Die Weisheit der Gottesherrschaft: Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit. Dissertationsschrift 9783525539781, 9783647539782, 3525539789

The question of Jesus of Nazareth´s wisdom as found in Mark 6:2 is discussed by the author as part of the traditional Je

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Die Weisheit der Gottesherrschaft: Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit. Dissertationsschrift
 9783525539781, 9783647539782, 3525539789

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung »Bibel und Orient« der Universität Fribourg/Schweiz herausgegeben von Max Küchler (Fribourg), Peter Lampe, Gerd Theißen (Heidelberg) und Jürgen Zangenberg (Leiden)

Band 96

Vandenhoeck & Ruprecht

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Andreas Grandy

Die Weisheit der Gottesherrschaft Eine Untersuchung zur jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit drei Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Narionalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53978-1 ISBN 978-3-647-53978-2 (E-Book)

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2011 von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg in der Schweiz als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde sie geringfügig überarbeitet. Ich danke den beiden Gutachtern Prof. Dr. Max Küchler und Prof. Dr. Luc Devillers für ihre wertvollen Hinweise und Anregungen. Die Dissertation hat ihre Wurzeln in einer Untersuchung zum Logion vom Berge versetzenden Glauben (Mk 11,23), welche 2005 als Lizentiatsarbeit an der oben genannten Fakultät angenommen wurde (Der Glaube, der Berge versetzt! Eine geo-theologische Vision als Beitrag zum Verständnis der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ). Prof. Dr. Max Küchler hat mich ermutigt, die Perspektiven, die sich darin eröffnet haben, weiter zu verfolgen und das Phänomen ›jesuanische Weisheit‹ im Spannungsfeld von traditioneller und apokalyptischer Weisheit genauer zu erforschen. In der Anfangsphase des Dissertationsprojekts ergab sich die Möglichkeit, das Vorhaben am deutschschweizerischen neutestamentlichen Doktorandenkolloquium an der Universität Zürich (2006) vorzustellen und zu diskutieren. Auch beim weiteren Fortgang der Arbeiten haben bereichernde Gespräche und ein reger Austausch mit Fachkolleginnen und Fachkollegen stattgefunden, unter anderem im Rahmen des deutschsprachigen neutestamentlichen Doktorandenkolloquiums an der Universität Freiburg. Allen, die mich dabei kritisch herausgefordert, zur Präzisierung gezwungen oder durch überzeugende Argumente bestärkt und zum Fortfahren ermutigt haben, fühle ich mich in Dankbarkeit verbunden. Prof. Dr. Max Küchler, Prof. Dr. Peter Lampe, Prof. Dr. Gerd Theissen und Prof. Dr. Jürgen Zangenberg danke ich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Novum Testamentum et Orbis Antiquus (NTOA). Ich danke Christoph Spill von der Redaktion Theologie und Religion bei Vandenhoeck&Ruprecht für die angenehme Zusammenarbeit und dem Hochschulrat der Universität Freiburg für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Max Küchler. Er hat in den vergangenen Jahren das Projekt nicht nur fachlich kompetent begleitet, sondern ihm stets auch großes Interesse entgegengebracht. Für seine vielfältige Unterstützung, all die Stunden des Austausches und der fruchtbaren Diskussion sowie für die wohlwollende menschliche Begleitung danke ich ihm herzlich. Solothurn, im Februar 2012

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Andreas Grandy

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Inhalt

A. Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . 15 1. »Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist?« (Mk 6,2) . . . . . . . 15 2. Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit . . . . . . 2.1 ›Weisheit‹ am Jerusalemer Tempel oder ›Weisheit‹ in den Himmeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Traditionelle und apokalyptische Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der traditionell-weisheitliche Nährboden in mosaischer Weltsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der apokalyptisch-weisheitliche Horizont in henoch’scher Weltsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deutungsversuche jesuanischer Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Apokalyptik contra Weisheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Apokalyptische Weisheit in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (MERKLEIN) . . . . . . . 3.2.2 Gegenwart und Gottesherrschaft (WEDER) . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Rettendes Wissen im Rahmen einer sapientialen Soteriologie (LÖNING) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Traditionelle Weisheit in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Weisheit als praktische Konsequenz der Reich-GottesBotschaft (ZELLER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Weisheit und Schöpfungstheologie (VON LIPS) . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die situative Erfahrungsweisheit des Wanderpredigers (EBNER) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Erfahrungsbezug im Kontrast (RONDEZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Jesuanische Weisheit als Transformation traditioneller und apokalyptischer Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Synoptische Weisheitslogien, motivanalytische Vergleiche und der historische Jesus – methodische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

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Inhalt

B. Jesuanische Weisheitslogien auf traditionell-weisheitlichem Nährboden und unter apokalyptisch-weisheitlichem Horizont . . . . . . . 49 I. Die jesuanische Transformation des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes: Erste und Letzte, Große und Kleine, Hohe und Niedrige 1. Das Wanderlogion von den Ersten und Letzten: Mk 10,31par, Mt 20,16 und Lk 13,30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Mt 20,16 – Ein unverhoffter Tageslohn und die große Hoffnung für die Letzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Lk 13,30 – Der Kampf um die enge Pforte und die radikale Warnung an die Ersten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Mk 10,31 par Mt 19,30 – Hundertfaches jetzt in dieser Zeit und die abgeschwächte apokalyptische Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von den Ersten und Letzten in paränetischer Form: Mk 9,35 und Mk 10,43 f par . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Mk 9,35 – Fragmentarisch und anfanghaft realisierte Umkehrung von Ersten und Letzten in der Jesusbewegung . . . . . 2.3 Mk 10,43 f par Mt 20,26 f – Dienst und Lebenshingabe in der jesuanischen Kontrastgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Grosse und Dienende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die göttliche Wirklichkeit hinter den Kleinsten in Lk 9,48 . . . . . . 3.3 Lk 22,26 und Mt 23,11 – Dienst in der christlichen Kontrastgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Erhöhte und Erniedrigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Mt 18,4 – Radikal auf der Seite der Niedrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Mt 23,12 und die traditionelle Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die traditionelle Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden im interkulturellen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Lk 14,11 – Das Gastmahl der Niedrigen in traditionellweisheitlicher Plausibilität vor apokalyptischem Horizont . . . . . . 4.6 Lk 18,14 – Sünder und Gerechte unter apokalyptischen Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Die Verwurzelung des apokalyptischen Horizontes im traditionellweisheitlichen Nährboden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6. Eine erste Rückfrage nach dem historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.1 Ein apokalyptisches Urlogion der Umkehrung von Ersten und Letzten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.2 Unspezifische Versatzstücke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Die jesuanische Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens: Reichtum, Besitz und Lebensunterhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Das Logion vom Kamel und Nadelöhr: Mk 10,25 parr Mt 19,24; Lk 18,25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Reichtum unter apokalyptischen Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Wenn der gegenwärtige Kairos in die Quere kommt . . . . . . . . . . . 2. Gott und der Mammon: Mt 6,24 par Lk 16,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wenn die Alltagsweisheit in den apokalyptischen Horizont hineinwächst… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Jesus als Kyniker? Reichtumskritik im interkulturellen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Das Doppellogion von den Raben und Lilien: Mt 6,26.28–30 par Lk 12,24.27 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.1 Vorkommen und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2 Sorglosigkeit als Grundhaltung und Verzicht auf elementare Überlebenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.3 Umstrittene AdressatInnen des Aufrufs zur Sorglosigkeit . . . . . . . 102 3.4 Sorglosigkeit vor apokalyptischer Kulisse und im Kontext der alternativen Praxis der Jesusbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.5 Raben und Lilien – Die Provokation paradiesischer Zustände in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.6 Noch einmal: Jesus als Kyniker? Sorglosigkeit im interkulturellen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Das erweiterte Potential des traditionell-weisheitlichen Nährbodens unter apokalyptischem Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 5. Eine zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 5.1 Verzicht auf traditionelle Weisheitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . 114

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Traditionelle Weisheit ohne apokalyptischen Horizont . . . . . . . . . 117

III. Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ: Vom Glauben, der Berge versetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Das Logion vom Berge versetzenden Glauben: Mk 11,23 par Mt 21,21; Lk 17,6; Mt 17,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.1 Vorkommen, Redaktions- und Traditionslinien . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.2 Die Verfluchung des Feigenbaums und das Hochheben »dieses Berges« (Mk 11,23 par Mt 21,21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.2.1 Der Berge versetzende Glaube im Kontext von Jesu erster und letzter Tätigkeit in Jerusalem bei Mk und Mt . . . . . . . . . 126 1.2.2 Mk 11,12–14.20–25 – »Habt Glauben an Gott!« . . . . . . . . . . 128 1.2.3 Mt 21,18–22 – »Nicht allein das des Feigenbaumes werdet ihr tun…« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1.3 Die μετάβασις des Berges als Eintrag in ein Q-Logion (Lk 17,6) in neuem Kontext (Mt 17,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1.3.1 Lk 17,1–10 – Verpflanzte Bäume und das befreiende Handeln des Senfkornglaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1.3.2 Mt 17,14–20 – Der epileptische Knabe und die heilende Wirkung des ›Senfkornglaubens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Die Motive der Erschütterung, Einebnung und Versetzung von Bergen im jüdischen Traditionsstrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2.1 Das Toben des Meeres und das Beben von Bergen: religionsgeschichtliche Wurzeln der Jahwe-Theophanie . . . . . . . . 166 2.1.1 Das kosmische Ringen als göttlich-königliches Herrschaftszeichen der geschichtlich realisierten βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Jerusalemer Kultgemeinde . . . . . . . . . . . . . . 167 2.1.2 Spuren alter Traditionen in Psalm 46: der ugaritische BaalZyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.1.3 Psalm 29 als Hymnus auf den Herrn des Gewitters . . . . . . . 172 2.2 »Der ganze Berg bebte gewaltig…« (Ex 19,18): Bebende Berge in der Jahwe-Theophanie und als Zeichen der Macht Gottes . . . . . . 172 2.2.1 Das Beben von Bergen als Element der Theophanie . . . . . . . 173 2.2.2 1Kön 19,11–12 – Eine spezielle Theophanie . . . . . . . . . . . . . . 178 2.2.3 Das Heben von Bergen als generelles Zeichen der Macht Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.3 Wenn die Geschichte durchsichtig wird auf die machtvollen Taten Gottes hin: Gottes Zorn und Gottes Befreiung in der klassischen Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.3.1 Der Zorn Gottes: »Da erzittern die Berge…« (Jes 5,25) . . . . 182

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2.3.2 Gottes befreiendes Handeln in der Vision von Deuterojesaja: »Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken« (Jes 40,4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.3.3 Wenn das Volk selbst Berge dreschen und zermalmen wird (Jes 41,15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 »Du erneuerst das Antlitz der Erde« (Ps 104,30): Das eschatologische Handeln Gottes in der späten Prophetie und der Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2.4.1 Sach 14 und die eschatologische Bedeutung des Ölbergs . . . 190 2.4.2 Dan 2 und 4 Esra 13,6.36 – Nebukadnezzars Traum und die Vision des auf einem Berg fliegenden Menschen . . . . . . 194 2.4.3 Ps Sal 11 – »Zur Erwartung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.4.4 Gottes Erhabenheit und sein Erscheinen zum zukünftigen Gericht und zur Rettung Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Das Bergeversetzen als sprichwörtliche Wendung in der rabbinischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2.5.1 Ein Bergentwurzeler als scharfsinniger Gesetzesgelehrter . . 202 2.5.2 Das Bergeversetzen als Ausdruck einer definitiven Entscheidung weltlicher Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.5.3 Simsons übermenschliche Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

3. Die Metapher des Bergeversetzens im interkulturellen Vergleich . . . . . 207 3.1 Die Versetzung von Bergen an einen anderen Ort bei HORAZ, LIVIUS und LUKIAN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3.2 Berge und die göttliche Macht bei VERGIL, HOMER und SENECA . . . 211 3.3 Berge als lebensfeindliche Regionen bei ARTEMIDOR von Daldis und ihre Einebnung an Ort und Stelle bei OVID und SENECA . . . . . 212 4. Die jesuanische Vision und ihre christliche Deutung vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition der »hüpfenden Berge« (Ps 114,6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.1 Der Berge versetzende Glaube und die jesuanische Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens . . . . 217 4.1.1 Versetzte Berge als Metapher für das heilende und befreiende Wunderwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.1.2 Ein Zuspruch zur Ermutigung in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.1.3 Von der gefährdeten Wirklichkeit zur heilen Welt . . . . . . . . 220 4.1.4 Neue Vorläufigkeit und Brüchigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2 Der Berge versetzende Glaube und die jesuanische Transformation des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes . . . 222 4.2.1 Der Berge versetzende Glaube als anfanghafte Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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4.3

4.4

4.2.2 Freiräume von Befreiung und Heilung in der Gegenwart . . 224 4.2.3 Eine neue Unmittelbarkeit als Provokation für Jerusalem und den Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.2.4 Gottes Kommen als Gericht und Zerstörung? – Eine Fehlanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.2.5 Auf Menschen übertragene göttliche Hoheitsattribute . . . . . 228 Die theologische Verarbeitung der jesuanischen Vision in den synoptischen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.3.1 Die Deutung von Blindenheilung, Tempel und messianischem Einzug (Mk 11,22–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.3.2 Berge versetzender Glaube im Kontext des heilenden Wirkens Jesu (Mt 17,20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.3.3 Jesu heilendes Handeln auch noch im Tempel (Mt 21,21) . 233 Die Rezeption der jesuanischen Vision in weiteren neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften . . . . . . . . . . . . . 235 4.4.1 Lk 3,4–6 – Für Jesus eingeebnete Berge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4.4.2 1Kor 13,2 – Die einseitige Rezeption des jesuanischen Logions in der korinthischen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.4.3 Versetzte Berge in den siebenfachen Plagen der Apokalypse des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.4.4 Herm vis I 3,4 – Das Bergeversetzen als eschatologische Heilstat Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4.4.5 Das Bergeversetzen als gegenwärtiges Geschehen im Thomasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

5. Eine dritte Rückfrage nach dem historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 5.1 Nicht mehr als ein traditionell-weisheitlicher Zuspruch zur Ermutigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5.2 Herbeibefehlen des neuen Zeitalters? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 C. Die Weisheit der Gottesherrschaft als jesuanische Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Das Profil jesuanischer Weisheit im Kontext frühjüdischer Weisheitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1.1 Jesuanische Dynamik als Synthese von traditionell-weisheitlicher Ordnung und apokalyptisch-feuriger Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1.2 Eine provokative Weisheit und ihre lebenspraktischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Christliche Weisheit in der Nachfolge Jesu – Ein Ausblick . . . . . . . . . . . 250

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Inhalt

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Quellen, Textausgaben und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

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A. Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung 1. »Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist?« (Mk 6,2) Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit (σοφία), die ihm gegeben ist (ἡ δοθεῖσα)? Und was sind das für Kräfte (δυνάμεις), die durch seine Hände wirken? (Mk 6,2)

Die Menschen, die hier staunen, haben Jesus soeben in der Synagoge von Nazareth zugehört. Was sie genau gehört haben, überliefert Markus nicht. Doch es dürfte auf der Linie des Programmsatzes gelegen haben, den Markus ganz zu Beginn seines Evangeliums ausspricht: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) Die ersten fünf Kapitel des Mk-Evangeliums zeigen in ungeheurer Intensität und schier unüberbietbarer Aktivität, wie die Nähe der βασιλεία τοῦ θεοῦ sichtbar gemacht, zur Umkehr aufgerufen und der Glaube als entscheidendes Kriterium des heilenden und befreienden Wirkens Jesu ins Zentrum gerückt wird. So auch in den beiden letzten, literarisch ineinander verschränkten Heilungen, die der Predigt in Nazareth unmittelbar vorangegangen sind: durch die von Jesus ausgehende ›Dynamis‹ wird die blutflüssige Frau geheilt (Mk 5,30) und durch Handauflegung Jesu wird die Tochter des Jairus erweckt (Mk 5,41). Die hier sichtbar werdende Dynamik und die Weisheit dieses Jesus von Nazareth hängen offenbar miteinander zusammen, was auch die »›bauernschlauen‹ Nazarener«1 konstatieren (obwohl die beiden Heilungen gar nicht in Nazareth stattgefunden haben). Eine textkritische Variante von Mk 6,2 stellt sogar einen expliziten Kausalzusammenhang her: »Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist, damit (so dass ἵνα) auch Machttaten durch seine Hände geschehen?«2 In dieser Version ist nicht die erlernte, sondern die gegebene Weisheit die Bedingung der ›Dynamis‹, so dass »ohne das richtige Wissen auch keine Machttaten vollbracht werden können.«3 Umgekehrt ist auch die Weisheit dieses Jesus von Nazareth nicht zu verstehen, wenn ihre Dynamik im befreienden und heilenden Wirken Jesu außer Acht gelassen wird.

1

FASSNACHT, Konfrontation mit der Weisheit Jesu 108. Die Textzeugen bei NESTLE-ALAND, Novum Testamentum Graece27. FASSNACHT bevorzugt diese Variante als Ausgangspunkt für seine weisheitlich-apokalyptische Argumentation in FASSNACHT, Konfrontation mit der Weisheit Jesu 108. 3 FASSNACHT, Konfrontation mit der Weisheit Jesu 108–109. 2

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

Trotz der Erkenntnis dieses Zusammenhangs und der vor diesem Hintergrund scheinbar bestandenen »Weisheitsprüfung«4 Jesu in den vorangegangenen Heilungen ist die Reaktion auf seine σοφία in seiner Heimatstadt negativ, seine δύναμις kann sich nicht entfalten (Mk 6,5), statt auf Glauben stößt er auf Unglauben (Mk 6,6). Das Staunen ist somit nicht Ausdruck von Bewunderung, sondern kippt in Irritation und Ablehnung. Anlass zur Irritation bietet die Verkündigung und Praxis Jesu weiterhin, auch über das Mk-Evangelium hinaus: Was ist das für eine Weisheit, dass die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden (Mk 10,31)? Was ist das für eine Weisheit, wonach man sich nicht um sein eigenes Leben zu sorgen braucht, weder um das Essen noch um das Trinken noch um den Leib und die Kleidung (Mt 6,25)? Was sind das für Kräfte, dass Menschen außer sich vor Staunen ausrufen: »Er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen« (Mk 7,37)? Was sind das für Kräfte, die einen Feigenbaum zum Verdorren bringen (Mk 11,20) und Berge versetzen sollen (Mk 11,23)? Weitere Fragen dieser Art ließen sich formulieren, die sich alle angesichts radikaler Motive des unmöglich zu Realisierenden stellen. Genau sie sind Gegenstand dieser Arbeit; der Versuch ihrer Beantwortung möchte einen Beitrag zum besseren Verständnis eines entscheidenden Teils neutestamentlicher Weisheit, nämlich derjenigen des historischen Jesus, leisten. Damit ist auch gesagt, was an neutestamentlicher Weisheit nicht in den Blick genommen wird: christologische Texte (beispielsweise 1Kor 1,23 f: »Wir dagegen verkündigen […] Christus, Gottes Macht (θεοῦ δύναμιν) und Gottes Weisheit (θεοῦ σοφίαν)«) und die paränetischen Abschnitte in den Briefen. Einen Überblick über alle drei Bereiche bietet VON LIPS in seinem »wahrhaft enzyklopädisch angelegten Werk«5 von 1990 »Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament«.6 Auch nach dieser Eingrenzung bleibt die Aufgabe mit genügend Herausforderungen behaftet. Denn die Motive der oben gestellten Fragen führen nicht nur zurück auf die traditionelle alttestamentliche Weisheit, sondern auch auf eine andere spezifische Ausprägung jüdischer Weisheit in hellenistisch-römischer Zeit, nämlich auf die apokalyptische Weisheit. Es drängt sich somit eine Präzisierung und Differenzierung des Weisheitsbegriffs im Kontext des Frühjudentums7 auf, die im Folgenden gleich geleistet werden soll. Damit ist klar, dass jesuanische Weisheit so weit wie möglich im breiten und vielfältigen Strom jüdischer Weisheitstraditionen verortet werden soll und dass erst vor 4

FASSNACHT, Konfrontation mit der Weisheit Jesu 108. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 12. 6 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen 196. Vgl. auch s.8. 7 Zu den religionsgeschichtlichen Schwierigkeiten einer Darstellung des Frühjudentums und einer sachgerechten Einordnung der Botschaft Jesu darin siehe u. a. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 14–16. 5

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Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit

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diesem Hintergrund das spezifisch jesuanische Profil herausgearbeitet werden kann. Es wird sich bestätigen, dass Jesu σοφία zutiefst mit seiner Praxis und der darin sichtbar werdenden δύναμις zusammenhängt. In ihr zeigt sich, welche neue Qualität die Gegenwart in jesuanischer Option erhalten kann, wenn die Synthese von apokalyptisch-feuriger Dramatik des Kampfes der himmlischen Mächte hinter den Kulissen der Geschichte und traditionell-weisheitlicher Ruhe und Zuversicht aufgrund der in Genesis grundgelegten Schöpfungsordnung gelingt.

2. Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit 2.1 ›Weisheit‹ in den Himmeln oder ›Weisheit‹ am Jerusalemer Tempel? Die Frage, wo die Weisheit ihren Ort findet8, stellte sich dem Judentum in drängender Weise angesichts der Herausforderung, welche »die Begegnung mit dem Hellenismus und dessen Bildungskonzept«9 seit der Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen mit sich brachte. Wie sollten die alten Weisheitstraditionen Israels bewahrt werden können im Umfeld einer hellenistischen Bildungsweisheit, welche »die Grenzlinien zwischen kultiviertem Menschsein und Barbarentum«10 nicht mehr nach ethnischer Herkunft, sondern anhand der Einbindung in die hellenistischen Bildungstraditionen mit den entsprechenden Institutionen wie dem Gymnasium zieht? Wie sollte sich in dieser Situation jüdische Weisheit behaupten können? Auf diese eine Herausforderung gab es unterschiedliche Reaktionen »von konkurrierenden Schulhäusern«11, von denen zwei besonders exemplarisch die beiden Grundoptionen jüdischer Weisheit in hellenistisch-römischer Zeit aufzeigen können: die eine hat sich ihr bleibendes Vermächtnis in Jesus Sirach erschaffen (zwischen 190 und 170 v. Chr.12), die andere im Kompendium des Henochbuches äth Hen (4. Jh. bis 1. Jh. v. Chr., wobei »wesentliche Teile ihre Zuspitzung etwa zeitgleich zu Sir erfahren«13).

8 Vgl. dazu den Beitrag: EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 79–103. Ebenfalls LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 2–3. 9 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 82. 10 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 82. 11 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 82. 12 Eckpunkte für die Datierung liefert die Schilderung des Hohepriesters Simeon II. (219– 196 v. Chr.) und die fehlende Erwähnung des Vorgehens von Antiochus Epiphanes in Jerusalem (175–164 v. Chr.) (EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 82). 13 Einen kurzen Einblick in die Entstehungsgeschichte von äth Hen (unter Einbezug der

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

Das Weisheitsbuch Jesus Sirach nimmt die Herausforderung an und »tritt in den Wettstreit der Kulturen«14, indem es ein sicheres Geländer zur Verfügung stellt, anhand dessen die jüdische Eigenart in der Bindung an die Tora zwar beibehalten, gangbare Wege unter neuen Bedingungen und Herausforderungen aber doch ermöglicht werden: Die Weisheit lobt sich selbst, sie rühmt sich bei ihrem Volk. Sie öffnet ihren Mund in der Versammlung Gottes und rühmt sich vor seinen Scharen: ›Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor, und wie Nebel umhüllte ich die Erde.‹ (Sir 24,1–3) Dies alles ist das Bundesbuch des höchsten Gottes, das Gesetz, das Mose uns vorschrieb als Erbe für die Gemeinde Jakobs. (Sir 24,23)

Geschickt gelingt Sir ein doppelter Schachzug: die Weisheit ist aus Gott selbst hervorgegangen (Sir 24,3) und sie ist »in dem Buch inkorporiert, das jüdische Identität von der aller anderen Völker unterscheidet, eben der Tora«15 (Sir 24,23). Damit erscheinen die neuen, an die gegenwärtige Zeit angepassten Ratschläge des Weisen stets als Konkretisierung der göttlichen Offenbarung der Tora, worin das »Strukturprinzip von Welt und Gesellschaft«16 nachzulesen ist. Entsprechend findet die hypostasierte Weisheit ihren Ort auch in einer Zeit großer Herausforderungen mitten in der Welt; sie hat »höchstpersönlich nach langen erfolglosen Irrfahrten im gesamten Kosmos auf den ausdrücklichen Befehl Gottes hin in Jerusalem am Tempel ihren Wohnort bezogen« und kann »dort unmittelbar kontaktiert werden«17: Ich wohnte in den Höhen, auf einer Wolkensäule stand mein Thron. Den Kreis des Himmels umschritt ich allein, in der Tiefe des Abgrunds ging ich umher. Über die Fluten des Meeres und über alles Land, über alle Völker und Nationen hatte ich Macht. Bei ihnen allen suchte ich einen Ort der Ruhe, ein Volk, in dessen Land ich wohnen könnte. Da gab der Schöpfer des Alls mir Befehl; er, der mich schuf, wusste für mein Zelt eine Ruhestätte. Er sprach: In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben. (Sir 24,4–8)18

Erkenntnisse von NICKELSBURG und BOCCACCINI) bietet EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 82–83 Anm. 13. 14 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 97. 15 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 86. 16 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 98. 17 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 85. 18 Im interkulturellen Vergleich wäre hier ein uralter griechischer Mythos heranzuziehen, der bereits bei Hesiod auftaucht und »in ausgefalteter Form in ARATs Lehrgedicht Phainomena (3. Jh. v. Chr.) greifbar ist.« (EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 85; siehe auch VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 174–179). Im goldenen Zeitalter verkehrt die Gerechtigkeit (Dike) frei mit den Menschen, während ihre Besuche im silbernen und ehernen Zeitalter immer seltener werden, bis sie schließlich die Erde endgültig verlässt und ihre Wohnung unter den Gestirnen bezieht.

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Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit

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Eine pessimistische, apokalyptische Variante dieses Weisheitsmythos bietet äth Hen, der unter den gegenwärtigen Umständen keinen irdischen Ort ausfindig machen kann, an dem die hypostasierte Weisheit anzutreffen wäre. In diesem Sinn sind die Vertreter des henoch’schen Kompendiums tatsächlich »buchstäblich mit ihrer Weisheit am Ende«19: Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen konnte, da hatte sie eine Wohnung in den Himmeln. Die Weisheit ging aus, um unter den Menschenkindern zu wohnen, und sie fand keine Wohnung; die Weisheit kehrte an ihren Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln. Und die Ungerechtigkeit kam hervor aus ihren Kammern: die sie nicht suchte, fand sie, und wohnte unter ihnen, wie der Regen in der Wüste und wie der Tau auf dem durstigen Land. (äth Hen 42,1–3)20

Die Gegenwart erscheint als abgrundtief schlechte Wirklichkeit, in der Ungerechtigkeit die Herrschaft ausübt. Deshalb kann die Gegenwart auch nicht mehr positiv mitgestaltet werden; sie müsste sich zuerst ändern, damit die eigene Konzeption wieder passen würde. Damit gerät die eigene soziale Gruppe von äth Hen ins gesellschaftliche Abseits. Wann genau dieser Bruch (oder vielleicht eher eine ganze Reihe von Brüchen21) mit der Gesellschaft und der gegenwärtigen Wirklichkeit überhaupt stattgefunden hat, ist wohl nicht mehr sicher auszumachen. Dass ausgehend von Kalenderfragen Gruppenkonflikte am Jerusalemer Tempel zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. eine entscheidende Rolle gespielt haben, ist durchaus plausibel.22 Was hatte die Henoch-Gruppe aber der ungerechten Gegenwart entgegenzusetzen? Sie setzt auf himmlische Offenbarungen, die ihnen Einblicke in die jenseitige Welt gewähren und literarisch als Himmelsreisen wie die urzeitliche Reise Henochs verarbeitet werden. Der Hauptinhalt bildet das Gericht am Ende der Zeit: »Die Adressaten werden durch diese Offenbarungen darin versichert, dass sie zu denjenigen gehören, die im Gericht auf der richtigen Seite stehen werden, mit einem Wort: dass sie gerettet werden.«23 In den Visionen 19 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 81. EBNER ist allerdings der »apokalyptischen Weisheit« gegenüber kritisch eingestellt (dies zeigt sich nicht zuletzt in seiner Anfrage »Aber ist das Weisheit?« ganz am Schluss seines Beitrags s.99) und vermag darin nur einen provokativen Verpackungsschwindel der Apokalyptiker in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gruppen wie derjenigen von Jesus Sirach zu erkennen. 20 Übersetzung aus: UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V,6) 584. 21 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 9 postuliert eine Abfolge von Brüchen in persischer und hellenistischer Zeit, die schlussendlich zum Bewusstsein einer zerbrochenen Welt geführt haben. Generell erfreuen sich die politischen und sozio-kulturellen Umstände, die als hellenistische Kulisse des 3./2. Jh. v. Chr. zum Verständnis der zweipoligen Transformierung jüdischer Weisheit beleuchtet werden, des Interesses der Forschung, siehe dazu u. a. LÖNING, das Frühjudentum als religionsgeschichtlicher Kontext des Neuen Testaments. 22 Eine prägnante Beleuchtung dieses sozialen Hintergrundes bietet EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 92–97. 23 EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 81.

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

und Himmelsreisen wird Zugang zu einem Geheimwissen gewährt, welches ausdrücklich als Weisheit bezeichnet wird: »Weisheit habe ich dir und deinen Kindern gegeben und denen, die deine Kinder sein werden, dass sie ihren Kindern für (kommende) Generationen diese Weisheit überliefern, die über ihr Verständnis geht.« (äth Hen 82,2)24 Weisheit ist somit nicht mehr am Jerusalemer Tempel lokalisiert noch ist sie in der Tora inkorporiert.25

2.2 Traditionelle und apokalyptische Weisheit Die beiden Positionen von Jesus Sirach und äth Hen sind nicht als Gelehrtenstreit abzutun, vielmehr kommen in ihnen zwei Grundoptionen jüdischer Weisheit in hellenistisch-römischer Zeit zum Ausdruck, die erstmals in aller Deutlichkeit26 in der 1979 erschienenen Dissertation »Frühjüdische Weisheitstraditionen« von KÜCHLER dargelegt wurden: 1) Weisheit als ‫( תורה‬Tora) Gottes, repräsentiert im Buch Sirach, fortgeführt von den Rabbi-Weisen (traditionelle Weisheit); 2) Weisheit als ‫( רז‬Mysterium) Gottes, repräsentiert in (Daniel und) äth (aram) Henoch, fortgeführt vom Lehrer der Gerechtigkeit in Qumran (apokalyptische Weisheit).27 Wie sehr diese grundlegende Einteilung für die Forschung der folgenden Jahrzehnte gültig und bestimmend geblieben ist, zeigt sich nicht nur daran, dass sich eine ganze Schule unter LÖNING mit der Weisheit der Apokalyptiker unter

24

Übersetzung aus: UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V,6) 667. Weitere Stellen wären z. B. äth Hen 92,1; 104,12. 25 Es gibt Hinweise, dass äth Hen als bewusste Gegenkonzeption zur, ja gar als Gegenangriff auf die Verankerung der Weisheit in der Tora verstanden worden ist, wie sie Sir 24 vornimmt, worin das deuteronomische Tora-Verständnis vorausgesetzt ist (Sir 24,23 zitiert Dtn 33,4): In der Präambel von äth Hen (1,1–9) wird der Mosesegen (Dtn 33,1–3) dem Traditionsidol Henoch in den Mund gelegt und in äth Hen 91–94 finden sich bewusste Anklänge an Dtn 28– 32. »Damit erscheint die Mosetora nicht nur als Plagiat, sondern wird auch gemäß dem wichtigen Kriterium der zeitlichen Priorität entwertet.« (EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 90) Die Auseinandersetzung läuft dabei nicht nur in die eine Richtung, sondern auch Sirach polemisiert gegen die Weisheitsfindung, wie sie äth Hen anbietet (z. B. Sir 34,1.7; EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 84). Zu den Spuren dieser Auseinandersetzung in Sir siehe auch BOCCACCINI, Middle Judaism 80.83. 26 Das Konzept der apokalyptischen Weisheit wurde hier erstmals in seiner Bedeutung adäquat erfasst, so die Würdigung eines Fachkollegen: LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 2 Anm. 2. 27 Siehe den zusammenfassenden Überblick: KÜCHLER, Frühjüdische Weisheitstraditionen 110–113. Die eigenständige Entwicklung jüdisch-hellenistischer Weisheitsreflexion in Alexandria ist für unseren Zusammenhang von geringerer Bedeutung.

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Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit

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dem Stichwort einer sapientialen Soteriologie weiter beschäftigt hat28, sondern auch darin, dass HARRINGTON in seiner Einleitung zu den Weisheitstexten in Qumran unter »Israel’s Wisdom Tradition«29 nach dem Buch der Sprüche und Sirach als dritte Hauptquelle 1 Henoch anführt. Zur Einbettung beider Weisheits-Theorien in einen je größeren weltanschaulichen Kontext hat die Judaistik-Forschung der letzten Jahrzehnte entscheidende Hilfestellungen entwickelt. Es ist ihr gelungen, in der Vielfalt jüdischer Weltanschauungen in der Zeit des zweiten Tempels zwei Grundoptionen jüdischen Denkens herauszuarbeiten, die seit exilischer / frühnachexilischer Zeit bis zur Zeit Jesu (und darüber hinaus) in vielfältiger Verbindung, Weiterentwicklung und gegenseitiger Durchdringung prägend gewesen sind: 1) die zadokidische (BOCCACCINI) oder mosaische Weltsicht auf der Grundlage der Tora, organisiert in der Priesterschaft um den zweiten Tempel in Jerusalem herum, der als Garant der Ordnung in dieser Welt gilt; die Generierung von Weisheit aufgrund von Erfahrungswissen wird ermöglicht;30 2) die henoch’sche Weltsicht (BOCCACCINI) oder Apokalyptik (als Weltanschauung, nicht als literarische Form), begründet auf dem überlegenen Status einer revelatorischen Instanz (ihres Offenbarers Henoch); es ist eine Weltsicht, die aufgrund der irreparablen Zerstörung der kosmischen Ordnung alle Hoffnung allein auf Gottes Intervention setzt.31 Beide weltanschaulichen Grundoptionen haben ihre eigenen Weisheitskonzepte generiert, eben die traditionelle und apokalyptische Weisheit. Diese sollen im Folgenden (nicht etwa als literarische Gattungen, sondern) als Produkte der jeweiligen weltanschaulichen Einschätzung der Wirklichkeit genauer vorgestellt werden. Denn wenn in der einen Strömung »die ganze Tora als umfassender Schatz weisheitlicher Deutung der Schöpfung Gottes verstanden werden kann, ist das Thema ›Weisheit‹ längst auf eine universale Verstehenskategorie hin ausgedehnt und hermeneutisch zu einem umfassenden Schlüssel von Wirklichkeitsinterpretation erhoben, der die gattungsspezifischen Begrenzungen natürlich sprengt.«32

28

LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes. HARRINGTON, Wisdom Texts from Qumran 6–13. 30 Siehe dazu u. a.: BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis 71–72. 31 Siehe dazu u. a.: BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis 72–74; COLLINS, Wisdom, Apocalypticism and Generic Compatibility 169 f. 32 FASSNACHT, Konfrontation mit der Weisheit Jesu 106 (im Gefolge von LÖNING). 29

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

Übersicht über die jüdischen Gruppierungen in hellenistisch-römischer Zeit nach BOCCACCINI. Wichtig sind die beiden Grundoptionen des Zadokite Judaism, der seine Fortsetzung im sadduzäischen, pharisäischen und rabbinischen Judentum gefunden hat, und des Enochic Judaism, der sich weiterentwickelt zum Essenischen Judentum, zur Qumran-Gemeinschaft und zur Jesusbewegung.33

2.2.1 Der traditionell-weisheitliche Nährboden in mosaischer Weltsicht Mosaische, traditionelle34 Weisheit tradiert die alte Weisheit Israels, wie sie sich etwa im Sprüchebuch findet, und adaptiert sie auf neue Situationen und Herausforderungen (z. B. in Jesus Sirach). Aufgrund ihrer Verankerung in der Tora ruft sie die grundlegende Ordnung der Schöpfung als gute Ordnung in Erinnerung und hat somit »etwas Paradiesisches an sich«35; sie lässt etwas vom idealen Urzustand erahnen, wie er in Gen 1 geschildert wird: Die Welt als gute Schöpfung mit geregelten Zeiten mit festen Schranken mit selbst wachsender Pflanzenwelt mit wimmelndem Tierleben 33

Die Abbildung stammt aus: BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis xxii Figure 2. Es geht dabei nicht um die Akzeptanz aller Details seiner Hypothese, sondern um die Grundlinie, die – soweit ich es beurteilen kann – auch mit der von KÜCHLER einigermaßen übereinstimmt. 34 Der Ausdruck ›traditionelle‹ Weisheit muss in zweifacher Hinsicht als sinnvoll erachtet werden: (i) Was die neutestamentliche Wissenschaft traditionell und immer noch vorherrschend als Weisheit bezeichnet, entspricht genau dieser traditionellen Weisheit. Sie ist also traditionell im Sinn der Forschungsgeschichte. (ii) Sie ist aber auch traditionell von ihrer Ausrichtung her, indem sie sich zurück bezieht auf ein gerettetes und weiter tradiertes Wissen des verlorenen Paradieses (KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese). 35 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 5.

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Jüdische Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit

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der Mensch als Abbild des Schöpfers in vollkommener Gestalt in Souveränität als geglückte Zweisamkeit von Mann und Frau als gewaltlose/r HüterIn der Pflanzen- und Tierwelt und über allem ein glücklicher Schöpfergott einer sehr guten Welt.36

Dem Paradies gegenüber muss die reale Gegenwart stets defizitär erscheinen: sie ist eine »gebrochene Wirklichkeit«37, wie die Erzählungen von Gen 2 ff beschreiben: Es gibt Schranken und Überschreiten der Schranken (Gen 3,1–6) es gibt Scham (Gen 3,7) es gibt Verstecken vor Gott (Gen 3,8–11) es gibt das Abschieben von Verantwortung (Gen 3,12 f) es gibt die Fluchsprüche des Schöpfergottes (Gen 3,14–18) die beinlose, staubfressende Schlange die leidende Schwangere und Gebärende die Herrschaft des Mannes über die Frau den Schweiß der Arbeit des Mannes. Es gibt den unabwendbaren Tod (Gen 3,19) es gibt den Mord (Gen 4,3–8) es gibt Transgression und Vergewaltigung (Gen 6,1–4) es gibt die globale Gefährdung der Schöpfung (Gen 6,5–8,19) es gibt Herren und Knechte (Gen 9,24–27) es gibt Gewalt und Jagd (Gen 10,8 f) es gibt Überheblichkeit (Gen 11,1–4) es gibt Unfähigkeit zu Kommunikation (Gen 11,5–9).38

Die traditionelle Weisheit ist also alles andere als naiv, was die aktuellen Verhältnisse anbelangt. So ist sie sich beispielsweise auch der Habgier und der Verlockungen des Reichtums bewusst, was in Sir 31,1–11 in sehr realistischer Perspektive thematisiert wird. Bezogen auf den Reichtum lauten V. 6–11: Viele sind es, die sich vom Gold fesseln lassen, die ihr Vertrauen auf Perlen setzen. Eine Falle ist das für den Toren, jeder Einfältige lässt sich damit fangen. Wohl dem Mann, der schuldlos befunden wird, der sich nicht aus Habgier versündigt. Wo gibt es den? Wir wollen ihn preisen. Denn Staunenswertes hat er in seinem Volk vollbracht. Wo gibt es einen, der sich in solcher Prüfung bewährt hat? Das wird ihm zur Ehre gereichen. Wer konnte sündigen und sündigte nicht, Böses tun, tat es aber nicht? Darum ist sein Glück von Dauer, die Gemeinde verkündet sein Lob.

36 37 38

KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 5. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 5. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 5–6.

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Reichtum ist oft missbraucht, er bringt große Gefahren mit sich. Nur sehr wenige sind zu finden, die richtig, schuldlos damit umgehen können. Trotzdem: Reichtum an sich wird nicht verurteilt, im Gegenteil: wer richtig damit umgeht (wie man dies tut, wird auch in Sir in mannigfaltiger Weise weiter erörtert), wird gelobt, ja sein Glück wird von Dauer sein. »Reichtum (das bonum utile) und Ehre (das bonum honestum) sind die Früchte klugen Handelns, welche die Weisheit ihren Schülern als Glück verheißt.«39 Hier werden eine optimistische Grundhaltung und eine gewisse Heiterkeit der paradiesischen Zustände bewahrt, ohne die Gebrochenheit der realen Wirklichkeit auszublenden. In diesem Sinn kann zu Recht von einer »nachparadiesischen Weisheit«40 gesprochen werden, deren Rahmenbedingungen die »weisheitliche (Not)-Ordnung« der noachidischen Gebote nach der Sintflut in Gen 9,1–17 festlegt. Sie tut dies für eine gebrochene Welt, in welcher zwar der Mensch Abbild Gottes bleibt (Gen 9,6b) der Mensch fruchtbar bleibt und sich vermehrt (Gen 9,1.7a) die Lebenskraft (im Blut) unantastbar ist (Gen 9,4) der Mensch weiterhin über die Erde herrscht (Gen 9,7b) der Bund Gottes unverrückbar besteht (Gen 9,8–17) in welcher aber Furcht und Schrecken zwischen Mensch und Tier liegen (Gen 9,2) weil an die Stelle der Herrschaft des Menschen über die Tiere die Feindschaft zwischen Mensch und Tier getreten ist und der Mensch die Tiere zur Nahrung hat (Gen 9,4) Blutvergießen mit Blutvergießen eingedämmt werden muss weil der Mensch auch dem Menschen zum Todfeind wurde (Gen 9,5–6a).41

Die Gegenwart gilt es demnach im Sinn einer Behebung der Defizite zu gestalten. »Weisheitliche Regeln sind Regulative, welche die gebrochene Wirklichkeit dem Paradies annähern.«42 Der Weise wirkt auf diese Gestaltung hin vor allem durch den Rekurs auf die Ordnung in der Natur und den Tun-ErgehenZusammenhang. So ruft er den Faulen zur Vorsorge für den Lebensunterhalt auf und stellt ihm als Vorbild die Ameisen vor Augen: »Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten, und werde weise! Sie hat keinen Meister, keinen Aufseher und Gebieter, und doch sorgt sie im Sommer für Futter, sammelt sich zur Erntezeit Vorrat.« (Spr 6,6–8) »Lässige Hand bringt Armut; fleißige Hand macht reich.« (Spr 10,4) Der Weise erteilt Ratschläge, die mit dem Bau-

39 40 41 42

LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 7. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 7. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 6. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 6.

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plan des Lebens und der Welt grundsätzlich kompatibel gehen und die Chancen, welche die gebrochene Wirklichkeit immer noch bietet, wahrnehmen wollen. In einem gewissen Sinn handelt es sich daher um weltliche Weisheit, da sie ihre Argumentationskraft von der guten Ordnung des Kosmos selbst schöpft: die Welt selbst ist Ort der Weisheit!43 Erst unter dieser Voraussetzung konnte Sir 24 die Weisheit in Jerusalem lokalisieren. In dieser Konzeption, die ein Wissen aus dem verlorenen Paradies in die gegenwärtig gebrochene Welt hinüberrettet, ist der Weise befähigt, immer wieder neu lebenspraktische Weisungen auszugeben, die zielgenau auf das alltägliche Leben ausgerichtet sind und darin »paradiesische Räume«44 schaffen; diese werden getränkt von den Bächen und Flüssen der Weisheit, die bis in alle Verzweigungen des Alltags ausströmen kann (vgl. Sir 24,23–34). Die Realität wird so durchgestaltet, »dass die negativen und mindernden Kräfte auf der natürlichen, geschichtlichen und moralischen Ebene möglichst eingedämmt werden.«45 Diese Zuversicht blieb allerdings nicht unangefochten. Ijob stellte seine Anfragen an den Tun-Ergehen-Zusammenhang, Kohelet an die Intelligibilität der Welt insgesamt.46 Nicht zuletzt bei Sirach spielt daher die Absicht der Konsolidierung traditioneller Weisheit mit hinein – nicht nur angesichts der äußeren Herausforderungen durch das hellenistische Bildungskonzept, sondern auch angesichts der vorhergehenden innerjüdischen Herausforderungen durch Ijob und Qohelet. 2.2.2 Der apokalyptisch-weisheitliche Horizont in henoch’scher Weltsicht Keinerlei Raum für paradiesische Freiräume in der gebrochenen Wirklichkeit der Gegenwart bietet die apokalyptische Weltsicht aus dem Hause Henoch. Ihre Vertreter leben im Bewusstsein einer gänzlich zerbrochenen Wirklichkeit, deren Tage voller Ungerechtigkeit sind: Wie die Schöpfungsordnung der Natur und die Ordnung des menschlichen Ergehens irreparabel korrumpiert sind, so sind es auch die Ordnung der Geschichte und die gesellschaftlichen Zustände. Die Flüsse paradiesischer Weisheit können die Gegenwart nicht mehr erreichen. Statt von der Vergangenheit her leben die Apokalyptiker auf 43

Natürlich ist diese Ordnung der Welt auch theologisch qualifiziert (Gen). »Weltlich« versteht sich hier also nicht wie säkular, sondern: weltlich bedeutet eine grundsätzlich positive Wertung der kosmischen Ordnung und Geschichte, die daher als Weisheitsquellen herangezogen werden können (natürlich immer noch unter dem Vorbehalt ihrer Gebrochenheit). 44 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 7. 45 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 7. 46 Ausführlicher dazu siehe KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 8–9. Ebenfalls LÖNING zum »kritischen Hinterfragen der Grundpostulate weisheitlicher Daseinsorientierung in der jüdischen Weisheitsliteratur« (Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 10– 14).

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die Zukunft hin, in der die Auserwählten die Erlösung und die »massa perditionis« die »absolute Vernichtung«47 erwartet. Ihre Weisheit »träumt nicht mehr dem Garten Eden nach, sondern sie seufzt dem himmlischen Jerusalem entgegen«48. Das einzige Konzept, das nach der gesellschaftspolitischen Diagnose des Hauses äth Hen wirklich greifen kann, ist das, was Henoch durch Visionen und Traumreisen vermittelt wurde und was er in seiner Tora vor Urzeiten niedergelegt hat: dieser Weisheit Henochs zu folgen und so auf dem Weg der Gerechtigkeit im kommenden Gericht zu bestehen.49

Die Einblicke in die Zukunft – durch Visionen und Traumreisen – decken jene Routen auf, auf welchen die jetzige Unrechtszeit möglichst unbeschadet überstanden werden kann. Dabei entlarven sie die Gegenwart als »Konfiguration von Werten, die umgestürzt werden«50, und setzen ihr ihre apokalyptische Weisheit gegenüber. Nicht weltliche, sondern himmlische Weisheit wird hier propagiert. Die Visionen und Traumreisen bieten dabei Gewähr, unmittelbar an die »Quelle des Wissens« zu rühren, was im folgendem Qumrantext zum Ausdruck kommt: Denn aus der Quelle Seines Wissens hat Er eröffnet Sein Licht und Wunderbares schaute mein Auge, und meines Herzens Erleuchtung, (im Blick auf) Mys[terien] von Gewordenem und Seiendem von Ewigkeit. Stütze meine Rechten auf festem Fels, Weg meines Fußes, vor nichts wird er weichen, denn Gottes Wahrheit, sie ist der Fels meines Fußes, und Seine Macht die Stütze meiner Rechten. Aus der Quelle seiner Gerechtigkeit kommt mein Recht als Licht in mein Herz aus Seinen Wundermysterien. Ewig Seiendes schaute mein Auge: Kenntnis, welche verborgen vor Mensch(en), Wissen und Klugheit, (verborgen) vor Menschensöhnen, Gerechtigkeits-Quelle und Sammlung von Macht mit (der) Herrlichkeit Statt, (verborgen) vor Fleisches-Rat. Denen, die Gott erwählt hat, gab Er sie zu ewigem Besitztum, gab ihnen ein Erbteil im Lose Heiliger und mit Himmelssöhnen verband Er ihren Rat 47 48 49 50

KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 11. Zur apokalyptischen Weisheit insgesamt s.8–12. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 11. EBNER, Wo findet die Weisheit ihren Ort? 91. KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 11.

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zu Einigungsgemeinschaft und Rat heiligen Baues, zu ewiger Pflanzung für alle künftige Zeit. (1 QS 11,3–9)51

Das erkennbare elitäre Bewusstsein geht einher mit einem exklusiven Wissen, das LÖNING als »rettendes Wissen«52 charakterisiert hat. Es hilft den Menschen, »die Gegenwart als unheilvolle Grundbefindlichkeit aller Menschen zu verstehen und sie als letzte Krisenzeit zu bestehen.«53 Somit kann die apokalyptische Weisheit als rettendes Wissen des zukünftigen Paradieses im Bewusstsein einer zerbrochenen Wirklichkeit verstanden werden. 2.2.2.1 Ausdifferenzierungen apokalyptischer Weisheit Die weitere Differenzierung und Verfeinerung des Spektrums weisheitlicher Traditionen hat in den letzten Jahren das besondere Interesse der Forschung geweckt und insbesondere im Bereich der apokalyptisch-weisheitlichen Konzeptionen zu wichtigen Erkenntnissen geführt. So hat sich gezeigt, dass apokalyptische Weisheit nicht ausschließlich auf ein Leben in der abgesonderten Gemeinschaft von Qumran beschränkt ist, sondern auch Adaptionen für offenere Lebensformen entwickelt hat, die aber dennoch dem apokalyptischen Grundmuster in der Einschätzung der gegenwärtigen Wirklichkeit treu geblieben sind. Die Qumrantexte selber erfreuten sich dabei großer Aufmerksamkeit: sei es zur Klärung der Ursprünge der Qumranbewegung in der henoch’schen apokalyptischen Tradition (GARCÍA MARTÍNEZ54, BOCCACCINI55) oder sei es zum besseren Verständnis der weisheitlichen Entwicklung im engeren Sinne. Die Diskussion der Weisheitsschriften aus den Höhlen am Toten Meer (zu ihrer Identifizierung und Klassifizierung siehe LANGE) ist in eine intensive Phase gekommen56, nachdem der Band DJD 3457 mit dem am besten erhaltenen und

51

Übersetzung nach: MAIER, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I 198, nach der Textausgabe von BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery Vol. 2. 52 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 1–41. 53 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 11. Somit »gilt die apokalyptische Ethik dem Überleben.« »Das bisweilen anzutreffende Urteil, die Apokalyptik kenne keine Ethik, ist unzutreffend.« (WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 60–61) 54 GARCÍA MARTÍNEZ, The Origins of the Essene Movement and of the Qumran Sect. Zur Besprechung dieser Groningen-Hypothese: BOCCACCINI, Henoch and Qumran Origins 249– 326. 55 BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis. The Parting of the Ways between Qumran and Enochic Judaism. Zur Besprechung dieser »Enochic-Essene Hypothesis« BOCCACCINI, Henoch and Qumran Origins 329–435. 56 Siehe nur die drei Sammelbände: HEMPEL, Charlotte/LANGE, Armin/LICHTENBERGER, Hermann (eds.), The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thought (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 159), Leuven 2002. GARCÍA MARTÍNEZ, Florentino (Hg.), Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical

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wichtigsten Weisheitstext (4QInstructions/Sapiential Work A/Musar le Mevin) 1999 erschienen ist. Wegweisend dazu ist die Dissertation von GOFF: In ihrem Titel »The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstructions« sowie in der Anspielung darauf von GARCÍA MARTÍNEZ »Wisdom at Qumran: Worldly or Heavenly?«58 werden wir sofort an die weltliche (traditionelle) und himmlische (apokalyptische) Weisheit erinnert. Wichtig ist, dass die Weisheit in 4QInstructions nicht mehr an sich das eigentliche Thema ist (wie in Daniel oder Henoch), dass es nicht mehr nur um eine Theorie der Weisheit geht, sondern dass das apokalyptische Szenario nun den Rahmen bildet für eine Praxis der Weisheit, die in vielen Bereichen inhaltlich sehr traditionell (à la Spr) daherkommt: Before the Dead Sea Scrolls came to light there was scant evidence of apocalyptic elements preserved in wisdom literature. 4QInstructions attests a Second Temple trajectory of the wisdom tradition that was poorly attested before the publication of the Dead Sea Scrolls. This stream of the sapiential tradition is characterized by the combination of traditional wisdom with an apocalyptic worldview.59

Diese Verbindung hat GOFF dazu veranlasst, von weltlicher und himmlischer Weisheit in 4QInstructions zu sprechen. Dass von ihm unter himmlischer Weisheit etwa dasselbe verstanden wird wie in dieser Arbeit, wird aus den eben zitierten Sätzen deutlich: es ist Weisheit, die auf einer apokalyptischen Weltsicht beruht. Bei der weltlichen Weisheit hingegen ergibt sich eine Spannung zum hier vertretenen Verständnis: Während er darunter offenbar bloß ein aktives Handeln in der Welt nach gewissen Regeln und Normen versteht (wie sie in dem, was klassisch als Weisheitsliteratur gilt, niedergelegt sind), das prinzipiell unabhängig von irgendeiner Weltanschauung ist, wird in dieser Arbeit weltliche Weisheit als Produkt der mosaischen Weltsicht verstanden. Von dieser mosaischen Weltsicht ist in 4QInstructions aber nichts zu spüren: das Handeln in dieser Welt steht vollständig unter apokalyptischen Vorzeichen; es erfordert eine praktische Weisheit, die im Bewusstsein des eigenen Auserwähltseins und im Wissen um die rettende Zukunft die Herausforderungen des alltäglichen Lebens zu überstehen versucht. In diesem Sinn ist es vollumfänglich himmlische, apokalyptische Weisheit, wie es auch GARCÍA MARTÍNEZ unterstreicht: Tradition (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 168), Leuven 2003. COLLINS, John J./STERLING, Gregory/CLEMENTS, Ruth (Hg.), Sapiential Perspectives: Wisdom Litterature in Light of the Dead Sea Scrolls. Proceedings of the Sixth International symposium of the Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature, 20–22 May, 2001 (STDJ 51), Leiden 2004. 57 STRUGNELL/HARRINGTON/ELGVIN/FITZMYER, 4QInstructions (Musar le Mevin) (DJD 34). 58 So der Titel des einführenden Beitrags im Sammelband: GARCÍA MARTÍNEZ, Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical Tradition. 59 GOFF, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstructions 218.

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In any case, I regard 4QInstructions as the representative of a new and different sort of Jewish wisdom, a wisdom whose authority is not grounded on human knowledge but on divine revelation. […] Qumran wisdom is not worldly and heavenly wisdom, it is revealed wisdom, and thus thoroughly heavenly.60

Dass in 4QInstructions nicht die Regeln der Yahad von Qumran gelten und es sich offensichtlich um einen anderen Adressatenkreis mit anderen Lebensformen und anderen Lebenskontexten handelt, zeigt die Diversität und Lebendigkeit innerhalb der apokalyptischen Weisheit: in ihr muss das Leben von der ‫רז‬ Gottes her nicht nur zur völligen Abschirmung und zum Rückzug von der Welt führen (Yahad), sondern kann auch eine praktische Weisheit beinhalten, die als Hilfe zum unbeschädigten Überstehen der jetzigen Unrechtszeit (apokalyptisches Szenario!) inmitten des traditionellen Lebens zur Seite steht, in der Erwartung des Kommens der neuen Welt. 4QInstructions zeigt somit große Anklänge an das, was BOCCACCINI als Enochic Judaism, d. h. als Hauptstrang der apokalyptischen Weltsicht, bezeichnet, den er dann in seiner späten Phase mit den Essenern identifiziert.61 Apokalyptische Weisheit Weisheit als Hilfe zum unbeschädigten Überstehen der jetzigen Unrechtszeit inmitten des traditionellen alltäglichen Lebens, in der Erwartung des Kommens der neuen Welt (Essenisches Judentum, Sapiential Work A)

Isoliertes Leben im Bewusstsein des eigenen Auserwähltseins, radikale Absage an die Welt in der Erwartung des Kommens der neuen Welt (Yahad in Qumran)

Die Ausdifferenzierung apokalyptischer Weisheit lässt sich weiter illustrieren, wenn das auch in der traditionellen Weisheit wichtige Thema von Reichtum und Besitz herangezogen wird. Ganz anders als die in jener erhaltene positive Würdigung kommt die Einschätzung in CD 4,12–1962 daher: Als eines der drei Netze Belials gilt neben Unzucht und der Verunreinigung des Heiligtums der Reichtum. Als Netz Belials ist er pauschal disqualifiziert, eine differenzierte Beurteilung ist nicht mehr möglich. Es bleibt nur die völlige Abkehr von der durch ihn korrumpierten Welt als Ausweg: Und das ist die (festgelegte) Ordnung für die Männer der Einung, die willig sind, von allem Bösen umzukehren, und festzuhalten an allem, was Er zu Seinem Wohlgefallen befohlen hat: sich abzusondern von der Gemeinde der Männer des Unrechts, um eine Einung zu werden in Tora und in Besitz. (1QS 5,1–2)63 60

GARCÍA MARTÍNEZ, Wisdom at Qumran: Worldly or Heavenly? 14. Siehe dazu: BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis 180–183. 62 MAIER, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer I 13, nach der Textausgabe von SCHLECHTER, Documents of Jewish Sectaries I. 63 Übersetzung aus: MAIER, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer I 177, nach 61

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Auch im Brief Henochs ist zu lesen: Wehe euch, die ihr Gold und Silber – (und) das ohne Gerechtigkeit – erwerbt und sagt: ›Wir haben Reichtum angesammelt und haben Schätze und besitzen alles, was wir wollen. Und nun wollen wir ausführen, was wir geplant haben, denn wir haben Silber gesammelt, und unsere Vorratshäuser sind gefüllt, und zahlreich wie Wasser sind die Feldarbeiter unserer Häuser.‹ Und wie Wasser wird eure Lüge zerrinnen, denn der Reichtum wird euch nicht bleiben, sondern plötzlich von euch verschwinden, weil ihr alles mit Unrecht erworben habt; und ihr werdet der großen Verfluchung hingegeben werden. (äth Hen 97,8–10)64

Eine solche Grundhaltung liegt auch 4QInstructions zugrunde, deren Adressaten wohl an der Grenze von materieller Armut oder bereits darunter leben. Reichtum erhält hier in neuer Interpretation eine positive Konnotation: »Poverty is used in different ways. It often refers to the material poverty of the addressee. The declaration that he has been lifted out of poverty is a metaphor for his elect status. The addressee is poor but his elect status is portrayed as a form of wealth.«65 Reichtum ist somit keine Kategorie dieser Welt mehr, sondern der neuen, kommenden Welt. Dadurch dass die Adressaten von 4QInstructions dennoch »in a free and open economic context«66 operieren (anders als die Yahad), erhält ihre Weisheit eine subversive Tendenz. Dass ihnen traditionelle Anweisungen zum wirtschaftlichen Überleben zur Seite gegeben werden (z. B. dass man Schulden ernst nehmen soll), ändert nichts an dieser Feststellung, sondern bestätigt sie gerade: »Wenn du Besitz (Geld) von Menschen leihst für deinen Mangel, [sollst du] nicht [ – ] tagsüber und nachts, und gönne [deiner] Seele nicht Ruhe […]« (4Q417 1 i 21–22)67 Das Verhalten ist subversiv, weil diese Leute gemäß ihrer apokalyptischen Vorstellung von Reichtum innerhalb der vom weltlichen Reichtum dominierten Welt leben und wirtschaftlich handeln müssen (und sich gerade nicht in Isolation befinden). Die weltlichen Verhältnisse bleiben dabei vorerst unangetastet, denn: »The ›reversal‹ that Enochic Judaism announced, however, was not expected to occur in this world but only in the world to come.«68

der Textausgabe von BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery Vol. 2 und unter Einbezug von 4Q256 Frg. 5 und 4Q258 Frg. 1 Kol. i (ALEXANDER/VERMES, Serekh ha-Yahad and Two Related Texts (DJD 26)). 64 Übersetzung aus: UHLIG, Das äthiopische Henochbuch 721. 65 GOFF, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstructions 151. 66 GOFF, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstructions 167. 67 Übersetzung aus: MAIER, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer II 438. Siehe dazu auch: GOFF, The Worldly and Heavenly Wisdom of 4QInstructions 143. Aktuelle Textausgabe: STRUGNELL/HARRINGTON/ELGVIN/FITZMYER, 4QInstructions (Musar le Mevin) (DJD 34). 68 BOCCACCINI, Beyond the Essene Hypothesis 183.

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Deutungsversuche jesuanischer Weisheit

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3. Deutungsversuche jesuanischer Weisheit 3.1 Apokalyptik contra Weisheit? Die neutestamentliche Forschung des vergangenen Jahrhunderts wurde immer wieder dazu verleitet, auf die eine oder andere Seite derjenigen Alternative auszuschlagen, die einen unvereinbaren Gegensatz zwischen einer traditionell weisheitlichen Interpretation und einer apokalyptischen Interpretation Jesu erkennt. Einen forschungsgeschichtlichen Überblick zu diesen zwei Positionen bietet MACK69 in seinem zweiten Kapitel (An Uncommon Wisdom; siehe folgende Seite). Um aus Jesus einen traditionellen Weisheitslehrer zu machen, musste das Nebeneinander von traditionell-weisheitlichen und apokalyptisch-weisheitlichen Elementen auf der Ebene der synoptischen Evangelien durch ein diachrones Vorgehen zu Gunsten einer rein weisheitlichen Grundschicht aufgelöst werden. Da sich aber auch schon auf der Ebene der rekonstruierten Quelle Q apokalyptische Aussagen finden, drängten sich weitere Hypothesen zu einer mehrstufigen Kompositionsgeschichte von Q auf. Selbst dann bleibt aber einiges Material übrig, was radikal und paradox daherkommt und eine ironische, aphoristische Qualität aufweist.70 Diese radikalen, allen gesellschaftlichen Normen widersprechenden Verhaltensanweisungen gaben und geben bis heute weiterhin Anlass, an Jesus gewisse Züge eines kynischen Wanderpredigers zu erkennen:71 The themes of Jesus’ teaching – voluntary poverty, severance of family ties, the renunciation of needs, and carefree and fearless attitudes toward life – have parallels in reports about Cynic philosophers. Likewise, Jesus’ use of irony and paradox, as well as his reliance on symbolic actions, may have cause his Palestinian contemporaries to look upon him as something like a Cynic philosopher – who was a common phenomenon in the GrecoRoman world (and that included Palestine!).72

69

MACK, The Lost Gospel 29–39. Siehe dazu kurz: HARRINGTON, Wisdom Texts from Qumran 88–89. 71 DOWNING, Christ and the Cynics. DOWNING, Cynics and Christian Origins. VAAGE, Galilean Upstarts. LANG, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers. Die Besprechung dieser These wird an geeigneten Stellen in Kapitel II.2.3 und 3.6 vorgenommen. 72 HARRINGTON, Wisdom Texts from Qumran 90. 70

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Jesus als Vertreter von traditioneller Weisheit

Jesus als Apokalyptiker WEISS (1892)73: Jesus als Visionär, Verkünder einer vollständig apokalyptischen Transformation der Welt SCHWEITZER (1906)74: Jesus als apokalyptischer Prophet

HARNACK (1907)75: Jesus als Lehrer von gehobener und zeitloser menschlicher Ethik BULTMANN (1921)76: weisheitliche Sprüche als sekundäre Hinzufügungen DODD (1961)77: realized eschatology Diskussion um Q: ROBINSON (1971)78: Form von Q als Weisheitsgattung (*)

LÜHRMANN (196979): Thema des Gerichts als Organisationsprinzip für Q (**)

KLOPPENBORG (198780, 198881): Kompositionsgeschichte von Q: Q1 = (*), Q2 = (**) VAAGE (1987)82: Q1 als Sapiential Instruction, in der Tradition des Kynismus in der hellenistischen Popularphilosophie

Auf der anderen Seite wurden eine rein apokalyptische Urverkündigung Jesu postuliert und die weisheitlichen Sprüche als sekundäre Hinzufügungen desavouiert. So steht Jesus bei BULTMANN selbst dort, wo er als Weisheitslehrer bezeichnet wird83, letztlich ohne Weisheit da; denn BULTMANN geht davon aus, 73

WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes. SCHWEITZER, Von Reimarus zu Wrede. 75 HARNACK, Sprüche und Reden Jesu: die zweite Quelle des Matthäus und Lukas. 76 BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Vgl. auch BULTMANN, Rudolf, Jesus, Berlin 1926. 77 DODD, The Parables of the Kingdom. 78 ROBINSON, »Logoi Sophon« On the Gattung of Q. 79 LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle. 80 KLOPPENBORG, The Formation of Q: Trajectories in Ancient Wisdom Collections. 81 KLOPPENBORG, John, Redactional Strata and Social History in the Sayings Gospel Q. Paper presented to the Society of Biblical Literature Q Seminar, Chicago, November 1988. 82 VAAGE, Q: The Ethos and Ethic of an Itinerant Intelligence. 83 In seiner Geschichte der synoptischen Tradition ist unter der Rubrik »Logien« in Klammern dazugesetzt: »Jesus als Weisheitslehrer« (BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition 73). 74

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Deutungsversuche jesuanischer Weisheit

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dass »zahlreiche Logien der Volksweisheit entstammen und […] erst durch die Gemeinde in die christliche Tradition aufgenommen und zu Jesusworten gestempelt worden«84 sind. Als authentisches Jesuswort gelten – unter methodischem Gesichtspunkt in Vorwegnahme des später etablierten Unähnlichkeitskriteriums – nur Logien, »die aus dem Hochgefühl der eschatologischen Stimmung gesprochen sind«, »die von der Energie des Bußrufs getragen sind« sowie »endlich Worte, die die neue Gesinnung fordern«85. In diesen positiven Kriterien »für die Authentizitätsbeglaubigung der weisheitlichen Logien«86 ist nicht zuletzt BULTMANNs Wende von der liberalen zur dialektischen Theologie zu erkennen, wobei er sich in der apokalyptischen Charakterisierung der Botschaft Jesu letztendlich an WEISS und SCHWEIZER orientiert. Somit war eine verhängnisvolle Alternative eröffnet, deren Nachwirkungen in der weiteren Forschungsgeschichte kaum zu unterschätzen sind, so dass Küchler zur Recht davor warnen muss, bloß auf die eine oder andere Seite auszuschlagen, nämlich Jesus entweder »nur als Weisheitslehrer im Sinne der kynisch-stoischen Wanderprediger« (dies wäre eine aktuelle Variante von »Jesus als Weisheitslehrer«) oder »nur als ›verrückten‹ (vgl. Mk 3,21) apokalyptischen Prediger«87 zu verstehen. In der Tat fand im Verlauf der weiteren Entwicklung jeweils meist nur die eine oder andere Richtung (Jesus als traditioneller Weiser oder Jesus als Apokalyptiker) das Hauptinteresse eines Forschers, jedoch mit stets abnehmendem Anspruch auf Exklusivität. Dabei kam es zusehends zu einer Profilierung der jesuanischen Eigenart sowohl vor dem apokalyptisch- als auch dem traditionell-weisheitlichen Hintergrund. Immer mehr öffneten sich dabei jeweils implizite oder explizite Fenster, so dass eine Darstellung des traditionellen Weisheitslehrers Jesus auch Ausblicke auf Jesus als Apokalyptiker (und umgekehrt) gewähren konnte.

3.2 Apokalyptische Weisheit in der Verkündigung Jesu 3.2.1 Gottesherrschaft als Handlungsprinzip (MERKLEIN) Den Rahmen der Gesamtverkündigung Jesu erkennt MERKLEIN88 in der Gottesherrschaft (βασιλεία τοῦ θεοῦ), deren breite Bezeugung in der Predigt Jesu in den synoptischen Evangelien kaum einen anderen Schluss zulässt, als dass

84

BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition 106. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition 110. 86 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 3. Zur Diskussion der Position von BULTMANN siehe bei ihm s.2–5. 87 KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 15. 88 Wegweisend sind seine einflussreiche Habilitationsschrift MERKLEIN, Gottesherrschaft als Handlungsprinzip sowie die Studie MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. 85

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Jesus selbst ihr Initiator gewesen ist.89 Ihren eschatologischen, »vom Ansatz her futurischen Charakter« sieht MERKLEIN durch häufige Kombination mit Verben der Bewegung unterstrichen und auch durch präsentische Aussagen nicht in Frage gestellt, »da letztere gerade dadurch ihre besondere Brisanz erhalten.«90 Begriffsgeschichtlich setzt er damit am apokalyptischem Sprachgebrauch von βασιλεία τοῦ θεοῦ an.91 Beim genaueren Vergleich mit der apokalyptischen Weltsicht, welcher Jesus historisch konkret wohl in Johannes dem Täufer begegnet ist92, weist seine Botschaft jedoch erhebliche Differenzen auf, die von MERKLEIN unter den Stichworten der »Heilszukunft der Gottesherrschaft«93 und vor allem der »Gottesherrschaft als bereits in Gang gekommenen Geschehens«94 ausführlich erörtert werden. Diese Transformation des apokalyptischen Horizontes und seine spezifische Anbindung an die Gegenwart, die nicht nur in den expliziten Aussagen über die βασιλεία τοῦ θεοῦ, sondern ebenso sowohl in Jesu Taten als auch in seinen Gleichnissen zum Ausdruck kommt, erklärt MERKLEIN allerdings gänzlich im Rahmen der apokalyptischen Weltsicht.95 Daher kann er in den lebenspraktischen Anweisungen Jesu höchstens weisheitliche Motive (beispielsweise aus dem Bereich der Schöpfungswirklichkeit), nicht aber traditionell-weisheitliches Denken erkennen96. Stattdessen bleibt alle Weisung »eschatologisch qualifiziert«97, was MERKLEIN insbesondere an Jesu Einstellung gegenüber der Mose-Tora aufzuzeigen versucht: Was Jesus bestreitet, ist nicht die Tora als solche, wohl aber ihre Beanspruchung im Sinne einer ausschließlich schrift- und traditionsgebundenen Interpretation des Gotteswillens. Einem solchen Verfahren stellt Jesus sein unmittelbares Wissen um den Gotteswillen gegenüber.98

Phänomenologisch lassen sich hier durchaus Parallelen zum eschatologischen Wissen des Lehrers der Gerechtigkeit in Qumran aufweisen, auch wenn die inhaltliche Zielrichtung erheblich differiert. Das unmittelbare, eschatologische Wissen, das durchaus in weisheitlicher Form verkündet werden kann99,

89

MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 25. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 24. 91 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 25. Zum grundsätzlichen Verständnis des Begriffs DERS. s.37–44. 92 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 27–36. 93 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 37. 94 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 59. 95 Diese apokalyptische Konstruktion wird unten in Kapitel II.5.1 genauer besprochen. 96 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 88.101. 97 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 102. 98 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 100. 99 Als Beispiel diskutiert MERKLEIN kurz Mk 2,27 zur rechten Auslegung des Sabbatgebotes, wo Jesus mit Verweis auf den Schöpfergott, der den Menschen vor dem Sabbat geschaffen hat, 90

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bedingt bei Jesus die »Proklamation des bereits gegenwärtig stattfindenden eschatologischen Erwählungshandelns Gottes«.100 Die somit vorherrschende eschatologische Qualifizierung sämtlicher Weisungen bringt MERKLEIN allerdings EBNERs Vorwurf einer »Omnipräsenz der Gottesherrschaft«101 ein. Das Hauptproblem dürfte dabei sein, dass die Bedeutung der traditionell-weisheitlichen Elemente in der Verkündigung Jesu allzu schnell marginalisiert wird, indem sie zwar in ihrer Form und in ihren Motiven zur Geltung kommen können, aber sogleich eschatologisch qualifiziert werden; dies verschließt in der Tat den Blick dafür, dass in ihnen durchaus Elemente des traditionell-weisheitlichen Denkens erhalten geblieben sind. 3.2.2 Gegenwart und Gottesherrschaft (WEDER) Die Transformation des apokalyptischen Horizontes und seine spezifische Anbindung an die Gegenwart wird von WEDER102 weiter untersucht. Dabei gelingt es ihm einerseits, die Ausprägung der jesuanischen Konzeption der βασιλεία τοῦ θεοῦ vor dem Hintergrund der apokalyptischen Hauptströmung in scharfen Umrissen herauszuarbeiten. Er widersteht dabei der Gefahr, »den Begriff des Gottesreiches, der bei Jesus gerade nicht theoretisch oder begrifflich expliziert wird«103, einfach mit Materialen aus der jüdischen Apokalyptik auszufüllen. Stattdessen nimmt er das Fehlen eines theoretisch entwickelten Begriffs der Gottesherrschaft ernst und erkennt gerade darin eine Absetzung Jesu von den gängigen Konzeptionen der apokalyptischen Hauptströmungen. Ausgehend von Lk 11,20 nimmt er dabei eine Verschiebung vom Zeitaspekt auf den Machtaspekt der Gottesherrschaft wahr104: die βασιλεία τοῦ θεοῦ gewinnt eine neue Ausdehnung und Reichweit bis ins Jetzt der Gegenwart.105 Dabei geht es nicht um eine »innerzeitliche Beziehung der Gottesherrschaft zur Gegenwart, sondern vielmehr um ihre als Wirksamkeit gedachte Wirklichkeit«106 in der Gegenwart. (der Form nach) weisheitlich argumentiert, während das Motiv der Aussage im »Kontext seiner eschatologischen Sendung gesucht werden« muss (MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 101). Im Vergleich mit der Zehnwochenapokalypse hält er grundsätzlich dazu fest: »Im apokalyptischen Denken kann die Übergabe des eschatologischen Wissens vielmehr durchaus die Enthüllung des wahren Planziels der Schöpfung und des eigentlichen Schöpferwillens Gottes zum Ziele haben« (MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 104). 100 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 102. 101 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 5. 102 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft. 103 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 21. 104 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 31. 105 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 29. 106 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 29. »Entscheidende Zeit ist eindeutig die Gegenwart, nicht die Zukunft, so sehr jene im Horizont von dieser allererst entscheidend wird« (Gegenwart und Gottesherrschaft 55).

