld verringert: Nornen bewirken, daß Helgi die Verwandten Sigruns erschlug […], Odin wiederum ist verantwortlich dafür, daß Helgi durch Dagrs Hand fällt“. 24 „Erat þér at ǫllo, alvitr, gefið, | þó qveð ec nocqvi nornir valda“. 25 Im Nornagests þáttr fließen die Vorstellungen von Nornen und Völven zusammen: „Damals zogen Völven durch das Land, die Wahrsagerinnen genannt wurden, und weissagten den Leuten ihr Alter“; „Þar foru þa um landit uoluur er kalladar uoru spakonur ok spadu monnum alldr“ (Norn 358). Die Voraussagung des Schicksals ist hier gleich seiner Bestimmung. Die Begriffe Nornen und Völven werden im þáttr austauschbar gebraucht (vgl. Norn 11). Vgl. Hierzu Herrmann 1923, S. 217 Anm. 26 „þuiat ek skapa honum þat at hann skal æigi lifa leingr en kerti þat brennr er upp er tendrat hea suæninum.“  









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7. Untergang

re lang lebt, weil er die Kerze einfach nicht mehr anzündet (vgl. Norn 358–359). Das Wirken der Nornen ist eine Umschreibung für das, was unabänderlich ist. Die Meisen sprechen vom Zauberschlaf der Walküre und sagen Sigurd, dass er sie nicht wecken können werde, wenn es nicht so vorherbestimmt ist: „man kann Sigrdrifas Schlaf nicht brechen, | […] gegen den Schicksalsspruch der Nornen“ (Fm. 44).27 Das Eingreifen der Nornen ist ferner eine Umschreibung für das Sterben generell: „Der Nornen Spruch wirst du vorm Vorgebirge haben“ (Fm. 11),28 sagt Fafnir zu Sigurd. Wenn Gudrun zu ihrem Bruder sagt, er lasse idealerweise „Nornen bleiche Leichen beweinen“ (Akv. 16),29 dann meint sie damit das Töten. Die Umschreibung inszeniert die Nornen nicht nur als diejenigen, die das Schicksal bestimmen, sondern dann auch selbst mit den Ergebnissen klarkommen müssen. Das Bild berührt die Vorstellung von Nornen als Schutzgottheiten wie etwa den Disen. Wir haben bereits darüber gesprochen, wie Odin die Handlung der Völsunga saga einrahmt.30 Er wird im ersten Kapitel als Ahnherr des Geschlechtes aufgeführt und erscheint im letzten Kapitel, um die Schwäche der gjukungischen Rächerbrüder zu offenbaren und somit ihren Tod herbeizuführen. Auch die eddischen Völsungenerzählungen werden mythisch eingerahmt, nur dass die Rolle der Figur Odins von den Nornen übernommen wird. In der Helgakviða I sind sie es, die Helgi sein zunächst günstiges Schicksal bestimmen. Es wird hierfür das Bild des Webens und Fadenknüpfens verwendet:31  

Nacht war’s auf dem Hof, die Nornen kamen, die dem Edlen das Alter entschieden; | sie bestimmten dem Fürsten, der berühmteste zu werden | und als bester der Herrscher zu scheinen. | Sie knüpften kräftig die Schicksalsfäden, | als man Burgen brach in Bralund; | sie trennten goldene Fäden, | befestigten sie mitten unterm Mondsaal. | Im Osten und Westen verbargen sie Enden, | der König besaß das Land dazwischen; | die Verwandte Neris warf nach Norden | ein Band, immer zu halten bestimmte sie’s (HH. 2–4,32 vgl. Vs 8).

Das Lied stellt die Schicksalsfäden als etwas physisch Erfassbares dar, das auch geographisch verortet werden kann. Sie liegen um das Herrschaftsgebiet Helgis herum.33 Die Hamðismál lassen Hamdir sich vor seinem Tod auf den Einfluss der Nornen beru-

27 „máat Sigrdrífa svefni bregða, | […] fyr scǫpom norna.“ 28 „Norna dóm þú munt fyr nesiom hafa“. 29 „nái nauðfǫlva létir nornir gráta“. 30 Siehe 3.1.1. 31 Karen Bek-Pedersen reflektiert darüber, welcher handwerklichen Tätigkeit die Nornen hier wirklich nachgehen (vgl. Bek-Pedersen 2006, S. 126–128). 32 „Nótt varð í bœ, nornir qvómo, | þær er ǫðlingi aldr um scópo; | þann báðo fylki frægstan verða | oc buðlunga beztan þiccia. | Snero þær af afli ørlǫgþátto, | þá er borgir braut í Brálundi; | þær um greiddo gullim símo | oc und mána sal miðian festo. | Þær austr oc vestr enda fálo, | þar átti lofðungr land á milli; | brá nipt Nera á norðrvega | einni festi, ey bað hon halda.“ 33 Vgl. Klingenberg 1974, S. 63–64.  



7.1 Schicksal

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fen: „den Abend erlebt ein Mann nicht nach dem Spruch der Nornen“ (Hm. 30).34 Die von den Völsungen und Gjukungen handelnden Heldenlieder stellen das Schicksal als prominenteste Macht hinter der Handlung dar. Sowohl der Auftakt der Erzählungen als auch ihr Niedergang wird mythisch begründet. Letztlich waren die Geschlechter verdammt. Vereinzelt erscheinen die Nornen auch in einem vom Schicksalskonzept losgelösten Kontext. Im Wissensdialog mit Fafnir fragt Sigurd nach der Natur der gebärungshelfenden Nornen: „Welcher Art sind die Nornen, die Mütter erlösen von der Leibesfrucht?“ (Vs 18).35 Fafnir antwortet, dass diese von Asen, Alfen und Zwergen abstammen können (vgl. Vs 18 bzw. Fm. 12–13). Während der Runenunterweisung erklärt Brynhild, ein Ort, wo die Runen entsprängen, sei „am Nagel der Norne“ (Vs 21).36 Die mythischen Figuren stehen also ferner im allgemeinen Zusammenhang mit Zauberei. Außerhalb der Passage um die Schicksalbestimmung Helgis (vgl. HH. 2–4 bzw. Vs 8) existieren die Nornen allerdings nur in der Figurenrede. Sie entstammen dem fingierten Erzählkosmos der Figuren der Erzählung selbst. Bis auf besagte Ausnahme37 sind sie auf Metaebene rezipierter Mythos.

7.1.3 Heroisches Vorwissen Die Handlung der Völsungensage wird im Verlauf der Erzählungen mehrmals vorauserzählt. Akteure wie auch Rezipient sind sich zu jedem Zeitpunkt über den Ausgang der Erzählung im Klaren.38 Da die Völsungensage im Untergang der Figuren endet, sind wir als Hörer oder Leser mit Protagonisten konfrontiert, die nicht nur über absolutes Vorauswissen über die Handlung verfügen, sondern auch andauernd über ihren eigenen Tod reflektieren. Das Produkt ist der schicksalsergebene, todesbejahende Heldentypus des Völsungennexus.39 Diese Gabe der Voraussicht bezeugt Signy am relativen Anfang der Völsunga saga. Sie sei eine Eigenart des Völsungengeschlechtes. Die Sippe weiß um ihren eigenen Untergang. Nach Signys Hochzeit mit Siggeir warnt sie ihren Vater: „durch Vorahnung, die ja eine Eigentümlichkeit unseres Geschlechtes ist, weiß ich, daß uns aus dieser Heirat großes Leid entstehen wird, wenn diese Ehe 34 „qveld lifir maðr ecci eptir qvið norna.“ 35 „Hveriar eru þęr nornir, er kiosa maugu fra medrum?“ 36 „a nornar nagle“. 37 Außerdem die Passage um Nornagests Langlebigkeit (vgl. Norn 11–12). 38 Vgl. Schlauch 1967, S. 208: „The frequent references to ineluctable fate, combined with premonitions of coming events, impart a sombre tone to the strange and sometimes disjointed action.“ Vgl. für das Nibelungenlied Brunner 1997, S. 206: „Hervorzuheben als Mittel zur Spannungssteigerung ist die Vorausdeutung, der permanent wiederholte Hinweis auf das schlechte Ende.“ 39 Vgl. Hermann Pálsson/Edwards 1971, S. 37: „The interest would lie not so much in where the tale was going, but by what route it would reach its predictable destination. The route would be dictated by the character of the man chosen as hero of the tale.“  





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7. Untergang

nicht bald gelöst wird“ (Vs 4).40 Der große Wissende des Völsungengeschlechts ist Sigurd.41 In seiner Beschreibung heißt es: „Er war vogelsprachenkund, und deshalb kamen ihm wenige Dinge unerwartet“ (Vs 23).42 Der Text stellt das so hin, als würde diese Erklärung für uns Sinn ergeben. Auf den ersten Blick tut es das aber nicht. Wer mit den Vögeln kommunizieren kann, hat nach der Erzähllogik entweder Teil an einer größeren Weisheit, zu der die Tiere Zugang haben oder aber die Erläuterung spielt auf das eine Mal an, da Sigurd von den Vögeln seine Zukunft inklusive Handlungsempfehlung vorausgesagt bekommen hat. Die Meisen – wie auch schon Gripir und Fafnir zuvor (vgl. Grp. 11, Fm. 22, Vs 18) – offenbaren Sigurd, dass Regin seinen Tod im Sinn hat: „Dort liegt Reginn […], | will den Mann verraten, der ihm vertraut“ (Fm. 33).43 Damit sagen sie allerdings nichts, was Sigurd nicht schon wüsste. Sie heben es nur noch einmal für den Rezipienten hervor und sind Teil einer vorwärtsgewandten Erzähldynamik, innerhalb derer sie als Katalysatoren auftreten, damit sich das Vorherbestimmte erfüllt. Danach geben die Meisen Sigurd eine Handlungsanweisung: Im Namen des Schicksals schicken sie ihn weiter zur schlafenden Walküre (vgl. Fm. 42– 44) und zu Gjuki und Gudrun (vgl. Fm. 41): „das Schicksal weist einen Wandernden voraus“ (Fm. 41).44 Umfassende Auskunft über sein Geschick erhält Sigurd von seinem Onkel Gripir: „Bald […] begab er sich zu Gripir, denn dieser war zukunftskundig und wußte die Schicksale der Menschen voraus. Sigurd forschte nach, wie sich sein Leben gestalten würde; aber Gripir war lange dagegen, schließlich sagte er auf Sigurds stürmische Bitte ihm all sein Schicksal, so wie es später eintraf“ (Vs 16).45 Gripir ist „um die Zukunft wissend“ (Grp. Prosaeinleitung).46 Die Grípisspá ist das erste Heldenlied, das Sigurd thematisiert. Es ist der Jungsigurddichtung vorangestellt. Gerade dieses erste Lied um Sigurd ist eine Zusammenfassung der kompletten Sigurdhandlung in Form einer Zukunftsschau. Wir Heutige, die wir uns unsere Unterhaltungserlebnisse ‚spoiler free‘ wünschen, empfinden das als ungewöhnlich.47 Dadurch, dass der weitere Handlungs 





40 „veit ek af framvisi minne ok af kynfylgiu, at af þessu rade stendr oss mikill ufagnadr, ef eigi er skiott brugdit þessum radahág.“ 41 Siehe 4.2.1–4.2.4. 42 „Hann skillde fuglsraudd. Ok af slikum lutum komu honum fair lutir a uvart.“ 43 „Þar liggr Reginn […], | vill tæla mǫg, þann er trúir hánom“. 44 „fram vísa scǫp fólclíðondom“. 45 „Enn litlu siþar […] for hann a fund Gripiss, þviat hann var framviss ok visse fyrir aurlaugh manna. Sigurdr leitar eptir, hversu ganga man ęfi hans. Enn hann var þo leinge fyrir ok sagde þo loksis vid akafligha bęn Sigurdar aull forlaug hans, eptir þvi sem eptir gek siþan.“ 46 „framvíss.“ 47 Vgl. McKinnell 2014, S. 263: „Modern taste usually reacts against this device, because it destroys the possibility of narrative suspense later and because it seems to deprive the characters of any capacity to choose what action they will take. This criticism has some validity as applied to Vǫlsunga saga, where the events prophesied then ponderously take place. But in the surviving poems it is a substitute for narrative, not a prelude to it, and can thus tell a story in a suspenseful way even if the audience already knows  

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7.1 Schicksal

verlauf an mehreren Stellen der Erzählungen gänzlich vorweggenommen wird, changiert die Rezipientenwahrnehmung von einer Ob- zu einer Wie-Spannung.48 Das Handeln der Helden wird zu einem Agieren gegen die Wahrscheinlichkeiten und die Völsungensage zu einem untergangsorientierten Erzähluniversum.49 Gripir sagt Sigurds allgemeine Berühmtheit voraus, seine Vaterrache, seine Drachentötung, die Erschlagung Regins, die Begegnung mit Brynhild und seinen Aufenthalt bei Heimir. Damit endet zunächst die spá des Onkels: „Beendet ist, Sigurd, was ich vorher wusste, | du sollst Gripir nicht noch mehr fragen“ (Grp. 19).50 Das ist für Sigurd durchschaubar. Wie bei den Meisen berichtet ihm Gripir nichts, was er selbst nicht eigentlich schon weiß: „Nun macht mir das Wort Sorge, das du sprachst, | weil du Weiteres voraussiehst, Fürst. | Du weißt Sigurd sehr großen Schmerz, | denn du Gripir, willst es nicht sagen“ (Grp. 20).51 Sigurd ist ebenso zukunftskundig und hat Teil am heroischen Vorwissen. Die Zukunftsschau ist vor allem ein Dienst am Rezipienten und soll den vorauswissenden, todesorientierten Heldentyp der Völsungensage generieren.52 Die  



what must happen, because it switches attention onto the presumed reactions of the person to whom the prophecy is being told, who is always personally affected by it. Secondly, prophecy can include events after the death of the speaker but including his or her attitude towards them, and this would be difficult to contrive in any other way. Finally, when the device was used by medieval Catholic poets who themselves believed in Free Will, it emphasised the distance between the fictional characters, whose pre-Christian credentials are proved by their belief in an absolute Fate, and the poet’s audience, who had no such belief; this could give the narrative the glamour of apparent antiquity.“ Ich sehe jedoch keinen Grund, warum McKinnells treffende Punkte nicht auch auf die Benutzung von Vorausschauen in der Völsunga saga zutreffen sollten. 48 Vgl. Anz 2007, S. 465: „‚Spannung auf den Gang‘ der Handlung […] wird, in Opposition zu Was- oder Ob-Spannung […] auch Wie-Spannung genannt: Besonders bei Bearbeitungen bekannter mythologischer Stoffe oder bei Inszenierungen kanonischer Dramentexte, aber auch bei vorgegebenen Gattungsschemata mit festgelegtem Ende (Tod in der Tragödie, Hochzeit in der Komödie, Bestrafung des Verbrechers im Kriminalroman) konzentriert sich die gespannte Aufmerksamkeit auf die Frage, auf genau welche Weise das an sich zu erwartende Ergebnis eintritt“. Vgl. Grimstad 2000, S. 37: „Although dreams and prophecies reveal the events to come in the story, they should not be regarded as devices that ‚spoil the suspense‘, equivalent to reading the ending first. For a medieval audience used to oral storytelling, periodic reiteration of the plot through such anticipatory devices acts as a memory aid, which in turn increases the pleasure of the suspense in discovering how a character reacts to a prophecy or a dream interpretation, how the individual’s foreordained destiny unfolds, or how the hero attempts to defy his preordained fate.“ Vgl. Clunies Ross 2000, S. 123: Erzähltechniken wie „flash-back and flash-forward [are] aesthetically satisfying […] for those who already know the basic narrative but enjoy hearing it again and again told from a new or striking point of view.“ 49 Eine „Mechanik des Untergangs“ (Heizmann 2016, S. 101) zeigt Wilhelm Heizmann auch für heroisches Erzählen außerhalb der Heldendichtung auf (vgl. Heizmann 2016, S. 108–114). Für die Isländersagas anhand der Gísla saga spricht er von einem „Sog tragischer Ereignisse“ (Heizmann 2016, S. 111). 50 „farið er, Sigurðr, þatz ec fyrir vissac, | scala fremr enn svá fregna Grípi.“ 51 „Nú fær mér ecca orð, þaztu mæltir, | þvíat þú fram um sér, fylkir, lengra; | veiztu ofmikit angr Sigurði, | því þú, Grípir, þat gerra segia.“ 52 Zudem ein spannungssteigerndes Mittel. Vgl. Harris 1971, S. 346: „Particularly in Grípisspá the hesitation and prompting seem to be designed to raise the anticipation of the audience.“ Vgl. Wolf 2009,  













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7. Untergang

Grípisspá ist nicht die Voraussage des Onkels allein, sondern ein Produkt zweier Figuren – Sigurd und Gripir –, die die Vision teilen.53 Letztlich bezeugt Sigurd am Ende der spá seine Schicksalsergebenheit: „Dem Schicksal entgeht man nicht […]. | Gern würdest du Bessres sagen | über mein Leben, wenn du’s könntest“ (Grp. 53).54 Die Figur nimmt das Vorhergesagte als Wahrheiten war, deren Gehalt sie selbst bezeugen kann. Der Wissenssucher Sigurd will auch später von Odin als Hnikar „Vorzeichen“ (Rm. 19)55 erfahren und Brynhild weissagt ihm bei ihrer Begegnung bei Heimir: „Ich werde die Schar der Heermannen mustern, aber du wirst Gudrun, Gjukis Tochter, heiraten“ (Vs 25).56 Doch Sigurd, obschon Hauptempfänger von Voraussagen in der Völsungensage, bleibt nicht der einzige, dem von Zukünftigem berichtet wird. Gudrun sieht das Übel voraus, das aus einer Ehe mit Atli erwächst: „Er wird Gunnar Schaden bringen | und aus Högni das Herz reißen“ (Gðr. II 31).57 „Es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher ist als sonst, und eine Frage frei hat an das Schicksal“ (Wallensteins Tod 2. Aufzug, 3. Auftritt),58 lässt Friedrich Schiller seinen Wallenstein sagen. Diese Idee trifft sicher auf die Protagonisten der Völsungensage zu und zwar vor allem im Moment ihres Sterbens. Die Figuren verfügen über Klarheit im Angesicht des Todes. Das heroische Vorwissen manifestiert sich dann am stärksten, wenn das Ende der jeweiligen Figur entweder kurz bevorsteht oder sie bereits im Sterben liegt. Sterbeszenen sind in der Völsungensage geprägt von Zukunftsschauen. Bevor Sigmund auf dem Schlachtfeld seinen Verwundungen erliegt, offenbart er seiner Frau die Zukunft des gemeinsamen Sohnes:  





Du gehst mit einem Kinde, pflege dessen wohl und sorgfältig, dieser Knabe wird der berühmteste und vortrefflichste von unserm Geschlechte werden. Verwahre ihm die Schwertstücke wohl, daraus kann ein gutes Schwert geschmiedet werden, das Gram heißen soll. Unser Sohn soll es tra-

S. 335: „Man erfährt, dass es sich um die Entfaltung eines unausweichlichen Geschehens handeln wird, wie die abschließende plakative Äußerung Sigurds bestätigt […]. Dass die Grípisspá sich vor allem an Leser und Hörer richten, kann man auch darauf schließen, dass der Sammler/Dichter einen Sigurd zeigt, der offenbar bereitwillig sehenden Auges ins Unheil rennen wird; keine Spur eines Versuches, dagegen anzugehen.“ Doch ist das nicht nur ein Dienst am Rezipienten, sondern vor allem die Art und Weise, wie das heroische Erzählen seine Protagonisten zeichnet. 53 Vgl. Harris 1971, S. 345: „Grípisspá is a dialogue. A prophecy does not generally occur in the form of a dialogue – and when it does, the prophecy itself would be expected to come from one person –, but in this poem Sigurðr, while urging the prophetic king onward in his revelations, actually aids the prophetic activity in some places by enlarging upon Grípir’s immediately preceding statement“. Vgl. Haimerl 1992, S. 90: „Die Dichtung ist nicht nur Prophezeiung, sondern zugleich Dialog gleichberechtigter Gesprächspartner.“ 54 „Munat scǫpom vinna | […]; | fliótt myndir þú fríðri segia | mína ævi, ef þú mættir þat.“ 55 „heill“. 56 „Ek man kanna lid hermanna, enn þu munt eigha Gudrunu Giukadottur.“ 57 „Hann mun Gunnar grandi beita | oc ór Hǫgna hiarta slíta.“ 58 Ich benutze die Ausgabe von Oellers 2010.  