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Damit wird nun andererseits auch der Gegenwartsbezug des apokalyptischen Horizontes neu definiert: »Nicht ein Teil, nicht nur ein (ontologisch minderes) Zeichen der Gottesherrschaft, sondern die Gottesherrschaft selbst erreicht das Jetzt.«107 Zukunft und Gegenwart stehen nicht mehr in einer beziehungslosen Abfolge wie in der Apokalyptik, sondern in Beziehung zueinander: »Die Frage ist nicht mehr, wann die Gottesherrschaft dem Jetzt ein Ende machen wird, sondern die Frage ist, wo und wie sie im Jetzt aufblitzt.«108 Aufgrund der Charakterisierung ihrer Erscheinung als Aufblitzen manifestiert sich die Gottesherrschaft »im Fragment statt in der Totalen«.109 Zu Recht hebt WEDER dabei den befreienden Charakter ihrer Macht hervor. Aufgrund dieser Neubestimmung des Stellenwerts der Gegenwart eröffnet sich Raum für traditionell-weisheitliche Konzeptionen, und zwar nicht nur für ihre Motive, sondern für das zugrunde liegende traditionell-weisheitliche Denken. Dies zeigt sich an WEDERs Umgang mit Motiven aus dem Bereich der Schöpfungswirklichkeit: Die »Wahrnehmung Gottes im schöpferischen Fragment des Alltags passt genau zur Aussage, dass die Gottesherrschaft im befreienden Tun Jesu bis in die Gegenwart hereinreicht.«110 Der apokalyptische Horizont erscheint somit dahingehend transformiert, dass er die Kompatibilitätsprüfung mit der traditionell-weisheitlichen Seite der Verkündigung Jesu bestehen kann. Wie ist das Zustandekommen einer solchen Transformation aber zu erklären? Weil WEDER hierfür anders als MERKLEIN keine apokalyptische Konstruktion anbietet, können bei ihm traditionelle Weisheitskonzeptionen in den Blick kommen, ohne dass allerdings ihre Präsenz für die Erklärung der Transformation des apokalyptischen Horizontes bereits fruchtbar gemacht würde. 3.2.3 Rettendes Wissen im Rahmen einer sapientialen Soteriologie (LÖNING) LÖNING stellt nicht nur das »apokalyptische Wissenskonzept« generell vor, »in dem das soteriologische Motiv der Rettung aus der eschatologischen Krise von zentraler Bedeutung ist«111, sondern beleuchtet auch das Phänomen der apokalyptischen Weisheit im Neuen Testament und bestimmt seine Stellung im 107

WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 31. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 32. »Während sie in der Apokalyptik zum Zeichen für die wahre Zeit verblasst, wird sie bei Jesus zum Ort, wo die wahre Zeit aufblitzt« (Gegenwart und Gottesherrschaft 37). 109 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 33. 110 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 58. Er geht gar weiter und erhebt die weisheitlichen Aussagen zum Kriterium, anhand dessen die Botschaft von der Gottesherrschaft verstanden werden muss: »Als Eschatologie Jesu kann nur gelten, was sich mit seinem weisheitlichen Umgang mit der gegenwärtigen Weltzeit verträgt« (Gegenwart und Gottesherrschaft 25; siehe dazu auch EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 18–19). 111 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 5. 108

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Modell der apokalyptisch-weisheitlichen Denkform. Obwohl er dabei vor allem die theologischen Konzepte neutestamentlicher Schriftsteller mit bereits erfolgter christologischer Fortschreibung im Blick hat, werfen seine Untersuchungen doch auch ein Licht auf die synoptische Jesustradition. Am Gebot der Feindesliebe (Mk 6,27–35) lässt sich demnach gut erkennen, inwiefern das Gebot selbst und die es »konkretisierenden Mahnungen […] nicht von ihrem apokalyptischen Wirklichkeitskalkül ablösbar« sind112: Ratschläge, die zu einem Handeln auffordern, das eher einer friedlichen und heilen Welt entspricht statt der gegenwärtigen Realität von Gewalt und Feindschaft gerecht zu werden, wären »ohne die sinngebende Überzeugung von der endzeitlichen Zuwendung Gottes zur unerlösten Menschenwelt« tatsächlich »Unsinn«.113 Vor dem apokalyptisch-weisheitlichen Horizont bewirken sie aber nichts weniger als die »praktische Antizipation der kommenden Welt«114, die auf ganz anderen Werten aufgebaut sein wird als das gegenwärtige »Chaos aus Feindschaft, Fluch, Gewalt und Raub«.115 Dabei erhält die Gegenwart wiederum eine ganz andere Qualität als in der apokalyptischen Weisheit, was LÖNING auf dem christologischen Reflexionsniveau aufzeigt, was aber wiederum auch auf die Situation des historischen Jesus hin weiter entwickelt werden kann: im Unterschied zur apokalyptischen Weisheit geschieht die Stiftung des rettenden Wissens nicht in einer »idealen Urzeit«116, sondern gehört mit dem Auftreten Jesu von Nazareth zu den gegenwärtigen Ereignissen am Ende der Zeit. Daher erscheint diese eschatologische Periode in Übereinstimmung mit der apokalyptischen Weltsicht zwar als gefährliche Zeit, aber sie ist auch vor allem »die Zeit des rettenden Wissens«117 und erhält von daher eine positive Färbung.

3.3 Traditionelle Weisheit in der Verkündigung Jesu 3.3.1 Weisheit als praktische Konsequenz aus der Reich-Gottes-Botschaft (ZELLER) ZELLER118 beschäftigt sich ausführlich mit den Mahnworten in den synoptischen Evangelien, die zu einem konkreten Tun auffordern und dabei aus 112

LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 24. LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 24. Denn die Mahnungen verlangen, »dass man in ungerechten Verhältnissen selbst nach den Regeln der konnektiven Gerechtigkeit handelt«. 114 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 24. 115 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 24. 116 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 28. 117 LÖNING, Die Konfrontation des Menschen mit der Weisheit Gottes 28. 118 ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern. 113

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einem Imperativ (bzw. Vetitv) mit anschließendem motivierendem Begründungssatz bestehen (z. B. die Aufrufe zur Sorglosigkeit in Mt 6,25–33). Im Zentrum der Untersuchung steht ihre Funktion, die Zeller aus der Form und dem Sitz im Leben anhand formkritischer Methoden erschließt.119 In den Imperativen erkennt ZELLER zwar eine große Kontinuität zur alttestamentlichen und frühjüdischen traditionellen Weisheit, stellt jedoch auch eine »spezifische Konzentration und Intensivierung«120 fest (so auch bei den Aufrufen zur Sorglosigkeit). Die Begründungssätze gehen ihrerseits geradezu von einer heilen Welt aus »und erwecken den Eindruck, als liefe die Welt ihren gewohnten Gang völlig ungestört und vor allem ganz verlässlich weiter«121 »Wenn der Mensch zur Sorge versucht ist, so setzt sich der Mt 6,26.28–30.32b gepredigte Vorsehungsglaube doch fast naiv über die Erfahrung des Mangels und des Leidens hinweg.«122 Über die Formkritik, konkret über den Sitz im Leben von weisheitlichen Mahnungen123, wird nun für die traditionell-weisheitlichen Stoffe eine spezifische Bestimmungsgruppe derart postuliert, »dass die analysierten Mahnworte nicht einfach für die Volksmenge bestimmt waren, sondern für Israeliten, die sich bereits für die von Jesus verkündete Gottesherrschaft entschieden hatten.«124 Während also in einem ersten Schritt die eschatologische Reich-Gottes-Botschaft (bei ZELLER zum Teil in noch nicht transformierten apokalyptischen Bahnen gedacht) verkündet wird, werden in einem zweiten Schritt alle, die damit ernst machen wollen, weisheitlich unterwiesen: Die formkritische Bestimmung der Mahnworte ermöglichte es, sie in der Unterweisung eines über die berufenen Nachfolger hinausreichenden Kreises von Menschen anzusiedeln, die bereits die prophetische Ankündigung des nahen Gottesreiches vernommen haben und nun dem Ruf zur Busse entsprechen wollen.125

Der Sitz im Leben der weisheitlichen Mahnsprüche Jesu ist somit »komplementär zu dem seiner prophetischen Botschaft«126: in zeitlich aneinander anschließenden Phasen erfolgt zuerst die eschatologische Einführung gefolgt von der konkret-weisheitlichen Unterweisung (»parataktische Zuordnung«127). Inhaltlich kommt es jedoch zu einer Vorordnung der Reich-Gottes-Botschaft128, was ZELLER zur Aussage veranlasst, »die Mahnungen Jesu« 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128

ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 11. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 151. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 9. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 164. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 170–172. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 172. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 177. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 177. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 9. ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 181. »Sicher ging Jesu Pre-

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würden »unter eschatologischen Vorzeichen«129 stehen. Die Intensivierung und Radikalität der Forderungen Jesu im Vergleich zur hergebrachten Weisheit gehen nach ihm auf das Konto dieser Eschatologisierung.130 Es wird somit bereits eine erste Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens unter apokalyptischen Einflüssen erkennbar. Es bleibt aber die Frage, ob sich die Ankündigung der βασιλεία τοῦ θεοῦ und »die Projektierung eines bestimmten Verhaltens überhaupt trennen lassen«.131 3.3.2 Weisheit und Schöpfungstheologie (VON LIPS) In seiner Habilitationsschrift untersucht VON LIPS132 die Weisheit in der Jesusüberlieferung nicht nur anhand von Weisheitslogien, sondern bezieht in Überwindung der üblichen formgeschichtlich getrennten Betrachtung133 ebenfalls Gleichnisse in die Untersuchung mit ein (z. B. Mt 20,1–16), um damit die »beiden Textgruppen weitgehend gemeinsamen Denkmuster«134 aufzeigen zu können. Da der Übergang von Logien zu Gleichnissen fließend ist, ist »unter pragmatischem Aspekt« der Unterscheidung in diese beiden Hauptgattungen »die Differenzierung zwischen Aussageformen und Mahnungen« vorzuziehen.135 Unter Beachtung der Grundstrukturen von Erfahrungsbezug und analogischem Denken136 arbeitet VON LIPS die gattungsmäßige Ausdifferenzierung (Aussageformen: feststellende Sentenzen, z. B. Mt 23,12; Vergleiche, z. B. Mk 10,25parr; bildliche Redeweise, z. B. Lk 13,24; Mahnungen: mit oder ohne Begründungen137, z. B. Mk 9,35) sowie die thematischen und motivischen Bezüge zur traditionellen Weisheitskonzeption in der jesuanischen Verkündigung heraus.138 Gerade bei der Einordnung in den alttestamentlich-traditionellen Weisheitsstrom zeigt sich allerdings eine spezifische Differenz: Während die Wahrnehmung der gebrochenen Wirklichkeit in der traditionellen Weisheit zu digt und Wirken von der unableitbaren prophetischen Grundgewissheit aus, dass Gottes βασιλεία nahe ist. Sie allein genügte aber nicht, um die konkreten Folgen dieser Nähe für die Praxis zu explizieren. Als Füllung bot sich die Weisheit an: In ihren Traditionen fand Jesus sittliche Regeln und vorformulierte Anschauungen über Gott« (Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 180). 129 ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 178. 130 ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern 178. 131 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 10. 132 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 193–266. 133 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 235. 134 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 235. 135 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 254. 136 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 254. 137 Die Mahnungen mit Begründung entsprechen dem Typ des »weisheitlichen Mahnspruchs« bei ZELLER, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern. 138 Zusammenfassend VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 254–255.

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einem »Ambivalenzcharakter weisheitlicher Mahnungen«139 geführt hat (z. B. in der vorsichtig positiven Einschätzung von Besitz und Reichtum140), zeigt sich in einigen Aussagen und Mahnungen Jesu eine Einseitigkeit, die eine mögliche alternative Position stark betont und durch ihre Radikalisierung zu einer »Extremposition innerhalb der weisheitlichen Ambivalenz«141 (oder gar zu einer Ausblendung dieser Ambivalenz) gelangt (z. B. Mt 6,24). Wie sind diese weisheitlichen Extrempositionen zu erklären? Auch nach von Lips sind sie »zweifellos«142 auf dem Hintergrund der Botschaft Jesu von der kommenden βασιλεία τοῦ θεοῦ zu verstehen, deren Verkündigung in prophetischer Vollmacht die Weisheit zwar zu-, nicht aber »untergeordnet«143 ist. Diese Zuordnung ist möglich, weil die apokalyptische Botschaft Jesu in der bestehenden Schöpfung bereits einen Anknüpfungspunkt findet; die Schöpfung ihrerseits ist einer der Zielpunkte des Erfahrungsbezugs der traditionellen Weisheit, weshalb von einer Zuordnung der Weisheit zur apokalyptischen Botschaft über die Schöpfungswahrnehmung gesprochen werden kann. Dass die Rede von der βασιλεία τοῦ θεοῦ an der Schöpfung anknüpfen kann, zeigt sich in einigen bekannten Gleichnissen und Begründungen von Mahnworten (z. B. Mt 6,26). Hier wird »das Wesen der Herrschaft Gottes in Entsprechung zum Geschehen in der Natur«144 gesehen. Anders verhält es sich dort, wo der Erfahrungsbezug auf zwischenmenschliches Verhalten zielt: dieses steht meistens im Kontrast zur geforderten Praxis der βασιλεία und wird selbst dort, wo es ansatzweise fassbar wird, sogleich als Irritation und Provokation wahrgenommen (vgl. Mt 20,1–16). VON LIPS formuliert daher etwas überspitzt, dass das zwischenmenschliche Verhalten, auch da, wo es korrekt ist, offensichtlich nicht geeignet ist, in ungebrochener Weise eine Analogie zum Geschehen der Gottesherrschaft auszudrücken – im Unterschied zu Vorgängen in der Schöpfung, die eben solche Analogie bezeichnen können.145

Es gilt dabei zu beachten, dass die hier vorhandene Wahrnehmung der Schöpfung eine große Einseitigkeit aufweist, indem ihre Gebrochenheit, welche sich in den lebenspraktischen Anweisungen traditioneller Weisheit widerspiegelte, 139

VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 255. Zur Diskussion dieses und weiterer Themenfelder: VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 215–223. 141 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 223. Manche Aussagen gehen noch weiter und scheinen sich von Anfang an nicht im Rahmen der weisheitlichen Ambivalenz zu bewegen, sondern verdienen schlichtweg das Prädikat »weisheitlich nicht akzeptabel« (VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 224). 142 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 255. 143 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 256. 144 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 236. 145 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 240. 140

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sowie ihre negativen Aspekte völlig ausgeblendet werden: »Es werden nicht beliebige Beispiele gebracht, sondern positive Beispiele des Schöpferhandelns bzw. eines seinem Schöpferwillen entsprechenden Geschehens.«146 Das Vorhandensein einer solchen Wahrnehmung der gegenwärtigen Wirklichkeit müsste jedoch erklärt werden, denn sie ist in dieser Form von der traditionellweisheitlichen Weltanschauung her nicht gegeben, sondern muss vor ihrem Hintergrund geradezu naiv erscheinen. In der jesuanischen Verkündigung erscheint somit auch die traditionelle Weisheit in transformierter Gestalt.147 Wenn in der Schöpfung – auch wenn sie etwas realistischer gesehen wird – die Güte des Schöpfers noch erkannt werden kann, dann wird die meilenweite Entfernung zur apokalyptischen Weltanschauung überdeutlich. Die Vereinbarkeit mit der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ ist demnach nur dann gegeben, wenn diese nicht »apokalyptisch mit dem neuen Äon identifiziert wird, vor dem der alte vergehen muss«, sondern wenn »es um Erneuerung und Vollendung der Schöpfung (als bestehender) geht.«148 VON LIPS wies damit in seiner Habilitationsschrift den Weg in die Richtung jener Transformation apokalyptischer Weisheit in der jesuanischen Verkündigung, die WEDER drei Jahre später aufgezeigt hat. 3.3.3 Die situative Erfahrungsweisheit des Wanderpredigers (EBNER) In seiner Habilitationsschrift setzt EBNER149 die von WEDER skizzierte jesuanische Transformation des apokalyptischen Horizontes voraus, um die in dessen Freiräume einzuordnenden traditionellen Weisheitselemente genauer zu bestimmen. Er stützt sich dabei ebenfalls auf das Verständnis von Gottesherrschaft bei MAIER150, der darunter eine nach dem Willen Gottes ausgerichtete »Lebens- und Sozialordnung«151 versteht, deren materielle Grundlage die Tora darstellt. Ihren unermesslichen Vorrat an Weisheit hat der Weise »für den jeweiligen Augenblick je neu auszuloten und für die konkreten Erfordernisse fruchtbar zu machen.«152 Entscheidend ist dabei, dass diese Aufgabe unange-

146

VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 251. An einigen Stellen kommt die Natur aber auch als »gestörte Schöpfung« in den Blick, womit eine den traditionellen Weisheitskonzeptionen näher stehende Perspektive eingenommen wird. 147 EBNER kritisiert VON LIPS zu Recht, dass »die Traditionen, die er für den motivgeschichtlichen Hintergrund der Jesussprüche – und damit der Schöpfungstheologie namhaft macht, […] gerade keinen Analogiecharakter« haben, sondern sich ihre Intention »in der Doxologie« erschöpft (EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 13). 148 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 252. 149 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 150 MAIER, Torah und Pentateuch, Gesetz und Moral. Beobachtungen zum jüdischen und christlich-theologischen Befund. 151 MAIER, Tora und Pentateuch, Gesetz und Moral 37. 152 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 16.

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tastet bleibt, auch wenn es zu einer »Eschatologisierung, bzw. Apokalyptisierung des Gottesherrschaftsmodells«153 kommt. Mit diesen Prämissen und unter Zuhilfenahme einer streng diachron orientierten Methodologie und zahlreicher literarkritischer Hypothesen gelangt EBNER zur Charakterisierung jesuanischer Weisheit als situativer Erfahrungsweisheit mit eigener Pragmatik: es handelt sich um Erfahrungsweisheit in dem Sinne, dass anhand von Realien (Alltagsvorgänge und -dinge) auf einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund von Sprecher und Empfänger Bezug genommen wird; diese Realien kommen in den Sprüchen Jesu situativ in Alltagsgesprächen zur Sprache und stellen Analogien zu einem zu lösenden Problem in einer konkreten Einzelsituation her. Unter funktionalem Aspekt sind somit die Logien Jesu mit Sprichwörtern vergleichbar: Wie auch die Wissenssoziologie unserer Tage durch Feldstudien nachgewiesen hat, bilden Sprichwörter in Alltagsgesprächen jeweils die argumentativen Knotenpunkte. Wegen ihrer sprachlichen Prägnanz und wegen ihrer Wirkung prägen sie sich dem Gedächtnis besonders gut ein – und können auch anderweitig erneut eingesetzt werden. Jesus selbst versuchte mit seinen Sprüchen, brenzlige Situationen zu bewältigen.154

Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, dass dabei der schriftliche Kontext der Logien (in Q oder den synoptischen Evangelien) vollständig vernachlässigt wird. Nach EBNER sind diejenigen Sprüche, »die sich am Ende auf Jesus zurückführen lassen, knapp und präzise«, werfen »aber doch nur ein sehr beschränktes Licht, eben ein Spotlight, auf die jeweilige Situation«.155 EBNERS Einschätzung, dass diese Alltagsweisheit inhaltlich ganz in der Linie traditioneller Weisheit steht und bei Jesus in keiner Weise mit einem reflexiven Überbau verbunden ist, verbietet es ihm, Jesus mit dem Titel »›Weisheitslehrer‹156 belegen« zu können. Vielmehr verortet er ihn in der große Gruppe jener klugen Frauen und Männer, deren Größe darin bestand, »in der spontanen Auseinandersetzung Analogien aus dem Alltagsleben zu finden, die ihrer (bereits getroffenen) Option entsprachen und die sie damit auch dem Gegner, bzw. Gesprächspartner plausibel machen konnten.«157 Dies entlockt ihm die Aussage, dass sich Jesus von der Tora-Weisheit und der apokalyptischen Weisheit als den zwei »Hauptströmen der Weisheit, die zu seiner Zeit in Palästina en vogue sind, deutlich«158 abhebt. Offenbar schätzt EBNER dabei die beiEBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 18. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 395. 155 EBNER, »Weisheitslehrer« – eine Kategorie für Jesus? 118–119. 156 EBNER versteht darunter einen Weisheitslehrer à la Jesus Sirach: Er »setzt erprobte weisheitliche Strategien, wie sie bereits in der Tradition überliefert sind, breitflächig im Sinn einer Beratung im Blick auf ein toragemässes Leben ein« (EBNER, »Weisheitslehrer«-eine Kategorie für Jesus? 111). 157 EBNER, »Weisheitslehrer« – eine Kategorie für Jesus? 118–119. 158 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 393. 153 154

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den weisheitlichen Hauptströmungen mit ihrem reflexiven Überbau als intellektuelles Elfenbeinturmdenken ein, das ohne Einfluss auf die alltägliche Erfahrung und die damit einhergehende praktische Weisheit eines Jesus von Nazareth bleiben muss. Die »bereits getroffene Option«, die in der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ zu suchen ist, scheint dabei gänzlich auf einer anderen Ebene zu liegen und keinen Niederschlag in der alltäglichen Auseinandersetzung gefunden zu haben. Somit kann EBNER die Zuordnung von apokalyptischen und weisheitlichen Denkmustern159 im Sinne einer Aufgabenteilung vornehmen: »Die im apokalyptischen Weltbild gewonnene Überzeugung«160 lässt die Welt mit den neuen Augen der bereits realisierten βασιλεία τοῦ θεοῦ sehen. Dabei werden »die grundlegende Erfahrung und die Motivation des Verhaltens […] in apokalyptischen Mustern zur Sprache gebracht, die Begründung des Verhaltens bzw. dessen Rechtfertigung dagegen in weisheitlichen Kategorien.«161 Daher kann er gar nicht anders, als die teilweise subversive und radikalisierte Färbung einiger weisheitlicher Logien, welche in der Vergangenheit einerseits zu Vergleichen mit kynischen Wanderpredigern angeregt hat, andererseits vor dem Hintergrund der βασιλεία τοῦ θεοῦ erklärt wurde, so zu deuten, dass sie immer noch im Rahmen der Tora liegen, »als deren präzisere und sachgerechtere Entfaltung.«162 Dies gilt ihm als Argument gegen die Kyniker-These, weil sich die Kyniker gerade durch ihre fundamentale Kritik an der durch den νόμος bestimmten Gesellschaft auszeichneten.163 »Das führt zum entscheidenden Punkt: Jesus zieht zwar – wie die Kyniker – als Wanderprediger aus dem System aus, aber er behält – im Gegensatz zu den Kynikern – die alten Denkmuster bei.«164 Während die Abwehr der Kyniker-These gerechtfertigt erscheint, ist das Ausschließen jeglichen Einflusses der Option der βασιλεία τοῦ θεοῦ auf die einseitigen und radikalen Logien problematisch, weil diese dann nur noch damit erklärt werden können, dass nach literarkritischer Isolierung ihre Adressaten sozialgeschichtlich auf den speziellen Trägerkreis der Wanderradikalen reduziert werden (z. B. bei Mt 6,26).

159 EBNER spricht explizit von »Denkmustern« (422). Damit scheint er mir aber doch in einem gewissen Sinn einen »reflexiven Überbau«, den wir als traditionelle oder apokalyptische Weisheit ansprechen würden, auch bei Jesus selbst anzunehmen (was ich auch für richtig halte), was er aber ein paar Seiten zuvor explizit abgelehnt hat (393). 160 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 422. 161 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 423–424. 162 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 407. 163 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 399–403. 164 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 415.

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

3.3.4 Erfahrungsbezug im Kontrast (RONDEZ) Unter Einbezug der religionsphilosophischen Diskussion des Erfahrungsbegriffs (JUNG165) unternimmt RONDEZ166 den Versuch, den Erfahrungsbezug jesuanischer Weisheitslogien (Q-Tradition) genauer zu beleuchten. Ausgangspunkt bildet das Unbehagen mit den Erfahrungsmodellen, die u. a. bei VON LIPS und EBNER vorausgesetzt werden. Sowohl der »weisheitliche Erfahrungsbezug als gemeinsamer Erfahrungshintergrund« (EBNER) als auch die »Selbstverständlichkeit weisheitlichen Erfahrungsbezugs«167, die bei VON LIPS zumindest in Bezug auf das Geschehen in der Natur gegeben scheint, vermögen der Vielschichtigkeit der tatsächlichen Bezugnahme auf Lebenswelten kaum zu genügen: Beide Modelle bleiben letztlich einem Beschreibungs- bzw. Abbildungsmodell von Wirklichkeit verhaftet, das die spezifische Weise der anknüpfenden und kontrastierenden Bezugnahme auf Lebenswelt(en), wie sie in Weisheitstexten geschieht, nicht in den Blick zu nehmen vermag.168

Mit dieser Feststellung trägt RONDEZ der Tatsache Rechnung, dass traditionelle Weisheit stets im Bewusstsein einer gebrochenen Wirklichkeit lebt, in deren Observierung sich zwar Anknüpfungspunkte für lebenspraktische Weisungen finden lassen, die zugleich aber immer auch Kontrastelemente enthält, die zu einer »kontrastierenden Bezugnahme« auffordern. Die Perspektive der Erfahrung ist »nicht neutral«, sondern fokussiert die Welt in traditionell-weisheitlicher Perspektive auf eine Weise, die »für das Lebensförderliche in der Welt« Partei ergreift.169 Während sich die traditionelle Weisheit dabei stets der Ambivalenz der Wirklichkeit bewusst war, scheinen jesuanische Logien wie Mt 6,26 eine heile Welt zu postulieren, die alle Ambivalenz bereits weit hinter sich gelassen hat. Die darin zum Ausdruck kommende »Diskontinuität«170 der Bezugnahme auf die Welt sowie die daraus resultierenden Handlungsanweisungen sind aber

165

JUNG, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie. 166 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? Untersuchungen zum Erfahrungsbezug von Weisheitslogien in de Q-Tradition. 167 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 177. 168 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 177. 169 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 181. 170 RONDEZ spricht bezüglich der Wahrnehmung der Natur von einer »alle Ambivalenz hinter sich lassenden Kreativität« (Alltägliche Weisheit? 25), so dass die »faktische Trennung von ›Schöpfungsbezügen‹ und ›zwischenmenschlichem Verhalten‹ im Rahmen des weisheitlichen Erfahrungsbezugs bei den Synoptikern« (Alltägliche Weisheit? 25) nicht aufrechterhalten werden kann, da das Kontrastmoment (Alltägliche Weisheit? 189) bei den Naturbezügen ebenso vorhanden ist.

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Jesuanische Weisheit als Transformation traditioneller und apokalyptischer Weisheit

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nur noch schwer im Rahmen traditionell-weisheitlicher Konzeptionen zu erklären.171

4. Jesuanische Weisheit als Transformation traditioneller und apokalyptischer Weisheit Aus dem forschungsgeschichtlichen Überblick wird ersichtlich, dass jesuanische Weisheit sowohl vor apokalyptisch-weisheitlichem als auch traditionellweisheitlichem Hintergrund verstanden werden kann, wobei stets spezifische Differenzen zum jeweiligen idealtypischen Modell ausgemacht werden. So wird in der einen Forschungsrichtung Jesus zwar fast ausschließlich vor apokalyptischem Horizont gedeutet; dieser erscheint aber in transformierter Gestalt, so dass die Gegenwart darunter ihre Bedeutung nicht verliert, sondern ein ganz neues eigenes Gewicht erhält (MERKLEIN, WEDER), was sich auch in den lebenspraktischen Anweisungen niederschlägt (LÖNING). Auf der anderen Seite scheint jesuanische Weisheit zwar in den traditionell-weisheitlichen Nährboden verwurzelt zu sein (RONDEZ); sie trägt jedoch zugleich Früchte, die weit in den apokalyptischen Horizont hineinragen (ZELLER, VON LIPS), sofern ihre Reichweite nicht in rein sozialgeschichtlicher Perspektive eingegrenzt wird (EBNER). Es zeigt sich insofern eine Annäherung zwischen beiden Forschungsrichtungen, als dass jesuanische Weisheit offenbar nicht ausschließlich von der apokalyptischen oder traditionellen Weisheit her verstanden werden kann. Während dort, wo traditionell-weisheitliche Früchte etwas zu hoch hinaus wachsen, der Bezug zum apokalyptischen Horizont in der Forschung bereits skizziert wird, ist umgekehrt dort, wo die Transformation des apokalyptischen Horizontes eine gewisse Erdung zeitigt, ebenfalls die Frage zu stellen, ob diese Transformation nicht unter Berücksichtigung des traditionell-weisheitlichen Nährbodens erklärt werden kann.172 Es stellt sich somit die Aufgabe, die in jesuanischer Weisheit erkennbare Transformation apokalyptischer (Kapitel I) und traditioneller (Kapitel II) Weisheit unter besonderer Berücksichtigung der gegenseitigen Durchdringung beider Weisheitsstränge darzustellen. Nur so kann verstanden werden, inwiefern jesuanische Weisheit nicht nur von der feurigen Dramatik des Kampfes der himmlischen Mächte hinter den Kulissen

171

Siehe dazu unten Kapitel II.3.5. Dies geschieht auch über den Kreis der in der Forschungsgeschichte dargestellten Autoren hinaus nicht, auch wenn die Differenzen Jesu zur Apokalyptik stets aufgezeigt werden: »Jesus steht in apokalyptischen Traditionen – jedoch nicht jener schriftgelehrten und esoterischen Apokalyptik, die uns in vielen Schriften entgegentritt« (THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 252). 172

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

der Geschichte lebt, sondern auch von der Ruhe und Beständigkeit der in Genesis grundgelegten Schöpfungsordnung. Wenn jesuanische Weisheit sowohl im traditionell-weisheitlichen Nährboden verwurzelt als auch auf den apokalyptischen Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ hin ausgerichtet ist, so gewinnt der Raum dazwischen – um im Bild zu bleiben: der Lebensbereich zwischen Erde und Himmel – eine entscheidende Bedeutung. Wenn dies nicht mehr räumlich, sondern zeitlich ausgedrückt wird, bedeutet es, dass die Gegenwart zur entscheidenden Zeit, zum Kairos wird, wo sich die Ausrichtung der traditionell-weisheitlichen Wurzeln der Vergangenheit auf die apokalyptische Zukunft und die Rückbindung der Zukunft an die traditionell-weisheitlichen Wurzeln der Vergangenheit überlagern. Während die Gegenwart sonst stets in Gefahr gerät, ihre Bedeutung zu verlieren, indem sie entweder als defizitär gegenüber der idealen Wirklichkeit des verlorenen Paradieses erscheint oder als gefährliches Endstadium im Hinblick auf den neuen Äon überstanden werden muss, gewinnt sie in der jesuanischen Verkündigung und Praxis eine neue Qualität, so dass sich in ihr Freiräume der bereits realisierten βασιλεία τοῦ θεοῦ eröffnen (Kapitel III). Jesuanische Weisheit kann somit nicht verstanden werden ohne die Dynamik (Mk 6,2), die sich im befreienden Geschehen von Heilungen und Exorzismen, bei deren Darstellung in den synoptischen Evangelien oft das Stichwort πίστις (Glaube) eine bedeutende Rolle spielt, sowie einer gelebten solidarischen Praxis manifestiert. Die Gegenwart wird somit anfanghaft und bruchstückhaft zu einer Zeit wirklichen Heils. Dabei wird sich das Logion vom Bergeversetzen – die Verbindung von πίστις mit dem Motiv des Bergeversetzens (Mk 11,23) – als entscheidende Hilfe zur Deutung dieses Geschehens und zugleich als dessen hoffnungsvoller und visionärer Horizont herausstellen. Aufgrund des skizzierten Programms soll jesuanisches Denken und Handeln – auch im Hinblick auf seinen weltanschaulichen Hintergrund – plausibel als jüdisches Phänomen mit eigenen Konturen in hellenistisch-römischer Zeit herausgearbeitet werden. Dass dabei die beiden Grundoptionen jüdisch-weisheitlichen Denkens in gegenseitiger Durchdringung zusammengehalten werden, verleiht dem Unterfangen seine spezifische Eigenart und ermöglicht einen meines Erachtens interessanten Vergleich mit weisheitlichen Transformationen wie in 4QInstructions, wo die klaren Konturen der beiden großen Denkmuster in lebenspraktischer Hinsicht ebenfalls aufgelöst werden und miteinander zu einem neuen Phänomen verschmelzen.

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Synoptische Weisheitslogien, motivanalytische Vergleiche und der historische Jesus

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5. Synoptische Weisheitslogien, motivanalytische Vergleiche und der historische Jesus – methodische Reflexion Es ist im gegebenen Rahmen weder machbar noch sinnvoll, alle weisheitlichen Logien in den synoptischen Evangelien, wie sie in mehreren Listen verschiedener Autoren bereits aufgeführt sind173, einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Vielmehr müssen einige Beispiele genügen, an denen in exemplarischer Exegese die Transformation des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes und des traditionell-weisheitlichen Nährbodens aufgezeigt werden kann. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass der gattungsmäßigen Vielfalt (gemäß der Einteilung bei VON LIPS) Rechnung getragen wird und somit feststellende Sentenzen, Vergleiche, bildliche Redeweisen und Aussageformen innerhalb von Gleichnissen ebenso wie Mahnungen aufgenommen wurden. Inhaltlich zielte die Auswahl auf eine Gruppe von Jesuslogien, an denen sich die Fragestellung mit dem Fokus der gegenseitigen Durchdringung besonders gut durchführen ließ; es handelt sich um mit Gegensätzen spielende Logien, um paradoxe und hyperbolische Aussagen, die sich an der Grenze von traditionell-weisheitlicher Ruhe und Gelassenheit und apokalyptisch-weisheitlicher Dramatik bewegen. Das methodische Vorgehen orientiert sich grundsätzlich an WEDERs Gebot, »eine präzise philologische Analyse an den Anfang zu stellen, um erst auf dieser Grundlage motivanalytische und religionsgeschichtliche Vergleiche anzustellen.«174 Die Jesuslogien werden demnach mit dem zur Verfügung stehenden philologisch-literatur-wissenschaftlichen Instrumentarium in synchroner Hinsicht in ihrem jetzigen Kontext der synoptischen Evangelien und in ihrem Verhältnis zu anderen Logien des Forschungsbereiches verortet und verstanden. Ohne sich in (fragwürdige und letztlich irreführende) hypothetisch-spekulative Rekonstruktionen zu verlieren, werden besonders bei Doppelüberlieferungen in Mk* und Q traditionsgeschichtliche Zusammenhänge (basierend auf der Zwei-Quellen-Theorie) und redaktionelle Gestaltung bei den einzelnen Evangelisten nur soweit untersucht, als sie für das Verständnis wesentlich sind. Auf dieser Grundlage ist es dann unumgänglich, motivanalytische Vergleiche innerhalb der jüdischen Traditionsströme vorzunehmen und interkulturelle Bezüge zur Literatur der griechisch-römischen Umwelt herzustellen. Dass dabei in der vorliegenden Endfassung der Dissertation beide Arbeitsschritte manchmal mehr, manchmal weniger stark sichtbar in Erscheinung treten und teilweise ineinander überfließen, ist ebenso wenig zu vermeiden wie die gegen-

173 174

Zum Beispiel bei VON LIPS, Weisheitliche Traditionen 198–203. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 26.

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Forschungsgeschichtliche Einordnung und Fragestellung

seitige Durchdringung von analytischer Darstellung und fortschreitender systematischer Bewältigung. Wenn dabei von ›jesuanischer‹ Weisheit gesprochen wird, beruht die Zuschreibung an den historischen Jesus einerseits auf dem historischen Plausibilitätskriterium175 von THEISSEN (vor allem bezüglich des jüdischen Kontextes, auch wenn darin natürlich eine spezifische jesuanische Eigenart herausgearbeitet wird), andererseits auf dem Kriterium der Kohärenz des Gesamtrahmens der Verkündigung Jesu176, soweit diese im Rahmen dieser Arbeit in den Blick genommen werden kann. Es wird auffallen, dass Kapitel III im Vergleich zu Kapitel I und II ausführlicher daherkommt und das hier skizzierte methodische Vorgehen in seiner Struktur am deutlichsten sichtbar werden lässt. Dies ist einerseits genetisch bedingt177, andererseits aber auch von der Sache her gerechtfertigt, weil das Logion vom Berge versetzenden Glauben in exemplarischer Weise jesuanische Weisheit und die mit ihr einhergehende Dynamik (gemäß Mk 6,2) zum Ausdruck zu bringen vermag.

175

THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 29. Zur Kriterienfrage und der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung s.21–31. Vgl. dazu auch EBNER, Jesus von Nazareth 26–27. 176 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 56. 177 Siehe Vorwort.

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B. Jesuanische Weisheitslogien auf traditionell-weisheitlichem Nährboden und unter apokalyptisch-weisheitlichem Horizont I. Die jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes: Erste und Letzte, Große und Kleine, Hohe und Niedrige Die folgende Textzusammenstellung gibt einen Überblick über die Logien, welche von einer Umkehrung der sozialen, ökonomischen und religiösen Verhältnisse (je nach Kontext) handeln und worin jeweils Gegensatzpaare von Ersten und Letzten, Großen und Kleinen sowie Hohen und Niedrigen vorkommen. Wie der Vergleich von Logien in gleichen synoptischen Kontexten zeigt, scheinen dies alles austauschbare Gegensatzpaare zu sein, die zum Teil auch vermischt, mit neuen Motiven ergänzt und unterschiedlich miteinander verbunden werden können. Rangordnung in der Jesusbewegung (im Anschluss an die 2. Leidensankündigung) Mk 9,35: Ει τις θέλει πρῶτος εἶναι, ἔσται πάντων ἔσχατος καὶ πάντων διάκονος. Wenn einer Erster sein will, soll er Letzter von allen und Diener von allen sein!

Mt 18,4: ὅστις οὖν ταπεινώσει ἑαυτὸν ὡς τὸ παιδίον τοῦτο, οὗτός ἐστιν ὁ μείζων ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν. Denn wer sich erniedrigen wird wie dieses Kind, dieser ist der Größte im Himmelreich.

Lk 9,48: ὁ γὰρ μικρότε-

ρος ἐν πᾶσιν ὑμῖν ὑπάρχων οὗτός ἐστιν μέγας.

Denn wer der Kleinste unter euch allen ist, dieser ist groß.

Lohn der Nachfolge Mk 10,31: πολλοὶ δὲ

Mt 19,30: Πολλοὶ δὲ

ἔσονται πρῶτοι ἔσχατοι καὶ [οἱ] ἔσχατοι πρῶτοι.

ἔσονται πρῶτοι ἔσχατοι καὶ ἔσχατοι πρῶτοι.

Viele Erste aber werden Letzte sein und [die] Letzte[n] Erste.

Viele Erste aber werden Letzte sein und Letzte Erste.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

Gleichnis von den Arbeitern Von der Schwierigkeit, ins im Weinberg: Reich Gottes zu gelangen: Mt 20,16: Οὕτως ἔσον-

Lk 13,30: καὶ ἰδοὺ εἰσὶν

So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.

Und siehe, es gibt Letzte, die Erste sein werden, und es gibt Erste, die Letzte sein werden.

ται οἱ ἔσχατοι πρῶτοι καὶ οἱ πρῶτοι ἔσχατοι.

ἔσχατοι οἳ ἔσονται πρῶτοι καὶ εἰσὶν πρῶτοι οἳ ἔσονται ἔσχατοι.

Platzwahl und Gästeliste beim Mahl Lk 14,11: ὅτι πᾶς ὁ ὑψῶν ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται, καὶ ὁ ταπεινῶν ἑαυτὸν ὑψωθήσεται. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Pharisäer und Zöllner im Tempel Lk 18,14: ὅτι πᾶς ὁ ὑψῶν ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται, ὁ δὲ ταπεινῶν ἑαυτὸν ὑψωθήσεται.

Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, der aber, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 4

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Kapitel 3

Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

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Rangordnung in der Jesusbewegung (im Anschluss an die 3. Leidensankündigung, außer bei Lk) Mk 10,43 f: οὐχ οὕτως δέ ἐστιν ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς

Mt 20,26 f: οὐχ οὕτως ἔσται ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς

ἂν θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν ἔσται ὑμῶν διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται πάντων δοῦλος·

ἐὰν θέλῃ ἐν ὑμῖν μέγας γενέσθαι ἔσται ὑμῶν διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται ὑμῶν δοῦλος·

Nicht so aber ist es bei euch, sondern wer groß werden will bei euch, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll Sklave von allen sein!

Nicht so soll es bei euch sein, sondern wer bei euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll euer Sklave sein!

Lk 22,26: ὑμεῖς δὲ οὐχ οὕτως, ἀλλ᾽ ὁ μείζων ἐν

ὑμῖν γινέσθω ὡς ὁ νεώτερος καὶ ὁ ἡγούμενος ὡς ὁ διακονῶν.

Bei euch aber (ist es/soll es sein) nicht so, sondern der Größte unter euch soll wie der Jüngste werden und der Führende wie der Dienende.

Weherede gegen Schriftgelehrte und Pharisäer: Mt 23,11: ὁ δὲ μείζων

ὑμῶν ἔσται ὑμῶν διάκονος.

Der Größte von euch aber soll euer Diener sein! Mt 23,12: ὅστις δὲ ὑψώσει ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται καὶ ὅστις ταπεινώσει ἑαυτὸν ὑψωθήσεται. Wer sich aber selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

1. Das Wanderlogion von den Ersten und Letzten: Mk 10,31par, Mt 20,16 und Lk 13,30 1.1 Vorkommen und Traditionslinien Das »sprichwortartige Wanderlogion«1 von den Ersten und Letzten, das seiner Form nach als Sentenz zu charakterisieren ist2, liegt als Doppelüberlieferung in Mk 10,31 par Mt 19,30 und in Q (Mt 20,16 und Lk 13,30) vor. Die Annahme einer Q-Version wird durch das Fehlen von πολλοί und dieselbe Reihenfolge von ἔσχατοι πρῶτοι in Mt 20,16 und Lk 13,30 nahe gelegt.3 Mk 10,31: πολλοὶ δὲ

Mt 19,30: Πολλοὶ δὲ

ἔσονται πρῶτοι ἔσχατοι καὶ [οἱ] ἔσχατοι πρῶτοι.

ἔσονται πρῶτοι ἔσχατοι καὶ ἔσχατοι πρῶτοι.

Viele Erste aber werden Letzte sein und [die] Letzte[n] Erste.

Viele Erste aber werden Letzte sein und Letzte Erste. Mt 20,16: Οὕτως ἔσονται οἱ ἔσχατοι πρῶτοι καὶ οἱ πρῶτοι ἔσχατοι.

Lk 13,30: καὶ ἰδοὺ εἰσὶν

So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte.

Und siehe, es gibt Letzte, die Erste sein werden, und es gibt Erste, die Letzte sein werden.

ἔσχατοι οἳ ἔσονται πρῶτοι καὶ εἰσὶν πρῶτοι οἳ ἔσονται ἔσχατοι.

Mk 10,31 bildet den Abschluss der Perikope Mk 10,17–31, die das Thema ›Jesusbewegung und Reichtum‹ behandelt.4 Sie ist als Geschehen auf dem Weg nach Jerusalem (Mk 10,17.32) eindeutig abgegrenzt. Auch bei Mt bildet das Logion den Abschluss der Parallelperikope Mt 19,16–30, wobei Mt im Anschluss daran das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg einfügt und in Mt 20,16 wiederum mit dem Logion von den Ersten/Letzten abschließt.5 In 1

PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 145. VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 206. 3 BOVON, Lukasevangelium (EKK III/2) 429. Als Q 13,30 wurde das Logion in die Spruchquelle aufgenommen; als rekonstruierte Version wird Mt 20,16 zugrunde gelegt, allerdings bloß mit schwacher Wahrscheinlichkeit gekennzeichnet, was nicht unbedeutende Zweifel impliziert (HOFFMANN/HEIL, Spruchquelle 92). 4 Ähnlich PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 135: »Der Reichtum und die Nachfolge Jesu«. 5 Der letzte Teil von Mt 19,16–30 hat zugleich Übergangsfunktion für Mt 20,1–16, so dass die Abgrenzung am Schluss »relativ willkürlich« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 119) ist und beide Perikopen eigentlich zusammen gelesen werden müssen. 2

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Das Wanderlogion von den Ersten und Letzten

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einem nochmals anderen Kontext verwendet Lk das Logion in 13,30 als Abschluss einer Perikope über die Schwierigkeit, ins Reich Gottes zu gelangen (Lk 13,22–30). 1.2 Mt 20,16 – Ein unverhoffter Tageslohn und die große Hoffnung für die Letzten Als Deutung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) kündet Mt 20,16 den eschatologischen Rollentausch zwischen Ersten und Letzten an. Die dominierende traditionsgeschichtliche Forschungsmeinung und ihr Problem bringt LUZ treffend auf den Punkt: »Wie fast alle mt Parabeln lässt sich diese sehr geschlossene Geschichte kaum dekomponieren. Eindeutig ist nur, dass der Schlussvers 16 von Mt zugefügt wurde; er verbindet die Parabel mit 19,30 und passt sachlich nicht ganz.«6 In der Tat ist im Gleichnis nicht von einer Umkehrung der Rangordnung die Rede, sondern von einer Gleichbehandlung derer, die unterschiedlich lange im Rebberg gearbeitet haben: sie erhalten alle einen Denar als Lohn. Die (zeitlich) Letzten werden den Ersten bezüglich der Lohnauszahlung gleichgesetzt; dass aber die Ersten zu Letzten werden, davon ist in diesem Gleichnis keine Rede.7 Eine Lösung für dieses Problem hat SCHOTTROFF 20058 im Anschluss an HERZOG9 und im Rahmen ihrer eschatologischen Gleichnisauslegung10 vorgelegt: die Ersten und Letzten in V. 16 sind nicht mit den ersten und letzten Arbeitern aus V. 8 identisch, vielmehr sind in den Letzten die Tagelöhner insgesamt und in den Ersten Menschen wie der Gutsherr zu erblicken. Inspiriert ist diese Auslegung von einer sozialgeschichtlichen Analyse des Gleichnisses, welche in der selbst deklarierten Güte des Weinbergbesitzers (Mt 20,15) nicht mehr die Güte Gottes erkennt (so die dominierende Gleichnisauslegung11), sondern eine nicht ungewöhnliche Wohltätigkeit in begrenztem Rahmen, welche »durch das klare sozialgeschichtliche Material zur liberalitas/Freigiebigkeit der großen und kleinen ›Imperatoren‹ des Römischen Reiches, der Kaiser wie der reichen 6

LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 141. Nach AVEMARIE jedoch resümiert das Logion vom Rangtausch der Ersten mit den Letzten »sicherlich nicht nur die gegenläufige Lohnauszahlung (…), sondern auch die subjektiv empfundene materielle Zurücksetzung der Ganztagsarbeiter; leistungsbezogen erhalten sie ja tatsächlich den geringsten Lohn« (AVEMARIE, Jedem das Seine? 468). 8 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 274–285. 9 HERZOG, William R., Blaming the Victims of Oppression: The Parable of the Laborers in the Vineyard (Matt. 20: 1–16). 10 Kompakt dargestellt in: SCHOTTROFF, Der Sommer ist nahe (Mk 13,28). Eschatologische Gleichnisauslegung. 11 »Mt 20,1–15 stellt eine zugespitzte Akzentuierung eines Pols des spannungsvollen und akzentreichen jüdischen Gottesbildes dar. Mit der Parabel von den Arbeitern im Weinberg erzählt Jesus von Gottes Gnade, ohne das Axiom von Gottes Gerechtigkeit zu verändern« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 153). 7

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

Staatsmänner und Privatleute«12 nachgewiesen ist. Einiges aus SCHOTTROFFs sozialgeschichtlicher Analyse soll auf den folgenden Zeilen referiert werden. Beginnen wir mit denen, die gesellschaftlich als die Letzten gelten, den Tagelöhnern. Der eine Denar wird als üblicher Tageslohn eines Arbeiters in der Landwirtschaft dargestellt.13 BEN DAVID hat berechnet, dass die Mischna 200 Denare14 als jährliches Existenzminimum pro Person voraussetzt, um das Überleben zu sichern (ohne jedoch die Arbeitsfähigkeit zu erhalten). Wenn der Landarbeiter eine Familie hatte, musste das fehlende Einkommen von den Frauen und Kindern erarbeitet werden, »durch das Betreiben kleiner Hilfswirtschaften und durch eigene, viel schlechter bezahlte Lohnarbeit.«15 Dass der männliche Tagelöhner seine Familie mit einem Denar Tageslohn nicht ernähren konnte, veranschaulichen folgende Preise16: ein Denar für 10–12 kleine Fladenbrote, 3–4 Denare für 12 Liter Weizen oder ein Lamm, 30 Denare für ein Sklavenkleid, 100 Denare für einen Ochsen. »Den Tagelöhnern ging es also angesichts dieser Preise nicht gut«17, was das alte Sprichwort treffend auf den Punkt bringt: Wer etwas verdient, verdient es für einen löchrigen Beutel (Hag 1,6). Noch schlimmer sieht es aus, wenn die im Gleichnis vorkommende Arbeitslosigkeit berücksichtigt wird, so dass die Arbeiter vielleicht nicht einmal auf ihre 200 Tage Arbeit pro Jahr kommen konnten.18 Arbeitslosigkeit dürfte nicht nur in Jerusalem nach Beendigung des Tempelbaus vorhanden gewesen sein (JOSEPHUS Ant 20,219 f19), sondern generell geherrscht haben in einem Land, wo ein »Prozess der schleichenden Verdrängung der Kleinbauern im Gang war.«20 Unter Einbezug römischer Agrarschriftsteller lässt sich das Bild über die Tagelöhner dahingehend vervollständigen, dass sie noch schlechter als Sklaven behandelt wurden. So wurden ihnen die ungesunden Gebiete und die schwereren Landarbeiten überlassen (VARRO [116–27 v. Chr.], Res rust. I 17,2–321; vgl. auch COLUMELLA I 7,422; Cato, Agr. 5,423). 12 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 277. Dies hat die Forscherin auch bewogen, von ihrer früheren Auslegung von 1979 abzuweichen. Dass es im Gleichnis darum gehe, dagegen wendet sich AVEMARIE aus sprachlich-narrativen Gründen (AVEMARIE, Jedem das Seine? 464). 13 Vgl. Tob 5,15 f; rabbinische Belege bei: BEN DAVID, Talmudische Ökonomie 376 Anm. 338. 14 BEN DAVID, Talmudische Ökonomie 292. 15 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 278. 16 Mit den Belegen: LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 146. 17 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 146. 18 SCHOTTROFF weist darauf hin, dass der eine Denar zur Arbeitslosigkeit der Tagelöhner in Beziehung zu setzen ist (SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 277). 19 JOSEPHUS, Jüdische Altertümer 994. 20 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 146. 21 VARRO, Über die Landwirtschaft (De re rustica); ausführlicher dazu: SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu, 279–280.

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Das Wanderlogion von den Ersten und Letzten

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Kommen wir zu denen, die gesellschaftlich als die Ersten gelten, repräsentiert durch den οἰκοδεσπότης (Mt 20,1.11) oder κύριος τοῦ ἀμπελῶνος (20,8). Er scheint Inhaber eines mittleren Betriebs gewesen zu sein, denn ein Großgrundbesitzer lebte eher in der Stadt und hätte die Anstellung von Tagelöhnern seinen Betriebsleitern im Weinberg überlassen.24 Nachdem er bereits am frühen Morgen Arbeiter eingestellt hat, holt er sich zu späteren Tagesstunden weitere dazu. Dieses Verhalten kann als »Profitorientierung«25 interpretiert werden, weil der Weinbergbesitzer die Arbeitskosten zur Erreichung seines Tagesziels – vielleicht des Aberntens des Weinbergs – so niedrig wie möglich halten wollte. Was für einen Lohn er mit den später Hinzugekommenen vereinbart hat (und ob überhaupt), erfahren wir nicht. An die Seite dieser Profitorientierung wird bei der Lohnauszahlung in Mt 21,15 die Güte des Weinbergbesitzers gestellt. Wie oben angetönt sieht die neuere sozialgeschichtliche Auslegung darin ein Verhalten des Grundbesitzers, das sich »im Rahmen der zeitgenössischen Vorstellungen«26 bewegt, nämlich als nicht ungewöhnliche Wohltätigkeit in begrenztem Rahmen. Er übt seine uneingeschränkte Verfügungsmacht über sein Eigentum im Rahmen des römischen Rechts aus.27 Soweit der Hintergrund, auf dem die folgende Deutung in Mt 20,16 zu verstehen ist: »Wie ist das nun mit dem Königtum Gottes zu vergleichen? Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten.«28 Die vorher gezeichnete »scharfe Analyse«29 des wirtschaftlichen Elends (Tagelöhner) und seiner Ursachen (Profitorientierung, kalkulierte »Wohltätigkeit« in begrenztem Rahmen) ruft nach eschatologischem Klartext: wenn sich Gottes Herrschaft und seine Güte30 durchsetzen, sind die Besitzlosen (Tagelöhner) die Ersten und die Besitzenden (Herr des Weinbergs) die Letzten. Wo die Mechanismen und Strukturen des wirtschaftlichen Elends aufgezeigt werden, kann die apokalyptische Weisheit der radikalen Umkehrung der Verhältnisse ausge-

22

COLUMELLA, Res Rustica. CATO, De agri cultura. Über die Landwirtschaft. 24 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 146. SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 278. 25 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 276. Gegen die letzte Anstellung um die elfte Stunde könnte man einwenden, sie sei ungewöhnlich und lohne sich finanziell für den Weinbergbesitzer gar nicht mehr (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 147). 26 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 277. Dies ist im Zusammenhang mit Schuldenerlass und anderen Wohltaten zu sehen, die alle im Rahmen eines kühlen politischen Kalküls von reichen römischen Staatsmännern und Privatleuten vorgenommen wurden (SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 277; vgl. die Diskussion von Gastmählern für die mittellose Unterschicht bei SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 57–59). 27 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 275. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 150 Anm. 79. 28 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 274. 29 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 284. 30 Vgl. Mt 19,17. 23

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

sprochen werden. Die im Gleichnis skizzierte gegenwärtige Situation ist dabei bloß noch die dunkle Negativfolie, vor deren Hintergrund die eschatologische Weisheit umso heller erstrahlen kann (deshalb spricht SCHOTTROFF auch von einem »antithetischen Gleichnis«31). SCHOTTROFFs Deutung bewegt sich ganz auf der Schiene der apokalyptischen Weisheit32 des essenischen Judentums. Aber ist ein solches Verständnis des Gleichnisses jesuanisch? Ein erster Einwand betrifft die »Bildfeldkonventionen«33, welche völlig außer Acht gelassen werden. Auch wenn die Szenerie »Jesu galiläischen HörerInnen aus ihrem Alltag vertraut«34 ist, so liegt hinter den Kulissen der erzählerischen Fiktion zumindest für die, welche mit der hebräischen Bibel vertraut waren, beim Rebberg der Gedanke an Israel und beim Rebbergbesitzer der Gedanke an Gott nahe.35 Weil der weitere Verlauf der Geschichte »keine leichte Übertragung ihrer Metaphern«36 zulässt, klingen diese Gedanken bloß an. Eine allegorische Deutung weiterer Einzelzüge der Erzählung ist deshalb – darin ist SCHOTTROFF zuzustimmen – nicht angebracht. Ein zweiter, gewichtigerer Einwand betrifft die Tatsache, dass in der Erzählung selbst gesagt wird, wer die Ersten und die Letzten sind: »Als es aber Abend geworden war, sagt der Herr des Rebbergs zu seinem Verwalter: ›Ruf die Arbeiter, und gib ihnen ihren Lohn. Fang bei den letzten an, bis zu den ersten.‹« (Mt 20,8) Durch die Lohnauszahlung werden die Letzten den Ersten gleichgestellt, sie werden also auch zu Ersten, worüber sich diese umgehend beklagen: »Diese Letzten da haben eine einzige Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last des Tages und die Hitze ausgehalten haben!« (Mt 20,12) Die eschatologische Weisheit in V. 16 nimmt dies in ihrem ersten Teil auf: »So werden die Letzten Erste sein.« Es ist unbestritten, dass V. 16 mit dem verheißenen Rollentausch von Ersten und Letzte weit über die Gleichsetzung der letzten mit den ersten Arbeitern im Gleichnis hinausgeht.37Aber dieses apokalyptische »darüber hinaus« sollte nicht blind machen für den positiven Wert dessen, was nach dem Gleichnis bereits in der Alltagswelt der Menschen in Galiläa geschieht: Letzte werden zu Ersten, im kleinen

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SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 277. Es ist die Apokalyptik, »welche die Hoffnung auf den neuen Äon auf eine nur im Himmel und erst noch unter Anleitung eines angelus interpres zu gewinnende Offenbarung gründet. Die Gegenwart kommt apokalyptisch überwiegend als eine Zeit des Defizits in den Blick« (WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, 57). 33 AVEMAIRE, Jedem das Seine? 469. 34 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 147. 35 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 147. Vgl. u. a. das Weinberglied Jes 5,1–7. 36 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 148. 37 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 282. Daher plädiert sie dafür, Mt 20,16 nicht als mt Redaktion, sondern als ursprünglich zum Gleichnis zugehörig zu betrachten: als »notwendige Deutung«, die auf die Güte des Weinbergbesitzers gegenüber den Letzten Bezug nimmt. 32

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Das Wanderlogion von den Ersten und Letzten

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Rahmen, erst anfanghaft und fragmentarisch, abhängig von der Güte eines vielleicht auch aus Eigeninteresse handelnden οἰκοδεσπότης, aber doch spürbar für einen Tagelöhner, der den ganzen Tag untätig herumsitzt, weil ihn niemand anstellen wollte, und am Abend unverhofft zu seinem Tageslohn kommt.38 Dieses Geschehen ist transparent für die βασιλεία τῶν οὐρανῶν, welche dahinter erkannt werden kann und die das vordergründige Geschehen im Sinne von Mt 20,16 noch einmal erweitert und transzendiert: »Anlass zur Hoffnung auf die Gottesherrschaft gibt das Fragment des Guten im Jetzt.«39 Auch wenn immer klar ist, dass zwischen Gottesherrschaft und gegenwärtiger Welt eine qualitative Differenz waltet, lässt das Gleichnis die Gottesherrschaft einkehren in die Erfahrungen der Gegenwart. In der Güte eines Weinbergbesitzers […] ragt die neue Zeit Gottes in die alt gewordene Zeit der Menschen hinein.40

Wer ist nun mit den Ersten und Letzten gemeint? Die zeitlich Letzten im Gleichnis sind auch wirtschaftlich gesehen die Letzten: Tagelöhner, die fast bis ans Ende des Tages keine Arbeit bekommen haben. Sie gehören zu den Deklassierten der damaligen Zeit. Doch nicht nur sie, auch andere Deklassierte der jüdischen Gesellschaft werden durch die Heilsbotschaft und das Wirken Jesu zu Ersten: Sünder, welche die Tora nicht halten; Frauen und Arme; Kranke, die aus der Gemeinschaft des Volkes ausgeschlossen sind; Zöllner und Huren, denen Jesus das Reich Gottes in Aussicht stellt (Mt 21,31). Alle sind Menschen, »die nach üblicher Wertung keinen Anspruch auf Gotteslohn haben.«41 Ihnen steht das fromme jüdische Establishment gegenüber. Dass es um einen Gegensatz zwischen ihm und den gesellschaftlich Marginalisierten geht, ist nach AVEMAIRE eine verbreitete Auffassung.42 So könnte die Parabel gut ein Stück der Verkündigung des historischen Jesus sein; sie wird auch kaum Jesus abgesprochen.43 38 SCHOTTROFF hat dies nicht erkannt, wenn sie davon ausgeht, dass V. 16 als »notwendige Deutung« auf die Güte des Weinbergbesitzers bloß Bezug nimmt, um sie sogleich als vermeintliche Güte zu entlarven: »Aber sie stellt diese Güte der Güte Gottes im Gericht, in dem die Letzten zu den Ersten werden, in Opposition gegenüber« (SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 282 Anm. 23). 39 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 56. 40 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 58–59. 41 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 150. 42 AVEMAIRE, Jedem das Seine? 468. Alternative Deutungen: Nebst der heilsgeschichtlichen Deutung auf Juden und Christen wird stark diejenige auf die mt Gemeindemitglieder vertreten, entweder als Stärkung der Kleinen (Spätberufene, Unbedeutende) gegenüber den Wichtigen (Apostel, Wanderradikale) oder als Warnung an die Großen (oder diejenigen, die zeitlich schon früh dabei gewesen sind), dass sie im kommenden Himmelreich keinen Vorrang haben werden (AVEMARIE, Jedem das Seine? 468; LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 153; SCHOTTROFF, Die Güte Gottes und die Solidarität von Menschen 87). Kritisch zu diesen antijudaistischen und gemeindekritischen Deutungen: SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 285. 43 AVEMAIRE, Jedem das Seine? 468.

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

1.3 Lk 13,30 – Der Kampf um die enge Pforte und die radikale Warnung an die Ersten In Lk 13,22–30 wird ein sehr dramatisches Bild gezeichnet: »Herr, gibt es wenige, die gerettet werden?« (V. 23) Hinter dieser Frage steht ein apokalyptisches Szenario, wie es in 4 Esra exemplarisch entfaltet wird. »Jetzt aber sehe ich, dass die kommende Welt nur wenigen Wonne bringen wird, vielen aber Qualen.« (4 Esra 7,47)44 Das Motiv des kleinen Restes, der gerettet wird, tritt an folgenden zwei Stellen explizit in den Vordergrund: Er antwortete mir und sagte: Diese Welt hat der Höchste um der vielen willen erschaffen, die künftige aber nur wegen der wenigen. Ich will dir nun ein Gleichnis vorlegen, Esra. Wenn du die Erde fragst, wird sie dir sagen, dass sie viel mehr Tonerde bietet, woraus man irdene Gefäße macht, aber wenig Staub, woraus Gold wird. So ist auch der Gang dieser Welt. Viele sind zwar geschaffen, aber nur wenige werden gerettet. (4 Esra 8,1–3)45 Einst habe ich gesagt und ich sage es jetzt und werde es später sagen, dass die, die zugrunde gehen, mehr sind als die, die gerettet werden, wie die Flut mehr ist als der Tropfen. (4 Esra 9,15–16)46

Die Antwort Jesu geht nicht direkt darauf ein, sondern bringt ein anderes Motiv in der Form eines Imperativs ins Spiel: Kämpft darum, in die enge Pforte einzugehen! (V. 24) Wenn nach der apokalyptischen Dramatik gefragt wird, dann wird man von Jesus in die Gegenwart zurück verwiesen, in eine Zeit des Kampfes, die offenbar über das apokalyptische Schicksal entscheidet. Dass die Pforte eng ist und viele es nicht schaffen hineinzugehen, bestätigt dann doch, dass nur wenige gerettet werden. Zu denen, die draußen bleiben müssen, gehören auch solche, die zwar im Angesicht von Jesus gegessen und getrunken und seinen Lehren zugehört haben (V. 26), aber doch Täter des Unrechts sind (V. 27). Wer sind diese Leute, die hier angesprochen werden? Es sind »Zeitgenossen und Zeitgenossinnen Jesu«47, Menschen, die mit ihm in Kontakt gekommen sind, sich zumindest eine Zeit lang in seinem Umfeld aufgehalten haben und sich wohl zu seinen Jüngerinnen und Jüngern zählen. Doch sie gehören nur äußerlich dazu, was die Verwendung von ἐνώπιον anstelle von μετά im Zusammenhang mit dem Essen und Trinken in der Gegenwart Jesu antönt.48 Sie werden weg gewiesen (in Anklang an Ps 6,9 LXX) unter dem Vorwurf, Unrecht getan zu haben, d. h. die ethische Botschaft 44

SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 348. SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 362. 46 SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 372. Auch in Test Abr 11,11, Rezension A: »Denn es sind viele, die verloren gehen, weniger aber, die gerettet werden.« (JANSSEN, Testament Abrahams (JSHRZ III) 230). 47 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 434. 48 Diese Unterscheidung ist wohl aber nicht stark genug, dass man sagen kann, die Angesprochenen seien nicht in Jesu Gesellschaft gewesen und auch nicht unter seinen Jüngerinnen und Jüngern zu suchen (so aber BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 434). 45

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Jesu nicht verstanden oder nicht beachtet zu haben. Im Kontext des Lk-Evangeliums könnte damit gemeint sein: »Lk droht mit diesem Wort den christlichen Übeltätern, die selbstgerecht und geldgierig sind.«49 V. 28 entwirft ein »beunruhigendes Fresko in Schwarz-Weiss«50. Heulen und Zähneknirschen wird draußen sein: draußen bei den Tätern des Unrechts, bei denen, die meinten, sie gehörten aufgrund ihrer Mahlgemeinschaft und der gehörten Lehren zu Jesus; bei denen, die sich zu den Ersten zählten, jetzt aber zu den Letzten gehören, welche den Eintritt in die nun verschlossene Pforte nicht mehr geschafft haben. Sie werden Abraham, Isaak, Jakob und alle Propheten in der βασιλεία τοῦ θεοῦ sehen (V. 28), dazu die aus allen vier Himmelsrichtungen Hinzugekommenen (V. 29; Völkerwallfahrt51). Menschen, die anders als die vermeintlich Ersten nicht mit ihrer persönlichen Nähe zu Jesus auftrumpfen können, die aber offensichtlich nicht Unrecht getan haben, werden zu Tisch liegen in der βασιλεία τοῦ θεοῦ. An dieser hoffnungsvollen Stelle ist nur noch wenig zu spüren von der apokalyptischen Bedrängnis, welche den Hintergrund der Ausgangsfrage in V. 23 bildete. In V. 30 ist die Identifikation der Ersten mit denen, die sich auf die Nähe zu Jesus berufen wollen, aber Unrecht getan haben, und der Letzten mit Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen in der βασιλεία τοῦ θεοῦ zu Tische sitzen, eindeutig. »Wie die weisheitliche Tradition die Wahrheit gerne durch Kontrastbilder illustriert, so ist das Zurückgestoßen werden der Ersten an den letzten Platz hier evokativ.«52 In der Tat ist dieser Vers eher traditionell-weisheitlich zu verstehen, er ist hier aber apokalyptisch angewandt und bewirkt dadurch eine Öffnung des apokalyptischen Mechanismus: es werden nicht einfach alle Letzten zu Ersten und umgekehrt (wie in Mt 20,16), sondern es gibt Letzte, die Erste sein werden, und es gibt Erste, die Letzte sein werden. Es wird hier eine Vorausschau gegeben »auf das drohende Spektakel, dessen Dualismus noch nicht verfestigt ist«.53 49 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen, 36. Häufig wird darin auch – einer heilsgeschichtlichen Perspektive folgend – »eine erschreckende Kritik an den Privilegien Israels« gesehen (BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 436). Aber selbst Vertreter dieser Interpretation geben zu: »Lukas schließt neben der Perspektive, welche die Heilsgeschichte zeigt, eine ethische Interpretation der Sprüche Jesu, die er hier vereinigt, nicht aus« (BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 437). Es geht wohl um gruppeninterne Kritik, zuerst an einige Mitglieder in der Jesusbewegung gerichtet, dann in lk Perspektive an christliche Gemeindemitglieder (dies bestätigt auch die Parallelstelle Mt 7,22–23, wo Menschen explizit in Jesu Namen als Propheten aufgetreten sind, Dämonen ausgetrieben haben und viele Wunder gewirkt haben). 50 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 427. 51 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 437. 52 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 438. 53 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 427, der diese Öffnung des apokalyptischen Mechanismus ebenfalls erkennt.

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Während in Mt 20,1–16 eher die Letzten in den Blick kamen, für welche die endzeitliche Umkehr der sozialen Verhältnisse eine Hoffnungsvision darstellte, liegt bei Lk vom ganzen Abschnitt her der Akzent eher auf der Zurücksetzung der Ersten. Für sie ist das Logion eine Warnung: Kämpft darum, durch die enge Pforte hineinzugehen! 1.4 Mk 10,31 par Mt 19,30 – Hundertfaches jetzt in dieser Zeit und die abgeschwächte apokalyptische Dramatik Die Frage, wer mit den Letzten bzw. Ersten in Mk 10,31 par Mt 19,30 gemeint sein könnte, ist nicht leicht zu beantworten.54 Es ist nahe liegend, eine Antwort vom unmittelbaren mk/mt Kontext55 her (Thema Besitz und Reichtum) zu wagen. Einer, der zu Jesus hinzugekommen ist (erst in Mt 19,20 ein νεανίσκος), fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben (ζωὴ αἰώνιος) zu erlangen. Mit ζωὴ αἰώνιος wird eine zukünftige Dimension über die gegenwärtige Wirklichkeit hinaus angesprochen. Wenige Verse weiter (Mk 10,25par) wird klar, dass damit ein Aspekt der βασιλεία τοῦ θεοῦ gemeint ist. Als Antwort wird dem Fragenden über die Erfüllung einiger Gebote aus der zweiten Dekalogtafel (und des Nächstenliebegebotes nach Lev 19,18 bei Mt) hinaus aufgetragen, seinen Besitz zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben und Jesus nachzufolgen. Ewiges Leben und irdischer Reichtum scheinen sich gegenseitig auszuschließen, auch wenn durch den Zusatz »wenn du vollkommen sein willst« (Mt 19,21) eine gewisse Abschwächung erkennbar wird.56 Dies wird im Jüngergespräch, das auf die ablehnende Reaktion des Reichen folgt, mit dem Logion vom Kamel und Nadelöhr (Mk 10,25/Mt 19,24) noch 54 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 120 zu Mt 19,30: Es handelt sich um eine »allgemeine Schlussgnome, deren Deutung einige Probleme aufgeben wird.« 55 Für den Fokus dieser Arbeit können beide Perikopen Mk 10,17–31 und Mt 19,16–30 zusammen betrachtet werden, weil die Änderungen des Mt keinen Einfluss auf die inhaltliche Aussage und somit die Bedeutung von Mt 19,30 haben. 56 LUZ versucht aufzuzeigen, dass mit den »Vollkommenen« keine besondere Gruppe von Menschen gemeint ist, sondern dass zur Vollkommenheit alle gerufen sind: »Der Besitzverzicht, von dem Jesus jetzt spricht, ist so wenig fakultativ wie die Nachfolge oder die Feindesliebe. […] Die Forderung des Besitzverzichts ist für den Evangelisten eine grundlegende und für alle wichtige Forderung« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 123). Somit gilt auch für Mt: »Der Kontext (V 16.23–26) macht indirekt klar, dass der Mann nun das ewige Leben verpassen wird« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 123 Anm. 43; ebenso rigoros GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I/2) 166). Für die Gemeinde des Mt bedeutet dies: der Aufruf zur Vollkommenheit richtet sich auch hier noch an alle (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 131). Mt ist sich aber bewusst, dass er nicht alle Gemeindemitglieder zu Wanderradikalen machen kann; daher ist es auch nicht als Gesetz formuliert, sondern als »ein Aufruf, an diesem Brennpunkt des Glaubens so viel wie nur irgend möglich zu tun« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 131).

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einmal bekräftigt, jetzt in expliziter Verbindung mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Allerdings wird die Härte dieses Ausspruchs durch die Antwort auf die Jüngerfrage, wer dann noch gerettet werden kann, gemildert: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott aber ist alles möglich (Mt 19,26).57 Also können auch Reiche gerettet werden? So weit gehen Mk/Mt nicht, denn die Herausforderung für den Reichen bleibt bestehen: »Dass bei Gott alles möglich ist, heißt also wohl für Matthäus nicht unbedingt, dass er die Regel vom Kamel und vom Nadelöhr wirklich durchbrechen wird.«58 Der apokalyptische Mechanismus wird aber eindeutig abgeschwächt: alles ist möglich bei dem Gott, der der alten Sara einen Sohn schenkte (Gen 18,14), und vom dem Ijob am Ende seiner Leidensgeschichte erkannte, dass er alles vermag (Ijob 42,2). Gegen GNILKA ist daran festzuhalten, dass jene Abschwächung im Horizont der Problematik des Reichtums gesehen werden muss und nicht als allgemeines »Plädoyer für den Primat der Gnade«59 verwässert werden darf. Mit der Reaktion des Petrus, dass die Jünger alles verlassen haben und Jesus nachgefolgt sind,60 kommt nun die Kontrastgruppe derer in den Blick, die sich anders als der Reiche verhalten haben. Hundertfaches und ewiges Leben in der kommenden Welt (ἐν τῷ αἰῶνι τῷ ἐρχομένῳ Mk 10,30), bzw. bei der Wiedergeburt (ἐν τῇ παλιγγενεσία Mt 19,28) sind denen verheißen, die Häuser, Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen haben. Während Mk das Aufgegebene bereits im gegenwärtigen Kairos (innerhalb der Jesusbewegung – unter Verfolgung) wieder zuspricht (außer die Väter), malt Mt am apokalyptischen Gemälde mit dem Motiv vom Sitzen auf den Thronen und dem Richten der zwölf Stämme.61 Die Verheißungen werden abgeschlossen mit dem Logion von den Ersten und Letzten. Zumindest für Mt gilt: »Aus dem Kontext ist klar, dass es um den großen Umschwung im Endgericht geht.«62 Wer sind dann aber die Ersten und die Letzten? Die Deutung der Letzten auf die Nachfolgegemeinschaft Jesu und der Ersten auf Menschen wie der Reiche, der zwar alle Gebote (ja sogar das Nächstenlie57 Mk 10,27 lautet ähnlich: Bei Menschen ist es unmöglich, nicht aber bei Gott; denn alles ist möglich bei Gott. 58 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 128. LUZ betont stärker den fundamentalen Gegensatz zwischen weltlichem Besitz und dem kommenden Gottesreich und sieht in Mt 19,26 die Möglichkeiten Gottes im Vergleich zu Mk 10,27 weniger stark betont. 59 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK NT I/2) 166. 60 Erst in Mt 19,27 fragt Petrus explizit, was den Jüngern zustehen wird. Mt denkt hier also an den himmlischen Lohn (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 128). 61 »An der Gerichtsvorstellung im Einzelnen ist der Evangelist nicht interessiert. […] Das Logion ist im matthäischen Kontext vielmehr ein reines Verheissungswort: Den Zwölfen wird im Blick auf das, was sie jetzt in der Jesusnachfolge entbehren müssen, eine geradezu unglaubliche, völlig unproportionale Erhöhung versprochen« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 3) 129.130). 62 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 130.

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

begebot) erfüllt hat, aber den letzten Schritt des Besitzverzichts und der radikalen Nachfolge nicht machen kann, ist naheliegend.63 Allerdings könnte vor dem Hintergrund des radikalen Logions vom Kamel und Nadelöhr »das einschränkende πολλοι, statt eines einfachen ›die Ersten‹ […] stutzig« machen. Würde man nicht schon hier die »Prophetie über das Königtum Gottes«64 erwarten, wie sie erst in Mt 20,16 folgen wird: So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte? Aber so steht es in Mt 19,30 nicht. SCHOTTROFF hat folgende Erklärung dafür vorgelegt: Hier in 19,30 ist die Prophetie [Mt 20,16] auf das Geschick der Nachfolgegemeinschaft Jesu bezogen (19,27–29). Die Jünger und Jüngerinnen haben, anders als der reiche Jüngling (19,16–26), ihre Familie und Äcker aufgegeben, um ihm nachzufolgen durch ganz Galiläa bis nach Jerusalem. Der abschließende prophetische Satz will nicht sagen: Und ihr Jünger und Jüngerinnen seid diejenigen, die zu Ersten werden werden. Dann wäre der Satz kein eschatologischer Satz. Er ist Verheißung für diejenigen, die Familie und Äcker aufgegeben haben. Ebenso wie er Warnung für diejenigen ist, die sich wie der reiche junge Mann verhalten. Aber auch er wird vor Gottes Gericht stehen, nicht jetzt schon als von Gott Verurteilter behandelt, denn bei Gott ist alles möglich (19,26).65

Es geht hier also darum, apokalyptische Gewissheiten in der konkreten Gegenwart richtig zu verorten: wo Menschen individuell, mitten in der Geschichte stehend angesprochen werden, geschieht dies im Blick auf ihr Verhalten in der Form einer Warnung oder Verheißung – und nicht in der Vorwegnahme des zukünftigen Gerichts! Angesichts der absoluten Zukunft der βασιλεία τοῦ θεοῦ gilt es die Gegenwart nach deren Grundsätzen, wozu die Umkehrung der ökonomisch-sozialen Verhältnisse zählt, zu gestalten. Dieser Gestaltungsfreiraum ergibt sich – ähnlich wie bei Mt 19,26 – durch das Aufbrechen des apokalyptischen Mechanismus. Der gegenwärtige Kairos erhält von daher entscheidende Bedeutung. Bleiben wir noch einen Moment bei der Gegenwart. Mk hebt sie nicht nur als Entscheidungszeit für die Zukunft hervor, sondern in ihr kann sich bereits etwas von dem ereignen, was Mt erst als Belohnung für die Jesusnachfolge im Endgericht erwartet: neue Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker hier und jetzt – wenn auch unter dem Vorbehalt der Verfolgung (dies widerspiegelt insbesondere die Situation des Wanderradikalen66). Das Hun-

63 Für Mk 10,31: PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 104. Für Mt: LUZ lässt die Zuordnung an dieser Stelle offen (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 130). 64 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 282. 65 SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 282. Damit kann die Identifizierung der Letzten mit der Nachfolgegemeinschaft Jesu und der Ersten mit denjenigen, die sich wie der reiche Mann verhalten, überzeugend vorgenommen werden. 66 PESCH spricht von der Situation des Wandermissionars, der auf seiner Wanderschaft alles Verlassene hundertfach (an vielen Orten) zurück empfängt (PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 145).

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Von den Ersten und Letzten in paränetischer Form

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dertfache dessen, was die Jüngerinnen und Jünger Jesu aufgegeben haben, schon im jetzigen Kairos: auch dies passt nicht recht zum Logion vom Kamel und Nadelöhr und in den Mechanismus der apokalyptischen Umkehrung von Ersten und Letzten.

2. Von den Ersten und Letzten in paränetischer Form: Mk 9,35 und Mk 10,43 f par 2.1 Vorkommen und Traditionslinien Das Logion von den Ersten und Letzten taucht in paränetischer Form zweimal bei Mk auf (Mk 9,35 und Mk 10,43 f) und wird von Mt an der zweiten Stelle fast wörtlich übernommen (Mt 20,26 f), wobei er in V. 26 ἐν ὑμῖν nach vorne rückt und in V. 27 ὑμῶν anstelle von πάντων schreibt. Beide Änderungen stehen vornehmlich im Dienst der »Gewinnung der Parallelität zu V. 26«67. Das Motiv von den Ersten und Letzten ist in Mk 9,35 noch voll entfaltet, aber schon ergänzt mit dem Motiv der Diener, welche den Letzten an die Seite gestellt werden68. In Mk 10,44 und Mt 20,27 stehen auf der Seite der Ersten auch diejenigen, die groß werden wollen; als Gegenüber kommen die Letzten nicht mehr vor, sie sind ausgetauscht mit den Sklaven; neben ihnen werden wiederum die Diener genannt. .

Mk 9,35:

.

Ει τις θέλει πρῶτος εἶναι, ἔσται πάντων ἔσχατος καὶ πάντων διάκονος.

Wenn einer Erster sein will, soll er Letzter von allen und Diener von allen sein!69 Mk 10,43 f: οὐχ οὕτως δέ ἐστιν ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς

ἂν θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν ἔσται ὑμῶν

Mt 20,26 f: οὐχ οὕτως ἔσται ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς

ἐὰν θέλῃ ἐν ὑμῖν μέγας γενέσθαι ἔσται ὑμῶν

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GNILKA, Matthäusevangelium (HThK NT I/2) 187. Im Unterschied zu Mk 10,44par, wo doppelte Gegensatzpaare vorkommen, kommen in der ersten Hälfte nur ein Glied, in der zweiten Hälfte aber zwei Glieder vor (vgl. GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II/2) 56). 69 Das Futur ἔσται in der Apodosis ist im imperativischen Sinne zu verstehen, an allen Stellen sowohl bei Mk als auch bei Mt (PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 103; LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 159 Anm. 1). 68

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται πάντων δοῦλος·

διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται ὑμῶν δοῦλος·

Nicht so aber ist es bei euch, sondern wer groß werden will bei euch, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll Sklave von allen sein!

Nicht so soll es bei euch sein, sondern wer bei euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll euer Sklave sein!

Mk 9,35 ist Teil der Instruktion an die Jünger über die Rangordnung in der Jesusbewegung (Mk 9,33–37), welche an die zweite Leidens- und Auferstehungsankündigung (Mk 9,30–32) anschließt. Während es hier der Zwölferkreis der Jünger ist, der sich unpassend zur Situation über die Rangordnung unterhalten hatte und damit die klare Stellungnahme Jesu ausgelöst hat, sind es in Mk 10,35–45 die Zebedäussöhne Jakobus und Johannes (bzw. ihre Mutter in Mt 20,20–28), welche sich – nach der dritten Leidens- und Auferstehungsankündigung (Mk 10,32–34/Mt 20,17–19) ebenso unpassend – Ehrenplätze erbitten und dadurch den Ärger der zehn anderen Jünger und die entsprechende Reaktion Jesu hervorrufen. 2.2 Mk 9,35 – Fragmentarisch und anfanghaft realisierte Umkehrung von Ersten und Letzten in der Jesusbewegung Grösser könnte das Unverständnis der Jünger (9,32) nicht sein: auf die Ankündigung, dass der Menschensohn getötet wird und nach drei Tagen wieder auferstehen wird (Mk 9,30–32), beschäftigt sie nichts anderes als die Frage, wer von ihnen der Größte70 sei. Es ist nirgends gesagt, dass es dabei um den Größten in der zukünftigen βασιλεία τοῦ θεοῦ gehe (so dann an dieser Stelle bei Mt); vielmehr steht für die zwölf Jünger »ihr konkretes gegenseitiges Verhältnis«71 zur Debatte sowie dann die grundsätzliche Frage nach der Rangordnung in der Jesusbewegung. Die Reaktion Jesu in V. 35 ist keine direkte Antwort auf diese Frage, sondern formuliert die Bedingung für den, welcher Erster sein will. Und diese Bedingung dürfte den Jüngern zu denken gegeben haben: Wenn einer Erster sein will, soll er Letzter von allen und Diener von allen sein! Diese »Umkehrung weltlicher Verhältnisse«72, die doch mitten in dieser Welt in der Jesusbewe-

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Im Griechischen steht hier der Komparativ statt der Superlativ in der Volkssprache, die Bedeutung ist jedoch superlativisch (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II/2) 56 Anm. 4). 71 GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II/2) 56. 72 PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 104.

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Von den Ersten und Letzten in paränetischer Form

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gung geschehen soll, steht »unter dem Anspruch der Gottesherrschaft«73; sie ist bereits eine Realisierung jener apokalyptischen Weisheit, nach der Erste zu Letzten werden (Mk 10,31). Die apokalyptische Umkehrung der Verhältnisse, der Rollentausch von Ersten und Letzten nimmt die Jünger in der Gegenwart in die Pflicht und macht die gegenwärtige Zeit transparent für die radikale Umkehrung der Verhältnisse in der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Jesus weiß, dass dies in der Gegenwart nur fragmentarisch, anfanghaft geschieht: die Jünger sprechen lieber darüber, wer der Größte von ihnen ist. V. 36–37 konkretisieren und illustrieren74 anhand einer Symbolhandlung und eines weiteren Jesuslogions, was es heißt, Letzter und Diener zu sein. Das Kind, das Jesus in die Mitte stellt und umarmt, steht auch für Machtlosigkeit und soziale Randstellung: παῖς und παιδίον kann ebenso Sklave wie Kind heißen.75 Wenn also Kinder76, Kleine, Unbedeutende und Machtlose aufgenommen werden (dies ist die Deutung der symbolischen Handlung der Umarmung77), dann erfüllen die, welche die Größten sein wollen, ihren Dienst und werden durch ihre Solidarität mit den Letzten selbst zu Letzten.78 Auch hier steht hinter der Aufnahme eines Kindes eine weitere Dimension, nämlich Jesus und Gott selbst: im solidarischen Geschehen der Aufnahme wird Gott selbst aufgenommen. Denn Gott steht auf der Seite der Letzten, denen die apokalyptische Hoffnung verheißt, dass sie zu Ersten werden, und denen in der Jesusbewegung schon gedient werden soll »wie den Ersten«.79 2.3 Mk 10,43 f par Mt 20,26 f – Dienst und Lebenshingabe in der jesuanischen Kontrastgemeinschaft Eine umfangreichere Parallele zu Mk 9,33–37 findet sich in Mk 10,35–45 par Mt 20,20–28. In der ganzen Perikope sind die Abweichungen des Mt gegenüber Mk so gering80, dass die mk und mt Version zusammen betrachtet werden können.

73

PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 104. PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 107. Vgl. zu V. 36–37 auch die Szene Mk 10,13–16 mit der Segnung der Kinder. 75 Zur Bedeutung und der Situation von Kindern in der Antike: LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 14–15; seine Ausführungen für Mt 18,1–5 gelten übertragen auch für Mk. 76 »Der Dienst an hilfsbedürftigen Kindern wird auch im Judentum sehr eingeschärft.« Siehe dazu mehr bei PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 107. 77 PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 106. 78 Solche Solidarität beinhaltet nicht mehr ein Gefälle von Ersten und Letzten, man handelt »nicht von oben herab« (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II/2) 58). 79 PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 104. 80 Die drei wichtigsten Änderungen (die Mutter der Zebedaiden tritt anstelle ihrer Söhne auf; die Mutter bleibt zunächst stumm, Jesus hat das erste Wort; die mk Hinweise auf die 74

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

Die Frage der Zebedaiden, bzw. ihrer Mutter nach den Thronsitzen zur Rechten und zur Linken Jesu in seiner δόξα81 (Mk 10,37) , bzw. βασιλεία (Mt 20,21), zielt auf die zukünftige βασιλεία τοῦ θεοῦ. Es geht um ihre Ehrenplätze und somit darum, wer zu den Ersten in der βασιλεία τοῦ θεοῦ gehören wird. Wie von Mk 10,31/Mt 19,30 her nicht anders zu erwarten ist, wird die Frage nach den Ersten im kommenden Äon mit der Frage nach den Letzten im gegenwärtigen Äon gekontert: Haben Johannes und Jakobus die Kraft, Jesu Leidens- und Todesgeschick zu teilen? Das Trinken des Kelches Jesu und das Aufsichnehmen der Taufe Jesu (nur bei Mk) stehen für seine Leidensnachfolge. Die selbstsichere Antwort der beiden und die Bestätigung Jesu (Mk 10,39/Mt 20,22–23) sollten eigentlich keinen Zweifel mehr daran lassen, dass die Zebedaiden zu den vielen Letzten gehören, welche in der βασιλεία τοῦ θεοῦ die Ersten sein werden. Aber Jesus sagt das nicht und lässt die zukünftige Rangordnung offen: Zu seiner Rechten und Linken werden die sitzen, für welche diese Plätze (bei Mt: von Gott) bestimmt sind (Mk 10,40/Mt 20,23). Der apokalyptische Mechanismus der Umkehrung von Ersten und Letzten ist auch hier abgeschwächt. Die folgenden Zeilen verharren in der Gegenwart dieses Äons, wohinein auch die Zebedaiden verwiesen worden sind. Die zehn anderen Jünger sind verständlicherweise ärgerlich über sie. Vor ihnen skizziert Jesus nun die Machtstrukturen dieser Welt: Die, welche als Herrscher über die Völker gelten, unterdrücken ihre Völker und die Mächtigen missbrauchen ihre Macht über die Menschen. Es geht wohl nicht nur um einzelne Exzesse von Machtmissbrauch, sondern es wird generell ein düsteres Gemälde der politischen Verhältnisse gezeichnet82. Steht es so schlimm um die Situation, dass nur noch auf das apokalyptische Gericht Gottes gehofft werden kann? Äth Hen hätte die passende Reaktion parat: »Wehe euch, ihr Mächtigen, die ihr mit Gewalt den Gerechten niederdrückt; denn der Tag eurer Vernichtung wird kommen. In jenen Tagen werden für die Gerechten viele und gute Tage kommen – am Tag eures Gerichtes.« (äth Hen 96,8)83 Aber dies wird im Anschluss an Mk 10,42/ Mt 20,25 nicht gesagt, die Zielrichtung der Perikope ist eine andere. Schimmert in ihr vielleicht doch die Hoffnung auf Gott als den Herrn der Geschichte und auf seine Macht, die politischen und sozialen Geschicke zu gestalten und umzukehren, durch? In Konsolidierung traditioneller Weisheit konnte das Weisheitsbuch von Jesus Sirach über die Geschichte »als ruhig, wenn auch in Windungen dahin fließenden Fluss«84 noch aussagen: Todestaufe lässt Mt weg) sind für unsere Thematik inhaltlich nicht bedeutend (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 160). 81 Dazu mehr bei: PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 155–156. 82 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 163. 83 UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 720. 84 KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 9.

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Von den Ersten und Letzten in paränetischer Form

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Die Herrschaft geht über von Volk zu Volk wegen Gewalttat und Übermut. […] Den Thron der Stolzen stürzt Gott um, die Bedrückten aber setzt er an ihre Stelle. […] Gott verwischt die Spuren der Völker, ihren Wurzelstock schlägt er ab bis auf den Grund. (Sir 10,8.14.16)85 Viele, die unterdrückt waren, bestiegen den Thron, viele, an die niemand dachte, trugen die Krone. Viele, die hoch standen, wurden tief verachtet, und Angesehene wurden den Niedrigen ausgeliefert. (Sir 11,5–6)

Diese Weisheit lebt auch im neutestamentlichen Text weiter; sie wird in der Praxis der JüngerInnen Jesu der düsteren Wirklichkeit entgegen gehalten: Wer groß sein will, soll Diener sein, und wer Erster sein will, soll Sklave sein! Denn Gottes Macht besetzt die Throne mit Niedrigen, verachtet aber werden diejenigen, die hoch standen. Darin zeigt sich anttithetisch ein anderes Modell von Macht als bei den Völkern und den Herrschern, die sie unterdrücken. Die Umkehrung von Ersten und Letzten wird somit nicht nur der Wirklichkeit entgegen gehalten, nein, sie wird selber Wirklichkeit (οὐχ οὕτως δέ ἐστιν ἐν ὑμῖν – nicht so aber ist (!) es bei euch Mk 10,43). Nicht nur das einschränkende »viele« in Sir 11,5–6, sondern auch die Bitte der Zebedäussöhne und ihre Gelüste nach den Ehrenplätzen zu Beginn der mk/mt Perikope machen deutlich, dass diese Wirklichkeit fragmentarischen Charakter hat. Und es ist zu der Zeit Jesu eine begrenzte Wirklichkeit »bei euch«, also in einer Kontrastgruppe zur übrigen Welt; »bei euch« wird in der Perikope zum zweifach »repetierten Leitwort«86: groß »bei euch« und Erster »bei euch«. Was heißt es in diesem Zusammenhang, in der jesuanischen »Kontrastgesellschaft«87 Diener und Sklave zu sein? Mk/Mt verweisen auf das Vorbild Jesu, auf den Menschensohn, der gekommen ist, um zu dienen. Wenn Mk/Mt unmittelbar anschließend die Perikope von der Heilung eines Blinden bei Jericho anfügen (Mk 10,46–52 par Mt 20,29–34), wollen sie damit doch illustrieren, wie dieses Dienen Jesu und somit auch das Dienen der Jünger aussieht: Es konkretisiert sich in heilendem und befreiendem Wirken. Sein Leben gibt Jesus dafür hin, dass Blinde sehend werden, dass Erlösung hier und jetzt geschieht. Die Umkehrung von Ersten und Letzten geschieht nicht nur fragmentarisch und begrenzt, sondern auch anfanghaft: hinter der Praxis der Jesusbewegung steht – wie in Mk 9,35 – die apokalyptische Umkehrung der Verhältnisse in der zukünftigen βασιλεία τοῦ θεοῦ. Dass den Ersten nicht mehr wie in Mk 9,35 Diener, sondern Sklaven – Menschen in »untergeordneter und unfreier Stellung«88 – gegenüber gestellt werden, zeigt eine »steigernde Tendenz«89: In 85

SCHOTTROFF, Magnificat 299. PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 161 (nicht dreifach, sondern zweifach repetiert!). 87 PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 153. 88 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 163. 89 PESCH, Markusevangelium (HThK NT II/2) 161. 86

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

der narrativen Struktur von Mk/Mt befindet man sich bereits nach der dritten Leidens- und Auferstehungsankündigung und der Einzug nach Jerusalem, wo das Schicksal Jesu seinem Höhe-, bzw. Tiefpunkt entgegen strebt, steht unmittelbar bevor. Jesus ist also auch in dieser Hinsicht Vorbild für die Umkehrung weltlicher Verhältnisse in seiner Bewegung: Mit den Ersten dieser Welt gerät er selbst in einen tödlichen Konflikt und erscheint am Kreuz unter den Letzten dieser Welt. In der Fluchtlinie der apokalyptischen Umkehrung von Ersten und Letzten liegt denn auch die Hingabe des Lebens gemäß einer anderen apokalyptisch-weisheitlichen Regel: »Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen (und um des Evangeliums willen90) verliert, wird es retten/finden.« (Mk 8,35/Mt 16,25/Lk 9,24)91

3. Große und Dienende 3.1 Vorkommen und Traditionslinien Bereits in Mk 9,35 und Mk 10,43 f hat sich gezeigt, dass sich das Motiv von Ersten und Letzten teilweise mit anderen Motiven (Sklaven) vermischt, bzw. dass ihm andere Motive zur Seite gestellt werden (Große – Dienende). Letztes bringt Mt ein zweites Mal leicht abgeändert (ὁ δὲ μείζων ὑμῶn statt ὃς ἐὰν θέλῃ ἐν ὑμῖν μέγας γενέσθαι) in Mt 23,11 im Kontext der Weherede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23). Lk verwendet das Motiv der Großen ein erstes Mal im bereits bekannten Kontext im Anschluss an die zweite Leidensankündigung: In Lk 9,48 wird dem Kleinsten Größe zugesprochen. In Lk 22,26 ist nach dem letzten Abendmahl in paränetischer Form die Rede vom Größten und Jüngsten; Lk übernimmt hier zwar die parallele Struktur von Mk 10,43 fpar, bringt dabei aber noch einmal ein neues Motiv: Führende sollen wie Dienende werden! Lk 9,48: ὁ γὰρ μικρότε-

ρος ἐν πᾶσιν ὑμῖν ὑπάρχων οὗτός ἐστιν μέγας.

Denn wer der Kleinste92 unter euch allen ist, dieser ist groß.

90

Nur in Mk 8,35. Vgl. dazu weiter Mt 10,39 und Lk 17,33. 92 Superlativische Bedeutung des Komparativs: BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK IIII/ 1) 522 Anm. 52. 91

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Große und Dienende

Mk 10,43 f: οὐχ οὕτως δέ ἐστιν ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς ἂν

θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν ἔσται ὑμῶν διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται πάντων δοῦλος·

Nicht so aber ist es bei euch, sondern wer groß werden will bei euch, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll Sklave von allen sein!

Mt 20,26 f: οὐχ οὕτως ἔσται ἐν ὑμῖν, ἀλλ᾽ ὃς ἐὰν θέλῃ ἐν ὑμῖν μέγας γενέσθαι ἔσται ὑμῶν διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται ὑμῶν δοῦλος· Nicht so soll es bei euch sein, sondern wer bei euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer bei euch erster sein will, soll euer Sklave sein!

Lk 22,26: ὑμεῖς δὲ οὐχ οὕτως, ἀλλ᾽ ὁ μείζων ἐν

ὑμῖν γινέσθω ὡς ὁ νεώτερος καὶ ὁ ἡγούμενος ὡς ὁ διακονῶν.

Bei euch aber (ist es/soll es sein) nicht so, sondern der Größte93 unter euch soll wie der Jüngste werden und der Führende wie der Dienende.

Mt 23,11: ὁ δὲ μείζων

ὑμῶν ἔσται ὑμῶν διάκονος.

Der Größte94 von euch aber soll euer Diener sein!

3.2 Die göttliche Wirklichkeit hinter den Kleinsten in Lk 9,48 Gegenüber Mk 9,33–37 hat Lk 9,46–48 die Reihenfolge der Antwort auf die Jüngerfrage nach dem Größten und der Symbolhandlung mit Deutung umgedreht. Ihm ist es wichtig, gleich zu Beginn das Kind ins Zentrum zu rücken (Jesus nimmt es zu sich) und die Tiefendimension hinter der Aufnahme eines solchen Kindes aufzudecken. Dies hat Lk schon sehr früh in seinem Evangelium ein erstes Mal getan, nämlich in seiner Geschichte von der Geburt Jesu (Lk 2,1–21). Ein in Windeln gewickeltes Kind in einer Krippe, dessen Eltern keinen Platz mehr in einer Herberge fanden, ist das Zeichen für eine große Freude, die den Hirten auf freiem Feld verkündet wird. Der Retter (σωτήρ), Messias (Χριστός) und Herr (κύριος) ist geboren. Den Hirten wird das Zeichen des obdachlosen Kindes gedeutet, indem sie in den Glanz des Herrn (δόξα κυρίου) hinein genommen werden. Hinter dem Kleinsten steht die göttliche Wirklichkeit, die ihm eine Größe von ganz neuer Qualität verleiht. Wie ist das Zeichen dieses Kindes aber genauer zu verstehen? VENETZ interpretiert folgendermaßen: »Gewiss muss man nicht unbedingt sagen, dass jedes obdachlose Kind auch schon der Retter ist und der Herr; sicher aber ist, dass dieses Zeichen nur von denen erkannt werden kann, die ein Gespür haben für das obdachlose Kind und die obdachlosen Kinder überhaupt.«95 Gemäß Lk 93 94 95

Superlativische Bedeutung: BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK IIII/4) 265. Superlativische Bedeutung: LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 12 Anm. 22. VENETZ, Der Evangelist des Alltags 55.

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

9,47–48 sollen die Jünger dieses Gespür entwickeln, indem sie ein Kind wie jenes, das Jesus neben sich stellt, auch tatsächlich aufnehmen. Die Tragweite dieses Geschehens macht Lk etwas später deutlich: »Amen, ich sage euch: Wer nicht aufnimmt das Reich Gottes wie ein Kind, wird nicht in es hineingehen.« (Lk 18,17) Wenn das Kind grammatikalisch als Akkusativ verstanden wird, bedeutet dieser Satz: »Wer das Reich Gottes nicht aufnimmt wie ein Kind, das man aufnehmen soll…«96 Das Hineingehen in die βασιλεία τοῦ θεοῦ wird an diese Bedingung geknüpft, aber es wird nicht gesagt, ob diese Bedingung auch ausreichend sein wird. Denn damit wäre der apokalyptische Mechanismus determiniert, wohingegen er in der jesuanischen Verkündigung – wie bereits mehrfach angedeutet – bewusst offen gelassen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint auch Lukas’ Gespür für die Kleinsten »unter euch allen« in 9,48 in deutlichen Umrissen. Offenbar gibt es unter den Jüngerinnen und Jüngern sowie in den frühchristlichen Gemeinden bereits Kleinste (und als Gegenstück dazu auch Größte, wie Lk 22,26 belegt), die besonders gestärkt werden müssen. Ihnen wird Größe zugesprochen, weil hinter den Kleinsten dieser Welt die Größe der göttlichen Wirklichkeit steht. 3.3 Lk 22,26 und Mt 23,11 – Dienst in der christlichen Kontrastgesellschaft Lk 22,24–30 ist etwas anders akzentuiert als die parallelen Perikopen um Mk 10,43 f par Mt 20,26 f, zeigt jedoch im Wesentlichen dieselbe Stoßrichtung vom Dienst in der christlichen Kontrastgemeinschaft. Auch wenn in Lk 22,25 das Gemälde der politischen Verhältnisse nicht ganz so düster gezeichnet wird wie in Mk 10,42 par Mt 20,2597, wird die Darstellung der alternativen Praxis der Jesusbewegung in deutlich helleren Farbtönen beibehalten. Während sich die Mächtigen der Welt als »Wohltäter« verehren lassen – obwohl sie damit wahrscheinlich vor allem ihr eigenes Wohl im Blick haben –, sollen die Größten und Führenden unter den Jüngern einen entscheidenden Schritt weiter gehen: werden wie die Jüngsten und die Dienenden! »Indem er [Lk] das menschliche Autoritätssystem und die Machtausübung umdreht, fordert der Jesus des Lukas (doch dürfte er hier den historischen Jesus widerspiegeln) von dem, der oben ist, er solle heruntersteigen.«98 Ob dieser Schritt von Lk im Indikativ (»in eurem Fall ist das nicht so« wie bei Mk) oder im Imperativ (»was euch betrifft, soll es nicht so sein« wie bei Mt) formuliert wird, bleibt offen. Die »Doppeldeutigkeit des Textes« – die Beschreibung eines Ist-Zustandes und die Einforderung eines Verhaltens – muss nach BOVON »aufrechterhal-

96

VENETZ, Der Evangelist des Alltags 56. Im Unterschied zu Mk 10,42 taucht nicht das Verb κατακυριεύω »unterjochen« auf, sondern das neutralere κυριεύω »(be)herrschen)« (vgl. BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 266). 98 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 267. 97

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Große und Dienende

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ten werden.«99 Lk ist sich wohl bewusst, dass es sich dabei um eine fragmentarisch schon gegenwärtige (Indikativ), aber immer auch anfanghafte, über sich auf die absolute Zukunft der βασιλεία τοῦ θεοῦ hinausweisende Wirklichkeit (Imperativ) handelt.100 Die zwei neuen Motive des νεώτερος und des ἡγούμενος rühren wohl von der lk Gemeinde her. Die Jüngsten werden von Lk in Apg 5,6 genannt, »um eine Gruppe junger Christen zu beschreiben, die vom Alter und von der erst vor kurzem erfolgten Bekehrung her gesehen jung sind.«101 Der Ausdruck ἡγούμενος dürfte eine kirchliche Verantwortung bezeichnet haben.102 Die fast schon rhetorische Frage in V. 27, ob derjenige grösser sei, der bei Tisch sitzt, oder derjenige, der bedient, verdeutlicht noch einmal die beiden gegensätzlichen Perspektiven. In normaler Wertung ist derjenige grösser, der bei Tisch sitzt (V. 27). Paradigmatisch zeigt sich diese Haltung beim Sophisten Kallikles, der in PLATONs Gorgias die Frage stellt: »Wie kann ein Mensch glücklich werden, der irgendjemandem dient?« (Plat Gorg 491.e)103 In der jesuanischen Perspektive hingegen wird diese Wertung auf den Kopf gestellt; dies geschieht wiederum im Rekurs auf das Dienen Jesu selbst und die dahinter stehende apokalyptische Umkehrung der Verhältnisse in seiner zukünftigen βασιλεία, wo »die Untersten herrschen«104 und die Jünger mit ihm zu Tische sitzen und die zwölf Stämme richten werden (V. 27–30). Wie in Lk 22,26 ist in Mt 23,11 vom Größten die Rede, nicht mehr nur von dem, der groß werden will (Mk 10,43 par Mt 20,26). Die schon in der Jesusbewegung vorhandene Gefahr, dass es zur Bildung von Macht- und Rangstrukturen kommen konnte, ist in den frühchristlichen Gemeinden zur Realität geworden (Institutionalisierungstendenzen mit aufkommenden Rangunterschieden105). Wie bei Lk schimmert auch bei Mt diese Situation durch: in der Gemeinde gibt es solche, die sich Rabbi (Mt 23,8), Vater (V. 9) oder Leiter (V. 10) nennen lassen.106 Dieser Praxis möchte Mt Einhalt gebieten, indem er auf den einen Meister, den einen Leiter Christus und den einen Vater im Himmel verweist. Die Konsequenzen für die Gemeinde werden in V. 11 auf den 99

BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 267. Leider wird von kaum einem Autor diese Doppeldeutigkeit mit den zwei Aspekten der βασιλεία τοῦ θεοῦ in Verbindung gebracht. BOVON deutet den Imperativ ekklesiologisch und den Indikativ christologisch (BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 267). 101 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 267. 102 Vgl. Hebr 13,7. 103 PLATO, Gorgias. 104 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/4) 267. 105 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 307. 106 Offenbar hat es auch in den christlichen Gemeinden eine solche »Titelsucht« gegeben, die Mt bei den Pharisäern und Schriftgelehrten geißelt. Für das zeitgenössischen Judentum im Laufe des 1. Jh. lässt sich eine solche Entwicklung für die Anrede »Rabbi« belegen, siehe dazu LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 307. 100

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

Punkt gebracht: Der Größte von euch aber soll euer Diener sein! Dieser Aufruf leuchtet umso heller vor dem düsteren Hintergrund, den Mt vom Verhalten der Pharisäer und Schriftgelehrten zeichnet. Hier kontrastiert die geforderte Praxis der Gemeinde nicht mehr mit den allgemeinen politischen Verhältnissen, sondern mit dem (freilich verzerrt und polemisch dargestellten) Modell der Schriftgelehrten und Pharisäer. Obwohl wir uns hier im Rahmen der Gemeindeämter bewegen, ist der Spruch von der Umkehrung der Verhältnisse nicht auf das Gemeindeamt des »Diakons« hin konkretisiert.107 Vielmehr gilt: In der Kirche Christi darf es aus der Sicht des Mt (und darin liegt er auf der Linie des historischen Jesus) keine Herrschaft, »überhaupt keine Herrschaft von Geschwistern über Geschwistern geben […], sondern nur den wechselseitigen Dienst.«108 Den Maßstab für diesen Dienst hat der eine Meister und der eine Leiter durch sein Leben und seinen Tod selbst gesetzt.

4. Erhöhte und Erniedrigte 4.1 Vorkommen und Traditionslinien Im inzwischen bereits vertrauten Kontext der zweiten Instruktion an die Jünger über die Rangordnung in der Jesusbewegung bringt Mt in 18,4 eine verkürzte und an die Situation angepasste Version der Sentenz109, die in Mt 23,12 und Lk 14,11; 18,14 vollständig erhalten ist:110 Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Die älteste Form des Wanderlogions dürfte in Lk 14,11; 18,14 vorliegen111, wobei die traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge hier schwierig zu erschließen sind.112 Eindeutig ist, dass Mt 23,12 durch ὅστις δέ matthäisch geprägt ist.113 Hier verwendet es Mt im Kontext der Weherede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, im Anschluss an die Aufforderung an den Größten, Diener zu sein114; Lukas verwendet das Logion in zwei neuen Kontexten.

So EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 384 Anm. 52. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 314. 109 VON LIPS, Neutestamentliche Weisheitstraditionen 206. 110 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 11. 111 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 297. 112 Die traditionsgeschichtliche Zuordnung zu Q bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, vgl. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 297, Anm. 15. 113 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 297 Anm. 16. 114 Siehe Kap. I.3.3. 107 108

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Erhöhte und Erniedrigte

Mt 18,4: ὅστις οὖν ταπεινώσει ἑαυτὸν ὡς τὸ παιδίον τοῦτο, οὗτός ἐστιν ὁ μείζων ἐν τῇ βασιλείᾳ τῶν οὐρανῶν. Denn wer sich erniedrigen wird wie dieses Kind, dieser ist der Größte im Himmelreich. Mt 23,12 ὅστις δὲ ὑψώσει ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται καὶ ὅστις ταπεινώσει ἑαυτὸν ὑψωθήσεται. Wer sich aber selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Lk 14,11: ὅτι πᾶς ὁ ὑψῶν ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται, καὶ ὁ ταπεινῶν ἑαυτὸν ὑψωθήσεται.

Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Lk 18,14: ὅτι πᾶς ὁ ὑψῶν ἑαυτὸν ταπεινωθήσεται, ὁ δὲ ταπεινῶν ἑαυτὸν ὑψωθήσεται.

Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, der aber, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

4.2 Mt 18,4 – Radikal auf der Seite der Niedrigen Im Unterschied zu Mk und Lk geht es den Jüngern jetzt um die Frage, wer von ihnen im Himmelreich der Größte sei (Mt 18,1). Eine explizite Antwort folgt unter Wiederaufnahme der Jüngerfrage in V. 4, womit die apokalyptische Perspektive deutlich hervortritt. Die Stoßrichtung der Aussagen für die Gegenwart ist jedoch die gleiche wie im mk115 und lk116 Kontext: leben unter neuen Maßstäben, die einem in dieser Welt zu den Niedrigsten machen. Im Anschluss an den vorhergehenden Vers und an die Szene, in welcher Jesus ein Kind in ihre Mitte gestellt hat, würde eine erste Assoziation das Verb ταπεινόω mit dem Aspekt der Kleinheit verbinden. ταπεινόω zielt aber auf die Niedrigkeit (des Kindes): »Der Niedrige ist der Unbedeutende, Machtlose, Schwache und in schlechten Verhältnissen Lebende.«117 Sich auf die Seite dieser Menschen zu stellen ist das herausfordernde Programm für die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Auch bei Mt steht der Seitenwechsel unter dem zugleich hoffnungsvollen und herausfordernden Horizont der apokalyptischen Umkehrung der Verhältnisse in der βασιλεία τῶν οὐρανῶν. Eine erste parä-

115

Siehe Kap. I.2.2. Siehe Kap. I.3.2. 117 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 14. Zur Bedeutung von »Kind« siehe oben Kap. I.2.2. 116

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netische Konkretisierung klingt mit der Aufnahme von Kindern in V. 5 wiederum an; dies geschieht im Namen Jesu, im Namen seines Lebens, im Namen seiner Vision von der βασιλεία τῶν οὐρανῶν. Weil diese damit bereits ein Stück weit, anfanghaft verwirklicht wird, werden durch die Praxis der Jesusbewegung bereits im gegenwärtigen Kairos Erniedrigte erhöht. Dies liegt zwar nicht mehr ganz in der Logik einer rein apokalyptischen Weltsicht, dafür auf der Linie jesuanischer Pragmatik, die ihre Kraft offenbar auch noch aus weiteren Quellen zu schöpfen vermag. 4.3 Mt 23,12 und die traditionelle Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden Angesichts von spürbaren Tendenzen zur Bildung von hierarchischen Strukturen (Rangunterschiede) sprach Mt 23,11 Klartext bezüglich der Konsequenzen für die mt Gemeinde: Der Größte von euch aber soll euer Diener sein! Nach Luz bringt der Schlussspruch V. 12 nun die »eschatologische Dimension« in die Paränese ein. Nicht nur die Wiederaufnahme von ταπεινόω aus Mt 18,4, wo von der βασιλεία τῶν οὐρανῶν explizit die Rede ist, sondern auch die Passiva Divina ταπεινωθήσεται und ὑψωθήσεται können als Hinweise auf die »Umkehr aller menschlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse, die Gott heraufführen wird, wenn sein Gericht und sein Reich kommen wird«118, gelesen werden. Ist aber eine solche apokalyptische Lesart zwingend und von Mt primär intendiert? Ist das von den Größten (V. 11) geforderte Verhalten erst unter apokalyptischen Vorzeichen sinnvoll? Einer Antwort kann man einen Schritt näher kommen, indem die letzte Frage sozusagen in umgekehrter Richtung gestellt wird: Folgt aus der apokalyptischen Vorstellung einer Umkehr aller menschlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch die Aufforderung an die Größten dieser apokalyptisierenden Gruppe, zu Dienern zu werden? Die Yahad in Qumran kannte eine solche Forderung nicht, im Gegenteil gilt für die »ganze Zeit der Herrschaft Belials« (1QS 2,19)119: »Keiner soll sich erniedrigen unter seinen Rangpostenplatz und keiner sich erheben über den Ort seines Loses« (1QS 2,23)120 Das apokalyptische Szenario löst hier keine Dynamik der Machstrukturen in der Gegenwart aus; eine solche würde auch keinen Sinn machen, weil die Söhne des Lichts in der Zeit der Herrschaft der Finsternis nur noch darauf zu warten haben, dass sie in Gottes Gericht an die ihnen zugedachte gerechte Stelle

118 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 310. Als Argument für eine eschatologische Deutung ist auch auf den Bezug zu Mt 24 hinzuweisen. 119 MAIER, Die Texte vom Toten Meer I 171, nach der Textausgabe von BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery Vol. 2. 120 MAIER, Die Texte vom Toten Meer I 171, nach der Textausgabe von BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery Vol. 2. Vgl. dazu auch 1QSa 2,11–22.

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gerückt werden: Ihre strenge Über- und Unterordnung ist ein vorausgreifendes Abbild der Rangordnung unter den Erhöhten in der jenseitigen Welt. Die Jesusbewegung und die mt Gemeinde kennen – anders als die Yahad – diese elitäre Sicherheit des apokalyptischen Auserwähltseins nicht. Und sie leben auch nicht im Zeitalter Belials (vgl. Lk 10,18: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen«), sondern in einem Kairos, wo es nicht den apokalyptischen Umsturz passiv abzuwarten gilt, sondern die Gemeinde gemäß der Vision von erhöhten Niedrigen und niedrigen Erhöhten zu gestalten ist. Es ist daher nicht nur nicht zwingend, sondern auch nicht ganz passend, Mt 23,12 ausschließlich apokalyptisch zu deuten. Mt 23,12 ist vielmehr in traditioneller weisheitlicher Plausibilität und in der Form eines Sprichworts als »Auswertung«121 der vorhergehenden Verse, insbesondere der Aufforderung, Diener zu werden, zu verstehen. Für die weisheitliche Regel vom Erniedrigt- und Erhöhtwerden gilt: »Die Wahrheit, die sie verbirgt, ist nicht neu; sie gehört sogar zu einer der am besten im jüdischen Ethos verankerten biblischen Traditionen.«122 Auch die rabbinische Tradition hat sie aufgenommen, so ist von Hillel der Spruch überliefert: »Meine Erniedrigung ist meine Erhöhung, meine Erhöhung ist meine Erniedrigung.« (Lev R 1)123 Doch bleiben wir einen Moment bei den alttestamentlichen Belegen. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen der eigenen Erhöhung und dem Erniedrigtwerden, bzw. der eigenen Erniedrigung und dem Erhöhtwerden zieht sich vom Buch der Sprichwörter über Ijob bis hin zu Jesus Sirach mit seinem Aufruf, sich selbst zu bescheiden und demütig zu sein (Sir 3,18–21). »Hochmut erniedrigt den Menschen, doch der Demütige kommt zu Ehren.« (Spr 29,23) »Wer hochmütig redet, den duckt er, doch hilft er dem, der die Augen senkt.« (Ijob 22,29) Hinter dem Tun-Ergehen-Zusammenhang steht letztlich die Durchsetzung des göttlichen Willens, wie sie schon der Lobgesang Annas in 2 Sam 2,1–10 besungen hatte. Anna konnte doch noch einen Sohn, Samuel, zur Welt bringen, nachdem sie zuvor kinderlos zusehen musste, wie die zweite Frau ihres Mannes viele Söhne und Töchter gebar: Der Bogen der Helden wird zerbrochen, die Wankenden aber gürten sich mit Kraft. Die Satten verdingen sich um Brot, doch die Hungrigen können feiern für immer. Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder, doch die Kinderreiche welkt dahin. Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt, und er erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt; er gibt ihm einen Sitz bei

121 EBNER, Weisheitslehrer 384 Anm. 52. Der funktionale Einsatz als Auswertung gilt auch für Lk 14,11; 18,14. 122 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 491. 123 Übersetzung nach BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 774.

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den Edlen, einen Ehrenplatz weist er ihm zu. Ja, dem Herrn gehören die Pfeiler der Erde; auf sie hat er den Erdkreis gegründet. (2 Sam 2,4–8)124

Auch hinter dem Auf und Ab der jüdischen Geschichte insgesamt wird von prophetischer Warte aus Gottes erniedrigendes, bzw. erhöhendes Wirken erkannt, so angesichts der assyrischen Bedrohung in Jes 10,33 (wahrscheinlich beim Heranziehen von König Sanherib um 701 v. Chr.): Seht, Gott, der Herr der Heere, schlägt mit schrecklicher Gewalt die Zweige ab. Die mächtigen Bäume werden gefällt, und alles, was hoch ist, wird niedrig. Das Dickicht des Waldes wird mit dem Eisen gerodet, der Libanon fällt durch die Hand eines Mächtigen. (Jes 10,32–34)

Das Fällen der hohen Bäume ist symbolischer Ausdruck für die Erniedrigung dessen, was hoch ist. Auch die Beschreibung des umgekehrten Vorgangs verharrt in denselben Bildern, denn Jerusalem wird gerettet und Niedriges wird wieder erhöht werden. In den bekannten Versen Jes 11,1–9 wird der zukünftige ideale Herrscher mit den Worten angekündigt: »Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.« (Jes 11,1) Gut hundert Jahre später werden die Babylonier unter Nebukadnezzar gegen Jerusalem ziehen, was Ezechiel auf das Verhalten von König Zidkija zurückführt: »So spricht Gott, der Herr: Weg mit dem Turban, herunter mit der Krone! Nichts soll bleiben, wie es ist. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig.« (Ez 21,31) Der König wollte sich selbst erhöhen, indem er beabsichtigte, sich mit ägyptischer Unterstützung gegen die Babylonier zu erheben, obwohl er von diesen als König eingesetzt worden war. Gott selbst wird deshalb den König von Jerusalem bestrafen (Ez 17,11–21). Aber auch hier schließt sich eine Hoffnungsvision an (Ez 17,22–24), deren Ende das ausgleichende Wirken Gottes in der Geschichte noch einmal anhand des Baummotivs auf den Punkt bringt: Dann werden alle Bäume auf den Feldern erkennen, dass ich der Herr bin: Ich mache den hohen Baum niedrig, den niedrigen mache ich hoch. Ich lasse den grünenden Baum verdorren, den verdorrten erblühen. Ich, der Herr, habe gesprochen, und ich führe es aus. (Ez 17,24)

Wenn vor dem Hintergrund dieser alttestamentlichen Belege noch einmal ein kurzer Blick auf Mt 23,12 geworfen wird, zeigt sich folgendes: Der Verzicht auf einen besonderen Status in der christlichen Gemeinde liegt auch auf der Linie traditioneller Weisheit, die davon ausgeht, dass Erhöhung und Erniedrigung gemäß dem Tun-Ergehen-Zusammenhang schon in der Geschichte Raum gewinnen, sei es auf der alltäglich-individuellen (Sprichwort) oder der politisch-historischen Ebene (prophetische Geschichtsdeutung). Die Passiva

124 Heranzuziehen wären ebenfalls Davids Lobgesang, darin besonders 2 Sam 22,28, sowie Psalm 75,8 und Psalm 147,6.

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Divina ταπεινωθήσεται und ὑψωθήσεται machen dabei deutlich, dass letztlich Gott selber als Garant des Tun-Ergehen-Zusammenhangs dafür gerade steht. Eine rein apokalyptische Deutung von Mt 23,12 verkennt, dass die mt Gemeinde (darin liegt sie voll auf der jesuanischen Linie) nicht einfach das »eschatologische Gerichtshandeln Gottes«125 erwartet, sondern dass in ihr durch die Erniedrigung des Größten zum Diener die traditionelle Weisheit vom Erhöhen und Erniedrigen (und der dahinter stehende göttliche Wille) Raum gewinnt und fragmentarisch realisiert wird. Dass sich Gottes Wille in diesem Äon durchsetzt (wenn auch nur fragmentarisch), widerspricht einer rein apokalyptischen Weltsicht; es hat vielmehr Anteil an jener Wirklichkeitsdeutung, wie sie der traditionellen Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden zugrunde liegt. Dass die fragmentarische Durchsetzung des göttlichen Willens bei der Jesusbewegung immer im Horizont der endgültigen Durchsetzung von Gottes Wille steht, ist natürlich auch an dieser Stelle nicht anders. Die endgültige Umkehrung aller menschlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen verleiht dem gegenwärtig eröffneten Freiraum seine letzte Radikalität, seine provokativ-herausfordernde Dringlichkeit, seinen anfanghaften Charakter und seine verheißungsvolle Ausrichtung auf die absolute Zukunft. Dass der gegenwärtige Äon aber seinen Platz neben der absoluten Zukunft behaupten kann, dies ist und bleibt das Verdienst der traditionellen Weisheit. 4.4 Die traditionelle Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden im interkulturellen Vergleich Die hinter dem Tun-Ergehen-Zusammenhang erkennbare göttliche Macht, Hohe zu erniedrigen und Niedrige zu erhöhen, kennt auch der griechische Kulturkreis. Für Motivparallelen zur Umkehrung menschlicher Geschicke soll im Folgenden jeweils die reiche Belegsammlung und Darstellung des Altphilologen DALFEN126 beigezogen werden. Eine erste Gruppe von griechischen Belegen betrifft Aussagen darüber, dass eine Gottheit die Macht hat, Niedrige zu erhöhen und Hohe zu erniedrigen. Dies wird – je nach eigenem Standpunkt – als Warnung oder Hoffnung empfunden. In HESIODs Dichtung »Werke und Tage« ist zu lesen:

125 Stellvertretend für viele Autoren GNILKA: »Der Unterschied ist, dass die christliche Gemeinde das eschatologische Gerichtshandeln Gottes erwartet, während die atl Logien sich als Lebens- oder Klugheitsregeln verstehen« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK NT I/2) 278). 126 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung menschlicher Existenz, v. a. 9–24. Rezensiert: HOMMEL, Sebasmata, 3–9.

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Denn leicht macht er stark, leicht drückt er den Starken nieder, leicht macht er den Beneideten klein und erhebt den Unscheinbaren, leicht macht er den Krummen gerade und demütigt den Stolzen: Zeus, der Donnerer, der die Häuser in der Höhe bewohnt.127

HESIOD kann sich selbst in der Rolle des Unterlegenen erkennen, da er bei der Teilung des väterlichen Erbes von seinem Bruder Perses betrogen worden ist.128 Seine Einsichten in die Wechselhaftigkeit und die Abhängigkeiten des menschlichen Lebens kommen auch in der Theogonie zum Ausdruck, wo die Göttin Hekate den Menschen Segen und Erfolg geben oder auch versagen kann sowie aus wenig viel, aber auch aus viel wenig machen kann.129 Anders als in den alten Homerischen Gedichten Ilias und Odyssee, wo das Auf und Ab des Lebens vor allem an den Referenzpunkten von Tugend, Ruhm und Ehre gemessen wird130, kommen in HESIODs Theogonie weitere Lebensbereiche in den Blick: Volksversammlungen und Gerichte, sportlicher Wettkampf, die Arbeit des Menschen und sein Lebensunterhalt.131 Dieser ersten Textgruppe – man könnte auch noch Belege bei ARCHILOCHOS132 und HERODOT133 beiziehen – ist gemeinsam, dass in den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen des menschlichen Lebens eine sinnvolle Ordnung oder wenigstens ein Ausgleich erkannt wird. Die Textgruppe ist somit vergleichbar mit der jüdischen traditionellen Weisheit, in welcher die Plausibilität des Tun-Ergehen-Zusammenhangs noch nicht (oder noch nicht allzu stark) angefochten wird. Dies ist anders in einer zweiten Gruppe von Texten ab dem 5. Jh. v. Chr., in denen das erhöhende und erniedrigende Wirken nicht mehr als sinnvoll empfunden wird und sich die Theodizee mit dem Thema zu verbinden beginnt.134

127 HESIOD, Werke und Tag 5 ff, Übersetzung nach DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 13. 128 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 13. 129 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 12. Die angesprochene Hesiod-Stelle ist Theog. 411–452. 130 DALFEN denkt an Ilias 20,242 f: »Aber Zeus vergrößert und verkleinert den Männern die areté, wie er es will; denn er ist der Stärkste von allen« (Übersetzung nach DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 9–10). Dies wird als Warnung ausgesprochen angesichts der beeindruckenden Genealogie des Troianers Aineias, der seinen Stammbaum letztlich bis auf Zeus zurückführt! Vgl. auch Odyssee 16,211 ff. 131 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 12. 132 Fragment 58 D (ca. 2. Hälfte 7. Jh. v. Chr.): »Für Götter ist alles leicht: oft richten sie aus dem Unglück Menschen auf, die auf der schwarzen Erde liegen, oft werfen sie auch die um, die ganz fest stehen, und legen sie auf den Rücken« (übersetzt nach DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 14). 133 In der Einleitung zu seinem Geschichtswerk spricht er in I 5,3 f vom Wandel der Bedeutung der Städte und Staaten der Menschen: früh einst groß, sind manche jetzt klein und umgekehrt. Die Gottheit sorgt dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen (VII 10; DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung 15; HERODOTI Historiae). 134 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung 17. HOMMEL, Sebasmata, 5.

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In der Tragödie Troerinnen von EURIPIDES spricht die einstige Königin von Troia: »Ich sehe, wie die Götter das Nichts hoch emportürmen, das Angesehene aber zugrunde richten.«135 Die Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges stehen hier im Hintergrund. »Während der Glaube an die Sinnhaftigkeit des göttlichen Tuns schwindet, tritt das Bewusstsein der menschlichen Schwäche stärker hervor.«136 Mit dieser zunehmenden Fragwürdigkeit einher geht eine Entwicklung hin zum Glauben an die Herrschaft des Zufalls, der Göttin Tyche.137 Diese manifestiert sich auch in der römischen Literatur in einem Gedicht von HORAZ aus dem Jahre 26 v. Chr., wo eine alte römische Göttin, Fortuna von Antium, Züge der griechischen Tyche angenommen hat.138 In der ersten Strophe ist zu lesen: »Göttin, die du über das anmutige Antium gebietest, du hast die Macht, den Sterblichen entweder von der untersten Stufe emporzuheben oder stolze Triumphzüge in Leichenbegängnisse zu verwandeln.«139 Eine Infragestellung der Sinnhaftigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs kennt auch das Judentum; sie spiegelt sich in den Schriften Kohelet und Ijob, bleibt aber aufgrund der in Jesus Sirach vollendeten Restauration eine Episode innerhalb der traditionellen jüdischen Weisheit.140 Ihr Erbe wird die apokalyptische Weisheit antreten, freilich in eine andere Richtung, als es mit der Göttin Tyche in der griechischen Kultur geschieht.

135

Troerinnen 612 f (übersetzt nach DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung 19). DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 19. 137 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 21. 138 DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 22. 139 Gedicht I 35 (übersetzt nach DALFEN, Wandlungen einer antiken Deutung, 22). Etwas später, bei PLINIUS, finden wir das Motiv als Anklage gegen soziale Veränderungen: »›Welches Spiel treibst Du Fortuna? Du machst aus Senatoren Professoren und aus Professoren Senatoren‹ klagt ein ehemaliger römischer Senator, der nun durch Rhetorikunterricht seinen Lebensunterhalt verdienen muss« (SCHOTTROFF, Magnificat 300). Die angesprochene Pliniusstelle ist ep. IV 11,2. 140 Ganz ähnlich tönt es auch bei syr Bar, »an der Schwelle einer neuen Zeit« (KLIJN, Syrische Baruch-Apokalypse (JSHRZ V/2), 118), wo die inbrünstige Erwartung einer neuen Zukunft zu schwinden beginnt. Hier ist syr Bar mit seinen apokalyptischen Visionen anzusiedeln (zu Beginn des 2. Jh. n. Chr. nach KLIJN JSHRZ V/2 114). In der Auslegung der Wolkenvision (syr Bar LIII) werden die letzten schwarzen Wasser dahingehend erläutert: »Und die Ehrlosen herrschen über Angesehene, und die Nichtswürdigen erheben sich hoch über alle Ehrsamen. Und viele werden wenigen preisgegeben sein, und die nichts waren, werden herrschen über Starke, die Armen werden alle Reichen übertreffen an Zahl, die Frevler aber werden sich erheben über Tapfere.« (syr Bar LXX 3–4; übersetzt nach KLIJN JSHRZ V/2 169) Revolutionsund Chaosangst sind hier der Hintergrund der Umkehrung der sozialen Verhältnisse in den Endzeitgeschehnissen. Der Verfasser von syr Bar ist auch nicht ein eigentlicher Apokalyptiker (KLIJN JSHRZ V/2 118 Anm. 40), vielmehr »geht es ihm doch um ein Leben nach dem Gesetz in den Zeiten der Mühsal im Blick auf das kommende Gericht und das Leben in einer unvergänglichen Welt« (KLIJN JSHRZ V/2 117). 136

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In einer dritten Gruppe von griechischen Texten begegnet die Umkehrung der Verhältnisse als Hoffnungsinhalt: »Die Götter können Große schnell klein machen und, wenn sie wollen, die Kleinen retten«141 – so bei XENOPHON und ARISTOPHANES. Während in der Anab III 2,10142 den Griechen Mut gemacht wird, sich gegen die militärische Übermacht der Perser zu wehren, schreibt ARISTOPHANES in Lysistrate über ein ermutigendes Orakel, »das verheißt, die Not werde ein Ende haben, der weitdonnernde Zeus werde das Oberste zu Unterst bringen.«143 Dies soll den Frauen Mut machen zum Sieg über die kriegswütigen Männer – eine Hoffnung, worüber sich Aristophanes sogleich »auf die ordinärste Weise lustig«144 macht. Die apokalyptische Weisheit im Judentum kennt die Hoffnungsvision der Umkehrung aller Verhältnisse, erwartet die Umkehrung aber erst für die neue Welt mit dem endgültigen Kommen Gottes. 4.5 Lk 14,11 – Das Gastmahl der Niedrigen in traditionell-weisheitlicher Plausibilität vor apokalyptischem Horizont In Lk 14,7–14 erzählt Jesus im Haus eines führenden Pharisäers ein Gleichnis rund um das Verhalten bei Gastmählern. Im ersten Teil geht es um die Platzwahl: Wenn man zu einem Hochzeitsfest eingeladen ist, soll man sich nicht den Ehrenplatz aussuchen. Denn gemäß der traditionellen Weisheit gilt: »Rühme dich nicht vor dem König, und stell dich nicht an den Platz der Großen; denn besser, man sagt zu dir: Rück hier herauf, als dass man dich nach unten setzt wegen eines Vornehmen.« (Spr 25,6–7) Lk bringt in umgekehrter Reihenfolge zuerst die Warnung, sich nicht den Ehrenplatz zu suchen (V. 8– 9), und empfiehlt anschließend eine Haltung, die einem die Möglichkeit eröffnet, vom untersten Platz aus weiter hinauf rücken zu dürfen (V. 10). Diese Regel beruht auf der weisheitlichen Feststellung vom Erhöht- und Erniedrigtwerden, die in der Form des Sprichworts von V. 11 in Erinnerung gerufen, aber zugleich radikalisiert wird: Denn dass jeder, der sich selbst erhöht, erniedrigt wird, und dass jeder, der sich selbst erniedrigt, erhöht wird, geht über die normale Verhaltensregel hinaus. Auch wenn hier Warnung und Verheißung den vorhergehenden Versen von der Rangordnung beim Gastmahl entsprechen, will Lk damit also nicht bloß eine weisheitliche Empfehlung abgeben, wie man im Rahmen eines Gastmahls geschickt zu Ehren kommen kann. Dass dies nicht die Hauptintention von Lk sein kann, zeigt auch der zweite Teil der Perikope (Lk 14,12–14), in dessen Zentrum die Gästeliste steht, die

141 142 143

SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 37. XENOPHON, Anabasis. SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 37. Die angesprochene Stelle ist Lysistrate

722 f. 144

SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 37.

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der Veranstalter eines Gastmahls zu befolgen hat; diese sprengt völlig den Rahmen der bisherigen Erhöhungen und Erniedrigungen im Kontext der Ehrenplätze. Dass nicht Freunde, Verwandte oder reiche Nachbarn (V. 12), sondern Arme, Lahme, Krüppel und Blinde eingeladen werden sollen (V. 13), schöpft seine letzte Kraft aus der apokalyptischen Umkehrung aller gesellschaftlichen Verhältnisse (vgl. V. 14 in lk Sprache von der Auferstehung der Gerechten). Allerdings muss für die radikale Forderung der Gegenwart, »sich selber ans äußerste Ende der sozialen Leiter zu setzen und die Verkrüppelten und Habenichtse als Gleichberechtigte zu betrachten«145, auch traditionelle weisheitliche Plausibilität herangezogen werden können. Das kann auch das auf jeden Menschen radikalisierte Logion Lk 14,11 noch leisten, so dass darin nach BOVON »sowohl ein prophetisches Orakel wie eine weisheitliche Feststellung«146 gesehen werden kann. Erst die traditionelle weisheitliche Plausibilität eröffnet den Freiraum in diesem Äon, worin die apokalyptische Erniedrigung und Erhöhung bereits anfanghaft verwirklicht werden kann. Wenn Arme, Krüppel, Lahme und Blinde, denen Jesu besonderes Augenmerk gilt (vgl. Lk 14,1–6 vor unserer Perikope sowie die Seligpreisungen), zum Gastmahl eingeladen werden, dann ereignet sich bereits in der Gegenwart etwas vom Umkehrgeschehen, das die Apokalyptiker erst für den neuen Äon erwarten. Dieses Ereignis bleibt brüchig, fragmentarisch und anfanghaft, selbst dann, wenn das Gastmahl besser gelingt als beim beleidigten Gastgeber in Lk 14,15–24 im Anschluss an unsere Perikope! 4.6 Lk 18,11 – Sünder und Gerechte unter apokalyptischen Vorzeichen Während bisher die Umkehrung ökonomischer und sozialer Verhältnisse im Vordergrund stand, treten im bekannten Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner Lk 18,9–14 explizit religiöse Kategorien von Gerechten und Sündern in den Vordergrund, womit eine Umkehrung von »oben«147 und »unten« im religiösen Bereich in den Blick genommen wird. Es handelt sich zweifellos um eine polemische Geschichte, ja wohl gar um eine »Karikatur«, die sich aber doch »in doppelter Hinsicht in das einfügen lässt, was wir vom historischen Jesus wissen: Der Galiläer wurde tatsächlich wegen seines Kontaktes zu den Zöllnern angegriffen, und er hat sich gewehrt, indem er die Liebe Gottes, die den Sünder retten will, nicht nur angerufen, sondern auch mit Autorität angeboten hat«148 Die Zöllner149 stehen in V. 11

145

BOVON, Evangelium nach Matthäus (EKK III/2) 497–498. BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 491. 147 BOVON, Evangelium nach Lukas (III/3) 210. Trotzdem dürfte sie nach BOVON auf den historischen Jesus zurückgehen. 148 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/3) 205. 149 Diese sind negativ konnotiert als die »im Dienst eines moralisch zweifelhaften Herr146

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auf gleicher Stufe wie die Räuber, Rechtsbrecher und Ehebrecher. Von ihnen grenzt sich der Pharisäer ab, der zweimal in der Woche fastet und den Zehnten von allem, was er erwirtschaftet hat, abgibt. In den Augen von Lk (und wohl auch des historischen Jesus) diskreditiert die Verachtung der anderen aber diese für sich selbst in Anspruch genommene Gerechtigkeit; denn nicht der Pharisäer, sondern der Zöllner kehrt aufgrund seiner Geste und seines Gebets zurück als derjenige, der Recht bekommen hat. Weil dies noch nicht äußerlich sichtbar ist, ist das abschließende Logion vom Erhöht- und Erniedrigtwerden an dieser Stelle in V. 14 eindeutig apokalyptisch zu verstehen: der Gerechte, der sich selbst erhöht, wird in der absoluten Zukunft erniedrigt werden; der Zöllner, der sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

5. Die Verwurzelung des apokalyptischen Horizontes im traditionell-weisheitlichen Nährboden Aus den exegetischen Untersuchungen auf der Ebene der synoptischen Evangelien lassen sich bereits an dieser Stelle wichtige Zusammenhänge zur apokalyptisch-weisheitlichen Konzeption der Umkehrung von Ersten und Letzten, Hohen und Niedrigen, Großen und Kleinen erschließen, deren Plausibilität für den historischen Jesus anschließend überprüft und gegen Einwände verteidigt werden soll. Es lassen sich folgende Kernaussagen formulieren: 1. Der apokalyptische Horizont der endzeitlichen Umkehrung aller sozialen, ökonomischen und religiösen Verhältnisse in der βασιλεία τοῦ θεοῦ ist Anlass zur Hoffnung für die Letzten und Warnung für die Ersten (Mt 20,16; Lk 13,30). 2. Der apokalyptische Horizont beinhaltet keinen strengen apokalyptischen Mechanismus, dessen zukünftige Realisierung es passiv in der Sicherheit des eigenen Auserwähltseins abzuwarten gilt; wenn danach gefragt wird, erfolgt ein Verweis auf den gegenwärtigen Äon, den es entsprechend den neuen Werten der βασιλεία τοῦ θεοῦ zu gestalten gilt (Lk 13,30; Mk 10,31 par Mt 19,30; Mk 10,43 f par Mt 20,26 f; Mt 18,4). 3. Die Umkehrung gesellschaftlicher Verhältnisse wird nicht nur für die Zukunft erwartet, sondern sie geschieht fragmentarisch bereits in der Gegenwart. Die traditionelle Weisheit vom Erhöht- und Erniedrigtwerden kommt auch in einer gebrochenen Wirklichkeit noch punktuell zur Geltung (Mt 23,12; Lk 14,11).

schers oder der fremden Besatzungsmacht stehenden Steuereintreiber« (BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/3) 212).

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Die Verwurzelung des apokalyptischen Horizontes

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4. Dass jesuanische Pragmatik ihre Kraft auch aus der Quelle traditioneller Weisheit schöpft, kann als entscheidender Faktor dafür vermutet werden, dass der gegenwärtige Kairos seinen Platz neben der absoluten Zukunft behaupten kann: in jenem eröffnen sich somit fragmentarische und brüchige, aber auch anfanghafte, hoffnungs- und verheißungsvolle Freiräume der Realisierung jener neuen Wertordnung, die unter dem Namen βασιλεία τοῦ θεοῦ subsumiert werden kann. 5. Das durch den Einbezug traditioneller Weisheitskonzeptionen punktuelle Verschmelzen der Gegenwart mit dem apokalyptischen Horizont wird sichtbar in der Aufnahme von Kleinen, Unbedeutenden und Machtlosen (Mk 9,35); wenn Arme, Krüppel, Lahme und Blinde in den Mittelpunkt des eigenen befreienden Handelns gestellt werden (Lk 14,11); und wenn die eigene Rolle in der eigenen Gemeinschaft/Bewegung als Dienen verstanden wird (Mk 9,35; Lk 9,48; Lk 22,26; Mt 23,11). Der apokalyptische Horizont der Umkehrung aller Verhältnisse im neuen Äon erscheint hier in die Richtung transformiert, dass dem apokalyptischen Mechanismus der gegenwärtige Kairos in die Quere kommt. Anstatt den bösen Äon der Gegenwart zu verteufeln, kommt eine »Zuwendung« zu ihr zum Vorschein, »die charakteristisch anders als in der Apokalyptik ausfällt«150: »Denn der Apokalyptiker, welcher die neue Zeit in leuchtenden Farben malt, traut ihr dennoch keinen Einfluss auf das Jetzt zu.«151 Während sich die Gegenwart in der Apokalyptik durch eben diesen apokalyptischen Traum verflüchtigt, eröffnen sich in ihr in jesuanischer Perspektive diejenigen Freiräume, in denen sich die βασιλεία τοῦ θεοῦ bereits realisieren kann: Die Arbeit Jesu liegt demgegenüber darin, der Gegenwart das ihr eigene Gewicht (gerade im Horizont des apokalyptischen Traums) zu geben (die Gegenwart steht überhaupt ständig in der Gefahr, vernichtet zu werden – sei es durch die utopische Zukunft, sei es durch die verfehlte Vergangenheit). Der Mensch in seiner apokalyptischen Flucht in die Zukunft wird zur Gegenwart geleitet.152

Diese Feststellungen von WEDER, die er freilich anhand von Stellen gewonnen hat, in denen die βασιλεία τοῦ θεοῦ in ganz expliziter Form thematisiert wird, stimmen weitgehend mit den oben gewonnenen Kernaussagen überein.153 Die Frage, wieso die Gegenwart eine solche Bedeutung in der jesuani-

150

WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 52. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 32. 152 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 51. 153 Auch bezüglich der fünften Kernaussagen gilt diese Übereinstimmung weitgehend, obwohl hier die Feststellung WEDERs auf die Praxis der gesamten Jesusbewegung hin erweitert werden müsste: »Der Eintritt der Gottesherrschaft in den Erfahrungsbereich der Menschen vollzieht sich konkret in der Verkündigung und im Verhalten Jesu« (WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 40). 151

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Jesuanische Transformation des weisheitlich-apokalyptischen Horizontes

schen Praxis und Verkündigung gewinnen konnte, wird von ihm allerdings noch nicht schlüssig beantwortet. Erste Hinweise seinerseits zeigen aber in dieselbe Richtung, in die auch die vierte Kernaussage mit dem Hinweis auf den Einbezug traditioneller Weisheitskonzeptionen weist: Es ist klar, dass zwischen der apokalyptischen These von der grundsätzlichen Bosheit des gegenwärtigen Äons und der bei Jesus anzutreffenden Entdeckung einer Gotteserfahrung in der Alltagserfahrung von Sonne und Regen Welten liegen. Deshalb lautet die Minimalanforderung, dass die erhobene Eschatologie Jesu sich mit seiner weisheitlichen Verkündigung nicht nur vertragen soll, sondern vielmehr, dass jene von dieser her intensiver und sachgemäßer verstanden werden muss. An der positiven Würdigung der Dualität von Eschatologie und Weisheit bei Jesus müssen sich alle Deutungen messen lassen.154

Es wird sich im Verlauf der Arbeit zeigen, inwiefern diese Forderung erfüllt werden kann.

6. Eine erste Rückfrage nach dem historischen Jesus Auch wenn an einigen untersuchten Stellen bereits verfestigte urchristliche Gemeindestrukturen mit ihren Problemen durchschimmern, so zeigt sich insgesamt doch bereits ein weisheitlich-apokalyptisches Grundmuster, das auch für das Wirken des historischen Jesus und seiner Bewegung größte Plausibilität besitzt. Dieses bisher erst in den beschriebenen Umrissen erkennbare Profil gilt es an dieser Stelle gegen Einwände von zwei Seiten zu verteidigen: (1) gegen die Rekonstruktion eines rein apokalyptischen Urlogions Jesu von der Umkehrung von Ersten und Letzten; (2) gegen die Annahme von unspezifischen Versatzstücken, die dem historischen Jesus überhaupt kein Profil mehr verleihen können. 6.1 Ein apokalyptisches Urlogion der Umkehrung von Ersten und Letzten? SCHOTTROFF/STEGEMANN155 verstehen das Logion von den Ersten und Letzten im Rahmen einer ältesten Jesustradition von der eschatologischen Umkehrung.156 Für sie ist klar, dass der Wortlaut des ursprünglichen Logions am

154

WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 25. SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 36–37. Vgl. auch SCHOTTROFF, Das Magnificat und die älteste Tradition über Jesus von Nazareth 306.309. 156 Es ist ihnen ein Anliegen, diese älteste Jesustradition »nicht [als] Produkt einer literarischen, religiösen oder sonst irgendwie geistesgeschichtlichen Tradition« zu verstehen (SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 45). Sie heben daher die Tatsache hervor, dass es für das Logion von den Ersten und Letzten keine antiken Motivparallelen gibt, welche dem radikalen apokalyptischen Anliegen entsprechen (Hoffnung der Armen 37–38; SCHOTTROFF, Das Magnificat und die älteste Tradition über Jesus von Nazareth 300). 155

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Erste Rückfrage nach dem historischen Jesus

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ehesten in Mt 20,16 erhalten sein muss. Die anderen Stellen wären demgegenüber Abschwächungen der Synoptiker: Die eingeschränkten Fassungen (›viele werden‹ Mk 10,31; Mt 19,30; auch Lk 13,30 bietet eine eingeschränkte Fassung mit der Formulierung ›siehe, es gibt Letzte, die‹) sind als nachträgliche Reflexion über ein ursprünglich massiv-pauschales Logion erklärbar.157

Dass die Einschränkungen des apokalyptischen Mechanismus in Mk 10,31 par Mt 19,30 aber auf jesuanischer Linie liegen und damit zu tun haben, dass der gegenwärtige Äon mit seinem Potential der Umkehrung von Ersten und Letzten auch zur Geltung kommen kann (neue Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker für die, welche alles aufgegeben haben), wird bei dieser Rekonstruktion nicht berücksichtigt. Freilich wird die in dieser Arbeit verfochtene jesuanische Linie erst unter Einbezug der jeweiligen synoptischen Kontexte deutlich, ein Vorgehen, das SCHOTTROFF/STEGEMANN ablehnen: »Das Logion ist in jedem Fall älter als die jetzigen Kontexte und sein Sinn ist nicht aus den jetzigen Kontexten zu erheben.«158 Allerdings hat SCHOTTROFF später diese Prämisse selbst aufgegeben und Mt 20,16 im Zusammenhang des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg zu deuten versucht. Weil die rein apokalyptische Deutung des Logions aber bewahrt werden sollte, wurde nun das gesamte Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ›verapokalyptisiert‹.159 Gerade im Kontext dieses Gleichnisses konnte aber deutlich aufgezeigt werden, dass das Logion von den Ersten und Letzten zwar den apokalyptischen Horizont der endzeitlichen Umkehrung aufspannt; es knüpft aber zugleich an das gegenwärtige Geschehen in der Jesusbewegung an, wo auch schon Letzte zu Ersten werden und sich die apokalyptische Umkehrung fragmentarisch zu realisieren beginnt. Es ist völlig unplausibel, wieso diese Tatsache für das Verständnis des historischen Jesus nicht herangezogen werden sollte, zumal sie mit allen übrigen Spielformen des Logions kohärent gedeutet werden kann. 6.2 Unspezifische Versatzstücke? EBNER, der die Logien in seinem Werk allerdings nicht ausführlich behandelt hat, führt die Regeln von den Ersten/Letzten und vom Erhöhen/Erniedrigen unter sekundären Spruchpaaren auf: »Während die Zusammengehörigkeit der jesuanischen Doppellogien von den Tradenten bei aller red Arbeit durchweg respektiert wird, ist im Falle der sekundären Spruchpaare festzustellen, dass sie in ›wechselnden Paarungen‹ auftauchen.«160 Als Konsequenz dieser wechseln-

157 158 159 160

SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 36. SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 36. Siehe oben Kap. I.1.2. SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu 274–285. EBNER, Weisheitslehrer 384.

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

den Motivverbindungen wird folgendes in Erwägung gezogen: »Es ist deshalb zu überlegen, ob wir bei diesem Material nicht mit allgemein, oder zumindest in diesem Traditionsmilieu bekannten Versatzstücken zu rechnen haben, die je nach Anforderung eingesetzt werden konnten.«161 Die Überlegungen um ein allgemein bekanntes Versatzstück entbehren für das Motiv der Umkehrung von Ersten und Letzten aber jeglicher Grundlage.162 Natürlich wurden die Motive unserer Logiengruppe mehrmals und in neuen Kombinationen verwendet, wahrscheinlich auch von Jesus selbst. Aber der Sinngehalt dieser Gruppe von Logion ist aus der Doppellung von traditioneller und apokalyptischer Weisheit zu eruieren. Gerade am Logion vom Erhöht- und Erniedrigtwerden ist durch die Anwendung auf jeden Menschen eine Radikalisierung zu erkennen, die nur in einem apokalyptischen Zusammenhang funktioniert. Erst dann, wenn dieser Zusammenhang außer Acht gelassen wird, werden die Logien zu allgemeinen unspezifischen Versatzstücken.

II. Die jesuanische Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens: Reichtum, Besitz und Lebensunterhalt Im Logion vom Kamel und Nadelöhr (Mt 20,25 par Mt 19,14; Lk 18,25) erscheint Reichtum und Besitz zunächst unter apokalyptischen Vorzeichen als Teil des Bösen dieses Äons. Aber auch hier kommt wiederum der gegenwärtige Kairos der apokalyptischen Dramatik in die Quere; dies weist auf die traditionelle Weisheitskonzeption von der Sozialpflicht des Eigentums als zweite Quelle jesuanischer Weisheit. Im Logion von Gott und dem Mammon (Mt 6,24 par Lk 16,13) und dem Doppellogion von den Raben und Lilien (Mt 6,26.28–30 par Lk 12,24.27 f) wird die Transformation dieser traditionellen Weisheit bis an die Grenze apokalyptischer Weisheit ersichtlich, nicht nur was den Umgang mit Reichtum und Besitz, sondern auch die Sorge für den Lebensunterhalt betrifft. Auch wenn in lebenspraktischer Hinsicht in begrenztem Rahmen Analogien zu den kynischen Wanderphilosophen aufgewiesen werden können, behält die Motivation Jesu für die Reichtumskritik und die Sorglosigkeit ihr ganz eigenes Profil, das sich von der kynischen »Freiheit des Weisen«163 deutlich unterscheidet.

161

EBNER, Weisheitslehrer 384. Als formale Analogie führt EBNER Spr 14,12 = 16,25 und 11,13a = 20,19a aus der Produktion des Sprüchebuches an (Weisheitslehrer 384, Anm. 53). 162 Vgl. SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 37. 163 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 127.

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Das Logion vom Kamel und Nadelöhr

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1. Das Logion vom Kamel und Nadelöhr Mk 10,25 parr Mt 19,24; Lk 18,25 1.1 Vorkommen und Traditionslinien Das Logion vom Kamel und Nadelöhr, das der Form nach als Vergleich zu charakterisieren ist164, wird von Mk, Mt und Lk in sehr ähnlichen Formulierungen verwendet. Neben gewissen Umstellungen im Satzbau fallen die Nuancen beim »Öhr« der »Nadel« auf, wo drei Varianten vorhanden sind, welche allerdings alle unspezifisch »Loch« bedeuten: τρῆμα wird verwendet für ein Loch für die Rudergriffe bei einem Schiff oder für ein in Steine gebohrtes Loch, damit man sie als Schmuck brauchen kann; τρύπημα wird verwendet für das Gebohrte; τρυμαλιά ist die seltenste Variante und wird in LXX mehrmals für Felsspalte gebraucht.165 Die Ausdrücke ῥαφίς (Mk/Mt) und βελόνη (Lk) bedeuten beide »Nadel«. Es gibt keinen Anlass, an der Übernahme des MkLogions durch Mt und Lk zu zweifeln. Mk 10,25

Mt 19,24:

Lk 18,25:

πάλιν δὲ λέγω ὑμῖν, εὐκοπώτερόν ἐστιν εὐκοπώτερόν ἐστιν εὐκοπώτερον γάρ ἐστιν κάμηλον κάμηλον κάμηλον διὰ [τῆς] τρυμαλιᾶς [τῆς] διὰ τρυπήματος ῥαφίδος διὰ τρήματος βελόνης ῥαφίδος διελθεῖν διελθεῖν εἰσελθεῖν ἢ πλούσιον ἢ πλούσιον ἢ πλούσιον εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ εἰσελθεῖν εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ θεοῦ εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ εἰσελθεῖν. εἰσελθεῖν. θεοῦ.

Es ist leichter dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch kommt, als dass ein Reicher in die Königsherrschaft Gottes hineingeht.

Noch einmal sage ich euch aber: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch kommt, als dass ein Reicher in die Königsherrschaft Gottes hineingeht.

Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in die Königsherrschaft Gottes hineingeht.

Das Logion ist bereits bekannt aus der Perikope Mk 10,17–31 par Mt 19,16–30 zum Thema »Jesusbewegung und Reichtum«.166 Lk hat sie in 18,18–30 ebenfalls nach der mk Vorlage gestaltet. Da auch bei ihm die Abweichungen für den Fokus dieser Arbeit nicht relevant sind, werden die drei Perikopen zusammen betrachtet. 164 165 166

VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 229. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 119 Anm. 4. Siehe oben Kap. I.1.4.

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

1.2 Reichtum unter apokalyptischen Vorzeichen Das Logion vom Kamel und Nadelöhr, das in sprichwörtlicher Rede das größte mögliche Tier dem kleinsten möglichen Loch gegenüberstellt,167 scheint auf den ersten Blick folgende unausweichliche Konsequenz nach sich zu ziehen: Es gibt einen »fundamentalen Gegensatz zwischen weltlichem Besitz und dem kommenden Gottesreich.«168 Die Schwierigkeit, in die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu gelangen, wird somit beinahe zur Unmöglichkeit. Eher geht das Kamel durch das Nadelöhr, als dass ein Reicher in die βασιλεία hineingeht. Die Jüngerfrage, wer dann noch gerettet werden kann, zeigt, dass der Ausspruch kaum anders als in diesem beunruhigenden Sinn verstanden werden kann. Woher kommt diese negative Bewertung des Reichtums? Hat die Jesusbewegung Reichtum bloß als Teil des Bösen und der Dunkelheit dieses Äons wahrgenommen, als eines der Netze Belials (vgl. CD 4,12–19)? Steht sie hier in den Fußstapfen von apokalyptischen Bewegungen, die oft auf der Schattenseite des Lebens standen und daher den Reichtum nur noch verteufeln konnten? Bleibt nur noch auf das Eingreifen Gottes oder seines Gesalbten im kommenden Äon zu warten? In einem Teil von Henochs Epistel169, einem Stück mit paränetischen und weisheitlichen Reden170, wird die endzeitliche Erniedrigung und Vernichtung der Reichen und Sünder und die Erhöhung der ihnen Unterlegenen angemahnt. Der Text scheint einen Konflikt vorauszusetzen, »der aus der Optik der Unterlegenen beschrieben wird.«171 Andeutungen darauf sowie die endzeitliche Lösung dieses Konflikts finden sich in folgender Passage: (1) Und nun schwöre ich euch, den Gerechten, bei dem, der Groß und herrlich an Herrschaft ist, und bei seiner Größe schwöre ich: (2) Denn ich kenne das Geheimnis, und ich habe die Tafeln des Himmels gesehen und habe das heilige Buch gesehen, und ich habe darin aufgeschrieben und aufgezeichnet gefunden über sie, (3) dass alles Gute und die Freude und Ehre für eure Geister, die in Gerechtigkeit gestorben sind, und (dass) euch viel Gutes gegeben wird als Ausgleich für eure Mühe und (dass) euer Los besser ist als das Los der Lebenden. (4) Und die Geister, die in Gerechtigkeit gestorben sind, werden leben […] (5) Wehe euch, ihr toten Sünder, wenn ihr sterbt in dem Reichtum eurer Sünde, werden die, die euch gleich sind, sagen […] (7) Ihr sollt wissen, dass man ihre Geister wird 167 Zwar ist im Rabbinischen die Rede von Elefant und Nadelöhr sprichwörtlich (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 128; GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II/2) 88), sie wird aber nirgends auf den Reichen angewendet (Gnilka, HThK I/2, 167): »Du bist wohl aus Pumbeditha, wo man eine Elefanten durch ein Nadelöhr gehen lässt« (b BM 38; Übersetzung nach BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 828; GOLDSCHMIDT VII). 168 LUZ Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 127. 169 Äth Hen 92–106. UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 468. Die Entstehungszeit dieser Epistel ist auf das 1. Jh. v. Chr. anzusetzen (UHLIG, 494). 170 UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 708. 171 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 44.