7.1 Schicksal

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gen und damit manche Heldentat vollbringen, die nimmer wird vergessen werden, und sein Name wird im Gedächtnis fortleben, solange die Welt besteht (Vs 12).59

In Brynhild, einer anderen zukunftssichtigen Figur, findet der Sterbende eine Gewährsperson, die den Wahrheitsgehalt seiner Worte bestätigt: [Sigurds] Mutter ging auf die Walstatt, fand König Sigmund verwundet und erbot sich, seine Wunden zu verbinden; er aber sagte, er sei zu alt, um ferner zu streiten, und hieß sie sich damit trösten, daß sie den trefflichsten Sohn gebären würde, und die Vermutung eines Weisen erwies sich da als Prophezeiung (Vs 26).60

Brynhild selbst stirbt einen doppelten Tod, verwundet durch das Schwert und dann zusammen mit Sigurd auf dem Scheiterhaufen. Vor ihrem Ende spricht sie zu Gunnar vom weiteren Schicksal des Gjukungengeschlechtes, von der Versöhnung mit Gudrun bis zu den Ereignissen um Svanhilds Tod: „Jetzt will ich dir kurz sagen, wie es später kommen wird“ (Vs 32),61 eröffnet sie ihre Voraussage, die letztlich durch ihre verbleibende Lebenszeit beschränkt ist. Die Todeswunde hält sie davon ab, noch mehr zu weissagen: „Noch mehr würd ich melden, wäre ich nicht wund zum Tode […]. Doch wahr ist, was ich geredet“ (Vs 33).62 Identisch finden wir das im kurzen Sigurdlied. Die „Schwertverwundete“ (Sg. 48)63 sagt die Zukunft voraus: „Setz dich, Gunnar! Ich muss dir sagen, | […] | euer Schiff ist noch nicht im Sund“ (Sg. 53).64 Mit Sigurds Erschlagung haben die Probleme für das Geschlecht erst begonnen. Am Ende erliegt auch Brynhild der Wunde bevor sie ihre Weissagung vollenden kann: „Manches sagt ich, mehr spräch ich, | wenn mir das Schicksal mehr Zeit gäbe. | Die Stimme schwindet, die Wunden schwellen, | nur Wahres sprach ich, so werd ich sterben“ (Sg. 71).65 Ihre Sterbeworte entstammen einer Wahrheit, zu der sie als heroische Figur Zugang hat, wenn der Tod nah ist. Es ist der Augenblick des Sterbens, in dem eine Macht liegt und der Sterbende hat Teil daran. Sigurd verbirgt seine Identität vor dem sterbenden Fafnir, was damit begründet wird, „dass das Wort eines todgeweihten Mannes viel bewirken könne, wenn er seinen Feind mit dessen Namen verfluchte“ (Fm. Prosa

59 „Þu ferr med sveinnbarnn, ok fed þat vel ok vandliga, ok mun sa sveinn agętr ok fremztr af vorre ętt. Vardveit ok vel sverdsbrotinn. Þar af ma giora gott sverd, er heita mun Gramr ok sonr ockar mun bera ok þar maurg storverk med vinna, þau er alldri munu fyrnast, ok hans nafn mun uppi, medan verolldin stendr.“ 60 „Modir hans geck i valinn ok fann Sigmund konung saran ok baud at binda sar hans, enn hann kvedz of gamall siþan at beriazt, enn bad hana vid þat huggaz, at hun munde ęstan son ala, ok var þar spa spax geta.“ 61 „Nu man ek segia þer litla stund þat, er eptir mun ganga.“ 62 „Ok fleira munda ek męla, ef ek vera eigi sar […], ok sagde ek þo satt.“ 63 „hiǫrunduð“. 64 „Seztu niðr, Gunnarr! mun ec segia þér | […]; | muna yðvart far alt í sundi“. 65 „Mart sagða ec, mynda ec fleira, | er mér meirr miotuðr málrúm gæfi; | ómon þverr, undir svella, | satt eitt sagðac, svá mun ec láta.“

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7. Untergang

nach 1).66 Fafnir hat auf Grund seiner Natur als in den mythischen Raum hineinragender Gestaltwandler Zugang zu höherem und anderweltlichem Wissen. Er gibt Sigurd Auskunft über mytho- und kosmologische Zusammenhänge. Er ist ein wissendes Wesen. Die gefährliche Kraft jedoch seinen Töter zu verfluchen, besitzt Fafnir nicht als Drache. Er besitzt sie als Sterbender. Ebenso erfährt er im Moment des Todes heroische Erkenntnis: „Regin, mein Bruder riet mir den Tod, und das freut mich, daß er auch dir den Tod rät – so geschieht es dann, wie er wollte“ (Vs 18,67 vgl. Fm. 22). Als Brynhild zu Sigurd sagt, dass sie ihn am liebsten tot sähe, antwortet er mit heroischer Klarheit ob dem, was kommen wird: „nicht lange wird man zu warten brauchen, bis ein scharfes Schwert in meinem Herzen stehen wird, und du kannst dir nichts Schlimmeres wünschen; denn du wirst mich nicht überleben, und unsere Lebenstage werden von jetzt an hinfort zu zählen sein“ (Vs 31).68 Ihr Schicksal ist an das seine geknüpft. Durch seinen Tod setzt sie ihre eigene Vernichtung in Gang. Konfrontiert mit dem ausgeschnittenen Herzen seines Bruders und bevor er selbst in die Schlangengrube geworfen wird, sagt Gunnar seinem Peiniger Atli das Ende voraus: „Du aber, Atli, wirst dein Leben lassen, wie wir jetzt unser Leben lassen“ (Vs 39).69 Als Hamdir und Sörli ihrer Mutter die Rachefahrt zusagen, erkennen sie, dass sie in den Tod geschickt werden: „sitzen hier todgeweiht auf Pferden, fern sterben wir“ (Hm. 10),70 sagt Sörli. Hamdir sieht voraus, dass er nur tot zu Gudrun zurückkehren wird: „So kommt er zurück, die Mutter zu besuchen, | der Speer-Njörd, gefallen beim Gotenvolk, | dass du das Erbmahl für uns alle trinkst, | für Svanhild und deine Söhne“ (Ghv. 8).71 Der Tod kommt niemals als Überraschung zu den Helden, selbst wenn er im Verrat eintritt. Sie haben eine Ahnung ob des eigenen Untergangs. Diese Klarsicht konstituiert sie als überlegene Figuren, die das Schicksal zulassen und vor dem eigenen Ende nicht scheuen. Sie sind jene, die der Tod nicht schreckt.  







7.1.4 Träume Träume sind Teil des Handwerkszeuges der Völsungensage, das zu offenbaren, was noch geschehen wird. In moderner Sicht nehmen wir Träume als etwas Rückwärts-

66 „at orð feigs mannz mætti mikit, ef hann bǫlvaði óvin sínom með nafni.“ 67 „Reginn brodir minn velldr minum dauda, ok þat hlęgir mik, er hann velldr ok þinum dauda, ok ferr þa, sem hann villde.“ 68 „Skamt mun at bida, aþr biturt sverd man standa i minu hiarta, ok ecke muntu þer verra bidia, þviat þu munth eigi eptir mik lifa, munu ok fair vorir lifsdagar hedann i fra.“ 69 „Ok sva mantu, Atle, lata þitt lif, sem nu latum ver.“ 70 „er hér sitiom feigir á mǫrom, fiarri munom deyia.“ 71 „Svá komaz meirr aptr, móður at vitia, | geir-Niorðr, hniginn á Goðþióðo, | at þú erfi at ǫll oss dryccir, | at Svanhildi ac sono þína.“

7.1 Schicksal

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gewandtes wahr. In ihnen verarbeiten wir unterbewusst Dinge, die wir erlebt und gesehen haben. Der Traum der Heldensage ist das Gegenteil. Er ist nach vorne orientiert und berichtet von Dingen, die sich noch abspielen werden. Er ist ausschließlich ein Wahrtraum. Träume irren sich nicht im heroischen Erzählen.72 Sie sind ein probates Mittel der Voraussage und das Geträumte – wenn es auch symbolisch verzerrt geträumt wurde – tritt immer ein.73 Das Nibelungenlied beginnt seine Erzählung nach der Vorstellung des Wormser Hofes mit Kriemhilts unheilsschwangerem Traum von Sigurd als Falke, der von zwei Adlern, Gunther und Hagen, zerrissen wird, ihr sogenannter Falkentraum: „In solch einer herrlichen Umgebung […] träumte ihr, sie zöge einen starken, prächtigen und wilden Falken auf, den ihr zwei Adler zerfleischten. Daß sie das mitansehen mußte! Niemals hätte ihr auf dieser Welt etwas Schmerzlicheres geschehen können“ (Nl 13,1–4).74 Der Traum wird ihr von ihrer Mutter Uote gedeutet. Es handle sich um ihren zukünftigen Geliebten, den sie aber wieder verlieren solle (vgl. Nl 14,1–4). Damit ist die Handlung der ersten Hälfte des Epos eigentlich grob zusammengefasst. Kriemhilts Konsequenz ist, sich der Männerwelt zu entsagen, damit sie „niemals durch die Liebe zu einem Mann Leid erfahre“ (Nl 15,4).75 Indem die Handlung vorhererzählt wird, fragt sich der Rezipient nicht länger was geschehen wird – der Inhalt der Siegfriedsage dürfte dem zeitgenössischen Hörer eh bekannt gewesen sein –, sondern wie es geschieht. Die Frage bleibt offen, was das Epos tut, um Kriemhilt ihre Absage an die Liebe zurückziehen zu lassen. Der unheilvolle Traum setzt die Erzählung in ein anderes Licht. Ganz gleich, was geschieht, Rezipient wie auch Figuren sind sich des über Letzteren hängenden Unterganges bewusst. Die erste aventiure endet mit der Vorausschau auf den Untergang Siegfrieds und der Burgunden im Gegenzug: „Später jedoch wurde sie [Kriemhilt] in allen Ehren die Gemahlin eines tapferen Recken. Das war der Falke. In dem Traum, den ihre Mutter ihr deutete, hatte sie ihn gesehen. An ihren nächsten Verwandten, die ihn später erschlugen, nahm sie die blutigste Rache! Weil ein einziger ermordet wurde, starben unzählige andere“ (Nl 18,4–19,4).76 Was die Traumdeutung offengelassen hat, wird nun gänzlich vom Erzähler erschlossen. Be 









72 Vgl. Turville-Petre 1972, S. 32: „Heroes face death in exaltation, knowing that none can live a night after the sentence of the norns (or fates). The future, therefore, is not something unformed, but it is a state which exists already. The seer may be aware of it in a waking state, but many more can see it in dreams, and when they do so it is most often disguised as symbols.“ 73 Vgl. zur Traumwahrnehmung der mittelalterlichen Literatur Dinzelbacher 1981, S. 39–45. Vgl. ebenso Glendinning 1974, S. 11–37 zu Träumen in der Sagaliteratur und zur christlich-mittelalterlichen Traumtheorie. 74 „In disen hôhen êren troumte Kriemhilde, | wie si züge einen valken, starc schœne und wilde, | den ir zwêne arn erkrummen. daz si daz muoste sehen! | ir enkunde in dirre werlde leider nimmer geschehen.“ 75 „von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt.“ 76 „sît wart si mit êren ein vil küenen recken wîp. | Der was der selbe valke, den si in ir troume sach, | den ir beschiet ir muoter. wie sêre si daz rach | an ir næhsten mâgen, die in sluogen sint! | durch sîn eines sterben starp vil maneger muoter kint.“  





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7. Untergang

reits in der ersten aventiure wird die Handlung des kompletten Epos zusammengefasst. Der Falkentraum findet eine Entsprechung in der Völsunga saga in Gudruns Habichtstraum, in dem sie von Sigurd träumt, ohne ihm überhaupt begegnet zu sein. Zunächst wird das von Gudruns Dienerin als Produkt von Wetterempfindlichkeit abgetan: „ängstige dich nicht, denn stets hat man vor Stürmen Träume“ (Vs 26).77 Gudrun antwortet darauf: Dies bedeutet keinen Sturm. Mir träumte, daß ich einen schönen Habicht auf meiner Hand sah, seine Federn waren von goldiger Farbe. […] Kein Ding dünkte mich besser als dieser Habicht, und all mein Gut wollte ich lieber lassen als ihn. […] Das bekümmert mich, daß ich nicht weiß, wer er ist – wir wollen Brynhild besuchen, sie wird es wissen (Vs 26).78  

In Brynhild ist eine kompetentere Traumdeuterin gefunden. Sie hat ihrerseits bereits Gudruns Ankunft vorausgeträumt: „Das wird Gudrun sein, […] denn mir träumte von ihr diese Nacht“ (Vs 26).79 Die Episode spielt sich in einem Traummilieu ab, in dem die Träume der einen Figur Träume anderer Figuren nach sich ziehen. Gudrun berichtet dann von einem weiteren Traum: „Es träumte mir, […] wir […] sahen einen stattlichen Hirsch, der überragte weit andere Tiere; […] da erschossest du das Tier mir vor dem Schoß, und das war mir ein so großer Harm, daß ich ihn kaum zu ertragen vermochte“ (Vs 27).80 Die Deutung Brynhilds entspricht dem weiteren Handlungsverlauf der Saga: „Ich werde weissagen, wie es später gehen wird: zu euch wird Sigurd kommen, den ich mir zum Manne erkor; Grimhild gibt ihm truggemischten Met, der uns alle in großen Streit bringt. Du wirst ihn besitzen, aber schnell ihn verlieren“ (Vs 27).81 Es wird das vorerzählt, was von den Figuren später nachgespielt wird. In den Träumen Gudruns, wie auch im Falkentraum des Nibelungenliedes finden wir das Motiv des schönen, doch verwundbaren Tieres, das getötet wird.82 Gudruns Traum ist ein kummervoller Verlusttraum: „Ich hatte unglückliche Träume, darum ist mir Harm im Herzen“ (Vs 26),83 sagt sie zu ihrer Zofe. In der völsungischen Heldendichtung ist ein Traum in seiner Natur eine üble Sache. Was vorhergesehen wird, ist unweigerlich mit Unheil verbunden. Die den Figuren durch Träume gezeigten Wahrheiten erzeugen

77 „lat þik eigi hryggia, þviat iafnan dreymir fyrir vedrum.“ 78 „Þetta er ekki vedr. Þat dreymde mik, at ek sa einn fagran hauk mer a hende. Fiadrar hans voru med gullighum lith. […] Einge hlutir þotti mer haukinum bętri, ok allt mitt fe villda ek heldr lata ann hann. […] Þat angrar mik, at ek veit eigi, hverr hann er, ok skulum ver hitta Brynhilldi. Hun mun vita.“ 79 „Þar man vera Gudrun Giukadottir […]. Mik dreymde um hana i notth“. 80 „Þat dreymde mik, […] at ver […] sam einn mikinn hiort. Hann bar langht af audrum dyrum. […] Siþan skauztu dyrit fyrir kniam mer. Var mer þat sva mikill harmr, at ek matta trauth bera.“ 81 „Ek mun rada, sem eptir mun ganga. Til yckar mun koma Sigurdr, sa er ek kaus mer til mannz. Grimhilldr gefr honum meinblandinn miod, er ǫllum ok kemr i mikit strid. Hann mantu eigha ok hann skiott missa.“ 82 Siehe 4.1.5. 83 „Eigi fengum ver tima i draumum. Er þvi harma i hiarta mer.“

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7.1 Schicksal

Seelenqual. Gudrun erfährt „große Unruhe“ (Vs 26),84 wegen derer sie sich „nicht freuen“ (Vs 26)85 kann und „traurig“ (Vs 26)86 ist. Die Träume sind Symptom eines zukünftigen Missstandes, die als Störungsindikatoren das Wohlbefinden der Figuren kompromittieren. Brynhild hat eine doppelte Funktion. Sie ist die Traumdeuterin, später allerdings wird sie diejenige sein, die den Traum wahrmacht, indem sie Sigurds Tod herbeiführt. Sie ist sowohl Vorhersagende als auch Ausführende. Nach dem Eidbruch der Gjukungen weissagt sie dessen Konsequenzen in Form eines Traumes: „Das träumte mir, Gunnar, ich hätte ein kaltes Bett, und du rittest in die Gewalt deiner Feinde“ (Vs 32,87 vgl. Br. 16). Der Zustand des Bettes deutet auf Gunnars Fehlen hin, auf seinen Tod.88 Dies ist der einzige Traum der Völsungenerzählungen, der sich nicht exakt erfüllt. Zwar wird Gunnar sein Ende in der Gewalt der Feinde finden, doch wird Brynhild das nicht mehr erleben und Gunnar wird dann bereits eine andere Frau haben, die ihren Mann im Ehebett missen wird. Brynhilds kaltes Bett wird das des Todes sein. Nach der lieblosen Hochzeit mit Gudrun träumt Atli vom Untergang seines Geschlechts: „‚Mir träumte,‘ sprach er, ‚daß du [Gudrun] mich mit einem Schwerte durchbohrtest‘“ (Vs 35,89 vgl. Gðr. II 38). „Gudrun deutete den Traum dahin, es bedeute Feuer, wenn man von Eisen träume,90 ‚und den Wahn, daß du [Atli] dich trefflicher dünkst als alle‘“ (Vs 35)91 oder: „Feuer bedeutet’s, wenn man von Eisen träumt, | Eitelkeit und Übermut meint der Zorn der Frau; | ich werd dir eine Wunde ausbrennen, | dich pflegen und heilen, auch wenn’s mir leid ist“ (Gðr. II 39).92 Der Traum wird als unbedeutend abgetan und absichtlich falsch interpretiert.93 Obwohl das Kommende den Figuren der Erzählungen bekannt ist, wird doch bisweilen der Wahrheitsgehalt der Träume geleugnet. Die Störung des Idealzustandes wird hinausgezögert, indem der Traum als Instrument der Zukunftsschau verharmlost wird. Die Figuren gerieren sich in Traumepisoden als wäre es so, dass sie die Handlung eben nicht vorauswüssten. Auch die Voraussicht des Todes seiner Söhne bekommt Atli von Gudrun umgedeutet: „Dort werden Krieger das Opfer bereiten | und Weißlinge enthaupten; | […] die

84 „mikillar ahyggiu.“ 85 „eigi gledi bella“. 86 „se at uglede“. 87 „Þat dreymde mic, Gunnar, at ek atta kallda sęng, enn þu ridir i hendr uvinum þinum“. 88 Vgl. von See/La Farge 2009, S. 180 f. 89 „‚Þat dreymdi mik‘, segir hann, ‚at þu legdir a mer sverde.‘“ 90 Vgl. zu dieser Traumsymbolik Turville-Petre 1972, S. 47–48. 91 „Gudrun reid draumin ok kvad þat fyrir ellde, er iarn dreymde, ‚ok dul þeirri, er þu ętlar þik aullum fremra.‘“ 92 „Þat er fyr eldi, er iárn dreyma, | fyr dul oc vil drósar reiði; | mun ec þic við bǫlvi brenna ganga, | lícna oc læcna, þótt mér leiðr sér.“ 93 Vgl. Sprenger 1992, S. 42: „Guðrún soll ihm diese Träume deuten, was sie dann im Sinne der Verharmlosung tut.“ Zu Traum und Trauminterpretation in der Passage vgl. Sprenger 1992, S. 45–49.  









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7. Untergang

Gefolgschaft isst sie“ (Gðr. II 43).94 Die Völsunga saga verzichtet an dieser Stelle auf eine Verharmlosung des Wahrtraumes: „Deine Träume sind nicht gut, aber sie werden in Erfüllung gehen. Deine Söhne werden todgeweiht sein, und mancherlei Schweres wird uns zustoßen“ (Vs 35).95 Der Text lässt Gudrun nicht konkret werden und nicht zeigen, ob sie selbst eine Ahnung hat, inwiefern sie in den Tod der Söhne involviert sein wird. Ihre Deutung bleibt oberflächlich. Als sie vom kommenden Unheil spricht, referiert sie über sich und Atli als ‚uns‘. Sie nimmt sich selbst noch als Teil von Atlis Kollektiv wahr. Wie Brynhild was Gudruns Traum angeht, ist sie allerdings sowohl Deuterin als auch Ausführende von Atlis vorhergesagtem Schicksal. Der letzte Traum Atlis ist gänzlich unabstrakt: „Das träumte mir noch, […] ich läge im Bett und mein Tod wäre beschlossen“ (Vs 35).96 Seine Voraussichten sind die einzigen ‚männlichen‘ Träume im Völsungennexus. Ansonsten sind die nächtlichen Gesichte etwas, das allein der weiblichen Domäne97 entstammt und als Werkzeug der Warnung verwendet wird. Das Gegenteil davon ist die Vision des männlichen Helden, der Einsicht in das Schicksal im Moment seines Vergehens erfährt. Dies geschieht nicht in Form eines Traumes, sondern ist ein Ereignis wacher Klarheit. Der männliche Protagonist der Völsungensage träumt nicht. Diese Sonderstellung unterstreicht Atlis Negativzeichnung unter den Figuren der völsungischen Welt. Seine Träume sind Marker für die fehlende Idealität seiner Ehe.98 Träume als Warnungen finden wir gehäuft vor dem Aufbruch der Gjukungen in deren Untergang. Sowohl Gunnar als auch Högni erhalten von ihren Ehefrauen Vorzeichen in Form von Träumen, die sie von ihrem Auszug abhalten und somit dem Verrat durch Atli entgehen lassen sollen. Doch es hilft nichts. Beide Helden sind an ihr tödliches fatum gebunden. Die Träume werden von ihnen als unbedeutend abgetan, obwohl die Gjukungen auf Grund des Wissens um ihr zukünftiges Schicksal sehr wohl von deren Wahrheitsgehalt überzeugt sein sollten. Högnis Frau Kostbera träumt von der Zerstörung der gjukungischen Halle, dem Machtsymbol der Sippe,99 durch Fluten, Feuer, einen Bären und letztlich durch einen Adler, der in Wahrheit Atli ist (vgl. Vs 38, vgl. Am. 14–20). Konkreter geht es nicht. All diese Träume werden von ihrem Mann als Wetter-, Landwirtschafts- und Haushaltsphänomene gedeutet und somit absichtlich fehlinterpretiert. Mittendrin resigniert Kostbera: „Ihr werdet es ja erfahren; aber

94 „Þar muno seggir um sœing dœma | oc hvítinga hǫfði næma; | […] dróttom bergia.“ 95 „Eigi eru draumar godir, enn eptir munu ganga. Synir þimir munu vera feigir, ok margir lutir þungir munu oss at hendi koma.“ 96 „Þat dreymdi mik enn […] at ek lęgi i kaur, ok veri radin banne minn.“ 97 Vgl. Groß 2016, S. 172: „dream episodes are often used to demonstrate that women are able to perceive knowledge hidden from men.“ Vgl. weiterhin zur Magie- und Traumaffinität von weiblichen Figuren Groß 2016, S. 187. 98 Allerdings finden sich in anderen Texten der mittelalterlichen isländischen Literatur auch positive männliche Wahrträumer, so etwa der Gísli der Gísla saga (vgl. Gísl 21, 23 u. ö.). 99 Siehe 5.1.5.  



7.1 Schicksal

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Freundschaft wird bei dieser Einladung nicht sein“ (Vs 36).100 Zeitgleich berichtet Gunnars Frau Glaumvör ihrem Gatten von ihren „vielen Träume[n], die ihr auf Verrat zu deuten schienen – aber Gunnar deutete sie alle im entgegengesetzten Sinne“ (Vs 37,101 vgl. Am. 22–28). Gunnar fährt dieselbe Strategie wie sein Bruder, wobei er letztlich einräumt:102 „Schwierig ist diese Deutung, man kann seinem Schicksal nicht entgehen; es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich nicht lange mehr leben werde“ (Vs 37)103 oder: „Zu spät ist’s zu sagen, da’s nun beschlossen ist; | wir entgehn der Fahrt nicht, die doch entschieden wurde. | Vieles deutet darauf, dass wir früh sterben werden“ (Am. 29 [27]).104 Die Fehldeutung der Träume durch die Männer geschieht nicht durch Unwissenheit, sondern ist ein intentionierter Akt der Todesbejahung.105 Sie schlagen alle Warnungen in den Wind.106 Das Nibelungenlied lässt Hagen in der entsprechenden Situation ein kongruentes Handlungsmuster annehmen: Obwohl es keinen größeren Warner vor den Gefahren der Hunneneinladung gibt als ihn selbst, verfährt er mit Uotes Traum (vgl. Nl 1509,1–4), der die Auslöschung des Verbandes vorhersagt, in ähnlicher Manier. Er stellt Traumhörigkeit als hinderlich für den Ehrgewinn dar: „‚Wer etwas auf Träume gibt‘, sagte da Hagen, ‚der weiß nicht recht zu sagen, wann etwas seiner Ehre wirklich ganz angemessen ist‘“ (Nl 1510,1–3).107 Wer die Warnungen erhört, wenngleich er auch um ihre Wahrheit weiß, der verrät seine Hel 



100 „Þer munut reyna, enn eigi mun vinnatta fylgia bodinu.“ 101 „drauma sina margha, þa er henne þottu likligir til svika, enn Gunnar red alla þvi a mothe.“ 102 Vgl. von See/La Farge et al. 2012, S. 489: „In seiner letzten Replik auf Glaumvörs Traumberichte räumt Gunnar implizit ein, daß auch er ihre Träume als Hinweis auf seinen und Högnis Tod versteht“. 103 „Vannt giorizt nu at rada, ok ma ecke fordazt sitt alldrlagh, enn eigi ulikt, at ver verdum skammęir.“ 104 „Seinat er at segia, svá er nú ráðit; | forðomca for þó, allz þó er fara ætlað; | mart er mioc glíclict, at munim scammæir.“ 105 Anders allerdings deutet Edgar Haimerl die Zusage des Gunnars der Atlamál, nämlich als „Ausdruck mangelnder Einschätzung der Situation“ (Haimerl 1992, S. 216). Dass die Figur Gunnars ahnungslos in den Tod geht, lese ich aus dem Text nicht. 106 Vgl. Groß 2016, S. 186 f.: „the fact that men do not follow well-meaning female advice or warnings might be because they choose to resign to destiny, for as they are male heroes in a fatalistic saga, they are obliged to do so. If dreams forebode death or other catatrophes, it is fate and cannot be changed, and the saga characters’ fatalism would usually not allow them to try. If dreams do not show the outcome but only contain warnings of dangers, the men could try to avoid it, but this would be a cowardly and unheroic decision for a saga hero who proves his heroism by facing dangers and dying in combat.“ Franziska Groß argumentiert für die Isländersagas. Ihr Schluss kann allerdings ohne Weiteres auf das heroische Erzählen im Allgemeinen angewendet werden. Sie listet ferner eine narrative Funktion der Traumvorhersagen auf: „one additional reason why men do not listen to women can be found in the saga narrative itself: as disregarded warnings are used to create an ominous atmosphere, acting on them would destroy this effect. […] On the contrary, the recipients are forced to watch the characters heading towards disaster without being able to intervene“ (Groß 2016, S. 187). Die Wahrträume des heroischen Erzählens sind Teil einer spannungssteigernden Strategie und kommunizieren die untergangsorientierte Atmosphäre des Textes. 107 „‚swer sich an troume wendet‘, sprach dô Hagene, | ‚der enweiz der rehten mære niht ze sagene, | wenne ez im ze êren volleclîchen stê.‘“  









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7. Untergang

dennatur. Seinem Verderben nicht auszuweichen gebietet das heroische Selbstverständnis.