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Das Logion vom Kamel und Nadelöhr

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zum Totenreich hinab fahren lassen, und es wird ihnen übel ergehen. Die Trübsal (wird) Groß (sein). […] (11) Wir hofften, das Haupt zu sein, und sind zum Schwanz geworden; wir plagten uns beim Arbeiten ab und hatten keinen Erfolg für unsere Mühe; wir wurden zum Fräß für die Sünder, und die Ungerechten drückten uns mit ihrem Joch. (12) Die erreichten die Herrschaft über uns, die uns hassten und die uns schlugen; und denen, die uns hassten, beugten wir unseren Nacken, aber sie hatten kein Erbarmen mit uns. (13) Wir versuchten, vor ihnen zu entkommen, um zu flüchten und Ruhe zu haben, aber wir fanden keinen (Ort), wohin wir fliehen und uns vor ihnen retten konnten. (14) Und wir beklagten uns in unserer Not bei den Herrschern und schrien über die, die uns verschlangen, aber sie achteten nicht auf unsere Klage, und sie wollten nicht auf unsere Stimme hören. (15) Und sie halfen denen, die uns beraubten und verschlangen, und denen, die uns dezimierten. (äth Hen 103,1–15)172

Der Konflikt hat sich offenbar an verschiedenen Punkten entzündet173, jedenfalls wird der Reichtum der Gegner, den sie durch Unrecht erworben haben, als besonderes Problem gesehen: Und wie Wasser wird eure Lüge zerrinnen, denn der Reichtum wird euch nicht bleiben, sondern plötzlich von euch verschwinden, weil ihr alles mit Unrecht erworben habt; und ihr werdet der großen Verfluchung hingegeben werden.174 (äth Hen 97,10)

Umgekehrt erschließt sich die schlechtere soziale Stellung der Unterlegenen daraus, dass von ihnen gesagt wird, »sie seien zu Lebzeiten nicht ihrem Wert entsprechend ausgestattet gewesen«175 (äth Hen 102,5) und hätten mühselige Arbeit verrichten müssen. Genau umgekehrt werden die Verhältnisse bei Gottes Gericht: Die Trübsal der reichen Sünder wird groß sein, und die armen Gerechten werden ein besseres Los als das der Lebenden ziehen (äth Hen 103,3.7) – ja sie werden sogar ihre Gegner endgültig besiegen: »Wisset, dass ihr in die Hände der Gerechten gegeben werdet, und sie werden euch die Köpfe abhauen und euch töten und kein Mitleid mit euch haben.«176 (äth Hen 98,12) Für die apokalyptisierenden Gruppen henoch’scher Weltsicht ist klar, wer gerettet wird und wer nicht. So verwenden die Unterlegenen in äth Hen ihre Energie dafür, sich von den Sündern fernzuhalten und keine Gemeinschaft mit ihnen zu pflegen (äth Hen 104,6), und ihre Hoffnungen sind erst auf einen Rachefeldzug in der Endzeit ausgerichtet (äth Hen 98,12). Radikal 172

Übersetzung nach UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 736–738. Politische, theologische und soziale Differenzen sind offenbar ineinander verwoben, wobei diese m. E. nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Vgl. dagegen SCHOTTROFF/ STEGEMANN: »Die Notlage der Unterlegenen wird eben nicht als soziale Not, sondern als politische Niederlage beschrieben« (Hoffnung der Armen 45). Doch hat gerade die neuere Gleichnisforschung aufgezeigt, wie eng soziale und politische Aspekte miteinander verbunden sind (SCHOTTROFF, Gleichnisse Jesu). 174 Übersetzung nach UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 721. Vgl. auch äth Hen 100,6; 98,3–4. 175 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen, 44. 176 Übersetzung nach UHLIG, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 724. 173

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

hat diese Abkapselung die Gemeinschaft in Qumran vollzogen, deren persönlicher Besitzverzicht177 unter dem Vorzeichen der Reinheit des Besitzes der Gemeinschaft derer steht, die sich von den »Männern des Trugs« (1QS 9,8) getrennt haben. Für die Jesusbewegung hingegen sind die apokalyptischen Vorzeichen noch nicht zu einem apokalyptischen Mechanismus verfestigt, gerade auch was den Reichtum betrifft, der im synoptischen Kontext ins Zentrum gerückt wird. Auf die Frage, wer angesichts des Verdikts vom Kamel und Nadelöhr noch gerettet werden kann, wird die Antwort gegeben: »Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott, denn für Gott ist alles möglich.« (Mk 10,27 parr) Eine solche Offenheit macht jeglichen Nährboden für endzeitliche Rachegelüste unfruchtbar.178 Aber wieso kann Jesus mit seinen AnhängerInnen auf solche Rachegelüste und einen schon jetzt festgelegten apokalyptischen Ausgleich verzichten? Hätten sie, die anders als der reiche Mann alles aufgegeben haben und Jesus nachgefolgt sind, nicht ihre ganze Hoffnung auf den apokalyptischen Ausschluss der Reichen setzen können? 1.3 Wenn der gegenwärtige Kairos in die Quere kommt… Wenn Jesus den Reichen unter apokalyptischen Vorzeichen so entschieden der βασιλεία τοῦ θεοῦ entgegensetzt, zielt er offenbar nicht auf die apokalyptische Zukunft, sondern auf die Gegenwart. Es handelt sich offenbar um eine Warnung, welche diejenigen in die Pflicht nehmen will, die wie der reiche Mann in Mk 10,22 ihren Besitz nicht in den Dienst der Armen zu stellen bereit sind. An die, welche die Güter des Reichen bitter nötig hätten, soll sein Reichtum verteilt werden. Also keine Verteufelung des Reichtums, sondern eine Umverteilung an die Bedürftigsten! Eine solche Praxis hätte Anteil an der βασιλεία τοῦ θεοῦ und ihrer Vision von der Umkehrung von Ersten und Letzten. Diese Umkehrung bereits ein Stück weit Realität werden zu lassen, ist für Reiche, die ja zu den Ersten gehören, offenbar besonders schwierig: »Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu kommen!« (Mk 10,23) Aber die geforderte Praxis wird doch bereits realisiert, und zwar von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu, die alles aufgegeben haben und ihm nachfolgen. Und siehe da: neue Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und

177

LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 126. Siehe 1QS 6,19 f; 7,6 f.24 f; 9,8 f. SCHOTTROFF/STEGEMANN haben Recht, wenn sie auf diesen Unterschied aufmerksam machen und zu äth Hen 98,12 schreiben: »Und die Hoffnungen richten sich nicht auf sozialen Ausgleich, sondern auf Sieg über die Gegner« (Hoffnung der Armen, 45). Dies bedeutet aber nicht, dass äth Hen 94–104 von vornherein jede Bedeutung für unser Logion abzusprechen ist. Vielmehr muss versucht werden, die Transformation der apokalyptischen Weisheit in der jesuanischen Weisheit zu verstehen. 178

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Das Logion vom Kamel und Nadelöhr

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Äcker erwarten sie hier und jetzt (Mk 10,30), bzw. ein Vielfaches von dem, was sie aufgegeben haben, schon im gegenwärtigen Kairos (Lk 18,30). Etwas von der apokalyptischen Umkehrung der Verhältnisse, die insbesondere auch Besitz und Reichtum einschließt, realisiert sich bereits in der Gegenwart. Besitz erscheint hier in einem ganz anderen Licht als im Logion vom Kamel und Nadelöhr, selbst dann, wenn es sich nicht um Besitz der WandercharismatikerInnen, sondern ihrer sesshaften SympathisantInnen handelt. Ihre Häuser und ihre Felder werden den NachfolgerInnen Jesu in Aussicht gestellt. Hier ist endgültig nichts mehr zu spüren von einer radikalen apokalyptischen Negativhaltung gegenüber Reichtum und Besitz.179 Dass Besitz, gar Reichtum durchaus positiv bewertet werden kann, zeigen andere wichtige Traditionen des Judentums, angefangen vom Reichtum (und der Weisheit!) Salomos (1Kön 10,23) bis zu den weisheitlichen Deutungen von Reichtum als Gottes Gabe für den Einzelnen und für das ganze Land: »Der Segen des Herrn macht reich, eigene Mühe tut nichts hinzu.« (Spr 10,22) »Du [Gott] sorgst für das Land und tränkst es; du überschüttest es mit Reichtum.« (Ps 65,10) Dass Gottes Segen Arme reich machen kann, daran wird auch in Sirach noch festgehalten, bei dem die in Gottes Augen entscheidenden Referenzpunkte Gerechtigkeit, Weisheit und Gottesfurcht sind (Sir 10,23–24; 11,1; daher soll auch der Bettelarme, πτωχός´ der Weisheit besitzt, nicht gering geachtet werden180). Wenn man sich danach ausrichtet, kann Gott selbst den arbeitenden Armen (πένης) reich machen: »Wundere dich nicht über die Übeltäter; früh morgens mach dich auf zum Herrn, und hoffe auf sein Licht! Denn leicht ist es in den Augen des Herrn, den Armen plötzlich und schnell reich zu machen.« (Sir 11,21) Dahinter steht die traditionell-weisheitliche Einsicht, dass der Lohn des Herrn für den Gerechten feststeht und Gottes Wille sich für immer durchsetzt (Sir 11,17). Schottroff macht allerdings zurecht darauf aufmerksam, dass »im Rahmen der Erfahrungen und Ziele Jesus Sirachs […] solch ein Aufstieg von Armen nur die seltene Ausnahme«181 sein kann. Gerade die traditionelle Weisheit, die aus einer positiven Grundhaltung gegenüber Besitz und Reichtum heraus gewachsen ist, zeigt aber auch eine

179 Es gilt, dies auch schon für den historischen Jesus zu sehen. Eine solche Deutung kann auf zu allgemein formulierte Thesen eines diachronen Modells verzichten, wonach der »schockierende Radikalismus« des Logions vom Kamel und Nadelöhr »im Laufe der Zeit durch eine in der heiligen Schrift verwurzelte theozentrische Tröstung (für Gott ist alles möglich, Mk 10,26–27) gemildert wurde.« (BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/3) 233) 180 SCHOTTROFF, Magnificat 299. 181 SCHOTTROFF, Magnificat 300. Sirach »beschreibt sehr nüchtern, dass in den Berufen der Landwirtschaft und des Handwerks die Menschen gar keine Zeit und Kraft haben, Weisheit zu lernen (30,24–34).«

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

große Sensibilität für die Gefahren des Reichtums. Diese bekommt einerseits der Reiche selbst zu spüren: Wer auf seinen Reichtum vertraut, der fällt, die Gerechten aber sprossen wie grünes Laub. (Spr 11,28)182 Falschheit und Lügenwort halt fern von mir; gib mir weder Armut noch Reichtum; nähr mich mit dem Brot, das mir nötig ist, damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne und sage: Wer ist denn der Herr? damit ich nicht als Armer zum Dieb werde und mich am Namen meines Gottes vergreife. (Bitte Agurs in Spr 30,8–9)

Andererseits geraten diejenigen in den Blick, die von den Schattenseiten des Reichtums betroffen sind, wenn dieser auf Kosten ihrer Verarmung angehäuft wird. Hier ermahnt die traditionelle Weisheit, die sozialen Pflichten nicht zu vernachlässigen, und übt dort Kritik, wo sie vernachlässigt werden. Flehentlich redet der Arme, der Reiche aber antwortet mit Härte. (Spr 18,23) Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht. Wer Unrecht sät, erntet Unheil, der Stecken seines Übermuts versagt. Wer ein gütiges Auge hat, wird gesegnet, weil er den Armen von seinem Brot gibt. (Spr 22,7–9)

Prophetische Texte wie Jes 5,8, worin ein Wehe über die ausgesprochen wird, die »Haus an Haus« reihen und »Feld an Feld« fügen, kennen ebenfalls diese weisheitliche Kritik und stimmen ein in die breit abgestützte »Überzeugung von der Sozialpflicht des Eigentums.«183 Die alttestamentliche Kritik an zu Unrecht erworbenem oder sozial unverantwortlich gehortetem Reichtum hat in der apokalyptischen Weltanschauung à la Henoch umgeschlagen in eine pessimistische Einschätzung aller Besitzstrukturen in dieser Welt und die Erwartung einer völligen Umkehrung der »Besitzverhältnisse« beim Kommen Gottes. Die Praxis Jesu hingegen hat etwas von der Zuversicht und Heiterkeit, die aller alttestamentlichen Kritik zugrunde lag, bewahrt. Die apokalyptischen Vorzeichen des Logions vom Kamel und Nadelöhr wollen die Menschen in letzter Dringlichkeit und Radikalität zu einer Praxis in der Gegenwart auffordern, wie sie die traditionelle Vorstellung von der Sozialpflicht des Eigentums angemahnt hatte. Somit kommt die gelebte Praxis der Jesusbewegung in der Gegenwart der Ausbildung eines apokalyptischen Mechanismus in die Quere. Denn ein Stück weit realisiert sich in 182 Viele Überlegungen über die Gefahren des Reichtums stellt auch Kohelet an, z. B. Koh 5,9–11. 183 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 126. Zu weiteren jüdischen Traditionen der Reichtumskritik siehe LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 126–127, insbesondere zu weiteren frühjüdischen Quellen: Ijob als Freund der Armen (Test Ijob 9–15; SCHALLER, Das Testament Hiobs (JSHRZ III) 332–337); sl Hen 42,8 f; 50,5–51,2 (Besitzverzicht der Armen um des kommenden Äons willen); 63,1–4 (BÖTTRICH, Das slavische Henochbuch (JSHRZ V); rabbinische Belege bei BILLERBECK/STRACK I 817 f; IV 537 ff. »Zur Zuwendung zur Torah und zur Bekehrung gehört nach manchen jüdischen Texten die Absage an den Besitz« 4Esr 13,54 (SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 399); JosAs 12,12; 13,2–8 (BURCHARD, Joseph und Aseneth (JSHRZ II) 668–669).

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Gott und der Mammon

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diesem Kairos die traditionelle Weisheit, dass mit Reichtum und Besitz uneigennützig und zum Wohl der Armen umgegangen werden soll und dass diese aus ihrer Armut befreit werden können. Der apokalyptische Horizont radikalisiert dabei den traditionell-weisheitlichen Umgang mit Reichtum; die NachfolgerInnen Jesu solidarisieren sich mit den Armen. Sie haben alles aufgeben – ein Vielfaches davon erhalten sie zurück, jetzt schon!

2. Gott und der Mammon: Mt 6,24 par Lk 16,13 2.1 Vorkommen und Traditionslinien Die Sentenz184 Mt 6,24 ist fast wörtlich mit Lk 16,13 identisch, abgesehen davon, dass Lk zu Beginn das allgemeine »niemand« konkretisiert: Kein Sklave kann zwei Herren dienen. Diese »gleichnisartige Sentenz, die wiederum zum Sprichwort geworden ist, wird in zwei parallelen Sätzen entfaltet«185; dies geschieht mit den Gegensatzpaaren von Lieben und Hassen, bzw. Sich an jemanden Halten und Verachten. Der Schlusssatz formuliert eine Konklusion, der die anfängliche Sentenz auf Gott und Mammon anwendet. Mt 6,24/Lk 16,13: Οὐδεὶς ,οἰκέτης.186 δύναται

δυσὶ κυρίοις δουλεύειν· ἢ γὰρ τὸν ἕνα μισήσει καὶ τὸν ἕτερον ἀγαπήσει, ἢ ἑνὸς ἀνθέξεται καὶ τοῦ ἑτέρου καταφρονήσει. οὐ δύνασθε θεῷ δουλεύειν καὶ μαμωνᾷ.

Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird sich an den einen halten und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Das Logion schließt in Mt die Perikope 6,19–24 und in Lk die Perikope 16,9– 13 ab, worin jeweils in unterschiedlichen Zusammenhängen der Umgang mit Reichtum und irdischen Schätzen thematisiert wird. 2.2 Wenn die Alltagsweisheit in den apokalyptischen Horizont hineinwächst… Das aramäische Wort Mammon (‫א‬ ָ ‫ממוֹנ‬ ָ ) meint eigentlich Vorrat und wird hebräisch und aramäisch neutral für Reichtum und Vermögen gebraucht.187 Bei Jesus erhält es offenbar eine negative Konnotation, so dass der Schlusssatz des Logions Gott und Mammon als offensichtlich unvereinbare Größen einan184 185 186 187

VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 206. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 462. Nur in Lk 16,13. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/2) 468.

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der gegenüber stellen kann. Diese kategorische Unvereinbarkeit wäre von einer traditionell-weisheitlichen Haltung gegenüber Reichtum und Besitz her nicht angebracht; sie unterscheidet sich fundamental von der positiven Bewertung des Reichtums, welche die traditionelle Weisheit trotz des Bewusstseins all seiner Gefahren bewahrt hat.188 Die Unvereinbarkeit rührt vielmehr vom apokalyptischen jesuanischen Horizont von Kamel und Nadelöhr her, in den die auch bei Jesus modifiziert gültige positive Würdigung von Reichtum und Besitz unter den Vorzeichen der Sozialpflicht des Eigentums hineinwächst. Gerade im Logion von Gott und Mammon ist festzustellen, wie geschickt in der jesuanischen Verkündigung weisheitliche Konzeptionen über sich hinaus wachsen und den apokalyptischen Horizont berühren: Ausgangspunkt stellt die Erfahrungsweisheit aus dem alltäglichen Leben dar, dass nicht zwei Herren gleichzeitig gedient werden kann. Wie die Verwendung der Verben Lieben und Hassen anzeigt, ist damit nicht eine juristische Bindung gemeint, sondern ein persönliches Vertrauensverhältnis. Deshalb bleibt diese Evidenz mehr als »nur bedingt einleuchtend«, auch wenn SklavInnen in Ausnahmefällen zwei Herren gehören konnten.189 Die Alltagsevidenz, die eine eigene Faszination besitzt, wird nun in den Dienst der irritierenden apokalyptischen Evidenz der Unvereinbarkeit von Gott und Mammon gestellt. Was sich daraus für die Gegenwart ergibt, ist jene provokative Praxis, die nicht irdische Schätze sammelt (so Mt 6,19 ganz auf jesuanischer Linie), sondern alles aufgibt und dafür schon jetzt das Vielfache erhält. 2.3 Jesus als Kyniker? Reichtumskritik im interkulturellen Vergleich Eine Absage an den Reichtum, die bis hin zum völligen Besitzverzicht gehen kann, begegnet auch in den Aussprüchen und der Praxis der kynischen Wanderphilosophen, deren Ursprünge bereits in den SOKRATES-Schülerkreis zurückreichen (ANTISTHENES) und die in der Kaiserzeit einen neuen Aufschwung erlebten. Mitglieder dieser antiken Protestbewegung, »die ihren Namen entweder von jenem Hund (κύων) ableiten, der das Grabmal des DIOGENES geschmückt haben und wohl symbolisch für das ›Hundeleben‹ stehen soll, das er geführt hat, oder von dem Gymnasium, das die Kyniker für uneheliche Athener Söhne betrieben, dem Kynosarges«190, waren äußerlich an folgenden Kennzeichen erkennbar: »Ranzen (Vorratskammer), Stab (Verteidi188 Übereinstimmend mit LUZ: »Nicht ohne weiteres selbstverständlich vom jüdischen Hintergrund her« ist, »dass der Dienst für Gott den Dienst gegenüber dem ›Mammon‹ ausschließt.« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 468) Es ist wichtig, beim jüdischen Hintergrund an die oben in II.1.3. skizzierten traditionell-weisheitlichen Konzeptionen zu denken und nicht bloß »von einer im rabbinischen Judentum verbreiteten positiven Bewertung des Reichtums« auszugehen (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 463). 189 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 468. 190 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 26.

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Gott und der Mammon

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gung) und Mantel (Bett für die Nacht).«191 Ihre innere Haltung, welche diese Lebensweise widerspiegelt, zeichnet sich durch einen Auszug aus der Gesellschaft mit ihren gängigen Konventionen aus: »Verzicht auf Besitz, Familie, Ämter, Ehren.«192 Der Besitzverzicht ist von KRATES von Theben (368 bis 285 v. Chr.193) und anderen Kynikern überliefert: DIOGENES LAERTIUS schreibt über KRATES: »Er, der einer reichen Familie angehörte, habe sein Vermögen für etwa 200 Talente verkauft und alles den Mitbürgern überlassen.« (Diog L 6,87)194 Epistel 9 des DIOGENES an KRATES ist zu entnehmen: »Ich habe vernommen, dass du dein gesamtes Vermögen in die Volksversammlung gebracht und dem Vaterland übergeben hast. Du stelltest dich in die Mitte hin und verkündetest: ›Krates, Sklave des Krates, entlässt Krates in die Freiheit!‹« (Diog Ep. 9)195 In Epistel 38 wird die Berufung eines jungen Mannes (μειράκιον) durch DIOGENES geschildert: »Da besuchte ich also z. B. einen jungen Herrn, den Sohn schwerreicher Eltern, und machte es mir in einem Festsaal bequem, der überall mit Gemälden und mit Gold geschmückt war, so dass da keine Stelle war, auf die man hätte spucken können. Mir blieb etwas in der Kehle stecken, ich räusperte mich, schaute mich um und spuckte, da ich keine andere Stelle fand, auf den jungen Herrn. Dieser wurde wütend, ich aber sagte: ›Ja nun, XY (und ich nannte ihn bei seinem Namen), du bist wütend über mich, weil ich das getan habe, und nicht über dich selber, weil du Wände und Fussboden des Festsaals ausschmücken ließest, so dass es als Möglichkeit zum Draufspucken nur dich gab.‹ Da sagte er: ›Mir ist klar, dass du meinen Mangel an Bildung kritisierst; aber das wirst du mir kein zweites Mal sagen können. Ich werde mich nämlich [von jetzt an] nie einen einzigen Fuß weit von dir entfernen.‹ Schon am nächsten Tag verteilte er seinen Besitz unter seine Angehörigen, nahm den Ranzen, faltete die Kutte und folgte mir.« (Diog Ep. 38,4 f)196

Solche und weitere Ansatzpunkte197 haben bisher vor allem englischsprachige198 und neuerdings auch deutschsprachige199 Autoren aufgenommen, um Jesus als kynischen Wanderphilosophen darzustellen. Einiges bietet dabei aber Schwierigkeiten. Wenn das spartanische Ideal des vorhellenistischen Kynikers hinzugezogen wird, ist Jesu Lebenswandel damit nicht vereinbar: »Der ›Fresser und Säufer‹ Jesus will gar nicht zum kynischen Ideal der Bedürf-

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 27. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 27. 193 LUCK, Die Weisheit der Hunde 194. 194 Übersetzung nach DIOGENES LAERTIUS. Leben und Lehre der Philosophen 288. 195 Übersetzung nach LUCK, Die Weisheit der Hunde 175. Griechisch: MALHERBE, The Cynic Epistles 102. 196 Übersetzung nach LUCK, Die Weisheit der Hunde 188–189. Griechisch: MALHERBE, The Cynic Epistles 162. 197 Weitere Stellen bei DOWNING, Jesus and the Threat of Freedom 83–95. 198 DOWNING, Jesus and the Threat of Freedom; DOWNING, Christ and the Cynics; MACK, A Myth of Innocence; MACK, The Lost Gospel; VAAGE, Galilean Upstarts (hier etwas zurückhaltender: die Q-Verfasser stellen Jesus wie einen Kyniker dar); CROSSAN, Der historische Jesus. 199 LANG, Jesus der Hund. 191 192

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

nislosigkeit passen.«200 Die Schwierigkeiten bleiben auch dann bestehen, wenn Jesus eher in der kynischen Tradition des liberalen Umgangs mit Besitz und Genuss gesehen wird, als deren Kronzeuge der Sokratesschüler ARISTIPPOS (ca. 435–355 v. Chr.) aufgeführt wird.201 Den in dieser jüngeren kynischen Strömung vertretenen Umgang mit Besitz bringt ein Wort des TELES, Schüler des BION (beide in der Frühzeit des Hellenismus um 300 bis 250 v. Chr.202), auf den Punkt: »So verhalte dich auch gegenüber dem Besitz: Hast du viel, breite dich aus; hast du nichts, schränke dich ein.« (Reliquiae 11)203 Jesu Einstellung zum Besitz ist eine andere. Ihm geht es weder um die Freiheit des Weisen (Diog Ep. 9) noch um ein Profitieren bei günstiger Gelegenheit, sondern um einen solidarischen Umgang mit Besitz, der nicht die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Handelns stellt. Somit wird bei Jesus eine andere Motivation für die Reichtumskritik erkennbar, als sie bei den Kynikern anzutreffen ist. Auch der in anderen Bereichen festzustellende, Jesus und den Kynikern gemeinsame subversive Charakter, wonach »kulturell anerkannte Werte […] auf den Kopf gestellt«204 werden, reicht nicht aus, um aus Jesus einen Kyniker zu machen. Vielmehr sind diese subversiven Tendenzen bei Jesus durch den apokalyptischen Horizont205 der Umkehrung von Ersten und Letzten (und der Unvereinbarkeit von eigenem Reichtum mit der absoluten Zukunft) bedingt, der allerdings an die Gegenwart zurückgebunden wird und somit neue Freiräume des solidarischen und uneigennützigen Umgangs mit Besitz eröffnet, die für den Kyniker wiederum kaum in Frage gekommen sein dürften. Auch wenn der Gesamtrahmen, in dem Jesu Reichtumskritik gesehen werden muss, somit gänzlich anders bestimmt ist als bei den Kynikern, ist nicht auszuschließen, dass Jesus auch mit kynischen Wanderphilosophen in Kontakt gekommen ist. Berührungen mit den Kynikern sind aber auch nicht beweisbar206, es sei denn, man konstruiert ein verzerrtes Bild von Johannes dem Täufer als Kyniker spartanischer Richtung.207

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 28. LANG, Jesus der Hund 60–61. 202 LUCK, Die Weisheit der Hunde 233.256. 203 Übersetzung nach LUCK, Die Weisheit der Hunde 261. 204 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 29. 205 Befürworter der Kynikerthese geben hier allerdings nicht auf und verstehen die Rede Jesu von der (apokalyptischen) Gottesherrschaft »analog zum Königtum des Weisen als metaphorischem Ausdruck für die bereits erreichte Glückseligkeit (εὐδαιμονία)« (EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 28), wobei u. a. auf CROSSAN, Der historische Jesus 383–388 zu verweisen ist. 206 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/3) 126. 207 LANG, Jesus der Hund 69. 200 201

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Das Doppellogion von den Raben und Lilien

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3. Das Doppellogion von den Raben und Lilien: Mt 6,26.28–30 par Lk 12,24.27 f Das Doppellogion von den Raben und Lilien gehört zu den Kronzeugen, wenn es darum geht, Jesus als (traditionellen) Weisheitslehrer zu interpretieren. So ist es auch Objekt detaillierter Untersuchungen in den zwei neueren Studien von EBNER208 und RONDEZ209. Die Anschaulichkeit und der Erfahrungsbezug des Doppellogions, worin wahrscheinlich die Ursachen für seine Bekanntheit gesehen werden können, sind im Einzelnen allerdings umstritten. Dieses Kapitel möchte aufzeigen, wie hier die traditionelle Weisheitsperspektive bis an die Grenze apokalyptischer Weisheit herangeführt wird. 3.1 Vorkommen und Traditionslinien Die prägnanten Logien von den Raben und Lilien mit ihren Bilderwelten (Vergleiche210) sind in einen eher argumentativ gestalteten Kontext von Mt 6,25– 34 par Lk 12,22–32 eingebunden, worin es um die Sorge für das alltäglich Lebensnotwendige und um die Suche nach der βασιλεία τοῦ θεοῦ geht. »Aufgrund der sehr großen wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk, die insgesamt einen umfangreichen Textbereich umfassen«211, können beide Perikopen zusammen betrachtet werden. Stilistische Unterschiede bei der Gestaltung der beiden Logien sollen im Folgenden kurz diskutiert werden. Mt 6,26:

Lk 12,24:

ἐμβλέψατε εἰς τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ ὅτι οὐ σπείρουσιν οὐδὲ θερίζουσιν οὐδὲ συνάγουσιν εἰς ἀποθήκας, καὶ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος τρέφει αὐτά· οὐχ ὑμεῖς μᾶλλον διαφέρετε αὐτῶν;

κατανοήσατε τοὺς κόρακας ὅτι οὐ σπείρουσιν οὐδὲ θερίζουσιν, οἷς οὐκ ἔστιν ταμεῖον οὐδὲ ἀποθήκη, καὶ ὁ θεὸς τρέφει αὐτούς·

Seht hin zu den Vögeln des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen,

Schaut auf die Raben: Sie säen nicht und ernten nicht und sie haben keinen Speicher und keine Scheune, und Gott ernährt sie.

und euer himmlischer Vater ernährt sie.

πόσῳ μᾶλλον ὑμεῖς διαφέρετε τῶν πετεινῶν.

Jesus – ein Weisheitslehrer? 250–275. Alltägliche Weisheit? 83–113. 210 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 207. 211 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 83. Entsprechend herrscht auch große Einigkeit bei der Rekonstruktion des Q-Textes, insbesondere bei EBNER (Jesus – ein Weisheitslehrer? 254–255) und RONDEZ (Alltägliche Weisheit? 88–89). 208 209

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

Seid ihr nicht mehr wert als sie? … Mt 6,28–30:

Um wie viel mehr unterscheidet ihr euch von den Vögeln! … Lk 12,27–28:

καταμάθετε τὰ κρίνα τοῦ ἀγροῦ πῶς αὐξάνουσιν· οὐ κοπιῶσιν οὐδὲ νήθουσιν· λέγω δὲ ὑμῖν ὅτι οὐδὲ Σολομὼν ἐν πάσῃ τῇ δόξῃ αὐτοῦ περιεβάλετο ὡς ἓν τούτων. εἰ δὲ τὸν χόρτον τοῦ ἀγροῦ σήμερον ὄντα καὶ αὔριον εἰς κλίβανον βαλλόμενον ὁ θεὸς οὕτως ἀμφιέννυσιν, οὐ πολλῷ μᾶλλον ὑμᾶς, ὀλιγόπιστοι;

κατανοήσατε τὰ κρίνα πῶς αὐξάνει· οὐ κοπιᾷ οὐδὲ νήθει· λέγω δὲ ὑμῖν, οὐδὲ Σολομὼν ἐν πάσῃ τῇ δόξῃ αὐτοῦ περιεβάλετο ὡς ἓν τούτων. εἰ δὲ ἐν ἀγρῷ τὸν χόρτον ὄντα σήμερον καὶ αὔριον εἰς κλίβανον βαλλόμενον ὁ θεὸς οὕτως ἀμφιέζει, πόσῳ μᾶλλον ὑμᾶς, ὀλιγόπιστοι.

Achtet auf die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und spinnen nicht. Ich sage euch aber: In all seiner Pracht war Salomo nicht angezogen wie eine von diesen. Wenn aber das Gras des Feldes, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, Gott so kleidet, nicht viel mehr euch, Kleingläubige? …

Schaut auf die Lilien, wie sie wachsen: Sie mühen sich nicht ab und spinnen nicht. Ich sage euch aber: In all seiner Pracht war Salomo nicht angezogen wie eine von diesen. Wenn aber auf dem Feld das Gras, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird, Gott so kleidet, um wie viel mehr euch, Kleingläubige! …

Mt und Lk beginnen sowohl das Raben- wie das Lilienlogion mit einem positiven Imperativ, wobei Lk vereinheitlichend κατανοέω statt ἐμβλέπω und καταμανθάνω verwendet. Während Mt im ersten Logion (Mt 6,26 par Lk 12,24) die Aufmerksamkeit unspezifisch auf die Vögel des Himmels lenkt, werden bei Lk konkreter die Raben (Singular κόραξ) in den Blick genommen. Der Ausdruck ist zwar im NT ein Hapax Legomenon212, im AT aber nicht außergewöhnlich – schon Noah ließ von der Arche als erstes Tier einen Raben los fliegen, nachdem die Berggipfel wieder sichtbar wurden (Gen 8,7). Die dritte Nicht-Tätigkeit der Raben hat Lukas gegenüber Mt etwas ausführlicher geschildert, indem er von Speichern und Scheunen spricht. Abgeschlossen werden wiederum beide Bildworte von Mt mit einer rhetorischen Frage, von Lk mit einer inhaltlich identischen Feststellung; mit der Anrede als ὀλιγόπιστοι wird die Glaubensthematik (und damit implizit die βασιλεία τοῦ θεοῦ)213 ins Spiel gebracht. 212 213

RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 93 Anm. 448. Siehe unten Kap. III.4.2.1.

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Das Doppellogion von den Raben und Lilien

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3.2 Sorglosigkeit als Grundhaltung und Verzicht auf elementare Überlebenssicherung Der Kontext der beiden Bildworte macht von Anfang an klar, worum es geht: um »zwei bis heute klassische Themen der weisheitlichen Lebensbewältigung, die Nahrung und die Kleidung.«214 Allerdings wird diesen Themen sogleich in irritierender Weise ihr großer Stellenwert, den sie für das Überleben des Einzelnen besitzen, streitig gemacht: Mt 6,25215: Διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν,

μὴ μεριμνᾶτε τῇ ψυχῇ ὑμῶν216 τί φάγητε [ἢ τί πίητε]217, μηδὲ τῷ σώματι ὑμῶν τί ἐνδύσησθε. οὐχὶ ἡ ψυχὴ πλεῖόν ἐστιν τῆς τροφῆς καὶ τὸ σῶμα τοῦ ἐνδύματος;218

Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?

Um zu verstehen, was Sorgen hier bedeutet, wurde schon mehrfach eine genauere Betrachtung des Lexems μεριμνάω vorgenommen.219 In der alttestamentlichen Weisheitsliteratur sind die Sorgen »mit Schlaflosigkeit, mit physischer Erschöpfung, mit der Bitterkeit ungerechter Arbeit, mit Aufregung und Lärm verbunden«220: »Schlaflosigkeit wegen des Reichtums zehrt am Fleisch, die Sorge um ihn nimmt den Schlummer. Die Sorge um den Lebensunterhalt verscheucht den Schlummer, mehr als schwere Krankheit vertreibt sie ihn.« (Sir 31,1–2) Nicht nur Reichtum, sondern auch der Lebensunterhalt erscheint hier als Gegenstand der Sorge; dazu kommen weitere »alltägliche Problemfelder«, etwa, »dass die Tochter gut verheiratet wird (Sir 42,9)« oder »dass die handwerkliche Tätigkeit gelingt (Sir 38,29)«.221 Für unsere Perikope haben sich im Verlauf der Forschung zwei alternative Verständnisweisen herausgebildet. Entweder steht μεριμνάω für eine Grundeinstellung des Menschen, das Leben im Diesseitigen sichern zu wollen (BULT-

214

KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 13. Par Lk 12,22–23. Die Unterschiede bei Lk werden an den entsprechenden Stellen in Fußnoten vermerkt. 216 Bei Lk sowohl bei τῇ ψυχῇ als auch bei τῷ σώματι ohne ὑμῶν. 217 Obwohl nach NESTLE-ALAND27 die Ursprünglichkeit dieser Wörter nicht ganz sicher ist, kann sie nach LUZ (Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 472 Anm. 1) durchaus in Betracht gezogen werden. Bei Lk fehlen die Wörter. 218 In Lk 12,23 nicht in Frageform, sondern konstatierend. 219 ZELLER, Mahnsprüche 87–92. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 260. BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 302. 220 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 302. 221 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 260. 215

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

MANN222),

oder ein aktives »Sich-Mühen« (JEREMIAS223). Da die Begriffsgeschichte kaum Hilfen zur Entscheidung zwischen beiden Alternativen bereitstellen kann224, gehen sowohl LUZ als auch RONDEZ davon aus, dass der gemeinte Sachzusammenhang vom näheren mt (bzw. Q-)Kontext zu erschließen ist.225 Und jener erscheint hier »nicht nur als grundsätzliches Tun (im Sinne einer Einstellung oder Grundhaltung des Menschen), sondern zugleich als elementares Tun, das menschliches Überleben betrifft.«226 Denn die konkreten Fragen nach Nahrung und Kleidung in Mt 6,31 par Lk 12,29 zielen auf das elementare Überleben des Menschen; und die Bildworte in Mt 26,26.28, wo die Vögel nicht säen und ernten und die Lilien sich weder abmühen noch spinnen, legen nahe, dass es beim Sorgen um ein aktives menschliches Handeln geht. Ohne »Abwertung des Materiellen«227 tritt am Ende mit der Höhergewichtung von Leben und Leib gegenüber Nahrung und Kleidung auch noch einmal die Ebene der grundsätzlichen Haltung in den Vordergrund, sei es in einer weisheitlichen Deutung als »Warnung vor übermäßiger Sorge« (»Was hat einer von seinem Leben, wenn er sich nur noch abrackert und sorgt?«228) oder in einem »theologischen« Verständnis, wonach Gott, der für das Höhere (das Leben und den Leib) sorgt, auch für das Geringere (Nahrung und Kleidung) sorgen wird229 – ein Verständnis, das Mt 6,31–32 par Lk 12,29–30 im Anschluss an die Bildworte nahe legt: BULTMANN, Art. μεριμνάω, ThWNT IV 593–598. JEREMIAS, Gleichnisse 212. 224 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478. 225 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478; RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 111. Anders EBNER (Jesus – ein Weisheitslehrer? 259–260), der die Semantik des Wortfeldes eindeutig mit Überlegung und Nachdenken in Verbindung bringt und entsprechend im Sorgen (auf der Ebene von Q) eine rein geistige Haltung erkennt (die Handlungsebene des elementaren Tuns sieht er bloß im als Vorstufe zu Q rekonstruierten Doppellogion von Raben und Lilien, wo es um die Aufgabe bäuerlicher Tätigkeiten durch die Wanderprediger geht, s. u.). 226 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 111. LUZ charakterisiert die grundsätzliche Einstellung des Sorgens vor dem begriffsgeschichtlichen Hintergrund als Angst und Kummer, kommt dann aber zum ähnlichen Fazit wie RONDEZ: »Man darf beide Momente des ›Sorgens‹, die Angst ums Dasein und das aktive Sich-Mühen, nicht auseinander reißen.« (Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478) 227 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 111 Anm. 550. 228 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478. Vgl. z. B. Sir 30,24–31,2, wonach die Sorge den Schlaf vertreibt und das Leben verkürzt (weiteres bei EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer 260). 229 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478. EBNER kann hier das Stichwort des Wissens aus dem Text aufnehmen, um sein Verständnis des Sorgens als rein geistiger Haltungen zu stärken: »In unserem Fall entspricht der deliberativen Haltung der Sorge um Nahrung und Kleidung auf der menschlichen Seite […] das Wissen des Vaters um diese notwendigen Bedürfnisse auf der göttlichen Seite« (Jesus – ein Weisheitslehrer? 260). 222 223

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Das Doppellogion von den Raben und Lilien

Mt 6,31–32: μὴ οὖν μεριμνήσητε λέγοντες, Τί φάγωμεν; ἤ, Τί πίωμεν;230 ἤ, Τί περιβαλώμεθα;231

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Sorgt euch also nicht, indem ihr sagt: Was sollen wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Was sollen wir anziehen? Nach all dem nämlich streben die Heiden.

πάντα γὰρ ταῦτα τὰ ἔθνη232 ἐπιζητοῦσιν· οἶδεν γὰρ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος233 Euer himmlischer Vater weiß ja, ὅτι χρῄζετε τούτων ἁπάντων. dass ihr das alles braucht.

Ist eine solche Sorglosigkeit, die nicht nur als Grundhaltung, sondern auch als Verzicht auf elementares Handeln zum Überleben verstanden wird, aber nicht unverantwortlich – selbst dann, wenn über allem der allwissende himmlische Vater steht? Die traditionelle Weisheit konnte vertrauensvoll bekennen: »Wer auf das Wort des Herrn achtet, findet Glück; wohl dem, der auf ihn vertraut.« (Spr 16,20) »Besser wenig und gerecht als viel Besitz und Unrecht.« (Spr 16,8) »Die Gottesfurcht ist ein Lebensquell, um den Schlingen des Todes zu entgehen.« (Spr 14,27) Wird diese Weisheit aber nicht gar überstrapaziert, wenn durch den Verzicht auf die Vorsorge für das elementar Lebensnotwendige auch die Möglichkeit in Kauf genommen wird, dass das »Wenige« zu »Nichts« wird? Ist diese Sorglosigkeit nicht naiv, wenn sie sich diejenigen zu eigen machen, die sich in der sozialen Situation der Tagelöhner aus Mt 20,1–16 befinden und um das Überleben ihrer Familien am Existenzminimum (oder darunter) kämpfen müssen234? Ist andererseits eine solche Sorglosigkeit nicht arrogant und blind in Bezug auf die gesellschaftlichen Realitäten, wenn sie sich diejenigen zu eigen machen, die sich in der Situation des reichen Mannes aus Mk 10,17 par Mt 19,20 befinden und nicht auf ihren Reichtum verzichten wollen, der ihnen die Sorglosigkeit bezüglich des elementaren Überlebens erst ermöglicht?

Lk 12,29 schreibt (vereinheitlichend mit ζητεῖτε in Lk 12,31) καὶ ὑμεῖς μὴ ζητεῖτε τί φάγητε καὶ τί πίητε; dass Lk ζητέω verwendet, stärkt die Deutung von μεριμνάω im Sinn des elementaren Handelns, denn das »Suchen« der βασιλεία in Lk 12,31 ist bestimmt keine 230

bloß geistige Haltung, sondern aktives Tun (wie Lk im Anschluss mit 12,33 ff unterstreicht!). 231 Lk 12,29 lässt das Anziehen weg und kehrt stattdessen auf die allgemeine Ebene zurück: καὶ μὴ μετεωρίζεσθε »und lasst euch nicht hin- und herwerfen« (nach BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III/2) 294). 232 Lk 12,30 ergänzt τοῦ κόσμου. 233 In Lk 12,31 ohne »himmlisch«. 234 Vgl. dazu ausführlicher SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 56.

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

3.3 Umstrittene AdressatInnen des Aufrufs zur Sorglosigkeit Um den zuletzt genannten Schwierigkeiten zu entgehen, wird oft in einer sozialgeschichtlichen Interpretation diachron versucht, den konkreten (Nicht-) Handlungsaspekt der Sorglosigkeit, nämlich den Verzicht auf das Sich Kümmern um Nahrung und Kleidung, der spezifischen Situation der WandercharismatikerInnen zuzuschreiben, während für (die sesshaften SympathisantInnen und) die christlichen Gemeindemitglieder noch die sorglose Grundhaltung übrig bleibt.235 Den diachronen Interpretationen ist positiv anzurechnen, dass sie den konkreten Aspekt der Sorglosigkeit in der Form des Verzichts auf das Sich Kümmern um Nahrung und Kleidung ernst zu nehmen versuchen. Allerdings bleibt es meist beim gescheiterten Versuch. Denn den ausgesendeten Jüngerinnen und Jüngern, die weder Geld noch Vorratstasche mit auf den Weg nehmen sollen (Mk 6,8 par Mt 10,10; Lk 10,4), wird zwar ihre elementare Versorgung unterwegs zugesichert: Auch wenn ihr aufhört, euch um Nahrung und Kleidung zu kümmern, wird Gott, der weiß, dass ihr das braucht, euch kleiden und ernähren! Das »Vertrauen auf die gütige Vorsehung Gottes« scheint dann aber für die Realität doch nicht zu genügen, so dass EBNER eingestehen muss: Realiter werden es natürlich wohlmeinende SympathisantInnen gewesen sein, die den Männern und Frauen um Jesus das Nötigste zugesteckt haben. Und realiter müssen – wie im übrigen auch die Raben – Jesus und seine Leute selbst aktiv geworden sein, um sich durchschlagen zu können.236

Also finden wir hier doch nicht einen im elementaren Sinn des Nicht-Handelns gemeinten Aufruf vor? Oder wenn es das doch war, dann war er selbst für die Angesprochenen, die WandercharismatikerInnen, zu weit weg von ihrer sozialen Realität und zeugt somit von einer ungeheuren Naivität dessen, der ihn ausgesprochen hat. Aber fehlte Jesus tatsächlich jenes Gespür für die sozialgeschichtlichen Realitäten seiner Zeit? Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchungen ist dies kaum zu erwarten. Die Einschränkung des Adressatenkreises der elementaren Sorglosigkeit auf die Wanderradikalen kann also die Schwierigkeiten nicht umgehen, die sich auch bei einem erweiterten Adressatenkreis unter Einschluss der sesshaften SympathisantInnen ergeben. Aber gerade sie sind im mt/lk Kontext auch angesprochen, denn die mt Bergpredigt richtet sich nicht nur an Wanderradikale (Mt 5,2; 7,28). SCHOTTROFF/STEGEMANN haben versucht, die Sorglosigkeit 235 Etwas undeutlich in diese Richtung geht LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 481–483. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 270–271; dass EBNER die Handlungsebene des elementaren Bemühens ums Überleben auf einer Vorstufe zu Q (bloß die Bildworte von Raben und Lilien) lokalisiert und nicht im Sorgen selbst erkennt, spielt für seine Schlussfolgerung und den sozialgeschichtlichen Bezug auf die Wandercharismatiker keine Rolle. 236 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 271.

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Das Doppellogion von den Raben und Lilien

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konsequent auf die Sorge um das Existenzminimum der kleinen Leute im Allgemeinen zu beziehen.237 In der Tat ist es ihre Lebenswelt, in der sich auch der historische Jesus bewegt hat; diesem dürfen wir zutrauen, dass er nicht nur die Jüngerinnen und Jünger, die mit ihm zusammen ausgezogen sind, sondern auch die sesshaften SympathisantInnen im Blickfeld hatte. Das SCHOTTROFF/ STEGEMANNsche Verständnis der Mahnungen zur Sorglosigkeit als »Haltung bedingungslosen Vertrauens zu Gottes Macht und Fürsorge«238 bleibt aber trotz ihres Insistierens darauf, dass die Jesusnachfolger »dieses Gottvertrauen in ihrem Alltag zu leben versucht« haben, immer noch der kritischen Anfrage ausgesetzt: »War dies aber nur die gedachte Befreiung? – die perfekte Illusion?«239 3.4 Sorglosigkeit vor apokalyptischer Kulisse und im Kontext der alternativen Praxis der Jesusbewegung Seine letzte Glaubwürdigkeit erhält der Aufruf zur Sorglosigkeit erst, wenn derjenige in den Blick gerät, der ihn ausgesprochen hat: ein radikaler Wandercharismatiker, der sich nicht um Nahrung und Kleidung für sich selbst gekümmert hat, ja »der nicht einmal einen Stein sein eigen nennen konnte, auf dem er seinen Kopf hinlegte«240 (Mt 8,20 par Lk 9,58); ein Wandercharismatiker vielmehr, in dessen Predigen und Handeln der apokalyptische Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ im Mittelpunkt gestanden hat. Ihn bewegte die apokalyptische Umkehrung aller gesellschaftlichen Verhältnisse: dass die Letzten zu Ersten werden in einer βασιλεία, in der Reichtum keinen Platz und der Mammon keine Dienerschaft mehr haben wird (vgl. Mt 6,24 par Lk 16,13). Dass dies ein Kontrastprogramm zur realen Gegenwart ist und der Verzicht auf die Überlebensstrategien dieses Äons in den Tod führen kann, dessen war er sich nur zu bewusst: Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen (und um des Evangeliums willen241) verliert, wird es retten/finden. (Mk 8,35/Mt 16,25/Lk 9,24)242 Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet aber vielmehr den, der Seele und Leib vernichten kann in der Gehenna. (Mt 10,28; vgl. auch Lk 12,5)243

237 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 59–62; die Sorglosigkeit betrachten sie zusammen mit dem Aufruf zur Furchtlosigkeit in Mt 10,28–31 par Lk 12,4–7. 238 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 61. 239 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 62. 240 KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 13. 241 Nur in Mk 8,35. 242 Vgl. dazu weiter Mt 10,39 und Lk 17,33. 243 Im Anschluss daran folgt auch ein Bildwort, jenes von Spatzen und Haaren. Es handelt sich insgesamt um eine in ihrer Struktur vergleichbare Perikope wie die hier als Kontext des

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Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung ist die gelebte jesuanische Praxis der Sorglosigkeit und der Aufruf dazu sicher nicht mehr arrogant, ja wohl auch nicht mehr naiv. Handelt es sich bei Jesus also eher um einen verrückten apokalyptischen Prediger? Nein, denn der apokalyptische Horizont ragt bereits ein Stück weit in die Gegenwart hinein, in ihr ereignet sich anfanghaft und fragmentarisch ein Teil der neuen Verhältnisse. Dies wird auch deutlich im Fortgang unserer Perikope von der Sorglosigkeit in Mt 6,33 par Lk 12,31: Mt 6,33: ζητεῖτε δὲ πρῶτον244 τὴν βασιλείαν [τοῦ θεοῦ]245 καὶ τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ,246

καὶ ταῦτα πάντα247 προστεθήσεται ὑμῖν.

Sucht aber zuerst die Königsherrschaft Gottes und seine Gerechtigkeit, und das alles wird euch hinzu gegeben werden.

All dies, Essen, Trinken und Kleidung (vgl. Mt 6,31), wird ganz konkret denjenigen gegeben werden, die sich auf die Suche nach der βασιλεία τοῦ θεοῦ machen. Das Verb ζητέω hat einen eminent aktiven Charakter; genau so wenig, wie es sich beim Aufruf zur Sorglosigkeit um eine rein innere Haltung handelte, ist hier die Suche nach der βασιλεία τοῦ θεοῦ eine bloße Einstellung, sondern ein Sich Einlassen auf die alternative Praxis der Jesusbewegung. Die eigene Nahrung und Kleidung (beachte das explizite ὑμῶν in Mt 6,25) dürfen nicht zu den bestimmenden Kategorien des Denkens und Handelns gemacht werden, vielmehr ist solidarisches Handeln nach innen (in die Jesusbewegung, in die Gemeinde) als auch nach außen gefordert. Unter Aufnahme traditionell weisheitlicher Überzeugungen wie der Sozialpflicht des Eigentums wird in der Gegenwart somit fragmentarisch diejenige neue Realität ermöglicht, die der »verrückte« Apokalyptiker erst für den neuen Äon erwarten kann. Dies ist eine im elementarsten Sinn des Wortes Überleben ermöglichende Realität, wie die Wundererzählungen von der Brotvermehrung veranschaulichen wollen (Mk 6,32–44 parr Mt 14,13–21; Lk 9,10–17). Wo die Letzten in den Fokus des eigenen Handelns gestellt werden, wird realiter das Sich Bemühen um die eigene Nahrung und Kleidung abgelöst durch das Suchen der βασιλεία τοῦ θεοῦ, worin die Menschen der Gegenwart ebenso realiter ernährt und gekleidet sein wollen. Diese Freiräume sind natürlich brüchig und fragmentarisch, aber Jesus hat ganz von ihnen her und auf sie zu gelebt und gedacht. Somit ist auch klar, dass sozialgeschichtlich gesehen sowohl WandercharismatikerInnen als auch sesshafte SympathisantInnen Logions von den Raben und Lilien besprochene. Vgl. dazu EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 290–303; RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 65–82. 244 Anstelle πρῶτον hat Lk 12,31 πλήν. 245 Bloß αὐτοῦ in Lk 12,31. 246 Die Gerechtigkeit fehlt bei Lk ganz. 247 Fehlt bei Lk.

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mit diesem Aufruf angesprochen werden, denn sie alle sollen teilhaben an der neuen Praxis eines radikal uneigennützigen Handelns auch im Umgang mit dem elementar Überlebensnotwendigen; erst so ist die Zuversicht, die folgenden Aufrufen zugrunde liegt, zu verantworten: »Bittet, so wird euch gegeben werden! Sucht, so werden ihr finden! Klopft an, so wird euch aufgetan werden! Denn jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, findet, und dem, der anklopft, wird geöffnet werden.« (Mt 7,7 par Lk 11,9–10) Hier verbindet sich weisheitliche Erfahrung mit apokalyptischer Verstärkung. Ohne die gegenwärtige alternative Praxis der Jesusbewegung vor apokalyptischem Horizont bleiben die Aufrufe naiv; mit ihr aber werden sie verheißungsvoll. 3.5 Raben und Lilien – Die Provokation paradiesischer Zustände in der Gegenwart Zwischen dem Aufruf, auf die Sorge um das Überlebensnotwendige zu verzichten, und dem Zuspruch, dass einem all das gegeben wird, sofern ins Zentrum des eigenen Handelns die βασιλεία τοῦ θεοῦ gestellt wird, stehen freilich noch die beiden Bildworte von den Raben und Lilien. Auf den ersten Blick scheinen sie als Naturbeispiele schlagende Überzeugungskraft für den Aufruf zur Sorglosigkeit zu besitzen. In ihrer Argumentationsstruktur kommen sie scheinbar mit der Gegenwart allein zurecht, ohne auf den apokalyptischen Horizont angewiesen zu sein. Die Raben säen nicht, ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen – der himmlische Vater ernährt sie; die wachsenden Lilien mühen sich nicht ab und spinnen nicht – und doch sind sie von Gott prächtiger gekleidet als Salomo! Im Stil einer Argumentation »a minore ad maius«248 wollen die jeweils anschließenden rhetorischen Fragen des Mt (6,26.30) diejenige Antwort provozieren, die Lk ausspricht (12,24.28): Um wie viel mehr werdet ihr von Gott ernährt und gekleidet werden, wenn schon die Raben und die Lilien auf Gottes Fürsorge zählen können! EBNER hat in den agrarischen Tätigkeiten (säen, ernten, in Scheunen sammeln) und den häuslichen Tätigkeiten (spinnen) ein »bäuerliches Milieu«249 erkannt und dessen Verlassen sozialgeschichtlich auf die WandercharismatikerInnen bezogen. Ihnen gilt dann der Aufruf, ihre »bäuerlichen Tätigkeiten auf dem Feld und zu Hause aufzugeben!«250 Für diesen Aufruf kann die Natur

248 SCHOTTROFF/STEGEMANN, Hoffnung der Armen 60; das Vorhandensein dieser Argumentationsstruktur wird bestritten von EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 269. 249 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 270. 250 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 270. Dabei nimmt EBNER gewisse Risiken in Kauf: Jesus »riskiert ein Lob des Faulen – für eine ganz bestimmte Situation, nämlich die der Wanderprediger.« (275) Für die eigentlichen, allerdings risikobehafteten Absichten Jesu postuliert EBNER: »Dabei war nicht der Aspekt der Faulheit ausschlaggebend, sondern der Aspekt der Bereitschaft, die gewohnte agrarische Tätigkeit bzw. die konventionelle Hausfrauenarbeit im

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als Evidenzmaterial her halten, wie dies in der Weisheitsliteratur oft auch tatsächlich geschieht.251 Da hier menschliche Tätigkeiten in die Welt der Raben und Lilien eingebaut werden, haben wir nach EBNER eine »ziemlich verfremdete Naturschilderung vor uns, deren anthropologische und theologische Beweisabsichten offensichtlich sind.«252 Gegen diese eindeutige Übertragung auf die Wanderradikalen wendet sich allerdings RONDEZ253 und liegt damit meines Erachtens richtig. Die menschlichen Arbeiten, auf denen die Raben und Lilien verzichten, werden zwar auch als Andichtungen »im Modus der Negation«254 aufgefasst, sie eröffnen jedoch einen metaphorischen Sprachraum, dessen Vieldeutigkeit nicht vereindeutigt werden darf. Im Fokus des Weisheitslogions ist nicht ausschließlich die konkrete Situation des Wanderradikalen, sondern es wird ein »raffiniertes Kontrastprogramm«255 angelegt, das auf verschiedenen Ebenen spielt, die für das Rabenlogion wie folgt aufgegliedert werden können: (1) explizit den Raben angedichtetes Nicht-Tun (nicht säen, nicht ernten, nicht speichern); (2) implizit kontrastierendes elementares Tun des Menschen (säen, ernten, speichern); (3) explizit das Nicht-Tun der Raben kontrastierendes Tun Gottes (Gott ernährt sie); (4) implizite Grenzenlosigkeit des fürsorglichen Tuns Gottes.256

Damit wird der Rahmen von Aussagen, die sich aufgrund eines »beobachtenden Umgangs mit der Welt«257 machen lassen, gesprengt. Die Art des Erfahrungsbezugs auf die Natur gilt es im folgenden genauer zu untersuchen, da dieser in seiner spezifischen Ausprägung ein entscheidendes Puzzlestück darstellt, um zu verstehen, wieso Jesus in so radikaler Weise mit der Fürsorge Gottes auch in der Gegenwart rechnen konnte und nicht in eine apokalyptische Abwertung der Gegenwart, in der das Böse total die Oberhand gewonnen hat, abgeglitten ist. Raben sind nicht nur »Vorboten des Unheils«258 im römischen SprachgeBlick auf die unmittelbare Jesusnachfolge, die seine Wanderexistenz teilt, bewusst aufzugeben…« (274). 251 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 267. 252 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 268. 253 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 94.98. 254 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 94 (Raben). Zu den Lilien 100–101. 255 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 94 (Raben). Zum Kontrastprogramm im Lilienlogion 102–103. 256 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 95.97. Deswegen ist die implizite Kontrastierung des Nicht-Tuns der Raben mit dem elementaren vorsorgenden Handeln des Menschen »nicht im Fokus des Weisheitslogions« (94) und somit die Aufhebung der Mehrdeutigkeit zugunsten der ausschließlichen Konkretisierung im Hinblick auf die Situation der Wanderradikalen nicht gerechtfertigt. 257 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 95. 258 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 109.

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brauch oder unreine Tiere259 in biblischer Vorstellung, sondern vor allem auch Beispiele für die Fürsorge Gottes: Stimmt dem Herrn ein Danklied an, spielt unserem Gott auf der Harfe! Er bedeckt den Himmel mit Wolken, spendet der Erde Regen und lässt Gras auf den Bergen sprießen. Er gibt dem Vieh seine Nahrung, gibt den jungen Raben, wonach sie schreien. (Ps 147,7–9) Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen schreien zu Gott und umherirren ohne Futter? (rhetorische Frage in den Jahwe-Reden Ijob 38,41)

Auch das Lilienlogion zeichnet einen ebenso freundlichen Eindruck von der Natur, die durch nichts bedroht, stattdessen gänzlich der umfassenden Sorge Gottes anvertraut ist. Schon WEISS formulierte 1907 eine Anfrage an dieses idyllische Gemälde: »Jeder erfrorene oder verhungerte Sperling und jede Vorratskammer überwinternder Tiere kann seine freundliche Weltanschauung widerlegen.«260 In der Tat handelt es sich bei unserem Doppellogion nicht um eine neutrale Naturbeobachtung; es wird weder dokumentiert, wie auch Raben ums Überleben kämpfen müssen, noch wird in Betracht gezogen, dass die Lilien auf dem Feld261 auch verdorren können. Das Aspekt- und Augenblickhafte des Logions darf nicht ausgeweitet werden. Denn selbst dort, wo sich auf dem Höhepunkt überragender Schönheit der Lilien (»In all seiner Pracht war Salomo nicht angezogen wie eine von diesen«) eine »zerstörerische und gewalttätige Dimension«262 auftut (»das Gras, das heute ist und morgen in den Ofen geworfen wird«263), wird jene Gefährdung verdrängt, derer sich die traditionelle Weisheit sehr wohl bewusst war: »Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr.« (Ps 103,15–16) Die Zuversicht unseres Logions lässt solche Gefährdungen jedoch nicht an sich herankommen. »Die vergängliche und verletzliche Schönheit der Lilien wird argumentativ gerade gegen die im Bild des in den Ofen geworfenen Grases sich beunruhigend anmeldende Destruktivität aufgeboten.«264 Wenn Gott schon das vergängliche Gras so kleidet, wie viel mehr dann die Menschen! Stärker kann man die Ambivalenz der Schöpfung nicht mehr ausblenden; und stärker kann man die lebensförderliche Fürsorge Gottes nicht mehr fokussieren. Zeichnet Jesus also bewusst ein Zerrbild der Realität? Bis jetzt sind wir bei 259

LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 478 Anm. 42. Vgl. auch Jes 34,11. WEISS, Die drei älteren Evangelien 283. 261 Es handelt sich also um Feldblumen, d. h. Unkraut, nicht Gartenblumen (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 479). In der Septuaginta wird das hebräische Wort für Lotus (Seerose) mit κρίνον übersetzt (OLB I 85–87). 262 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 104. 263 Dies zeigt, dass wir uns im »Milieu der armen Landbevölkerung Galiläas, die Stroh als Brennmaterial brauchen muss«, bewegen (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/1) 479– 480). 264 RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 104. 260

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ihm bloß fragmentarischen Freiräumen begegnet, in denen sich die βασιλεία τοῦ θεοῦ, die der hier geschilderten Realität sehr nahe kommt, anfanghaft entfalten konnte. Aber die ganze gegenwärtige Wirklichkeit ist weit entfernt von der geschilderten Idylle, sonst würde der apokalyptische Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht bloß punktuell mit der Gegenwart verschmelzen, sondern wäre mit ihr beinahe identisch! Nein, nicht verzerrte Gegenwart wird hier beschrieben, sondern »paradiesische Zustände«265 sind angedeutet: die Vögel des Himmels: wohlgenährt die Lilien des Feldes: prachtvoll gekleidet die Menschen: sorglos und über allem der himmlische Vater der weiß was wir brauchen266

Traditionelle Weisheit lebt von diesem Paradies her, auch wenn es »immer nur als Verlorenes existiert.«267 Der traditionelle Weise wollte die paradiesische Wirklichkeit so weit wie möglich fragmentarisch in dieser Welt zur Geltung kommen lassen; dabei war er sich aber der Gefährdungen des Lebens in nachsintflutlicher Zeit bewusst! Seine Weisheit ist deshalb nach KÜCHLER »eine gebrochene Weisheit, deren Gebrochenheit gerade auf dem Hintergrund des Paradieses, dieses weisheitlichen Lebensraumes par excellence, zu erkennen ist.«268 In Bezug auf das überlebensnotwendige Handeln zeigte sich diese Gebrochenheit der traditionellen Weisheit in einer großen Sensibilität für die Situation des Menschen, der eben gerade nicht mehr sorglos durch die Welt gehen kann: Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten, und werde weise! Sie hat keinen Meister, keinen Aufseher und Gebieter, und doch sorgt sie im Sommer für Futter, sammelt sich zur Erntezeit Vorrat. (Spr 6,6–8) Wer im Sommer sammelt, ist ein kluger Mensch; in Schande gerät, wer zur Erntezeit schläft. (Spr 10,5)

Die hier ins Visier genommene Seite der Natur will den Faulen dazu antreiben, konkret für sich vorzusorgen, wie es auch die Ameisen tun. Denn auch die Natur befindet sich realiter nicht mehr im paradiesischen Urzustand, genau so wenig wie die Sphäre menschlichen Handelns. Für sie hat die traditionelle Weisheit Normen und Leitvorstellungen entwickelt, die ein Überleben in einer gebrochenen Wirklichkeit ermöglichen und dabei zugleich möglichst nahe an das verlorene Paradies heranführen sollen. Es ist offensichtlich, dass sich die Logien von den Raben und Lilien »inhalt-

265

KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 13. KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 13. Dagegen EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 271 Anm. 120, der darin ein Ausblenden des sozialgeschichtlichen Hintergrundes diagnostiziert. 267 KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 5. 268 KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 7. 266

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lich von den gängigen Normen und Zielvorstellungen der Weisheit charakteristisch abheben.«269 Sie wollen nicht an das Paradies heranführen, sondern postulieren dessen Gegenwart. Es ist bereits Raum geschaffen, worin sich die Fürsorge Gottes konsequent durchsetzen kann. Diesen Raum bietet die alternative Praxis der Jesusbewegung, die sich am apokalyptischen Horizont der endgültigen Durchsetzung von Gottes Fürsorge orientiert. Überall dort, wo im Zentrum des menschlichen Handelns nicht mehr das Sichern des eigenen Überlebens steht, wo stattdessen den Bittenden gegeben und den Anklopfenden geöffnet wird (Mt 7,7 par Lk 11,9–10), ist jene Gebrochenheit der Welt überwunden, die die traditionelle Weisheit auf die Pfade derartiger Überlebenssicherung geführt hat, wie sie in Spr 6,6–8 unter der Evidenz der Ameisen zum Vorschein gekommen sind. Wenn Rondez für das Raben- und Lilienlogion die Parteiergreifung für das Lebensförderliche in der Welt sowie dessen auffordernden und existentiell betroffen machenden Charakter hervorhebt270, ist sie damit zweifellos auf der richtigen Spur, bleibt ohne Herstellung des Bezugs zur βασιλεία τοῦ θεοῦ aber immer noch in der Gebrochenheit dieser Welt gefangen. Demgegenüber sind auf der Geländekarte, die den jesuanischen Pfaden zugrunde liegt, die Koordinaten der absoluten Zukunft der βασιλεία τοῦ θεοῦ eingetragen, deren inhaltliche Ausgestaltung den paradiesischen Zuständen erstaunlich nahe kommt.271 Diese paradiesischen Zustände scheinen hier selbst zum apokalyptischen Horizont transformiert zu werden: Sie bilden die apokalyptische Kulisse für die radikale Forderung, das Reich Gottes zur ersten Priorität des Lebens zu machen und dies – so beschreibt es die Bergpredigt – in der täglichen Verwirklichung eines radikal ehrlichen, transparenten und uneigennützigen Tuns und Sprechens zu bestätigen.272

Trotzdem ist die paradiesische Schilderung einer sorglosen Welt nicht einfach identisch mit der Welt der apokalyptischen βασιλεία τοῦ θεοῦ. Der Unterschied kommt besonders in der Gewichtung der Gegenwart zum Vorschein. Ihr wird eine ganz andere Qualität verliehen, je nachdem, ob sich in ihr Chancen für paradiesische Freiräume eröffnen oder ob sie bloß Warteraum im Hinblick auf die absolute Zukunft der βασιλεία τοῦ θεοῦ ist. Erst wenn von den paradiesischen Urzuständen her gedacht wird, erhält die Gegenwart ihre eigene positive Bedeutung. Jesus hat diese Linien der traditionellen Weisheit dahingehend weiter gezogen, dass er die Gebrochenheit der Gegenwart bereits überwinden konnte, weil er auch von der absoluten Zukunft her gelebt und gedacht hat. Er hat dabei die Gegenwart selber aber gerade nicht hinter sich gelassen, sondern sie durch die alternative Praxis seiner Bewegung zum Ort

269 270 271 272

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 273. RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 96.106–107. KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 14. KÜCHLER, Weisheit der Paradiese 13.

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gemacht, an dem die βασιλεία τοῦ θεοῦ bereits fragmentarisch und anfanghaft gegenwärtig ist. Es zeigt sich deutlich, dass im jesuanischen Denken und Handeln nicht nur die apokalyptische Weisheit durch Einflüsse traditioneller Weisheit transformiert wird, sondern dass die Beeinflussungen auch in umgekehrter Richtung laufen. Die traditionelle Weisheit erfährt eine Radikalisierung durch den apokalyptischen Horizont, so dass die traditionell-weisheitlichen Freiräume, worin die Gegenwart fragmentarisch möglichst nahe an das verlorene Paradies herangeführt werden sollte, zu Orten vollends paradiesischer Zustände und damit zu anfanghaften Realisierungen jener neuen Wert- und Lebensordnung werden, die im apokalyptischen Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ als Orientierung aufscheint. Die Rückbindung der zukünftigen βασιλεία τοῦ θεοῦ an die Gegenwart durch die traditionelle Weisheit273 bewirkt, dass jesuanische Weisheit nicht verrückt erscheint, sondern aus einer Mischung von Irritation (Verzicht auf die Sorge um das eigene Überleben) und Faszination (paradiesische Zustände) heraus einen provokativen Charakter (Suche nach der βασιλεία τοῦ θεοῦ und ihrer alternativen Praxis im gegenwärtigen Kairos) gewinnt.274 3.6 Noch einmal: Jesus als Kyniker? Sorglosigkeit im interkulturellen Vergleich Der Verzicht auf das Bemühen um die eigene Nahrung und die eigene Kleidung zeigt unter soziologischer Betrachtung durchaus Berührungspunkte mit den kynischen Wanderpredigern, die nicht zu bestreiten sind. In einem Brief, den schon CICERO in den Tusculanischen Gesprächen (5,90) zitiert und der pseudepigraphisch ANACHARSIS zugeschrieben worden ist, kommt ihre Sorglosigkeit gut zum Ausdruck: »Meine Kleidung ist ein skythischer Überwurf, mein Schuh die Fußsohle, mein Bett die Erde, meine Delikatessen der Hunger …« (Pseudo-Anacharsis 5)275 Für das alltägliche Überleben waren natürlich auch

273 Auch bei Autoren wie WEDER, der die Bedeutung der Gegenwart in der (apokalyptischen) Verkündigung Jesu erkannt hat (»Das Zeitverständnis Jesu, wie es hier erscheint, ist charakterisiert dadurch, dass das Jetzt, das Unterwegssein, die entscheidende Zeit ist.« WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 51), wird zur Erklärung dieses Phänomens nicht konsequent genug auf die traditionelle Weisheit als zweite Quelle jesuanischen Denkens und Handelns eingegangen. 274 Auch RONDEZ stellt diese Provokation heraus, allerdings – wie oben im Haupttext angedeutet – im Rahmen einer gebrochenen Wirklichkeitswahrnehmung. Das Logion will nach ihr in eine »Wahrnehmungsperspektive« einweisen, »die auf das Lebensförderliche vertraut und sich davon leiten lässt. So in die Welt zu schauen und auf die Welt zuzugehen ist freilich ein Wagnis. Insofern bleibt das Logion eine Zumutung und Provokation.« (RONDEZ, Alltägliche Weisheit? 99) 275 Vgl. die Übersetzung bei LUCK, Die Weisheit der Hunde 288. Griechisch: MALHERBE, The Cynic Epistles 42.

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die Kyniker teilweise auf die Selbstversorgung aus der Natur, auf Betteln, freiwillige Versorgung durch Freunde und Gönner oder auf vorübergehende Arbeit angewiesen: »Einige brachten mir Geld, andere brachten Dinge, die Geldwert hatten, und viele luden mich zum Essen ein.« (Diog Ep. 38,3)276 Die etwa zeitgleich zu Jesus wiederum erstarkt auftretende Bewegung der Kyniker kann durchaus als Modell dienen, »auf Grund dessen bestimmte Züge der Jesusüberlieferung sich besser erklären lassen, wie es etwa durch das von THEISSEN etablierte soziologische Modell des Wanderradikalismus geschieht.«277 Insofern ist der religionsgeschichtliche Vergleich durchaus hilfreich und fruchtbar. Wie jedoch deutlich wurde, zielen die Logien von den Raben und Lilien nicht bloß auf die Situation der Wanderradikalen. Ihr Inhalt berührt ebenso die sesshaften SympathisantInnen und schließt sie zusammen mit den Wanderradikalen in die neue provokative Praxis der βασιλεία τοῦ θεοῦ ein. Diese neue Praxis und ihre Weisheit sperren sich aber inhaltlich gegen die kynische Alternative von Physis (Natur) und Nomos (Gesetz, gesellschaftliche Konvention)278, zumal die Natur bei Jesus ja nicht realiter, sondern bloß im paradiesischen Urzustand in den Blick gerät (anders als bei den Kynikern). Während die Kyniker durch ihr Sozialverhalten bloß eine »Irritierung«279 bewirken, gesellt sich bei Jesus die Faszination paradiesischer Zustände dazu, welche die traditionellen Denkmustern radikalisiert und sie in dieser Form wiederum in der Gegenwart provokativ zur Geltung bringt.280 Somit wird es schwierig, für die Jesusbewegung und die Kyniker »zugleich eine inhaltliche Verwandtschaft zu postulieren«281 oder Jesus gar zum Kyniker zu machen.

276

Übersetzung nach LUCK, Die Weisheit der Hunde 188. Griechisch: MALHERBE, The Cynic Epistles 160. 277 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 29. 278 »Die Kyniker ziehen aus der vom Nomos bestimmten Polis aus und konfrontieren sie gleichzeitig mit den Slogans und der Praxis ihrer von der Physis bestimmten Lebensordnung.« (EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 402) 279 EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 402. 280 EBNER zielt grundsätzlich in die gleiche Stoßrichtung; er spricht aber davon, dass »Jesus gleichzeitig [d. h. neben den subversiven Zügen] den gewohnten Denkmustern verhaftet bleibt« (Jesus – ein Weisheitslehrer? 416) und übersieht dabei, dass diese gewohnten Denkmuster gerade im Raben- und Lilienlogion durch ihr Hineinwachsen in den apokalyptischen Horizont zur neuen gegenwärtigen Praxis der βασιλεία τοῦ θεοῦ hin radikalisiert werden. 281 Einigkeit mit EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 29. Vgl. auch 416.

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4. Das erweiterte Potential des traditionell-weisheitlichen Nährbodens unter apokalyptischem Horizont Während die traditionellen Weisheitskonzeptionen den Menschen in einer gebrochenen Wirklichkeit Wege der fragmentarischen Annäherung an die verlorenen paradiesischen Zustände zu eröffnen versuchen, scheint jesuanische Weisheit ein größeres Potential dieses traditionell-weisheitlichen Nährbodens offen zu legen. Folgende Kernaussagen können dazu formuliert werden: 1. Traditionell-weisheitliche Leitkonzepte im Umgang mit Reichtum und Besitz sowie der Sorge um das alltäglich Überlebensnotwendige erfahren bei Jesus eine Radikalisierung im Hinblick auf jene neue Wertordnung der βασιλεία τοῦ θεοῦ, die für eine positive Würdigung von Reichtum keinen Platz mehr aufzuweisen hat.282 2. Dabei wird bei Jesus die Faszination traditioneller Weisheitskonzepte oder ihrer Wurzeln (Sozialpflicht des Eigentums bei Mk 10,25parr; Alltagsevidenz bei Mt 6,24par; paradiesische Zustände bei Mt 6,26.28–30par) geschickt mit der Irritation subversiver Tendenzen (apokalyptische Evidenz der Unvereinbarkeit von Reichtum und Königsherrschaft bei Mk 10,25parr sowie von Gott und Mammon bei Mt 6,24par; Sorglosigkeit bezüglich Nahrung und Kleidung bei Mt 6,26.28–30par) verknüpft, was die traditionelle Weisheitsperspektive bis an die Grenze apokalyptischer Weisheit heranführt. 3. Aus der Verbindung von Faszination und Irritation ergibt sich eine provokative jesuanische Praxis, in der die eigene Nahrung und Kleidung nicht zu den bestimmenden Kategorien des Handelns werden (Mt 6,25.33par), sondern ein radikal uneigennütziger und solidarischer Umgang mit Besitz gesucht wird, der nicht irdische Schätze sammelt (Mt 6,19), sondern alles aufgibt und dafür schon im gegenwärtigen Kairos das Vielfache zurück erhält (bei Mk 10,25parr). 4. Die so entfaltete provokative Praxis integriert verschiedene soziale Rollen (WandercharismatikerInnen, sesshafte SympathisantInnen) und entwirft einen Handlungshorizont, der sich nicht auf die eine oder andere Gruppe einschränken lässt. 5. Durch die provokative jesuanische Praxis werden die fragmentarischen Freiräume der Annäherung an das Paradies zu vollends paradiesischen Freiräumen, worin die neue Wirklichkeit der βασιλεία τοῦ θεοῦ schon in die Traditionelle »Weisheit ist bei Jesus so selbstverschärft, dass sie – unter dem Eindruck der nahen βασιλεία – ihre innerweltliche Genügsamkeit sprengt und die weisheitliche Logik in eschatologische Entschiedenheit weiterführt.« (KÜCHLER, Frühjüdische Weisheitstraditionen 583) 282

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Das erweiterte Potential des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

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Gegenwart hineinragt. Die Gebrochenheit der Gegenwart wird dadurch überwunden. 6. Dass Jesus die in diesem Sinn transformierten traditionellen Weisheitskonzeptionen beibehält, ist der entscheidende sachliche Grund dafür, dass die Gegenwart ihren Platz unter dem apokalyptischen Horizont behaupten kann. Da die Gegenwart das Potential fragmentarischer paradiesischer Freiräume birgt, kann sie sich nicht verflüchtigen in eine für die Auserwählten heile apokalyptische Zukunft; sie bleibt vielmehr der Kairos, womit der apokalyptische Horizont in der neuen Praxis der βασιλεία τοῦ θεοῦ verschmilzt. WEDER zielt in die gleiche Richtung, auch wenn er etwas zögerlich ist, die traditionell-weisheitliche Seite der Verkündigung Jesu als solche beim Namen zu nennen: »Die sogenannte weisheitliche Seite der Verkündigung Jesu nimmt das Moment des Kreativen inmitten der alten Welt wahr.«283 Dies vermag auch er mit der Gegenwart der Gottesherrschaft in Verbindung zu bringen, so dass gerade vor dem Hintergrund des Lilienlogions zustimmend zur Kenntnis genommen werden kann: Jesus entdeckt in der Dynamik des Wachstums jene Lebensordnung, die von derselben Kreativität Zeugnis ablegt, die das Gottesreich vollendet bestimmt. […] Diese Wahrnehmung Gottes im schöpferischen Fragment des Alltags passt genau zur Aussage, dass die Gottesherrschaft im befreienden Tun Jesu bis in die Gegenwart hereinreicht. Die jetzt erfahrbaren Fragmente der Lebensmacht sind es, die auf ihren endgültigen Sieg hoffen lassen. Eine solche Wahrnehmung des gegenwärtigen Äons begegnet gerade in der Apokalyptik nicht.284

Die Darstellung der Konzeption der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ gemäß WEDER nimmt zwar ebenso eine mustergültige Abgrenzung gegenüber der apokalyptischen Weisheit durch das Herausstreichen des Verständnisses der Gegenwart vor, entwickelt die Bedeutung der Gegenwart jedoch nicht aus den traditionell-weisheitlichen Konzeptionen heraus. Es wird zwar Raum gelassen, den die »sogenannte weisheitliche Seite«285 jesuanischer Verkündigung innerhalb der βασιλεία-Konzeption einnehmen kann. Dass aber gerade die Tatsache, dass jesuanische Weisheit vom freilich transformierten traditionell-weisheitlichen Nährboden zehrt, dafür verantwortlich ist, dass der apokalyptische Horizont an die Gegenwart heranreichen kann, lassen seine Ausführungen noch nicht erahnen.

283 284 285

WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 57. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 58. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 57.

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

5. Eine zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus Das allmählich in genaueren Konturen greifbare Verständnis jesuanischer Weisheit aus traditionell-weisheitlichem Nährboden vor apokalyptischem Horizont kommt mit zweierlei Deutungen jesuanischer Weisheit in Konflikt: (1) Auf der einen Seite mit einer apokalyptischen Deutung Jesu, die zwar die Gegenwart in ihrer Bedeutung erkennt, diese Bedeutung aber aus einer apokalyptischen Konstruktion heraus erschließt und sich dem Einbezug traditioneller Weisheitskonzeptionen explizit verschließt (MERKLEIN); (2) auf der anderen Seite mit einer traditionell-weisheitlichen Interpretation, welche die Transformation eben dieser Weisheit wie bei den Logien von den Raben und Lilien schlichtweg ignoriert oder – falls sie erkannt wird – unzureichend auf den apokalyptischen Horizont hin erweitert (EBNER, RONDEZ). An beiden Positionen muss unsere Darstellung gemessen und geschliffen werden; dabei ist zu hoffen, dass sie nicht zu viele Kratzer davon tragen wird, sondern durch den Einbezug der einen oder anderen zusätzlichen Erkenntnis weiteren Glanz gewinnen kann. 5.1 Verzicht auf traditionelle Weisheitskonzeptionen (MERKLEIN) Während WEDER keine apokalyptische Theorie zur Erklärung der Gegenwartsbedeutung der Gottesherrschaft aufstellt und es bei ihm somit offen bleibt, wieso die Gottesherrschaft an die Gegenwart heranreicht, bietet MERKLEIN gleich einen sachlichen und einen subjektiven Ermöglichungsgrund in apokalyptischen Denkmustern an, um die »Heilszusage in der Gegenwart«286 und das damit verbundene »Geschehensereignis der Gottesherrschaft«287 in der Gegenwart plausibel zu machen. Entsprechend findet die traditionelle Weisheit keinen Platz mehr: Dass Jesus zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters besonders gerne auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungswirklichkeit – auf ›die Vögel des Himmels‹ und ›die Lilien (des Feldes)‹ (Lk 12,24.27 f par Mt 6,26.28–30) – zurückgreift (vgl. auch Lk 12,6 f par Mt 10,29–31), kann nicht bedeuten, dass er neben eschatologischen Aussagen auch weisheitliche gemacht hat. Dies wäre eine kurzschlüssige Auswertung des formkritischen Befundes.288

Stattdessen werden auch diese Logien im Rahmen des sachlichen apokalyptischen Ermöglichungsgrundes gedeutet. Dieser beruht (bei aller Verschiedenheit) auf derselben »anthropologischen Prämisse«289, wie sie auch der Verkündigung Johannes’ des Täufers zugrunde lag: Israel ist in seinem gegenwärtigen 286 287 288 289

MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 59. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 62. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 88. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 34.

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Zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus

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Zustand von Gottes Gericht bedroht und kann sich »wegen seiner Sünden nicht mehr auf die Abrahamskindschaft berufen«, »um ein künftiges Heil zu reklamieren.«290 Als Konsequenz forderte Johannes zu einer radikalen Umkehr und der »Anerkennung des eigenen sündigen Status«291 auf, was in der Wassertaufe seinen sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Während Johannes Israel damit eine Möglichkeit eröffnen wollte, dem zukünftigen drohenden Gericht zu entkommen, »wagt es Jesus, für Israel, das eigentlich das Gericht zu erwarten hätte, eine neue, von Gott gesetzte Wirklichkeit des Heils anzusagen.«292 Diese »theo-logische Neuqualifizierung Israels«293 setzt einen Bedeutungsverlust des aktuellen Sünderstatus’ Israels voraus; offenbar wurde es von Gott von neuem zum diesmal eschatologisch-endgültigen »Heilskollektiv«294 erkoren. Da dieser Heilsstatus unwiderruflich zugesprochen wird, kann Jesus die Heilszusage der Gottesherrschaft bereits für die Gegenwart proklamieren. Entsprechend werden nun die Logien von den Raben und Lilien in diesem apokalyptischen Grundmuster gedeutet. Wenn Gott schon die vergängliche Kreatur umsorgt, um wie viel mehr Israel, das sich auf Gottes erwählendes Handeln und die daraus resultierende Heilszusage stützen kann? »Sich von der Sorge um das Lebensnotwendige bestimmen zu lassen, ist Sache der Heiden (Lk 12,30a par), denen eine natürliche göttliche Fürsorge – nicht zuletzt wegen ihrer weisheitlichen Evidenz – gewiss nicht unbekannt war!«295 Aber Israel hat dies nicht nötig! Ganz abgesehen davon, dass diese Deutung der bereits diskutierten naiven Wirklichkeitswahrnehmung auf den Leim geht, zeigt sich darin auch ein realitätsfremdes Verständnis von Gottesherrschaft, das die Bodenhaftung des traditionell-weisheitlichen Denkens gefährlich zu vernachlässigen droht. Wie kann die Gewissheit des Erwählungshandelns das alltägliche Überleben so ausblenden, wie es bei MERKLEIN geschieht? Letztendlich erhält die Gegenwart mit ihrem alltäglichen Kampf ums Überleben in dieser Konzeption doch nicht jene Bedeutung, die Jesus selbst ihr zugesprochen hat. Sie gewinnt ihre Bedeutung erst aufgrund ihres erweiterten traditionell-weisheitlichen Potentials, das fragmentarische Freiräume paradie290

MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 33. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 33. 292 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 52. 293 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 53. 294 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 52. 295 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 88. EBNER stellt dazu zu Recht die Anfrage: »Will MERKLEIN zudem sagen: Während den Heiden mit der weisheitlichen Evidenz eine theologische Erkenntnisgrenze gesetzt ist, habe Israel in der Verkündigung Jesu die Gewissheit des Erwählungshandelns Gottes?« (EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 7) Zur gesamten Kritik von EBNER zur Position MERKLEINS: Jesus – ein Weisheitslehrer 5–8. Allerdings geht die Kritik zu weit, denn den Rekurs auf die βασιλεία τοῦ θεοῦ macht MERKLEIN zurecht, jedoch bleibt er zu einseitig und ohne das Herstellen eines Bezugs zu transformierten traditionell-weisheitlichen Konzeptionen. 291

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Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens

sischer Zustände eröffnet und darin mit dem apokalyptisch-weisheitlichen Horizont punktuell verschmilzt. Darin ist der sachliche Ermöglichungsgrund für die jesuanische Heilszusage in der Gegenwart zu sehen. Mehr Zustimmung kann gewährt werden, wenn MERKLEINs subjektiver Ermöglichungsgrund für die Heilsbedeutung der Gegenwart bei Jesus in den Blick genommen wird. Im Anschluss an die Jüngeraussendung überliefert Lk in 10,18 einen Ausspruch Jesu, der innerhalb des apokalyptischen Denkmusters und zugleich in dessen Durchbrechung der Gegenwart neue Bedeutung gewähren kann: »Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.« Charakteristisch ist in dieser Aussage, dass hier etwas bereits geschehen ist, was der apokalyptische Weise erst für die Zukunft der Endzeit erwartet: »Der himmlische Entscheidungskampf ist entschieden, Satan ist entmachtet.«296 Deshalb kann sich auch auf der Erde Gottes Herrschaft durchsetzen und die ausgesendeten Jüngerinnen und Jünger Jesu können zurückkehren und voller Freude berichten: »Herr, sogar die Dämonen gehorchen uns!« (Lk 10,17) »Das Wirken Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger ist nicht als Kampf gegen Satan und seine Dämonen zu deuten. Vielmehr bestätigt es die bereits erfolgte Entmachtung des Bösen.«297 Ob dieser Ausspruch als Schlüsselerlebnis am Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu gestanden hat298 und er somit als Ermöglichungsgrund »für Jesu eigenständige Wirksamkeit und seine spezifische Verkündigung von der Gottesherrschaft«299 fungiert, ist aufgrund der Quellenlage nicht mehr sicher nachzuweisen. Es könnte sich ebenso gut um eine »prophetische Interpretation«300 handeln, die das aufdeckt, was den Dämonenaustreibungen Jesu und der damit verbundenen Heilsermöglichung in der Gegenwart letztlich zugrunde liegt. Die Vorstellung des Satanssturzes geht einher mit einem Verständnis, welches der Gegenwart ihren eigenständigen Platz vor apokalyptischem Horizont zugesteht. Eine solche Vision Jesu (oder Deutung dieser Vision) ist somit kohärent mit derjenigen Bedeutung der Gegenwart, die hier aufgrund des erweiterten Potentials des traditionell-weisheitlichen Nährbodens aufgewiesen wurde. Wo genau der Platz dieser Vision in der Entwicklung des jesuanischen Ineinanders von traditionell-weisheitlichem Nährboden und apokalyptischweisheitlichem Horizont zu suchen ist, kann meines Erachtens nicht mehr bestimmt werden. Hat der Satanssturz Jesus im apokalyptischen Umfeld des

296

MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 61. VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft, in: Bibel und Kirche 62/2 (2007) 79. 298 EBNER, Jesus von Nazareth in seiner Zeit 100 ff. 299 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 62. 300 VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft, in: Bibel und Kirche 62/2 (2007) 79. Unter anderem vertritt diese Position BECKER, Jesus von Nazareth 132 f. 297

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Zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus

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Johannes die Möglichkeit eröffnet, sich loszulösen, sich wieder der traditionellen Weisheit zuzuwenden und sie transformiert unter apokalyptischem Horizont zur Geltung zu bringen? Oder hat umgekehrt die Transformation der traditionellen Weisheitskonzeptionen die Vorstellung vom Satanssturz provoziert, so dass eine Verbindung mit dem apokalyptischen Horizont erst ermöglicht wurde? Diese Fragen sind nicht zu entscheiden; entscheidend sind sie letztlich ebenfalls nicht. Vielleicht ist die MERKLEINsche Terminologie des subjektiven Ermöglichungsgrundes am besten geeignet, die Bedeutung des Satanssturzes zu erfassen. Auch bei ihm zeigt sich aber, dass dies allein noch nicht genügt und ein sachlicher Ermöglichungsgrund für die Heilsbedeutung der Gegenwart gefunden werden muss. Während er selbst diesen in apokalyptischen Szenarien erkennt, wird hier die traditionell-weisheitliche Perspektive mit ihrem Potential fragmentarischer paradiesischer Freiräume in der Gegenwart dafür verantwortlich gemacht. 5.2 Traditionelle Weisheit ohne apokalyptischen Horizont (EBNER) EBNER wirft MERKLEIN vor, den apokalyptischen Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ an Logien heranzutragen, wo dieser Bezug entweder nicht gegeben oder redaktionsgeschichtlich sekundär herangetragen worden sei. Dieser Vorwurf muss auch die in dieser Arbeit vertretene Position treffen. Die grundsätzliche Stoßrichtung EBNERs wird an folgender Aussage deutlich, die er abschließend zur Diskussion von MERKLEINs Position äußert: »Vielleicht ist eine traditionsgeschichtliche Lösung einfacher und textnäher als eine theologische!«301 Wie bereits aufgezeigt worden ist, kommt eine traditionsgeschichtliche Lösung mit den isolierten Raben- und Lilienlogien aber nicht um das Problem umhin, dass die sich in den Logien ausdrückende Wirklichkeitswahrnehmung höchst einseitig ist. Sie bewegt sich somit nicht einfach auf der Schiene traditioneller Weisheit, sondern nimmt – wie RONDEZ zu Recht festhält – in Ausblendung aller Ambivalenz einseitig Stellung für das Lebensförderliche in der realen Gegenwart. Dass dies möglich ist, kann meines Erachtens am besten erklärt werden, wenn der apokalyptisch-weisheitliche Horizont mit bedacht wird.

301

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 8.

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

III. Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ: Vom Glauben, der Berge versetzt Das Logion vom Berge versetzenden Glauben, das mit einem Bild spielt, welches in seiner Radikalität schier unüberbietbar daherkommt, bringt provokative jesuanische Weisheit gewissermaßen auf den Punkt, jedenfalls so weit, wie dies überhaupt möglich ist. Wird das Logion insbesondere von seinem apokalyptisch-weisheitlichen Motivinventar her entschlüsselt, wird seine weitreichende Bedeutung für das Verständnis jesuanischer Weisheit offensichtlich: Im gegenwärtigen Kairos eröffnet sich den Jüngerinnen und Jüngern Jesu ein enormes Potential lebensförderlicher Dynamik, die nur aus der Verwurzelung im traditionell-weisheitlichen Nährboden und der Ausrichtung auf den apokalyptisch-weisheitlichen Horizont heraus verstanden und – dazu fordert das Logion in der jesuanischen Verkündigung auf – ausgeschöpft werden kann. Es wird dabei noch deutlicher werden, welches Gewicht die Gegenwart in weltanschaulicher Hinsicht in jesuanischer Option gewinnt und welche daraus resultierende befreiende und heilende Praxis jene Freiräume eröffnen kann, in denen die βασιλεία τοῦ θεοῦ Raum zu gewinnen vermag. 1. Das Logion vom Berge versetzenden Glauben: Mk 11,23 par Mt 21,21; Lk 17,6; Mt 17,20 1.1 Vorkommen, Redaktions- und Traditionslinien Die synoptischen Evangelien beinhalten viermal ein Logion, in dem der Glaube, bzw. das, was er bewirkt, im Zentrum steht. Das Logion gehört somit zu den »Doppelüberlieferungen«, die sowohl in Q als auch in Mk überliefert sind: »Mk 11,23 und Mt 21,21b spiegeln den einen, Lk 17,6b und Mt 17,20b den anderen Überlieferungsstrang wider.«302 In Mk 11,23 par Mt 21,21b ist das Logion (weisheitliche Mahnung303) unmittelbar anschließend an das Verdorren des Feigenbaumes und den Aufruf, Glauben an Gott zu haben, situiert: Mk 11,23:304 Amen, ich sage euch:

Wer immer zu diesem Berg spricht:

302 303 304

Mt 21,21b: Amen, ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht allein das des Feigenbaums tun, sondern auch wenn ihr zu diesem Berg sprecht:

ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 271. VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 231. Der griechische Text findet sich im Übersichtsschema weiter unten.

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Das Logion vom Berge versetzenden Glauben

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werde hochgehoben und ins Meer gewor- werde hochgehoben und ins Meer geworfen, fen, und nicht zweifelt in seinem Herzen, sondern glaubt, dass das, was er spricht, geschieht, ihm wird es zuteilwerden. wird es geschehen.

In Mk 11,23 ist der mit dem einleitenden ἀμὴν λέγω ὑμῖν formal weisheitlich305 gefärbte Spruch vom Glauben, der Berge versetzt, in der 3. Person Singular formuliert. Syntaktisch306 besteht der Spruch in der Protasis aus einem konditionalen Relativsatz (ὃς ἂν εἴπῃ [Konj. Aor.]…) mit direkter Rede (Ἄρθητι καὶ βλήθητι εἰς τὴν θάλασσαν) sowie einer negativen und positiven Zusatzbedingung (μὴ… – ἀλλά…). Es folgt die futurische Apodosis (ἔσται αὐτῷ). Mt 21,21b übernimmt in der Makrostruktur des Logions die mk Fassung, indem das Glaubensmotiv, das Zweifelsmotiv und die Anrede an den Berg in Konditionalsätzen formuliert werden, wobei der kurze Hauptsatz nur noch die Erfüllung des Befohlenen angibt. Statt eines konditionalen Relativsatzes verwendet Mt einen mit ἐάν eingeleiteten Konditionalsatz, weil er das ganze Logion in direkter Anrede in zweiter Person Plural formuliert. Damit gleicht Mt »an 17,20 an, wo er das Logion vom Berge versetzenden Glauben schon einmal gebracht hatte.«307 Die Angleichung wird am deutlichsten zu Beginn des Konditionalsatzes: ἐὰν ἔχητε πίστιν. Dass Mt den Imperativ ἔχετε πίστιν θεοῦ von Mk 11,22 durch den Beginn von Mt 17,20 ersetzt, hat seinen Grund darin, dass Mt formal nie durch Imperative zum Glauben auffordert. Das mk Motiv des Zweifelns rückt daher mit dem ἔχειν πίστιν auch nach vorne, gefolgt vom redaktionellen Hinweis auf den vorhergehenden Kontext, womit eine explizite Bezugnahme auf das Feigenbaumwunder in das mk Logion eingebaut wird. Im Rahmen einer Jüngerbelehrung in Lk 17,1–10 sowie einer Heilungsgeschichte in Mt 17,14–21 wird der zweite Überlieferungsstrang des Logions vom Glauben fassbar, wobei seine Form diesmal aufgrund des expliziten Vergleichs des Glaubens mit dem Senfkorn bei von Lips als Vergleich bestimmt wird308. Nebst dem Motiv des versetzten Berges tritt das neue Motiv des verpflanzten συκάμινος auf: 305 »Das Amen-Wort hat weisheitlichen Charakter« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203). »Das Amen verstärkt die Unfehlbarkeit der Zusage« (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134). 306 Diese Analyse greift zurück auf: PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203. 307 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 212. Eine weitergehende Angleichung ist in der Textgeschichte festzustellen, so beim Textzeugen Φ, der sekundär in vollständiger Übereinstimmung liest: »Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn«. 308 VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament 208.

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Lk 17,6:

Mt 17,20 Amen, denn ich sage euch: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, würdet ihr zu [diesem] Maulbeerbaum werdet ihr zu diesem Berg sprechen: sprechen: werde entwurzelt und ans Meer gepflanzt; geh fort von hier nach dort, und er würde euch gehorchen. und er wird fortgehen; und nichts wird euch unmöglich sein.

Obwohl Lk 17,6 im verwendeten Bildwort erheblich von Mt 17,20 abweicht, bleiben signifikante Gemeinsamkeiten zwischen beiden Logien bestehen:309 – Die Satzstruktur ist identisch: auf einen Konditionalsatz (εἰ ἔχετέ bzw. ἐὰν ἔχητε) folgt der Hauptsatz mit dem Verb λέγω (ἐλέγετε ἄν, bzw. ἐρεῖτε) und einer direkten imperativischen Anrede des im Dativ genannten Objektes. Es folgt die Ausführung dessen, wozu das Objekt in der direkten Anrede aufgefordert worden ist. – Am auffälligsten ist das gemeinsame Akkusativobjekt des Verbs ἔχω im Konditionalsatz: πίστιν ὡς κόκκον σινάπεως. – Beide Dativ-Objekte des Hauptsatzes (ὄρος, bzw. συκάμινος) sind Elemente der Natur, mit denen ein außergewöhnlicher Umgang vorgeschlagen wird. – »Charakteristisch ist hier wie dort die paränetische Formulierung«310 in 3. Person Plural. Aufgrund dieser Beobachtungen wird eine gemeinsame Vorlage für Mt 17,20 und Lk 17,6 in der Spruchquelle Q angenommen. Es stellt sich dabei die Frage, welches Motiv in Q gestanden hat: ὄρος oder συκάμινος (mit entsprechender Anrede)? Dass in Q 17,6311 Lk der Vorzug gegeben wird, ist überzeugend312. Das Motiv der Verpflanzung des συκάμινος ist ebenso plausibel und steht ebenso in jüdischer Tradition wie die Versetzung des ὄρος. Dabei lässt sich die Ersetzung des συκάμινος-Motivs in Mt 17,20 durch das ὄρος-Motiv ohne Schwierigkeiten erklären, während eine Erklärung des umgekehrten Vorgangs in Lk 17,6 nicht gegeben werden kann.313

309

Vgl. ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 270. ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 270. 311 HOFFMANN/HEIL, Die Spruchquelle Q 104. 312 ZMIJEWSKI sieht bei den verwendeten Tempora die Ursprünglichkeit von Q jedoch bei Mt 17,20 erhalten, auch wenn die Entscheidung »nicht leicht fällt«. Lukas schreibe öfters εἰ für ἐάν. ἐλέγετε ἄν ist als formaler Irrealis (eher als Potentialis zu verstehen) eine »Abschwächung« des mt Futurs, aufgrund des lk Kontextes des Spruchs (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 272). 313 So auch: SÖDING, Glaube bei Markus,326. ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 273. 310

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Das Logion vom Berge versetzenden Glauben

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Mt hat nun in 17,20 in das Q-Logion das Motiv der versetzten Berge eingetragen, das er aus Mk 11,23 kannte und auch selber für Mt 21,21 übernimmt.314 Wie Mk leitet er mit einer Amen-Formel ein. Den Dativ τῷ ὄρει τούτῳ übernimmt er ebenfalls wörtlich von seiner Vorlage. Die Aufforderung an den Berg hat er nicht wörtlich von Mk übernommen (er konnte jedoch auch die Q-Vorlage nicht übernehmen, weil diese Verben nicht zum Berg gepasst hätten), sondern neu (kürzer und allgemeiner, damit auch weniger originell) formuliert: Μετάβα ἔνθεν ἐκεῖ. Mk kennt das Verb μεταβαίνω (anderswohin gehen, weggehen) überhaupt nicht, Mt verwendet es hingegen fünfmal,315 Lk nur einmal (10,7); daher ist die Formulierung in V. 20 eindeutig als mt Konstruktion erkennbar. Entsprechend spricht Mt dann auch nicht vom Gehorchen des Berges (wie Lk), sondern schreibt: καὶ μεταβήσεται. Indem Mt das Mk-Motiv in die Struktur des Q-Logions einträgt, rückt die Anrede an den Berg in den Hauptsatz (im Unterschied zu Mk 11,23, wo sie im konditionalen Relativsatz steht). Die πίστις ist so das einzige Objekt des Bedingungssatzes, analog Q Lk 17,6. Daraus folgt das futurische Geschehen im Hauptsatz, das zweiteilig aus der Anrede an den Berg und der Erfüllung des Befehls besteht. Das Schema (s. u.) versucht, die redaktionsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den synoptischen Evangelien bezüglich unseres Logions zu veranschaulichen. Es zeigt, dass das Bildwort vom συκάμινος der Spruchquelle Q, das Bildwort vom ὄρος Mk zugeordnet werden muss.316 Ob beide Logien auf Jesus zurückgehen oder ob eines von ihnen sekundär vom anderen abgeleitet ist, sind Fragen, die sich nicht mehr redaktionskritisch behandeln lassen, sondern bei denen man auf traditionsgeschichtliche Überlegungen verwiesen ist. Wenn das dargestellte redaktionsgeschichtliche Schema akzeptiert wird, bieten sich grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten an, wenn nach dem Wortlaut des ursprünglichen Logions Jesu zurückgefragt werden soll, wobei 314 Mt ist »auch sonst bemüht, parallele Überlieferungen einander anzugleichen« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 105). 315 »Mit μεταβαίνειν führt er [Mt] eine Vokabel ein, die er auch sonst durchweg redaktionell gebraucht (8,34; 11,1; 12,9; 15,29)« (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 274). 316 Dies wird in den allermeisten Kommentaren bestätigt. Dagegen spricht DERRETT von einer weit verbreiteten Ansicht (die er dann natürlich auch für falsch hält), dass Q auch das Berg-Motiv beinhaltet habe: »Moreover, did Mark and Q have versions of the same saying(s)? And did Matthew adapt a Q saying which Luke, for his part, transmitted faithfully? This is widely believed« (DERRETT, Moving Mountains 28). Wahrscheinlich denkt er dabei u. a. an HAHN, der in der Tat davon ausgeht, dass auch in der Q-Tradition ursprünglich das Motiv vom Berg gestanden habe. Lk habe daher auf einen bereits verfälschten Strang der Q-Tradition zurückgegriffen, bei dem das Berg-Motiv durch das Sykaminos-Motiv ersetzt worden sei: »Das bedeutet, dass der Text der Logienquelle offensichtlich nicht einheitlich war, sofern Lukas nicht Sondertradition bevorzugt hat. Dass Matthäus in 17,20 an die Markusfassung angeglichen hat, ist in diesem Falle unwahrscheinlich« (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 158).

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Logion Jesu?

Logion Jesu?

Spruch vom Berge versetzenden Glauben317 Mk 11,23 ἔχετε πίστιν θεοῦ.

ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι ὃς ἂν εἴπῃ τῷ ὄρει τούτῳ, ἄρθητι καὶ βλήθητι εἰς τὴν θάλασσαν, καὶ μὴ διακριθῇ ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ ἀλλὰ πιστεύῃ ὅτι ὃ λαλεῖ γίνεται, ἔσται αὐτῷ.

Logion Jesu?

Spruch vom Senfkornglauben, der den συκάμινος versetzt318 Q

Mt 21,21

Mt 17,20

Lk 17,6

᾽Αμὴν λέγω ὑμῖν, ἐὰν ἔχητε πίστιν καὶ μὴ διακριθῆτε, οὐ μόνον τὸ τῆς συκῆς ποιήσετε, ἀλλὰ κἂν τῷ ὄρει τούτῳ εἴπητε, Ἄρθητι καὶ βλήθητι εἰς τὴν θάλασσαν, γενήσεται·

ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν, ἐὰν ἔχητε πίστιν ὡς κόκκον σινάπεως,

εἶπεν δὲ ὁ κύριος, Εἰ ἔχετε πίστιν ὡς κόκκον σινάπεως,

ἐρεῖτε τῷ ὄρει τούτῳ, Μετάβα ἔνθεν ἐκεῖ, καὶ μεταβήσεται· καὶ οὐδὲν ἀδυνατήσει ὑμῖν.

ἐλέγετε ἂν319 τῇ συκαμίνῳ [ταύτῃ], ᾽Εκριζώθητι καὶ φυτεύθητι ἐν τῇ θαλάσσῃ· καὶ ὑπήκουσεν ἂν ὑμῖν.

Legende: schattiert = mk Logion; unterstrichen = Q-Logion; kursiv = mt Redaktion. 317 Verschiedene Autoren fragen weiter nach der Urform dieses mk Logions zurück, so u. a. ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 275–280. Es gibt dazu aber keine verlässlichen Anhaltspunkte, so dass ich es hier nicht für nötig halte, die Argumente einzeln nachzuzeichnen. Dem Ergebnis dieser Untersuchungen kann aber zugestimmt werden: »Man wird also annehmen dürfen, dass das Logion des markinischen Traditionsstrangs von Anfang an den gleichen Wortlaut hatte, wie er uns in Mk 11,23 begegnet« (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 280). 318 Es wird hierfür die Formulierung von Lk 17,6 postuliert. ZMIJEWSKI schlägt eine Mischversion vor: ἐὰν ἔχητε πίστιν ὡς κόκκον σινάπεως, ἐρεῖτε τῇ συκαμίνῳ ταύτῃ, ᾽Εκριζώθητι καὶ φυτεύθητι ἐν τῇ θαλάσσῃ· καὶ ὑπακούσει ὑμῖν. 319 Codex Bezae (D) wird dann hier das Logion vom Bergeversetzen einschieben: τω ορει τουτω· μεταβε εντευθεν εκει, και μετεβανεν. D lässt danach beim Wort über den Maulbeerbaum den ersten Imperativ aus und ändert den zweiten ab (μεταφυτευθητι εις την θαλασσαν).

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Das Logion vom Berge versetzenden Glauben

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vor allem interessiert, welches Bild (Berg oder Sykamine) er verwendet haben könnte: (1) Das Q- und das Mk-Logion gehen auf ein gemeinsames jesuanisches Ur-Logion zurück, das entweder das Motiv des Berges oder des Maulbeerbaumes beinhaltete. (2) Das Q- und das Mk-Logion gehen auf ein gemeinsames jesuanisches Logion zurück, das beide Motive in sich vereinigte. (3) Das Q- und das Mk-Logion gehen auf zwei verschiedene eigenständige JesusWorte zurück. In der Forschungsgeschichte sind alle drei Positionen vertreten worden. Es soll nun versucht werden, einige Grundzüge der Argumentation für die eine oder andere Position aufzuzeigen. (1) Obwohl prinzipiell nicht auszuschließen ist, dass Jesus das Logion mehrmals gebraucht hat, »so bleibt doch die Frage, ob dabei ein konstitutives Element des Logions einfach ausgetauscht werden konnte. Sehr viel eher erklärt sich dies doch im Prozess der Überlieferung. So muss man sich hinsichtlich der Ursprünglichkeit zwischen der einen oder anderen Fassung entscheiden.«320 Diese Auffassung ist in den Kommentaren am weitesten verbreitet. Welche Fassung nun aber die ursprüngliche sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. HAHN321, der jedoch obenstehendes redaktionsgeschichtliches Modell nicht akzeptieren würde, plädiert für die Ursprünglichkeit des Motivs vom Versetzen des Berges. Sein Hauptargument besteht nicht darin, dass die »Fassung mit ὄρος sehr viel breiter gestreut«322 ist, sondern dass (a) das Motiv alttestamentlich und frühjüdisch in Zusammenhang mit Gottes eschatologischem Handeln steht und somit zu Jesu Verkündigung passt und dass (b) das Versetztwerden ins Meer im jüdischen Vergleichsmaterial keinerlei Entsprechung hat, jedoch ausgezeichnet zum Motiv des Berges passt.323 Dieses letzte Teilargument benutzt auch Pesch324, um ebenfalls auf die Ursprünglichkeit von Mk hinzuweisen, dies unter Zustimmung zum oben skizzierten redaktionsgeschichtlichen Modell. Das Argument ist jedoch nicht überzeugend, weil der Ausdruck ἐν τῇ θαλάσσῃ beim Maulbeerbaum auch »ans Meer« heißen kann und dadurch ebenso gut zum Maulbeerbaum wie zum Berg passt. Die Mehrzahl der Autoren325 gehen gegen PESCH und HAHN davon aus, dass sich das ursprüngliche Bild im Maulbeerbaum von Q erhalten hat. HAHNs Argument des häufigeren Vorkommens des Bildwortes vom Bergversetzen

320

HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 156. HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 153–160. 322 Diese weite Verbreitung könnte sich auch erst im griechisch sprechenden Bereich durchgesetzt haben (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 156). 323 HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 157. 324 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 202–206. Dieses Teilargument s.205. 325 GNILKA, Evangelium nach Markus Mk 8,27–16,20 (EKK II,2), 133. ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 280–282. SÖDING, Glaube bei Markus 326. GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 105–106. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 520–521. 321

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sowohl im AT als auch im NT verwenden sie gegen ihn und heben gegen dieses »sprichwörtliche und weniger originelle«326 Bild den Maulbeerbaum als »schwierigere Version«327 und daher als ursprünglich hervor.328 Das Problem dieser Argumentation liegt darin, dass wohl unterschwellig von der Annahme ausgegangen wird, dass das Bild von der entwurzelten Sykamine »sonst nicht belegt«329 ist, was jedoch so nicht stimmt, wenn die alttestamentlichen (und rabbinischen) Hinweise zu Lk 17,6 ernst genommen werden.330 (2) »We must not be misled by Mark’s, Matthew’s or Luke’s placing of the sayings […] Nor must we suppose that Mt 17,20 and Lk 17,6 are alternatives.«331 DERRETT weist das Vorgehen (1) zurück und macht stattdessen den Vorschlag: »There is a good reason why the two saying should have been uttered together.«332 »The good reason« besteht in der inhaltlich in dieselbe Richtung weisenden Bedeutung des Berg- und des Maulbeerbaummotivs.333 Die inhaltliche Stoßrichtung von DERRETT dürfte richtig sein. Einen ausformulierten Vorschlag für ein aus Maulbeerbaum- und Bergmotiv kombiniertes Urlogion Jesu hatte zuvor schon SCHWARZ334 vorgelegt. Methodisch geschieht seine Untersuchung »nach poetischen Strukturmerkmalen«. Dadurch »sollte es gelingen, eine – erst griechische, dann aramäische – Urfassung zu rekonstruieren, aus der sich vermutlich alle miteinander herleiten lassen. Die poetischen Merkmale, um die es herbei geht, sind Rhythmus und Parallelismus membrorum.«335 Unter Verzicht auf jegliche redaktionskritische Überlegungen, wie sie oben dargestellt worden sind, gelangt SCHWARZ 326 GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 133. ZMIJEWSKI spricht vom »geläufigeren Bild« (Der Glaube und seine Macht 281). 327 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 105. 328 ZMIJEWSKI gibt noch zwei weitere Argumente für die Ursprünglichkeit von Q: (1) πιστις ως κοκκος σιναπεως in Q sei ursprünglicher als πιστευειν in Mk, wegen der »originelleren Bildhaftigkeit« (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 281). (2) In struktureller Hinsicht ist Q die Ursprünglichkeit zuzuweisen, weil dort das Machtwort in der Apodosis »und damit selbst schon auf der Seite des Bedingten« steht. Bei Mk hingegen steht es in der Protasis, was »zweifellos logischer« ist und daher als nachträgliche Korrektur anzusehen ist (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 282). 329 ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 281. 330 Dies hat auch GNILKA gesehen, der – freilich argumentativ in anderer Absicht – den Hinweis von HAHN auf den eschatologischen Bezug des Bergmotivs erwähnt und diesen auch für die Sykomore einfordert: »Der eschatologische Bezug, den HAHN geltend macht, ist für diese Version nicht weniger bedeutungsvoll« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 105). 331 DERRETT, Moving Mountains 40. 332 DERRETT, Moving Mountains 40. 333 »The mountain will go into the sea to acknowledge the Lord’s coming. The tree (with two roles) will be uprooted to mark the End of the Old Israel, and replanted to manifest and to increase the bliss of the Saved. Both are incidental to the Triumphant return of the exiles to Sion, their final transplantation.« (DERRETT, Moving Mountains 40). 334 SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 27–33. 335 SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 28.

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zur folgenden griechischen Version des Urlogion als Kombination beider Bildmotive: ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ἐὰν / ἔχητε / πίστιν // ὡς κόκκον / σινάπεως, ἐρεῖτε / τῷ ὄρει / τούτῳ // ἢ τῇ συκαμίνῳ / ταύτῃ· ἄρθητι / καὶ βλήθητι / εἰς τὴν θάλασσαν, // καὶ γενήσεται / οὕτὼς336

Die gesamte Argumentation, die interessant ist, jedoch im ganzen (aufgrund der fehlenden redaktionsgeschichtlichen Einbettung) nur schwer zu halten ist, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Es sei nur ein einziger wichtiger Hinweis genannt: Für ὄρος und συκάμινος können im Aramäischen sehr »ähnliche« Wörter stehen.337 τῷ ὄρει τούτω ist aramäisch ‫דין‬ ֵ ‫ה‬ ָ ‫רא‬ ָ ‫טוּ‬, τῇ συκαμίνω ταύτῃ kann als Übersetzung von ‫דין‬ ֵ ‫ה‬ ָ ‫תא‬ ָ ‫ תּוּ‬verstanden werden. SCHWARZ interpretiert die Ähnlichkeit von ‫רא‬ ָ ‫ טוּ‬und ‫תא‬ ָ ‫ תּוּ‬zugunsten seiner Theorie und schließt daraus aber auf Haplographie, also Auslassung eines Elements in den uns vorliegenden Versionen des Wortes. Da sich daraus einige Schwierigkeiten ergeben (es müsste sich um eine doppelte Haplographie handeln, denn einmal wäre ja das Berg-, ein andermal das Maulbeerbaummotiv ausgelassen worden), ist es weniger spekulativ, nur von einem aramäischen Wort auszugehen, das dann unterschiedlich gedeutet und entsprechend unterschiedlich ins Griechische übersetzt wurde. Was von beidem ursprünglich gemeint war, kann nicht mehr festgestellt werden. (3) Sollten die aramäischen Rekonstruktionen von SCHWARZ richtig sein, dann wäre dies meines Erachtens ein wirklich starkes Argument für ein einziges ursprüngliches Logion (wenn wir auch nicht mehr genau sagen können, welches von beiden Wörtern verwendet wurde). Es gibt jedoch auch Lösungsvorschläge, die von zwei verschiedenen Grundformen ausgehen.338 Damit würden sowohl das Q- als auch das Mk-Logion auf Jesus zurückgeführt. Mir scheint, dass man der Realität am nächsten kommt und am besten weiter arbeiten kann, wenn man sich irgendwo zwischen dem, was aus Lösungsvorschlag (2) herausgewachsen ist (ein ursprüngliches Logion, das aufgrund der Ähnlichkeit aramäischer Wörter unterschiedlich verstanden und daher unterschiedlich ins Griechische übersetzt wurde), und Lösungsvorschlag (3) bewegt. In diesem Sinn können beide Motive auf Jesus selbst zurückgehen339 und ist es auch gerechtfertigt, vom jesuanischen Logion vom bergeversetzenden Glauben zu sprechen.

SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 31. SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 29. 338 LOHMEYER/SCHMAUCH, Das Evangelium des Matthäus (KEK Sonderband) 271–274. 339 Alle besprochenen Autoren sind davon überzeugt, dass es hier (natürlich in der jeweils von ihnen rekonstruierten Urfassung) um die »ipsissima vox« Jesu geht. 336 337

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Dass beide Motive letztendlich die gleiche Stoßrichtung aufweisen, legt auch Mt nahe, da er in Mt 17,20 ja offensichtlich ohne Probleme das Maulbeerbaummotiv durch das Bergmotiv ersetzen konnte. 1.2 Die Verfluchung des Feigenbaums und das Hochheben »dieses« Berges (Mk 11,23 par Mt 21,21) 1.2.1 Der Berge versetzende Glaube im Kontext von Jesu erster und letzter Tätigkeit in Jerusalem bei Mk und Mt Im ersten Textkomplex, in dem das Logion in den synoptischen Evangelien auftritt, befinden wir uns in, bzw. um Jerusalem. Der Kontext bildet die erste und letzte Tätigkeit Jesu in dieser Stadt am Ende seines Lebens. Damit beginnt ein stark verzahntes Gefüge von Ereignissen und Deutungen, zunächst einzelnen Tagen nachgehend, danach immer genauer chronologisch festgelegt. Es wird dabei von Mk 11–13 ausgegangen, auf den sich Mt im Wesentlichen stützt, wobei er natürlich neue theologische Akzentsetzungen einbringt, die auch auf das Logion vom Berge versetzenden Glauben Auswirkungen haben werden. Das folgende Schema zeigt eine erste Übersicht zur Orientierung, welche auch die gröbsten Differenzen zwischen Mt und Mk bereits aufzeigt. Mk

Mt

[1. Tag]

[1. Tag]

Καὶ ὅτε ἐγγίζουσιν εἰς Ἱεροσόλυμα εἰς Βηθφαγὴ καὶ Βηθανίαν πρὸς τὸ Ὄρος τῶν ᾽Ελαιῶν …

Καὶ ὅτε ἤγγισαν εἰς Ἱεροσόλυμα καὶ ἦλθον εἰς Βηθφαγὴ εἰς τὸ Ὄρος τῶν ᾽Ελαιῶν …

Mk 11,1–11 Einzug in Jerusalem

Mt 21,1–11 Einzug in Jerusalem

Καὶ εἰσῆλθεν εἰς Ἱεροσόλυμα εἰς τὸ ἱερὸν …

καὶ εἰσελθόντος αὐτοῦ εἰς Ἱεροσόλυμα …

… ἐξῆλθεν εἰς Βηθανίαν … [2. Tag] Καὶ τῇ ἐπαύριον ἐξελθόντων αὐτῶν ἀπὸ Βηθανίας …

Mk 11,12–14 Verfluchung des Feigenbaumes Καὶ ἔρχονται εἰς Ἱεροσόλυμα. καὶ εἰσελθὼν εἰς τὸ ἱερὸν …

Καὶ εἰσῆλθεν ᾽Ιησοῦς εἰς τὸ ἱερὸν …

Mk 11,15–19 Tempelreinigung

Mt 21,12–17 Tempelreinigung

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Καὶ ὅταν ὀψὲ ἐγένετο, ἐξεπορεύοντο ἔξω τῆς πόλεως.

`ἐξῆλθεν ἔξω τῆς πόλεως εἰς Βηθανίαν καὶ ηὐλίσθη ἐκεῖ.

[3. Tag]

[2. Tag]

Καὶ παραπορευόμενοι πρωῒ εἶδον τὴν συκῆν…

Πρωῒ δὲ ἐπανάγων εἰς τὴν πόλιν…

Mt 21,18–22 Verfluchung des Feigenbaumes – Glauben und Beten Mk 11,20–25 Glauben und Beten Καὶ ἔρχονται πάλιν εἰς Ἱεροσόλυμα. καὶ ἐν τῷ ἱερῷ περιπατοῦντος αὐτοῦ…

Καὶ ἐλθόντος αὐτοῦ εἰς τὸ ἱερὸν…

Mk 11,27–12,44 Jesus im Tempel: Auseinandersetzung mit den Hohepriestern, Schriftgelehrten, Ältesten, Pharisäern, Anhängern des Herodes, Sadduzäern

Mt 21,23–23,39 Jesus im Tempel: Auseinandersetzung mit den Hohepriestern, Ältesten des Volkes, Pharisäern, Sadduzäern Pharisäerrede in Mt 23

Καὶ ἐκπορευομένου αὐτοῦ ἐκ τοῦ ἱεροῦ…

Καὶ ἐξελθὼν ὁ ᾽Ιησοῦς ἀπὸ τοῦ ἱεροῦ ἐπορεύετο…

Mk 13 Apokalypse 13,1–2 Ankündigung der Zerstörung des Tempels

Mt 24–25 Apokalypse/Endzeitrede 24,1–2 Ankündigung der Zerstörung des Tempels

Καὶ καθημένου αὐτοῦ εἰς τὸ Ὄρος τῶν ᾽Ελαιῶν κατέναντι τοῦ ἱεροῦ…

Καθημένου δὲ αὐτοῦ ἐπὶ τοῦ Ὄρους τῶν ᾽Ελαιῶν…

13,3–37 Apokalypse

24,3–25,46 Apokalypse

Mk 14,1–2 Tötungsplan

Mt 26,1–5 Tötungsplan

Καὶ ὄντος αὐτοῦ ἐν Βηθανίᾳ ἐν τῇ οἰκίᾳ Σίμωνος τοῦ λεπροῦ…

Τοῦ δὲ ᾽Ιησοῦ γενομένου ἐν Βηθανίᾳ ἐν οἰκίᾳ Σίμωνος τοῦ λεπροῦ…

Mk 14,3 ff Salbung in Betanien …

Mt 26,6 ff Salbung in Betanien …

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1.2.2 Mk 11,12–14.20–25 – »Habt Glauben an Gott!« 1.2.2.1 Der chronologische, topographische und thematische Rahmen (Mk 11–13) Mk bietet einen ausführlichen topographischen und chronologischen Rahmen für Jesu erste und letzte Tätigkeit in Jerusalem: Von Jericho herkommend (vgl. Mk 10,46) nähert sich Jesus der Stadt Jerusalem von Osten und kommt so zuerst nach »Betfage und Betanien zum Ölberg« (Mk 11,1). Betfage (»Feigenhausen«340) liegt wahrscheinlich etwa 1 km von Jerusalem entfernt, »an der östlichen Seite der Kuppe des Ölbergs, ca. 3 km nordwestlich von Betanien Richtung Jerusalem«341. Der Ort ist »in der rabbinischen Überlieferung oft erwähnt« und wird da »als äußerster Stadtteil noch zu Jerusalem gerechnet.«342 Betanien (»Haus des Armen oder des Ananja«343) liegt entsprechend an der »anhebenden Ostabdachung des Ölbergs«344, ca. 2,8 km von der Stadt entfernt345, und war somit »für die jerusalemorientierten rabbinischen Texte schon zu weit weg, um noch genannt zu werden.«346 Betanien ist der Ort, an dem Jesus während seines Jerusalemaufenthaltes wohnt und übernachtet (der Ort wird genannt in Mk 11,11–12 und in Mk 14,3; für die zweite Nacht Jesu in Jerusalem steht in Mk 11,19 bloß ἔξω τῆς πόλεως). Der Ölberg, eine Kuppe in der »östlich und nordöstlich von Jerusalem sich hinziehenden«347 Bergkette, welche genau dem Tempel gegenüberliegt und »Jerusalem […] jenseits des Kidrontals […] überragt«348, taucht explizit wieder in Mk 13,3 auf, wo Jesus mit seinen Jüngern zur apokalyptischen Rede auf dem Ölberg sitzt. Vorher pendelt Jesus mit den Jüngern zwischen ihrem Aufenthaltsort Betanien und der Stadt an drei Tagen hin und her. Für Mk kann dabei der »direkte und kürzeste Weg zwischen Betfage und Jerusalem« angenommen werden, der vom östlichen Skopus des Ölbergs »auf dem steinigen mittleren Weg mit den Treppen ins Kedrontal hinunter- und zum östlichen Stadttor hinaufgeht.«349 Nach seinem Einzug in Jerusalem350 schaut er das Heiligtum an und 340

PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 178. PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 178. 342 GÖRG, Art. Betfage, in: NBL Bd. 1 Sp. 283. Vgl. genauer dazu KÜCHLER, Jerusalem 932. 343 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 178. Siehe auch KÜCHLER, Jerusalem 921. 344 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 178. Der Ort ist von Galiläern besiedelt gewesen. 345 GÖRG, Art. Betanien, in: NBL Bd. 1 Sp. 280. 346 KÜCHLER, Jerusalem 914. 347 DALMAN, Jerusalem und sein Gelände 21. 348 BIEBERSTEIN, Art. Ölberg, in: NBL Bd. 3 Sp. 7. 349 KÜCHLER, Jerusalem 916. 350 Vor diesem Einzug wird in 11,2 noch ein κώμη ἡ κατέναντι ὑμῶν genannt, wo die zwei hingeschickten Jünger ein Füllen finden werden. Damit ist wohl Betfage im Blick, »denn hier in der Nähe beginnt der Abstieg vom Ölberg nach Jerusalem« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 178). 341

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Karte 1:351 Gebiet von Getsemani – Betfage – Betanien südöstlich von Jerusalem.

Karte 2:352 Ölberg zwischen Getsemani und Betfage. 351 BIEBERSTEIN, Ölberg Sp. 7–8. Man muss sich die Verkehrsverbindungen zur Zeit Jesu »auf dem O-Abhang des Ölbergs als Netz mehr oder weniger gepflegter Straßen und Sträßchen vorstellen, die die einzelnen Ortschaften wie Betanien und Betfage miteinander verbanden« (KÜCHLER, Jerusalem 915). 352 BEN-DOV, Historical Atlas of Jerusalem 129.

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geht, »als schon spät war die Stunde« (Mk 11,11), mit den Zwölf wieder nach Betanien hinaus. Am folgenden, zweiten Tag (τῇ ἐπαύριον) geschieht auf dem Weg nach Jerusalem, beim Hinausgehen von Betanien, die FeigenbaumEpisode (Mk 11,12). Erst danach kommen sie in Jerusalem an, wo sie in den Tempel hineingehen (Mk 11,15). Spät an diesem Tag verlassen sie wiederum Jerusalem (Mk 11,19). Interessant ist, dass erst πρωῒ am dritten Tag (Mk 11,20), »von dessen Ende freilich in diesem und auch in den beiden folgenden Kapiteln nicht mehr geredet wird«353, die Feigenbaum-Episode weiter geführt wird (erst jetzt und nicht schon auf dem Rückweg am Abend des Vortages). Nach dieser Perikope Mk 11,20–25 führt der Weg in Mk 11,27 weiter nach Jerusalem, worin der Tempel Schauplatz des folgenden Geschehens bis Mk 13,1 bleibt. Die Tatsache, dass die Perikope Mk 11,20–25 erst zu Beginn des dritten Tages steht und so im markinischen Zeitschema besonders exponiert erscheint, ist im Zusammenhang mit dem Spruch vom Bergeversetzen von besonderem Interesse Das Zeitschema spricht nicht ausdrücklich von drei Tagen, sondern macht folgende Angaben: 11,11:

ὀψίας ἤδη οὔσης τῆς ὥρας

1. Tag

11,12 11,19

τῇ ἐπαύριον καὶ ὅταν ὀψὲ ἐγένετο

2. Tag

11,20

πρωΐ

3. Tag354

Das Schema von drei Tagen (und überhaupt die Zahl τρεῖς) taucht sonst im Mk-Ev. nur noch in Mk 8,2 und in den drei Leidens- und Auferstehungsankündigungen des υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου in Mk 8,31; 9,31; 10,34 auf und wird dann nach der Kreuzigung Jesu entsprechend angewendet: Mk 15,42: καὶ ἤδη ὀψίας γενομένης, ἐπεὶ ἦν παρασκευὴ ὅ ἐστιν προσάββατον Mk 16,1.2: καὶ διαγενομένου τοῦ σαββάτου… καὶ λίαν πρωΐ τῇ μιᾷ τῶν σαββάτων. Sowohl in Mk 11,20 als auch in Mk 16,2 wird die Zeitangabe πρωΐ355 für den Morgen des dritten Tages gewählt. Diese chronologischen Übereinstimmungen werfen ein erstes Licht auf die Bedeutung der Perikope 11,20–25; am 353

GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134. Die nächste Zeitangabe findet sich danach erst wieder in 14,1: »das Pascha und das (Fest der) Ungesäuerten nach zwei Tagen«. 355 Sonst begegnet πρωΐ nur noch dreimal bei Mk: In 1,35 geht Jesus allein weg: »Und in der Früh, noch gänzlich in der Nacht, stand er auf, trat hinaus und ging an einen einsamen Ort, und dort betete er.« Anschließend verlässt er mit seinen Jüngern Kafarnaum; in 13,35 steht am Ende der Apokalypse der Aufruf zur Wachsamkeit, da die Zeit des Kommens des Herrn unbekannt ist, »ob spät oder mitternachts oder beim Hahnenschrei oder in der Früh«; in 15,1 geschieht die Übergabe an Pilatus »in der Frühe«. 354

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dritten Tag geschieht nach der markinischen Theologie offenbar etwas Entscheidendes. Diese These bestätigt Mk 8,2, wo die Sättigung der Volksmenge am dritten Tag geschieht, seitdem die Menschen bei Jesus versammelt sind. Die exponierte Stellung der Perikope Mk 11,20–25 legt sich nicht nur aufgrund der mk Chronologie nahe, sondern wird auch durch mehrfache Stichwortverknüpfungen bestätigt. Folgende Übersicht über Mk 11 kann die daraus resultierenden thematischen Bezüge verdeutlichen: 10,46–52: Blindenheilung in Jericho: Jesus sagt zum Blinden: »Geh fort! Dein GLAUBE hat dich gerettet. Und sofort sah er wieder, und er folgte ihm auf dem Weg« (10,52) 11,1–11: »messianischer Einzug« Jesu in Jerusalem 11,12–14: Verfluchung des Feigenbaums 11,15–17: Jesu Aktion im Tempel: »Ist nicht geschrieben: Mein Haus wird HAUS (DES) GEBETS gerufen werden FÜR ALLE VÖLKER? Ihr aber habt es gemacht zu einer Höhle von Räubern« (11,17) 11,18: Hohepriester und Schriftgelehrte suchen danach, Jesus zu vernichten; das Volk ist außer sich über Jesu Lehre > 11,20–25: Verdorrter Feigenbaum: vom GLAUBEN AN GOTT und vom BETEN < 11,27–33: Frage der Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten nach der Vollmacht Jesu: »In welcher Vollmacht tust du dieses? Oder wer gab dir diese Vollmacht, damit du dieses tust?« (11,28) Rückfrage Jesu nach Johannes dem Täufer… »Auch ich sage euch nicht, in welcher Vollmacht ich dieses tue« (11,33) 12,1–12: Winzergleichnis

Das Stichwort πίστις (Glaube) bindet die Perikope zurück an Mk 10,52 und damit in das gesamte Evangelium nach Mk. Das Stichwort des Gebets knüpft unmittelbar an V. 17 an. Dieselbe Verbindung mit der Tempelaktion Jesu stellt auch die Verfluchung des Feigenbaums her, welche um V. 15–18 herum gelegt ist und woran V. 22–25 unmittelbar anknüpfen. Auf wen die Tempelaktion Jesu zielt, ist in V. 18 ebenfalls unmissverständlich ausgedrückt: die Hohepriester und Schriftgelehrten. Dadurch, dass es von ihnen bereits in V. 18 heißt, sie hätten von der Aktion Jesu gehört, wird die ganze Szene eingebunden in die dramatische Auseinandersetzung zwischen Jesus und den religiösen Autoritäten seines Volkes in Jerusalem. Ab V. 27 wird diese Auseinandersetzung weiter geführt, wobei in V. 28.33 explizit auf ταῦτα, d. h. auf die Tempelaktion Jesu356, zurückgegriffen wird (Jesus gibt dann auf die Frage nach seiner ἐξουσία keine Antwort, d. h. es ist noch nicht alles gesagt, es wird noch weiter gehen). Diese Linie führt weiter in die Passionsgeschichte. 356 PESCH bestätigt, »dass sich die Frage der Jerusalemer Obrigkeit (V 28) auf Jesu prophetische Aktion im Tempel (VV 15–17) und die darauf erfolgte erste Reaktion (V 18) bezieht« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 209).

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1.2.2.2 Anschluss an die Verfluchung des Feigenbaums und Jesu provokative Aktion im Tempel (Mk 11,20–21) Jesus kommt mit seinen Jüngern an der συκῆ (Feigenbaum)357 vorbei, über die er am Vortag auf dem Hinweg in die Stadt gesagt hatte: Μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦ μηδεὶς καρπὸν φάγοι358 (11,14)359. V. 20 knüpft daran an und gibt das Ergebnis oder die Folge dieser Äußerung Jesu an: Mk 11,20: Καὶ παραπορευόμενοι πρωῒ Und als sie in der Frühe vorbei kamen, εἶδον τὴν συκῆν ἐξηραμμένην ἐκ ῥιζῶν. sahen sie den Feigenbaum, verdorrt von den Wurzeln her.

Die Perikope Mk 11,12–14 beginnt damit, dass Jesus Hunger hat (V. 12).360 Er und seine Jünger sind gerade erst aus Betanien aufgebrochen. Die Wendung ἐξελθόντων αὐτῶν ἀπὸ Βηθανίας (V. 12) deutet wahrscheinlich an, dass sie sich noch in der Nähe von Betanien befinden, »auf der Jerusalem abgewandten Seite des Ölbergs«361 (diese Ortsangabe ist dann auch für V. 20 und für die folgenden Sprüche bedeutsam). Jesus sieht nun einen »Feigenbaum, der Blätter hatte« (V. 13). Die Betonung der Blätter liefert eine Erklärung dafür, wieso Jesus hungrig zu diesem Baum ging, »ob er wohl etwas fände an ihm« (V. 13). Der Feigenbaum gehört zu den Pflanzen in Palästina, welche im Herbst ihre Blätter abwerfen und im Frühjahr (beim Feigenbaum ab Ende März) wieder neu ausschlagen.362 Die Frühfeigen der συκῆ sind ab Ende Mai reif, die Haupternte werfen die Feigenbäume aber mit den Spätfeigen ab Mitte August ab. Weil der Baum schon Blätter hat, könnte es sein, dass er auch schon Früchte hat, denn auch die »unreifen Frühfeigen (…) lassen sich Ende März

357 »Der Feigenbaum gehört zu den wichtigsten Fruchtbäumen Palästinas« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 192). 358 3. Pers. Sing. Optativ Aorist von ἐσθίω. 359 »Das mächtige Fluchwort steht in jüdischer Tradition, wo es dem Jahwe-Glauben integriert wird, besonders Stammvätern, Heerführern, Königen, Priestern und Propheten zu« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 193). 360 Dieses Faktum wird normalerweise viel zu wenig beachtet. Anlässlich eines Besuches in Fribourg hat mich Luise SCHOTTROFF darauf hingewiesen, dass man den Hunger Jesu hier auch (sozialgeschichtlich) von den zwei oder drei weiteren Aussagen im Mk-Evangelium her, welche den Hunger betreffen (vgl. auch die Speisewunder), zu verstehen versuchen müsste. Allerdings bleibt die Geschichte auch dann (auf dieser sozialgeschichtlichen Ebene) rätselhaft: Wieso verflucht Jesus einen Feigenbaum, der ja eigentlich Nahrung liefert? Vielleicht ist eine Lösung in Zusammenhang mit der Aktion Jesu im Tempel dahingehend zu suchen, dass mit dem Hunger Jesu die soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit des Systems »Tempel« nochmals aufgegriffen wird. 361 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 192. 362 Siehe dazu: PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 192.

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schon essen«363. Aber die eigentliche Jahreszeit für die normale Feigenernte war es noch nicht364, und Jesus findet in der Tat keine Feigen am Baum. Die Geschichte vom verdorrten Feigenbaum wirft die Frage auf: »Kündet Jesus mit dieser Zeichenhandlung das Gericht Gottes über Israel an?«365 Das Verdorren vom Bäumen ist in der Bibel ein »geläufiges Gerichtsbild«366. Die weniger eindeutige Metapher des Feigenbaums taucht mehrmals als Bild für Israel auf, »aber meist im Zusammenhang mit der gebräuchlicheren Metapher vom Weinstock.«367 An wen dabei konkreter zu denken ist (ob »an Israel, an Jerusalem oder nur an die Führer Israels«368), lässt die Feigenbaumperikope offen. Da die Verfluchung des Feigenbaums als symbolhafte Umrahmung der Perikope 11,15–18 zu verstehen ist (Jesu Tempelaktion und die Verfluchung des Feigenbaums sind so in einem »sandwich-agreement«369 miteinander verbunden), kann von der Tempelaktion Jesu her weiterer Aufschluss darüber erwartet werden.370

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PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 193. Dies möchte auch das »häufig als mk Glosse« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 193) aufgefasste Ende von V. 13 hervorheben: ὁ γὰρ καιρὸς οὐκ ἦν σύκων. »Der Baum, der früh Blätter, aber keine Früchte trägt, ist als unfruchtbar dargestellt« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 193). 365 Kommentar zur Parallele bei Mt: LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 200. 366 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 201. Belegstellen u. a.: Jes 34,4; 40,24; Jer 27,27 LXX. 367 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 201. Belegstellen für die Metapher Feigenbaum, bzw. Feigen: Jer 24,1–10; Jer 29,17; Hos 2,14; Hos 9,10; Joel 1,7 (Feigenbaum und Weinstock); Mi 7,1. PESCH wendet sich gegen die Deutung als Gericht Israels und bespricht die genannten und weitere dafür angeführte Belege kritisch: PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 195. 368 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 201. 369 SÖDING, Glaube bei Markus 318. 370 Andere Exegeten hingegen verneinen diesen Zusammenhang zur Aktion Jesu im Tempel oder halten ihn zumindest für fragwürdig. Nach PESCH ist »die Verfluchung des Feigenbaums ursprünglich (trotz der Verschachtelung mit der Erzählung von Jesu Tempelaktion) nicht symbolisch ausgelegt worden« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 195). Nach BEDENBENDER (Der Feigenbaum und der Messias 3–71) hat das Verdorren des Feigenbaums nichts mit der Tempelaktion zu tun, sondern die Erwartung Jesu nach Früchten hängt mit der Erwartung eines »universalen Fruchtbarkeitszustands« (Joel 2,22) als Anbruch der messianischen Zeit zusammen (BEDENBENDER, Feigenbaum 15). Dass der Baum aber keine Früchte trägt, bedeutet: »Der Feigenbaum erkennt Jesus als Messias nicht an bzw. verkörpert die Ansicht, die messianische Zeit sei eben doch noch nicht angebrochen, und Jesus kann seine Anerkennung hier nicht erzwingen.« (BEDENBENDER, Feigenbaum 17). Der Feigenbaum steht daher als Vorzeichen für Mk 11,27–13,2, worin sich (in der mk Theologie) die Überzeugung Jesu von der Erfülltheit der messianischen Zeit umwandelt zur Einsicht, den Zeitpunkt nicht zu kennen, an dem das Gottesreich anbricht (13,32). »Das Kommen des Messias als Messias ist gescheitert« (BEDENBENDER, Feigenbaum 21). Der mk Feigenbaum geht somit »den Weg voran, und Jesus folgt nach« (BEDENBENDER, Feigenbaum 64). LUZ kommentiert diesen und weitere Deutungsvor364

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Die prophetisch-provokative Aktion Jesu im Tempel, die »in der Überlieferung freilich eher grösser gemacht« wurde371, besteht in 11,15–16 aus drei Handlungen Jesu und einer darauffolgenden Belehrung in V. 17. Jesus wirft erstens die Verkaufenden und die Kaufenden im Tempel hinaus. Im äußeren Tempelbezirk gab es einen »konzessionierten Handel für den Verkauf von Opfergegenständen (z. B. Trankopferwein) und Opfertieren«372. Er stößt zweitens die Tische der Geldwechsler und die Sitze derjenigen, die Tauben verkaufen, um. Die Tauben waren das »Opfer der ärmeren Bevölkerung«373. Die Geldwechsler standen für die Einwechslung ausländischer Währungen in die Tempelwährung, den Schekel, zur Verfügung. Diese Handlungen gehen allesamt gegen die Durchmischung von religiösen und wirtschaftlichen Interessen am Jerusalemer Tempel und damit gegen den Tempel als wirtschaftlichem Zentrum (vgl. Steuersystem) vor.374 Drittens lässt Jesus nicht zu, dass jemand ein Gefäß durch das Heiligtum hindurch trägt375. Eine rechtfertigende und zugleich deutende Erklärung für dieses Verhalten Jesu denen gegenüber, »gegen deren Treiben er einschritt«376, gibt V. 17: »Und er lehrte und sagte ihnen: Ist nicht geschrieben: Ὁ οἶκός μου οἶκος προσευχῆς κληθήσεται πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν? Ihr aber habt es gemacht zu einer Höhle von Räubern (σπήλαιον λῃστῶν).« Jesus zitiert zunächst aus Jes 56,7377, um den Tempel als den Ort zu bezeichnen, den er eigentlich sein sollte: das Haus des Gebets für alle Völker. Damit knüpft Mk an die große Verheißung zu Beginn von Tritojesaja an, in der nach V. 7 die Vision nach den »Fremden« auch auf Israel bezogen wird: »Spruch Gottes, des Herrn, der die schläge kritisch: Es geht weder um die »grenzenlose Fruchtbarkeit der messianischen Zeit« noch um einen »Machtwechsel« (»Feigenbaum als Baum von Herrschern, wie dies vor allem aus der römischen Antike bezeugt ist«) (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 200). 371 Ein allzu großes Aufsehen dürfte eine historische Aktion Jesu kaum erregt haben, da eine solche sofort »zum Eingreifen der Tempelwache und der Römer« geführt hätten (die römischen Truppen waren ja auf der Antonia stationiert und hatten jederzeit Zugang zur Tempelplattform) (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 200). Die Feste am Tempel waren sowieso immer Zeiten der Spannung mit der Gefahr von Aufständen, so dass die Römer sofort eingegriffen hätten, sobald sie etwas als einen Aufstandsversuch erkannt hätten. 372 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 197–198. 373 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 198. 374 Für Mt ausgesagt, für Mk aber ebenfalls gültig: »Offenbar ist es die Verbindung von Tempeldienst und Geld, die Verfilzung von Gottesdienst und finanziellem Vorteil, die die Kritik auslöst« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 207). 375 Der kürzeste Weg vom östlichen zum westlichen Stadttor führt über den Tempelplatz (vgl. PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 198).Wahrscheinlich besteht der Sinn dieser Tat aber darin, den Opferbetrieb zu verunmöglichen, der ohne dieses Herumtragen von Geräten und Gefäßen nicht denkbar ist (HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 120). 376 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 198. 377 Der griechische Text in Jes 56,7 LXX entspricht abgesehen von einem γαρ wörtlich dem Mk-Text.

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verstoßenen Israeliten sammelt: Noch mehr, als ich schon von ihnen gesammelt habe, will ich dort versammeln.« (Jes 56,8) Mit dieser Vision kontrastiert aber die reale Gegenwart, in welcher sich der Tempel gemäß dem zweiten Teil von Mk 11,17 befindet: Statt das Haus des Gebetes ist er eine Höhle von Räubern. Damit wird auf Jer 7,11 angespielt, wo Gott, dessen Wort an Jeremia ergangen ist (Jer 7,1), angesichts des Stehlens, Mordens, Ehebrechens u. a. der Menschen, die in den Tempel kommen (Jer 7,9–10), die Frage stellt: »Ist denn in euren Augen dieses Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, eine Räuberhöhle geworden?« In dieser Hinsicht zielt die Kritik »nicht primär auf den (Verkaufs-)Trubel im Tempel«, sondern »auf das Ausplündern und Berauben der Menschen.«378 Angesichts dieser Situation, dass der Tempel seine eigentliche Aufgabe, Haus des Gebets zu sein, nicht mehr erfüllen kann, sondern zu einer Höhle von Räubern geworden ist, fällt das Urteil über den Tempel und die Verantwortlichen dahinter, die in 11,18 mit den Hohepriestern und Schriftgelehrten identifiziert werden379, vernichtend aus: Der Tempel bringt keine Frucht mehr, er hat in der markinischen Theologie seine Rolle als Haus des Gebets verspielt. Dafür steht die prophetische Symbolhandlung Jesu von der Verfluchung des Feigenbaums380, dessen Verdorren V. 20 konstatiert. Der Feigenbaum steht als Symbol für das lebendige Gebilde des Tempels, das kaputt geht.381 Mk 11,21: καὶ ἀναμνησθεὶς ὁ Πέτρος λέγει αὐτῷ, Ῥαββί, ἴδε ἡ συκῆ ἣν κατηράσω ἐξήρανται.

Und sich erinnernd sagte ihm Petrus: Rabbi, sieh, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.

Der Hinweis des Petrus auf den verdorrten Feigenbaum bildet in V. 21 die unmittelbare »Exposition für die Jüngerlehre«382, welche ab V. 22 folgt. Die folgenden Verse stehen also unmittelbar vor dem eben skizzierten Hintergrund. 378

HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 120–121. Die Hohepriester, Schriftgelehrte und Ältesten treten ab 11,27 weiter als Gegner Jesu auf. Die Auseinandersetzung geht in Mk 12 (beginnt mit dem Winzergleichnis) weiter. 380 So, wenn auch weniger differenziert, auch KERTELGE: Das Bild des verdorrten Feigenbaums »lässt im Zusammenhang mit dem vorhergehenden Auftreten Jesu im Tempel seine jerusalem- bzw. israelkritische Bedeutung erkennen« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 112). Damit bleibt es aber auch »Mahnung und Warnung für die Jüngergemeinde auf ihrem weiteren Weg« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 112). 381 Eine periodische Reinigung des Tempels, wie sie wohl Jesus historisch in seiner prophetisch-provokativen Aktion symbolhaft angedeutet hat, hat es auch in der Vergangenheit gegeben, so unter Joschija und Hiskija. Jesus duldet den ganzen Betrieb um den Tempel herum nicht. Die markinische Theologie deutet das ganze vor dem Hintergrund der Tempelzerstörung um 70 n. Chr. als völliges Ende des Jerusalemer Tempels (vgl. Feigenbaum). 382 GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134. 379

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

1.2.2.3 Der Glaube an Gott in Mk 11,22 und das Glaubensverständnis im Mk-Evangelium Auf den Hinweis des Petrus antwortet Jesus mit der Aufforderung, Glauben an Gott zu haben. πίστις θεοῦ ist eine »seltene Formulierung«383, wobei θεοῦ als Genitivus objectivus zu verstehen ist. Damit antwortet Jesus nicht direkt auf die Äußerung des Petrus, vielmehr bildet die Aufforderung eine »Art Zusammenfassung des Ganzen«384, was in den folgenden Versen ausgesagt wird.385 Die πίστις, welche in V. 22 direkt auf Gott bezogen wird386, taucht mehrmals explizit im Mk-Evangelium auf, zuletzt in der Perikope von der Blindenheilung in Jericho (Mk 10,52). Was Mk bisher unter πίστις versteht und in welcher Färbung der Begriff dementsprechend in V. 22 erscheint (bevor er in V. 23 weiter entfaltet wird), muss aus diesen Belegstellen erschlossen werden.387 In Mk 1,15 steht das πιστεύειν ἐν τῷ εὐαγγελίω388 in enger Verbindung mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) »Gottes Herrschaft ist nach dem Bericht des Markus der zentrale Begriff von Predigt und Lehre Jesu, über 1,15 mit dem Begriff des Evangeliums eng verbunden.«389 In welcher Weise sich die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu entfalten beginnt, wird in der ab 1,16 folgenden Schilderung der Aktivität Jesu erkennbar. Mit seiner Praxis und seiner Verkündigung will er die βασιλεία τοῦ θεοῦ »zur Erfahrung bringen.«390 Das Stichwort πίστις taucht dabei verschiedentlich in Heilungs- oder anderen Wundererzählungen auf: 383

GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134. GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134. 385 Vom V. 21 her gedeutet: »Jesus fordert zum Glauben an Gott (V. 22b) als einer wunderbaren Macht (…) auf. Er deutet damit das Feigenbaumwunder indirekt als Tat seines Glaubens bzw. seinem Glauben geschenkte Tat der Allmacht Gottes.« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 204) Diese Verbindung von Glauben und Feigenbaumwunder ist wohl richtig, sie bildet aber bloß einen (untergeordneten) Aspekt der Aussage von V. 23–25, deren Überschrift V. 22 ja bildet. 386 »Beides verdient Beachtung: Glaube ist notwendig, und der Glaube ist auf Gott bezogen« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 112). 387 HAHN macht einen Vorschlag zur Gruppierung der Belege (HAHN, Verständnis des Glaubens 43), welchen die folgenden eigenen Untersuchungen bestätigen: (1) Mk 11,22–24 mit dem Logion vom bergeversetzenden Glauben und Mk 9,23 (alles ist möglich dem, der glaubt). (2) Wunderberichte, wo zur Erlangung der erbetenen Wundertat zum Glauben aufgefordert wird. (3) Unglaube in den Wundergeschichten. (4) Glaube, bzw. Nicht-Glauben an Personen, d. h. an den Messias und an Johannes den Täufer. (5) Glaube an das Evangelium (Mk 1,15). 388 Siehe dazu: HAHN, Verständnis des Glaubens 63–66. 389 PESCH, Markusevangelium (HThK II,1) 107. 390 VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft 80. 384

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Das Logion vom Berge versetzenden Glauben

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– Mk 2,1–12 Heilung eines Gelähmten: Weil zu viele Menschen im Haus bei Jesus versammelt sind, kann ein von vier Leuten getragener Gelähmter nicht zu Jesus gebracht werden. Als sie ihn deswegen durch das Dach auf einer Bahre zu Jesus hinunterlassen, reagiert dieser in V. 5: »Und als Jesus ihren Glauben sieht, sagt er dem Gelähmten: Kind, deine Sünden werden dir erlassen.« (Mk 2,5) Es folgt darauf die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten mit anschließender Heilung des Gelähmten. – Mk 4,35–41 Stillung des Seesturms: Weil die Jünger auf dem Boot Angst haben unterzugehen, wecken sie den schlafenden Jesus, der das Meer zum Schweigen und den Wind zum Nachlassen bringt. Darauf sagt Jesus zu ihnen: »Was seid ihr feige? Habt ihr noch keinen Glauben?« (Mk 4,40) Die Jünger fürchten sich und sagen zueinander: »Wer also ist dieser, dass auch der Wind und das Meer ihm gehorcht?« (V. 41) – Mk 5,21–24.25–34.35–43: Erweckung der Tochter des Jairus mit eingeschobener Heilung der Frau mit Blutfluss: Zur blutflüssigen Frau, welche über Jesus gehört hatte (V. 27) und ihn in der Volksmenge am Gewand berührt hatte, sagt Jesus: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet; geh fort in Frieden und sei geheilt von deiner Plage!« (Mk 5,34) Noch während Jesus dies sagte, kommt die Nachricht vom Haus des Synagogenvorstehers, dass seine Tochter gestorben sei. »Jesus aber überhört diese Worte und sagt dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht, glaube nur!« (Mk 5,36). – Mk 9,14–29 Heilung eines »epileptischen Knaben«391: Jesus kommt zu seinen Jüngern, welche einen von einem redelosen Geist besessenen Knaben nicht heilen konnten. Zum Vater, der ihm die Situation geschildert hatte und ihn bat zu helfen, wenn er könne (V. 22), spricht Jesus: »Wenn du kannst? – Alles ist möglich dem, der glaubt!« (Mk 9,23) »Sofort schrie der Vater des Kindes und sagte: Ich glaube, hilf meinem Unglauben!« (Mk 9,24) Schreiend und zerrend verlässt der Geist auf Befehl Jesu den Knaben. Es folgt eine Jüngerbelehrung. – Mk 10,46–52 Blindenheilung in Jericho392: Als er hört, dass Jesus vorübergeht, schreit ein blinder Bettler am Weg: »Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!« (V. 47) Als ihn Jesus rufen lässt, springt er auf und antwortet auf die Anfrage Jesu mit dem Wunsch, dass er wieder sehen möchte. Jesus spricht zu ihm: »Geh fort! Dein Glaube hat dich gerettet.« (Mk 10,52) Sofort sah der Blinde wieder und folgte Jesus auf dem Weg. 391

PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 84. Diese Perikope hat redaktionell eine wichtige Stellung am Ende eines größeren Evangelium-Abschnitts (wie auch die erste Blindenheilung in 8,22–26). Im Verlauf des Mk-Evangeliums beginnt man immer mehr zu sehen: Während es in Mk 8 noch zwei Anläufe braucht, bis der Blinde sieht, klappt es in Mk 10 gleich beim ersten Versuch. Erst in Mk 10 folgt der Blinde Jesus nach. Die Aufforderung an den Blinden in 10,48: »Hab Mut, steh auf (ἔγειρε), er ruft dich!« weist stichwortmässig weit über die konkrete Heilung hinaus. 392

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Die πίστις erscheint in drei, bzw. vier dieser fünf Erzählungen im Kontext der Taten Jesu als eine Art Voraussetzung für das Wirken Jesu: Wenn Jesus den Glauben derer sieht, die den Gelähmten durch das Dach hindurch lassen, so ist mit diesem Glauben das Bemühen dieser Menschen gemeint, alles für den Gelähmten zu tun, um ihn zu Jesus zu bringen, das Bemühen, alles zu tun, um in den Wirkbereich der βασιλεία τοῦ θεοῦ zu gelangen, welche sich in den Taten Jesu zu verwirklichen beginnt. Bei der Heilung der blutflüssigen Frau und der Heilung des Blinden sagt Jesus explizit, dass der Glaube der Betroffenen ihnen geholfen habe.393 Wenn der Glaube die Hilfe bewirkt hat, dann ist Glaube als Bedingung der Möglichkeit der Realisierung anfanghafter βασιλεία τοῦ θεοῦ zu verstehen. In Mk 9,23 sagt Jesus im Kontext der Heilungserzählung, dass dem Glaubenden alles möglich ist. Der Glaube ist somit nicht Resultat394 dessen, was Jesus tut, sondern er ist Ausdruck für das Sich Einlassen oder für das Hineingenommen Werden in das heilende Wirken Jesu395, welches auf dieses Sich Einlassen der Betroffenen angewiesen ist:396 Die Wunder Jesu setzen »wenigstens in dem Sinn ›Glauben‹ voraus, dass sie die Bereitschaft verlangen, sich auf das in ihnen sich ereignende Geschehen als ein von Gott getragenes Geschehen einzulassen.«397 Entsprechend kann Jesus dort, wo Unglaube herrscht, nichts tun, so in seiner Vaterstadt, wo er in Mk 6,1–6 nur auf Widerstand stößt: »Und konnte er dort keine Krafttaten vollbringen, außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte. Und er staunte wegen ihres Unglaubens.« (Mk 6,5–6) Während die von Jesus Geheilten als Glaubende dargestellt werden, erscheinen die Jünger Jesu in der Geschichte 393 Hier sind die »christologischen Motive« etwas stärker ausgeprägt als sonst in den Heilungserzählungen. (HAHN, Verständnis des Glaubens 56) 394 Dieses Missverständnis und dessen Zurückweisung wird im Mk-Ev. bis zum Ende durchgetragen: in der Kreuzigungsszene spotten die Hohepriester und die Schriftkundigen: »…der Christos, der König Israels, soll jetzt herabsteigen vom Kreuz, damit wir sehen und glauben« (Mk 15,32). 395 »Die Einzelstellen lassen noch erkennen, dass hier nicht von einem Glauben an Jesu Person die Rede ist.« (HAHN, Verständnis des Glaubens 55) 396 KERTELGE sieht den Zusammenhang zwischen πίστις und der βασιλεία τοῦ θεου – »Die Glaubensforderung ist nach 1,15 sehr eng verbunden mit der Botschaft Jesu von der nahegekommenen Gottesherrschaft« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 112) – etwas anders: »Mit Glauben antwortet der Mensch auf die rettende, letztentscheidende Hilfe bringende Herrschaft Gottes, die in seiner Verkündigung von Jesus nahegebracht wird.« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 112) Der Glaube ist aber in den Heilungs- und Wundererzählungen nicht Antwort, sondern Voraussetzung von und Sich Einlassen auf Jesu Wirken. Zudem gilt es zu bedenken, dass man sich mit den Wundergeschichten im markinischen Spannungsbogen des θεῖος ἀνήρ-Motivs befindet, wo die Akklamation zu den einzelnen Wundergeschichten (der Glaube als Antwort käme einer solchen Akklamation gleich) systematisch verhindert und aufgehoben ist bis zum Schluss, wo die ganz große Akklamation Gottes (!) dadurch geschieht, dass Jesus seine Auferweckung als Tat Gottes an ihm erfährt. 397 MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 72.