7.1.5 Der Auszug der Gjukungen Neben den Träumen der Ehefrauen erfolgt eine Reihe von Vorzeichen und Warnungen, die allesamt vom Gjukungenzug zu Atli abraten, allerdings konsequent vom gjukungischen Brüderpaar ignoriert werden. Von Gudruns Maßnahme, als sie vom geplanten Verrat erfährt, heißt es: „da ritzte Gudrun Runen, nahm einen Goldring, knüpfte Wolfshaar darein und gab das so den Sendboten des Königs in die Hände“ (Vs 35).108 Diese von ihr geritzten Runen werden aber vom Boten Atlis verälscht: Es „besah Vingi die Runen und änderte sie so, daß Gudrun in den Runen zuredete sie möchten zu Atli kommen“ (Vs 35).109 Es ist aber nicht dieses Täuschungsmanöver Vingis, das letztlich den Gjukungenauszug bedingt. Es wird schnell durchschaut: Kostbera begann die Runen zu untersuchen, sagte sie vor sich her und sah, daß anderes darauf geritzt war, als dahinter steckte – doch gelang es ihr bei ihrer Klugheit, sie zu verstehen. […] Als sie erwachten, sprach sie zu ihrem Gatten: ‚Von Hause willst du fort, aber es ist unrätlich – reise lieber ein andermal. Du verstehst die Runen nicht recht, wenn du wähnst, sie, deine Schwester, habe dich diesmal eingeladen. Ich riet die Runen – es sollte mich wundern, wenn eine so kluge Frau sie so verworren geritzt haben sollte: es stand zuerst da, daß euer Leben gefährdet wäre (Vs 35,110 vgl. Am. 9–12).  







Die Texte führen vor, dass die Täuschungen des Boten Vingi fehlschlagen und doch werden die Gjukungen letztlich zu ihrem Zug bewegt, da das Schicksal es ihnen gebietet. Im völligen Bewusstsein ob der wahren Natur von Atlis Einladung gibt Högni vor, von Atlis gutem Willen überzeugt zu sein: „er wird uns freundlich empfangen. […] Atlis Gesinnung wird wohlwollend gegen uns sein“ (Vs 36).111 Er sei Atli gegenüber frei von Misstrauen: „Ihr Frauen seid oft mißtrauisch. Ich aber habe nicht die Sinnesart danach einem Manne mit Arg zu begegnen, es sei denn, daß er es ver-

108 „Gudrun ristr runar, ok hun tekr einn gullhringh ok knyte i vargshar ok fer þetta i hendr sendimonnum konungs.“ 109 „sa Vingi runarnar ok sneri a adra leid ok, at Gudrun fyste i runum, at þeir kvęme a hans fund.“ 110 „Tekr Kostbera at lita a runarnar ok innte stafina ok sa, at annat var a ristid, enn undir var, ok villtar voru runarnar. Hun feck þo skilit af vizku sinne. […] Ok er þau vauknuþu, męllti hun til Haugna: ‚Heiman ętlar þu, ok er þat uradligt. Far helldr i annat sinn. Ok eigi mantu vera glaugryn, ef þer þickir, sem hun hafi i þetta sinn bodit þer systir þin. Ek red runarnar, ok undrumz ek um sva vitra konu, er hun hefir villt ristid. Enn sva er undir, sem bane yþar ligi a“. 111 „Mun hann oss vel fagna. […] mun heill hugr Atla vid oss.“

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7.1 Schicksal

dient habe“ (Vs 36)112 beziehungsweise: „Alle sind misstrauisch, das ist nicht meine Art“ (Am. 13).113 Der Text lässt die Figur dies sagen, obwohl Högni selbst die erste Stimme der Warnung war. Da die Einladung Atlis übermittelt wurde, sprach er zuerst sein Misstrauen aus: „Ich wundere mich über seine Einladung, denn das hat er noch nie getan – unrätlich dünkt es mich, zu ihm zu reisen“ (Vs 35).114 Auch ist er dazu fähig, das Zeichen des Ringes mit dem Wolfshaar korrekt zu deuten: „Auch darüber habe ich mich gewundert, daß ich, als ich die Kleinode besah, die König Atli uns geschickt hat, ein Wolfshaar in einen Goldring geknüpft fand; vielleicht dünkt Gudrun, er sei wölfisch gegen uns gesinnt, und sie will nicht, daß wir hinreisen“ (Vs 35,115 vgl. Akv. 8). Die Mentalität des Helden ändert sich, sobald sein Schicksal beschlossen ist. Dann ist für Misstrauen kein Platz mehr, sondern nur noch für automatenhafte Untergangsbejahung. Die Helden nehmen die Gefahr zum Schein nicht ernst. Als Warner lassen die Atlamál vor allem die Frauen hervortreten, die in Form von Träumen und der Entzifferung der echten Runen zur Vorsicht gemahnen (vgl. Am. 9–12, 14–28). Ihre Männer erfüllen den heroischen Topos, die Warnungen in den Wind zu schlagen und trotzdem der tödlichen Gefahr entgegenzuziehen. In der Atlakviða ist Högni allein die Stimme der Vernunft (vgl. Akv. 8). Die Völsunga saga kombiniert diese beiden Traditionen, indem sie den zunächst misstrauischen Högni im vollen Bewusstsein der Gefahr alle Vorzeichen und Warnungen seiner Frau abtun lässt, um seine Schicksalsergebenheit noch weiter zu betonen. Durch die Amalgamierung der beiden Liedinhalte wird die Idee verstärkt, der Held werde seiner Natur gerecht, indem er sehenden Auges in den Tod geht. Das Produkt sind Figuren, die um ihren Untergang wissen, es aber nicht zugeben. Sie stellen sich dumm gegenüber den unheilvollen Träumen ihrer Frauen. Dass das Kommen der Gjukungen ein unabwendbarer Schicksalsakt war, bezeugt letztlich Gudrun: „Ich glaubte dem vorgebeugt zu haben, daß ihr kämet – aber niemand vermag dem Geschick zu widerstehen“ (Vs 38).116 Die Helden wussten um die Gefahr, doch haben sie beschlossen ihr eigenes Wissen zu ignorieren. Zeit für Vorsicht und Überlegungen war ausschließlich bevor ihr Auszug beschlossen war. Sobald der Einladung zugestimmt wurde, gehen die Figuren in ihrer Heldennatur auf und eilen der eigenen Auslöschung mit Macht entgegen.117 Das  







112 „Þer erut opt illudagar, ok a ek ecki skap til þess at fara illu i mot vid menn, nema þat se makligt.“ 113 „Allar ro illúðgar […], áca ec þess kynni“. 114 „Undrumzt ek bod hans, þviat þat hefir hann sialldan giort, ok uradligt man vera at fara a hans fund“. 115 „ok þat undrumzt ek, er ek sa giorsimar þer, er Atli konungr sendi ockr, at ek sa vargshare knyt i einn gullhring, ok ma vera, at Gudrunu þicki hann ulfshug vid ockr hafa, ok vili hun eigi, at vid farim.“ 116 „Ek þottumzt rad hafa vid sett, at eigi kęme þer. Enn einge ma vid skaupum vinna.“ 117 Vgl. Müller 1998, S. 187 für den Burgundenauszug im Nibelungenlied: „Der Burgondenuntergang erscheint als Selbstvergewisserung heroischer Identität. Die Akteure werden (wieder) ‚sie selbst‘. In Hagens Entschluß, ohne Rücksicht auf die Gefahr für sich und andere, die Könige zu Etzel zu begleiten, klingt das an: […] Das Unternehmen dient dem Selbstbeweis.“  

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7. Untergang

Schicksal wird durch die Helden zelebriert und letztlich durch ihr gewaltiges und zerstörerisches Auftreten beschleunigt. Im Moment ihrer Ausfahrt ist von einer friedlichen Reise zu Atli keine Rede mehr. Sie wird ganz klar als Kriegszug mit ungewissem Ausgang inszeniert: Am Morgen sprangen sie auf und wollten reisen, aber die andern rieten ihnen ab. Da sprach Gunnar zu dem Manne, der Fjörnir hieß: ‚Steh auf und gib uns zu trinken aus großen Kannen guten Wein, denn vielleicht ist dies unser letztes Gelage: jetzt wird der alte Wolf das Gold in Besitz nehmen, wenn wir sterben, und der Bär wird gleichfalls nicht ermangeln, mit seinen Kampfzähnen zu beißen‘ (Vs 37,118 vgl. Akv. 11).  

Atlis üble Absicht wird nun öffentlich gemacht. Es besteht kein Zweifel mehr über das Bewusstsein der Gjukungen um Atlis Verrat und ihre kommende Vernichtung. Die Bejahung des eigenen tödlichen Schicksals wird hier im überschwänglichen Aufspringen genauso sichtbar wie zunächst die Ablehnung im Kopfschütteln Gunnars („Da schüttelte Gunnar das Haupt“, Vs 35).119 Es gilt abermals: hat sich der Held einmal für den eigenen Tod entschieden, dafür entschieden, in seinem ihm durch die Gattung der Heldensage zugedachten fatum aufzugehen, kennt er kein Halten mehr: „Der Rest des Volkes folgte ihnen zu den Schiffen, und alle redeten von der Fahrt ab – aber das nützte nichts“ (Vs 37).120 In der Art ihres Reisens manifestiert sich das heroische Wüten der Gjukungen. Es ist ein Akt ihres heldischen furors. Die Begegnung mit dem Schicksal kann nun nicht mehr schnell genug kommen. Die Helden handeln zerstörerisch und ihre Reiseausstattung wird demontiert, da eine Rückreise eh nicht länger vorgesehen ist. Es ist eine Fahrt in den Tod: „Sie ruderten gewaltig und mit so großer Kraft, daß beinahe der halbe Kiel unten vom Schiffe los ging; sie warfen sich in die Ruder weit ausholend mit solcher Wucht, daß die Handgriffe der Ruderpflöcke zerbrachen. Und als sie ans Land kamen, befestigten sie ihr Schiff nicht“ (Vs 37,121 vgl. Am. 37). Sie fahren „wütend“ (Am. 37 [35]).122 Die Atlakviða zeichnet dasselbe Bild. Im todesverachtenden Sterben treiben die Helden machtvoll ihre Pferde an, um noch schneller an ihr eigenes Ende zu kommen: „Schnell ließen die Kühnen die gezäumten Pferde | über die Felsen laufen, durch den unbekannten Myrkwid. | Das ganze Hun 



118 „Ok um morginninn spretta þeir upp ok vilia fara, enn adrir lauttu. Siþan męllti Gunnar vid þann mann, er Fiornir het: ‚Statt upp ok gef oss at dręcka af storum kerum gotth vin, þviat vera ma, at sea se var enn sidarsta veizla, ok nu mun enn gamle ulfrinn komazt at gullinu, ef ver deyium, ok sva biorninn mun eigi spara at bita sinum vigtaunnum.‘“ 119 „Þa bra Gunnar haufde“. 120 „Folkit fylgdi þeim til skipa, ok lauttu allir þa fararinnar, enn ecki tioade.“ 121 „Siþan reru þeir sva fast ok af miklu afle, at kiolrinn geck undan skipinu miogh sva halfr. Þeir knudu fast arar med storum bakfaullum, sva at brotnudu hlumir ok hair. Ok er þeir komu at landi, festu þeir ecke skip sin.“ 122 „reiðir“.

7.1 Schicksal

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nenland bebte, wo die hart Gesinnten ritten, | sie trieben die Peitschenscheuen über die grünen Felder“ (Akv. 13).123 Bei ihrer Ankunft ist eine freundliche Begegnung mit Atli von beiden Seiten aus nicht mehr denkbar. Die Gjukungen sind bereits vollständig in den heroischen Zerstörungsmodus übergegangen. Sie brechen das Tor zu Atlis Burg auf und erschlagen Vingi, der Atlis Einladung überbracht hat (vgl. Vs 37, vgl. Am. 38–41). Vor seinen Pforten erteilen sie damit Atli die heroische Absage an seine Einladung. Die Erzählungen verdeutlichen, dass es das Wirken des Schicksals ist, das die Gjukungen auf den Weg in ihren Untergang gebracht hat. Die Völsunga saga begründet im Gegensatz zur Atlakviða, da Gunnar seinen Auszug in königlicher Heldenmanier beschließt (vgl. Akv. 9), seinen Entschluss mit Betrunkenheit, Machtgier und der Unausweichlichkeit seines fatums: „Gunnar war sehr trunken, andrerseits wurde ihm eine große Herrschaft geboten – auch konnte er sich nicht dem Schicksal entziehen: darum verhieß er die Fahrt“ (Vs 35).124 Als sie dann losziehen, fügt sich alles so, wie es vorherbestimmt ist: „Damit schieden sie, wie es das Schicksal bestimmt hatte“ (Vs 37).125 In den Atlamál tritt an der respektiven Stelle der Erzähler selbst hervor126 und gibt über den Einfluss des Schicksals Auskunft: „Sie sahen sich noch an, eh man sich trennte; | da, glaub ich, entschied sich das Schicksal, trennten sich ihre Wege“ (Am. 36 [34]).127 Högnis Abschiedsworte sind geprägt von der Schicksalsergebenheit des Protagonisten der Heldensage: „Tröstet euch, ihr Klugen, wie’s auch immer komme! | Viele wünschen’s, trotzdem irren sie gewaltig, | vielen nutzt’s wenig, wie man von zu Haus geleitet wird“ (Am. 35 [33]).128 ‚Es bringt nichts. Die guten Wünsche werden nichts ändern, denn wir sind verdammt.‘  







7.1.6 Schicksalsergebenheit Durch den Wechsel von der Ob- zur Wie-Spannung wird nicht nur etwas weggenommen, nämlich die Unwissenheit des Rezipienten um den weiteren Handlungsverlauf, sondern auch ein atmosphärischer Gewinn erzielt. Das Bewusstsein der Figuren um ihr unausweichliches Ende erschafft einen von Fatalismus geprägten Helden-

123 „Fetom léto frœcnir um fioll at þyria | marina mélgreypo, Myrcvið inn ókunna; | hristiz ǫll Húnmǫrc, þar er harðmóðgir fóro, | ráco þeir vannstyggva vǫllo algrœna.“ 124 „Nu var będi at Gunar var miok druckinn, enn bodit mikit riki, matti ok eigi vid skaupum vinna, heitr nu ferdinne“. 125 „Þar skiliazt þau med sinum forlaughum.“ 126 Wilhelm Grimm fällt das als beispiellos für die eddische Heldendichtung auf (vgl. Grimm 1957, S. 11). 127 „Sásc til síðan, áðr í sundr hyrfi; | þá hygg ec scǫp scipto, scilðuz vegir þeira.“ 128 „Huggizc iþ, horscar, hvégi er þat gorviz! | mæla þat margir, missir þó stórom, | mǫrgom ræðr litlo, hvé verðr leiddr heiman.“  

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7. Untergang

typen.129 Da ihr Ende eh unabwendbar ist, treten die Helden der völsungischen Welt ihrem Untergang todesverachtend und schicksalsergeben gegenüber. Sigmund kommentiert mit ergebenem Gleichmut,130 dass – nachdem Odin sein Schwert hat zerbrechen lassen – nun wohl sein Heil geschwunden ist: „von mir aber hat sich das Glück gewandt […]. Odin will nicht, daß ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach; ich habe Schlachten geschlagen, so lange es ihm gefiel“ (Vs 12).131 Als Brynhild von Sigurd gefragt wird, wie es ihr denn gehe, antwortet sie: „Gut geht es mir – Gesippen und Freunde leben. Aber es ist ungewiß, welches Schicksal die Menschen haben bis zu ihrem Todestage“ (Vs 25).132 Sie stellt sich als dem Schicksal völlig ausgeliefert dar. Auch wenn es ihr gerade gut geht, kann man nie sicher sein, was kommt. Der Held ist sich bewusst, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen kann. Nach der Runenlehre äußert die Walküre eine Warnung gegenüber dem unterwiesenen Sigurd: „Nun musst du wählen, | […] über Sprechen oder Schweigen hast du selbst zu entscheiden! | Alles Unheil ist vorbestimmt“ (Sd. 20, vgl. Vs 21). Er entscheidet: „Ich werd nicht weichen, auch wenn ich todgeweiht wär, | ich bin nicht furchtsam geboren“ (Sd. 21,133 vgl. Vs 21). Das Wissen um die Zukunft wird gleichgesetzt mit den Gefahren der Zukunft selbst. Nicht vor dem Vorwissen um das, was noch kommen wird, zu weichen, bedeutet auch die Gefahr nicht zu scheuen. Wie bei Gripir will Sigurd immer mehr über sein zukünftiges Geschick wissen. Er stellt sich den Gefahren der Weissagung. Der todwunde Fafnir sagt dem Völsungen ebenso seine Zukunft voraus. Sigurd sei todgeweiht und er könne diesem Geschick nicht entgehen: „Der Nornen Spruch wirst du vorm Vorgebirge haben | und das Schicksal eines törichten Narren; | im Wasser ertrinkst du, auch wenn du im Wind ruderst: | Alles ist dem Todgeweihten Gefahr“134 (Fm. 11).135 Weiter warnt der Drache vor den Gefahren des fluchbeladenen Schatzhortes: „dieser Hort, den ich gehabt habe, bringt dich zur Hel“ (Vs 18).136 In den Fáfnismál ist das klar ein Ratschlag des Sterbenden:137 „Ich rat dir, Sigurd, nimm die 





129 Für von See sind die vielen Hinweise auf das drohende Schicksal Zeichen der völsungischen Überlebensfähigkeit: „Die vielen Tode und Untergänge im Völsungengeschlecht werden ihm [dem Verfasser der Saga] zum Beweis dafür, daß das Geschlecht eine unverwüstliche Überlebensfähigkeit besaß und der Gefahr des Aussterbens immer wieder zu trotzen vermochte. Eingebettet hat der Sagaverfasser diese Idee in die leitmotivisch sich wiederholenden Hinweise auf eine schicksalhafte Todesverfallenheit aller Menschen“ (von See 1999 [1994], S. 400 f.). 130 Carolyne Larrington spricht von der „mulish determination“ (Larrington 2016, S. 153) der Helden. 131 „enn horfinn eru mer heill […]. Vill Oþinn ecki, at ver bregdum sverdi, siþan er nu brotnadi. Hefi ek haft orostur, medan honum likadi.“ 132 „Vel meghu ver, frendr lifa ok vinir, enn hattungh er i, hveria giptu menn bera til sins endadags.“ 133 „Munca ec flœia, þótt mic feigan vitir, | emca ec með bleyði borinn.“ 134 Zu den Deutungsmöglichkeiten der Strophe vgl. von See/La Farge et al. 2006, S. 426–428. 135 „Norna dóm þú munt fyr nesiom hafa | oc ósvinnz apa; | í vatni þú drucnar, ef í vindi rœr: | alt er feigs forað.“ 136 „gull þetta mun þer at bana verda, er ek hefe att.“ 137 Vgl. McConnell 1999, S. 178: „Die Rolle Fáfnirs in der Vǫlsungasaga (und auch im [sic] Fáfnismál) hat eigentlich herzlich wenig mit dem von ihm selbst beschriebenen Terror zu tun […], sondern viel mehr  









7.1 Schicksal

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sen Rat an | und reite von hier heim! | Das klingende Gold und der glutrote Schatz, | dich werden diese Ringe töten“ (Fm. 20).138 Sigurd hört diese Ratschläge, doch er schlägt sie allesamt aus und entscheidet sich dafür, den Hort an sich zu nehmen: „Rat ist von dir gegeben, doch ich werd zum Gold reiten“ (Fm. 21),139 sagt er zum Drachen. Weiterhin spricht er: „Jeder will seines Reichtums raten bis zu seinem Todestage, und einmal muß jeder sterben“ (Vs 18)140 und identisch in den Fáfnismál: „Über einen Schatz verfügen will jeder Mensch | stets bis zu dem einen Tag. | Denn einmal muss jeder Mensch | von hier zur Hel gehen“ (Fm. 10).141 Die Völsunga saga fasst zusammen: ‚Ich [Sigurd] werde nach deiner Behausung reiten und dort den reichen Hort holen, den deine Gesippen besessen haben.‘ Fafnir entgegnete: ‚Du wirst dahin reiten, wo du viel Gold findest, daß es für dein Leben ausreicht – aber der Hort bringt dich zur Hel und jeden andern, dem er gehört.‘ Sigurd stand auf und sagte: ‚Heim würde ich reiten, und sollte ich auch dieses Goldes missen, wenn ich wüsste, daß ich niemals zu sterben brauchte – doch jeder kühne Mann will schalten mit dem Schatz bis zu dem einen Tage‘ (Vs 18).142  



Die Figur argumentiert mit dem Lebensrahmen, der ihr selbst vom Schicksal zugeteilt ist. Wäre Sigurd ein langes oder ewiges Leben gegeben, dann ließe er den verfluchten Schatz in Ruhe. So ist es aber nicht. Der Held entscheidet sich für das kurze, aber reiche Leben. Damit richtet er sich nicht nur nach seinem Schicksal, sondern hilft auch dabei, es zu erfüllen. Doch in all seinem Fatalismus erlangt er Kontrolle über seine Lebens- und Todesumstände zurück, indem er sie selbst modelliert. Stirbt er eh, dann tut er es auf seine Weise.143

mit seiner Funktion als archetypischem Ratgeber, dessen Rat und Weisheit vom Helden wohl erkannt, aber nicht befolgt werden. Der sterbende Fáfnir ist mit der Wahrheit identifizierbar; sie wird von Sigurd zwar nicht verneint, ändert jedoch nichts an seinem vorgefaßten Entschluß, der vom Moment des Heroischen, nicht Weisen, bestimmt wird.“ 138 „Ræð ec þér nú, Sigurðr, enn þú ráð nemir | oc ríð heim heðan! | it gialla gull oc it glóðrauða fé, | þér verða þeir baugar at bana.“ 139 „Ráð er þér ráðit, enn ec ríða mun til þess gullz“. 140 „Hverr vill fe hafa allt til enns eina daghs, enn eitt sinn skal hverr deygia.“ 141 „Fé ráða scal fyrða hverr | æ til ins eina dags, | þvíat eino sinni scal alda hverr | fara til heliar heðan.“ 142 „‚Ek mun rida til þins bols ok taka þar þat ed mikla gull, er frendr þinir hafa att.‘ Fafnir svarar: ‚Rida muntu þar til, er þu finnr sva mikit gull, at orit er um þina dagha. Ok þat sama gull verdr þin bane ok hvers annars, er þat a.‘ Sigurdr stod upp ok męllti: ‚Heim munnda ek rida, þott ek mista þessa enns mikla fiar, ef ek vissa, at ek skyllda alldri deyia. Enn hverr frękn madr vill fe rada allt til ins eina dags.‘“ 143 Anders dagegen Haimerl, der die Stelle als ein Indiz für Sigurds Gier und mangelnde Klugheit interpretiert: „[Der zuvor gezeigten Klugheit Sigurds] steht Sigurds Uneinsichtigkeit gegenüber: Ganz im Glauben an Tapferkeit und Körperkraft befangen, vermutet er hinter Fafnirs gut gemeinten Ratschlägen nur feindliches Ansinnen und versteht es nicht, sich die Einsicht des Sterbenden zunutze zu machen“ (Haimerl 1993, S. 92). Meiner Deutung der Heldennatur nach allerdings ist Sigurd nicht als Figur inszeniert, die sich denkt ‚ich bin stark, es wird schon gut gehen‘ (siehe auch 7.2.2), sondern den Schatz im vollen Bewusstsein, was geschehen wird, an sich nimmt. Ohnehin ‚denkt‘ der Protagonist der Heldensage nicht, da er nur eine Figur ist, sondern es geht um die Intention bei seiner literarischen Konstruktion.  

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7. Untergang

Noch aber ist es nicht so weit. Sigurd macht Regin den Garaus, bevor dieser selbst sich an ihm vergreifen kann. Mit seiner Aussage dazu bezeugt Sigurd, dass es wohl doch einen gewissen Spielraum gibt, innerhalb dessen man sein eigenes Ende verzögern kann: „Das Schicksal ist nicht so stark, dass Reginn | meinen Tod bringen sollte“ (Fm. 39)144 sowie: „Das Unheil soll nicht eintreten, daß Regin mir das Leben raubt“ (Vs 20).145 Zu einem Grad kann das Schicksal hier modifiziert werden. Doch schließlich erfüllt sich sein Schicksal durch die Hand des von den Schwurbrüdern angestachelten Gutthorm. Sigurds Sterbeworte nach seiner Ermordung sind der Unausweichlichkeit des eigenen fatums gewidmet. Sie sind eine in der völsungischen Heldendichtung seltene Offenbarung der inneren Hoffnungs- und Überzeugungswelt einer Figur: „Jetzt ist das in Erfüllung gegangen, was vor langem geweissagt worden war, und wir haben nicht daran glauben wollen – aber keiner kann sich dem Geschick entziehen“ (Vs 32).146 Auch für andere war sein Tod vorgezeichnet. Högni sagt dazu: „Nun ist das in Erfüllung gegangen, was Brynhild weissagte“ (Vs 32).147  

7.2 Heldentod 7.2.1 Liebe zum Tod Der Mythenforscher Joseph Campbell sagt in seinem mythopoetisch-psychologischen Standardwerk ‚The hero with a thousand faces‘: „unnötig zu sagen, daß der Held keiner wäre, wenn der Tod für ihn irgendeinen Schrecken hätte, die erste Bedingung ist Versöhnung mit dem Grab.“148 Im letzten Moment seines Lebens hätte der Held seinen Frieden mit der Existenz gemacht. Er hätte so ganzheitlich und so voll und erfüllend gelebt, dass er spirituelle Einheit nicht nur mit dem Leben, sondern auch mit dem Tod gefunden hätte, weswegen er ohne Hadern letztlich aus dem Sein scheiden könnte. Ganz gleich, welchen Heldenbildes wir uns bedienen, es fällt uns nicht schwer, das Sterben des Helden mit ihm in Verbindung zu bringen. Die Bereitschaft zu sterben erscheint uns als Signal der ultimativen Motivation. Der Tod der Figuren ist Merkmal der Heldendichtung. Otto Höfler attestiert den Protagonisten der Heldensage eine „Liebe zum Tod“.149 Im Gegenzug zum höfischen Roman, der ein

144 „Verðra svá ríc scǫp, at Reginn scyli | mitt banorð bera“. 145 „Eigi munu þau uskaup, at Reginn se minn bane“. 146 „nu er þat fram komit, er fyrir launghu var spad, ok ver hǫfum dulizt vid, enn eingi ma vid skaupum vinna.“ 147 „Nu er fram komit þat, er Brynhilldr spade“. 148 Campbell 2011, S. 376. 149 Höfler 1961 [1941], S. 66. Bei Dean A. Miller des Helden „perpetual and obsessive affaire du coeur with death itself“ (Miller 2000, S. x) oder „his unique relationship to what humankind in general tries its best to delay or avoid – death“ (Miller 2000, S. xii).  





7.2 Heldentod

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versöhnliches Ende nimmt und dessen Spannungsbogen darin besteht, dass die Protagonisten sich in der Rittergesellschaft etablieren und vor allem restituieren müssen, steuern die extrem todesnahen Gattungen der Heldendichtung dem Untergang entgegen. Ihre Protagonisten sterben unbefleckt in ihrer Blütezeit. Eine Restituierung ihres Ansehens ist nicht notwendig, weil sie, bevor sie Gefahr laufen, es zu verlieren, in ihrem eigenen Licht verglühen. Zu einem gewissen Zeitpunkt seiner Biographie gerät der heroische Protagonist in eine Situation, da der Tod zu ihm kommt; und er geht ihm entgegen. Für den Rezipienten ist das bisweilen unverständlich, da doch so oft der Tod des Helden so vermeidbar und nur als das Produkt einer starrsinnigen und übermütigen Entscheidung erscheint. Irgendwann jedoch zieht sich die Schlinge des Schicksals zu und das, was die Erzählung bereits die ganze Zeit angedeutet hat, nimmt seinen Lauf. Die Hinweise auf das, was kommen wird, sind Elemente heroischer Erzählstrategie. Die Protagonisten sind sich bewusst, was sie erwartet und es ist ihre Aufgabe, den Weg bis zum Schluss zu gehen. Der Untergang ist obligatorisch, weil das Schicksal es so ausersonnen hat.150 Das ist zumindest die intrinsische Begründung. Die extrinsische ist, dass es die Regeln der Gattung so erfordern. Ganz gleich, was während der Erzählung geschieht, sie muss doch ihrem vorgesehenen Abschluss gerecht werden. Nun bringt eine solche Gattung besondere Protagonisten hervor: Welche, die der Tod nicht schreckt, sondern die ihren Untergang umarmen und ihm gelassen und unberührt entgegenblicken. De Vries beschreibt den Helden als einen, „der einem unentrinnbaren Untergang entgegenschreitet, aber trotzdem durch seine menschliche Würde den Sieg davonträgt.“151 Da der Tod ohnehin unausweichlich ist, ist die Art und Weise, wie man ihm gegenübertritt, die Möglichkeit den eigentlichen Sieg davonzutragen. Vor diesem Hintergrund ist es der Inbegriff heldischer Gelassenheit, wenn Atlis Kinder ruhig und überlegen in dem Moment sprechen, da ihre Mutter sie töten wird: „Schalten kannst du mit deinen Kindern wie du willst, das wird dir keiner wehren“ (Vs 40,152 vgl. Am. 78). Nun ist die Art, wie mit dem Sterben umgegangen wird, aber keinesfalls homogen in der völsungischen Welt. „Lieber ficht mit deinen Feinden, als daß du dich im Feuer verbrennen läßt“ (Vs 22),153 lautet einer von Brynhilds Ratschlägen an Sigurd. Sie rät zu einem aktiven Tod, dazu, sein Leben teuer zu verkaufen, und nicht zu einem passiven Hinnehmen seines Schicksals. Tatsächlich ist es aber nicht selten Letzteres, zu dem sich die Helden des völsungischen Erzählkomplexes entscheiden, inklusive Sigurd, der diesen Ratschlag erfährt. Mit der brenna der Njáls saga haben wir eine Passage, in der genau das getan wird, wovon Brynhild abrät:  

150 Vgl. Millet 2008, S. 200: „Jeder Auftritt ist wie eine Weiche, die jeweils derart gestellt ist, dass sie den Zug auf das Gleis führt, auf dem er nicht fahren dürfte. Alle Motive, egal wie sie sind und woher sie kommen, sind dieser Funktion unterstellt worden, die Handlung in die Katastrophe zu führen.“ 151 de Vries 1954, S. 173. 152 „Rada muntu baurnum þinum, sem þu villt, þat man einge banna þer“. 153 „Berst helldr vid uvine þina, enn þu ser brendr.“  



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7. Untergang

man entscheidet sich, lieber zu verbrennen, als offen gegen den Feind zu kämpfen.154 Die eigentümliche Passivität der Sagafiguren, wenn es darum geht zu sterben, zeigt sich bereits im Vorfeld der brenna, als Skarphedin die kommende Katastrophe vorausgesagt wird: Die zukunftskundige Alte Sæunn schlägt mit dem Stock auf einen Komposthaufen ein, den sie als den Herd des Brandes voraussieht, und fordert die Leute auf, sich dieses Haufens zu entledigen. „‚Das wollen wir nicht tun,‘ sagt Skarphedin [darauf in der Saga], ‚denn es findet sich schon anderes zum Feueranmachen, wenns das Schicksal so will, auch wenns nicht der Haufen ist.‘ Die Alte schwatzte den ganzen Sommer von dem Unkrauthaufen, man solle ihn hereintragen; doch wurde nichts draus“ (Nj 124).155 Wenn der heroische Protagonist mit seiner eigenen Zukunft konfrontiert ist, tut er nichts, um seinem Schicksal zu entgehen. Er sieht es nicht ein, handelt fahrlässig, absichtlich und zum Trotz, obwohl er sehr genau weiß, dass das sein Untergang sein wird. Seinem eigenen Tod vorzubeugen ist unheroisch.156 Hierbei geht es nicht nur darum, nicht feige zu sein, sondern darum, jede Form von Vorsichtsmaßnahme zu unterlassen. Darum, die Segel im Sturm noch höher zu setzen.157 Darüber, dass Feigheit unheroisch ist, muss nicht diskutiert werden. Doch selbst seinen Tod vermeiden zu wollen oder auch nur die Chancen ein bisschen günstiger für sich selbst zu stellen,158 ist bereits unangemessen für einen Helden.159 So verhält sich das auch bei der War-

154 Vgl. Torfi 2015, S. 106: „It is one of the distinctive features of the saga [Njáls saga] how many of its characters accept their death.“ 155 „‚Eigi munu vér þat gera,‘ segir Skarpheðinn, ‚því at fásk mun annat til eldkveykna, þótt hon sé eigi, ef þess verðr auðit.‘ Kerling klifaði allt sumarit um arfasátuna, at inn skyldi bera, en þó fórsk þat ávallt fyrir.“ 156 Grimstad spricht von „honor-seeking behavior, namely killing and dying“ (Grimstad 2000, S. 51). Vgl. Grimstad 2000, S. 53: „Dying in the heroic world was a performative act crucial to the posthumous reputation, and hence the honor, of the deceased.“ Vgl. Miller 2000, S. 326: „Any age, to some extent, will admire the hero’s immediate and ferocious reaction to all opposition or frustration, his ability to sweep aside complexity and ambiguity by forceful reaction – the glamour, in other words, of a swift and irrevocable solution to the intricate frustrations of life in society. Death supplies an ultimate solution. It is also contagious, yet the hero not only ‚catches‘ it: he goes well out of his way to do so.“ Miller spricht vom „self-chosen early death of a young, strong, and healthy male“ (Miller 2000, S. 326). 157 Siehe 3.1.3. 158 Dieser sehr kompromisslose Ehrbegriff irritiert auch Otto Höfler, wenn er fragt, warum Sigmund denn nicht Unterstützung für die Rache an Siggeir aus den eigenen Reihen hole (vgl. Höfler 1934, S. 190). Weil es für den Helden nicht in Frage kommt, es sich einfacher zu machen, muss die Antwort hierauf sein (siehe 4.1.2). 159 Der Philosoph Yamamoto Tsunetomo hat zu dieser Mentalität des Helden am anderen Ende der Welt eine Parabel verfasst. In seinem Buch ‚Hagakure‘, das das Bushido, den Weg des Kriegers und damit den Ehrenkodex der Samurai beschreibt, erzählt er, wie die Leute zu laufen anfangen und Unterstand suchen, wenn es beginnt zu regnen. Der Samurai selbst aber schreitet weiter unbewegten Geistes durch die Straßen, da er sich bewusst macht, dass es nur natürlich ist, im Regen nass zu werden. In dieser Anekdote geht es nicht um Regen, sondern um das Sterben. Der Samurai weiß, auf jedes eine Leben folgt ein Tod und deswegen fürchtet er ihn nicht nur nicht, sondern ergreift auch keine Maßnahmen für sei 













7.2 Heldentod

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nung Signys vor dem Verrat ihres unpassenden Ehemannes Siggeir. Die Völsunga saga berichtet, wie sie ihren Vater davon abhalten will, der verräterischen Einladung zu folgen: Signy […] sagte ihnen König Siggeirs Absicht, daß er ein unüberwindliches Heer zusammengezogen habe, ‚und sinnt Verrat wider euch. Nun bitte ich euch, […] daß ihr sogleich wieder in euer Reich reist, sammelt soviel Mannen wie möglich, kehrt sodann hierher zurück und rächt euch selbst; gehet nicht in diese Gefahr, denn nicht entrinnt ihr seinem Verrate, wenn ihr nicht zu dieser List greift, zu der ich euch auffordere‘ (Vs 5).160

So lautet dann Völsungs Antwort: Davon wird alle Welt rühmend reden, daß ich […] das Gelübde tat, daß ich weder Feuer noch Eisen aus Furcht fliehen wollte, und so habe ich bisher gehandelt – warum sollte ich es nicht auch im hohen Alter tun? Nimmer sollen die Jungfrauen meinen Söhnen bei den Spielen vorwerfen, daß sie den Tod fürchteten; denn einmal muß jeder sterben, und keiner kann dem entgehen, daß er einmal sterbe. Darum ist mein Rat, daß wir keineswegs fliehen (Vs 5).161  

Nun ist es ja aber gar nicht so, dass Völsung fliehen soll. Das hat Signy nicht gesagt. Er soll nur mehr Männer zusammensammeln und die Chancen ausgleichen. Aber selbst dieses an sich vollkommen vernünftige Vorgehen schlägt ihr Vater aus. Es ist keine Entscheidung zwischen Bleiben oder Fliehen, es ist eine zwischen Leben und Tod. Und wenn dem Helden der Tod zur Wahl gestellt wird, dann ergreift er ihn auch. Keineswegs ist es so, dass Völsung nicht an den Wahrheitsgehalt der Warnung glaubt. Allerdings kommt für ihn ein Rückzug, selbst wenn dieser nur dazu dient, später mit einer größeren Streitmacht zurückzukehren, nicht in Frage. Völsung weiß, was geschehen wird und doch ergibt er sich seinem eigenen tödlichen fatum.162 Seine Opferbereitschaft schließt auch das Leben seiner Söhne mit ein. Lieber sollen sie tot sein, als dass ihnen Schlechtes nachgesagt wird. Völsung entscheidet

nen eigenen Schutz (ich benutze die Ausgabe von Keller 2004; für die respektive Stelle vgl. Keller 2004, S. 41–42). 160 „Segir nu ętlan sinna ok Siggeirs konungs, at hann hefir dregit samann uvigian her ‚ok ętlar at svikia ydr. Nu bidr ek ydr,‘ segir hun, ‚at þer farit þegar aptr i ydart riki ok fait ydr lid sem mest ok farit higat sidan ok hefnid ydar sialfir ok gangit eigi i uferu, þviat eigi misse þer svika af honum, ef eigi take þer þetta bragd, sem ek beidi ydr.‘“ 161 „Þat munu allar þiodir at ordum giora, at ek męllta eitt ord uborinn, ok stengda ek þess heit, at ek skyllda hvarke flygia elld ne iarn fyrir hręzlu sakir, ok sva hefe ek en giort her til, ok hvi munda ek eigi efna þat a gamals alldri? Ok eigi skulu meygiar þvi bręgda sonum minum i leikum, at þeir hrędizt bana sinn, þviat eitt sinn skal hverr deyja, enn ma engi undan komazt at deyia um sinn. Er þat mitt rad, at ver flygium hvergi“. 162 Vgl. Gehl 1939, S. 204: „Was sie zum Helden macht, ist gerade diese Bereitschaft zum Untergang, das klare Vorauswissen des Todesschicksals, das nicht ohne tieferen Grund fast stets mit größtem Nachdruck unterstrichen wird.“  



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7. Untergang

nicht für sich allein. „Ærens vogtere“,163 Wächter der Ehre, nennt Preben Meulengracht Sørensen die weiblichen Sagafiguren.164 Hier ist es Völsung selbst, der rigoros über die Sippenehre wacht und seine Söhne eher in den Tod schickt, bevor die Mädchen beim Spielen über sie reden. Wir sprechen oft vom tragischen Ende des Helden, vom schlechten Ausgang der Heldensage. Man muss sich von dieser Wertung lösen, wenn es darum geht, die Mentalität des Helden zu verstehen. Torfi Tulinius untersucht einen Ausspruch Gunnars aus der Njáls saga, der sagt: „Koma mun til mín feigð […] ef mér verðr þess auðit“ (Nj 68). Andreas Heusler übersetzt im Thuleband: „Mich wird das Todeslos treffen, […] wenn mir dies verhängt ist.“165 Etwas Übles also, ein Verhängnis. Torfi beobachtet aber Gegenteiliges: „What is unusual here is the choice of the expression að vera einhvers auðit. It is a positive word, suggesting good fortune […]. It intensifies the impression that Gunnarr’s attitude to death is quite positive.“166 Auch Skarphedin benutzt im Zusammenhang mit der brenna diese Formulierung. Das ist also etwas Schönes, was da passiert: ein heldisches Schicksal, das ihm zuteil wird, ihm zukommt, und das sich nun vollkommen ordnungsgemäß erfüllt. Der Tod wird dem Helden vergönnt.167 Unabhängig davon steht am Anfang der brenna eine taktische Überlegung, nämlich ob der Kampf gegen Flosis Leute denn besser zu gewinnen sei, wenn man draußen gegen sie kämpfe oder wenn man sich im Haus verschanze. Njál schlägt da vor:  

‚Ich möchte lieber, daß man hineinginge; denn gegen Gunnar von Haldenende hatte man schon einen schweren Stand, und er war doch allein; aber hier sind die Gebäude so fest, wie sie dort waren, und sie werden nicht Meister drüber werden.‘ ‚Das ist nicht auf die Art aufzufassen,‘ sagte Skarphedin: ‚den Gunnar überfielen Häuptlinge, die so anständig waren, daß sie lieber umkehren wollten als ihn drinnen verbrennen; die hier aber werden uns sogleich mit Feuer angreifen, wenn sies auf andere Art nicht können; denn sie werden alles dran setzen, daß sie mit uns fertig werden: sie werden sich sagen, was ja auch nicht unwahrscheinlich ist, daß es ihr Tod sei, wenn wir entkommen. Ich hab auch keine Lust, mich drinnen rösten zu lassen wie einen Fuchs in der Höhle‘ (Nj 128).168

163 Meulengracht Sørensen 1993, S. 238. 164 Siehe 6.2.4. 165 Heusler 1914, S. 153. 166 Torfi Tulinius 2015, S. 108. 167 Eine andere Lesart hierfür wäre freilich, das als ironischen Galgenhumor aufzufassen: ‚Daheim dürfen wir uns auf eine Schlinge um den Hals freuen‘. Dean A. Miller versteht den Heldentod der Sagafiguren als Möglichkeit der Selbstinszenierung: „Death is not merely death for these Icelandic warriors: it is always an opportunity as well“ (Miller 2000, S. 324). 168 „vil ek, at menn gangi inn, því at illa sóttisk þeim Gunnarr at Hlíðarenda, ok var hann einn fyrir. Eru hér hús rammlig, sem þar váru, ok munu þeir eigi sótt geta.‘ ‚Þetta er ekki þann veg at skilja,‘ segir Skarpheðinn; ‚Gunnar sóttu heim þeir hǫfdingjar, er svá váru vel at sér, at heldr vildu frá hverfa en brenna hann inni. En þessar munu sœkja oss með eldi, ef þeir megu eigi annan veg, því at þeir munu allt til vinna, at yfir taki við oss. Munu þeir þat ætla, sem eigi er ólíkligt, at þat muni þeira bani, ef oss dregr undan. Em ek ófúss þess at láta svæla mik inni sem melrakka í greni.‘“  







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Zu Anfangs stehen rationale Überlegungen im Vordergrund, nämlich wie man denn den Kampf am ehesten überlebe und wie der Feind vorgehen würde. Zu verbrennen passt Skarphedin tatsächlich nicht. Ihm ist an einer aktiven und nicht einer passiven Todesbegegnung gelegen. Darauf antwortet Njál aber: „Jetzt wird’s gehen wie auch schon, daß ihr Söhne mich überstimmen werdet und nichts auf mich geben. Aber als ihr noch jünger wart, tatet ihr das nicht und da fuhrt ihr besser“ (Nj 128).169 Gekleidet ist das in den Rahmen eines väterlichen Ratschlages. Es heißt dann: „Helgi sagte: ‚Machen wirs, wie Vater will! Das wird uns am besten bekommen.‘ ‚Das weiß ich nicht so gewiß,‘ sagte Skarphedin, ‚denn er ist jetzt todgeweiht. Aber den Gefallen kann ich meinem Vater gern tun, mit ihm zu verbrennen, denn ich bin nicht bange vor dem Tod‘“ (Nj 128).170 Nun hat der Verband entschieden und es kommt der Moment, da es an der Zeit ist zu sterben. Die Protagonisten folgen ihrem Vater auf diesem Weg, egal wohin er führe. Gleich einem Högni oder Hagen von Tronje ist Skarphedin zunächst noch die Stimme der Vernunft. Da aber der Untergang beschlossene Sache ist, geht er selbst völlig in ihm auf.171 Die Essenz heroischer Erzählung ist der allgegenwärtige Vernichtungssog, der sie von vorn bis hinten durchzieht. Die Mentalität des Helden zeichnet sich vor allem dadurch ab, wie er sich gegenüber diesem bevorstehenden Unheil positioniert. Jan de Vries sagt dazu: „Ein Held stirbt jung; darin besteht gerade seine Tragik. Es ist ihm vorausgesagt worden […]; das Schicksal ist unerbittlich. […] Während seines ganzen Lebens steht ihm dieses Schicksal vor Augen; ist es verwunderlich, daß er ihm bis zuletzt trotzen möchte?“172 Tatsächlich trifft es das nicht, denn der Held trotzt seinem Schicksal nicht. Vielmehr sorgt er dafür, dass es letztlich in Erfüllung geht, wenn er dem Tod sehenden Auges entgegengeht und im entscheidenden Moment eben nichts tut, um ihn zu verhindern. Zutreffender ist deswegen Victor Millets Beobachtung, der sagt: „Der Held nimmt seinen Tod oder sein Schicksal in einem Status der Überschwenglichkeit hin, der auf der Sicherheit basiert, dass der Sieg um den Preis des eigenen Lebens die höchstmögliche Heldentat darstellt, umso mehr, als diese vollkommen freiwillig geschieht.“173 Es kommt der Moment, da der heroische Protagonist weiß, dass es soweit ist. Dass er sterben muss und solange er das freiwillig tut, kann es zu seinen eigenen Bedingungen geschehen.174 169 „Nú mun sem optar, at þér munuð bera mik ráðum, synir mínir, ok virða mik engis. En þá er þér váruð yngri, þá gerðuð þér ekki svá, ok fór ydr þá betr.“ 170 „Helgi mælti: ‚Geru vér sem faðir várr vill; þat mun oss bezt gegna.‘ ‚Eigi veit ek þat víst,‘ segir Skarpheðinn, ‚því at hann er nú feigr. En þó má ek gera þetta tils skaps hans at brenna inni með honum, því at ek em ekki hræddr við dauða minn.‘“ 171 Vgl. Torfi Tulinius 2015, S. 113: „It is as if some hidden force has taken over, both human and escaping the control of humans.“ 172 de Vries 1961, S. 247. 173 Millet 2008, S. 58. 174 Vgl. Torfi Tulinius 2015, S. 105: „As Freud says, every living being wants to die, but wants to do so on its own terms.“  