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von der Stillung des Seesturms als Ungläubige. Zwar tritt auch hier Jesus rettend in Aktion, doch seine vorwurfsvolle Reaktion nach der Stillung des Sturms, wo er den Jüngern vorhält, wie feige sie doch seien, zeigt auf, dass die Jünger etwas falsch gemacht haben, dass sie offenbar noch nicht glauben. »Glaube wäre also das Gegenteil von Feigheit, wäre Überwindung der Feigheit – und wäre mithin grundlegend mutiges Vertrauen.«398 Stattdessen fürchten sie sich und machen sich Gedanken über die Macht Jesu. »Die Haltung der Jünger kontrastiert scharf mit dem vertrauenden Glauben, den Jesus beim Gelähmten und seinen Trägern (Mk 2,5), bei der blutflüssigen Frau (Mk 5,34), bei Jairus (Mk 5,36) und bei Bartimäus (Mk 10,52) in grundsätzlich vergleichbaren Notsituationen geweckt, gefordert und gefunden hat.«399 Abgesehen von Mk 11,31, wo im Anschluss an die Perikope Mk 11,20–25 die Vollmacht Jesu thematisiert wird und wo Jesus die Rückfrage nach Johannes dem Täufer stellt (»Weshalb glaubtet ihr ihm nicht?«400), und Mk 13,21, wo vor dem Glauben an Lügenchristosse gewarnt wird (»Und dann, wenn einer zu euch spricht: Sieh, hier ist der Christus, sieh, dort!, glaubt es nicht!«401), findet sich πίστις noch in Mk 9,42, wo von den μικροὶ τοῦτοι οἱ πιστεύοντες402 die Rede ist. Jesus warnt davor, diesen Kleinen, die in den Kommentaren meist mit Mitgliedern in der christlichen Gemeinde, welche »sich vor Gott klein machen«403, oder mit Christen im Kontext von Verfolgungen404 identifiziert werden, Anstoß zu geben. Vor dem Hintergrund von Mk 9,33–37405 mit der Paränese, dass die Ersten zu Letzten und Dienern werden sollen (9,35), und ihrer Konkretisierung in der Aufnahme von Kindern werden die »Kleinen« jedoch konkreter fassbar in denjenigen, welche sich auf 398

SÖDING, Glaube bei Markus 443. SÖDING, Glaube bei Markus 443–444. 400 Die Aussagen zum Glauben in 11,20–25 kontrastieren somit unmittelbar mit dem Unglauben der Ältesten, Schriftgelehrten und Pharisäer. 401 Die Fortsetzung lautet: »… und sie werden Zeichen und Wunder geben, um die Auserwählten wenn möglich irrezuführen.« Vgl. Mk 13,5–6 dazu: »Jesus aber begann zu ihnen zu reden: Seht zu, dass nicht einer euch irreführt! Viele werden kommen in meinem Namen und sagen: Ich bin es. Und viele werden sie irreführen.« Vgl. zu diesen Aussagen vor dem gesamten Hintergrund von Mk 13 als Apokalypse mit konkreten Phänomenen der mk Zeit: SÖDING, Glaube bei Markus 391–397. 402 Die Ergänzung εἰς ἐμέ ist »sekundär und geht vermutlich auf den Einfluss von Mt 18,6 zurück« (SÖDING, Glaube bei Markus 287 Anm. 1; so auch PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 113 Anm.a). 403 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 114. 404 SÖDING, Glaube ei Markus 289. 405 Die V. 38–41 entfalten den Spruch Jesu, dass derjenige, der ein Kind aufnimmt, ihn selbst und damit Gott aufnimmt, weiter auf eine große Offenheit hin (V. 40: »Denn wer nicht gegen uns ist, für uns ist er«; in V. 41 werden diejenigen ihren Lohn erhalten, die den Jüngern zu trinken geben). Wiederum von den Kleinen ausgehend wird ab V. 42 ebenso radikal das negative Handeln mit seinen Konsequenzen beschrieben. 399

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die solidarische Praxis der βασιλεία τοῦ θεοῦ eingelassen haben und bereit sind, die konkreten Schritte ihrer Umsetzung auch zu tun. Deshalb werden sie als Glaubende charakterisiert. Als Voraussetzung oder als Vollzugsverb der βασιλεία τοῦ θεοῦ steht der Glaube im Kontext von Jesu heilendem und wunderwirksamem Handeln als der beginnenden Verwirklichung der βασιλεία τοῦ θεοῦ. So ist HAHN zuzustimmen, dass es beim Glauben darum geht, »dass sich in Verbindung mit der anbrechenden βασιλεία die heilende und heilbringende Macht Gottes in Wundern ereignet und Menschen sich darauf verlassen haben.«406 Es ist daher konsequent, dass in Mk 11,22 Jesus vom Glauben spricht und dass er diesen Glauben als πίστις θεοῦ kennzeichnet. Vor diesem Hintergrund des mk Glaubensbegriffs ist es somit nicht erstaunlich, dass die πίστις in Mk 11,22 als Glaube an Gott erscheint (und nicht als Glaube an Christus407). Es ist deutlich geworden, dass »die unmittelbare Bindung an Jesu Person nicht mit dem Begriff des Glaubens«408 ausgedrückt wird. Die πίστις taucht auch nie in Zusammenhang mit christologischen Hoheitstiteln Jesu auf, es sei denn in negativer Abgrenzung gegen den Glauben an Lügenchristosse in Mk 13,21 oder bei der Verspottung am Kreuz, wo der Christos, der König Israels, aufgefordert wird, vom Kreuz herabzusteigen, damit man sehen und glauben kann (dass dies nicht geschieht, korrigiert auch das Verständnis von Glauben als Überzeugtwerden aufgrund einer reinen Machtdemonstration). Aufgrund dieser theozentrischen Akzentuierung in Mk 11,22 (und des Abschnitts Mk 11,20–25 überhaupt) kann gefragt werden, inwiefern damit nicht auch eine korrigierende Bezugnahme auf den »messianischen« Einzug Jesu in Jerusalem genommen wird. Anders gefragt: Inwiefern hängt die Zentrierung des Glaubens auf Gott, worüber Jesus πρωῒ am dritten Tag spricht, mit den ersten beiden Tagen zusammen? Jesu Ankunft in Jerusalem wird als 406

HAHN, Verständnis des Glaubens 55. Etwas unpassend an dieser Stelle ist daher die Aussage: »Die Zentrierung des Glaubens auf Gott vernachlässigt nicht die vermittelnde Bedeutung des Sohnes für diesen Glauben« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 113). Folgender Aussage würde ich dann aber zustimmen: »Die Zentrierung des Glaubens auf Gott zeigt an dieser Stelle an, dass all das, was in Wort und Tat Jesu verheißungsvoll aufscheint, seine letzte Erfüllung von Gott her erlangt« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 113). SÖDING formuliert folgendermaßen: »Jesu theozentrische Forderung behält also in den Augen des Evangelisten auch für die Zeit nach Ostern, die bereits von der Erfahrung des Todes und der Auferstehung Jesu geprägt ist, volle Gültigkeit…« (SÖDING, Glaube bei Markus 325). Klar und einfach gesagt: »Von der nachösterlichen Entwicklung des Glaubensbegriffs, bei der das Vertrauen auf die Person Jesu als Offenbarer Gottes immer stärker in den Vordergrund trat, ist hier abzusehen.« (HAHN, Verständnis des Glaubens 53) 408 HAHN, Verständnis des Glaubens 63. Mk hat dafür andere Ausdrücke, etwa den der Nachfolge. 407

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messianischer Einzug geschildert, prophetischen Texte wie Sach 9,9 nachgebildet409 (vgl. beispielsweise den Ritt auf einem Eselfüllen). Allerdings geschieht bei der Ankunft in Jerusalem gar nichts ›Messianisches‹, Jesus schaut sich bloß alles an und geht wieder aus der Stadt hinaus. Es fehlt ein kunstvoller Abschluss für einen messianischen Einzug, was als Korrektur im Rahmen des markinischen Spannungsbogens des Messias-Motivs zu verstehen ist. Ob die theozentrische Jüngerbelehrung in 11,20–25 einen Bezug zur Einzugsszene hat und ob dieser Bezug auch im Sinn einer Korrektur zu verstehen ist, wird zu prüfen sein. Wir bleiben jedenfalls bei dem hartnäckigen Verdacht, dass an einem dritten Tag, in der Frühe, Entscheidendes geschieht. 1.2.2.4 Der Berge versetzende Glaube in Mk 11,23 Während bisher das konkrete befreiende und heilende Geschehen in den mk Wundererzählungen als Tat des Glaubens in den Blick gekommen ist, spricht Mk 11,23 von dieser Tat des Glaubens in einem Bildwort410: Wenn jemand zu »diesem« Berg (τῷ ὄρει τούτῳ) sagt: werde hochgehoben (Imperativ Aorist Passiv von αἴρω) und werde ins Meer geworfen (Imperativ Aorist Passiv von βάλλω), dann wird es ihm sein, d. h. es wird geschehen. Die positive Bedingung dafür besteht darin, zu glauben (Konj. Präsens von πιστεύω), dass das, was man sagt, geschieht. πιστεύω erscheint so als Gegenteil des Zweifelns411 in seinem Herzen (καρδία ist die »Personmitte des Menschen«412); nicht zu zweifeln stellt die negative Bedingung dar für die Ausführung dessen, was man dem Berg befohlen hat.413 Von der Satzstruktur her wird in V. 23 nochmals verdeutlicht, was wir bereits in den mk Wundererzählungen angetroffen haben: Wie die Heilung auf den Glauben zurückgeführt wird (Mk 10,52), so erscheint der Glaube hier zunächst als Bedingung und Voraussetzung für die außergewöhnliche Tat des Versetzens des Berges.414 409

Siehe dazu: PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 179. »Das Wort vom bergeversetzenden Glauben (…) ist eine metaphorische Verdeutlichung der Macht des Glaubens…« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 113). 411 »Der Zweifel im Herzen ist das Gegenteil des Gott zugewendeten Vertrauens« (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 134). 412 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 205. 413 Durch die Erwähnung des Zweifelns wird eingeräumt, »dass das Sich-Anvertrauen und Sich-Verlassen des Menschen auf Gott unter dem Vorzeichen menschlicher Schwachheit und Unzulänglichkeit steht und stets der Überwindung des Zweifels bedarf.« (HAHN, Verständnis des Glaubens 52). 414 Zum Wort ὄρος siehe unten Kap. III.2.. Bei Mk ist der Berg Ort besonderer Ereignisse: in 3,13 bei der Kreierung der Zwölfergruppe; in 9,2.9 bei der Verklärungsszene. In Mk 6,46 ist er der Ort des einsamen Gebets Jesu. Der Ölberg wird in Mk 11,1.23, 13,3 und 14,26 genannt. In Mk 5,5.11 ist ein Mensch in den Grabstätten und in den Bergen, dessen unreine Geister in die Schweineherde »bei dem Berg« hineinfahren und diese den Abhang hinunter ins Meer stürzen. In Mk 13,14 sind die Berge Zufluchtsort beim »Gräuel der Verwüstung«. 410

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Die Frage, was das Bildwort vom Bergeversetzen bedeutet, ist erst nach einem ausführlichen Durchgang durch die Geschichte des Motivs in den unterschiedlichen jüdischen Traditionssträngen zu beantworten. Die sehr grundsätzliche thematische Angabe in V. 22 lässt jedoch schon jetzt vermuten, dass in V. 23 ein ebenso grundsätzliches Bildwort für die Tat des Glaubens verwendet wird, das qualitativ-inhaltlich etwas über die πίστις θεοῦ selbst auszusagen vermag. Es greift wohl etwas zu kurz, wenn das Bildwort bloß dahingehend verstanden würde, dass einfach »dem Glaubenden ein größeres Wunder als das Feigenbaumwunder verheißen«415 wird. Besondere Beachtung verdient zuletzt das Demonstrativpronomen bei ὄρος. GNILKA sieht in V. 23 eine »bildhafte Aussage, die an keinen Ort und keine Zeit gebunden ist.«416 Allerdings ist es angesichts des genauen topographischen Rahmens von Mk 11–13 fast unvermeidlich, bei »diesem« Berg in Mk 11,23 an einen konkreten Berg zu denken417: »›Dieser Berg‹ (τῷ ὄρει τούτῳ) ist der Ölberg, von dessen Ostabhang unfern von Betanien das Tote Meer sichtbar ist.«418 Was diese (zunächst einmal markinische) topographische Fixierung für die Deutung des Bildwortes beiträgt, wird ebenfalls herauszuarbeiten sein. 1.2.2.5 »Das Haus des Gebets für alle Völker« (Mk 11,17) und das Gebet der Jüngerinnen und Jünger Jesu (Mk 11,24–25) Die Verse über das Gebet sind syntaktisch als Folgerung von Mk 11,23 gekennzeichnet. Die πίστις und ihre Beschreibung als Berge versetzender Glaube (in der Nähe des Ölbergs!) bilden somit den Verstehensrahmen für die Gebetsaussagen.419 Mk 11,24: διὰ τοῦτο λέγω ὑμῖν,

Deswegen sage ich euch:

πάντα ὅσα προσεύχεσθε καὶ αἰτεῖσθε, Alles, worum ihr betet und bittet – πιστεύετε ὅτι ἐλάβετε [Aorist!], glaubt, dass ihr es schon erhalten habt, καὶ ἔσται ὑμῖν. und zuteilwerden wird es euch.

415

PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 204. GNILKA, Markusevangelium (EKK II,2) 134. 417 V. 23 ist ein Amen-Wort, »das wie alle Amen-Worte der vormk Passionsgeschichte kontextbezogen und situationsgebunden formuliert ist (vgl. 12,43; 14,9.18.25.30)« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203). 418 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 204. So auch GNILKA, falls man »diesen Berg« konkret verstehen würde (vgl. GNILKA, Markusevangelium (EKK II,2) 134). BEDENBENDER deutet den Berg als »Berg des Tempels«, den der Glaube versetzen muss. Nach seiner Theorie ist es anstelle des Feigenbaums nun das Bergeversetzen, das die politische Bedeutung (der – nach ihm – messianischen Hoffnung) ausmacht (BEDENBENDER, Feigenbaum 19). 419 Anders PESCH, der diesen Zusammenhang umdreht: »In der Zusammenstellung der Sprüche über Glauben und Gebet bei Markus wird auch das Machtwort des Glaubens (VV. 14.23) als Gebetswort interpretiert (…).« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 208) 416

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Der durch διὰ τοῦτο420 und ebenso wie in Mk 11,23 durch eine λέγω ὑμῖνFormel421 eingeleitete Spruch in V. 24 besteht (strukturgleich422 mit V. 23) in der Protasis aus einem Imperativ im Sinn eines konjunktionslos formulierten Konditionalsatzes und in der Apodosis aus einer futurischen Aussage. Im Unterschied zu V. 23 werden die Zuhörer in der 2. Person Plural direkt angesprochen. In direkter imperativischer Form werden die Jünger also in V. 24 aufgefordert, von allem, worum sie beten und bitten, zu glauben, dass sie es schon erhalten haben. Dies stellt die Bedingung dar, damit das Erbetene den Jüngerinnen und Jüngern sein wird. Man erinnert sich sofort zurück an die paradiesischen Zustände aus dem Raben- und Lilienlogion und an die daraus resultierende Zuversicht und Heiterkeit: Bittet, und gegeben werden wird euch! Ähnlich wie dort liegt auch hier der Akzent sowohl von der Satzstruktur her als auch inhaltlich auf dem πιστεύετε und damit auf dem Bezug zur βασιλεία τοῦ θεοῦ, deren Auswirkungen auf die προσευχή aufgezeigt werden.423 Die beiden Begriffe προσεύχομαι und αἰτέομαι spezifizieren das Gebet als »Bittgebet«424, wo der Beter um den Empfang von etwas zu Gott betet (vgl. ἐλάβετε). Obwohl αἰτέομαι erst durch προσεύχομαι als Bitte an Gott und somit als Bittgebet erkennbar wird (Mk verwendet αἰτέομαι sonst nie für eine Bitte an Gott425), gilt es zu beachten, dass beide Verben eigenständig nebeneinander stehen (anders bei Mtpar!). Sowohl das Bitten als auch die προσευχή als solche werden hier mit der πίστις in Verbindung gebracht. Bei einem Blick auf die Verwendung des Gebets bei Mk fällt auf, dass bis Mk 8,26 nur vom Gebet Jesu selbst berichtet wird. Nach dem ersten Summa420 »διὰ τοῦτο bezieht die aus prophetischer Tradition stammende λέγω ὑμῖν-Formel (…), die in der Jesusüberlieferung der Amen-Formel verwandt ist und deren apokalyptischen Charakter teilt, auf den Kontext.« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203) 421 Dies wirkt hier wiederholend und kann u. U. für eine redaktionsgeschichtliche Rekonstruktion bedeutsam werden. 422 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 206. 423 Während ich davon ausgehe, dass das Gebet einen Teilaspekt der πίστις darstellt, der im religiösen Zentrum Jerusalem mit dem Haus des Gebets von Mk besprochen wird, sehen andere offenbar eine vollständige Deckung der Begriffe πίστις und Gebet: »24 macht das hyperbolische Wort von 23 für die Praxis in der Jüngerschaft Jesu verwendbar. Anwendung findet es im zuversichtlichen Gebet…« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 113). »V. 24 hat im jetzigen Textzusammenhang zunächst einmal die Funktion einer Deutung des vorangegangenen Bildwortes.« (HAHN, Verständnis des Glaubens 50) »Ist der Glaube Gott zugewendetes Vertrauen, so ist das Gebet Ausdruck dieses Glaubens« (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 135) Das Gebet ist zweifellos Ausdruck des Glaubens, aber es wäre falsch, daraus zu folgern, dass das Gebet einziger Ausdruck des Glaubens wäre (diese These wäre weder von der Verwendung der beiden Begriffe bei Mk noch von der Satzstruktur in Mk 11,24 her begründet). 424 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 206. 425 Das Verb steht in Mk 6,21–29; 10,35.38; 15,8; 15,43.

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rium von Jesu Tätigkeit in Mk 1,34 heißt es: »Und in der Frühe, noch gänzlich in der Nacht, stand er auf, ging hinaus und machte sich auf den Weg zu einem einsamen Ort, und dort betete er.« (Mk 1,35) In Mk 6,46 ist der Berg Ort des Gebets Jesu, der wieder allein ist, nachdem seine Jünger auf dem Boot vorausgefahren sind. In der Perikope Mk 9,14–29, also erst im zweiten Teil des Evangeliums, wird das Gebet in Zusammenhang mit der Heilung gebracht, wo der stumme und redelose Geist nur durch Gebet hinausgeworfen werden kann: »Diese Art kann durch nichts herauskommen, außer durch Gebet.« (Mk 9,29) Dass die Jünger den Geist nicht hinauswerfen konnten, ist angesichts der Tatsache, dass bisher bloß vom Gebet Jesu, aber nicht vom Gebet der Jünger die Rede war, konsequent. Nach dieser ersten direkten Konfrontation der Jünger mit der προσευχή spricht Jesus in Mk 11,24 ausführlicher darüber zu seinen Jüngern. Erst in Getsemani (Mk 14,32–42) nimmt Jesus Petrus, Jakobus und Johannes zu sich, die wie Jesus selbst »wachen und beten« (V. 38) sollen, stattdessen aber einschlafen. Somit führt Mk das Stichwort der προσευχή vom einsamen Gebet Jesu über Aussagen zum Gebet in Verbindung mit einer Geistaustreibung und der πίστις zum Gebetsaufruf an die drei Jünger.426 Bevor Jesus positiv zum Gebet aufruft, wird in Mk 12,40 noch eine negative Abgrenzung vorgenommen: Jesus warnt vor den Schriftgelehrten, welche zum Schein lang beten. Die Schriftgelehrten werden im unmittelbaren Kontext als diejenigen gekennzeichnet, »die in Talaren umhergehen wollen, die Begrüßungen auf den Märkten, Erstsitze in den Synagogen und Erstlager bei den Mählern wollen und die die Häuser der Witwen auffressen…« (Mk 12,38–40). Dadurch überführt Mk die Schriftgelehrten »einer falschen Grundeinstellung sowohl Gott als auch den Menschen gegenüber«427, welche ihr Leben in allen Dimensionen betrifft. Ein Gebet, das mit Präsentation von sich selbst, dem Verlangen nach Ehrerweisungen, dem Streben nach eigenem Profit und Ungerechtigkeiten im sozialen Bereich einhergeht, ist ein Scheingebet. Das Logion in Mk 11,24 sagt demgegenüber inhaltlich nicht direkt etwas über die προσευχή aus, es bindet das direkte Setzen auf Gott im Gebet aber an die eigene πίστις und damit an die Raum gewinnende βασιλεία τοῦ θεοῦ zurück. Das gleiche gilt für den im Logion stärker entfalteten Aspekt des Bittens um etwas: Es ist zurückgebunden an die πίστις, welche sich darauf einlässt und verlässt, dass das, was man erbittet, schon erhalten worden ist. Dass dabei mit ἐλάβετε eine Aorist-Form steht, hat in der Textgeschichte428 und in der Exegese für große Probleme gesorgt. Während einige Kommentare diese

426 Vorher findet sich der Gebetsaufruf schon in der Apokalypse in 13,18, wo es vom »Gräuel der Verwüstung« heißt: »Betet aber, dass es nicht geschehe winters.« 427 SÖDING, Glaube bei Markus 358. 428 Der Koine-Text liest λαμβάνετε; D, θ u. a. lesen λήμψεσθε, dies unter Paralleleinfluss von Mt 21,22 (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203).

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Aoristform futurisch verstehen wollen429, muss sie als Aorist wohl »ernstgenommen werden«430. Wenn man Gott um etwas bittet, dann wird man es nicht erhalten, wenn man nicht glaubt, dass man es schon erhalten hat431. Dieses radikal an den Beter zurückgebundene Gebet bildet somit einen Bestandteil der πίστις. Während in Mk 11,24 das Gebet als Bitte akzentuiert ist, geht es beim προσεύχομαι im folgenden Vers spezifisch um das Gebet, das um das Erlassen der eigenen Verfehlungen durch Gott bittet: Mk 11,25:432 καὶ ὅταν στήκετε προσευχόμενοι, ἀφίετε ει τι ἔχετε κατά τινος, ἵνα καὶ ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς ἀφῇ ὑμῖν τὰ παραπτώματα ὑμῶν.

Und wenn ihr betend dasteht, vergebt, wenn ihr etwas habt gegen jemanden, damit auch euer Vater in den Himmeln euch eure Verfehlungen vergibt.

Dieses im ἵνα-Satz, d. h. einem Finalsatz, ausgesprochene Vergeben Gottes ist die Folge des Erlassens anderen gegenüber, wozu die Betenden im Hauptsatz (ἀφίετε, Imperativ Praes. von ἀφίημι) aufgefordert werden.433 Nach Mk kann man nicht betend vor Gott stehen, wenn man nicht das, was man gegen

429 GNILKA: »…dagegen ist zu sagen, dass der Aorist gewisse futurische Bedeutung haben kann, wenn er nämlich nach einer futurischen Bedingung steht (…).« (Evangelium nach Markus (EKK II,2) 135). Entsprechend übersetzt GNILKA den Aorist im Präsens. PESCH: V. 24 als »Spruch, in dem der Glaube an den Empfang (ἐλάβετε gibt semitisches Perfekt wieder) des Erbetenen als Bedingung für die Erfüllung genannt ist« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 206). 430 SÖDING, Glaube bei Markus 333 Anm. 68. 431 Diesen Zusammenhang hat Mk in 9,51–52 vorgezeichnet: Die Bitte des Blinden (V. 51) kommentiert Jesus damit, dass der Glaube ihn gerettet habe (Pf.). Die Radikalität der Aussage in V. 24 erklärt sich vielleicht ein Stück weit auch aus der Kontrastsituation am Tempel, wo man erst durch das Opfer Sündenvergebung und Sühne erlangen konnte (unbeschadet der Feststellung, dass dieses Problem im folgenden Vers weiter thematisiert wird). Dagegen will das Logion diese Handlungsabfolge gerade umkehren (angesichts der verdorbenen Situation in extremer Weise): Das Erbetene (Sündenvergebung, aber auch ganz allgemein) liegt zunächst bei dem, der Gott bittet, erst dann bei Gott. 432 Nach V. 25 folgt noch der im Haupttext der NESTÉ-ALAND-Ausgabe nicht abgedruckte Vers: ει δε υμεις ουκ αφιετε ουδε ο πατηρ υμων ο εν τοις ουρανοις αφησει τα παραπτωματα υμων. Dieser wohl durch Einfügung nach Mt 6,14.15 an diese Stelle gerückte Vers »fehlt in frühen Textzeugen der verschiedenen Texttypen und passt auch strukturell nicht recht zu V. 25« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 203 Anm.c). 433 Wir dürfen dieses Bedingungsverhältnis nicht einfach willkürlich umdrehen und sagen: »Der Glaube öffnet den Menschen für die entscheidende Gabe Gottes, die Vergebung. Zugleich wird diese Gabe verbunden mit der Vergebungsbereitschaft gegenüber ›einem anderen‹, dem ›ihr etwas vorzuwerfen habt‹.« (KERTELGE, Markusevangelium (NEB II) 113).

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jemanden hat, erlässt. Nur so erlässt der Vater in den Himmeln434 die eigenen Verfehlungen (παραπτώματα435).436 Stärker kann Gottes Handeln nicht mehr an das eigene vergebende und befreiende Wirken zurückgebunden werden! Damit wird die Vergebung der Schuld durch Gott vom Tempel losgelöst, dessen »Hauptfunktion […] der Vollzug des sühnewirkenden Opfers«437 war.438 Zu diesem Tempel, der als wirtschaftliches Zentrum mit den dahinter stehenden Hohepriester und Schriftgelehrten nicht mehr der Ort des Gebetes und der Sündenvergebung durch Gott439 sein kann, wird hier eine Alternative eröffnet, die den Ort des Gebetes440 korrigiert. Nicht mehr topographisch im Tempel, sondern im unmittelbaren Glauben an Gott (und damit in der Erfahrung der βασιλεία τοῦ θεοῦ) sind das Gebet und die Sündenvergebung lokalisiert441. Auch hier gilt, dass »keine der religiösen Einrichtungen […] die »›Euer Vater‹ (ὁ πατὴρ ὑμῶν) ist eine die Jüngerunterweisung Jesu kennzeichnende, im Mk-Ev. nur hier vorkommende Wendung…« Der Ausdruck »Vater in den Himmeln« ist »jüdisch und auch in der Q-Tradition mehrfach für Jesus bezeugt« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 207). Wir können daher kaum »die Eröffnung des Vatergedankens als Einbeziehung in das Sohnesverhältnis Jesu« (GNILKA, Evangelium nach Markus (EKK II,2) 135) verstehen. 435 Dieses Wort ist ein Hapaxlegomenon bei Mk, in den Evangelien taucht es nur noch in Mt 6,14.15 auf. »παράπτωμα […] hat stärker als ἁμαρτία, womit die Sünde als Gesamthaltung und Grundeinstellung charakterisiert ist, die einzelne Verfehlung, den Fehltritt im Auge« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 207). 436 Nur dann, wenn der Betende »seinem Mitmenschen die Schuld erlässt, erfüllt er die Bedingung, dass auch Gott ihm seine Sünden vergibt (…)« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 207). 437 HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 116. Vgl. auch s.117–119, wo HAUSER den interessanten Zusammenhang aufzeigt und belegt, dass die Vorstellung der präsenten Gottesherrschaft eng mit der sühnenden Funktion des Tempelkultes verbunden gewesen ist. 438 Dadurch vermag HAUSER (Herrschaft Gottes im Markusevangelium 123–124.) auch überzeugend darzulegen, weshalb bei der Frage nach der Vollmacht Jesu, den Tempelbetrieb zu stören (Mk 11,27 ff), die Rückfrage nach Johannes dem Täufer gestellt wird. Schon dieser hatte die Sündenvergebung weg vom Tempel hinein in die Wüste verlegt (vgl. Mk 1,2–13), immerhin noch verbunden mit der kultischen Handlung der Taufe, die bei Jesus wegfällt. So können die Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten die Frage Jesu nicht beantworten: »War ›die Taufe des Johannes‹, nämlich die Busstaufe ›zur Vergebung der Sünden‹ (Mk 1,4), ›vom Himmel‹ (Mk 11,30), d. h. von Gott autorisiert, dann geschieht es mit göttlicher Vollmacht, wenn die Funktion des Tempels problematisiert und die Sündenvergebung vom Opferkult abgekoppelt wird.« (HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 124) 439 Da der Tempel auch als wirtschaftliches Zentrum (und nicht nur als religiöses) angesprochen wird, geht es auch um die mit dem Wirtschaftssystem Tempel verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten. Schließlich ist es in Mk 11,12 ja der Hunger Jesu, der den unmittelbaren Anlass dazu bietet, den Feigenbaum zu verfluchen. 440 »Wenn es in Mk 11,17 heißt, der (neue) Tempel müsse für alle Völker ein Haus des Gebetes sein, so knüpfen die Verse 22–25 daran an und führen aus, welcher Art das Gebet ist, das den neuen Tempel, die Gemeinde, prägen soll.« (SÖDING, Glaube bei Markus 322) 441 »Der himmlische Vater der Jünger Jesu bindet seine Zusagen, auch die der Sündenverge434

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Unmittelbarkeit der Herrschaft Gottes auch nur im Geringsten«442 beeinträchtigen darf. Das Gebet der Jüngerinnen und Jünger Jesu insgesamt erhält in Mk 11,24– 25 im übertragenen Sinn auch eine neue ›Topographie‹ durch die zwei Kennzeichen des Glaubens, dass man das Erbetene bereits erhalten hat, und des Verzeihens den Menschen gegenüber. Der passende Ort hierzu scheint für Mk das religiöse Zentrum443 zu sein, wo der Zugang zu Gott jedoch durch wirtschaftliche Interessen, soziale Ungerechtigkeiten und einen Kult der stellvertretenden Sühne verschlossen ist444. 1.2.3 Mt 21,18–22 – »Nicht allein das des Feigenbaumes werdet ihr tun…« 1.2.3.1 Neue Akzentsetzungen im mt Kontext (Mt 21,1–17.23–32) Wie im Schema oben in Kap. 1.2.1 schon angedeutet wurde, finden sich bei Mt in der Makrostruktur des Beginns von Jesu Jerusalemaufenthalt zwei große Unterschiede zu Mk: (1) Mt verkürzt das mk Zeitschema von drei auf zwei Tage. Nach dem messianischen Einzug nach Jerusalem (mit angefügter zusätzlicher Szene beim Eintreten in die Stadt) geht Jesus ins Heiligtum, wo direkt seine Tempelaktion beschrieben wird.445 (2) Damit wird die mk Rahmung der Tempelaktion durch die Verfluchung des Feigenbaums aufgebrochen, die durch den direkten Anschluss der Tempelaktion an die erste Ankunft in Jerusalem unmöglich wird. Die gesamte Feigenbaumperikope folgt so erst nach dem Geschehen im Tempel, davon deutlich abgetrennt durch die Zäsur des neuen Tages. Mt schafft somit im Vorfeld der Perikope 21,18–22 eine (thematisch und im Tagesschema) neue Einheit der V. 1–17, die nun dreiteilig Jesu Einzug nach Jerusalem, sein Eintreten in die Stadt und sein Wirken im Tempel beinhaltet.

bung (…), nicht mehr an den Tempel, sondern an die in Gebetswort und Vergebungstat ungeteilten Herzen der Christen, den geistlichen Tempel der christlichen Gemeinde.« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 208) 442 VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft 83. 443 In der Nähe von Jerusalem und in Jerusalem selbst tut Jesus bei Mk keine Wunder, es ist hier »nicht mehr von einer präsenten βασιλεία die Rede« (HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 113). HAUSER gelingt es gut, die soziale und kultkritische Dimension der βασιλεία aufzuzeigen (seine gesamte Argumentation dazu auf s.113–129). 444 Etwas differenzierter müsste man sagen: »In Mk 11,15–19 wird (…) die Institution Tempel keineswegs abgelehnt, jedoch wird die derzeitige kultische Funktion problematisiert und die Umwidmung zum ursprünglich (…) gedachten ›Bethaus für alle Völker‹ gefordert.« Erst durch die Zeichenhandlung des verfluchten Feigenbaums wird deutlich, dass für Mk »man sich auch nicht mehr zum Gebet einfinden« wird im Tempel (HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 122.123). 445 »Mt mag den Einzug ohne Ausklang in der Stadt als unbefriedigend empfunden haben« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 206).

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Innerhalb dieser drei Teile finden sich Veränderungen, die teilweise neue theologische Akzentsetzungen von Mt aufzeigen. Im ersten Teil (Mt 21,1–9) halten sich diese Veränderungen noch in Grenzen. Es beginnt mit der gleichen Ortsangabe, außer dass Betanien weggelassen ist446. Während Mk den Text prophetischen Texten wie Sach 9,9 nachgebildet hatte, zitiert Mt ausdrücklich atl. Zitate als Erfüllungszitate447: »Sprecht zur Tochter Sion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanft und aufgestiegen auf eine Eselin und auf ein Füllen, (dem) Jungen eines Zugtiers.« (Mt 21,5) Im ersten Teil des Satzes zitiert Mt Jes 62,11 LXX448, danach Sach 9,9. Auch hier »lehnt sich der Mt-Text an LXX an«449: Mt 21,5

Sach 9,9 LXX

Εἴπατε τῇ θυγατρὶ Σιών [Jes 62,11] ᾽Ιδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι

χαῖρε σφόδρα θύγατερ Σιων κήρυσσε θύγατερ Ιερουσαλημ ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι δίκαιος καὶ σῴζων αὐτός πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον

πραῢς450 καὶ ἐπιβεβηκὼς451 ἐπὶ ὄνον452 καὶ ἐπὶ πῶλον453 υἱὸν ὑποζυγίου454.

Dieses Zitat, das Mt offenbar so ernst nimmt (wobei er es missversteht), dass er Jesus auf den beiden Tieren in die Stadt einziehen lässt455, verstärkt den messianischen Eindruck des ganzen Geschehens. Dem gleichen Zweck dient auch die Einführung des Titels ›Sohn Davids‹: »Hosanna dem Sohn Davids; gesegnet der Kommende im Namen (des) Herrn, Hosanna in den Höhen!« (Mt 21,9; vgl. Ps 118,25 f). »Begrüßt wird nicht die kommende Königsherrschaft unseres Vaters David (Mk 11,10), sondern der Sohn Davids.«456 Eine ganz neue Szene hat Mt in 21,10–11 beim Hineingehen nach Jerusalem gestaltet. Auf die Frage der ganzen erbebenden Stadt, wer dieser (Jesus, der Davidsohn) sei, antwortet die Volksmenge: »Dieser ist der Prophet Jesus, der von Nazareth in Galiläa.« (V. 11)457 Die Volksmenge, welche diese Proklama446

»Deutet dies an, dass er darum wusste, dass die Pilgerstraße von Jericho nach Jerusalem nicht über Betanien führte?« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 199). 447 GNILKA spricht von einem »Reflexionszitat« (Matthäusevangelium (HThK I,2) 199). 448 Wobei der masoretische Text dem auch völlig entspricht. 449 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 202. 450 »milde, sanft«. 451 Nominativ maskulin Singular Partizip Perfekt Aktiv von ἐπιβαίνω. 452 Eselin, durch ὄνον δεδεμένην in V. 2 als weibliches Tier bestimmt. 453 »Füllen«. 454 »Esel«. 455 »Wichtiger ist für den Evangelisten die buchstäbliche Erfüllung des Prophetenwortes, in dessen Interpretation er den Parallelismus membrorum (bewusst?) missverstand.« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 203). 456 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 199. Der Begrüßungsruf wird damit »in christologischer Hinsicht präzisiert.« 457 Angesichts der messianischen Szenerie ist es erstaunlich, dass Mt gerade den Propheten-

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tion über den Propheten Jesus abgibt, wird hier noch der Stadt gegenüber gestellt. Mit dem Erbeben (σείω458) der Stadt wird das ganze Geschehen dramatischer, erhält viel größere Dimensionen als bei Mk. In der unmittelbar anschließenden Tempelszene lässt Mt zu Beginn zwei Elemente von Mk weg, nämlich die dritte Handlung Jesu (Hinderung derer, die ein Gefäß durch das Heiligtum hindurch tragen wollen) und die Völker im Zitat aus Jes 56,7. Während Mt soweit Mk folgt, hat er nach dem Jesaja-Zitat einen neuen Teil geschaffen (Mt 21,14–16), der »von Heilungen an Blinden und Lahmen, Kinderjauchzen im Tempel und einer kurzen, aber scharfen Auseinandersetzung mit den Hierarchen«459 handelt. Durch die Heilung von Blinden und Lahmen im Heiligtum wird Jesus »als der barmherzige, menschenfreundliche Messias«460 dargestellt461. Auf das Staunenswerte, das Jesus hier tut, antworten die Kinder schreiend mit der dem Davidsohn geltenden Hosanna-Proklamation. Dieses Lob »Hosanna dem Sohn Davids« ist identisch mit dem beim Einzug in V. 9. Dies macht deutlich, dass Mt die Geschehnisse vom Beginn des Einzugs in die Stadt bis zu Jesu messianischer Demonstration im Tempel im Zusammenhang gelesen haben will; sie dienen der (im Unterschied zur bei Mk verborgenen) offensichtlichen messianischen Proklamation Jesu. Der kritische Aspekt der Tempelreinigung ist somit bei Mt zurückgebunden aufgrund dieser neuen theologischen Akzentsetzung. Das Gespräch zwischen Jesus und den Hohepriestern und Ältesten des Volkes über Jesu Vollmacht, das in Mt 21,23–27 folgt, führt Mt weiter mit dem Gleichnis von den ungleichen Brüdern (V. 28–32), welches eine »Sonderüberlieferung des Mt«462 darstellt. Auf den Aufruf, im Weinberg zu arbeiten, reagieren die beiden Brüder unterschiedlich. Der erste sagt, dass er nicht gehen wolle, geht dann aber doch; der zweite sagt, dass er gehe, geht dann aber nicht. Das Gleichnis dient dazu, die Hohepriester und Ältesten jener unaufrichtigen Haltung zu überführen, welche der zweite Bruder gezeigt hat. Die Überführung titel auf Jesus anwendet: »In der Tat hat Mt den Prophetentitel, auf Jesus angewendet, nirgendwo überbewertet, sondern als unzureichend zu verstehen gegeben (16,14; 21,46; vgl. 11,9).« Auch der Rückverweis auf Galiläa ist bedeutsam: »Ihre Schärfte erhält die Auskunft durch die Bindung dieses Propheten an das galiläische Nazareth, mit der Mt sonst Schwierigkeiten zu haben scheint (2,23).« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 204) 458 Das gleiche Verb verwendet Mt in 27,51 beim Beben der Erde, als Jesus am Kreuz gestorben war. In 28,3 geschieht ein Erdbeben (σεισμός), als die Frauen zum Grab kommen. Und in 28,4 erbeben die Wachen vor dem erschienenen Engel. 459 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 206. Die Auseinandersetzung mit den Hohepriestern und Schriftgelehrten greift auf Mk 11,18 zurück. Mt wurde also für seinen neu geschaffenen Teil u. a. von Mk 11,18 angeregt. 460 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 208. Die Szene hat dadurch »christologische Relevanz«. 461 Blinde und Lahme zu heilen gehörte zu den typischen Taten des Messias, vgl. Jes 35,5 und viele andere Texte. 462 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 219.

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geschieht dadurch, dass sie ihr Urteil in der Antwort auf die Frage zum Gleichnis selbst sprechen, indem sie zugeben, dass der erste den Willen des Vaters getan hat (V. 31). Genauso unaufrichtig, wie sich der zweite Bruder verhalten hat, haben sie selbst sich benommen, als sie auf Jesu Frage nach Johannes dem Täufer unaufrichtig geantwortet haben (V. 27). Was sie da nicht zugeben wollten, wird in V. 32 ausgesagt: Sie haben Johannes, der »auf dem Weg der Gerechtigkeit« (V. 32) kam, nicht geglaubt und nicht Reue bekannt, selbst dann nicht, als sie gesehen haben, dass die Zöllner und Dirnen ihm geglaubt haben. Mt insistiert mit dieser Erweiterung gegenüber Mk stärker auf dem Unglauben der Hohepriester und Ältesten. Damit wird der Kontrast zu Jesus und seinen Jüngern nochmals verstärkt. Zugleich bildet das Gleichnis den Auftakt zur weiteren Auseinandersetzung, die anschließend (wie bei Mk) mit dem Winzergleichnis fortgesetzt wird. 1.2.3.2 Das Bergeversetzen als Überbietung des Feigenbaumwunders? Wie bei Mk ist der neue Tag mit πρωῒ eingeleitet. Nach dem ersten Tag mit der messianischen Proklamation Jesu macht sich dieser mit seinen Jüngern erneut auf, von Betanien nach Jerusalem aufzubrechen (ἐπανάγω = hinaufgehen, zurückkehren). Mt hat das Feigenbaumwunder gegenüber Mk gekürzt (so hat er »denn es war nicht die Zeit der Feigen« aus Mk 11,13 weggelassen463) und einige Änderungen angebracht (der Feigenbaum befindet sich auf dem Weg (V. 19); in V. 20 reagieren die Jünger, nicht mehr nur Petrus allein), die sich teilweise aus der Zusammenstellung der beiden bei Mk getrennten Teile ergeben haben: Der Baum verdorrt auf der Stelle (παραχρῆμα). Dadurch »wird das Fluchwunder464 verstärkt, denn der Feigenbaum verdorrt sofort nach der Ankündigung Jesu.«465 Wofür steht der Feigenbaum bei Mt? Im Unterschied zu Mk, wo der verdorrende Feigenbaum aufgrund der Umrahmung der Tempelaktion als Symbol für das lebendige Gebilde des Tempels, das kaputt geht, verstanden werden muss, ist dieser konkrete Bezug bei Mt weniger eng (deutliche Abgrenzung durch den neuen Tag)466. Ob an den Tempel, Jerusalem, die Führer Israels o a. zu denken ist, lässt Mt an dieser 463 Das Problem der falschen Jahreszeit »kümmert den Erzähler Matthäus, der in Äußerlichkeiten sorglos ist, nicht.« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 201). 464 Nach SCHNACKENBURG sollte man »diese einzigartige Geschichte« »nicht als ›Strafwunder‹ (das einzige in den Evangelien!) bezeichnen… (Bestrafung eines natürlichen Gewächses?)«, vielmehr sollte man sie »unter die Zeichenhandlungen Jesu rechnen.« (SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium (NEB I,2) 199). 465 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 198. 466 Anders SCHNACKENBURG: Der Sinn besteht darin, »Jesu Vorgehen im Tempel als Gericht über Israel zu deuten. Mt, der die beiden Teile bei Mk zusammenzieht, hält diese Sicht fest, wie der Kontext seines Evangeliums nahe legt.« (SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium (NEB I,2) 199)

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Stelle offen. Jedenfalls gehört der Text in die bei Mt akzentuierte Auseinandersetzung mit den jüdischen Schwestern und Brüdern.467 Durch das augenblickliche Verdorren »tritt bei Mt der erste Teil in seinem Charakter als Wundergeschichte reiner hervor.«468 In Mt 21,21, wo von der πίστις die Rede ist, wird das Feigenbaumwunder explizit aufgenommen: »Nicht allein das des Feigenbaums werdet ihr tun«. »Dieses schon massive Wunder wird durch das in V. 21 verheißene ›Glaubenswunder‹ noch überboten:«469 »Auch wenn ihr zu diesem Berg sprecht: werde weggetragen und ins Meer geworfen, wird es geschehen.« Mt hat somit den Zusammenhang zwischen der Verfluchung des Feigenbaums und dem Logion vom bergeversetzenden Glauben in doppelter Hinsicht verstärkt: (1) durch die unmittelbare und vollständige Aneinanderreihung der beiden Wundergeschehen470; (2) durch den Eintrag des Feigenbaumwunders in das mk Logion Mk 11,23. Mt 21,22, der nahtlos an V. 21 anschließt (ebenfalls in der 2. Person, ohne neue Redeeinleitung), hat Mt gegenüber Mk gekürzt und straffer gestaltet: Mt 21,22 καὶ πάντα ὅσα ἂν αἰτήσητε ἐν τῇ προσευχῇ πιστεύοντες λήμψεσθε.

Und alles, worum ihr bittet im Gebet, werdet ihr empfangen, wenn ihr glaubt.

Mt hat die geschilderte Tätigkeit als αἰτέω ἐν τῇ προσευχῆ (Bitten im Gebet) genauer bestimmt. Das schwierige mk ὅτι ἐλάβετε hat er weggelassen, das Verb λαμβάνω dafür im Futur im Hauptsatz aufgenommen, mit vorangestelltem Partizip πιστεύοντες.471 Der Glaube bildet auch bei Mt die Voraussetzung für die Erfüllung des Bittgebetes.472 467 »Die Parabel von den bösen Pächtern (21,33–44), wo wieder von den ›Früchten‹ die Rede sein wird [wie in Mt 21,19], und vor allem ihr abschließender V. 43 wird das hier nur rätselhaft angedeutete Gerichtszeichen weiter erläutern. Die Episode vom Feigenbaum bereitet jenen Text vor.« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 202). 468 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 211. 469 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 198. Das Feigenbaumwunder erscheint so als ein – wenn auch noch unzureichendes – »Glaubensparadigma für die Jünger« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 211). Daher gilt: »Das Feigenbaumwunder ist zugleich eine zeichenhafte Gerichtsankündigung und ein Glaubenswunder« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 202). 470 Dadurch ist neu »eine Doppelperikope mit einer positiven und einer negativen Seite« entstanden (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 213). 471 GNILKA bezieht dieses Partizip offenbar auf das Gebet, wenn er übersetzt: »Und alles, um was ihr im Gebet glaubend bittet, werdet ihr empfangen.« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 211) Dagegen ist das Partizip aber auf λήμψεσθε zu beziehen (so Münchener NT und auch Einheitsübersetzung). 472 Diese Zusicherung der Erhörung des Bittgebets hat Mt schon in 7,7–11 gegeben. In 18,19 ist sie an die Gemeinsamkeit von zwei Betern geknüpft: »Wenn zwei von euch auf der Erde in jeder Sache, die immer sie erbitten (οὗ ἐὰν αἰτήσωνται), übereinstimmen, wird es ihnen von meinem Vater in den Himmeln zuteil werden.«

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Das letzte Logion der mk Perikope (Mk 11,25) lässt Mt weg, »weil er den Vers schon in 6,14 f tradiert hat.«473 In 6,14 schließt dieser Ausspruch über das Verzeihen unmittelbar an das Vaterunser an und ist um die negative Parallele ergänzt (»wenn ihr aber nicht erlasst…«). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Mt mit der expliziten Überbietung der Verfluchung des Feigenbaums durch das Bergeversetzen beide Wunder den Jüngerinnen und Jüngern zuweist und damit auf die gleiche Ebene legt. Es wird zu fragen sein, was Mt dann spezifisch unter dem Bergeversetzen versteht: einfach ein noch größeres Wunder? Auf den ersten Blick und ohne Berücksichtigung der Parallele in Mt 17,20 könnte man diesen Eindruck gewinnen. Es müsste so dem kritischen, von Paulus inspirierten Kommentar von LUZ zugestimmt werden: »Gegen seine eigene Absicht entlockt dieser etwas missglückte Textabschnitt mir als heutigem Leser den Wunsch, der Glaube möge nur dann allmächtig sein, wenn er Taten der Liebe wirken möchte.«474 1.3 Die μετάβασις des Berges als Eintrag in ein Q-Logion (Lk 17,6) in neuem Kontext (Mt 17,20) 1.3.1 Lk 17,1–10 – Verpflanzte Bäume und das befreiende Handeln des Senfkornglaubens Das Logion vom Senfkornglauben, der den Maulbeerbaum verpflanzt, befindet sich in einer »Aneinanderreihung von vier Worten an die Jünger«475 in Lk 17,1–10. Die Verse sind durch die Redeeinleitung in 17,1 (»Er sprach aber zu seinen Schülern«) und die neuen geographischen Angaben in 17,11 (»Und es geschah beim Gehen nach Jerusalem, dass er durchzog mitten durch Samareia und Galilaia«) klar als Einheit abgrenzbar. Dabei nimmt Jesus die Lehre an seine Jünger wieder auf (vgl. Lk 16,1), nachdem er sich zwischendurch »an seine Gegner gewandt hat (vgl. 16,14–15).«476 In den »locker aneinandergereihten«477 Texten mit den vier Themen478 Abfall (V. 1–3a), Verzeihen (V. 3b4), Glaube (V. 5–6) und Dienst (V. 7–10) lässt sich ein »innerer Zusammenhang«479 und eine gewisse Argumentationslinie feststellen:

473

LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 198. LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,3) 203. 475 KREMER, Lukasevangelium (NEB III) 167. 476 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 132. 477 KREMER, Lukasevangelium (NEB III) 167. 478 Diese vier Themen nach BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 132. BOVON spricht allerdings davon, dass diese vier Themen angegangen werden, »ohne dass dabei sogleich eine logische Aneinanderreihung deutlich wird.« 479 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 132. 474

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(1) Ausgangspunkt bildet die Warnung (V. 3) vor Ärgernissen, die zwar als »in Gottes Plan gründende Notwendigkeit«480 kommen (gemäß den Gesetzmäßigkeiten apokalyptischer Vorstellungen), jedoch von der eigenen Verantwortung nicht entlasten (daher die Warnung). Die andernfalls eintretende Folge, wenn man einem einzigen der (bei Lk Demonstrativpronomen!) »Kleinen« Anstoß gibt, wird drastisch mit dem Ertränken ins Meer unterstrichen. (2) Die Thematik wird in einem zweiten Schritt eingegrenzt auf den Umgang mit der Sünde unter den Jüngerinnen und Jüngern Jesu, bzw. dann in der christlichen Gemeinde. Dabei wird den Jüngern ziemlich viel zugemutet. Siebenmal am Tag (zur Zahl sieben vgl. u. a. Ps 119,164) sollen sie einem Bruder vergeben, wenn er sündigt und danach immer wieder umkehren will. Die apokalyptische Parteiergreifung für die Kleinen, welche zum Bösen verführt werden, geht somit einher mit einem ungeheuren Vergebungspotential der Gegenwart, welches die JüngerInnen Jesu mit ihrem verzeihenden Handeln immer wieder ausschöpfen sollen. (3) Vor diesem Hintergrund erhält die Bitte der Apostel (V. 5) an den Herrn (Kyrios) um Hinzufügung des Glaubens (πρόσθες ist Imp. Sing. Aorist von προστίθημι – hinzu-legen) eine konkrete inhaltliche Akzentsetzung: Sie »stehen der Größe der Aufgabe – vor allem jener des Vergebens – hilflos gegenüber und bitten deshalb Jesus um Hilfe.«481 In dem Sinn, dass die Jünger für das ständige Vergeben um Vermehrung des Glaubens bitten, wird hier der Glaube als Stütze und als Ausdruck einer vergebungsbereiten Grundhaltung erkennbar. Jesus geht auf spezielle Art und Weise auf die Bitte ein482, indem er in einem Bildwort aufzeigt, wozu der Glaube eigentlich fähig wäre. Der Glaube wird mit einem Senfkorn (κόκκος σινάπεως) verglichen, womit die Verbindung zum Senfkorn-Gleichnis von der βασιλεία τοῦ θεοῦ in Lk 13,18–19483 hergestellt wird484. Die Kleinheit des Senfkorns (und damit des Glaubens485) kontrastiert mit der Größe des συκάμινος, des Maulbeerbaums,

480

KREMER, Lukasevangelium (NEB III) 168. BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 140. 482 Nach Jesus kommt es so nicht auf eine Mehrung des Glaubens an, sondern auf die »Integrität des Glaubens. Vor allem aber: das πιστεύειν kann den Menschen nicht abgenommen werden. Die πίστις ist des Menschen eigene Sache« (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben, 151). 483 Mk 4,30–32parr. 484 Das Wort κόκκος σινάπεως taucht im NT nur im Senfkorngleichnis auf. κόκκος allein findet sich noch in Joh 12,24 (Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt und reiche Frucht bringt [vgl. Situation nach dem messianischen Einzug, Leben in dieser Welt und ewiges Leben]) und 1Kor 15,37 (thematischer Zusammenhang der Auferstehung: Samenkorn, das stirbt und woraus dann etwas Lebendiges wird). 485 Jesus reagiert damit also nicht direkt auf die Bitte der Jünger nach Hinzufügung von Glauben (The disciples »do not need a measurable amount of faith to achieve this, since any 481

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»dessen Stacheln und Wurzeln das Ausreißen zu einer schwierigen Angelegenheit machen.«486 Die Kleinheit des Glaubens vermag so unmöglich scheinendes Großes zu tun, das im grammatikalischen Hauptsatz (dieser ist im Unterschied zum Bedingungssatz, der aus εἰ und Indikativ Präsens bestehend real ist, eine irreale Konstruktion aus Imperfekt und ἄν487) von V. 6 ausgedrückt wird: Der Maulbeerbaum soll entwurzelt (Impt. Aor. Sing. Pass von ἐκριζόω) und ans (ἐν) Meer gepflanzt (Impt. Aor. Sing. Pass. von φυτεύω) werden. Die Übersetzung »an/ins Meer«488 wirft dabei einige Probleme auf: »The image of the tree in the sea […] asks for ridicule.«489 Daher gilt: »᾽Εν τῇ θαλάσσῃ need not mean ›in the sea‹ at all. It can very well mean ›by the sea‹ (bayyam), as numerous examples testify.«490 Als Belegstellen kann u. a. Lk 13,4 (ἐν τῷ Σιλωάμ) angeführt werden. Der Maulbeerbaum würde so an das Ufer des Meeres verpflanzt. Jedenfalls würde der Baum den Jüngern gehorchen (Ende von V. 6).491 (4) »Das in Frageform angefügte Gleichnis«492 geht gegen falsche Ansprüche vor und »mahnt zu Bescheidenheit und Demut«493 und scheint mir bewusst nach der großen Zusage der Wirkungen des Glaubens an die Jünger platziert: Diejenigen, denen der Maulbeerbaum »gehorcht« (V. 6), sind selbst »unnütze Sklaven« (V. 10), die getan haben, was sie schuldeten zu tun. Der Ausspruch in V. 5–6 wird so vor jeglicher überheblicher Interpretation durch dieses anschließende Gleichnis geschützt.494 Was ist nun mit dem scheinbar Unmöglichen, mit dem Bildwort in V. 6 genauer gemeint?495 Es wird am aufschlussreichsten sein, den einzelnen Begriffen und ihrer Vorgeschichte im AT (natürlich nur fragmentarisch) nachzugehen. Der Begriff συκάμινος wurde mit Maulbeerbaum übersetzt. Jedoch scheint dieses Wort, das im gesamten NT einzig in Lk 17,6 vorkommt,

faith will expand to the ultimate requisite« (DERRETT, Moving Mountains 37)), sondern behandelt den Glauben als etwas im Vergleich zu dem, was er bewirkt, Kleines. 486 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 140. 487 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 140. 488 »Mit dem Meer ist wahrscheinlich der See Gennesaret gemein« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 110). 489 DERRETT, Moving Mountains 36. 490 DERRETT, Moving Mountains 36–37. 491 »It will be a matter of the tree’s obedience – not merely of their success.« (DERRETT, Moving Mountains 37) 492 KREMER, Lukasevangelium (NEB III) 168. 493 KREMER, Lukasevangelium (NEB III) 169. 494 Vielleicht hatte Lk hier ein ähnliches Problem wie Paulus in 1Kor 13 zu lösen! Siehe Kap. III.4.4.2. 495 Unwahrscheinlich ist, dass in Lk 17,6 mit der Rede vom συκάμινος ein »Reflex von Mt 11,23« vorliegt, denn Lk redet von einem συκάμινος und nicht wie Mk von einer συκη, zudem lässt er die Feigenbaumverfluchung aus (SÖDING, Glaube bei Markus 326).

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in der Septuaginta »eine andere Baumart zu bezeichnen: den Maulbeerfeigenbaum, der als unausreissbar galt und einen markanteren Kontrast zu dem Senfkorn abgibt.«496 In der Septuaginta entspricht συκάμινος dem hebräischen ‫מה‬ ָ ‫ק‬ ְ ‫שׁ‬ ִ , der Sykomore, d. h. dem Maulbeerfeigenbaum: Am 7,14; 1Chr 27,28 (Öl- und Maulbeerfeigenbäume in der Schefela); Ps 78,47. In zwei weiteren Stellen taucht der Baum in (unterordnender) Verbindung mit der »Zeder« (griechisch κέδρος, hebräisch ‫רז‬ ֶ ‫א‬ ֶ ) auf497: Der König machte das Silber in Jerusalem so häufig wie die Steine und die Zedern so zahlreich wie die Maulbeerfeigenbäume in der Schefela (1Kön 10,27 = 2Chr 1,15; 2Chr 9,27; ִ ְ‫שּׁ ק‬ ִ ‫כּ‬ ַ ‫רז ִים ָנתַן‬ ָ ‫א‬ ֲ ‫ה‬ ָ ‫)ְואֵת‬. Die LXX τὰς κέδρους ἔδωκεν ὡς συκαμίνους… ; MT …‫מים‬ Ziegelmauern sind gefallen, jetzt bauen wir mit Quadern; die Maulbeerfeigenbäume ִֽ ‫ק‬ ‫שׁ‬ ְ ‫מ‬ ִ ‫ )םי‬hat man gefällt, jetzt pflanzen wir Zedern (‫ארִָזים‬ ֲ ‫)ַו‬. (Jes 9,9 MT; »Jes 9,9 MT contrasts sycomines with cedars, but the LXX links them«498: καὶ ἐκκόψωμεν συκαμίνους καὶ κέδρους)

Von der Zeder ist zwar im AT nicht zu lesen, dass sie entwurzelt und wieder eingepflanzt worden sei, jedoch findet sich in Ps 29 ein Hinweis auf Gottes Umgang mit den Zedern: »Die Stimme des Herrn zerbricht die Zedern, der Herr zerschmettert die Zedern des Libanon. Er lässt den Libanon hüpfen wie ein Kalb, wie einen Wildstier den Sirjon.« (Ps 29,5–6) Das Zerschmettern dieser Bäume ist hier als Aktivität Gottes geschildert. Damit sind uralte Traditionen aufgegriffen, die jedoch im Verlauf der Geschichte auf neue zukünftige Ereignisse hin gedeutet worden sind, so dass man sagen kann: »Eschatological manifestations apply to the cedar, and, a fortiori, to the sycomine (…) «499 So lesen wir u. a. in Baruch von der Vision (Bar 5,5–9), dass die gesammelten »Kinder« von Osten her nach Jerusalem ziehen werden, auf einem Weg, auf dem sich auf Gottes Befehl hin die Berge und Hügel gesenkt500 und die Täler geebnet hätten, und wo auch Bäume eine gewisse Rolle spielen: »Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß.« (Bar 5,9) »Fruiting trees must line the route by which the saints will march.«501 Geht es daher im Spruch von Lk 17,6 darum, dass Israel in Freude heimgeführt wird, dass Erbarmen und Gerechtigkeit Gottes kommen (Bar 5,9)? Vielleicht 496 BOVON, Evangelium nach Lukas (EKK III,3) 140. Obwohl Lk nebst dem συκάμινος auch den eigentlichen Begriff für den Maulbeerfeigenbaum, nämlich συκομορέα (Lk 19,4), kennt, setzt DERRETT den Sykaminos auch bei Lk mit der »fig-sycomore« gleich (Moving Mountains 37). 497 »The ›sycomine‹ is constantly associated in the Septuagint with the cedar« (DERRETT, Moving Mountains 37). 498 DERRETT, Moving Mountains 37 Anm. 31. 499 DERRETT, Moving Mountains 37. 500 Die Berge erinnern hier natürlich an die versetzten Berge im synoptischen Logion vom Berge versetzenden Glauben. Die Stichworte bieten hier also bereits einen Vorgeschmack auf das, was uns in Kap. III.2. zu den Bergen erwartet. 501 DERRETT, Moving Mountains 38.

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ist das Ausreißen und Einpflanzen des Maulbeerbaums an das Ufer des Meeres in der Tat ein Hinweis auf den Zug nach Jerusalem als Erweis von Gottes Erbarmen und Gerechtigkeit. Zur Sammlung Israels, die Jesus zu unternehmen versuchte, würde es jedenfalls passen. Die Jünger übernehmen dabei (mit Jesus) die »dienende Aufgabe« (die Jünger sollen ja wie Sklaven handeln: Lk 17,10), die in Ps 29 Gott zugesprochen wird, nämlich das Versetzen der Bäume, damit diese für den Durchzug Israels nach Jerusalem bereit stehen, d. h. für Freude, Gerechtigkeit und Erbarmen Gottes (in der Vision des Bar) und für das tägliche siebenmalige Verzeihen (in der Vision von Lk 17,4). Allerdings ist dies nur die eine Seite des Bildwortes. »›Trees‹, including vines, are used constantly to represent nations, communities, families.«502 Zunächst ist es das (zukünftige) Volk Israel, das als Pflanzung (φύτευμα) Gottes erscheint: Dein Volk besteht nur aus Gerechten; sie werden für immer das Land besitzen als aufblühende Pflanzung (LXX φύτευμα) des Herrn… (Jes 60,21) Und ich pflanze sie ein (‫;ָנטַע‬ καταφυτεύσω) in ihrem Land, und nie mehr werden sie ausgerissen (‫תשׁ‬ ַ ‫ )ָנ‬aus ihrem Land, das ich ihnen gegeben habe.503 (Am 9,15)

Pflanzen und Ausreißen sind in Am 9,15 Gegensätze, ebenso in Koh 3,2: »eine Zeit zum Pflanzen (‫טע‬ ַ ‫ ;ָנ‬καιρὸς τοῦ φυτεῦσαι) und eine Zeit zum Abernten (‫קר‬ ַ ‫'ע‬504) der Pflanzen.« Das Begriffspaar505 findet sich auch auf andere Völker angewendet506, so in Jer 1,10, wo Jeremia von Gott aufgefordert wird: »Sieh her! Am heutigen Tag setze ich dich über Völker und Reiche; du sollst ausreißen (ἐκριζοῦν) und niederreißen, vernichten und einreißen, aufbauen und einpflanzen (καταφυτεύειν).« (Jer 1,10) »›Uprooting‹ means destruction, ›planting‹ salvation.«507 Die negative Variante, die durch das Wirken des Jeremia für die Völker drohend in den Blick kommen soll, wird in Ez 19,10–14 auch innerhalb von Israel auf den »Fürsten von Israel« (Ez 19,1) angewandt. Seine Mutter war wie ein Weinstock im Garten, mit kräftigen Zweigen. »Doch im Zorn riss man ihn aus und warf ihn auf die Erde« (Ez 19,12). Er wird in die Wüste »verpflanzt« (19,13), wo er dann stirbt. Daher ist das ganze Lied eine

502

DERRETT, Moving Mountains 38. Vgl. auch noch Jer 31,28. 504 Zu dieser Verbwurzel: Sie taucht später im Babylonischen Talmud im Traktat Bmez 59b (GOLDSCHMIDT VI 678) auf: »A rabbi tells a tree to uproot itself (…) and move, in order to prove that he himself was the final exegete of scripture – and the tree did (!)« (DERRETT, Moving Mountains 29). 505 Es ist eigentlich kein eindeutiges Paar, wir haben im Hebräischen für das »ausreißen«, ַ ‫ ָנ‬und ‫קר‬ ַ ‫ע‬ ָ . bzw. »abernten« zwei Verben gesehen: ‫תשׁ‬ 506 »The Hebrew NTŠ, uproot, is used for exiling a people. ᾽Εκριζοῦν likewise.« (DERRETT, Moving Mountains 38) Nebst Jer 1,10 u. a. auch in Zef 2,4: »und Ekron ackert man um« (LXX Ακκαρων ἐκριζωθήσεται; MT ‫קר‬ ֵ ‫ע‬ ָ ‫תּ‬ ֵ ‫קרוֹן‬ ְ ‫ע‬ ֶ ‫)ְו‬. 507 DERRETT, Moving Mountains 39. 503

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»Totenklage« (19,14). Im Neuen Testament nimmt Mt diese bedrohliche Seite des Entwurzelns auf (über die Pharisäer): »Jede Pflanze, die nicht pflanzte mein himmlischer Vater, wird entwurzelt werden.« (Mt 13,15) In Lk 17,6 ist wohl nicht hauptsächlich diese negative Seite im Blick, schließlich wird der Maulbeerbaum ja nicht in die Wüste, sondern ans Meer verpflanzt. Dennoch muss wohl auch bei ihm der prophetisch-kritische Aspekt mitgehört werden.508 1.3.2 Mt 17,14–20 – Der epileptische Knabe und die heilende Wirkung des ›Senfkornglaubens‹ Mt hat das Logion vom Berge versetzenden Glauben in seinem Evangelium ein zweites Mal verwendet. Er ergänzt, bzw. verdeutlicht damit eine Heilungsgeschichte, die er von Mk übernommen hat. Mt 17,14–21par steht im zweiten Teil des Evangeliums, auf dem Weg nach Jerusalem, nach der Verklärung und der Frage nach Elija und unmittelbar vor der zweiten Leidens- und Auferstehungsankündigung. Da Mt in dieser Heilungsgeschichte deutlich eigene Akzente gegenüber Mk setzt, darf davon besonderer Aufschluss über seine Intentionen und theologischen Vorstellungen erwartet werden. Daher wird an dieser Stelle auch der Ort sein, dem mt Glaubensverständnis nachzugehen. 1.3.2.1 Die Vorlage von Mt: Mk 9,14–29 Jesus kehrt mit Petrus, Jakobus und Johannes vom Berg der Verklärung zurück. Für die neue Perikope, die hier nur in synchroner Perspektive509 betrachtet wird, entfaltet Mk gleich zu Beginn eine große Szenerie: eine große Volksmenge um die Jünger herum und Schriftgelehrte, die gegen sie streiten (συζητέω). Als Jesus zu ihnen kommt, geht das Volk erschreckt auf ihn zu und begrüßt ihn510, worauf Jesus nach dem Grund des Streites fragt. Der nächste Abschnitt, Mk 9,17–19511, gibt eine Antwort auf die Frage Jesu. 508

DERRETT sieht auch die beiden Aspekte, auch wenn er den ersten etwas unvorsichtig als »Ende des alten Israel« ausdrückt: »The tree (with two roles) will be uprooted to mark the End of the Old Israel, and replanted to manifest and to increase the bliss of the Saved.« (DERRETT, Moving Mountains 40) 509 Die »schwierigen traditionsgeschichtlichen Probleme dieser Wundergeschichte« (HAHN, Verständnis des Glaubens 58) können hier nicht gelöst werden. Verwiesen sei nur auf einen Vorschlag von PESCH, wonach ursprünglich »von einem Streit der Volksmenge mit den Schriftgelehrten und deren erfolglosem Austreibungsversuch« die Rede war (These und Begründung: PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 84). 510 »An ungewöhnlichem Ort zu Beginn einer Wundergeschichte« steht hier ein »Admirationsmotiv« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 87). 511 PESCH nimmt bereits V. 16 dazu und spricht von einer ersten »Wechselrede«. Die zweite Wechselrede befindet sich in V. 21–24 (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 86).

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Der Sohn von jemandem aus dem Volk, der zu Jesus spricht, hat einen πνεῦμα ἄλαλον, einen redelosen Geist (V. 18 beschreibt dann die wahrnehmbaren Symptome512). Die Jünger konnten den Geist nicht hinauswerfen, worauf Jesus sagt (wohl an die Jünger gerichtet513): »O ungläubiges Geschlecht, bis wann werde ich bei euch sein? Bis wann werde ich euch ertragen?« (Mk 9,19) Er fordert sie (d. h. die Jünger!) auf, den Sohn zu ihm zu bringen. In Mk 9,20– 24 steht das Gespräch Jesu mit dem Vater des inzwischen herangebrachten Sohnes im Zentrum. Die Aktivität des Geistes, der beim Anblick Jesu den in V. 18 beschriebenen Anfall des Sohnes vorführt, bildet den Ausgangspunkt für das Gespräch. Man erfährt darin, dass der Knabe den Geist bereits »von Kind an« hat. Die erneute Beschreibung dessen, was der Geist mit dem Sohn macht, mündet in V. 22 in die Bitte des Vaters: »Doch wenn du etwas kannst, hab Mitleid mit uns und hilf uns!« Das »Helfenkönnen« wird in V. 23–24 weiter thematisiert: πάντα δυνατὰ τῷ πιστεύοντι – alles (ist) möglich dem Glaubenden, so der Ausspruch Jesu. Die unmittelbare (εὐθύς) Reaktion des Vaters besteht im Schrei: »Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!« Damit taucht514 wieder die Glaubensthematik im Mk-Evangelium auf, wie sie oben bereits skizziert worden ist. Der Glaube ist Ausdruck für das Sich Einlassen auf ein heilendes Wirken, Glaube ist Ausdruck der Mobilisierung von Kräften im Heilsbereich der βασιλεία τοῦ θεοῦ; denn wer glaubt, vermag alles! Damit setzt V. 23 »dasselbe Glaubensverständnis voraus, das uns in den Herrenworten Mk 11,22b.23 und 11,24 begegnet ist.«515 Wie schwierig dies alles für den Menschen ist, verdeutlicht die Geschichte ebenfalls, denn der Vater ist offenbar noch nicht so weit; er glaubt zwar, trotzdem ist er angesichts seines Unglaubens auf Hilfe angewiesen. Aber immerhin zeigt sein Aufschrei, dass er Jesus verstanden hat, dass er sieht, dass es nicht um Jesu Hilfsbereitschaft geht, die ja vorhanden ist, sondern um sein eigenes Vertrauen.516 Mk 9,25–27 beinhalten die Heilung des Jungen, d. h. das Hinauskommen des unreinen Geistes (V. 25) auf Jesu Befehl hin. Das Vorgehen Jesu wurde offenbar beschleunigt durch die Volksmenge, welche nach dem Intermezzo 512

Zur Epilepsie und deren antike Kennzeichnung siehe PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 89–90. 513 »O ungläubiges Geschlecht« hat ursprünglich Israel bezeichnet, weswegen PESCH schreibt: »Die Schelte des ungläubigen Geschlechts ist das sicherste Indiz dafür, dass in der Erzählung ursprünglich vom exorzistischen Unvermögen der Schriftgelehrten und nicht der Jünger Jesu die Rede war.« Die Beziehung auf die Jünger wurde so erst sekundär hergestellt (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 90). 514 D.h. durch den Unglauben der Jünger (9,19), das Wort über die Macht des Glaubens (9,23) und das »Zeugnis bittenden Glaubens (9,24)« (SÖDING, Glaube bei Markus 456). 515 HAHN, Verständnis des Glaubens 53. 516 Durch die Bitte des Vaters an Jesus wird Jesus auch als derjenige dargestellt, »der den Menschen in ihrer Glaubensnot gegenüber Gott helfen und beistehen soll« (HAHN, Verständnis des Glaubens 59).

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der Verse 20–24, das sich wohl etwas abseits davon abgespielt hatte, wieder zusammenströmt517. Nachdem der Geist »schreiend und viel zerrend« aus dem Jungen hinausgegangen ist, liegt dieser wie tot da (die Volksmenge taucht hier wieder auf und meint, dass er gestorben sei). Jesus richtet ihn auf (ἐγείρω), und er stand auf (ἀνίστημι). An die Heilungsgeschichte schließt sich eine »Sonderbelehrung der Jünger«518 an, welche sich fragen: »Wieso konnten wir ihn [den Geist] nicht hinauswerfen?« (V. 28) Jesu Antwort besteht darin, dass es offenbar bestimmte Arten von Geistern (»hartnäckige Dämonen«519) gibt, die nur durch Gebet hinauskommen können. Wir haben diesen schwierigen Vers wohl so zu verstehen, dass in diesen besonderen Fällen das Gebet das letzte Mittel ist520, wo alles menschliche Tun an seine Grenzen gekommen ist, wo nur noch das direkte Setzen auf Gottes unmittelbares Wirken zur Heilung führen kann.521 Die Jünger werden hier erstmals mit dieser Möglichkeit konfrontiert, sie werden im Evangelium erstmals mit der προσευχή vertraut gemacht, die bisher Jesus allein vorbehalten war. 1.3.2.2 Die δύναμις des Glaubens: neue mt Akzentsetzungen Mt hat die Perikope gegenüber Mk erheblich gekürzt (er lässt das zweite Gespräch Jesu mit dem Vater in Mk 9,20–24 weg) und stark verändert (so u. a. in Mt 17,20). Mt drängt dadurch das Wundergeschehen zurück, so dass »statt der bei Markus so farbigen Erzählung fast nur das nackte Erzählgerippe«522 steht, und akzentuiert die ganze Geschichte auf die Unterweisung der Jünger durch Jesus hin (»Lehrgespräch über den Glauben«523). Dies zeigt sich gleich zu Beginn in der Exposition der Perikope (Mt 17,14– 16), wo Mt an der ganzen Szenerie mit dem Streit und den Schriftgelehrten nicht interessiert ist. Er erwähnt bloß die Volksmenge, zu der sie (Jesus, Petrus, Jakobus und Johannes) kommen. Anstelle der mk Begrüßung durch das ganze

517 »Den erneuten Zulauf (…) einer Volksmenge denkt sich der Erzähler wohl durch den Schrei des Vaters motiviert« (PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 93). 518 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 85. 519 PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 96. 520 Dagegen wendet sich SÖDING: »Gebet entsteht nach Mt 9,14–29 als Ausdruck vertrauenden Glaubens in Situationen menschlicher Not und Ohnmacht – freilich nicht als ultima ratio, wo andere Mittel versagen, sondern als authentischer Ausdruck eines Glaubens, der das gesamte Leben des Betenden auf Gott gründen will« (SÖDING, Glaube bei Markus 473). 521 Es muss zugestanden werden, dass auch diese Deutung nicht ganz aufgeht, denn Jesus tut ja auch etwas hier, wie in den anderen Wundererzählungen. 522 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 521. 523 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 104. Daher spricht SCHNACKENBURG von der als Paradigma intendierten, im Wort Jesu gipfelnden Erzählform des Apophthegma (SCHNACKENBURG, Matthäusevangelium (NEB I) 164).