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7.2.2 Völsungentode Wenn gesagt wird, der Held ende tragisch, so muss zunächst eine klare Linie zwischen den Begriffen ‚tragisch‘ und ‚dramatisch‘ gezogen werden. Der Tod des Helden ist nicht zwingend spektakulär: Er stirbt nicht unbedingt umgeben von Leichen, in der Bresche der Feindesreihen, Explosionen und Feuer um ihn herum.175 Die Sigurdfigur stirbt an Verrat, obschon er alle anderen Gefahren überlebt hat und Sinfjötli wird vergiftet, obwohl ihn die Kriegerscharen Siggeirs nicht anrühren konnten.176 Der Tod des Helden ist mit einer Seelenqual verbunden, die aus seiner angeblichen Vermeidbarkeit rührt.177 Nachdem Sinfjötli Borghilds Bruder im Streit um eine Frau getötet hat, sinnt seine Stiefmutter auf Rache. Bei der Totenfeier vergiftet sie Sinfjötli im Beisein seines Vaters. Das Prosafragment Frá dauða Sinfjötla berichtet: Beim Erbmahl brachte Borghild Bier. Sie nahm Gift, ein großes Horn voll, und brachte es Sinfjötli. Aber als er in das Horn sah, stellte er fest, dass Gift darin war und sagte zu Sigmund: ‚Trübe ist der Trank, Vater‘. Sigmund nahm das Horn und trank daraus […]. Borghild brachte Sinfjötli ein anderes Horn und bat, es auszutrinken. Und es ging alles wie zuvor. Und zum dritten Mal brachte sie ihm ein Horn, mit Schmähworten, wenn er nicht davon tränke. Er sprach wieder wie vorher zu Sigmund. Er sagte: ‚Lass es durch den Schnurrbart seihen, Sohn!‘ Sinfjötli trank und war bald tot (Sf.).178 Mit einigen Unterschieden gibt die Völsunga saga die Stelle wieder: Borghild brachte den Männern den Trank. Sie trat vor Sinfjötli mit einem Horne und sprach: ‚Trink, Stiefsohn!‘ Er nahm das Horn, sah hinein und sprach: ‚Trübe ist der Trank.‘ Sigmund sprach: ‚Gib ihn mir!‘ und trank ihn aus. Die Königin sprach: ‚Warum sollen andere Männer für dich Äl trinken?‘ Sie kam abermals mit dem Horne: ‚Trink jetzt!‘ und reizte ihn mit manchen Worten. Er nahm das Horn und sprach: ‚Vergiftet ist der Trank.‘ Sigmund sagte: ‚Gib ihn mir!‘ Zum dritten Male kam sie und forderte ihn auf, auszutrinken, wenn anders er den Mut der Völsungen hätte. Sinfjötli nahm das Horn und sprach: ‚Gift ist im Trank.‘ Sigmund sagte: ‚Laß den Bart den

175 Dagegen Grimstad 2000, S. 54: „A good heroic death scene should contain elements of drama which would make it both memorable and recountable: unflinching valor, fighting against overwhelming odds, contempt for death, a death speech or some form of last words.“ 176 Vergleichen lässt sich das mit dem Tod des Titelhelden in Lawrence of Arabia (1962), der die Wirren des ersten Weltkrieges im nahen Osten und in Nordafrika überlebt, um dann in der Heimat bei einem Motorradunfall zu sterben. Das erzeugt Tragik und schockiert den Rezipienten. 177 Vgl. Ehrismann 2005, S. 12: „Das Gesetz der Gattung ist unerbittlich, gleichsam eine Kontrafraktur des arthurischen Romans: ein Ende als eleos (‚Jammer‘) und phobos (‚Schauder‘), schwere Konflikte exorbitanter Menschen, eine mythische Geschichte, die an der Rekonstruktion des heroischen Zeitalters arbeitet“. 178 „Enn at erfino bar Borghildr ǫl. Hon tóc eitr, mikit horn fult, oc bar Sinfiǫtla. Enn er hann sá í hornit, skilði hann, at eitr var í, oc mælti til Sigmundar: ‚Giǫróttr er dryccrinn, ái.‘ Sigmundr tóc hornit ok dracc af […]. Borghildr bar annat horn Sinfiǫtla, oc bað drecca, oc fór allt sem fyrr. Oc enn iþ þriðia sinn bar hon hánum hornit, oc þó ámælisorð með, ef hann drycci eigi af. Hann mælti enn sem fyrr við Sigmund. Hann sagði: ‘Láttu grǫn sía þá, sonr.‘ Sinfiǫtli dracc oc varð þegar dauðr.”  



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Trank seihen, Sohn!‘ Der König war da schon sehr trunken, und deshalb sagte er das. Sinfjötli trank, und sogleich fiel er tot nieder (Vs 10).179

Borghild fordert den Stiefsohn zum Trinken auf: Warum sollen andere Männer für dich Äl trinken? Da geht es nicht um ‚Sei kein Spielverderber‘, ‚Sei kein Weichei‘. Wenn du den Mut der Völsungen hast, sagt Borghild zu Sinfjötli. Hier geht es schon lange nicht mehr ums Biertrinken. Der Trank ist vergiftet. Er weiß das und sie weiß, dass er es weiß. Wenn du den Mut der Völsungen hast, dann trinkst du nun das Gift wie ein wahrer Völsunge. Wenn du den Mut der Völsungen hast, dann entscheidest du dich für den Tod und nicht für das Leben. Wenn du den Mut der Völsungen hast, dann stirbst du nun.180 Letztlich fordert Sigmund seinen Sohn auf, das Bier durch den Bart zu seihen. Dass das aus Sigmunds Betrunkenheit geschehen soll, verführt den Völsungenübersetzer Paul Herrmann zu folgender Anmerkung: „Irrtum des Erzählers: Sigmund hatte gedacht, daß der Trank sein Gift im Barte Sinfjötlis zurücklassen werde und ihm dann nicht mehr schaden könne.“181 Herrmann denkt bezüglich der Sage noch in Kategorien von Wahrheit und Verfälschungen. Er möchte wissen, wie sie ursprünglich und ohne den Einfluss von Bearbeitern ausgesehen hat. Ähnlich deuten Gering und Sijmons Sigmunds Trinkaufforderung: „Sigmundr hatte gehofft, daß der trank seine giftigen bestandteile im barte Sinfjǫtles absetzen und infolge dessen nicht schädlich wirken werde.“182 Die Gegenposition nehmen Detter und Heinzel in ihrem Eddakommentar ein: „An ein vorsichtiges Filtriren des Biers durch die Barthaare ist nicht zu denken. Sigmund, der seiner Frau keine Unthat zutraut, fordert seinen Sohn auf nur kecklich zu trinken.“183 Der Frankfurter Eddakommentar fragt: „Warum fordert […] Sigmundr Sinfjǫtli auf, das vergiftete Bier zu trinken?“184 Ja, das verstehen wir nicht, das müssen wir erklären und uns fassbar machen, weil das unerhört und völlig unnachvollziehbar für uns Rezipienten ist. Es fällt uns kein einziger Grund ein, warum der Vater das zulassen sollte. Der Eddakommentar schlussfolgert: „Es ist kaum zu entscheiden, wie dieser Satz aus Sigmundrs Mund zu verstehen ist. Möglicherweise liegt

179 „Borghilldr bar monnum dryck. Hun kemr fyrir Sinfiǫtla med miklu horni. Hun męllti: ‚Dreck nu, stiupson.‘ Hann tok vid ok sa i hornid ok męllti: ‚Giorottr er dryckrinn.‘ Sigmundr męllti: ‚Fa mer þa.‘ Hann drack af. Drottninginn męllti: ‚Hvi skulu adrir menn dręcka fyrir þik ǫl?‘ Hun kom i annat sinn med hornid: ‚Dreck nu‘ – ok frudi honum med maurgum ordum. Hann tekr vid horninu ok męllti: ‚Flęrdr er dryckrinn.‘ Sigmundr męllti: ‚Fa mer þa.‘ It þridia sinn kom hunn ok bad hann drecka af, ef hann hefde hug Volsungha. Sinfiotli tok vid horninu ok męllti: ‚Eitr er i drycknum.‘ Sigmundr svarar: ‚Lat graun sia, sonr,‘ sagde hann. Þa var konungr druckinn miok, ok þvi sagde hann sva. Sinfiotli dreckr ok fellr þegar nidr.“ 180 Vgl. Grimstad 2000, S. 24: „Sinfjotli’s honor as a Volsung is at stake.“ 181 Herrmann 1923, S. 61 Anm. 182 Gering/Sijmons 1931, S. 138. 183 Detter/Heinzel 1903, S. 386. 184 von See/La Farge et al. 2006, S. 115.  











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der Aufforderung der Gedanke zugrunde, der Sohn sei genauso immun gegen Gift wie der Vater selbst […]. Die Aussage ließe sich somit paraphrasieren: ‚Trink nur, es wird schon gutgehen‘“.185 Meines Erachtens ist dies nicht so aufzufassen, dass der Bart wirklich die Wirkung eines Siebes haben soll, sondern dass es sich um eine metaphorisch-umgangssprachliche Umschreibung für das Trinken wie etwa ‚kipp’s runter‘ handelt. Auch die Interpretation der Unbedarftheit Sigmunds, der Irrtum, dass von Borghild nichts Böses zu erwarten sei, scheint mir nicht passend. Stattdessen wählt Sigmund für seinen Sohn den Tod. Zweimal hat er das Schicksal auf sich selbst genommen und den Gifttrank für Sinfjötli ausgetrunken, doch als nun der Tod ein drittes Mal zu ihm kommt, da sieht er, dass es unausweichlich ist und dass alles Handeln nur evasiv wäre.186 Nun Maßnahmen gegen den Tod zu ergreifen wäre unheroisches Gehabe. Der Held weiß, wann es Zeit ist zu sterben. Für Sigmunds Sohn ist der Moment nun gekommen: ‚Trink nun. Es ist soweit. Wir können nichts mehr dagegen tun.‘187 Den Sohn dem Tod zu überantworten ist natürlich selbst für Sigmund ein masochistischer Akt: „sein Kummer ging ihm fast ans Leben“ (Vs 10),188 heißt es in der Völsunga saga, woraufhin er seinen toten Sohn auf den Armen fortträgt. Auf jeden Fall aber ist Sigmund konsequent und mutet seinem Sohn nichts zu, das er nicht auch selbst erdulden würde. Später, wenn er todwund auf dem Feld der Schlacht liegt und seine Frau ihm zu Hilfe kommt, heißt er den Tod willkommen. Da Hjördis ihm Heilung bringen will, antwortet er ihr: „Mancher lebt, obwohl nur geringe Hoffnung war, von mir aber hat sich das Glück gewandt, so daß ich mich nicht mehr heilen lassen will. Odin will nicht, daß ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach; ich habe Schlachten geschlagen, so lange es ihm gefiel“ (Vs 12).189 Sigmund sagt selbst, dass er siegreich war und lebte, solange Odin es so wollte, aber nun ist es eben genug. Er will sein Leben nicht verlängern über die Tage hinaus, die ihm gegeben. Nun zu Sigurd: Vom Hergang seiner Ermordung heißt es:

185 von See/La Farge et al. 2006, S. 128. 186 Anders dagegen Torfi Tulinius, der hinter dem Handeln Sigmunds – zumindest in der Völsunga saga – keine bewusste Absicht sieht und von „Sigmundr unintentionally causing harm to his son Sinfjǫtli“ (Torfi Tulinius 2000, S. 248) spricht. 187 Vgl. Aguirre 2002, S. 8: „Obviously revenge is Borghild’s motivation, but her insistence has little to do with real-life feuds. She is far too obstinate, far too stern; she simply acts, then acts again, then again, to the point where something inexorable seems to characterise her conduct. And Sigmund […] does not reflect, he merely acts twice, then refuses (or is unable) to act a third time. Their phased behaviours reveal a force which goes beyond individual wills. The threefold occurence patterns and ritualises the episode. Sinfjǫtli must drink, he must die; no one does anything because no one can – fate is pulling all the strings.“ 188 „geck harmr sinn nęr bana“. 189 „Margr lifnar or litlum vanum, enn horfinn eru mer heill, sva at ek vil eigi lata greda mik. Vill Oþinn ecki, at ver bregdum sverdi, sidan er nu brotnadi. Hefi ek haft orostur, medan honum likadi.“  











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Gutthorm ging am nächsten Morgen hinein zu Sigurd, als er noch in seinem Bett ruhte. Aber als Sigurd ihn anblickte, wagte Gutthorm nicht, ihn anzugreifen und ging wieder hinaus. Ebenso erging es zum andernmal. Sigurds Augen waren nämlich so scharf, daß keiner wagte hineinzuschauen. Und zum dritten Male ging er hinein, da war Sigurd eingeschlafen. Gutthorm zückte das Schwert und stieß es in Sigurd, so daß die Schwertspitze im Polster unter ihm stecken blieb (Vs 32).190

Wieder stoßen wir auf die Dreizahl, die bereits bei Sinfjötlis Tod eine Rolle gespielt hat. Die nur in der Völsunga saga beschriebene Szene ist eindeutig nach der der Vergiftung des wölfischen Halbbruders modelliert:191 Zweimal gelingt es, dem Tod die Schwelle zu weisen und den Mörder durch den wilden Blick wieder aus dem Zimmer zu schicken, doch als der Tod dann ein drittes Mal erscheint, da ist es klar, dass der Moment gekommen ist, da sich das Schicksal erfüllt. Sigurd schläft ein. Seinem Tod steht er passiv gegenüber.192 Letztlich lässt er ihn zu.193

7.2.3 Schräge Tode Sigurd und Sinfjötli194 sterben im Verrat. Sie werden getötet von Mitgliedern ihres Kollektivs oder durch die Machenschaften der Schwurbrüder. In der Völsunga saga sterben sie beide in einem häuslichen Milieu, beim Mahl und im Bett. Das Prosastück Frá dauða Sigurðar, das sich an das Brot af Sigurðarkviðu anschließt, berichtet von mehreren Überlieferungstraditionen, die vom Tod des Helden berichten: „Hier in diesem

190 „Gutthormr geck inn at Sigurdi eptir um morginninn, er hann hvillde i reckiu sinne. Ok er hann leit vid honum, þorde Gutthormr eigi at veita honum tilręde ok hvarf ut aptr. Ok sva ferr i annat sinn. Augu Sigurdar varu sva snaur, at far einn þorde gegn at sea. Ok ed þridia sinn geck hann inn, ok var Sigurdr þa sofnadr. Gutthormr bra sverde ok leggr a Sigurdi, sva at blodrefillinn stod i dynum undir honum.“ 191 Matthias Teichert weist außerdem auf Ähnlichkeiten zur Drachentötung hin: „Auch die Tötungsarten, denen Fáfnir durch Sigurd und Sigurd durch die Gjúkungen zum Opfer fallen, weisen eine Analogie auf, insofern beide ahnungs- und wehrlos dem Angriff eines ‚unsichtbaren‘ Gegners erliegen“ (Teichert 2014, S. 152). Manuel Aguirre spricht zudem von einer Parallele zu Atlis Tod (vgl. Aguirre 2002, S. 19). 192 Nun bemerkt Otto Höfler: „Und es bleibt für immer merkwürdig, daß gerade dieser berühmteste germanische Held – im Gegensatz zu fast allen Heroengestalten der germanischen, aber auch der griechischen Sage – ein so passiv-kampfloses Ende findet und trotzdem als der Allergrößte unter den Vorzeithelden gefeiert worden ist“ (Höfler 1961, S. 63). Aber gerade das macht Sigurd doch so großartig, dass seine Kraft und Überlegenheit selbst bis zum Ende ungebrochen sind. Er ist der größte Held nicht obwohl, sondern gerade weil er nur im Verrat getötet werden konnte. Karl Lachmann spricht dahingehend von Sigurd, „der für den offenen angriff unbesiegbar ist“ (Lachmann 1836, S. 343). 193 Vgl. dagegen Grimstad 2000, S. 35: „unsuspecting […] he [Sigurd] meets an […] unheroic end“. Vgl. weiterhin zu Sigurds Tod Grimstad 2000, S. 54. 194 Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 142: „In a sense, Sigmundr […] betrays his son when he tells him to drink from the poisoned vessel. Sigmundr has the excuse of being inebriated, but nonetheless he has betrayed the trust of Sinfjǫtli, whose life was in his hands.“  

















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Liede wird vom Tode Sigurds gesprochen. Und es läuft darin so ab, als hätten sie ihn draußen getötet, Einige jedoch sagen, dass sie ihn, den Schlafenden, drinnen in seinem Bett erschlagen hätten“ (Br. Abschlussprosa).195 Letztlich berichtet das Fragment von der großen Gemeinsamkeit, die allen Schilderungen von Sigurds Tod zueigen ist und die das Ende des Helden auszeichnet:196 „Aber das erzählen alle gleich, dass sie ihn um die Treue betrogen und ihn erschlugen, den Liegenden und Unbewaffneten“ (Br. Abschlussprosa).197 Die Völsungen sind anfällig dafür verraten zu werden. Sie sterben einen ungewöhnlichen Tod. Sigmund stirbt, da ihm der Gott Odin seine Gunst entzieht, der zuvor noch als Familienahn des Völsungengeschlechtes vorgestellt wurde. Eine Parallele zu Sigurds Tod wird im Programmkapitel der Völsunga saga, der Sigierzählung, gezogen. Sigurds Vorfahre wird durch die Brüder seiner Frau verraten.198 Er ist nicht darauf vorbereitet und die Verwandten begehen die Tat nicht selbst, sondern lassen sie von jemand anderem durchführen: Sigi „hatte viele Feinde, so daß ihn endlich die angriffen, denen er am meisten traute, und das waren die Brüder seiner Frau. Sie ließen ihn überfallen, als er es am wenigsten vermutete […] – in diesem Kampf fiel Sigi“ (Vs 1).199 Sein Sohn Rerir stirbt nicht durch Verrat, sondern an einer Krankheit während einer seiner Fahrten: „Auf dieser Fahrt begab es sich, daß Rerir krank wurde, und starb darauf“ (Vs 2).200 Dies geschieht noch während seine Frau seinen Sohn Völsung austrägt. Die Zeugung Völsungs wurde durch die Götter und den Apfel, den die Walküre auf Rerirs Knie fallen ließ, unterstützt.201 Doch nicht nur die Zeugung, sondern auch die Geburt selbst bewegt sich in einem ungewöhnlichen Rahmen. Die Mutter Völsungs leidet an der „Krankheit“ (Vs 2),202 ihren Sohn sechs Jahre lang nicht gebären zu können. Als Völsung durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht wird, stirbt sie an den Folgen der mythischen Geburt. Völsung selbst stirbt, als er der verräterischen Einladung seines Schwiegersohnes Siggeir folgt. Seinen Söhnen soll ursprünglich das Le 

195 „Hér er sagt í þessi qviðo frá dauða Sigurðar, oc vícr hér svá til, sem þeir dræpi hann úti. Enn sumir segia svá, at þeir dræpi hann inni í reccio sinni sofanda.“ 196 Vgl. von See 1971, S. 13: „Man sieht hier übrigens, daß es dem Edda-Sammler vielleicht weniger auf die äußerlichen Umstände des Faktums ankam als vielmehr auf das erregende Moment, daß dieser strahlende Held nicht im offenen Kampf besiegt, sondern auf schmähliche Art und Weise beseitigt wurde.“ 197 „Enn þat segia allir einnig, at þeir svico hann í trygð oc vógo at hánom liggianda oc óbúnom.“ 198 Vgl. Herrmann 1923, S. 40 Anm.: „Wahrscheinlich hatte er den Vater seiner Frau im Kampfe erschlagen, ehe er sich mit ihr vermählte, und die Söhne nahmen jetzt Vaterrache.“ Das ist auch das Motiv von Helgis Erschlagung durch seinen Schwager Dag. Vgl. Grimstad 2000, S. 42: „The deed serves as a portent of events to come in the saga“. 199 „atte ser margr aufundarmenn, sva at um sidir redu þeir a hendr honum, er hann trudi berst, enn þat voru brędr konu hans. Þeir giora þa til hans er hann varir sizt […], ok a þeim fundi fell Sigi“. 200 „I þesse ferd vard til tidenda, at Rerir tok sott ok þvi nęst bana“. 201 Siehe 3.1.2. 202 „vanheilsu“.  





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ben gerettet werden, indem Signy erwirkt, dass sie nur im Wald gefesselt werden: „Darum will ich dich bitten, daß du meine Brüder nicht so bald töten lässest; laß sie lieber in den Stock setzen“ (Vs 5).203 Siggeir antwortet darauf: „Toll bist du und töricht, daß du für deine Brüder ein größeres Übel erbittest, denn daß sie erschlagen werden“ (Vs 5).204 Tatsächlich bewahrheiten sich aber Siggeirs Worte, denn bis zu einem Grad geht Signys Plan nach hinten los. Anstatt den Brüdern Schlimmeres zu ersparen, werden sie nun nach und nach von einer Riesenwölfin aufgefressen, während sie in einer Vorrichtung gefangen sind:  

Ein mächtiger Baumstamm wurde genommen und den zehn Brüdern an einer Stelle im Walde an die Füße gelegt. Dort saßen sie den ganzen Tag bis zur Nacht. Aber um Mitternacht kam eine alte Wölfin dorthin zu ihnen, wo sie im Block saßen, die war groß und grausig anzusehen; es ereignete sich, daß sie einen von ihnen zu Tode biß, sodann fraß sie ihn völlig auf und ging dann fort […]: neun Nächte hintereinander kam dieselbe Wölfin um Mitternacht und biß sogleich einen von den Brüdern zu Tode, bis sie alle tot waren, nur Sigmund allein war noch übrig (Vs 5).205

Das eigentümliche Verfahren liefert das Setup für die mythische Ungeheuererschlagung des Helden Sigmund, der die Wölfin letztlich mit Hilfe seiner Schwester tötet. Der Tod der Brüder war die Kulisse für diese Tat. Helgi kommt in der Völsunga saga extrem glimpflich davon. Am Ende der von ihm handelnden Erzählung heißt es: „er kommt aber in dieser Geschichte nicht mehr vor“ (Vs 9).206 Nicht so in den Heldenliedern, da er von seinem Schwager Dag aus Vaterrachegründen getötet wird (vgl. HH. II Prosa nach 29) und zwar in Mithilfe seines Ahnengottes Odin. In seinem Beitrag über das Opfer im Semnonenhain hat Otto Höfler die Erzählung um Helgis Aufstieg und Fall auf die Kultpraxis zurückgeführt, einen Würdenträger, der eventuell von einer Priesterin initiiert oder die Herrschaft aus ihrer Hand erhalten hat, als Opfer darzubringen.207 Diese kultischen und mythischen Vorgänge werden in den Helgiliedern in Form einer Brautwerbungs- und Vaterrachegeschichte wiedergegeben. Was uns bleibt, sind Odin und der Fesselhain als Überlieferungstrümmer, die in Form eines mythischen Rahmens die Bühne für die heldische Rachetat aufsetzen, und abermals ist der Ausübende der Mordtat der Schwager. Die Völsungen sind anfällig für Verrat durch die eigene Familie.

203 „Þess vil ek bidia þik, at þu latir eigi sva skiott drepa brędr mina, ok latit þa helldr settia i stock“. 204 „Ęr ertu ok orvita, er þu bidr brędrum þinum meira bauls, enn þeir se hoggnir.“ 205 „var tekinn einn mikill stockr ok felldr a fętr þeim X brędrum i skogi einshvers stadar, ok sitia þeir nu þar þann dag allan til nętr. Enn at midre nott þa kom þar ylgr ein or skogi gaumul at þeim, er þeir satu i stockinum. Hun var będi mikil ok illilig. Henne vard þat fyrir, at hun bitr ein þeirra til bana. Sidan at hun þann upp allan. Eptir þat for hun i brott […]. Niu nętr i samt kom sea enn sama ylgr um midnętte ok ętr ein þeirra senn til bana, unzt allir eru daudir nema Sigmundr einn er eptir.“ 206 „ok er hann her ecki siþan vid þessa saugu.“ 207 Vgl. Höfler 1952(a), S. 1–67.  

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Die Tode der Völsungen gemahnen an die grotesken Tode des Ynglingengeschlechtes, wie sie von Snorri in der Ynglinga saga der Heimskringla berichtet werden. Die Ynglinge, als von Odin abstammendes mythisches Geschlecht208 – wie eben die Völsungen –, sterben unter skurrilen Umständen. Der Ahn Odin selbst stirbt im Bett und will ab dann seine Freunde in Götterheim willkommen heißen (vgl. Hkr Ynglinga saga209 9). Njörd stirbt ebenso im Bett (vgl. Ys 9), wie auch die Nachfahren der Götter, Domar und Dyggvi sowie Halfdan Weißbein und Halfdan der Freigebige oder der Speisekarge (vgl. Ys 16, 17, 44, 47). Frey wird krank und stirbt (vgl. Ys 10) und Olaf stirbt an einem „Fußleiden“ (Ys 49).210 Die Wenigsten der Ynglinge sterben in der Schlacht. Das wären Hugleik und Yngvar (vgl. Ys 22 und 32), wie auch Eirik durch König Haki, der dann selbst seinen Wunden erliegt (vgl. Ys 23). Ottar wird in der Schlacht erschlagen und man lässt ihn von Aasvögeln zerreißen, weil er die Tributszahlungen seines Vaters eingestellt hat (vgl. Ys 27). Dazu kommt eine Reihe peinlicher Unfalltode: Freys Sohn Fjölnir ertrinkt im Metfass211 (vgl. Ys 11), Önund kommt bei einem Bergsturz um (vgl. Ys 35). Egil wird auf der Jagd durch einen freigekommenen Opferstier getötet (vgl. Ys 26) und König Adils hat einen Reitunfall, „daß ihm der Schädel brach und das Hirn auf den Steinen lag“ (Ys 29).212 Eystein stirbt, als er durch Magie über Bord geworfen wird (vgl. Ys 46). Vanlandi wird von einem Nachtmahr im Bett getötet, weil er von seiner ihn vermissenden Frau verzaubert wurde (vgl. Ys 13). Der betrunkene Gudröd wird auf Geheiß seiner Frau von einem Diener mit einem Speer durchrannt (vgl. Ys 48) und Agni auf Befehl seiner Verlobten an einem Halsband aufgeknüpft und stranguliert (vgl. Ys 19). Den Tod durch den Strick erfahren auch Gudlauk, der von seinen Feinden gehängt wird (vgl. Ys 23), und Jörund (vgl. Ys 24). Visbur wird nachts überfallen und in seinem Haus verbrannt (vgl. Ys 14), so auch Eystein (vgl. Ys 31). König Ingjald dagegen entscheidet sich, sich selbst mit seinen Leuten in seiner Halle zu verbrennen, um einem übermächtigen Feind zu ‚entgehen‘ (vgl. Ys 40). Sein Sohn Olaf wird dann wieder regulär von seinen Untertanen verbrannt und letztlich Odin als Opfer für ein fruchtbares Jahr dargebracht (vgl. Ys 43). Gegen eine  





208 Vgl. dazu Schröder 1961, S. 292. Den Tod Siegfrieds erklärt Franz Rolf Schröder durch die Entlehnung der Sage aus dem Mythos (vgl. Schröder 1961, S. 298–301; siehe 4.2.1). Vor allem auch zur HagenHögnigestalt vgl. Schröder 1960, S. 118–122. 209 Im Weiteren ‚Ys‘. 210 „fótar-verk“. 211 Renate Doht sieht hierin die kultische Institution eines Königsopfers (vgl. Doht 1974, S. 239 Anm.). Lars Lönnroth gibt einen Überblick zu den Foschungspositionen zur Opferung Domaldis, welche Implikationen germanischen Sakralkönigtums enthält (vgl. Lönnroth 1986, S. 76–79), gefolgt von seiner eigenen abweichenden Interpretation (vgl. Lönnroth 1986, S. 80–93). Ich gehe davon aus, dass auch andere der eigentümlichen Tode der Ynglinge auf diese Art aufgeschlüsselt werden können. Hinter einigen der Todesdarstellungen verbergen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit kultisch-mythische Opferritualhandlungen. 212 „at haussinn brotnaði, en heilinn lá á steininum“.  











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7.2 Heldentod

Hungersnot wird auch Domaldi geopfert (vgl. Ys 15). König Aun opfert Sohn um Sohn um sein Leben zu verlängern bis ihm das Alter alle Würde genommen hat und stirbt schließlich, als man ihm weitere Sohnesopferungen versagt (vgl. Ys 25). Die Brüder Alrik und Erik schlagen einander mit Pferdetrensen die Schädel ein (vgl. Ys 20). Yngvi und Alf, die Generation danach, töten einander aus Eifersucht um eine Frau und weil einer der beiden täglich früher ins Bett geht als der andere (vgl. Ys 21). König Sveigdir wird betrunken von einem Zwerg in einen Stein gelockt, aus dem er nie mehr zurückkehrt (vgl. Ys 12) und Dag, ein vogelsprachenkundiger und „kluger Mann“ (Ys 18)213 bekommt die Mistgabel in den Kopf (vgl. Ys 18). Die Ynglinga saga berichtet über Generationen hinweg von immer seltsamer werdenden Toden. Es ist die Erzählung der Todesbegebenheiten eines mythischen Geschlechtes. Der Rezipient erhält den Eindruck jämmerlicher Witzfiguren, die unter schrägen Umständen sterben, durch Krankheit, Unfälle, Magie, Opferung, Strangulation oder durch Ehefrauen und Sippenmitglieder. Auch die Völsungen sind – vor allem in den frühen Generationen – ein verhindertes Geschlecht. Sie sind unfruchtbar, unfähig in der Jagd, werden verraten durch die eigene Familie und vor allem durch die Verwandten der Frau.214 Diese Sonderstellung zeigt sich auch in ihrem Sterben. Rerir stirbt durch eine Krankheit, Sigi im Verrat wie auch Völsung selbst. Das Geschlecht wird reduziert durch die späte Hilfe Signys. Ein Großteil wird von einer Wölfin gefressen. Helgi wird mit Odins Speer getötet, was in einem kultischen Opferzusammenhang steht, Sinfjötli wird von seiner Schwiegermutter vergiftet und Sigurd stirbt durch Verrat der Verwandten seiner Frau. An mehreren Stellen finden wir in der Ynglinga saga den Tod der Protagonisten durch Pferde oder Pferdeutensilien und auch Svanhild wird von Pferden totgetrampelt. Groteske Todesumstände stehen im Zusammenhang mit der narrativen Inszenierung mythischer Blutlinien.  



7.2.4 Gjukungentode Die Tode der Gjukungen dagegen unterscheiden sich von denen der Völsungen. Sie sind sehr wohl spektakulär und entsprechen schon eher unserem modernen mit Heroentum assoziierten Actionbedürfnis. Hamdir und Sörli verüben im simulierten heroischen Tötungswahn blutigste Rachetaten,215 um dann getrennt voneinander216 auf die einzige Weise, wie man sie verletzen und töten kann, gesteinigt zu werden: „Dort

213 „maðr […] spakr“. 214 Nach Edgar Haimerls Zählung sterben im Heldenliedteil der Edda zwei Drittel der 36 getöteten Protagonisten durch Verwandtenmord (vgl. Haimerl 1992, S. 241). 215 Siehe 6.2.5. 216 Vgl. Clark 2012, S. 25: „Hamðismál ends with the image of two young men, lying dead, alone, on a pile of bloody corpses, and the mind inevitably returns – not least because of the verbal echoes – to Guðrún in her splendid but barren isolation. It cannot be anachronistic, then, to see the poem as conveying  







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fiel Sörli an der Wand des Saales, | und Hamdir sank nieder am Hausende“ (Hm. 31).217 Sie sterben so verstreut wie die Hände und Füße des Mörders ihrer Schwester, welchen sie lebend, aber verstümmelt unter den Leichen seiner Leute zurücklassen. Dies geschieht auf Geheiß der Schicksalsmächte: „Disen reizten uns – | […] sie trieben uns zum Totschlag“ (Hm. 28).218 Die Rächerbrüder sterben wie ihre thematischen Vorgänger, Gunnar und Högni, voneinander separiert. Letzteren wird im Moment ihres Todes noch ein letztes Mal die Möglichkeit gegeben, ihre heroische Exorbitanz zu demonstrieren. Gunnar vollführt einen ganz besonderen Akt der Außergewöhnlichkeit, nämlich das bis zur Episode seiner Tötung noch nicht mit ihm in Verbindung gebrachte Harfenspiel,219 das zum Einen so herausragend ist, dass sich die Balken biegen: „Eine Harfe griff Gunnar, er spielte mit den Fußsohlen-Zweigen; | er konnte sie so schlagen, dass die Frauen weinten; | die Männer klagten, als sie ihn spielen hörten; | der Reichen gab er Botschaft, dass Balken brachen“ (Am. 66 [63])220 und zum Anderen sogar textübergreifend in den fingierten Liederkanon der Heldenwelt im Nornagests þáttr aufgenommen wird, als dieser den „Gunnarsslag“221 (Norn 348)222 spielt, um König Olafs Höflinge zu unterhalten. Die Atlakviða berichtet von Gunnars Harfenspiel: „da spielte Gunnar allein, | voll Grimm, mit der Hand die Harfe. | Die Saiten erklangen; so soll Gold | ein kühner Ringspender gegen die Männer verteidigen“ (Akv. 31).223 Mit seinem Spiel signalisiert Gunnar seine ‚detached‘-heit; dass ihn die Todesfolter durch die Schlangen nicht kümmert. Der Eddakommentar beschreibt Gunnars Akt der Unberührtheit vom Tod als seine „Aristie“.224 Das Harfenspiel sei „eine heroische Geste, die von seiner Todesverachtung zeugt sowie von seiner Unbeugsamkeit […]. Sein Harfenspiel ist somit ein gegen Atli gerichteter Spott. Gunnars Verhalten wird explizit als vorbildlich bezeichnet“.225 Es ist eine Grundbotschaft der Atlakviða, exemplarisches  



a sense that the ethic of vengeance for kin is limited and even self-destructive.“ Die in 6.2.5 beschriebenen Züge einer Antiheldensage finden sich ebenso im Sterben Hamdirs und Sörlis. 217 „Þar fell Sǫrli at salar gafli, | enn Hamðir hné at húsbaki.“ 218 „hvǫttomc at dísir – | […] gorðomz at vígi“. 219 Ulrike Sprenger fragt, ob die Harfe nicht auf Einflüsse ritterlich-höfischer Dichtung hinweise (vgl. Sprenger 1992, S. 109). 220 „Hǫrpo tóc Gunnarr, hrœrði ilqvistom; | slá hann svá kunni, at snótir gréto, | klucco þeir karlar, er kunno gørst heyra; | rícri ráð sagði, raptar sundr brusto.“ 221 Ein „poem[…] or tune[…] alluded to by name only“ (Harris/Hill 1989, S. 106 Anm.). 222 Vgl. Herrmann 1923, S. 202: „Gunnars Harfenschlag“. 223 „enn einn Gunnarr, | heiptmóðr, hǫrpo hendi kníði. | Glumðo strengir; svá scal gulli | frœcn hringdrifi við fira halda.“ 224 von See/La Farge et al. 2012, S. 328. 225 von See/La Farge et al. 2012, S. 328. Vgl. auch Schillinger 1962, S. 152: „Indem Gunnar im Wissen dessen stirbt, dass Atli seinen Willen nie erreichen wird, hat er die scheinbare Überlegenheit Atlis überwunden.“  













7.2 Heldentod

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Heldenverhalten aufzuzeigen.226 Gunnar verteidigt das Gold, wie es ein wahrer Fürst soll und „so soll der Kühne sich der Feinde erwehren, | wie Högni Gunnar wehrte“ (Akv. 19).227 Den Auszug überhaupt gebietet Gunnar in wahrer Helden- und Königsmanier, „sem konungr skyldi“ (Akv. 9). Das was den Helden ausmacht, wird bei seinem Untergang am deutlichsten. Seine Harfe spielt Gunnar voll Grimm. Das ist Ausdruck seines heldischen Innenlebens: Wer voll Grimm ist, der hat Anteil am heroischen Kräfteüberschuss. Das Harfenspiel ist ein Kraftakt, eine Zurschaustellung von Gunnars Heldentum. Es lässt Menschen weinen und Balken brechen. Diese Exorbitanz wird auch in der Völsunga saga hervorgehoben, in der das Harfenspiel vor allem dem Zweck dient, die Schlangen abzuwehren. Dies gelingt nicht und doch wird Gunnar als größtmöglicher Held mit höchster Kunstfertigkeit inszeniert:  



Gunnar ward in einen Schlangenzwinger geworfen, darin waren viele Schlangen, seine Hände waren fest gefesselt. Gudrun sandte ihm eine Harfe; da zeigte er seine Kunst und handhabte die Harfe mit großem Geschick, indem er die Saiten mit den Zehen schlug, und spielte so schön und trefflich, daß wenige meinten, so gut die Harfe mit den Händen schlagen gehört zu haben. Und so lange übte er diese Kunst, bis alle Schlangen einschliefen – nur eine Natter nicht, groß und scheußlich anzuschauen; die kroch zu ihm heran und grub sich mit ihrem Maule ein, bis sie sein Herz traf: so ließ er sein Leben mit großem Heldenmut (Vs 39).228  

Und zuletzt Högni: Dieser gibt sich gegenüber seiner Tötung vollkommen gelassen und gleichgültig. Die Völsunga saga berichtet: Atli sprach: ‚Schrecklich ist es, wie viele Männer durch ihn haben ihr Leben lassen müssen! Darum schneidet ihm das Herz aus – das sei sein Tod!‘ Högni sprach: ‚Tu, wie dir beliebt: freudig will ich das erwarten, das ihr beginnen wollt – du wirst sehen, daß mein Herz keine Furcht kennt. Wohl hab ich viel Hartes schon vorher erfahren und habe Proben der Standhaftigkeit gern bestanden, so lange ich unverwundet war; jetzt aber bin ich schwer verwundet, und du hast über unsern Streit allein zu entscheiden‘ (Vs 39).229  



226 Vgl. Clark 2012, S. 27: „There is a sense that Gunnarr and Hǫgni are doing what is fitting“ und zwar im Sinne eines „glorious heroic spirit“ (Clark 2012, S. 27). 227 „svá scal frœcn fiándom veriaz, | sem Hǫgni varði hendr Gunnars.“ 228 „Nu er Gunnar konungr setr i einn ormgard, þar voru margir ormar fyrir, ok voru (hendr) hans fast bundnar. Gudrun sende honum haurpu ei(na, enn) hann synde sina list ek [sic] slo haurpuna med mikilli list, at hann drap streingina med tanum, ok lek sva vel ok afbragdligha, at fairr þottuzt heyrt hafa sva med haundum slegit, ok þar til lek hann þessa iþrott, at allir sofnudu ormarnir, nęma ęin nadra mikil ok illiligh skreid til hans ok grof inn sinum rana, þar til er hun hio hans hiarta, ok þar leth hann sitt lif med mikilli hreyste.“ 229 „Atle konungr męllti: ‚Mikil furda er þat, hve margr madr her hefir farit fyrir honum. Nu skere or honum hiartad, ok se þat hans bane.‘ Haugni męllti: ‚Giori, sem þer likar. Gladligha mun ek her bida þess, er þer vilit at giora, ok þat muntu skilia, at eigi er hiarta mitt hrętt, ok reynt hefi ek fyr harda hlute, ok var ek giarnn at þola mannraun, þa er ek var usár. Enn nu eru ver miok sarir, ok mantu einn rada vorum skiptum.‘“  



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7. Untergang

Für den Helden ist der Tod nicht das Übelste, was ihm widerfahren kann: „ich litt früher Schlimmres“ (Am. 60 [57]),230 lassen die Atlamál Högni sagen. Um den Gjukungen als noch gewaltiger zu inszenieren, bedienen sich die Erzählungen des Mittels der Kontrastierung: Es wird in Form des Dieners Hjalli ein Statist herangezogen, um eine Vergleichsgröße für Högni zu erschaffen: Da sprach ein Ratgeber König Atlis: ‚Ich weiß einen bessern Rat: nehmen wir lieber den Knecht Hjalli und lassen Högni am Leben. Dieser Knecht ist nichts besseres wert als zu sterben – so lange er lebt, ist er elend.‘ Der Knecht hörte es, schrie laut auf und entsprang dahin, wo er sich Schutz erhoffte; er rief, Übles falle ihm zu von ihrer Feindschaft, er müsse ihres Unheils entgelten; ein Unglückstag wäre es, wenn er von seinem guten Essen fortsterben müsse und von den Schweinen, die er zu hüten habe. Sie ergriffen ihn und zückten das Messer gegen ihn: er schrie laut auf, ehe er noch die Spitze fühlte (Vs 39).231  

Es wird das exakte Gegenmodell gezeichnet zum Helden. Vor diesem Hintergrund wirkt die Figur des Högni noch übermenschlicher. Hjalli ist keiner, der sagt, der Tod sei ihm vergönnt, sondern er will nur zurück zu seinen Annehmlichkeiten. Er verfügt nicht über heldische Leidefähigkeit, sondern er beginnt schon zu schreien, bevor es überhaupt richtig losgeht.232 Darauf heißt es: „Da sprach Högni, wie recht wenige pflegen, wenn sie Mannhaftigkeit zu bewähren haben, er bäte um das Leben des Knechtes; er erklärte, er könne das Geschrei nicht anhören und meinte, es wäre ihm leichter, selber dieses Spiel zu bestehen“ (Vs 39).233 Hier Selbstlosigkeit zu sehen würde nicht zur Textgattung passen.234 Vielmehr geht es hier um einen Männervergleich: nicht nur kann Högni zu Lebzeiten größere Heldentaten vollbringen als andere, er kann auch auf würdigere Weise sterben. Ein grausames Spiel treiben Atlis Schergen da, aber im Gegensatz zum Knecht, kann Högni es bestehen.235

230 „reynt hefi ec fyrr brattara“. 231 „Þa męllti radgiafe Atla konungs: ‚Se ek betra rad. Taukum helldr þrelinn Hialla, enn fordum Haugna. Þrell þesse er skapdaude. Hann lifir eigi sva leinge, at hann se eigi daligr.‘ Þręllinn heyrir ok ępir hátt ok hleypr undan, hvert er honum þickir skiols van. Kvęzt illt hliota af ufride þeirra ok vass at giallda. Kvędr þann dagh illann vera, er hann skal deyja fra sinum godum kostum ok svina geymzlu. Þeir þrifu hann ok brugdu at honum knife. Hann ępti hátt, adr hann kendi oddsins.“ 232 Vgl. Will 1934, S. 46: „Der Prototyp des Feiglings ist der Sklave Hialli, Atlis Koch. […] Hialli ist sogar so feige, daß noch sein herausgeschnittenes Herz zittert.“ 233 „Þa męllti Haugni, sem fęrum er titt, þa er i mannraun koma, (at) hann arnaþe þręlinum lifs, ok kvezt eigi vilia skręktun (heyra), kvad ser minna fyrir at fremia þenna leik.“ 234 Vgl. Schillinger 1962, S. 164: „Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Absicht bestimmend war, die furchtlose Todesbereitschaft Hǫgnis noch einmal mit höchster Eindringlichkeit darzustellen.“ 235 Vgl. Andersson 1983, S. 250: „The sparing of Hialli […] allows Hǫgni to make a dramatic display of courage by offering himself in Hialli’s stead.“ Vgl. Miller 2000, S. 328: „a hero may escape by forcing his own execution, knowing full well, one would suspect, that in the game of heroic honor the executioner, who kills a disarmed warrior, will ultimately be dishonored by the deed. Thus we seem to see that the hero has, once again, ‚won‘ out even in death.“  







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Im Tode wird das dann sichtbar. Die Atlakviða berichtet in Form eines Parallelismus, wie Gunnar beide herausgeschnittenen Herzen, das von Hjalli und Högni, gebracht werden, was er jeweils kommentiert: Da sprach Gunnar, der Herr der Männer: | ‚Hier hab ich das Herz Hjallis des Feigen, | ungleich dem Herzen Högnis des Kühnen, | es zittert sehr, da’s auf der Schüssel liegt; zitterte doppelt so viel, als es in der Brust lag.‘ [und als er dann das Herz seines Bruders sieht] ‚Hier hab ich das Herz Högnis des Kühnen, | ungleich dem Herzen Hjallis des Feigen, | es zittert wenig, da’s auf der Schüssel liegt; | zitterte noch weniger, als es in der Brust lag (Akv. 23–25).236  

Das impliziert, dass der Held Högni – selbst im Moment des Todes – sein Herz in der Brust ruhiger zu halten vermochte, als nun der Mörder in der Schüssel. „Heiter werd ich’s erwarten“ (Am. 60 [57]),237 sagt Högni zu Atli, bevor ihm das Herz herausgeschnitten wird. Was für den Knecht Hjalli Krise ist, ist für Högni heroischer Alltag. Durch sein Handeln macht der Held dem Tod den Hof. Die heroische Geisteshaltung Högnis findet ihren Höhepunkt, als er lachend stirbt: „Da gingen sie auf König Atlis Befehl zu Högni und schnitten ihm das Herz aus. Und so groß war sein Heldenmut, daß er lachte, während er diese Qual aushielt: alle bewunderten seine Standhaftigkeit, und das Andenken hat sich seitdem erhalten“ (Vs 39).238 Zum Tod der Gjukungen sagen die Atlamál: „Dann starben die Trefflichen, […] | sie ließen bis zuletzt ihre Tugend leben“ (Am. 67 [64]).239 Im Fokus der Erzählungen um das Sterben Gunnars und Högnis steht das Schillern der Helden in ihrem letzten Moment. Beide werden als herausragender als alle anderen inszeniert; das ist Gunnar, der mit den Füßen besser spielt als Gewöhnliche mit den Händen, und Högni, dessen Herz im Angesicht des Todes weniger zittert als die Hände dessen, der es dann später auf der Schale trägt. Vor dem Hintergrund der restlichen Heldensagenstatisten werden Gunnar und Högni gerade im Moment ihres Todes zu Giganten gemacht.240  