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Volk kommt ein einziger Mensch auf Jesus zu, »fällt vor ihm auf die Knie« (γονυπετέω), und spricht ihn mit κύριε524 an. Neu stellt der Vater den Knaben als mondsüchtig dar, was jedoch keine inhaltliche Änderung gegenüber Mk bedeutet. »Mondsucht ist Epilepsie, die ›heilige Krankheit‹, die nach verbreiteter antiker Auffassung von der Mondgöttin Selene verursacht werden und mit den Phasen des Mondes zusammenhängen konnte.«525 Das Krankheitsbild schildert Mt mit dem öfteren Ins Wasser oder Ins Feuer Fallen, was er aus Mk 9,22 (d. h. dem Teil der Geschichte, den Mt weglässt) übernommen hat. Dass die Jünger den Sohn nicht heilen konnten (V. 16), entspricht inhaltlich wieder ganz Mk, wobei Mt schon hier das Verb δύναμαι verwendet, dessen Stamm in V. 19 und 20 wieder aufgenommen wird.526 Weil Mt bisher weder von einem Geist noch von einem Dämon gesprochen hat, verwendet er statt ἐκβάλλω (hinauswerfen) das Verb θεραπεύω (heilen). Die in V. 17 anschließende Klage Jesu hat »die Unfähigkeit der Jünger zum unmittelbaren Anlass«527 und bezieht sich daher wohl wie bei Mk auf die Jünger528. Mt hat gegenüber Mk zwei kleine Änderungen eingeführt: er ergänzt zu »ungläubig« noch »verkehrt« (διεστραμμένη als Part. Perf. Pass. Fem. von διαστρέφω, in Angleichung an LXX Dtn 32,5529); statt πρὸς ὑμᾶς steht μεθ᾽ ὑμῶν, womit Mt einen Bezug herstellt zur sein ganzes Evangelium durchziehenden Immanuel-Thematik530. Weil Mt Mk 9,20–24 auslässt, folgt darauf unmittelbar die Heilung des Jun524 »Die Kyrie-Anrede und der Erbarmungsruf […] können als typisch mt bezeichnet werden« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 104). 525 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 521. 526 Eine weitere Angleichung bildet προσήνεγκα (1. Pers. Sing. Ind. Aorist von προσφέρω), was an φέρετε in V. 17 angeglichen ist. 527 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 107. 528 Anders sehen das GNILKA und LUZ. Obwohl GNILKA den unmittelbaren Anlass der Klage in den Jüngern sieht, fährt er fort: »Doch sie richtet sich gegen ›das ungläubige und verkehrte Geschlecht‹. Ihr kommt weitreichende Bedeutung zu. Sie betrifft – in Übereinstimmung mit den anderen γενεά-Aussagen unseres Evangeliums – das Volk Israel, näherhin die gegenwärtige Generation dieses Volkes…« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 107). Auch LUZ deutet den Ausdruck »auf Jesu jüdische Zeitgenossen, also das Volk« u. a. mit dem Argument, dass bei den Jüngern in V. 20 von Kleinglauben und nicht von Unglauben die Rede sei (LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 522). Entsprechend kann LUZ das Beibehalten des Volkes in der Exposition V. 14 so deuten, dass es »wohl wegen des Scheltwortes an die ›ungläubige Generation‹ (V. 17) nötig« geblieben ist (LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 521). Jedoch bleibt bei dieser Deutung auf einer »hintergründigen Tiefenebene« der Satz »merkwürdig störend« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 523). Zudem ist daran zu erinnern, dass mit φέρετε wie bei Mk die Jünger aufgefordert werden, den Sohn zu Jesus zu bringen (auf wen kann sich das grammatikalisch sonst beziehen?). 529 Siehe dazu: GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 107. 530 Den Hinweis darauf und ein paar weitere Stellen dazu gibt: LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 523.

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gen in V. 18 (ἐθεραπεύθη ὁ παῖς). Auch sie ist gegenüber Mk gekürzt und »knapp und formelhaft«531 konstatiert. Weil der Dämon zum ersten Mal erst dann erwähnt wird, als er aus dem Sohn hinausgeht, bezieht sich das »Anfahren« zu Beginn von V. 18 grammatikalisch noch auf den Sohn selbst (anders als bei Mk, der den redelosen Geist schon in Mk 9,17 erwähnt hat).532 Während Mt in der eigentlichen Heilungserzählung V. 14–18 mehr oder weniger von Mk ausgegangen ist533, setzt er ab V. 19 noch stärker eigene Vorstellungen um und nimmt das mk Stichwort des Gebets und somit dessen »Exorzismusrezept«534 nicht auf. Vielmehr ist er an den Begriffen der πίστις und der δύναμις interessiert. Als Jesus und die Jünger unter sich sind, stellen die Jünger die Frage nach ihrem Unvermögen, wobei ἠδυνήθημεν direkt V. 16 aufgreift. Der Grund liegt in ihrer ὀλιγοπιστία. Während die Jünger in V. 17 beim vielleicht emotionalen Ausruf Jesu noch als Ungläubige bezeichnet wurden, sind sie hier (bereits mit etwas Abstand zum Geschehen) die Kleingläubigen. Durch eine AmenEinleitung wird dann der Spruch vom bergeversetzenden Glauben angefügt. Damit werden die Jünger in ihrem Kleinglauben, in dem sie die Heilung nicht vollbringen konnten, mit der πίστις konfrontiert, die »diesen Berg«535 versetzen kann, obwohl sie selbst ja so klein wie ein Senfkorn ist. In dieser »Hyperbel«536 dient der Vergleich mit dem Senfkorn dazu, »das unfassbar Kleine, nämlich den Glauben, dem unfassbar Großen, nämlich dem, was er bewirkt«, gegenüberzustellen537. Der Glaube ist so die Voraussetzung, bzw. die Bedin531

LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 521. »Matthäus hat offensichtlich Exorzismen nicht sehr geliebt, denn er vermied in unserer Geschichte alle Hinweise darauf, dass der kranke Junge besessen war, bis er es wirklich nicht mehr verschweigen konnte (V. 18).« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 521) 533 Die Frage, ob Mt evtl. auf einen deuteromarkinischen Text oder einen vormarkinischen Text oder andere Vorlagen zurückgegriffen habe, kann hier nicht behandelt werden. Das Problem stellt sich aufgrund von Übereinstimmungen zwischen Mt und der parallelen Perikope Lk 9,37–43, welche »etwa die gleichen Teile der mk Geschichte weglässt, obwohl der lk Text einen ganz anderen Skopus hat als der mt« (LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 519). Zur Diskussion siehe: LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 519–520; GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 105. 534 LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 520. 535 Das Demonstrativpronomen ist wohl von Mk 11,23 erhalten geblieben. Falls man es hier im neuen Kontext verstehen will, kann man vielleicht den Verklärungsberg annehmen (so der Hinweis bei PESCH, Markusevangelium (HThK II,2) 205). 536 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 108. 537 LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 524. LUZ warnt davor den Senfkornglauben überzuinterpretieren: »Es geht nicht um einen besonderen ›Senfkornglauben‹, sondern um den Glauben schlechthin.« So auch schon HAHN: »Die Kleinheit, die zum Vergleich mit dem Senfkorn Anlass gegeben hat, ergibt sich somit nicht aus einem Urteil über den Glauben, sondern allein aus der Relation von Glaube und Wunder.« (HAHN, Jesu Wort vom bergversetzenden Glauben 160) 532

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gung (ἐάν…) für das Versetzen des Berges. In der Struktur von Mt 17,20 orientiert sich der Evangelist an seiner Vorlage aus Q. Den Konditionalsatz formuliert er inhaltlich wie Q (vgl. die Tempus-Änderung), im Hauptsatz hält er sich nur formal an Q und füllt die Struktur inhaltlich mit dem Motiv des Berges. Mt hat das Q- und das Mk-Logion offenbar so verstanden, dass sie inhaltlich etwas Ähnliches aussagen. Daher hat er der Einheitlichkeit halber das Motiv des Berges, das er sowieso schon gebrauchte, auch in 17,20 eingeflochten. Den Abschluss bildet die Wiederaufnahme des Verbstamms δύναμαι538: »Und nichts wird euch unmöglich sein.« (V. 20) Der Glaube wird so als das gekennzeichnet, das alles vermag; zugleich ist dies eine Deutung des Bildwortes vom Bergeversetzen. Mt nimmt damit den Zuspruch von Mk 9,23 auf, wo dieser allerdings an den Vater des Jungen gerichtet ist, und spricht ihn nun den Jüngern zu. Mt ging es also darum, die δύναμις des Glaubens den Jüngern gegenüber zu betonen, wozu er das Bildwort vom Bergeversetzen aus Mk 11,23/Mt 21,21 in etwas anderer Formulierung aufnimmt. Der Kontext einer (zunächst nicht gelungenen) Heilung ist für Mt also der Ort, das Bildwort des Bergeversetzens in seinem Evangelium einzuführen. 1.3.2.3 Das Logion vor dem Hintergrund des Glaubensverständnisses bei Mt Wie bei Mk muss hier auch bei Mt gefragt werden, wie er den Begriff πίστις versteht und wie er ihn anwendet; nur so kann verstanden werden, wie das Bildwort vom Bergeversetzen in seine Glaubens-Konzeption hineinpasst und was es darin bedeutet. πίστις, bzw. die mit diesem Wortstamm zusammenhängenden Wörter (wie πιστεύω oder ὀλιγόπιστος) tauchen auch bei Mt zum großen Teil im Kontext von Wundererzählungen auf. Wie bei Mk steht der Glaube damit im Kontext von Jesu heilendem und wunderwirksamem Handeln als der beginnenden Verwirklichung der βασιλεία τῶν οὐρανῶν539, jedoch ist er in manchen der im folgenden genannten Perikopen stärker auf die Person Jesu fokussiert: – Mt 8,5–13 Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapharnaum: Der heidnische Hauptmann schlägt Jesus vor, er solle seinen gelähmten Knecht in einer »Fernheilung« allein mit seinem Wort gesund machen. Wie das geschehen soll, versucht er an sich selbst zu veranschaulichen, denn auch er selbst sei ein »Mensch unter Vollmacht« mit seinen Soldaten, die ihm gehorchen. Diese Ausführungen beeindrucken Jesus, so dass er sagt: »Bei

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LUZ spricht dabei sogar von einem Leitwort (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2),

519). 539 Siehe dazu KLEIN, Glaubensverständnis 41–42. Der Glaube bringt »bruchstückhaft Gottes Reich bereits in diese Welt« (KLEIN, Glaubensverständnis 41).

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keinem fand ich so großen Glauben in Israel.« (Mt 8,10) Daher sichert er ihm zu: »Wie du glaubtest, soll dir geschehen.« (Mt 8,13) Mt 8,23–27 (par Mk 4,35–41) Stillung des Seesturms: Statt den Jüngern vorzuwerfen: »Was seid ihr feige! Habt ihr noch keinen Glauben?« (Mk 4,40) formuliert Mt etwas abgeschwächt: »Was seid ihr feige, Kleingläubige?« (Mt 8,26) Mt 9,1–8 (par Mk 2,1–12) Heilung eines Gelähmten: Wie bei Mk sieht Jesus den Glauben (V. 2) derer, die den auf ein Bett gelegten Gelähmten zu ihm bringen (der Weg über das Dach ist bei ihm nicht mehr nötig). Mt 9,18–26 (par Mk 5,21–43) Heilung der Tochter des Vorstehers und der Frau im Blutfluss: Zur Frau, welche in der Hoffnung auf Rettung Jesu Gewand berührt hat, spricht er: »Hab Mut, Tochter! Dein Glaube hat dich gerettet.« (Mt 9,22) Mt 9,27–31 (par Mt 20,29–34/Mk 10,46–52) Heilung zweier Blinden: Unmittelbar im Anschluss an die vorhergehende Heilung folgen zwei Blinde Jesu, schreien zu ihm und bitten den Sohn Davids um sein Erbarmen (V. 27). Jesus fragt sie: »Glaubt ihr, dass ich dies tun kann?« (Mt 9,28) Auf ihre positive Antwort hin berührt er ihre Augen und sagt: »Nach eurem Glauben soll euch geschehen!« (Mt 9,29)540 Mt 14,22–33 »Jesus rettet den sinkenden Petrus«541: Mt erweitert Mk 6,45– 52 um den Auftritt des Petrus, der auf Jesu Zuruf geantwortet hat: »Herr, wenn du es bist, befiehl mir, zu dir zu kommen auf den Wassern!« (Mt 14,28) Angesichts des Windes bekommt der auf dem Wasser wandelnde Petrus aber Angst und schreit zu Jesus um Hilfe. Dieser ergreift ihn und sagt: »Kleingläubiger, warum zweifelst du?« (Mt 14,31) Als Jesus und Petrus zusammen ins Boot steigen, fallen die Jünger darin nieder und bekennen: »Wahrhaft, Gottes Sohn bist du.« (V. 33) Mt 15,21–28 Heilung der Tochter der Kanaaniterin: Mt übernimmt die Perikope, wo das hartnäckige Beharren der Syrophönizierin schließlich einen Meinungsumschwung Jesu bewirkt und zur Heilung ihrer Tochter führt, von Mk 7,24–30. Die Reaktion Jesu auf die Äußerung der Frau, dass auch die Hündchen von den vom Tisch fallenden Brötchen ihrer Herren essen, fällt bei Mt aber anders aus: »O Frau, groß ist dein Glaube; es soll dir geschehen, wie du willst.« (Mt 15,28)

Abgesehen von den beiden Perikopen, wo es um die Jünger geht (Mt 8,23–27; 14,22–33), stellt Mt diejenigen, die geheilt werden oder eine Heilung für jemand anders erbitten, als Glaubende dar: »In diesen fünf Wundergeschich-

540

Mt wird dann in 20,34 den Satz »Dein Glaube hat dir geholfen« (Mk 10,52) streichen. »In kurzer Form hat er die Erzählung der zwei Blinden schon in 9,27–31 gebracht und dort auch den Glauben dieser Blinden hervorgehoben« (KLEIN, Glaubensverständnis 31). 541 So die Perikopenüberschrift bei GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 10.

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ten ist Glaube das unerschütterliche Vertrauen zu Jesus, dass er helfen kann, ein Vertrauen, das aktiv wird, die Heilung bei Jesus sucht und sogar neue Wege zur Überwindung von Schwierigkeiten findet.«542 Dass Mt den Glaubensbegriff stärker an Jesus und seine Macht bindet, lässt sich in drei der angeführten Wundererzählungen deutlicher erkennen: (1) bei der Heilung des Knechts des Hauptmanns von Kapharnaum (Mt 8,5–13), wo der Hauptmann Jesu Macht mit seiner Macht vergleicht und dafür die Anerkennung Jesu erhält, wonach ihm geschehen soll, wie er glaubt; (2) bei der Heilung zweier Blinden (Mt 9,27–31), wo Jesus danach fragt, ob sie glauben, dass er dies tun könne; (3) bei der Rettung des Petrus (Mt 14,22–33) folgt am Schluss das Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn, es taucht hier also ein Hoheitstitel Jesu auf. Explizit wird der Glaube an Jesus in Mt 18,6 (par Mk 9,42) genannt, wo davor gewarnt wird, »einem dieser Kleinen, der Glaubenden an mich« (πιστεύοντες εἰς ἐμέ) Anstoß zu geben. Hingegen kennt Mt keinen Ausdruck »Glauben an Gott« (wie in Mk 11,22).543 Auch wenn Mt den Glauben als »Glaube an Jesus«544 versteht, so verkommen Jesu Wundertaten doch nicht zu einer reinen Machtdemonstration (vgl. Mt 27,42, wo die Hohepriester, Schriftgelehrte und Ältesten spotten, Jesus solle vom Kreuz herabsteigen, damit sie an ihn glauben), sondern er hält wie Mk daran fest, dass dieser Glaube der Betroffenen Voraussetzung für das Wirken Jesu bleibt. Entsprechend kann Jesus auch bei Mt 13,53–58 in seiner Vaterstadt nicht viele Krafttaten vollbringen wegen des Unglaubens (ἀπιστία) der Einwohner (Mt 13,58). Während Mk das gleiche Wort auch für das Unvermögen der Jünger verwendet, spricht Mt bei ihnen mit einem »typisch mt Begriff«545 von ὀλιγοπιστία (Mt 17,20546), bzw. bezeichnet sie als ὀλιγόπιστοι547: In Mt 8,26 bei der Stillung des Seesturms sind alle Jünger feige und Kleingläubige, in Mt 14,31 betrifft es nur den um Hilfe schreienden Petrus. Im Rahmen der Bergpredigt werden die Kleingläubigen (Mt 6,30) aufgefordert, sich nicht um die Alltäg542

KLEIN, Glaubensverständnis 36. Überhaupt bezieht Mt das πιστεύειν »niemals auf eine Sache oder Botschaft, sondern immer nur auf eine Person.« (KLEIN, Glaubensverständnis 29–30) Daher fehlt auch die Wendung »Glaubt an das Evangelium« in Mt 4,17 (par Mk 1,15). 544 In 27,42 steht die Wendung πιστεύω ἐπ᾽ αὐτόν, also eigentlich nicht »glauben an ihn«, sondern »vertrauen auf ihn« (siehe dazu KLEIN, Glaubensverständnis 32). 545 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 108) »Das Adjektiv ὀλιγόπιστος kommt außer einmal bei Lukas (Lk 12,28/Mt 6,30 = Q) nur noch bei Matthäus im Neuen Testament vor.« (KLEIN, Glaubensverständnis, 30) 546 Als Substantiv taucht der Begriff nur hier auf, sonst wird überall das Adjektiv verwendet. 547 Mt »behält […] den Kleinglauben der Jüngerschaft vor« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 108) und stellt sie so nicht auf die gleiche Stufe wie die »Ungläubigen«, er ist mit den Jüngern also weniger hart als Mk! 543

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lichkeiten zu sorgen (Mt 6,31), für die schon Gott Sorge tragen wird, wie er auch die Lilien des Ackers prächtig einkleidet (Mt 6,28). Vielmehr sollen sie zuerst die βασιλεία und ihre Gerechtigkeit suchen (Mt 6,33). In Mt 16,8 sind die Jünger als Kleingläubige diejenigen, die noch nicht begriffen haben (Mt 16,9). In Mt 24,23–28 warnt Mt in gleicher Formulierung wie Mk vor dem Glauben an Lügenchristosse und Lügenpropheten: »Glaubt es nicht!« (Mt 24,23.26). Auch in der Auseinandersetzung mit den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes um Johannes den Täufer in Mt 21,23–32 bleibt Mt in V. 25 bei der mk Formulierung, nimmt sie aber in V. 32 ein zweites Mal auf: »Ihr aber, die ihr es gesehen habt, habt auch zuletzt nicht Reue bekennt und ihm geglaubt.« Die Schriftgelehrten und Pharisäer werden in der Weherede nochmals als Heuchler (Mt 23,23) und Ungläubige (drohend) angesprochen, weil sie die Kleinigkeiten des Gesetzes zwar einhielten, die gewichtigen Teile davon aber unterließen, nämlich »das Recht und das Erbarmen und die πίστις« (23,23548). 1.3.2.4 Heilendes Wirken und der Berge versetzende Glaube Der Glaube in Mt 17,20 ist vor dem Hintergrund des mt Verständnisses des Glaubens zu lesen, wonach dieser als »Glaube an Jesus« Vertrauen auf diesen Jesus ist549 und von den Wundergeschichten her eine »innewohnende Kraft großer Zuversicht, die erfinderisch neue Wege zur Erlangung des ersehnten Zieles sucht und findet.«550 Der Glaube, den Jesus bei denen, die er heilen kann, findet, kontrastiert aber mit dem Kleinglauben der Jünger. Jesu möchte in Mt 17,20 aber auch die Jünger über den Kleinglauben hinaus auf den Glauben hinweisen551, der so nicht bloß eine Voraussetzung derer ist, an denen eine Heilung oder ein Wunder geschieht, sondern auch als Voraussetzung bei denen gefunden werden muss, die heilend wirken (sollten)552: »Der Glaube

548 Mt stützt sich hier auf Q (par Lk 11,42), wobei er im Unterschied zu Lk das Wort Glaube an dieser Stelle »bewusst setzt« (KLEIN, Glaubensverständnis 34). 549 Wir müssen uns aber bewusst sein, dass diese Deutung auf Mt 17,20 von den anderen Stellen her eingetragen wird, dass es im Logion vom Berge versetzenden Glauben selbst auch bei Mt nicht explizit um den Glauben »an Jesus« geht. Daher ist trotz allem Vorsicht geboten, wenn GNILKA wie selbstverständlich vom bedrohten Glauben der Jünger in V. 20 schriebt: »Der vertrauende Charakter des Glaubens ist darin gegeben, dass die Jünger in dieser Situation dem Wort Jesu nicht die Macht zu heilen zutrauen. An diesem Wort partizipieren sie (vgl. 10,7 ff)« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 108). 550 KLEIN, Glaubensverständnis 35. 551 Mt kennt kein Gebot des Glaubens, er fordert nie direkt zum Glauben auf (wie Mk 11,22 oder 5,36). 552 Es scheint aufgrund der Situierung der Glaubensthematik im Kontext der Heilungsgeschichte, dass Mt Heilungen und Wundergeschehen nicht nur für außerordentliche Seltenhei-

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des Heilers und des Kranken müssen hier zusammenwirken.«553 In wechselnden Rollen sind somit Heiler und zu Heilende gegenseitig aufeinander angewiesen. Indem Mt in eine Heilungsgeschichte explizit das Logion vom Berge versetzenden Glauben einbaut, bewirkt er, dass sich der bergeversetzende Glaube und das Heilungsgeschehen als beginnende Verwirklichung der βασιλεία τοῦ θεοῦ nun gegenseitig interpretieren. Indirekt erscheint der Glaube als entscheidender Faktor dafür, dass die Heilung eingetreten wäre. Es ist daher naheliegend, das Bergeversetzen als Bild für das Heilungsgeschehen zu interpretieren. Ob dies möglich ist und inwieweit die Metapher sogar einen Beitrag zur Deutung des Heilungsgeschehens als Verschmelzung des apokalyptischen Horizontes der βασιλεία τοῦ θεοῦ mit der Gegenwart leisten kann, sind Fragen, die zum folgenden Durchgang durch die Motivgeschichte der versetzten Berge motivieren sollen.

2. Die Motive der Erschütterung, Einebnung und Versetzung von Bergen im jüdischen Traditionsstrom 2.1 Das Toben des Meeres und das Beben von Bergen: religionsgeschichtliche Wurzeln der Jahwe-Theophanie Die Motive des Aufruhrs der Natur sind Teil der kanaanäischen und überhaupt der altorientalischen Vorstellungswelt, wo diese Phänomene vom Wirken der Götter her verstanden, bzw. mit ihrem Wirken in Verbindung gebracht worden sind: »Die Israel benachbarten Völker priesen die Kraft und Stärke ihrer Götter dadurch, dass sie davon sprachen, wie Himmel, Erde und Berge vor den Göttern bebten.«554 Die topographische Dynamik der Berge ist somit ein Phänomen unter einer Reihe von Naturerscheinungen, mit denen eine Theophanie geschildert wurde. Vielleicht hängt die Bewegung der Berge mit Sturm und Gewitter zusammen, bei denen sich am ehesten Felsen lösen, Steinschläge ereignen oder ganze Berghänge ins Rutschen kommen können. Für die keilalphabetischen Texte aus Ugarit (14. Jh. v. Chr.) ist zudem die Bedrohung durch das Meer von großer Bedeutung, das eine potentielle Gefahr für Land und Berge darstellt, wenn es nicht in seinen Grenzen verbleibt.555 ten hält, sondern »er ist viel ›enthusiastischer‹ und hält Heilungen und Exorzismen für Erfahrungen, die konstitutiv zum Glauben gehören; wo sie ausbleiben, ist der Glaube hinter sich selbst zurückgeblieben« (LUZ, Evangelium nach Matthäus EKK I,2) 523). 553 KLEIN, Glaubensverständnis 38. 554 JEREMIAS, Theophanie, 151. 555 Welch tödliche Macht das Meer auch heute noch sein kann, ist durch das große Seebeben und die dadurch ausgelösten Flutwellen im Indischen Ozean 2004 und in Japan 2011 wieder schlagartig ins Bewusstsein gekommen.

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In der hebräischen Bibel findet sich mit Psalm 46 ein relativ junger Text, worin sich allerdings alte Traditionen erhalten haben und wo sogar direkte literarische Abhängigkeiten vom ugaritischen Baalzyklus festgestellt werden können. Der Psalm gewährt somit einen exemplarischen Einblick in die Religionsgeschichte Kanaans und Israels sowie in die Motiv- und Vorstellungswelt der Nachbarreligionen. 2.1.1 Das kosmische Ringen als göttlich-königliches Herrschaftszeichen der geschichtlich realisierten βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Jerusalemer Kultgemeinde Der in der Einheitsübersetzung mit »Gott, unsre Burg« überschriebene Psalm 46 ist ein Lied, welches die Stärke Jahwes und die Sicherheit seiner Gottesstadt (Jerusalem) besingt: 1

Für den Stimmführer. Von den Korachiten. Nach der Weise alamot. Ein Lied. Literarkritisch fassbare Spuren eines kosmischen Chaoskampf-Mythos Elohistischer Psalm (Grundschicht) Einfügung des Jhwh-Kehrverses und der Verdeutlichung in V. 9 Spätere Ergänzung V. 10a

2 3 4 5 6 7 8 9 10

11 12

Gott (ist) uns Zuflucht und Stärke, als Hilfe in Nöten lässt er sich sehr finden. Deshalb fürchten wir uns nicht beim »Wechsel« (der) Erde und beim Wanken von Bergen im Inneren der Meere. Es toben und schäumen seine Wasser, es beben Berge durch seine Erhabenheit. sela Ein Strom: seine Wasserläufe erfreuen die Gottesstadt, des hoch erhabenen Heiligen Heiligtum (Pl.!). Gott (ist) in ihrer Mitte, niemals wankt sie Gott hilft ihr beim Anbrechen des Morgens. Es toben Völker, es wanken Königreiche. Er gibt mit seinem Donner, es zittert (die) Erde. Jhwh Zebaoth (ist) mit uns, eine Burg für uns (ist) der Gott Jakobs. sela Geht, seht die Taten Jhwhs, der Schrecken/Staunen macht auf der Erde. Er setzt den Kriegen ein Ende bis an das Ende der Erde, den Bogen zerbricht er, und er zerhaut die Lanze, Kriegswagen verbrennt er im Feuer. »Lasst ab und erkennt, dass ich Gott (bin), ich bin erhaben über die Völker, ich bin erhaben über die Erde.« Jhwh Zebaoth (ist) mit uns, eine Burg für uns (ist) der Gott Jakobs. sela

Nach der Überschrift gliedert sich der Psalm in drei Strophen. Die erste Strophe (V. 2–4) stellt den ganzen Psalm unter die Zusicherung, dass Gott für den

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Psalmbeter Zuflucht und Stärke ist. Kosmische Bedrohungen können diese Sicherheit nicht (mehr) gefährden. Die zweite Strophe (V. 5–8) beginnt damit, dass Gott mit seiner Sicherheit in der Gottesstadt lokalisiert wird (im Tempel). Auch politische Bedrohungen können diese Sicherheit nicht mehr gefährden (es werden in V. 7 die gleichen Verben verwendet wie für die kosmische Bedrohung in V. 3.4!). Ein Refrain schließt die zweite Strophe ab (V. 8). Die dritte Strophe erweitert die politische Dimension, indem Gott als derjenige erscheint, der allen Kriegen ein Ende bereitet (V. 10 führt diese »Friedensperspektive« ein, welche psalterexegetisch im Kontext der ersten Korachitensammlung zu erklären ist556). Der Psalm (in seiner Grundschicht) passt historisch am ehesten in die Zeit des spätnachexilischen Jerusalem um 400 v. Chr. (Zeit Nehemias).557 Dass Berge in Bewegung geraten (V. 4: Beben [‫עשׁוּ‬ ֲ ‫ר‬ ְ ‫ ִי‬3.Pers.m.pl. Impf. Qal ִ ‫ה‬ ָ ]) oder mobil werden (V. 3: Wanken [‫במוֹט‬ ְ ‫וּ‬ von ‫]רעשׁ‬558 der Berge [‫רים‬ Infinitiv Qal von ‫]מוט‬559 der Berge im Inneren der Meere), scheint als Gefährdung der Sicherheit wahrgenommen zu werden. Bedrohlich erscheint vor allem das Meer, welches tobt und schäumt und vor dessen Übermut die Erde zittert, die Berge beben und sogar ins Meer wanken. Allerdings ist diese Gefährdung unter dem Vorzeichen von Gottes Zuflucht und Stärke für den Psalm gar nicht mehr aktuell: »…deshalb fürchten wir uns nicht beim…« (V. 3). Das kosmische Ringen wird vom Psalm verharmlost, die Welt kann gar nicht mehr vom Meer gefährdet und ins totale Chaos zurückfallen. Psalm 46 ist daher bloß noch eine Art »Geisterbahn«, bei der es die Geister gar nicht mehr gibt. Durch das Motiv des tobenden Meeres und anderer Elemente (im Text hellgrau unterlegt) verweist Psalm 46 auf altorientalische Schöpfungsmythen. Dass der Psalm nicht nur von den Motiven her mit diesen Traditionen verbunden ist, sondern auch literarkritisch fassbare Spuren eines älteren Mythos im Psalm selbst auffindbar sind, legt V. 4 nahe. Denn grammatikalisch ist es in V. 4 nicht das Meer, dessen Wasser toben und schäumen (wie die Einheitsübersetzung suggeriert, indem sie in V. 3 den Plural »Meere« als Singular übersetzt). Auf der Ebene des hebräischen Psalms kann sich das Possessivpronomen bei »Wasser« und »Übermut« grammatikalisch nur auf Jahwe beziehen: Es sind die Wasser Gottes, die toben und schäumen; vor seiner Pracht beben Berge.560 556

Zur Begründung dieser These siehe den Beitrag von UEHLINGER/GRANDY, Vom Toben des Meeres zum Jubel der Völker. Psalterexegetische Untersuchungen zu Psalm 46. 557 Auch diese These ergab sich aus den Vorbereitungsarbeiten zum erwähnten Beitrag. 558 LXX Ps 45,4 verwendet hier das Verb ταράσσω. 559 LXX Ps 45,3 verwendet hier das Verb μετατίθημι. 560 LXX Ps 45 hat diesen Sachverhalt dann korrigiert, indem es in V. 4a eindeutig die Meere sind, die toben und schäumen, während V. 4b eindeutig auf θεός bezogen ist: ἤχησαν καὶ

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Daraus wird ersichtlich, dass der Psalm eigentlich noch weiter geht, als oben bereits festgestellt wurde: In der Geisterbahn gibt es nicht nur die Geister nicht mehr, sondern Gott selbst zieht da seine eigene Show ab (indem er tobt und schäumt als Meer)! Die ursprünglichen Naturgefahren, bzw. das Toben des (göttlichen) Meeres sind in Psalm 46 zu Zeichen der Macht Jahwes, zum Zeichen seiner Erhabenheit (V. 11) geworden. Weil Gottes Königsherrschaft (vgl. die den Psalm umgebenden Jahwe-Königs-Psalmen 45 und 47) – hier nicht als apokalyptischer Horizont, sondern als geschichtliche Realisierung verstanden – so mächtig ist, braucht sich das spätnachexilische Jerusalem, in dessen Mitte sich der »Thron« dieser Herrschaft befindet (V. 5–6), nicht zu fürchten. Auch in Jes 54,10 tauchen die Berge, die in Bewegung geraten, ohne die Erwähnung des Meeres in ähnlicher Weise als (nicht mehr reale) kosmische Bedrohung auf. Deuterojesaja schreibt folgendermaßen: Auch wenn die Berge (‫רים‬ ִ ‫ה‬ ָ ‫ה‬ ֶ ) von ihrem Platz weichen (‫ ָימוּשׁוּ‬3.Pers.m.pl. Impf. Qal ָ ‫ה ְגּ‬ ַ ) zu wanken beginnen (‫טָנה‬ ֶ ‫תּמוּ‬ ְ 3.Pers.f.pl. Impf. von 561‫ )מוּשׁ‬und die Hügel (‫בעוֹת‬ Qal von ‫מוט‬562) – meine Huld wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmen hat mit dir.

Wie in Psalm 46, so sind auch hier die Naturgewalten keine Gefährdungen mehr: auch wenn die Berge weichen, steht das ganze Geschehen doch unter der Zusicherung der Treue und Rettung Jahwes (vgl. Jes 54,9). Doch diese Sicherheit war nicht immer vorhanden, und dies lässt sich an Psalm 46,4 zeigen. Denn es kann angenommen werden, dass es in V. 4 ursprünglich schon um das Meer gegangen ist (und nicht um Jahwe; daher wurde oben vom Meer geschrieben, das tobt und schäumt). Dazu kann auf den ugaritischen Baal-Mythos hingewiesen werden. 2.1.2 Spuren alter Traditionen in Psalm 46: Der ugaritische Baal-Zyklus Unter den keilalphabetischen Texten aus Ugarit (KTU) findet sich im BaalZyklus, dessen sechs Tafeln unter König Niqmaddu II (ca. 1380–1346)563 geschrieben wurden, das kosmische Ringen564 zwischen dem Meeresgott

ἐταράχθησαν τὰ ὕδατα αὐτῶν (bezieht sich auf θαλασσῶν von V. 3) ἐταράχθησαν τὰ ὄρη ἐν τῇ κραταιότητι αὐτοῦ διάψαλμα. 561 LXX liest hier μεταστήσεσθαι von μεθίστημι. 562

Es handelt sich um die gleiche Wurzel wie in Ps 46,3. LXX verwendet hier das Verb

μετακινέω – bewegen. 563

DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6 1091. Zur Diskussion, in welcher Weise dieses kosmische Ringen vorliegt und inwiefern es etwas mit dem ursprünglichen Schöpfungsgeschehen zu tun hat, siehe: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6 1092–1097. Zu den kosmologischen Vorstellungen der Religion Ugarits siehe: NIEHR, Religionen in Israels Umwelt. Einführung in die nordwestsemitischen Religionen Syrien-Palästinas (NEB Ergänzungsband zum AT) 72–77. 564

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Yammu und Baal, dem »Gott des Gewitters und Spender des Regens«565. In der ersten Tafel erscheint der Meeresgott Yammu als der von El, dem Vorsteher des Götterpantheons, bevorzugte göttliche Herrscher (und nicht Baal): [Da antwortete der Stier El:] Ich selbst der Freundliche, El [der Gütige], [habe dich genommen] auf die Hände. [Ich] habe proklamiert [Yamm] als deinen Namen, Geliebter E[ls, Yamm, sei den Name]! [Ich gebe dir] ein Haus von meinem Silber, aus [Gold einen Palast]! [Du wirst es nehmen] aus der Hand des allmächtigen Baal, [aus der Hand des Dagan-Sohnes!] (KTU 1.1 IV 18–22)566

Daher wird Baal in KTU 1.2 zur Unterwerfung aufgefordert, worauf er jedoch zum Kampf gegen Yammu schreitet und seinen Gegner besiegt (KTU 1.2 IV 23 ff). In diesen Kampf mit dem Meer als der chaotischen und gefährlichen Macht würde V. 4 aus Psalm 46 sehr gut passen. Leider lässt sich eine solche Stelle im lückenhaften Text der Tafeln 1 und 2 wörtlich nicht finden. Sie wird aber nahe gelegt durch andere eindeutige Bezugnahmen von Psalm 46 auf den Baal-Zyklus, die sich beweisen lassen: Der zu Beginn von V. 5 genannte »Strom«, dessen Wasserläufe die Gottesstadt erfreuen, ist hebräisch der ‫הר‬ ָ ‫ָנ‬. Das ist genau das gleiche Wort, das im Baalzyklus für einen Untertanen von Yammu verwendet wird: »Eine Botschaft von Yamm, eurem Meister, von eurem Herrn, dem Richter Fluss (nhr).«567 (KTU 1.2 I 17) In der Bibel erscheint der Nahar aber nicht mehr als Untertan des tobenden Meeres, sondern als gebändigte und harmlose »Erfreuung« der Gottesstadt, bzw. des Tempelbergs. In Gen 49,26 und Dtn 33,15 wird die Natur der Berge als segenspendend gekennzeichnet: Sein Land sei vom Herrn gesegnet mit Köstlichem des Himmels, mit Tau, mit Grundwasser, das in der Tiefe lagert, mit Köstlichem aus den Erzeugnissen der Sonne, mit Köstlichem aus dem, was jeden Monat sprießt, mit dem Besten uralter Berge, mit Köstlichem ewiger Hügel. (Dtn 33,13–15)

Beim »Besten« ist »wahrscheinlich konkret besonders an die Bergquellen gedacht«568. Schon in altorientalischen Religionen wurde der Berggott mit Quell-, bzw. Vegetationsgottheiten in Verbindung gebracht. Dass der Ort Gottes mit Wasserläufen ausgestattet ist, ist auch schon im Baalzyklus beim Sitz 565 LORETZ, Ugarit und die Bibel, Kanaanäische Götter und Religion im Alten Testament 73. In KTU 1.3 III 37 wird Baal »Wolkenfahrer« genannt, in KTU 1.4 V 8–9 lässt er seine Stimme in den Wolken erschallen und schleudert Blitze zur Erde. 566 Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1114. Für Könner der Originalsprache, die ich leider nicht beherrsche, sei auf die entsprechende Stelle in der Ausgabe verwiesen: DIETRICH/LORETZ/SANMARTIN, Die Keilalphabetischen Texte aus Ugarit (AOAT 24) 1976. 567 Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1120. Die Kombination von Yamm und Nahar taucht in KTU 1.2 noch an mehreren anderen Stellen auf. 568 KEEL/SCHROER, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen 47.

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Els zu beobachten: »[Dann] wandte er sich direkt zu El am Quellfluss der beiden Strö[me].«569 (KTU 1.2 III 54–55) Außerhalb dieses Zusammenhangs des Ringens kosmischer Mächte ist von Bergen, die in Bewegung geraten, noch an zwei Stellen explizit die Rede: (1) Nachdem Baal das Meer besiegt hat, erhält er in KTU 1.4 einen Palast und fordert im Anschluss daran seinen zweiten Gegner Mot (Tod) in der Unterwelt heraus. In KTU 1.4 VIII 5–9 spricht er zu seinem Boten, den er zu Mot schickt: »Hebe hoch den Berg auf deinen Händen, das Waldgebirge auf den beiden Handflächen! Und steige hinab in das Haus Freilassung, der Unterwelt, sei gezählt zu denen, die hinabsteigen in die Unterwelt!«570 Der Text stellt sich den Eintritt in die Unterwelt so vor, dass man dazu einen Berg wie einen Deckel hochheben muss. (2) Unmittelbar vor dem Aussenden der Boten zu Mot erfolgt eine Art Proklamation der Macht Baals, der in KTU 1.4 VII 13 in seinen (fast fertig) gebauten Palast eingetreten ist. Was ihm noch fehlt, ist ein Fenster im Gebäude: »Es werde geöffnet ein Fenster im Gebäude, eine Luke mitten im Palast! Baal öffnete einen Spalt in den Wolken.«571 (KTU 1.4 VII 25–28) Als Gewittergott und Regenspender hat er seinen Palast offenbar über den Wolken, woher er durch einen Spalt seine Stimme erschallen lassen kann: Stimme Zittern der Erde

Schwanken der Berge

Zeder

»Baal ließ seine heilige Stimme erschallen. Er wiederholte den Ausspruch seiner Lippen. Seine heilige Stimme brachte die Erde zum Zittern, [der Ausspruch seiner Lipp]en die Berge: ›Ich möchte eilen zum Verschlossenen […]!‹ […] die uralten [Berge], die Höhen der Erd[e] schwankten. Die Feinde Baals ergriffen die Wälder, die Hasser des Hadd die Berghänge. Und der allmächtige Baal sprach: ›Feinde des Hadd, warum eilt ihr, warum eilt ihr, Schlachtordnung des Damran?‹ Baal blickte nach Osten, in seiner Hand die Keule, die Zeder in seiner Rechten. Da kehrte Baal zu seinem Palast zurück.«572 (KTU 1.4 VII 29–42)

Vor der Stimme des Baal zittert die Erde und die Berge schwanken, so dass sich seine Feinde an den Berghängen festhalten müssen. Damit wird die Macht und die Erhabenheit des Baal unterstrichen. Psalm 46 hat in V. 7 die ersten beiden Elemente dieser Theophanie übernommen, indem er vom Donner Jah-

569

Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1125. Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1171. Weiterer Beleg in KTU 1.5 V 13–14 (s.1181). 571 Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1169. 572 Übersetzung aus: DIETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6, 1169–1170. 570

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wes (Erschallen der Stimme) und dem Zittern der Erde spricht. Eine weitergehende Übernahme dieser Elemente findet sich in Psalm 29. 2.1.3 Psalm 29 als Hymnus auf den Herrn des Gewitters Der Davidpsalm 29 ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr biblische Texte als Stränge der verschiedenen Formen der levantinischen Religion im 1. Jt. v. Chr. mit ihrer Umwelt verbunden sind. In Psalm 29 tauchen alle oben hervorgehobenen Elemente der Theophanie Baals wieder auf:573 Ps 29,3–4: Stimme Ps 29,5: Zerbrechen d. Zeder Ps 29,6: Hüpfen der Berge Ps 29,8: Beben der Erde

»Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern.. …donnert… Die Stimme des Herrn ertönt mit Macht… Die Stimme des Herrn zerbricht die Zedern, der Herr zerschmettert die Zedern des Libanon. Er lässt den Libanon hüpfen (‫רקד‬/LXX Ps 28,6 λεπτύνω) wie ein Kalb, wie einen Wildstier den Sirjon. … die Stimme des Herrn lässt die Wüste beben, beben lässt der Herr die Wüste von Kadesch…«

Jahwe erscheint hier im Kleid des Gewittergottes, der über der Flut thront (V. 9). Mit seiner Donnerstimme lässt er das Libanon-Gebirge hüpfen. 2.2 »Der ganze Berg bebte gewaltig…« (Ex 19,18): Bebende Berge in der JahweTheophanie und als Zeichen der Macht Gottes In Psalm 29 sind wir bereits auf eine erste Theophanie, wovon es in der hebräischen Bibel einige gibt, gestoßen. Vielleicht ist im alten Text des Deboraliedes in Ri 5,5, wo das »Schütteln« der Berge zusammen mit der Aktivität der Erde und des Himmels eine Reaktion auf das Kommen Jahwes bildet, eine Urform der Jahwe-Theophanie zu sehen. Jeremias postuliert dafür als »Sitz im Leben« ein Siegeslied anlässlich von Siegesfeiern, »bei denen man den Erfolg in der Schlacht dem Eingreifen Jahwes zuschrieb.«574 Die Theophanieschilderung taucht dann auch in anderen Zusammenhängen (Thematik von Gottes Recht und Gerechtigkeit in Ps 97, Danklied eines Einzelnen in Ps 18) auf und wird teilweise an bestimmten Orten lokalisiert (Sinaioffenbarung Ex 19, wo höchstwahrscheinlich auch vom Beben des Sinai die Rede ist). Auch wenn 1Kön 19 als eine kritische Einzelstimme gegen das Kommen Jahwes in den Naturgewalten erhalten geblieben ist, werden die

573 Siehe dazu: DIEHL/DIESEL/WAGNER, Von der Grammatik zum Kerygma. Neue grammatische Erkenntnisse und ihre Bedeutung für das Verständnis der Form und des Gehalts von Psalm xxix 448–461. 574 JEREMIAS, Theophanie 158. Zur Darstellung und Begründung dieser These siehe bei JEREMIAS s.136–150.

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Theophanie-Motive weiterhin zum »Lobpreis Jahwes«575 verwendet (Ps 114,4.6), speziell, um »Jahwes Allmacht zu preisen«576. Bis in traditionell-weisheitliche Texte hinein bleibt das Bergeversetzen Zeichen von Gottes Macht (Sir 16,18–19; Ijob 9,5). Dass es im Machtbereich Gottes liegt, über die Statik und Dynamik der Berge die Kontrolle auszuüben, zeigt auch Jes 40,12 unter Verwendung des Bildes vom Wiegen der Berge mit Gewichten. Dass das Bergeversetzen nur Gott allein als Attribut zukommt, bestätigt 2Makk 9 aus dem 2. Jh. v. Chr., wo Antiochus IV. Epiphanes für seine göttliche Anmaßung, die im Bild vom Wiegen der Berge ausgedrückt wird, bestraft wird. Während dem hellenistischen Herrscher das göttliche Attribut durch seine Bestrafung aberkannt wird, wird es in Jes 41,15 dem erniedrigten »Würmlein« Israel als Aufrichtung aus tiefer Not zugesprochen und somit doch als göttliches Machtzeichen auf Menschen übertragen: Sie werden Berge dreschen und zermalmen! 2.2.1 Das Beben von Bergen als Element der Theophanie Was liegt näher, als im Zusammenhang der Theophanien »an jene für den israelitischen Glauben entscheidende Theophanie zu denken, bei der sich Jahwe seinem Volk in einzigartiger Weise am Sinai offenbarte?«577 Für die israelitische Theologie war der Berg als Göttersitz und Ort der Begegnung mit Jahwe sehr bedeutend: »Zentrale Szenen israelitischer Offenbarungsgeschichte spielen sich am Fuß und auf dem Gipfel des Gottesberges ab.«578 In Ex 19,16 beginnt das ganze Geschehen im Morgengrauen des dritten (!) Tages (vgl. 19,11, wo das Herabsteigen Jahwes auf den Sinai für den dritten Tag angekündigt wird): Es donnert und blitzt, schwere Wolken liegen über dem Berg, Hörnerschall erklingt, das Volk beginnt zu zittern. Nachdem in V. 17 Mose das Volk aus dem Lager geführt und unten am Berg in »Zuschauerposition« gebracht hat, erfolgt in V. 18 eine zweite Beschreibung des Berges: »Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn Jahwe war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig (‫אד‬ ׂ ‫מ‬ ְ ‫הר‬ ָ ‫ה‬ ָ ‫כּל־‬ ָ ‫רד‬ ַ ‫ח‬ ֱ ‫)ַו ֶיּ‬.« In seinem Wortlaut ist der letzte Teil von V. 18 umstritten. Neun hebräische Handschriften und LXX ָ , bzw. griechisch: καὶ ἐξέστη πᾶς ὁ lesen579 statt Berg ‫ הר‬das Wort Volk ‫עם‬ λαὸς σφόδρα. Nach JEREMIAS muss »in V. 18 ‫עם‬ ָ ‫ה‬ ָ das Subjekt von ‫רד‬ ַ ‫ח‬ ֱ ‫ַו ֶיּ‬ 575

JEREMIAS, Theophanie 161. JEREMIAS, Theophanie 161. 577 JEREMIAS, Theophanie 100. JEREMIAS behandelt diesen Text erst im zweiten Teil seines Buches, »da das Verhältnis der Schilderungen der Sinaitheophanie zu den Theophanietexten der Gattung ein äußerst verwickeltes ist« (Theophanie 16 Anm. 1). 578 KEEL/SCHROER, Schöpfung, 47. 579 HOUTMAN, Cornelis, Exodus Vol. 2 Chapters 7: 14–19: 25 (Historical Commentary on the Old Testament) 456. 576

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sein«580. Er begründet es damit, dass die Verbwurzel ‫( חרד‬beben, zittern in V. 18 3.Pers.m.sing. Impf.cons. Qal) in der hebräischen Bibel nur für Menַ ‫ח‬ ֱ ‫ַו ֶיּ‬ schen gebraucht wird und dass darum in Ex 19,18 wie in V. 16 (‫רד‬ ‫עם‬ ָ ‫ה‬ ָ ‫כּל־‬ ָ ) zu lesen sei. Demnach müsste dies in den Handschriften, die in V. 18 ‫הר‬ ָ lesen, nachträglich abgeändert worden sein. Wahrscheinlicher scheint mir aber, dass in V. 18 in Angleichung an V. 16 der Berg durch das Volk ersetzt worden ist. Denn die Schilderung der Theophanie in V. 18 gehört dem Jahwe-Strang an, während im anschließenden V. 19, wo von Elohim die Rede ist, die erste Theophanieschilderung aus V. 16 wieder aufgenommen wird (»und der Hörnerschall wurde immer lauter«). Die Elohim-Theophanie (V. 16) beinhaltete das Motiv des zitternden Volkes, die Jahwe-Theophanie in V. 18 das Motiv des bebenden Berges, das dann in einigen Handschriften und in LXX durch das Volk ersetzt wurde. Wenige Verse weiter wird die Bedeutung der Berge »als bevorzugte Göttersitze«581, wie sie in der Umwelt Israels bezeugt ist, aufgenommen: »Der Herr war auf den Gipfel des Berges herabgestiegen.« (Ex 19,20). Dass Jahwe von oben auf den Berg herabsteigt und Mose von unten auf den Berg hinauf, zeigt eine gewisse Mittlerstellung der Berge auf. Sie ragen in die oberen Sphären hinein, »die Gottes Wohnung sind«582 (Jes 24,21: »der Herr hoch droben, der Herr in der Höhe«). Die hebräische Bibel nennt weiter den Berg der Götterversammlung (Jes 14,13: ‫עד‬ ֵ ‫הר־מוֹ‬ ַ ) und insbesondere auch den Berg Baal-Zefon (Ex 14,2.9; Num 33,7), wobei der Berg »auch die Gottheit selbst repräsentieren kann«583. Das religiöse Potential, das den Bergen aufgrund ihres Hineinragens in die göttliche Sphäre zugeschrieben wird, wird in zweifacher Weise genutzt: Als Begräbnisort584 der großen alttestamentlichen Gestalten wie Aaron (Num 20,28), Mose (Dtn 34,1–6) oder Josua (Jos 24,29 f) und als Ort für Heiligtümer. Früheste (israelitische) Heiligtümer wurden auf Bergen angelegt (oder an diesen Stellen übernommen)585, so u. a. die Heiligtümer auf dem südlichen Ausläufer des Ölbergs. Nicht nur diese Kultstätten auf dem Ölberg, sondern auch alle anderen Heiligtümer verloren nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil in der offiziellen jüdischen Theologie ihre Legitimität, weil die einsetzende Restauration völlig auf den Jerusalemer Tempelberg zentriert war.586 Innerhalb der Tora beben die Berge ebenfalls bei einer Theophanie in Ri 5,5. 580 581 582 583 584 585

JEREMIAS, Theophanie 102 Anm. 1. KEEL/SCHROER, Schöpfung, 47. TALMON, Art. ‫הר‬ ַ , in: ThWAT II (1977) Sp. 474. KEEL/SCHROER, Schöpfung, 47. TALMON, Art. ‫הר‬ ַ , in: ThWAT II (1977) Sp. 468. Jahwe erschien den Nicht-Israeliten daher als ein typischer Berggott (vgl. 1Kön 20,23–

28). 586 Die Samaritaner, die weiterhin ihr Heiligtum auf dem Garizim pflegten, wurden so (vom jerusalemer Zentrum aus gesehen) zu einer schismatischen Gruppe.

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Der Vers ist Teil des Deboraliedes Ri 5,1–31, eines der »ältesten Texte des AT«587. In V. 4–5 heißt es: »Jahwe, als du auszogst aus Seir, als du vom Grünland Edoms herantrittst, da bebte (Verbwurzel ‫ )רעשׁ‬die Erde, die Himmel ergossen sich, ja aus den Wolken ergoss sich Wasser. Die Berge wankten vor dem Blick Jahwes [das ist der Sinai], vor dem Blick Jahwes, des Gottes Israels.«

Die Theophanie weist drei Elemente auf: der Aufruhr der (1) Erde, (2) des Himmels und (3) der Berge. Das Verb, mit dem die Bewegung der Berge ausgedrückt wird, ist in MT ‫( ;ָנז ְלוּ‬3.Pers.pl. Perf. Qal von ‫)נזל‬, was fließen bedeuten. Die Einheitsübersetzung scheint aber eine andere Vokalisation vorauszusetzen: ‫נָֹזלּוּ‬, eine Nifalform der Wurzel ‫( זלל‬erbeben)588. Da auch LXX eine Passivform des Verbs schütteln (σαλεύω) verwendet, gehen wir auch im Hebräischen von dieser entsprechenden Vokalisation aus. Während der Ausdruck ‫סיַני‬ ִ ‫ ז ֶה‬meist als erläuternde Glosse betrachtet wird, bezieht es JEREMIAS als ursprünglich zum Text gehörig auf Jahwe und übersetzt es als »…Jahwe, dem vom Sinai«589. Das würde dann bedeuten: »Seir, Gebirge Pharan [vgl. Dtn 33,2]590 und Edoms Gefilde sollen nur in groben Zügen vom palästinischen Kulturland aus die Richtung angeben, aus der Jahwe kommt; er kommt vom Sinai.«591 Während die Theophanie bisher an einen bestimmten Ort gebunden war, an dem die Natur beim »Nahen« Gottes in »Aufruhr«592 geraten ist, werden im jungen Jahwe-Königs-Psalm 97 die traditionellen Elemente eingebunden in die Thematik von Gottes Recht und Gerechtigkeit. Die ganze Erde soll frohlocken, denn: Gewölk und Wolkendunkel ist rings um ihn… Feuer geht ihm voraus und verbrennt ringsum seine Feinde; seine Blitze erleuchten das Festland, die Erde sieht es und windet sich (‫;)חיל‬ ַ ‫ ָנ‬3.Pers.Pl. Perf. Nifal von ‫)מסס‬593 wie Wachs594 vor dem Herrn, Berge schmelzen (‫מסּוּ‬ vor dem Herrn der ganzen Erde.595 (Ps 97,2a.3–5) 587

JEREMIAS, Theophanie 7. Hinter dieser Theophanieschilderung des Deboraliedes erkennt JEREMIAS die »ursprüngliche Form« (Theophanie 7) der Gattung der Theophanie im AT, woraus sich nach seiner These alle anderen Theophanieschilderungen des AT entwickelt haben. 588 JEREMIAS, Theophanie 7 Anm. 3. In Jes 63,19 wird die gleiche Wurzel verwendet. 589 JEREMIAS, Theophanie 7. Zu seiner Argumentation siehe s.8–9. 590 Vgl. dazu auch Hab 3,3. 591 JEREMIAS, Theophanie 8. 592 JEREMIAS, Theophanie 15. 593 LXX Ps 96,5 verwendet das Verb τήκομαι. 594 Vgl. dazu auch Jdt 16,15: »Meere und Berge erbeben (σαλεύω) in ihrem Grund, vor dir zerschmelzen (τήκομαι) die Felsen wie Wachs.« 595 Übersetzung in Anlehnung an den Vorschlag von: JEREMIAS, Theophanie 29.

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Wolken, Feuer, Blitze, Beben der Erde – all diese Elemente sind bereits bekannt. Für die Bewegung der Berge wird das Bild des Wachses herangezogen: Wie das Wachs zerschmelzen sie. Dass dies auf vulkanische Eruptionen hinweist, ist eher zweifelhaft.596 »Die Tatsache, dass sich mitten in die Theophanieschilderung mit V. 2b ›Gerechtigkeit und Recht sind seines Thrones Stütze‹ ein den Theophaniekontexten völlig fremder Gedanke einschleichen konnte, mag darauf hinweisen, dass man die Begleiterscheinungen des Kommens Jahwes in der Zeit des Psalms aus der Tradition übernahm, ohne konkrete Vorstellungen mit ihnen zu verbinden.«597 Allerdings ist auch in V. 3 mit dem die Feinde verzehrenden Feuer eine Erweiterung und ein Bezug zum Thema des Psalms zu sehen, in dem Gott ja die Frommen den Händen der Frevler entreißt (V. 10). Im Davidspsalm 18 ist eine Gotteserscheinung (Ps 18,8–16598), welche zu den »ausführlichsten und am meisten ausgestalteten Theophanietexten«599 gehört, Teil eines Dankliedes eines Einzelnen (David) für die Errettung vor seinen Feinden (u. a. Saul). Die Theophanie erfolgt nach V. 7, wo es heißt: »In meiner Not rief ich zum Herrn, und schrie zu meinem Gott. Aus seinem Heiligtum hörte er mein Rufen, mein Hilfeschrei drang an sein Ohr«, jedoch noch vor der Ausführung dieser Hilfe Gottes in V. 17–18. Die Theophanie bildet so einen Auftakt für die Hilfe Gottes, die aber von Anfang an in ihrem Ausgangspunkt im Heiligtum (von Jerusalem) verortet wird. 8 Da wankte und schwankte die Erde, die Grundfesten der Berge erbebten; und sie zitterten, denn er war zornig600; 9 Rauch stieg auf aus seiner Nase, und Feuer fraß aus seinem Munde, glühende Kohlen brannten von ihm aus601. 10 Er neigte den Himmel und stieg herab, und Wolkendunkel war unter seinen Füssen. 11 Er fuhr auf dem Kerub und flog dahin und schwebte auf den Flügeln des Windes. 12 Er machte Dunkelheit zu seiner Hülle, zu seiner Hütte Wasserdunkel. 13 Aus dem Glanz vor ihm brachen hervor Hagel und feurige Kohlen. 14 Im Himmel donnerte Jahwe, und der Höchste ließ seine Stimme erschallen. 15 Er schoss Pfeile aus und streute sie, blitzte mit Blitzen und schleuderte sie. 16 Da wurden die Abgründe des Meeres sichtbar, die Grundlagen des Festlandes wurden entblößt vor deinem Schelten, Jahwe, vor dem Wehen des Windes deines Zornes.602 (Ps 18,8–16)

596

JEREMIAS nennt einige Ausleger, welche diesen Vorschlag gemacht haben: JEREMIAS, Theophanie 29. 597 JEREMIAS, Theophanie 29–30. 598 Derselbe Text findet sich in 2 Sam 22,8–16. 599 JEREMIAS, Theophanie 33. 600 JEREMIAS erachtet »und sie zitterten, denn er war zornig« als Nachtrag und als Vorwegnahme von V. 16b, wohl aus metrischen Gründen (JEREMIAS, Theophanie 34 Anm. 4). 601 JEREMIAS erachtet »Glühende Kohlen brannten von ihm aus« als Vorgriff auf V. 13 und streicht es deshalb aus metrischen Gründen in V. 9 (JEREMIAS, Theophanie 34 Anm. 5). 602 Übersetzung nach: JEREMIAS, Theophanie 34–35.

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»Wie in fast allen Theophanietexten sind es zunächst wieder Erde und Berge, die durch ihr Schwanken und Beben das Nahen Jahwes anzeigen.«603 In V. 8 steht bei den Bergen zuerst die Wurzel ‫( רגז‬zittern)604, danach eine Hitpaelform der Wurzel ‫( גּעשׁ‬schütteln)605. Wie V. 16 zeigt, ist nebst dem Festland auch das Meer, der »alte Chaoskampfgegner Jahwes«606 (vgl. Ps 46), der trotz der Niederlage im urzeitlichen Kampf noch gebändigt existiert, von diesem Aufruhr mit betroffen. Wie Psalm 18 zeigt, sind mit dem Kommen und Erscheinen Jahwes ganz verschiedene Vorstellungen verbunden: Jahwes Kommen im Feuer (Ps 18,9), sein Nahen in sich niedersenkenden Gewitterwolken (Ps 18,10), sein Heraneilen im Sturmwind (Ps 18,11b) oder eine Glanzerscheinung (Ps 18,13b). Diese Naturereignisse werden wie in der Umwelt Israels als Erscheinungsformen des Göttlichen aufgefasst. Bei Psalm 46 oben wurden bereits Texte aus Ugarit besprochen, jedoch finden sich Parallelen (nicht nur zur Vorstellungswelt als ganzer, sondern auch zu allen einzelnen Elementen der Theophanie) auch in sumerischen, assyrischen, babylonischen und ägyptischen Texten. Für das Motiv des Erbebens und Zerstörtwerdens von Bergen sei auf folgende Texte hingewiesen607: – In den sumerischen Texten als den »ältesten Hymnen des Zweistromlandes«608 ist zu lesen: »Ninurta, vor deinem Brüllen erzittert das Bergland…«609 – Unter den assyrisch-babylonischen Hymnen heißt es von Adad, dem Sturm- und Wettergott: »Der Herr, wenn er voll Zorn ist, erzittern die Himmel vor ihm, Adad, wenn er ergrimmt ist, erbebt die Erde vor ihm. Die großen Berge stürzen vor ihm nieder…«610 – Von den gewaltigen Kämpfen Marduks, des obersten der Götter, »der mit der Zeit mehr und mehr die Eigenschaften anderer Götter auf sich vereinigt

603

JEREMIAS, Theophanie 36. LXX Ps 17,8 verwendet hier das Verb ταράσσω. 605 LXX Ps 17,8 verwendet hier das Verb σαλεύω. 606 JEREMIAS, Theophanie 36. 607 Wir beschränken uns hier auf die sumerischen und assyrisch/babylonischen Texte, weil aus dem ägyptisch-hethitischen Bereich in den bei JEREMIAS genannten Texten nur allgemein vom Beben der Erde gesprochen wird (vgl. JEREMIAS, Theophanie 85). 608 JEREMIAS, Theophanie 75. 609 STVC 35. Text und Übersetzung bei: FALKENSTEIN, Sumerische Götterlieder 1. Teil 110. »Hier hat also auch der Aufruhr der Natur, der sich im Zittern der Berge ausdrückt, dieses für die alttestamentlichen Theophanieschilderungen konstitutive Element, eine Parallele« (JEREMIAS, Theophanie 77). 610 IV R 28, Nr. 2. Übersetzung von: JEREMIAS, Theophanie 79, in Anlehnung an: ZIMMERN, Babylonische Hymnen und Gebete in Auswahl (AO 7,3) 12. 604

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hat«611, heißt es: »Durch seine Flamme (gemeint ist der Blitz) werden die unzugänglichen Berge zerstört.«612 – Ischtar wird als diejenige gelobt, »die die Meere aufrührt, die die Berge beben lässt.«613 – Auch in den akkadischen Hymnen wird die »zerstörerische Gewalt und verheerende Wut« von Ninurta besungen: Ninurta wird als »Zerschmetterer des Gebirges«614 gepriesen. 2.2.2 1Kön 19,11–12 – Eine spezielle Theophanie Eine »einzigartige und analogielose Theophanieschilderung«615 findet sich in 1Kön 19,11–12. Diese Verse sind Teil der Begegnung Elijas mit Gott am Horeb in 1Kön 19,9–18. »Horeb ist die Bezeichnung für den Gottesberg im deuteronomistischen Geschichtswerk.«616 Er wird mit dem Sinai identifiziert.617 In der jetzigen Form gliedert sich die Perikope in die Einleitung (V. 1–3), Elijas Weg zum Horeb (V. 4–8), Elijas Aufenthalt in einer Höhle (V. 9–12) und Elijas Gespräch mit Jahwe (V. 13–18).618 Im dritten Teil lauten V. 11–12: »Und siehe, Jahwe ging vorüber: Ein großer und gewaltiger Sturm (ַ‫)רוּח‬, der Berge ִ ‫ה‬ ָ ) abriss (Wurzel ‫פרק‬/LXX διαλύω) und Felsen (‫עים‬ ִ ‫ל‬ ָ ְ‫ )ס‬zerbrach (Wurzel ‫שׁבר‬/ (‫רים‬ LXX συντρίβω), zog vor Jahre her; aber im Sturm war Jahwe nicht! Nach dem Sturm ein Erdbeben; (auch) im Erdbeben war Jahwe nicht! Nach dem Erdbeben ein Feuer; aber im Feuer war Jahwe nicht! Nach dem Feuer die Stimme einer (Wind-) Stille.«619

Die Theophanie besteht hier aus drei Elementen: Sturm (dem die Zerstörung von Bergen und Felsen zugeordnet ist), Erdbeben und Feuer. Wahrscheinlich kann in der Naturerscheinung des Sturmes der Ursprung des Motivs des Bergeerbebens erblickt werden. Stürme, evtl. Gewitterstürme sind am ehesten dafür verantwortlich, dass sich Felsen lösen, dass es zu Steinschlägen kommt.

611

JEREMIAS, Theophanie 80. K 3351. Text: EBELING, Die akkadische Gebetsserie »Handerhebung« 94–95. Übersetzung: JEREMIAS, Theophanie 81. 613 AKA I, No.96, Col.I, Z.3–4. JEREMIAS, Theophanie 82. 614 VA.Th.219, rev. Z.10. JEREMIAS, Theophanie 84. 615 JEREMIAS, Theophanie 113. 616 FRITZ, Das erste Buch der Könige (ZBK AT 10,1) 176. 617 Es handelt sich um den Sinai, »der von der christlichen Tradition mit dem ğebel mūsā in der Nähe des Katharinenklosters im Süden der Sinai-Halbinsel gleichgesetzt worden ist« (HENTSCHEL, 1Könige (NEB 10) 117). Ursprünglich kann der Horeb auch »im nordwestlichen Arabien« gelegen haben, »doch fehlen für eine Lokalisierung die Anhaltspunkte« (FRITZ, Das erste Buch der Könige (ZBK AT 10,1) 176). 618 Gliederung nach: FRITZ, Das erste Buch der Könige (ZBK AT 10,1) 175. 619 Übersetzung nach JEREMIAS, Theophanie 65–66. 612

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Durch mit Stürmen verbundene Niederschläge können ganze Berghänge ins Rutschen geraten, so dass der Berg »abgerissen wird«.620 Merkwürdig ist nun, dass »die traditionellen Theophaniemotive des Sturmes, Erdbebens und Feuers zwar als Begleiterscheinungen Jahwes bei seinem Kommen genannt werden […], dass aber in fast polemischer Schärfe festgestellt wird, dass Jahwe in allen diesen Naturphänomenen nicht war, sondern in der ›(Wind)Stille‹.«621 Es kann zwar literarkritisch rekonstruiert werden, dass es in diesem Text, der »mehrfach erweitert und verändert worden ist«622, ursprünglich um eine wirkliche Theophanie Gottes ging, der im Sturm, Erdbeben und Feuer vorübergezogen ist.623 Dennoch bleibt auch für die darauffolgende Redaktion die Frage: »Sollte es Kreise in Israel gegeben haben, die von einem Kommen Jahwes in der ›(Wind-)stille‹ sprachen und von einer in Israel oft durchgeführten Verknüpfung Jahwes mit den verderblichen Naturgewalten nichts wissen wollten, weil man in der religiösen Umwelt Israels das Kommen der Götter mit ihnen verband?«624 Diese »antikanaanäische Polemik«625 gegen die Umwelt, mit der Jahwe u. a. von Baal abgegrenzt werden sollte, bedeutete somit eine Polemik »gegen die eigene Tradition.«626 2.2.3 Das Heben von Bergen als generelles Zeichen der Macht Gottes Auch außerhalb des unmittelbaren Kontextes von Theophanien taucht das Bergeversetzen als Zeichen der Macht Gottes auf. Nach dem großartigen Text der Verheißung der Heimkehr zu Beginn von Deuterojesaja folgt ab Jes 40,12 die Entfaltung der »Geschichts- und Weltüberlegenheit Jahwes«627. Die Perikope beginnt mit einer Reihe rhetorischer Fragen, deren Ziel es ist, »ausgehend von der Feststellung der Unauslotbarkeit der Schöpfungswirklichkeiten für den Menschen auf die Unergründlichkeit Jahwes selbst zu schließen.«628

620

Einen solchen Zusammenhang scheint auch der späte Text aus Ijob 14,18–19 anzunehmen, wo der Regen die Erde wegspült. 621 JEREMIAS, Theophanie 112–113 622 HENTSCHEL, 1Könige (NEB 10) 117. 623 Einen solchen Vorschlag skizziert HENTSCHEL: Die Grundschicht beinhaltete eine Erzählung von der Begegnung Elijas mit seinem Gott, der wirklich in Sturm, Erdbeben und Feuer vorbeigezogen ist. Nach der Theophanie ging Elija mit verhülltem Angesicht (als Schutz) aus der Höhle heraus und konnte »Jahwe gleichsam von hinten schauen«. Erst nach der Hinzufügung des anschließenden Dialogs Elijas mit Gott (ab V. 13b) wird die »Stimme« in V. 12 eingefügt und bei den vorhergehenden Naturphänomenen gesagt, dass Gott nicht in ihnen sei (HENTSCHEL, 1Könige (NEB 10), 117–118). 624 JEREMIAS, Theophanie 115. 625 WÜRTHWEIN, Die Bücher der Könige 1Kön 17–2Kön 25 (ATD 11,2) 230. 626 JEREMIAS, Theophanie 115. 627 ZAPFF, Burkard, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 232. 628 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 233.

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Wer misst das Meer mit der hohlen Hand? Wer kann mit der ausgespannten Hand den Himmel vermessen? Wer misst den Staub der Erde mit einem Scheffel? Wer wiegt (Wurzel ‫שׁקל‬/LXX ἵστημι) die Berge mit einer Waage und mit Gewichten die Hügel? (Jes 40,12)

Von den Rändern der Erde, dem Himmel und dem Meer, schreitet der Vers voran zum Zentrum der Erde, dem Land und »dessen beeindruckenden geographischen Formationen«629 von Bergen und Hügeln. Auch sie ergründet Gott, indem er in technischer Hinsicht die Berge und Hügel wiegt, d. h. ihr Gewicht kennt. Der Bezug zum Motiv des Bergeversetzens ergibt sich erst, wenn man sich diese Aussage konkret bildlich vorstellt: Ein Berg wird hochgehoben und auf eine Wage gelegt, bzw. an Gewichte gehängt. Dass man dies auch in späterer Zeit als Zeichen der Macht Gottes gedeutet hat, zeigt ein Text aus dem 2. Jh. v. Chr. Antiochus (= Antiochus IV. Epiphanes630) wird in 2Makk 9 wegen seiner »Vermessenheit« (9,4) von Gott bestraft, zuerst durch quälende Schmerzen in den Eingeweiden, dann durch einen Wagenunfall, bei dem er alle Glieder verrenkte, und durch viele weitere Grausamkeiten, bis er schließlich starb. Offenbar hatte er sich eine solche Macht angemaßt, wie sie nur Gott zusteht. Daher heißt es nach seinem Wagenunfall in 2Makk 9,8: »Eben noch hatte er in maßloser Aufgeblasenheit geglaubt, er könne den Wogen des Meeres gebieten und die Gipfel der Berge auf einer Waage wiegen (ἵστημι).« Das Motiv der Macht Gottes aus Jes 40,12 wird auf einen Menschen übertragen. Hier ist dies aber nicht mehr Anlass, einen Hymnus auf ihn zu singen, sondern es ist die Begründung für das Strafgericht Gottes über ihn. Auch wenn der »Judenfeind« Antiochus IV. in den Makkabäerbüchern generell ziemlich schlecht wegkommt, so ist doch die Tatsache bemerkenswert, dass ein Gottesattribut zu einem Menschenattribut wird (auch wenn es in diesem Fall als Vermessenheit verurteilt und entsprechend bestraft wird). Einen anderen »Preis auf die Schöpfung«631 findet sich in Ijob 9,5, wo auch Berge von Gott versetzt werden. Ijob reagiert damit auf die vorausgehende erste Rede Bildads und fragt gleich zu Beginn: »Wie wäre ein Mensch bei Gott im Recht?« (9,2) Die Souveränität und Erhabenheit Gottes wird in V. 5–9 durch die kosmischen Taten der Erschütterung der Erde, der Einflussnahme auf die Sonne, des Ausspannens des Himmels und der Erschaffung der Sternenbilder unterstrichen. V. 5 eröffnet diese Aufzählung: »[Gott,] der die Berge versetzt (Wurzel ‫עתק‬/LXX παλαιόω), sie merken es nicht, der sie umstürzt (Wurzel ְ‫הפך‬/LXX καταστρέφω) in seinem Zorn.«632 Gott stürzt in seinem

629 630 631 632

ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 235. DOMMERSHAUSEN, 1 und 2 Makkabäer (NEB AT 12) 145. GROSS, Ijob (NEB AT 13) 38. Übersetzung von JEREMIAS, Theophanie 23.