236 „Þá qvað Gunnarr, gumna dróttinn: | ‚Hér hefi ec hiarta Hialla ins blauða, | ólíct hiarta Hǫgna ins frœcna, | er mioc bifaz, er á bióði liggr; | bifðiz hálfo meirr, er í briósti lá.‘ […] ‚Hér hefi ec hiarta Hǫgna ins frœcna, | ólíct hiarta Hialla ins blauða, | er lítt bifaz, er á bióði liggr, | bifðiz svági mioc, þá er í briósti lá.“ 237 „glaðr munc þess bíða“. 238 „Nu gengu þeir eptir eggiun Atla konungs at Haugna ok skaru or honum hiartad. Ok sva var mikill þrottr hans, at hann hló, medan hann beid þessa kaul, ok allir undruduzt þrek hans, ok þat er siþan at minnum haft.“ 239 „Dó þá dýrir, […] | léto þeir á lesti lifa íþrótta.“ 240 Vgl. Grimstad 2000, S. 38: „Inasmuch as the way in which a hero confronted death was viewed as the ultimate test of his honor and posthumous reputation in Old Norse literary texts, Gunnar and Hogni can be said to have performed well and have brought their quest for fame to a successful conclusion.“  

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7. Untergang

7.2.5 Heroisches Happy End Beim Tod der Gjukungen steht der „Heldenmut“ (Vs 39),241 die ‚hreysti‘ im Vordergrund und die Exorbitanz, die sie im Moment ihres Sterbens im Vergleich mit geringeren Männern zu beweisen Gelegenheit haben. Sie sterben in Feindeshand, überwältigt durch eine Überzahl. Dass aber ihr herausstechendes Heroentum durch diese Niederlage nicht gebrochen ist, beweisen Gunnar und Högni bei ihrer Tötung, da beide ihre heroische Potenz im Moment ihres Todes nochmals spektakulär zur Schau stellen.242 Bei den Völsungen hingegen steht das unausweichliche Schicksal im Vordergrund, dem man nicht nur nicht entgehen kann, sondern dem zu einem Zeitpunkt, will man seinem Heldenstatus gerecht werden, sogar nachgeholfen werden muss. Die Völsungen sterben keinen Freitod, aber sie sterben freiwillig. Sie wissen, wann ihre Zeit zu sterben gekommen ist. So werden im Sterben der Figuren unterschiedliche Aspekte des heroischen Seins ausformuliert, die gerade durch die Art ihres Scheidens sichtbar werden. Die Geschichte des Protagonisten der Heldensage endet mit seinem Tod. Das ist das Gesetz der Gattung. Die unverschriftete Form unserer Heldenlieder war Gefolgschaftsdichtung, die mit ihrer todesnahen Kompromisslosigkeit den Kriegeradel auf seinen Fürsten und das Kollektiv eingeschworen hat.243 Der höfische Roman kennt als Ende das Happy End. Seine Figuren überleben in Ansehen und versöhnt. Nicht so in der Heldensage. Das einzig Positive, was die Protagonisten am Ende der Erzählung erwartet, ist entweder, dass ihr Ruhm sie lange überlebt oder dass sie ihr Leben möglichst teuer verkauft haben.244 Die ultimative übermenschliche Überlegenheit wird dem Helden dadurch verliehen, dass er seinen eigenen Tod zulässt.245 Er erlaubt es

241 „hreyste“. 242 Vgl. Sprenger 1992, S. 268: „Der heidnische heldische Mensch […] reagiert im Falle der eigenen, nicht zu verhindernden Vernichtung wie in Akv. mit Trotz und Entschlossenheit. Er erträgt den gegen ihn geführten Schlag nicht nur ohne zu klagen, er gestaltet ihn sogar zum Triumph“. 243 So spricht Hilkert Weddige von einer in der Heldendichtung propagierten „Verhaltensmechanik, die in einer Kriegerethik verwurzelt ist, für die sich êre erst im Angesicht des Todes recht eigentlich bewährt“ (Weddige 2008, S. 234). 244 Vgl. Haug 1989 [1980], S. 313 f.: „Jeder Sieg ist in bestimmter Hinsicht auch eine Niederlage. Um zu siegen, muß man dem Gegner gewachsen sein; das bedeutet, daß man sich ihm gewissermaßen angleichen muß, um ihn überwinden zu können [Siehe 4.2.2]. Deshalb die Notwendigkeit für den heroischen Drachenkämpfer, sich nach der Tötung des Untiers zu entsühnen. […] Umgekehrt besteht die Möglichkeit, daß man sich gerade dadurch bewahrt, daß man unterliegt: der geistige Sieg Gunnars über seinen Gegner in der Schlangengrube – diese Szene des Alten Atliliedes ist nicht zufällig zur ikonographischen Chiffre geworden. Das Strukturmuster, das hier überall durchscheint, hat eine anthropologische Basis: jedes Hinaustreten aus sich selbst, jedes Zugehen auf das Fremde und dessen Anverwandlung ist zugleich Gewinn und Verlust, zugleich Selbsterweiterung und Selbstentfremdung.“ 245 Mit sehr viel Hingabe formuliert hierzu Otto Höfler: „Diese Triumphgesänge auf die Freiheit des Menschen und auf seine Unbeugbarkeit suchen vor allem die Schicksale auf, wo dem Menschen kein Ausweg gelassen wird – außer dem einen, daß er sich selber untreu werde. Diese Freiheit wäre jedem  











7.2 Heldentod

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ihm zu ihm zu kommen. Die letzte Entscheidung über sein Schicksal liegt in der Hand des Helden und das ist es, was seinen Tod letztlich absolut spektakulär macht, mehr als es jeder Effekt und jede Actionszene könnte. Das ist das Happy End der Heldensage. Ob der Held nun aus leichtsinniger Selbstüberschätzung stirbt246 oder weil es das Schicksal gebietet? Stirbt er für oder wider das Kollektiv? Für einen „destruktive[n] Ehrbegriff“?247 „In the Nibelungenlied Siegfried dies for no good reason at all“,248 sagt Theodore Andersson und meint damit, dass die Gründe für sein Sterben im Epos allesamt extrinsisch und nur im Gesetz der Gattung zu finden sind. Intrinsisch ist sein Tod untermotiviert. Der Untergangsdrang der Helden ist der der Erzählung, derer sie Teil sind. Dass sie ihre Helden sterben lässt, erwarten wir von der Heldendichtung. Letztendlich stirbt der Held für uns. Der Held stirbt für den Rezipienten.

Helden gegeben. […] Sie täten es, wenn sie es wollen dürften. Als die germanische Heldendichtung zu Ende geht, da tönt immer unverhohlener die Klage darüber, daß Schreckliches getan werden und der Held selber vollstrecken muss, was ihn vernichten wird. […] Das ist der Granit, der die Heldensage so urweltlich hart macht, selbst noch im Zerfall. Die Helden sagen Ja zum Schicksal und werden damit selber zum Schicksal. Nichts ist stärker, nichts härter als sie“ (Höfler 1961 [1941], S. 67). 246 Vgl. von See 1971, S. 170 ff. 247 Teichert 2014, S. 167. 248 Andersson 1978, S. 38.  









8. Schlussbemerkung Ich ziehe nun ausgängig von den vorangegangenen Beobachtungen einige Schlüsse über die Weltzeichnung des völsungischen Erzählkosmos, über die Spielregeln der völsungischen Welt, wenn man so will. Ich habe zunächst angesprochen, dass wir es mit einem von unserer modernen Vorstellung abweichenden Heldenbegriff zu tun haben und dass für den Protagonisten der Heldendichtung das – zugegeben tautologische – Adjektiv ‚heldenhaft‘ auf Grund seiner Interferenz mit der modernen Semantisierung des Wortes unzutreffend ist. Geeigneter scheint der Begriff ‚heroisch‘. Heroisches Verhalten ist exorbitant, was sich allerdings weniger im physischen Vermögen der Figuren äußert als in ihrem Denken und ihrer Moralvorstellung. Der Fokus heldischen Erzählens liegt viel weniger auf den Superkräften der Helden als auf ihrer Geisteshaltung.1 Letztere wird dominiert von starrer Kompromisslosigkeit, die das eherne Ehrgefühl des Helden ausmacht. Dennoch erhält der Held zumeist seine Motivation von außen. Seine Vernichung wird von externen Faktoren eingeleitet. Dabei wird die Zwanghaftigkeit seiner Taten zum Handlungselement der Heldendichtung. Der Held kommt seiner eigenen Natur nicht aus. Die Ethik der Heldendichtung richtet sich dabei allerdings nicht auf eine Dichotomie der Kategorien ‚gut‘ oder ‚böse‘ aus, sondern beschreibt die herausragenden Taten außergewöhnlicher Menschen, die für sich wertfrei stehen. Sie werden nicht auf Grund einer Extremposition in Hinsicht auf ein moralisches Spektrum hervorgehoben, sondern nur wegen ihrer Gewaltigkeit.2 Das Verhältnis zwischen Held und Gesellschaft ist bestenfalls paradox.3 Er repräsentiert die Gesellschaft, doch ist diese keine repräsentative Gesellschaft. Sie ist in sich nicht funktional und folgt selbst den Regeln einer heroischen Welt. Die Gesellschaft wird dadurch stabilisiert, indem sie jederzeit bereit ist, sich selbst aufzulösen. Der Held stirbt nicht, damit andere leben können. Sein Kollektiv geht mit ihm unter und sein Tod ist in nahezu jedem Falle bis zu einem gewissen Grad ein Freitod. Rerir ‚besucht Odin‘, Völsung geht in die aussichtslose Schlacht, wie auch Hamdir und Sörli, Sigmund lässt Sinfjötlis und seinen eigenen Tod einfach geschehen, Sigurd den seinen auch. Gunnar und Högni schlagen alle Vorzeichen und besseres Wissen in den Wind und sterben in der Hand ihres Feindes. Signy und Brynhild geben sich selbst den Tod durch Flammen und Schwert und so auch Gudrun, der es zunächst versagt ist, sich zu ertränken, was dann aber auf dem Scheiterhaufen der Guðrunarhvöt korrigiert wird. So müsste man eigentlich das Handeln des Helden als asozial bewerten, doch finden wir den Helden niemals in einem für uns funktionalen sozialen System vor. Stattdesssen existiert in der Heldendichtung eine Gesellschaft, in welcher der Held tatsächlich ideal und nützlich sein kann. Nicht, weil er der Gesellschaft dient,  



1 Vgl. Wahl Armstrong 1979, S. 13: „Heroische Bewährung ist […] nicht lediglich kämpferische Bravour, sondern vor allem auch moralische Leistung, Charakterstärke.“ 2 Vgl. Deichl 2016, S. 215–216. 3 Vgl. Miller 2000, S. 330–334.  





https://doi.org/10.1515/9783110649796-008

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8. Schlussbemerkung

sondern andersherum, weil sie auf ihn maßgeschneidert ist. Sie ist in ihren Bedürfnissen dahingehend ‚designed‘, dass sie sich eine heroische Figur als König und Heerführer wünscht. So kann Gunnar den Untergang befehlen, wie es ein wahrer Heldenkönig soll und Helgi kann auf seinen Fahrten andere Heerkönige grundlos töten, ohne jemals ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. Der Herrschaftskompetenz der Figuren tut das keinen Abbruch. Die Heldengesellschaft funtkioniert nur, weil sie ausschließlich aus Ausschnitten eines echten Gesellschaftsmodells besteht. Man dürfte jedoch die großen Heldenkönige der Vorzeit nicht nach ihrer Innenpolitik fragen. Problematisch wird Herrschaft dann, wenn heldische Tüchtigkeit und Herrschaftslegitimation auseinanderdriften. Kriegerische Unruhe ist der Normalzustand der heroischagonalen Welt, in der Gewaltexzesse nicht nur gebilligt, sondern auch gefördert werden.4 Demnach kann nur der herrschen, der sich konstant als der Stärkste bewährt, sei es im Kampf, auf der Jagd, beim Frauenerwerb oder bei Kraftproben. Eine Gesellschaft, die nicht gewährleisten kann, den herausragendsten Helden auch zum Herrscher zu machen, wird von der Heldendichtung als problematisch thematisiert. Neben der heroischen Erzählkategorie der altnordischen Heldendichtung existieren zwei weitere Diskursstränge, die mit dem Heroischen interagieren. Ich habe sie im vorliegenden Band als das Höfische und das Mythische bezeichnet. Die höfische Dichtung „mit ihrem metaphysischen Optimismus“5 – so Hugo Kuhn – sei ein Gegenprogramm zur Nibelungendichtung. Und auch in der skandinavischen Völsungensage ist die Versöhnungsbereitschaft des höfischen Diskurses antiprogrammatisch zur Untergangsorientiertheit der übergeordneten Handlung. Doch anders als im mittelhochdeutschen Epos ist nicht das Heroisch-Mythische das Ferne, wie wir es etwa in der Siegfriedvorgeschichte von Hagen im Nibelungenlied vorgestellt bekommen. In der skandinavischen Heldendichtung ist das Höfische der Fremdkörper. Wenn von Gefühlen, Liebe, Versöhnlichkeit und höfischen Tätigkeiten wie Falkenjagd und Brettspiel die Rede ist, dann betreten wir eine im Völsungenkosmos ansonsten entrückte Welt. So geschehen in den Erzählungen der Völsungensage die Dinge in Milieus und in Sphären.6 Bewegen sich die Figuren in einem höfischen Milieu, so legen sie auch höfisches Verhalten an den Tag. Sie spielen, fühlen und trauern. Spielt sich die Handlung dagegen in einer mythischen Sphäre ab, so treffen sie anderweltliche Figuren, haben Zugang zu Zaubermitteln und betreiben Wissensaustausch im Rahmen von Spruchdichtung. Der Wechsel zwischen diesen Diskurssträngen geschieht nicht willkürlich und nicht nur auf oberflächlicher Ebene. Es geht nicht nur darum, dass My 



4 Vgl. Müller 1998, S. 393: „Feudale […] Epik ist durchweg vom Prinzip des Agonalen bestimmt“. 5 Kuhn 1959, S. 187. 6 Vgl. für die Vorzeitsagas Lönnroth 2003, S. 39: „Frågan är då om det överhuvudtaget är möjligt att entydigt bestämma den enskilda sagatextens genrekaraktär. Kanske får man i stället läsa den som en mångskiftande och motsägelsefull diskurs där flera genre satt sina spår och stilambitionen växlar från kapitel till kapitel allt efter vad som avhandlas: hjältedåd eller erotik, holmgång eller bröllop, livet på bondgården eller livet i kungaborgen.“  





8. Schlussbemerkung

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thenfiguren auftreten und ‚Rittervokabular‘ verwendet wird. Stattdessen haben die Nennungen dieser Höfisierungs- und Mythisierungsindikatoren eine narrative Funktion. Sie verändern die Atmosphäre und die innere Handlungslogik der Texte in profunder Weise. Unter der „Das Verspielen der höfischen Alternative“7 genannten Idee subsumiert Jan-Dirk Müller für das Nibelungenlied die Ablöse des höfischen Comments durch den heroischen Vernichtungsrausch.8 Es werde „ein kulturelles Raffinement totgeschlagen, das sich immer deutlicher als Widerpart ungestörten Rasens der Helden erweist.“9 Reglementierte Verhältnisse münden im Verlauf des Epos in unkontrollierten Auseinandersetzungen. Gespielter Kampf wird zu ernstem Konflikt. „Am radikalsten [betreffe] die Ambiguisierung die höfische Ordnung, wie sie zu Beginn aufgebaut wurde und am Ende in Trümmern liegt.“10 An anderer Stelle bemerkt Müller: Die höfischen Ritter werden zu einer mit berserkerhafter Wut kämpfenden Rotte. […] Der Blutrausch breitet sich aus wie eine Epidemie, die auch diejenigen schließlich ergreift, die sich vom Ansteckungsherd fernhalten wollten. Mit ‚Ansteckung‘ ist die Irrationalität des Geschehens benannt, zu dem immer wieder Alternativen möglich scheinen und das doch gnadenlos bis zum blutigen Ende abläuft.11

Auf die Protagonisten der Heldendichtung wirkt eine Kraft ein, ein heroischer Sog, der sie in den Abgrund der Selbstzerstörung reißt. Armin Schulz spricht außerdem von einer ‚abgewiesenen Alternative‘ als Erzählprinzip der Heldenepik. Heroisches Erzählen erzählt auf das Ende zu, es ist ‚von hinten motiviert‘ und dem Rezipienten ist der einzig mögliche Ausgang der Handlung zu jedem Zeitpunkt bewusst.12 Wenn nun aber andere Lösungswege, die etwa nicht in Tragik und Auslöschung enden, über die Handlung hinweg angeboten, dann aber von der Erzählung ausgeschlagen und damit zu blinden oder stumpfen Motiven werden, betont dies umso mehr die Unausweichlichkeit des Heldenfatums.13 Die Funktion der höfischen Erzählelemente der Völsungensage ist, eine Alternative zum tödlichen Handlungsausgang aufzuzeigen, die dann aber bewusst nicht gewählt wird. Das Handeln der Figuren der Heldensage ist starr. Ich habe dazu Begriffe wie ‚Maschinenmensch‘ oder ‚automatenhaft‘ gebraucht. Was aber nicht starr ist, ist die Art und Weise, wie die Texte mit ihren Inhalten umgehen. Sie scheinen sich der Formel, die sie letztlich zwar auf die Handlung anwenden müssen, zwar wohl bewusst zu sein, lassen sich aber immer noch ein wenig Zeit und Spielraum, um mögliche Alternativen durch-

7 Müller 1998, S. 389. 8 Vgl. Müller 1998, S. 389–434. 9 Müller 1998, S. 423. 10 Müller 1998, S. 389. 11 Müller 2009, S. 162 f. 12 Vgl. Schulz 2015, S. 351. 13 Vgl. Schulz 2015, S. 350–359.  











   

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8. Schlussbemerkung

zugehen.14 Bevor Völsung auf dem Schlachtfeld den Tod findet, hat er genügend Gelegenheiten seinem Ende zu entgehen. Doch er missachtet die Einwände seiner Tochter bezüglich ihrer Ehe mit Siggeir und verwirft ihre Warnungen vor dem Verrat. Der Text will dem Rezipienten deutlich zeigen, dass Völsungs Situation eigentlich nicht ausweglos gewesen wäre. So verhält es sich auch mit den Toden Sinfjötlis und Sigurds. Weiterhin argumentieren Hamdir und Sörli gegen ihre Mutter, ja zeigen zunächst soviel Passivität, dass es überhaupt erst zu Gudruns hvǫt kommen muss. Doch obwohl die Brüder am Anfang ihrer Episoden eine andere Grundhaltung gezeigt haben, werden sie doch vom vernichtenden Strudel des Heroischen erfasst. Sie werden ‚on the fly‘ selbst zu Helden und verfallen in dieselben Starremuster ihrer Vorgänger, was zu ihrem Tode führt. An anderer Stelle schlägt Sigurd Brynhild die Versöhnung und das gemeinsame Durchbrennen vor, bevor sich die beiden bewusst werden, dass ihre Geschichte nur in Blut und Flammen enden kann. Erst nachdem die Texte ein versöhnliches Gegenmodell zumindest ‚angeteasert‘ haben, starten sie das heroische Programm und lassen die Figuren sich nach dem heldischen Erzählmuster verhalten. Wenn die Erzählung Sigurd an den Heimirhof führt, betritt der Held dort eine höfische Enklave, deren heile Welt untypisch für den Rest der völsungischen Erzählwelt ist. Die Saga operiert dort nach anderen Regeln und wenn die Erzählung um Sigurd hier enden könnte, so würde uns ein klassisches Happy End vorliegen. Doch das ist nicht der Fall. Das Zusammensein mit Brynhild im Frauengemach und die Freundschaft mit dem höfischen Alsvinn sind nur Teil eines vorübergehenden Zustandes, ein kurzfristiges Verweilen auf einer Insel der Harmonie im Ozean des Untergangs. Dem Rezipienten wird nur kurz gezeigt, wie es hätte sein können, wenn dies keine heroische Erzählung wäre. An anderer Stelle werden höfische Ideale pervertiert, vornehmlich im Rahmen von Hallenkämpfen. Der durch das Miteinander in der Fürstenhalle repräsentierte ordo wird durch die Gewaltausbrüche demonstrativ dekonstruiert. Höfisches Zeremoniell wird karikiert, wenn die Feinde in der Halle zum Schein als Freunde begrüßt werden. Wenn Becher umfallen und zerbrechen, Menschen und Körperteile im Feuer landen, Kinder ihren Vätern tot vor die Füße geworfen oder unwissentlich von ihnen verspeist werden, zeigt die Erzählung auf, dass es keinen Ausweg mehr gibt, keinen Rückzugsort, an dem die Heldenwelt noch in Ordnung ist. Die Halle wird brennen und mit ihr die Krieger und die Könige, die Kinder und die Frauen. Jegliche Alternative ist verspielt.

14 Diese Struktur spricht auch Manuel Aguirre für die Völsunga saga an: „The saga will not just tell of the making of the sword Gram but will present this as the reversal of earlier unsuccesful attempts. Sinfjotli’s passing of his tests is enhanced by previous tests which his half-brothers failed, while the moment of his death appears in tragic contrast to two similar moments when his father was able to help him out. The text not only gives the two alternatives open to the plot but insists on presenting the one in contrast to the other. The instability created by this practice makes an event almost the logical outcome of its contrary“ (Aguirre 2002, S. 19).  

8. Schlussbemerkung

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An manchen Stellen beginnen die Figuren plötzlich eine Gefühlswelt zu entwickeln, wodurch der Anschein erweckt wird, dass sie die erlittenen Verluste viel deutlicher spüren als das in den übrigen Liedern und Textpassagen der Fall ist, da die Anwendung von Gegengewalt einzige Ausdrucksform für zugefügtes Leid ist. Die Figuren beginnen als Reaktion auf das Geschehene zu trauern. Wenn sie dann Gefühlsäußerungen von sich geben, wirkt das zunächst so, als würden sie ‚out of character‘ sprechen, etwa wenn Sigurd von Liebe spricht oder Sigmund seinen toten Sohn betrauert, wenn Gudrun elegisch ihr Leid beklagt oder Hamdir und Sörli rational gegen ihre zur Rache aufrufende Mutter argumentieren. Da sie aber letzten Endes doch Figuren und Rollen bleiben, müssen sie ihre heroische Funktion erfüllen. Das höfische Kolorit kann die völsungische Welt nicht vor dem heroischen Untergang bewahren. Höfische Erzählungen sind daraufhin orientiert einen Status quo aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Ihr Anfang und ihr Ende sind statische Zustände, die sich entweder verbessert haben, zumindest aber gleichgeblieben sind. Die heroische Erzählung ist dagegen bewegt. Jeder Versuch Störungen zu korrigieren zieht immer nur noch mehr Konflikte mit sich. So etwa die Rache, die in ihrer Natur immer eine Gegenrache auf sich folgen lassen muss. Die heroische Bewegung – anders als die höfische Statik – schaukelt die zwischenmenschlichen Zustände der völsungischen Welt irgendwann so auf, dass die Handlung ausschließlich in der Eskalation münden kann. Höfisches Erzählen ist status quo-orientiert, heroisches dagegen untergangsorientiert. Die hier besprochenen Texte stellen Kontrastmodelle gegenüber, die vertikal oder horizontal zu bewerten sind. Der Sklave und Koch Hjalli ist als Vergleichsgröße zu Högni konzipiert sowie Siggeir und seine Söhne zur Völsungensippe. Sigurd stellt Gunnar in den Schatten und viel mehr noch Atli, den Gudrun im Rahmen ihres eigenen Heldenbekenntisses mit ihrem verstorbenen Ehemann vergleicht (vgl. Am. 97– 101). Diese Gegensatzpaare sind vertikal angeordnet, wodurch das überragende Heldentum des überlegenen Parts veranschaulicht wird. Högni kann heroisch sterben wie kein Zweiter und die Völsungen, allen voran Sigurd, sind die größten Helden, die die Textwelt je hervorbringen wird. Bisweilen werden aber auch Vergleichsmodelle horizontal nebeneinandergestellt, zum Beispiel die Figuren Sigi, Rerir und Völsung in der völsungischen Vorgeschichte. Der Text behandelt drei unterschiedliche Vorzeitkönige, die durch mythische Einwirkung mit Fruchtbarkeit ausgestattet werden, dann aber durch Krankheit und Verrat ihr Ende finden. Ebenso spielt der Verfasser der Saga, wenn er die Rachefabel um Signy und später um Gudrun erzählt, sein Thema um weibliche Verwandtenrache und Kindesmord in unterschiedlichen Varianten.15 Beim letzten Kampf der Gjukungenbrüder und dem der Gudrunssöhne handelt es sich um  



15 Für die Völsunga saga spricht Torfi Tulinius von einer „double dialectic“ (Torfi Tulinius 2002, S. 144) im Vergleich der Vorgeschichte mit der Gjukungenepisode. Vgl. Torfi Tulinius 2002, S. 144: „The story of Sigmundr und Signý would then be a commentary on the story of Sigurðr and the Gjúkungs, a sort of prelude whose function is to underscore and point up a certain thematic structure intrinsic to the second story, in order to direct the reader’s interpretation.“  



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8. Schlussbemerkung

Abwandlungen derselben Melodie. Die Epitomie heroisch horizontaler Gegenmodelle stellen die Figuren Sinfjötli und Sigurd dar. Beide sind in ihrer jeweiligen Erzählung der Inbegriff heldischen Daseins. Doch sind der Wolf und der Hirsch, wenn man sich auf diese Metapher einlässt, ganz anders geartete Tiere. Sinfjötli repräsentiert völlig den Kontrast zur höfisierten Welt, in der sich Sigurd bewegt. Wir bekommen moralisch gleichwertig einen gefühllosen, sippenüberhöhenden Kindermörder und einen reflektierten, versöhnungsorientierten Wissenssucher vorgestellt, beide die größten Helden ihrer Zeit. Mit ihrem jeweiligen Erscheinen und Schwinden wandelt sich die Stimmung der Erzählung dahingehend, dass der Bruch im Stil regelrecht zu einem Genrewechsel führt. Dabei ist auch der Kontext der Episode entscheidend.16 Sinfjötli, auf dessen Erzählung die Sigurdgeschichte folgt, wird durch die höfischen Erzählmuster Letzterer nicht nur zu einer heroischen Gestalt, sondern zu einer überheroischen. Die unterschiedlichen Diskursstränge der Völsungensage bringen heroische Protagonisten hervor, die je nach Episode oder Lied höfisch oder mythisch gefärbt sein können. Gerade weil diese Figuren im selben Erzählkosmos existieren, für den aber in verschiedenen Textpassagen unterschiedliche Regeln gelten, erhalten sie im Vergleich miteinander individuelle Merkmalskomplexe. Wohingegen höfische Erzählelemente eine – wenn auch nicht eingeschlagene – Alternative zum üblen Ende der Heldendichtung aufzeigen, sind es die mythischen Aspekte, die den eingegebenen Untergangsdrang der Erzählungen noch verstärken. Das Mythische wirkt in der völsungischen Welt als Untergangskatalysator. Der Stammbaum der Völsungen wurzelt im Mythischen. Ihr Urahn ist Odin, der vor allem in der Völsunga saga modifizierend in das Geschick seiner Günstlingssippe eingreift. Hilfreich sind seine Einmischungen allerdings nur bedingt. In der Vorgeschichte des Geschlechtes kranken die Völsungen an fehlender Fruchtbarkeit, was durch Odin und andere Vertreter der mythischen Welt korrigiert werden kann. Die Völsungen werden mythisch aufgebaut. Später tritt Odin als Überbringer von Gaben und als Ratgeber auf, doch sind diese Hilfestellungen zumeist dahingehend prekär, dass sie selbst nur wieder noch größeres Unheil verursachen. Das von ihm gebrachte Siegesschwert destabilisiert das Verhältnis zum verschwägerten Siggeir, was die Sippe nur knapp der Auslöschung entgehen lässt. Grani ist zwar als Nachkomme des mythischen Sleipnirs das herausragendste Pferd, doch macht er es überhaupt erst möglich, Brynhild für den unpassenden Gunnar zu gewinnen und den verfluchten Schatzhort in die Heldenwelt zu überführen. Für den Fluch auf dem Hort sind die Götterfiguren Odin und Loki selbst verantwortlich, doch erhält Sigurd kein Wort der Warnung vor dem schädlichen Gold. Selbst die sprechenden Meisen animieren ihn dazu es an sich zu nehmen: „Schnür, Sigurd, die roten Ringe, | nicht königlich ist’s, vieles zu fürchten“ (Fm. 40).17  



16 Zum Rahmen als Teil des Kunstwerks beziehungsweise als eigenständiger Text vgl. Lotman 1993, S. 300–311. 17 „Bitt þú, Sigurðr, bauga rauða, | era konunglict qvíða mǫrgo“.  

8. Schlussbemerkung

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Nur Fafnir, der eigentlich als Sigurds Gegner und als bösartige und übelwollende Gestalt inszeniert wurde, rät dem Helden vom verwunschenen Schatz ab. Und dann die Passagen, wo Odin die Helden wirklich zu Fall bringt: Seinen einstigen Günstling Sigmund in der Schlacht und Hamdir und Sörli, indem er ihren Feinden in der Völsunga saga ihre Schwachstelle verrät. Die erotische Verbindung verschiedener Vertreter der Sippe mit den Walküren erweist sich auch auf lange Sicht als schädlich. Sowohl Helgi als auch Sigurd kommen durch die Nähe zu den Walkürenfiguren ums Leben. Wenn mythische Figuren auftreten, dann brechen Gewalt und Chaos in die Welt der Völsungen ein und die Handlung wird ihrem düsteren Ende zugelenkt.18 So verhält es sich auch mit den verschiedenen Zaubermitteln wie Gestaltwandel und Zaubertränke, die die problematischen zwischenmenschlichen Verwicklungen überhaupt erst möglich machen. Vom Mythischen wird das Völsungengeschlecht konstruiert und letztlich auch wieder demontiert. Mythische und heroische Motive finden sich im Aufbau der Völsungen: Auf der einen Seite ist das die mit ihnen verbundene Fruchtbarkeitssymbolik, die aber künstlich auf sie appliziert werden muss, auf der anderen ist es die Todesbejahung der Vertreter der Sippe, die ihrer eigenen Auslöschung Mal um Mal schicksalsergeben gegenüberstehen. Doch ist auch eines zu beobachten: Ganz gleich wie schädlich die mythischen Elemente für die Gesundheit des Helden sind, fährt der Held seine Erfolge doch im mythischen Bereich ein. Innerhalb der mythischen Sphäre ist der Held unbesiegbar. Es wird ihm nicht geschehen, dass er den Kampf gegen den Drachen verliert oder die Herausforderungen der Werwolfsepisode nicht besteht. Der Held erobert die Walküre. Doch wenn die Handlung diese mythische Sphäre verlässt und in ein menschliches Milieu hineinrückt, wird der Held auch mit menschlichen Konflikten konfrontiert und verliert dadurch seine Unantastbarkeit. Er wird verwundbar und stirbt dann zumeist durch Verrat. Nach all seinen Taten in der Welt der Mythen ist er nicht fähig, die Welt der Menschen zu überleben. Wohingegen der mythische Held das Mythische besiegt, stirbt der menschliche Held durch den Menschen. Die herausragendste Eigenschaft des Helden ist sein Fatalismus, den er bis zur Selbstzerstörung praktiziert. Allgegenwärtig in der Heldendichtung ist der drohende Untergang der Protagonisten. Der besiegte Held ist dabei allerdings ein Paradoxon:

18 Millet 2008, S. 308 f.: „Offensichtlich trägt die mythologische Nähe der Helden zu den Göttern nicht zu deren Heil bei, sondern im Gegenteil: Der Kontakt zur Walküre endet immer fatal, ob sie nun Brynhild oder Sigrdrifa heißt; auf Odins Hort lastet ein Fluch; der Gott selbst greift immer wieder in das tragische Schicksal der Nachkommen des Volsungengeschlechts ein. Die Zeit der Götter und Helden erweist sich als eine Zeit brutaler Mörder, kaltblütiger Verräter und gnadenloser Rächer. Wir stehen wieder vor einer Sicht der Heldenzeit als mythische Vorgeschichte: das Chaos vor dem Kosmos, die vom Bösen und von der Zerstörung beherrschte Zeit vor der Christianisierung. […] Die isländische Handschrift [der Liederedda] ist also nicht nur eine Sammlung alter Gedichte, sie beabsichtigt keineswegs bloß, die archaische Tradition zu konservieren, sondern sie präsentiert sie als den schauderhaften Bericht dessen, was zu jener mythischen, definitiv vergangenen Zeit geschah.“  



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8. Schlussbemerkung

Ein Held ist entweder siegreich oder aber tot. Im Gegenteil findet der Held sogar seinen Triumph im eigenen Ende. Damit vertritt die Figur des Helden ein Idealbild, das für bestimmte Epochen sicherlich funktional, nachahmenswert und praktikabel war. Für die Völkerwanderungszeit oder das jeweilige heroic age einer Kultur hatten die kompromisslose Schicksalsergebenheit und die Lebensverneinung der Heldenfiguren sicherlich Vorbildfunktion. Weiterhin wurde die Figur des Helden eben auf Grund dieser für die Ideologie des Nationalsozialismus attraktiven Eigenschaften im dritten Reich missbraucht. In der Heldendichtung des 13. Jahrhunderts steht der Held neben der literarischen Figur des Ritters, welcher einem Regelsystem zu gehorchen hat, das nicht nur seinem eigenen Ehrgefühl dient, sondern ihm von der Ritter- und Hofgesellschaft vorgegeben wird. Außer dem Gebot des Ehrerhaltes verfügt der Held über kein entsprechendes Normensystem. Dennoch ist der Held keine Negativfigur. Interpretationsversuche, die in der mittelalterlichen Heldendichtung didaktisch-pädagogische Tendenzen sehen, deuten heldisches Handeln im Rahmen von fehlender Klugheit, Vorbildlichkeit und Moral.19 Die Heldendichtung sei Heldenkritik: Wenn er zum Selbsterhalt handelt, dann würde der Held klug und richtig handeln, wenn nicht, dann sei sein Handeln dumm und falsch, er vermisse sapientia. Sei nicht so wie der Held, denn es liegt kein Ruhm im Heldentod, laute also die Botschaft der im Mittelalter rezipierten Heldensage. Doch wird meines Erachtens das heroische Ideal bei diesen Deutungen zu sehr außer Acht gelassen. Heroisches Denken ist kein Kosten-Nutzen-Denken. In der völsungischen Welt ist es nicht klug und richtig, zum eigenen Vorteil oder eher zum Selbsterhalt zu handeln. Der eigene Vorteil ist der Erhalt der Ehre und nicht der des Lebens. Deswegen ist im Rahmen des heroischen Wertesystems das ‚dumme‘ Handeln ganz oft das richtige Handeln. Heldische Taten sind keine Heldentaten. Sie sind exorbitant und deswegen bisweilen schrecklich. Doch auch wenn wir Heutige sie zum Teil negativ bewerten, behaupten die mittelalterlichen Texte doch ganz klar etwas anderes: Sie sind ‚frægðarverk‘ (vgl. Vs 8, Vs 28) – Ruhmestaten. Ich finde keinen Hinweis in den Texten, dass das ironisch zu verstehen sei. Der Ethikentwurf der Heldendichtung ist sicher auch für den Rezipienten des 13. Jahrhunderts gegenweltlich und entspricht nicht dessen Normvorstellungen. Er wurzelt in einer völkerwanderungszeitlichen Ethik, die in der  





19 Vgl. Classen 2003, S. 295–314. Vgl. Lange 2000, bes. S. 9: „Der Nutzen bestände dabei hauptsächlich in der ethischen oder moralischen Auslegung bzw. Funktion des Textes, der damit indirekt einen didaktischen/erzieherischen Zweck verfolgen würde, indem er vorbildliches (Tugenden) oder abschreckendes (Laster) Verhalten der Helden demonstrierte.“ Vgl. auch Lange 2006, S. 542–543. Vgl. Haimerl 1992, bes. S. 10: „Nicht die Verherrlichung strahlender Helden, sondern der Aufweis ihrer Verfehlungen, das Anprangern von Inordination, prägt die schriftlich fixierten eddischen Versionen. […] Neben der Relativierung des Helden stellen einige Lieder vorbildhaftes Heldentum vor. Es äußert sich im Versöhnungsdenken, in der Bereitschaft zur Buße und Besserung.“ Vgl. auch Haimerl 1992, S. 13: „Indem er auf Fehlverhalten hinweist, es mit Vorbildhaftigkeit kontrastiert und Lehrinhalte in Sentenzen zusammenfaßt, bekommt der Heldenliedteil in der überlieferten Fassung sogar lehrhafte Züge.“ Vgl. Haimerl 1993, S. 81–104 und zum Teil auch von See 1999 [1993](a), S. 166–181.  













8. Schlussbemerkung

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Welt der Völsungen allerdings noch vollkommen valide ist. Das Heroische ist prinzipiell zerstörerisch, doch gehe ich nicht davon aus, dass die Verfasser ihren Rezipienten vor diesem Verhalten warnen, ihm einen Spiegel vorhalten wollten und die Heldensage dahingehend didaktisch instrumentalisiert wurde. Vielmehr dürften die Heldenfiguren eine distanzierte Begeisterung ausgelöst haben, die dem modernen Rezipienten nicht fremd ist. John McKinnell findet in seiner Bewertung der Brynhildfigur der heroischen Elegie einen schönen Konsens, wenn er sie „impressive without being admirable“20 nennt. Will man so sein wie die Helden? Will man ihnen nacheifern? Würde man es genauso machen? Wahrscheinlich nicht. Aber dennoch sind es bewegende und erschütternde Figuren, die durch ihre unverrückbare Exorbitanz und die ungebrochene Düsternis ihrer Seelenwelt ihren Eindruck machen. Sie sind keine Superhelden oder Supermenschen, allerdings auch nicht ganz menschlich. Weder Menschen wie wir in unserer heutigen Welt, noch wie der Rezpient des 13. Jahrhunderts in seiner. Die Helden sind Menschen der Welt der Völsungen.  

20 McKinnell 2014, S. 266 Anm.  

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Ásm.







Am.







Br.







Dr. Eg. Fm. Fær. Gautr. Ghv.

























Gísl. Gr. Grm. Grp. Gylf. Gðr. I































Gðr. II







Gðr. III





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HHv.







Hkr. Hlr.









Hm.







Hrólf.







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Rm. Sd.













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Sg.







SnE Sskm Stu Vkv.















Vm. Vs













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Register Atlakviða in grœnlenzka 32, 44, 55, 62, 64, 77, 146, 163, 174, 177, 180, 182, 257–258, 279, 281, 287, 296, 298, 313, 319, 321, 323–324, 342–343, 366, 370, 383–385, 402–403, 405–406 Atlamál in grœnlenzku 45, 55, 70–71, 73, 142, 162–163, 168, 174–175, 185, 221, 260, 264, 270, 276, 280, 282, 284, 286, 296, 307–308, 325, 331, 338–339, 342–344, 347, 368, 380–385, 389, 402, 404–405, 413 Brot af Sigurðarkviðu 44, 69, 71, 175, 179, 297, 312, 314, 320, 322, 326, 331, 379, 398 Dráp Niflunga 146, 171, 174, 181–182, 270, 288, 332, 338 Fáfnismál 77, 124, 127, 142, 152, 157, 167, 178–180, 215–216, 233–235, 239–240, 249–250, 256, 289, 351, 353–354, 370–372, 375–376, 386–388, 414 Frá dauða Sinfjötla 42, 77, 144, 178, 196, 220, 251, 261, 263, 270, 288, 329, 334–336, 394 Grípisspá 70, 154–156, 160, 164, 223, 243, 255, 265–266, 270–271, 284, 289, 311, 318, 337, 341, 367, 372–374 Guðrúnarhvöt 27, 70–71, 195, 265, 270, 323, 326, 331, 345, 357–360, 376 Guðrúnarkviða in þriðja 99, 168–169, 270, 298, 328 Guðrúnarkviða in fyrsta 39, 146, 153, 174, 266–267, 314–315, 321–323, 332, 341, 345–346 Guðrúnarkviða önnur 170, 217, 270, 284, 297, 310, 314, 316–317, 320, 332, 339–341, 347, 374, 379–380 Hamðismál 27, 40, 77, 102, 140–142, 168, 267–268, 270–271, 281–282, 307, 326, 332, 345, 359–363, 371–372, 376, 402 Helgakviða Hjörvarðssonar 28, 98, 221 Helgakviða Hundingsbana in fyrri 29, 40, 54, 58, 70, 73, 96, 101, 118–119, 143, 150–151, 153, 156–157, 187, 194, 196, 207, 211, 222, 224, 231, 256, 259, 261, 263, 268–271, 288, 310, 334, 336, 370–371 Helgakviða Hundingsbana önnur 40, 70, 73, 97, 137, 143, 150–151, 156–157, 174, 217, 220, 259, 267, 269–270, 314, 323, 330–331, 341, 367, 369, 399

https://doi.org/10.1515/9783110649796-010

Helreið Brynhildar 97, 150, 153, 160, 163, 166 Oddrúnargrátr 45, 146, 160–161, 176–177, 184, 256–257, 270, 296, 329 Reginsmál 39, 47, 70, 96, 117, 120–122, 124–126, 167, 178, 185–186, 211–212, 239, 244–245, 269, 283, 333, 349–350, 353, 355, 369, 374 Sigrdrífumál 71, 152, 154–155, 157, 172–174, 218, 221, 242–244, 270, 386 Sigurðarkviða in scamma 39, 48, 70–71, 76, 98–99, 158, 183, 267, 270, 275–276, 286, 290, 294–295, 299, 311, 313, 325, 328–329, 333, 337, 339, 345, 368–369, 375 Völsunga saga cap. 1 38, 45–46, 78, 96–97, 105–106, 108, 110–112, 114–115, 149, 176, 184, 214, 259–260, 262, 268–269, 271, 302–303, 307, 334, 343, 347, 398 Völsunga saga cap. 2 24–25, 40, 43, 46, 99, 115, 130, 142, 176, 190, 259, 262, 267, 278, 398 Völsunga saga cap. 3 97, 113, 120, 128, 130–131, 157, 167–168, 202, 252, 259, 266, 283, 303, 308, 346 Völsunga saga cap. 4 29, 129, 131, 308, 372 Völsunga saga cap. 5 25, 29, 97, 100, 129, 142, 176, 184, 189, 213, 308–309, 391, 399 Völsunga saga cap. 6 78, 190, 198, 264, 278, 347 Völsunga saga cap. 7 25, 99, 108, 182, 191, 193, 198, 324 Völsunga saga cap. 8 29, 70, 78–79, 101, 118, 156, 186, 191–196, 199–202, 206–209, 220, 259, 264, 268, 270, 278–279, 289, 294, 338, 344, 346–349, 353, 370–371 Völsunga saga cap. 9 26, 54, 78, 101, 119, 132, 143, 151, 155–156, 187, 194, 222, 256, 262–263, 266, 270, 336, 399 Völsunga saga cap. 10 41, 77, 133, 135, 144, 196, 224, 251, 263, 270, 288, 295, 329, 335–336, 395–396 Völsunga saga cap. 11 100, 123, 135, 151, 177, 234, 245, 265, 270, 283, 289 Völsunga saga cap. 12 24, 136, 142, 183, 257, 264, 266, 270–271, 341, 375, 386, 396 Völsunga saga cap. 13 27, 41–42, 47, 96, 119–120, 125, 127, 167, 173, 210–211, 213–214, 219–220, 231, 243–244, 249, 257, 270, 355

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Register

Völsunga saga cap. 14 47, 69, 77, 102, 124–125, 181, 185–186, 206, 210, 212, 333, 350–351, 369 Völsunga saga cap. 15 27, 283, 317, 355 Völsunga saga cap. 16 355, 372 Völsunga saga cap. 17 26, 29, 64, 100, 102, 121, 213, 239, 244, 263–264, 269–270, 344, 356 Völsunga saga cap. 18 24–25, 27, 77, 100, 120, 123–124, 127, 142, 177, 213, 215, 219–220, 233–235, 239–240, 249–250, 289, 353, 371–372, 376, 386–387 Völsunga saga cap. 19 178–179, 228, 237–238, 241, 250, 329, 335, 353 Völsunga saga cap. 20 77, 154, 179, 231, 238, 241, 354, 388 Völsunga saga cap. 21 48, 78, 102, 146, 152–158, 161, 172–174, 218, 243–244, 270, 371, 386 Völsunga saga cap. 22 71, 154–155, 167, 223, 264, 274, 309, 327, 389 Völsunga saga cap. 23 24, 63, 66, 69, 100, 146, 167, 222, 224, 231, 242, 249, 372 Völsunga saga cap. 24 65, 69, 146, 161, 211, 271, 284, 319 Völsunga saga cap. 25 65, 146, 161–162, 164–166, 182, 223, 266, 295, 319–320, 327, 374, 386 Völsunga saga cap. 26 65, 69–70, 167, 218, 261, 266–267, 270, 311, 319–320, 355, 375, 378–379 Völsunga saga cap. 27 170, 218, 270, 311, 378 Völsunga saga cap. 28 69, 146, 169, 179, 223, 270–271, 275–278, 280, 284, 286, 288, 291, 294–295, 416 Völsunga saga cap. 29 26, 101, 106, 146, 150, 152–153, 156, 158, 160, 165–166, 168–169, 183, 252, 270, 291–293, 304, 309, 311

Völsunga saga cap. 30 24, 71, 102, 107, 146, 160, 167, 180, 182, 213, 253, 289, 292–293, 308–309, 313, 317–318, 337 Völsunga saga cap. 31 27, 71, 102, 146, 154, 158, 160, 163, 166, 169, 183, 223, 250–253, 270, 290, 293–294, 297–298, 307, 312–318, 322–323, 337, 345–346, 376 Völsunga saga cap. 32 101, 154, 167, 175, 217, 275–276, 294–295, 297, 299, 311, 313, 325, 333, 338, 345, 366, 368, 375, 379, 388, 397 Völsunga saga cap. 33 29, 99, 146, 239, 267, 295–296, 345, 375 Völsunga saga cap. 34 24, 42, 63, 69, 71, 77, 100–102, 170–171, 174, 216, 243, 269–270, 285, 296, 316, 320, 339–341 Völsunga saga cap. 35 27, 146, 171, 174–175, 258, 269, 286, 296, 298, 379–380, 382–385 Völsunga saga cap. 36 70, 185, 381–383 Völsunga saga cap. 37 269, 285, 298, 309, 381, 384–385 Völsunga saga cap. 38 146, 162, 171, 195, 270, 285, 338, 380, 383 Völsunga saga cap. 39 45, 55, 68, 182, 296, 298, 324, 376, 403–406 Völsunga saga cap. 40 43, 63, 71, 264, 280, 307–309, 339, 342–344, 347–348, 389 Völsunga saga cap. 41 167–168, 195, 232, 266, 270 Völsunga saga cap. 42 39, 167, 270, 328 Völsunga saga cap. 43 70–71, 146, 326, 331–332, 357–360 Völsunga saga cap. 44 102, 112, 137–138, 168, 344, 361, 365