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Zorn Berge um, er lässt die Berge »alt aussehen« (vgl. LXX!), doch man merkt es nicht. Der Zorn Gottes, den dieser nicht zurückhält (V. 13), steht wohl im Zusammenhang mit seinem Recht und seiner Gerechtigkeit (vgl. 8,3 und 9,2). Der zerstörerische Aspekt des Umstürzens von Bergen wird in Ijob an einer anderen Stelle wieder aufgenommen: In 14,18 drückt Ijob seine Hoffnungslosigkeit dadurch aus, dass er sich in die Rolle des umgestürzten Berges versetzt: »Jedoch der Berg, der fällt (Wurzel ‫)נפל‬, zergeht (Wurzel ‫נבל‬/LXX διαπίπτω), von seiner Stätte rückt (Wurzel ‫עתק‬/LXX παλαιόω) der Fels. Das Wasser zerreibt Steine, Platzregen spült das Erdreich fort; so machst du das Hoffen der Menschen zunichte.« (Ijob 14,18–19)

Für Ijob fällt damit das Letzte dahin, was dem Menschen Inhalt und Lebensmitte sein kann. Das Berg-Motiv taucht in Ijob noch an zwei weiteren Stellen auf. Auf der Suche nach der Weisheit begibt sich der Mensch sogar in die Erde: »An harte Kiesel legt er [der Mensch] die Hand, von Grund auf wühlt er Berge um.« (Ijob 28,9) In Ijob 18,4 stellt Bildad die rhetorische Frage, ob sich denn wegen der Uneinsichtigkeit von Ijob die ganze Welt seiner Uneinsichtigkeit anpassen müsse: »Soll deinetwegen die Erde sich entvölkern, der Fels (LXX ὄρη) von seiner Stelle rücken (Wurzel ‫עתק‬/ LXX καταστρέφω)?« Das Verhältnis von Menschen und Gott wird auch in Sir problematisiert, wo in Sir 16 dem Unvernünftigen widersprochen wird, der behauptet, dass Gott – der zwar Herr des Kosmos ist – angesichts der Masse der Menschen nicht an ihn denkt, wenn er frevelt. Gott wird als kosmischer Herr in V. 18–19 geschildert: »Siehe, der Himmel und der Himmel des Himmels, Urflut und Erde erbeben, wenn er sie heimsucht; zugleich auch die Grundlagen der Berge und die Grundfesten der Erde (τὰ ὄρη καὶ τὰ θεμέλια τῆς γῆς) erzittern (Pass. σείω) vor Angst, wenn er sie anschaut.«633

In Sir 42,15–49,50 findet sich in der »Verbindung der in der Schöpfung gegenwärtigen Weisheit mit der Geschichte Israels«634 ein Gedenken der Werke Gottes in der Natur, wo auch die Berge erwähnt werden: »Die Stimme seines Donners lässt die Erde sich winden, durch seine Kraft lässt er die Berge erbeben (σαλεύω).« (Sir 43,17a-16a)635

633 634 635

Übersetzung aus JEREMIAS, Theophanie 22 MARBÖCK, Das Buch Jesus Sirach 366. Übersetzung aus JEREMIAS, Theophanie 19

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2.3 Wenn die Geschichte durchsichtig wird auf die machtvollen Taten Gottes hin: Gottes Zorn und Gottes Befreiung in der klassischen Prophetie Die Schriftprophetie verbindet die Naturerscheinungen der Theophanie u. a. mit dem »Motiv des Zornes Jahwes«636, der sich in den sozial- und kultkritischen Prophetien des 8. Jh. (Jes 5,25; Mi 1,4; Hos 10,8) zunächst als Zorn gegen das eigene Volk Israel richtet. In Nah 1 und Hab 3 richtet sich der Zorn Gottes, der die uralten Berge zerschmettert und die Hügel der Vorzeit zum Schmelzen bringt, gegen andere Völker und bedeutet somit Heil für Israel. Deuterojesaja verleiht im 6. Jh. in seiner Heilszusage der Bewegung der Berge eine neue Funktion: Berge werden erniedrigt für Gott selbst und das von ihm aus dem Exil heimgeführte Volk (Jes 40,4), Berge werden von Gott zu Wegen der Heimkehr der Exulanten gemacht (Jes 49,10) und Gott macht die Berge eben für seinen Gesalbten Kyros (Jes 45,2). Die Einebnung der Berge ist somit an sich Heilsgeschehen für Israel (nicht mehr nur indirekt wie beim Zornesgericht Gottes an anderen Völkern).637 2.3.1 Der Zorn Gottes: »Da erzittern die Berge…« (Jes 5,25) »Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht und Feld an Feld fügt, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein im Land ansässig seid.« (Jes 5,8) Mit diesem Satz beginnen nach dem Weinberglied (Jes 5,1–7) die Weherufe über Israel. Darin wird eine scharfe Kritik an den sozialen Verhältnissen in Juda vorgetragen. Diese Kritik an sozialen Missständen führt zum Zorn Jahwes gegen sein Volk, der seine Hand gegen das Volk ausstreckt und zuschlägt (5,25): »Da erzittern (Wurzel ‫רגז‬/LXX παροξύνομαι) die Berge, und die Leichen liegen auf den Gassen wie Abfall.« (Jes 5,25) In der Folge wird ein Volk aus der Ferne angekündigt, wovon Israel angegriffen wird. Dieses Gerichtswort, das »nahezu einhellig Jesaja zugeschrieben wird«638, bedeutete eine Ankündigung der assyrischen Invasion des 8. Jh. Dass dieses Volk kommt, ist allein auf das Handeln Gottes zurückzuführen, ist von ihm initiiert, denn er »pfeift es herbei« (V. 26). Das Erzittern der Berge als Ausdruck von Gottes Zorn639 ist somit mit dieser konkreten geschichtlichen Bedrohung verbunden worden. Während sich Jesaja im Südreich Juda betätigt hat, finden sich ähnliche Drohungen auch gegen das Nordreich Israel. Auch hier gilt: »Der Aufruhr der Natur […] wirft […] nicht nur Licht auf Jahwes unbegrenzte Macht […], son636

JEREMIAS, Theophanie 157. Auch JEREMIAS übernimmt diese Einteilung in die »prophetische Gerichtsankündigung« und die »prophetische Heilsankündigung« (JEREMIAS, Theophanie 130.133). 638 KILIAN, Jesaja 1–12 (NEB AT 17) 45. Vgl. dazu die eigene These von KILIAN. 639 »In 25 ist das gewaltige Gerichtshandeln Gottes in den dafür üblichen Ausdrücken beschrieben, so dass weder an ein bestimmtes Erdbeben noch an eine Theophanie zu denken ist« (KILIAN, Jesaja 1–12 (NEB AT 17) 45). 637

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dern er kann ebenso gut […] Jahwes Kommen von vornherein als unheilvoll charakterisieren, wenn Jahwe gegen seine Feinde auszieht und das Beben der Natur ihr Schicksal im Voraus andeutet.«640 In Mi 1,4 richtet sich dieses Kommen Jahwes gegen Samaria (vgl. Mi 1,5.6), »gegen Nordisrael«641. V. 3–4 lauten: »Siehe, Jahwe zieht aus von seinem Ort, er steigt herab auf die Höhen der Erde, da zerschmelzen (Wurzel ‫מסס‬642/LXX σαλεύω) die Berge unter ihm, und die Täler spalten sich (LXX τηκόμαι zerschmelzen) wie Wachs vor dem Feuer, wie am Abhang ausgeschüttetes Wasser.«643

Die Wirkung von Gottes Kommen wird im Zerbrechen der Erde zweifach plastisch beschrieben: Berge zerbrechen, Täler spalten sich. »Wie das Wachs nicht vor dem Feuer bestehen kann und schmelzen muss, wie das Wasser, das an einem Abhang ausgegossen wird, zwangsweise auseinanderfließen muss, so kann auch die Erde vor Jahwe, wenn er kommt, nicht bestehen und fest bleiben.«644 Der Vergleich mit dem Wachs betrifft das Zerschmelzen der Berge, der Vergleich mit dem Wasser bezieht sich auf das Sich-Spalten der Täler.645 Für Samaria bedeutet es konkret, dass die Stadt zerstört wird (assyrische Invasion 722): »Darum mache ich Samaria zu einem Trümmerfeld, zu einem Acker, auf dem man Reben pflanzt. Ich stürze seine Steine zu Tal und lege seine Grundmauern bloß.« (Mi 1,6) Das Vergehen Jakobs, das diese Katastrophe ausgelöst hat, wird dabei im kultischen (Götzen in 1,7) und sozialen/ethischen Bereich646 gesehen (Dirnenlohn in 1,7). Vom Götzendienst spricht auch Hos 10,1–10. Das Hosea-Buch, »dessen

640

JEREMIAS, Theophanie 130. JEREMIAS, Theophanie 130. 642 Dieselbe Verbwurzel wurde schon oben in Psalm 97,5 verwendet! 643 Übersetzung von JEREMIAS, Theophanie 11. 644 JEREMIAS, Theophanie 12. 645 Daher hat die Einheitsübersetzung Umstellungen vorgenommen und die Vergleiche direkt den Bergen, bzw. Tälern zugeordnet. Dass sich die Täler spalten sollen (da sie doch schon gespaltene Berge sind), bleibt trotz allem eine eigenartige Vorstellung. Vgl. dazu auch die ähnliche Stelle AssMos X,4. 646 Zum kultischen Bereich siehe die im Folgenden besprochene Stelle Hos 10,8. Für den sozialen/ethischen Bereich sei auf Am 4,13 verwiesen: Angesichts der sozialen Missstände, wonach die Schwachen unterdrückt und die Armen zermalmt werden (4,1), verlangt Gott »Umkehr« (4,6) und nicht »Schlachtopfer« (4,4). Weil jene aber ausgeblieben ist, bringt er eine »gewaltige Zerstörung« (4,11). Israel soll sich bereit machen, ihm gegenüber zu treten: »Denn siehe, er formt (Wurzel ‫ )יצר‬die Berge, er erschafft den Wind, er verkündet den Menschen, was er im Sinn hat; er macht das Morgenrot und die Finsternis, er schreitet über die Höhen der Erde dahin.« (Am 4,13) Der Zusammenhang zwischen Gottes Einschreiten gegen Israel und dieser Doxologie auf Gott, der die Schöpfung beherrscht, lässt sich nicht direkt erkennen, er entsteht erst aufgrund der Anfügung der Doxologie an die vorhergehende Unheilsankündigung. 641

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Grundbestand um 740/730, also in die ausgehende EZ II B zu datieren ist«, ist »Kronzeuge für die Auseinandersetzung zwischen ›kanaanäischer‹ und ›israelitischer‹ Religion im Israel des 8. Jh.«647 In unserer Perikope wird die Zerstörung der Zeichen des Götzenkultes (und des Königtums) beschrieben. »Verwüstet werden die unheilvollen Kulthöhen, diese Sünde Israels. Dornen und Disteln überwuchern ihre Altäre. Dann wird man zu den Bergen sagen: Deckt uns zu (Wurzel ‫כּסה‬/LXX καλύπτω)!, und zu den Hügeln: Fallt auf uns!« (Hos 10,8) Die Zerstörung der Altäre und Steinmale (Hos 10,2) erfolgt als Handeln Jahwes selbst. Das Motiv des Erzitterns der Berge angesichts von Gottes Zorn ist hier leicht abgewandelt: Die Situation ist offenbar so schlimm für die Menschen (vgl. V. 7: Samaria wird vernichtet), dass sie sich nur noch wünschen können, dass alles zu Ende geht, dass sie von den sich bewegenden Bergen zugedeckt werden. In Jer 4,5–31 ist von der Zerstörung Jerusalems im 6. Jh. und dem babylonischen Exil die Rede. In Jer 4,23–24 wird diese Katastrophe mit kosmischen Bildern beschrieben: »Ich schaute die Erde an: Sie war wüst und wirr. Ich schaute zum Himmel: Er war ohne sein Licht. Ich schaute die Berge an: Sie wankten (Wurzel ‫רעשׁ‬/LXX τρέμω), und alle Hügel bebten (Wurzel ‫קלל‬/ LXX ταράσσω).« Die babylonische Invasion wird in 4,7 angekündigt (»Der Löwe hat sich aus dem Dickicht erhoben, der Völkerwürger ist aufgebrochen«) und auf den glühenden Zorn des Herrn (4,8) zurückgeführt. Das ganze Land soll zwar zur Öde werden, jedoch völlig vernichten will es Gott nicht (4,27). »An jenem Tag wird es geschehen – Spruch des Herrn« (4,9) – durch diesen Vers wird das ganze Geschehen unter ein Vorzeichen gestellt, das als »Tradition vom ›Tag Jahwes‹«648 bezeichnet werden kann. Diese Tradition ist »nur im prophetischen Schrifttum des AT«649 bezeugt. JEREMIAS650 nennt generell drei ursprüngliche Motive der »Tag Jahwes«-Texte: Bei Jahwes Kommen versagen die Gestirne ihr Licht (dunkler Tag), wird das Land verwüstet und werden die Menschen getötet. Diese Motive finden sich teilweise auch im »Tag Jahwes«-Text von Ez 38,18–21: Und an jenem Tag, wenn Gog gegen das Land Israel heranzieht – Spruch Gottes des Herrn –, wird der Groll in mir aufsteigen. 19 In meinem leidenschaftlichen Eifer, im Feuer meines Zorns, schwöre ich: An jenem Tag wird es im ganzen Land Israel ein gewaltiges Erdbeben geben. 20 Dann zittern die Fische im Meer und die Vögel am Himmel vor mir, das Wild auf dem 18

647

KEEL/UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole (Quaestiones Disputatae 134)

224. 648

JEREMIAS, Theophanie 97. JEREMIAS, Theophanie 97. 650 JEREMIAS, Theophanie 98–99. JEREMIAS geht dem Einfluss der Tradition des »Tages Jahwes« auf die Theophanieschilderungen nach. 649

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Feld und alle kleinen Tiere, die auf dem Erdboden kriechen, und alle Menschen auf Erden. Es bersten (Wurzel ‫הרס‬/LXX ῥηγ´ νυμι) die Berge, die Felswände stürzen ein (Wurzel ‫נפל‬/LXX πίπτω), und alle Mauern fallen zu Boden. 21 Dann rufe ich mein ganzes Bergland zum Krieg gegen Gog auf – Spruch Gottes, des Herrn…

Gog, den Feind aus dem äußersten Norden (38,15), lässt Gott am Ende der Tage (38,16) gegen das Volk Israel heranziehen. Nach der Schilderung dessen, was Gottes Zorn an jenem Tag geschehen lässt, wenn Gog gegen Israel heranzieht, folgt der Gegenangriff des Berglandes gegen Gog. Durch dieses Gericht, das auch die Völker betrifft, die mit ihm sind, gibt sich Gott »vor den Augen vieler Völker zu erkennen« (38,23).651 Ez 38,18–21 zeigt auch, dass sich Gottes Zorn nicht nur gegen Israel selbst richten kann, sondern auch gegen andere Völker (und damit zugunsten Israels). In Nahum ist die Weltmacht Assur betroffen (Nah 1,1: Ausspruch über Ninive), über deren Untergang das Buch jubelt. Nah 1 ist »ein in Unordnung geratenes Alphabet-Akrostichon, dessen Zeilen a-k (V. 2a.e-8) leicht wiederherstellbar sind.«652 Der »Lobpreis des Kommens Jahwes«653 lautet: Im Sturm und Wetter sein [Gottes] Weg, und Gewölk ist der Staub seiner Füße. Er schilt das Meer und trocknet es aus, und alle Ströme lässt er versiegen. Es verschmachten Basan und Karmel, und die Blüte des Libanon verwelkt; Berge beben (Wurzel ‫רעשׁ‬/LXX σείω) vor ihm, und die Hügel schwanken hin und her (Wurzel ‫מוג‬/LXX σαλεύω); verödet liegt die Erde vor ihm, das Festland und alle seine Bewohner. (Nah 1,3b-5)654

Die Schilderung von Jahwes Kommen und der Reaktion der erschreckten Natur in V. 3b-5 wird umrahmt durch V. 2a.6, welche das Motiv Jahwes (sein Zornesfeuer) beschreiben. Jahwe ist der gewaltiger Rächer, der zu denen, die zu ihm halten, gütig ist (1,7), der aber für seine Feinde zum furchtbaren Vergelter wird (1,2b.8). Die Vergeltung Jahwes wird anschließend als Gericht über Ninive beschrieben (1,9 ff). Einen dritten Text, in dem sich Gottes Zorn gegen andere Völker richtet, findet sich in Hab 3,3–15. Auch hier ist der Text aus einer Not- und Unter-

651

In dieser Gerichtsankündigung findet sich die »Auffassung einer endgültigen Überwindung aller Feinde Israels, was sich von der sonstigen prophetischen Gerichtsankündigung deutlich unterscheidet.« Wir haben darin einen Vorblick auf das Phänomen, das als Apokalyptik bezeichnet wird. Dennoch gilt: »Ezechiel steht der eigentlichen Apokalyptik aber noch fern, als er insgesamt mit einer irdischen Restitution des Gottesvolkes und einer Erneuerung der staatlichen und kultischen Ordnung Israels rechnet« (HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (BThS 36) 13). 652 JEREMIAS, Theophanie 5. 653 JEREMIAS, Theophanie 5. 654 Übersetzung von JEREMIAS, Theophanie 31–32.

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drückungssituation heraus geschrieben worden. Falls Hab 3 von Anfang an Teil des Habakuk-Buches war, geht es hier um den gleichen Bedrücker, der in Hab 1,14–17 beschrieben wird und in 1,6 mit den Chaldäern (Neubabylonier) benannt wird. Schon zu Beginn von Hab wird jedoch angekündigt, die chaldäische Unterdrückung – auch wenn von Gott quasi selbst initiiert (1,6: »ich stachle die Chaldäer auf«) – werde nicht die letzte historische Wirklichkeit sein: »…Sie werden es büßen, denn sie haben ihre Kraft zu ihrem Gott gemacht« (1,11). In den beiden letzten Versen von Hab 3,3–15, welche sich inhaltlich von der vorhergehenden Theophanieschilderung in V. 3–12 abheben, wird diese Verheißung bestätigt und als Zweck des Kommens Jahwes ausgewiesen: »Jahwe ist ausgezogen, um sein Volk von seinem furchtbaren Bedrücker zu befreien.«655 Das Motiv des Bergeversetzens taucht in der Theophanie in V. 6 und V. 10 auf: »Da werden die uralten Berge zerschmettert (Wurzel ‫פּצץ‬/LXX διαθρύπτω), es ducken sich (Wurzel ‫שׁחח‬/LXX τήκομαι) die Hügel der Vorzeit […] die Berge656 sehen dich und winden sich (Wurzel ‫)חיל‬.«657 »Die Erwähnung des hohen Alters der Berge (V. 6b) soll ihre unverwüstliche Festigkeit unterstreichen; vor Jahwes Erscheinen aber sinken sie in sich zusammen.«658 In V. 10 gebärden sich die Berge »wie in Wehen liegend«659. »Motive verschiedenartigsten Ursprungs«660 sind in dieser Theophanie zusammengeschmolzen worden. »Der Verfasser konnte gar nicht genug Material sammeln, um die Herrlichkeit und Fruchtbarkeit des Kommens Jahwes zu beschreiben und den grenzenlosen Schrecken alles Seienden auszumalen.«661 Dies zeigt sich gerade auch darin, dass das Motiv des Erbebens von Bergen zweimal (in V. 6 und V. 10) verwendet wird. 2.3.2 Gottes befreiendes Handeln in der Vision von Deuterojesaja: »Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken« (Jes 40,4) Zu Beginn von Deuterojesaja ist der großartige Text der Heimkehr Jahwes nach Jerusalem/Zion zu lesen. Nachdem Gott den Tempel vor seiner Zerstörung durch die Neubabylonier verlassen hatte und ein Teil der Juden nach

655

JEREMIAS, Theophanie 44. LXX liest hier λαοί (Völker). 657 Übersetzung von JEREMIAS, Theophanie 40.42. 658 JEREMIAS, Theophanie 48. 659 JEREMIAS, Theophanie 51. 660 JEREMIAS, Theophanie 38. Unter den vielen Motiven können z. B. Gottes Kommen von Teman, sein Erscheinen in Glanz und Feuer, sein Zorn gegen Ströme und das Meer (vgl. Chaoskampf) u. a. genannt werden. 661 JEREMIAS, Theophanie 45. »Dem Verfasser von Hab 3 scheint daran zu liegen, den Schrecken, den das Kommen Jahwes verbreitet, universal zu fassen.« Hab 3 gehört mit Ps 18 nach JEREMIAS zu den Texten, in denen »die Gattung der Theophanieschilderungen ihren Höhepunkt erreicht« hat (JEREMIAS, Theophanie 51). 656

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Babylonien deportiert worden war, wird jetzt die »Rückkehr Jahwes nach Jerusalem zusammen mit den in Babel Exilierten«662 verkündet. Weil es sich um einen so eindrücklichen Text handelt, seien hier die ersten fünf Zeilen wiedergegeben: 1 Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. 2 Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist; denn sie hat die volle Strafe erlitten von der Hand des Herrn für all ihre Sünden. 3 Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Bahnt in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! 4 Jedes Tal soll sich heben (Wurzel ‫נשׂא‬/LXX πληρόω), jeder Berg und Hügel sich senken (Wurzel ‫שׁפל‬/LXX ταπεινόω). Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. 5 Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen. (Jes 40,1–5)

Während in V. 1–2 die Rückkehr der Deportierten angedeutet wird, beziehen sich V. 3–5 auf das Kommen Jahwes selbst. Dieser doppelte Aspekt findet sich deutlich auch in V. 10: »Siehe, der Herr, Jahwe, kommt in Stärke, und sein Arm gewinnt ihm die Herrschaft. Siehe, seine Beute ist mit ihm, und sein Verdienst geht ihm voraus.«663 In diesem »Freudenruf des Siegesboten«664, den Jerusalem hier anzustimmen aufgefordert wird, sind die »Beute« »die aus der Verbannung heimkehrenden Israeliten«665. Mit ihrer Befreiung geht der Frondienst von Jerusalem zu Ende. Wie es von den bis jetzt behandelten Texten her schon erwartet werden kann, geraten die Berge beim Kommen Gottes in Bewegung. Aber sie beben nicht mehr vor Gottes Zorn, sondern ihre Einebnung hat einen konkreten, räumlich fassbaren Zweck: Ein Weg, eine ebene Straße soll für den Herrn (»wie für einen altorientalischen Herrscher«666) gebaut werden, dessen Herrlichkeit (‫כּבוֹד‬ ָ ) sich darauf offenbaren wird.667 Auf diesem Weg, wo alle Hindernisse aus dem Weg geräumt worden sind668, wird Gott seine »Beute«, die befreiten Israeliten, zurückführen. In Kapitel 49 beschreiben Jes 49,10–12 »einen weiteren Heimkehrvorgang – diesmal der gesamten übrigen Diaspora«669:

662

ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 229. Übersetzung von JEREMIAS, Theophanie 61. 664 JEREMIAS, Theophanie 61. Vgl. Jes 40,9: »Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude!« 665 JEREMIAS, Theophanie 62. 666 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 230. 667 Es stellt sich dabei die Frage, wer denn diese Straße bauen soll, bzw. welche Stimme in V. 3 ruft und an wen sie gerichtet ist. Nach ZAPFF »ist bei dem Rufenden an ein himmlisches Wesen zu denken, das anderen himmlischen Wesen Aufträge erteilt.« (ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 230) 668 »Die Rückkehr ist so wunderbar, dass die Natur selbst alle Hindernisse aus dem Weg räumt.« (ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 230) 669 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 302–303. 663

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ְ ֶ‫רּ ר‬ Alle Berge mache ich (Wurzel ‫שׂים‬/LXX τίθημι) zu Wegen (‫ך‬ ָ ַ‫ל‬/LXX εἰς ὁδόν), und meine Straßen werden gebahnt sein. Seht her: Sie kommen von fern, die einen von Norden und Westen, andere aus dem Land der Siniter670.

Hier ist Gott nicht mehr nur derjenige, für den ein Weg gebahnt wird, sondern er wird selbst als der ausgewiesen, der die Berge zu Wegen macht. Der »göttliche Straßenbau«671 führt die Juden von überallher aus der Diaspora zurück nach Jerusalem. Daher sollen die Himmel jubeln, die Erde jauchzen und die Berge sich freuen (V. 13672). Wenn man sich die Freude der Berge bildlich vorstellt, dann könnte einem Psalm 114 in den Sinn kommen. Auch hier geht es um eine Befreiungstat, die Gott an Israel gewirkt hat: der Auszug aus Ägypten und die Inbesitznahme von Juda (V. 1–2). Diese Eröffnung vermittelt den Eindruck, dass die darauf geschilderten Naturphänomene, wozu auch die Reaktion der Berge gehört, »auf die Tatsache der Erwählung Judas und Israels hin«673 geschehen: »Die Berge hüpften674 (Wurzel ‫רקד‬/LXX σκιρτάω) wie Widder, die Hügel wie ׂ ‫בֵני־‬ ְ ‫כּ‬ ִ )… Ihr Berge, was hüpft ihr wie Widder, und ihr junge Lämmer (‫צאן‬ Hügel, wie junge Lämmer?« (Ps 114,4.6) Die freudige Bewegung der Berge wird ergänzt durch das Fliehen des Meeres und das Zurückweichen des Jordan (V. 3.5), wovon das erste Element sicher auf das Schilfmeerwunder und damit auf die befreiende Rettung durch Gott hinweist.675 Vielleicht dürfen wir uns in Jes 49,13 bei der Freude der Berge auch vorstellen, dass sie hüpfen und tanzen. Doch kehren wir zur Befreiung aus dem babylonischen Exil zurück. In Jes 45,1–7 findet sich ein Text, der das befreiende Handeln Gottes in der Geschichte weiter konkretisiert, bzw. den konkreten Gang der Geschichte noch stärker mit Gottes Absicht zu verbinden versucht: So spricht der Herr zu Kyrus, seinem Gesalbten, den er an der rechten Hand geführt hat, um ihm die Völker zu unterwerfen, um die Könige zu entwaffnen, um ihm die Türen zu

670 »›Siniter‹ bezeichnet wahrscheinlich die jüdische Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine. Deren namentlich verheißene Rückkehr könnte eine polemische Spitze gegen den dort an einem Tempel eigenständig etablierten und damit in Konkurrenz mit Jerusalem stehenden Jahwekult sein« (ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 303). 671 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 303. 672 Die Freude der Berge ist im MT mit Textunsicherheiten belastet. Wörtlich geht es um den »Freudenschrei« (‫ר ָנּה‬ ִ ). 673 JEREMIAS, Theophanie 66. 674 JEREMIAS übersetzt es mit »tanzen« (JEREMIAS, Theophanie 66). 675 JEREMIAS versucht, diesen Aspekt zugunsten des »Kommens Jahwes« zurückzudrängen. Nach seiner These ist der von der Einleitung her nahegelegte Eindruck nur der »erste Eindruck«, der durch V. 7 korrigiert wird, wonach mehr das Erschrecken der Natur vor Jahwes Kommen als die Freude der Natur im Vordergrund stehe. Zu seiner These siehe JEREMIAS, Theophanie 66. Zum Ineinander von Schilfmeerwunder- und Chaoskampftradition siehe s.96– 97.

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öffnen und kein Tor verschlossen zu halten: Ich selbst gehe vor dir her und ebne die Berge676 ein (Wurzel ‫ישׁר‬/LXX ὁμαλίζω)… (Jes 45,1–2)

Jahwe selbst geht Kyros voran und ebnet die Berge ein, räumt alle Hindernisse aus dem Weg (wie in Jes 49). Anders als in Jes 40, wo für Gott, bzw. seine Herrlichkeit die Berge geebnet werden, ist hier Gott derjenige, der die Berge für den König ebnet, der als sein Gesalbter angesehen wird (V. 1). Die aufsteigende Macht der Perser, die es den in Babylon exilierten Juden erlaubten heimzukehren, wird hier als von Gott legitimierte, ja geradezu als von Gott heraufgeführte Macht interpretiert. Jahwe ist Herr der Geschichte, auch wenn die Agenten dieser Geschichte dies nicht wissen (in 45,4 spricht Jahwe zu Kyros: »Ich habe dir einen Ehrennamen gegeben, ohne dass du mich kanntest«). Welche Hoffnungslosigkeit den Ausgangspunkt für die Heilserwartung an Jahwe bildete, kann anhand von Jes 63.19 (im Rahmen eines Volksklageliedes) erahnt werden: »Uns geht es, als wärest du nie unser Herrscher gewesen, als wären wir nicht nach deinem Namen benannt. Reiß doch den Himmel auf, und komm herab, so dass Berge zittern (Wurzel ‫זלל‬/LXX τήκομαι) vor dir…« Ab 63,7 geht dieser Bitte ein Rückblick auf die Geschichte Israels voran. Das Ziel der Theophaniebitte besteht darin, dass Jahwe nahen soll, »um gewaltige neue Heilstaten zu vollbringen wie in der Frühzeit Israels.«677 2.3.3 Wenn das Volk selbst Berge dreschen und zermalmen wird (Jes 41,15) Die Hoffnungslosigkeit nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier und die »desolate Situation Israels«678 werden in Jes 41 zum Ausgangspunkt für eine weitere Hoffnungsvision. Jakob/Israel ist so klein wie ein Wurm, bzw. wie ein Würmlein. Umso unerhörter ist die Zusage: 14

Fürchte dich nicht, du armer Wurm Jakob, du Würmlein Israel! Ich selber werde dir helfen – Spruch des Herrn. Der Heilige Israels löst dich aus. 15 Zu einem Dreschschlitten mache ich dich, zu einem neuen Schlitten mit vielen Schneiden. Berge wirst du dreschen (Wurzel ‫רּוּשׁ‬/LXX ἀλοάω) und sie zermalmen (Wurzel ‫רּקק‬/ LXX λεπτύνω679), und Hügel machst du zu Spreu. 16 Du worfelst sie, und es verweht sie der Wind, es zerstreut sie der Sturm. Du aber jubelst über den Herrn, du rühmst dich des Heiligen Israels. (Jes 41,14–16)

Jahwe wird in V. 14 als »Löser« Israels bezeichnet. Der Begriff »entstammt der Rechtssprache und bezeichnet einen Verwandten, dessen Pflicht es ist, zur

Der hebräische Text liest hier ‫רים‬ ִ ‫הדוּ‬ ֲ ‫» ַו‬und Erhabene«. 1Qjesa und LXX haben an dieִ ‫ה‬ ָ ‫ו‬, bzw. ὄρη). Siehe ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 275. ser Stelle das Wort Berge (‫רים‬ 677 JEREMIAS, Theophanie 129. 678 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 243. 679 Bezieht sich in LXX bereits auf die Hügel. 676

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Wahrung des Sippenvermögens bzw. -verbandes den gepfändeten Besitz bzw. ein in Schuldsklaverei geratenes Sippenmitglied freizukaufen.«680 Jahwe ist somit derjenige, der sein Volk aus dem Exil befreit. Israel wird kein Würmlein mehr bleiben, sondern von Jahwe zu einem »Dreschschlitten« gemacht werden. Unter einem Dreschschlitten hat man sich »eine nach oben gekrümmte schwere Holzplatte mit Schneideisen besetzt« vorzustellen, »die über die Ähren gezogen wird, um die Körner aus den Halmen zu lösen.«681 In der zweiten Hälfte von V. 15 werden aber nicht Ähren gedroschen, sondern Berge und Hügel. Das Volk selbst – zwar von Gott zu dem gemacht, was es ist, aber doch es selbst – wird »auch die größten Hindernisse … überwinden«682 und Berge aus dem Weg räumen. Die von Menschen ausgeübte Macht über die Berge wird hier nicht mehr wie in 2Makk 9,8 als Anmaßung verstanden, sondern als von Gott her eröffnete Möglichkeit des Volkes. Es sollten dabei aber nicht vergessen werden, dass diese große Zusage in der Dynamik des Textes nicht einem mächtigen Volk, sondern einem kleinen »Wurm« gemacht wird. 2.4 »Du erneuerst das Antlitz der Erde« (Ps 104,30): Das eschatologische Handeln Gottes in der späten Prophetie und der Apokalyptik Die bis jetzt behandelten (prophetischen) Texte haben Gottes Handeln in der Geschichte vor allem anhand konkreter historischer Ereignisse gedeutet, in denen das Motiv der mobil werdenden Berge Zeichen des Gerichts- oder des Befreiungshandelns Gottes gewesen ist. Im Folgenden wird es hauptsächlich um das (vorhergesehene, »enthüllte«) Ende der Geschichte gehen, um die letzten Geschehnisse (τὰ ἔσχατα), worin das Bergmotiv wiederum in dieser doppelten Verwendung – nun in apokalyptischer Färbung – auftaucht. Bereits in Ez 38 sind wir auf diese Dimension der Prophetie, bzw. Apokalyptik hingewiesen worden: »Am Ende der Tage wird es geschehen…« (Ez 38,16). Dann wird Gott, wie es in Ps 104,30 heißt, das Antlitz der Erde erneuern.683 2.4.1 Sach 14 und die eschatologische Bedeutung des Ölbergs Am Ende des Sach-Buches, dessen zweite Hälfte (Deuterosacharja684 9–14) wohl im 3. Jh. v. Chr.685 entstanden ist, werden die Völker am »Tag für den

680

ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 243. ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 244. 682 ZAPFF, Jesaja III 40–55 (NEB AT 36) 244. 683 Vgl. auch 4 Esra VII,75: »Bis jene Zeiten kommen, in denen du beginnst, die Schöpfung zu erneuern« (SCHREINER, Das 4. Buch Esra 352). 684 DEISSLER, Zwölf Propheten 3. Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi (NEB AT 12) 267. DEISSLER hält Kap. 14 für eine »eigene und damit angefügte Größe«. 685 DEISSLER, Zwölf Propheten 3 (NEB AT 21) 268. Man befindet sich »in nachexilischer Zeit, in welcher sich die Prophetie in die Apokalyptik wendet« (KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 681

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Herrn« (Sach 14,1) im Krieg gegen Jerusalem heranziehen, die Stadt plündern, die Frauen schänden und die Hälfte der Bevölkerung deportieren. Nachdem Gott aus der Stadt ausgezogen ist (V. 3), heißt es von ihm in den folgenden Versen: »Seine Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen (‫)עמד‬, der im Osten gegenüber von Jerusalem liegt. Und spalten wird sich (‫כּקע‬/σχισθήσεται Futur Passiv von σχίζω) der Ölberg (τὸ ὄρος τῶν ἐλαιῶν) in der Mitte vom Aufgang (der Sonne) zum Meer hin, sodass ein großes Tal entsteht. Die eine Hälfte des Berges weist nach Norden, die andere nach Süden zurück. (hebr. Text) ֶ ‫ס‬ ְ ‫)ַנ‬ Und ihr werdet fliehen (‫תּם‬ (zum) ›Tal meiner Berge‹, und es reicht das Tal der Berge bis Azal686. ֶ ‫ס‬ ְ ‫)ַנ‬, Und ihr werdet fliehen (‫תּם‬ ֶ ְ‫)ַנס‬ wie ihr floht (‫תּם‬ vor dem Erdbeben zur Zeit des Usija, des Königs von Juda. Und es kommt JHWH Gott (und) alle Heiligen mit ihm.«

(LXX) Und verstopft wird (ἐμφραχθήσεται) das ›Tal meiner Berge‹, und es reicht das Tal der Berge bis Jasol. Und es wird verstopft (ἐμφραχθήσεται), wie es verstopft wurde (ἐνεφράγη) zur Zeit des Erdbebens zur Zeit des Ozias, des Königs von Juda. Und es kommt der Kyrios, mein Gott, und alle Heiligen mit ihm.«687 (Sach 14,4–5)

Der Ölberg ist »sozusagen zum strategischen Punkt geworden«688, von wo aus Gott als »monumentaler Kriegsheld auf dem Ölberg«689 den Krieg gegen die Völker führt (V. 3). Damit die Auserwählten dem Kriegstreiben und dem Unheil über die Völker entrinnen können, spaltet Gott den Ölberg. Die klaren topographischen Angaben im Text weisen diese Spaltung als ein west-östlich verlaufendes Tat aus, das im Norden und Süden von den zwei Hälften des ehemaligen Ölbergs flankiert wird (»Tal meiner Berge«). Dadurch ermöglicht Gott die Rettung der Auserwählten, obwohl man von Beginn von Sach 14 her eher an einen »Tag des Unheils für Jerusalem«690 hätte denken müssen. Das Spalten des Berges ist aber eine Befreiungstat691: Das Tal wird zu einer (Eus., de 6,18). Spurensicherung des abwesenden Kyrios an Texten und Steinen als eine Aufgabe der historisch-kritischen Exegese 30). 686 Azal ist ein unbekannter Ort. DEISSLER verweist auf das »östliche Seitental des Kidrontals im Süden Jerusalems« (DEISSLER, Zwölf Propheten 3 (NEB AT 21) 312). KÜCHLER hält dieses »Wadi Jasul« für ungeeignet (KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 30). 687 Übersetzung aus: KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 30. 688 KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 30. 689 KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 30. 690 DEISSLER, Zwölf Propheten 3 (NEB AT 21) 311. 691 KÜCHLER verweist zu Recht nebst der heils- auch auf die eminent »unheilsgeschichtliche Bedeutung« des Ölbergs: Er ist nicht nur Zuflucht für die Erwählten, sondern von ihm aus kommt auch »das definitive Gericht über die Völker, die gegen Jerusalem anstürmen.« (KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 30–31)

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»Triumphstrasse für Jahwe«, »wenn er mit seinen Heiligen […] in Jerusalem als Sieger einzieht«692 (V. 5). Dass das dann entstandene Königtum Gottes (V. 9) Sicherheit und Beständigkeit für das neue Jerusalem bedeuten wird (V. 11: man wird in Jerusalem wohnen, die Stadt wird sicher sein), wird ebenfalls topographisch ausgedrückt: Das ganze Land von Geba bis Rimmon im Süden Jerusalems wird sich in eine Ebene verwandeln (‫סבב‬/κυκλόω), Jerusalem aber wird hoch emporragen und an seinem Platz bleiben vom Benjamintor bis zum Ort des alten Tores, bis zum Ecktor, und vom Turm Hananel bis zu den Keltern des Königs. (Sach 14,10)

Doch bleiben wir noch einen Moment beim Ölberg, dem (nach Sach 14) »Stand-Punkt Gottes in der Endzeit«693. Es wurde bereits deutlich, dass es wahrscheinlich auch in Mk 11,23 um diesen Ölberg geht. Aber auch schon vor Sach 14 ist der Topos des Ölbergs theologisch sehr stark »belastet«. Er war von alters her »ein bevorzugter Kultort der Bevölkerung von Jebus/ Jerusalem«694 (vgl. 2 Sam 15,32), wo auch Salomo (auf dem südlichen Ausläufer des Ölbergs) für seine ausländischen Frauen fremdländische Heiligtümer errichtete (vgl. 1Kön 11,7–8). 2Kön 23,13–14 berichtet, dass diesen Heiligtümern unter der Kultreform von Joschija 620 v. Chr. ein Ende bereitet worden ist. Doch »erst durch die Zerstörung der Stadt, das babylonische Exil und die anschließende, völlig auf den Tempel zentrierte Restauration hat der alte Gottesberg im Osten von Jerusalem seine Attraktivität für fremde Kulte für immer verloren.«695 In einem gewissen Sinn bleibt er aber »Kulthöhe«, ‫מה‬ ָ ‫כּ‬ ָ (2Kön 23,13) für Jerusalem, indem nun »in den Visionen der Propheten der Exils- und Nachexilszeit auf dem Ölberg der eigene Gott Israels«696 auftritt. Während der Berg bei Sacharja für die Endzeit große Bedeutung bekommt, ist er in der Vision des Ezechiel (Ez 8–11) schon in der historischen Gegenwart 587 v. Chr. bei der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels ein entscheidender theologischer Topos: Gott zieht aus dem Tempel aus zum Osttor der Stadt, »und die Herrlichkeit JHWHs stieg aus der Stadt hinauf und blieb auf dem Berg stehen […], der im Osten der Stadt liegt.«697 (Ez 11,23) Im »dramatischsten Moment der israelitischen Geschichte Jerusalems« verharrt Gott auf dem Ölberg, »während Tempel und Stadt der Unreinheit und Verwüstung preisgegeben werden.«698

692 693 694 695 696 697 698

DEISSLER, Zwölf Propheten 3 (NEB AT 21) 311–312. KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 31. KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 27. KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 28. KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 28. Übersetzung aus KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 29. KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 29.

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Im apokalyptischen Szenario von Sach 14 schaut Gott in der Endzeit nicht mehr der Zerstörung seiner Stadt zu, sondern greift aktiv ein und vernichtet die angreifenden Völker. Der Text hat in der folgenden Zeit im frühen Judentum eine »vielfache Neuinterpretation«699 erfahren.700 Bereits der oben abgedruckte LXX-Text von V. 5 weist erhebliche Veränderungen auf: Das hebräische »ihr werdet fliehen« ist durch »es wird verstopft« (von ἐμφράσσω) ersetzt worden. Dadurch tritt die Vorstellung der Flucht der Auserwählten durch das in den Berg geschlagene Tal zurück: »Die gewaltsame Veränderung der östlichen Topographie von Jerusalem durch Gott hat hier als ersten Zweck die Wegbereitung des Völkerrichters nach Jerusalem.«701 Der aramäische Targum Jonatan zu Sach 14,3 ff trägt das Motiv des Schilfmeerwunders in den Text ein und vergleicht so die Teilung des Ölbergs mit der Teilung des roten Meeres. Wie das rote Meer schließt sich auch der Ölberg wieder, nachdem die Erwählten durchgezogen sind: Und JHWH wird sich offenbaren und wird Krieg führen gegen diese Völker, wie am Tag seines Kampfes am Schilfmeer. An jenem Tag wird er sich in seiner Macht offenbaren auf dem Ölberg, der im Osten gegenüber von Jerusalem liegt. Und spalten wird sich der Ölberg in der Mitte, vom Osten zum Westen, (sodass entsteht) ein sehr großes Tal. Eine Hälfte des Berges wird nach Norden gerissen, die andere Hälfte nach Süden. Dann wird sich das ›Tal der Berge‹ wieder schließen. So reicht es bis nach Azal; und ihr werdet fliehen, wie ihr geflohen seid vor dem Erdbeben, das in den Tagen Usijas stattfand, des Königs des Stammes des Hauses Juda. Und JHWH mein Gott wird sich offenbaren und alle Heiligen mit ihm.702

Eine völlig andere Interpretation des Textes nimmt FLAVIUS JOSEPHUS vor: »Als Historiker benutzt er (fälschlicherweise) den biblischen Vergleich mit dem ›Erdbeben zur Zeit des Usija‹, um das visionäre Geschehen des Sacharja als eine historische Realität der Zeit des Usija (um 760a) darzustellen«703: Es »erschütterte ein gewaltiges Erdbeben die Erde… und vor der Stadt, am Ort, der ᾽Ερώγη genannt wird, wurde die Hälfte des Berges (τὸ ἥμισυ τοῦ ὄρους), der gegen Westen liegt (τοῦ κατὰ τὴν δύσιν), abgebrochen (ἀπορραγῆναι). Sie rollte vier Stadien (= ca. 800m), bis sie am östlichen Berg zum Stillstand kam, sodass sie die Wege und die königlichen Parkanlagen (mit Schutt) verstopfte (ἐμφραγήναι).«704 (Ant 9,225) 699

KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 31. Sach 14,4–5 bilden so den Ausgangstext für die eschatologische Bedeutung des Ölbergs. Darauf weisen auch die Kommentare zu Mk 11,23par hin: »Am Ölberg hafteten aufgrund von Sach 14,4 eschatologische Erwartungen« (PESCH, Das Markusevangelium (HThK II,2) 178). So auch GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 213. 701 KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 31. 702 Übersetzung aus KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 31. Den aramäischen Text siehe in: SPERBER, The Bible in Aramaic III. The Latter Prophets according to Targum Jonathan 496. 703 KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 32. Vgl. die Gestaltung des göttlichen Strafgerichts an Usija in 2 Chronik 26,16–20. 704 Übersetzung aus KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 32. Der griechische Text ist entnommen aus: JOSEPHUS, Jewish Antiquities, Books IX–XI 118. 700

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Wenn man berücksichtigt, dass ᾽Ερώγη eine verderbte Lesart705 von »Tal meiner Berge« aus Sach 14,5 ist, dann lässt sich die Bergverschiebung des Josephus folgendermaßen verstehen: »Ein Stück des Tempelberges brach gegen Osten hin ab und prallte auf den etwa vier Stadien entfernten Ölberg, sodass die im Kedrontal angelegten königlichen Gärten zerstört wurden – was eine zusätzliche Bestrafung des Königs darstellte!«706 Trotz dieser historischen Deutung des Josephus wird bis in die Zeit Jesu die apokalyptische Bedeutung des Ölbergs verbreitet gewesen sein. Der Ölberg dürfte zudem »zur Zeit Jesu als die Stätte gegolten haben, von der her sich der Messias zeigen wird. Wenige Jahre nach dem Tod Jesu wollte sich ein Messiasprätendent auf dem Ölberg zu erkennen geben.«707 2.4.2 Dan 2 und 4 Esra 13,6.36 – Nebukadnezzars Traum und die Vision des auf einem Berg fliegenden Menschen Im 2. Kapitel des Danielbuches, des »einzigen apokalyptischen Buches des AT«708, deutet Daniel (Belschazzar) einen Traum des babylonischen Königs Nebukadnezzar, worin dieser ein Standbild sieht, dessen Haupt aus reinem Gold, dessen Brust und Arme aus Silber, dessen Oberkörper und Hüften aus Bronze und dessen Beine und Füße aus Eisen und Ton sind (Dan 2,32–33). Mit dem Standbild geschieht im Traum des Königs dann folgendes: Du sahst, wie ohne Zutun von Menschenhand sich ein Stein von einem Berg löste (ἑώρακας ἕως ὅτου709/ἐθεώρεις ἕως οὗ710 ἐτμήθη τέμνω λίθος ἐξ ὄρους ἄνευ χειρῶν), gegen die eisernen und tönernen Füße des Standbildes schlug und sie zermalmte. Da wurden Eisen und Ton, Bronze, Silber und Gold mit einem Mal zu Staub. Sie wurden wie Spreu auf dem Dreschplatz im Sommer. Der Wind trug sie fort, und keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Der Stein aber, der das Standbild getroffen hatte (καὶ ὁ λίθος ὁ πατάξας τὴν εἰκόνα), wurde zu einem großen Berg (ἐγένετο/ἐγενήθη ὄρος μέγα) und schlug/erfüllte (ἐπάταξεν/ἐπλήρωσεν) die ganze Erde. (Dan 2,34–35)711

Daniel deutet diese Geschehnisse dahingehend, dass Nebukadnezzar selbst das goldene Haupt des Standbildes ist (V. 38). Die weiteren Körperteile sind die zeitlich (im Bild von oben nach unten) ihm folgenden Königreiche. Am Ende

705 Vgl. SCHALIT, Namenswörterbuch zu Flavius JOSEPHUS (A Complete Concordance to Flavius JOSEPHUS, Supplement I) 45–46. 706 KÜCHLER, Die »Füße des Herrn« 32. 707 GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 200. 708 NIEHR, Das Buch Daniel 458. 709 Einleitung von V. 34 nach dem Text der LXX. 710 Einleitung von V. 34 nach dem Theodotion-Text, der dem aramäischen Danielbuch sehr nahe steht (vgl. NIEHR, Das Buch Daniel 459). In der verwendeten Septuaginta-Ausgabe sind beide Texte abgedruckt. 711 Ich stütze mich hier auf die LXX. Dan 2,4b-7,28 ist nicht in hebräischer, sondern in aramäischer Sprache abgefasst.

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wird aber ein Reich stehen, das der »Gott des Himmels« (V. 44) errichtet und das in Ewigkeit bestehen wird, denn: Du hast ja gesehen, dass ohne Zutun von Menschenhand ein Stein vom Berg losbrach (τέμνω) und Eisen, Bronze und Ton, Silber und Gold zermalmte. Der große Gott hat den König wissen lassen, was dereinst geschehen wird. Der Traum ist sicher und die Deutung zuverlässig. (Dan 2,45)

Keine Menschenhand, sondern Gott selbst hat offenbar den Stein vom Berg »losgeschnitten« und ihn zu einem großen Berg gemacht, der die ganze Erde erfüllen wird.712 Der Stein hat eine zerstörerische Funktion, indem er die Weltreiche zerstört. Der Berg hingegen weist offenbar auf den »Anbruch der ewigen Königsherrschaft Gottes«713 hin. Doch bis es soweit ist,714 müssen die vier Weltreiche der Babylonier (Gold), Meder (Silber), Perser (Bronze) und Griechen (Eisen und Ton) vorübergehen. Dass der Autor von Dan sich in der Zeit des griechischen Weltreiches715 der eisernen und tönernen Füße716 befindet, wird daran ersichtlich, dass es am genausten beschrieben wird (V. 40–43; so auch das vierte Tier in Dan 7!). In dieser schwierigen Situation verbreitet Dan die Vision der kommenden ewigen Königsherrschaft Gottes. Das Motiv des losgelösten Steines findet sich in abgewandelter Form auch in der 6. Vision des 4. Esrabuches717 (XII,50-XIII,56), worin nebst dieser Stelle aus Dan 2 weitere AT-Stellen aufgenommen und kombiniert worden sind (v. a. auch Dan 7). Auch hier steht die »Hoffnung auf die kommende Gottesherrschaft«718 im Zentrum. In der Vision kommt ein Mensch aus dem Herzen des Meeres auf den Wolken des Himmels geflogen (XIII,3). Eine unzählbare Menschenmenge macht sich ebenfalls bereit, um diesen einen Menschen zu

712

Dieser Stein ist »entscheidend für die jüdisch-apokalyptische Rezeption« des in der Antike weit verbreiteten Motivs der vier Weltreiche (HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung (Biblisch-Theologische Studien 36) 25). 713 HAAG, Daniel (NEB AT 30) 30. Er sieht ebenfalls das Ineinander von »Gottesgericht« im Stein und vom Anbruch der Vollendung für alle Welt im Berg. 714 »Die Apokalyptik beansprucht, den der Geschichte innewohnenden Plan Gottes im Hinblick auf seine Vollendung in Gericht und Heil offen legen zu können« (NIEHR, Das Buch Daniel 463). 715 »Die entscheidende Zeit für die Herausbildung des Danielbuches stellt die erste Hälfte des 2. Jh. v. Chr. dar« (NIEHR, Das Buch Daniel 462.). 716 Es ist dabei bildlich wohl an einen »metallüberzogenen Tonkern« zu denken (HAAG, Daniel (NEB AT 30) 29). 717 »Der Apokalyptiker Esra erzählt sieben Visionen, die er im 30. Jahre nach dem Untergang Jerusalems (587 v. Chr.) in Babel gehabt habe.« (SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 291; vgl. 4 Esra III,1). Historisch ist das Buch aber nicht zu dieser Zeit entstanden, sondern erst um 100 n. Chr.: »Das Datum weist […], wie mit Recht allgemein angenommen wird, auf das 30. Jahr nach der Zerstörung Jerusalems vom Jahr 70 n. Chr.« (SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 301). 718 SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 302.

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bekämpfen. Dann heißt es: »Ich sah, und siehe, er schlug sich einen großen Berg los und flog auf ihm.« (4 Esra XIII,6)719 Lateinisch: Et vidi, et ecce sibimet ipso sculpsit montem magnum et volavit super eum.720 Der Text nimmt hier das Motiv aus Dan 2,34.45 auf, verändert es jedoch dahingehend, dass es sich schon von Anfang an um einen Berg handelt, der losgeschlagen wird (und nicht zuerst um einen Stein, der später erst zu einem Berg wird). Von seinem fliegenden Berg aus bekämpft und vernichtet der Mensch die gegen ihn versammelte Menge mit »Feuer und Flamme«. Erst dann steigt er vom Berg herab und ruft eine andere, friedliche Menge zu sich (V. 12). Ab XIII,25 wird wie in Dan 2 die Deutung des Traums angegeben. Vom Menschen, der nun zu »meinem Sohn/Knecht« (V. 32) geworden ist, heißt es in V. 35, dass er sich auf den Gipfel des Berges Zion stellen wird, der mit dem Berg von V. 6 identifiziert wird: Zion wird kommen und sich allen zeigen, hergerichtet und aufgebaut, wie du gesehen hast, dass ein Berg ohne Menschenhände losgehauen wurde.721 Lateinisch: Sion autem veniet et ostendetur omnibus parata et aedificata, sicut vidisti montem sculpi sine manibus.722

Durch die Präzisierung »ohne Menschenhand« ist der Bezug zu Dan 2,45 hier noch deutlicher. Wie in Dan 2 der Stein das Standbild der Weltherrscher zerstört, so vernichtet in Esra der »Sohn/Knecht« vom Berg (Zion) aus, auf dem er steht, die anstürmenden Völker. Das übriggebliebene Volk wird er aber beschützen. 2.4.3 Ps Sal 11 – »Zur Erwartung« Der 11. Psalm Salomos ist mit der Überschrift »Zur Erwartung« versehen. Sie scheint »aufgrund der messianischen Erwartung des Psalms«723 gebildet worden zu sein. Dabei gehört Psalm 11 zu jenen Gedichten, die »von eschatologi719

Übersetzung aus: SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 394. Das wunderbare Geschehen wird zusätzlich betont, da der folgende Vers sagt, dass Esra die Stelle, wo der Berg losgehauen wurde, nicht zu sehen bekommen konnte. Der Berg, der dann später Zion sein wird, ist offenbar von ganz anderer Qualität, als dass man seinen Ursprung irgendwo lokalisieren könnte. 720 Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem… recensuit et brevi apparatu instruxit Robertus Weber OSB 1963. 4 Esra ist nicht in der Originalsprache erhalten geblieben. Die lateinische Übersetzung geht auf einen (nicht erhaltenen) griechischen Text zurück, es ist aber wahrscheinlich ein hebräischer oder aramäischer Urtext anzunehmen (vgl. SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 294). Die armenische und syrische Übersetzung lesen in V. 6 wie Lat »losschlagen«, während die äthiopische Übersetzung »errichten« liest (vgl. SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 394 Anm. 6a). 721 Übersetzung aus: SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 397. 722 Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem… recensuit et brevi apparatu instruxit Robertus Weber OSB 1964. 723 Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 85.

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schen Erwartungen in mehr allgemeiner Form geprägt sind.«724 In Jerusalem soll mit der Posaune gejubelt (V. 1) und die »Botschaft des Freudenboten« (V. 1) verkündet werden. Die Stadt soll ihre »Prachtkleider« (V. 7) anziehen, weil »Israels Glück für immer und ewig« (V. 7) von Gott ausgesprochen ist. Die Botschaft des Freudenboten, zu deren Realisierung Gott am Ende des Psalms (V. 8) aufgefordert wird, besteht darin, dass Gott die Israeliten, die »Kinder Jerusalems« (V. 2), von überallher versammelt und hinführt nach Jerusalem: Hohe Berge ebnete er für sie zum Flachland, die Hügel flohen vor ihrem Einzug; die Wälder spendeten ihnen Schatten, als sie vorüberzogen, alle wohlriechenden Bäume ließ Gott ihnen aufschießen, dass Israel dahinziehen könne, besucht von der Herrlichkeit ihres Gottes.725 (Ps Sal 11,4–6) Griechisch: ὄρη ὑψηλὰ ἐταπείνωσεν εἰς ὁμαλισμὸν αὐτοῖς´ οἱ βουνοὶ ἐφύγοσαν ἀπὸ εἰσόδου αὐτῶν· οἱ δρυμοὶ ἐσκίασαν αὐτοῖς ἐν τῇ παρόδῳ αὐτῶν´ πᾶν ξύλον εὐωδίας ἀνέτειλεν αὐτοῖς ὁ θεός· ἵνα παρέλθῃ ᾽Ισραὴλ ἐν ἐπισκοπῇ δόξης θεοῦ αὐτῶν.726

Die Berge, welche dem Einzug nach Jerusalem im Weg sein könnten, werden niedrig gemacht (ταπεινόω = erniedrigen; vgl. ταπεινότης = Niedrigkeit, Machtlosigkeit), die Hügel ergreifen gar die Flucht. Gesäumt wird der Weg von schattenspendenden Bäumen.727 Nicht nur das Verb ταπεινόω, sondern die gesamte Szenerie erinnert an Jes 40,4 (und 49,11). Die deuterojesajanische Hoffnungsvision war also auch zu späteren Zeiten vielfach in neuen Texten präsent, in diesem Fall in einem Hymnus728 aus der Mitte des 1. Jh. v. Chr.729. Ps Sal 11 greift jedoch nicht unmittelbar auf die Jesajazitate zurück, sondern stützt sich730 auf Bar 5,1–9731, wo für die Bewegung der Berge und Hügel auch das Verb ταπεινόω verwendet wird732: 724 HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 57. »Eigentlich apokalyptische Vorstellungen spielen überhaupt keine Rolle.« 725 Übersetzung aus: HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 86. 726 GEBHARDT, ΨΑΛΜΟΙ ΣΟΛΟΜΩΝΤΟΣ. Die Psalmen Salomos 119. Der Text ist ursprünglich hebräisch, uns aber nur in griechischer und syrischer Übersetzung bekannt (Vgl. HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 51.53–55). 727 Vgl. zum versetzten Maulbeerfeigenbaum oben Kap. III.1.3.1. 728 HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 56. 729 HOLM-NIELSEN, Die Psalmen Salomos (JSHRZ IV) 58. Die Ps Sal stammen »vermutlich aus der Zeit vor der Regierung Herodes des Großen.« 730 »Bar 4,5–5,9 dürfte seinerseits für die Entstehung des 11. Kapitels der sog. Psalmen Salomos Pate gestanden haben« (MEYER, Das Buch Baruch und der Brief des Jeremia 438). 731 Das Buch Baruch ist jünger als »Dan 9, jedoch älter als PsSal 11« (MEYER, Das Buch Baruch und der Brief des Jeremia 439), d. h. seine Entstehungszeit fällt in die Epoche von der ersten Hälfte des 2. Jh. bis zur Mitte des 1. Jh. v. Chr. 732 Es wurde bereits oben in Kap. III.1.3.1 in Zusammenhang mit dem Maulbeerfeigenbaum auf die Stelle hingewiesen.

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Steh auf, Jerusalem, und steig auf die Höhe! Schau nach Osten, und sieh deine Kinder: Vom Untergang der Sonne bis zum Aufgang hat das Wort des Heiligen sie gesammelt. Denn zu Fuß zogen sie fort von dir, weggetrieben von Feinden; Gott aber bringt sie heim zu dir, ehrenvoll getragen wie in einer königlichen Sänfte. Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel (ταπεινοῦσθαι πᾶν ὄρος ὑψηλὸν καὶ θῖνας ἀενάους), und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, so dass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann. Wälder und duftende Bäume aller Art spenden Israel Schatten auf Gottes Geheiß. Denn Gott führt Israel heim in Freude, im Licht seiner Herrlichkeit; Erbarmen und Gerechtigkeit kommen von ihm. (Bar 5,5–9)

2.4.4 Gottes Erhabenheit und sein Erscheinen zum zukünftigen Gericht und zur Rettung Israels 2.4.4.1 4 Esra 8,20–23 – Ein Hymnus als Gebetseröffnung Zwischen den apokalyptischen Visionen im Esrabuch findet sich auch die Redeform des Gebets, so in VIII,6–36. Darunter wird ein Gebet in V. 20 mit einer »Schilderung der Herrlichkeit Gottes«733 eröffnet: Herr, der du in Ewigkeit wohnst, dessen Höhen hoch erhaben und dessen Söller in den Lüften ist, dessen Thron unschätzbar und dessen Herrlichkeit unfassbar ist, vor dem das Heer der Engel zitternd steht, deren dienende Schar sich in Wind und Feuer wandelt, dessen Wort wahr und dessen Rede beständig ist, dessen Befehl mächtig und dessen Anordnung schrecklich ist, dessen Blick die Tiefen austrocknet, dessen Zorn die Berge zergehen lässt (et [cuius] indignatio tabescere facit montes734) und dessen Wahrheit ewig bleibt.735 (4 Esra VIII,20–23)

Esra macht sich im vorausgehenden und im unmittelbar folgenden Gebet Sorgen darüber, dass nur wenige Menschen gerettet werden beim Endgericht. Er fragt, wer sich nicht ehrlicherweise selbst zu den Frevlern zählen müsste und wer dann überhaupt noch gerettet werde. Es liegt ihm aber ganz Israel am Herzen. Er bittet daher Gott: »Wolle nicht die zugrunde richten, die sich wie das Vieh benommen haben, sondern schau auf die, die dein Gesetz deutlich gelehrt haben.«736 (VIII,29) Diese Bitte wird feierlich eingeleitet durch die Schilderung von Gottes Macht in V. 20–23: Gott ist schon der Allmächtige, dessen Anordnungen schrecklich sind und dessen Zorn die Berge zergehen lassen kann, aber der Beter bittet Gott dennoch, auf die vernichtende Manifestation seiner Macht zu verzichten. Das Motiv der zergehenden Berge wird hier noch am Ende des 1. Jh. n. Chr. als Gottesattribut verwendet in einem Kontext, der an dieser Stelle nicht 733

SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 299. Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem… recensuit et brevi apparatu instruxit Robertus Weber OSB 1951. 735 Übersetzung aus: SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 365–366. 736 SCHREINER, Das 4. Buch Esra (JSHRZ V) 366. 734

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unmittelbar apokalyptisch ist, sondern eher eine traditionell-weisheitliche Färbung aufweist. Das lateinische Verb tabesco bedeutet schmelzen und entspricht so dem griechischen τήκομαι, das wir bereits in Ps 18,8 und Ijob 9,5 angetroffen haben und das in unserer in den Constitutiones Apostolicae zitierten Esra-Passage auch verwendet wird: καὶ ἡ ἁπειλὴ τήκει ὅρη737 (Const. Apost. 8,7,6). 2.4.4.2 Äth Hen 1,6 – Gottes Erscheinung am Sinai Der Ölberg oder der Zion sind nicht die einzigen Berge, welche in der Endzeit große Bedeutung erlangen werden. Das »Buch der Wächter«, das den ersten Teil des Henochbuches bildet738 und dessen Abfassungszeit auf die Zeitspanne vom Ende des 3. Jh. bis zum Beginn der Makkabäerzeit eingrenzt werden kann739, beginnt mit einer »Vision des Heiligen im Himmel«, worin dieser aus seiner Wohnstätte auf den Berg Sinai treten und von dort aus Gericht halten wird. Der großen Furcht und dem Zittern der Wächter (V. 5) folgen weitere Reaktionen auf die endzeitliche Theophanie:740 Und die hohen Berge werden erschüttert, und die hohen Hügel werden sich senken (ταπεινωθήσονται741), und sie werden schmelzen (τακήσονται) wie Honigwachs vor der Flamme. Und die Erde wird zerbrechen, und alles, was auf der Erde (ist), wird zugrunde gehen. Und ein Gericht über alle und über alle Gerechten wird stattfinden.742 (Äth Hen 1,6–7)

Im Gericht wird den Gerechten Frieden geschaffen werden (V. 8), die Frevler und Sünder aber werden »vertilgt« werden (V. 9). Während bei der Sinaitheophanie in Ex 19,18 auf gewisse Unsicherheiten hingewiesen werden musste, was das Motiv des Bebens des Berges betrifft, so ist hier die topographische Erschütterung eindeutig vom Zittern und der Furcht der »Wächter« unterschieden. Ein griechisches Fragment hat das Motiv sogar noch verstärkt und – allerdings unter Preisgabe des Parallelismus membrorum – zum 737

Les Constitutions Apostoliques.Tome III (SC 336) 158. Beim Henochbuch handelt es sich um eine »Sammlung von mehreren Traktaten« (UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 468), wo zu Beginn das »Buch der Wächter« I–XXXVI steht. 739 UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 506. 740 Das Henochbuch ist vollständig »nur durch äth. Handschriften Überliefert« (UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 468), da es im Bibelkanon der äthiopischen Kirche verankert ist. Es besteht aber Einigkeit darüber, dass das Werk »ursprünglich in einer semitischen Fassung vorlag« (UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 483). Es sind uns auch griechische Fragmente erhalten, darunter die »Achimamfragmente (GrP)«, die Teile des Buchs der Wächter enthalten (UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 468). Die griechischen Angaben in der folgenden Übersetzung stammen aus diesem Fragment. 741 BLACK, Apocalypsis Henochi Graece (PsVTGr 3) 19. 742 Übersetzung aus: UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 507–508. 738

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σεισθήσονται hinzugefügt: καὶ πεσοῦνται [Futur von πίπτω] καὶ διαλυθήσονται [Futur von διαλύω] (ὄρη ὑψηλά)743 Das Schicksal der Berge

erreicht somit in einer dreistufigen Dramaturgie seinen Höhepunkt in ihrer völligen »Auflösung« (wie beim schmelzenden Wachs).744 2.4.4.3 Ass Mos 10,4 – Gottes Herrschaft über die ganze Schöpfung In der Himmelfahrt Moses wird in der zweiten Hälfte das Ende der Welt (VII,1) aufgedeckt, nachdem zuvor die Geschichte bis zum Zeitpunkt des Verfassers (4 v. Chr. bis 30 n. Chr.745) überblickt worden ist. Frevler werden herrschen: »Leute, die die Güter (der Armen) verzehren« (VII,6)746, »Vertreiber, (Streitsüchtige), Betrüger« (VII,7). Israel wird größte Not leiden: »Denn welches Geschlecht oder Land oder Volk von Frevlern gegen (den Herrn), die viele Gräuel verübt haben, hat so viele Übel erlitten, wie sie uns widerfahren sind?« (IX,3) In solche Trostlosigkeit, in soziale und religiöse Unterdrückung hinein, wo man eher sterben als die Gebote Gottes übertreten soll (IX,6), wird die Vision von Gottes »Herrschaft über seine ganze Schöpfung« (X,1) gesprochen: Gott tritt heraus aus seiner heiligen Wohnung zur Rache an den Feinden, aus Empörung und Zorn »um des Unrechtes willen, das sein Volk von den Feinden erlitten hat.«747 Und die Erde wird erbeben, bis zu ihren Enden erschüttert werden, und die hohen Berge werden niedrig gemacht und erschüttert werden (et alti montes humiliabuntur et concutientur748), und die Täler werden einsinken (et convalles cadent749).750 (Ass Mos X,4)

743 BLACK, Apocalypsis Henochi Graece (PsVTGr 3) 19. Dieser griechische Text scheint JEREMIAS für seine Übersetzung verwendet zu haben: »Die hohen Berge werden erschüttert werden, fallen und zergehen, die ragenden Hügel sich senken…« (JEREMIAS, Theophanie 52). 744 Dem griechischen Text ist so viel an der Betonung dieses Vorgangs gelegen, dass er ihn im zweiten Teil von V. 6 nach dem Senken der Hügel nochmals nennt: »damit die Berge eingeebnet werden« (vgl. UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 506 Anm. 6b). Vielleicht ist die Einebnung der Berge auch schon im vorausgehenden V. 5 angekündigt, den das griechische Fragment auch anders liest: Es geht um die »seismischen Bewegungen« (σείω) der ἄκρα (Plural von τὸ ἄκρον), was sich durchaus mit (Berg-)Gipfeln übersetzen lässt (UHLIG übersetzt es dagegen mit »Enden (der Erde)« UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V) 506, Anm. 5a). 745 Entstehungszeit nach BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 60. Man befindet sich in der »Krisenzeit unter der beginnenden unmittelbaren Römerherrschaft« nach dem Ende des Varus-Krieges (HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik 40). 746 Auch die folgenden Zitate sind der Übersetzung entnommen von BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 74–77. 747 JEREMIAS, Theophanie 54. 748 CHARLES, The Assumption of Moses 87. Eine lateinische Version des Textes stellt »die einzige vorhandene Handschrift« dar (BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 59). 749 CHARLES, The Assumption of Moses 87. 750 Übersetzung aus: BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 76.

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Schon der erste Teil des Verses ist nicht ganz unproblematisch: Wie können die Berge noch erschüttert werden, wenn sie schon eingeebnet sind? »It would be absurd to speak of the mountains being shaken after they had already been brought low.«751 Wenn der Text so belassen werden soll, dann muss man sich wahrscheinlich beides in einem Vorgang vorstellen. Der zweite Versteil mit den Tälern ist »entweder verunglückt oder schlecht überliefert«752. CHARLES schlägt vor, dass ursprünglich von den colles (Hügel) statt von den convalles die Rede war, welche wie die Berge »gefallen sind«753. Es würde demnach nur um die Erhebungen der Erde gehen, die zerstört werden. Gottes Rachefeldzug erfüllt weiter die ganze Schöpfung: Die Sonne verwandelt sich in Finsternis, der Mond in Blut, das Meer weicht zurück, Wasserquellen versiegen, Flüsse erstarren (V. 5–6). Die »Humilitas« der Berge ist zusammen mit der Nicht-mehr-Existenz von Meer, Quellen und Flüssen Ausdruck der Zerstörung der ganzen Erde. Auf ihr sind nur noch die Heiden, die Gott bestrafen und deren Götzenbilder er vernichten will (V. 7). »Die irdische Welt bleibt heillos zurück; Heil hat sich in die jenseitige Gotteswelt entzogen.«754 Israel selbst wird erhöht und schaut von seiner Wohnung »am Sternenhimmel« (V. 9) auf seine Feinde hinunter, die auf der zerstörten Erde verblieben sind. Der endzeitliche Heils-Topos ist hier also nicht mehr ein erneuerter innerweltlicher Ort wie der Zion, sondern in einer gänzlich anderen Sphäre. 2.5 Das Bergeversetzen als sprichwörtliche Wendung in der rabbinischen Tradition In der jüdisch-rabbinischen Tradition ist das Entwurzeln oder Ausreißen von Bergen eine »sprichwörtliche Wendung, die so viel bedeutet wie: ›unmöglich Scheinendes möglich machen.‹«755 Die folgenden Texte, welche diese These belegen und veranschaulichen sollen, stammen aus dem Babylonischen Talmud (sowie der letzte aus einem Midrasch zum Buch Leviticus). Obwohl diese Texte in ihrer Endform aus viel späterer Zeit stammen (der Babylonische Talmud hat in einem »über mehrere Jahrhunderte andauernden Kompilationsund Redaktionsprozess« seine entscheidende Ausprägung im 7. bis 8. Jh.

751

CHARLES, The Assumption of Moses 86. Er stellt daher den Text um, siehe übernächste Anmerkung. 752 BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 76 Anm. 4c. 753 Der rekonstruierte Text lautet dann: et alti montes humiliabuntur et colles concutientur et cadent (CHARLES, The Assumption of Moses 86). Im Anschluss an Äth Hen 1,6 möchte er »concutio« und »cado« miteinander verbinden, um so auch das Problem der Reihenfolge von Erniedrigung und Erschütterung der Berge zu lösen. 754 BRANDENBURGER, Himmelfahrt Moses (JSHRZ V) 65. 755 BILLERBECK/STRACK, Das Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch (Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I) 759.

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n. Chr. erfahren756), enthalten sie auch Quellen, die aus dem 1. bis 2. Jh. n. Chr. stammen und somit in unsere Zeitepoche zurückreichen.757 In folgenden drei Zusammenhängen wird das Motiv des Entwurzelns von Bergen anzutreffen sein: (1) Ein Bergentwurzeler (‫)עוקר הרים‬, der die ausgerissenen Berge nachher aneinander zermalmen kann, ist ein Gesetzesgelehrter, der sich in den rabbinischen Diskussionen vom Sinai (Vielwisser) dadurch unterscheidet, dass er scharfsinnig zu disputieren vermag (b Sanh 24a; b Hor 14a; b Ber 64a). Er besitzt somit überdurchschnittliche intellektuelle Kräfte. (2) Das Bergentwurzeln drückt eine definitive Entscheidung der Obrigkeit aus (b BB 3b). (3) Im wörtlichen Sinn ist ein Bergentwurzeler jemand, der übermenschliche physische Kräfte besitzt und daher nicht nur einen Stein hochzuheben vermag, sondern ganze Berge. Simson, von dessen großen Kräften bereits die Bibel erzählt (Ri 16,5), ist ein solcher Bergentwurzeler (b Sot 3b; LevR 8). 2.5.1 Ein Bergentwurzeler als scharfsinniger Gesetzesgelehrter Im Babylonischen Talmud, dessen Aufbau sich »an dem der Mischna orientiert«758, ist in der Ordnung Neziqin (Schädigungen) im Traktat Sanhedrin etwas über den Lehrbetrieb der Rabbinen zu erfahren: Ula759 sagte doch, dass wenn man Res-Laqis im Lehrhaus sah, es den Anschein hatte, als entwurzele er Berge und zermalme sie aneinander!? Rabina erwiderte: Wenn man aber Rabbi Meir im Lehrhaus sah, hatte es den Anschein, als entwurzle er Berge der Berge und zermalme sie aneinander. (b Sanh 24a)760

Einer, der Berge entwurzelt (‫עוקר הרים‬761) und sie aneinander zermalmt (‫וטוחנן זה בזה‬762), war ein »Gelehrter, der scharfsinnig zu disputieren verstand«763. Er konnte offenbar mit Leichtigkeit Berge von Wissen durchschauen und sehr frei damit umgehen. Wahrscheinlich beinhaltet das Bild 756

BECKER, Art. Talmud, in: TRE 32 (2001) 627. »Neben der Mischna setzt die Gemara beider Talmudim [des Jerusalemer und des Babylonischen Talmuds] eine größere Zahl weiterer Quellen aus tannaitischer Zeit (1.–2. Jh. n. Chr.) voraus« (BECKER, Art. Talmud, in: TRE 32 (2001) 627). 758 BECKER, Art. Talmud, in: TRE 32 (2001) 627. 759 Ulla bar Jischmael (um 280) »siedelte aus Palästina nach Babylonien über, kehrte jedoch wiederholt zum Besuch in seine Heimat zurück« (STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97). 760 GOLDSCHMIDT VII 93. 761 b Sanh 24a (GOLDSCHMIDT VII 93). Es liegt die Verbwurzel ‫ עקר‬zugrunde, die auch im Hebräisch »entwurzeln« bedeutet (der babylonische Talmud selbst ist in babylonischem Aramäisch abgefasst). 762 b Sanh 24a (GOLDSCHMIDT VII 93). 763 BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 757

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auch die Fähigkeit, Wissen scharfsinnig zu kombinieren und gegeneinander abzuwägen, so dass man in einer Disputation den Überblick behalten und die großen Zusammenhänge deutlich machen konnte. Rabbi Meir (um 150 n. Chr., Schüler von Jischmael und Aqiba, »wohnte zeitweise in Tiberias oder im angrenzenden Chammat Tiberias«764) und Res-Laqis (Rabbi Simeon ben Laqisch, um 250, ebenfalls »in Tiberias wohnhaft«765) gehören zu dieser Art von Gelehrten. Rabbi Meir scheint dabei noch scharfsinniger als Res-Laqis zu sein, da er »Berge der Berge« (‫הרי הרים‬766), d. h. »die allergrössten Berge«767 entwurzeln kann. Im Unterschied zum Scharfsinnigen bezeichnet man den Vielwisser, der zwar nicht so gut zu disputieren vermochte, dafür »aber über eine umfassende Kenntnis des gesamten halakhischen Traditionsstoffes verfügte«768, mit Sinai. Beide Begriffe tauchen in derselben Ordnung im Traktat Horajot (Entscheidungen) auf, innerhalb einer Reihe von Beispielen, wo verschiedene Fälle der Bestimmung von Schuloberhäuptern aufgezeigt werden: Rabbi Jochanan hat gesagt: Rabban Schimeon b. Gamliel und die Rabbinen waren darüber verschiedener Meinung. Der eine sagte: Ein ›Sinai‹ ist vorzüglicher, und die anderen sagten: Ein ›Bergentwurzeler‹ ist vorzüglicher. Rab Joseph war ein ›Sinai‹, Rabbah war ein ›Bergentwurzeler‹. Man ließ dort anfragen: ›Wer von ihnen verdient den Vorzug?‹ Man antwortete ihnen: Der ›Sinai‹ ist vorzüglicher; denn ein Autor hat gesagt: Alle haben den Weizenbesitzer nötig.769 (b Hor 14a)770

Die Ausgangslage bildet in Babylonien die »Wahl zum Schuloberhaupt von Pumbeditha«, wofür Rab771 Joseph (gest. 330772) und Rabbah (Rabba(h) bar Nachmani, gest. 333773) als Kandidaten zur Verfügung stehen. Es besteht dabei die Schwierigkeit zu entscheiden, welche Gabe für eine Schulleitung höher einzustufen sei: Die »scharfe Dialektik«774 des Bergentwurzelers (‫עוקר הרים‬775) Rab Joseph oder die »umfassende Kenntnis des traditionellen Gesetzes«776 des

764

STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 82. STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 91. 766 b Sanh 24a (GOLDSCHMIDT VII 93). 767 BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 768 BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 769 Übersetzung nach: BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 770 GOLDSCHMIDT VI 1117. 771 »Talmud und Midrasch nennen nur palästinische Meister Rabbi; babylonische Rabbinen heißen Rab« (FRIZZELL, Art. Rab/Rabbi/Rabban/Rabbiner, in: TRE 28 (1997) 81). 772 STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97. 773 STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97. 774 STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97. 775 b Hor 14a (GOLDSCHMIDT VI 1117). 776 STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97. 765

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Sinai (‫סיני‬777) Rabbah. Da man auch in der Tradition keine Lösung gefunden hat (Rabbi Jochanan, der um 279 gestorben ist778, berichtet, dass schon zu Zeiten von Rabban779 Schimeon b. Gamliel um 140780 Uneinigkeit darüber bestanden hätte), fragte man in Palästina nach (»man ließ dort anfragen«). Von dort kam der Vorzug des Vielwissers (»Weizenbesitzer«). Trotzdem hat dann Rab Joseph die Wahl nicht angenommen.781 2.5.2 Das Bergeversetzen als Ausdruck einer definitiven Entscheidung weltlicher Obrigkeit Wiederum in der vierten Ordnung, im Traktat Baba Batra (letzte Pforte), wird eine Diskussion, in der es u. a. darum geht, unter welchen Umständen man ein Bethaus niederreißen dürfe, mit folgendem aramäischem Ausspruch beendet: Schemuel sagte nämlich: Wenn die Obrigkeit sagt: ›Ich reiße Berge aus‹, so reißt sie sie aus und wird nicht andrer Meinung.782 (b BB 3b)783

‫שמואל אי‬ ‫אמר מלטותא‬ ‫עקרנא טורי‬ ‫עקרט ורי‬ ‫ולא הדר ביה‬

Wie dieses Verdikt ausdrückt, nimmt die weltliche Obrigkeit (‫א‬ ְ ‫» )מלטות‬ihre Entscheidungen nicht zurück, auch nicht unter den schwierigsten Verhältnissen.«784 Es hat daher keinen Zweck, sich gegen sie aufzulehnen. Während für

777 b Hor 14a (GOLDSCHMIDT VI 1117). Dieser Bezeichnung liegt »die Anschauung zugrunde, dass das ganze halakhische Material bereits Mose auf dem Sinai offenbart worden sei« (BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759). 778 Er »lehrte anfangs in Sepphoris, wo er auch geboren war, später in Tiberias« (STRACK/ STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 91). 779 »Rabban (unser Meister) heißen nur die frühen Führer des Rabbinats, Jochanan ben Zakkai, die beiden Gamliel (…) und Simeon ben Gamliel (FRIZZELL, Art. Rab/Rabbi/Rabban/ Rabbiner«, in: TRE 28 (1997) 81). 780 BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 781 An seiner Stelle übernahm Rabbah die Leitung. Erst nach dessen Tod soll Rab Josef »die Schule in Pumbedita gleitet haben« (STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 97). Der Talmud bietet zur ganzen Geschichte eine Parallelstelle im Traktat Berakhot in der ersten Ordnung. Im Mittelpunkt steht dort der Amtsverzicht von Rab Joseph, weil ihm vorhergesagt worden sei, dass er nur zwei Jahre das Amt ausüben werde (und danach sterben werde). Das Moto dazu lautet: »Wer das Geschick drängt, den drängt das Geschick, und wer sich von seinem Geschick zurückdrängen lässt, vom dem lässt sich das Geschick zurückdrängen« b Ber 64a (GOLDSCHMIDT I 239). 782 Übersetzung nach: BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 783 GOLDSCHMIDT VI 926. 784 BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759.

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die Berge ein anderes Wort als bisher verwendet wird (aramäisch ‫)טורא‬, wird die Tätigkeit des Ausreißens auch hier als Entwurzeln (‫ )עקר‬beschrieben. 2.5.3 Simsons übermenschliche Kraft In Fol. 9b des Traktats Sota (die des Ehebruchs Verdächtige, innerhalb der dritten Ordnung Naschim Frauen) spricht die Mischna785 die Schicksale verschiedener alttestamentlicher Gestalten an. Unter dem Stichwort von Gottes Gerechtigkeit werden Mirjam, Joseph und Mose als positive Beispiele dargestellt, während es Abschalom und Simson nicht gut ergangen ist: »Simson folgte seinen Augen, daher stachen ihm die Pelistim [= Philister] die Augen aus, wie es heißt: Da ergriffen ihn die Pelistim und stachen ihm die Augen aus (Ri 16,21).«786 Da die folgende Gemara Simsons Schicksal ausführlich kommentiert und erläutert, soll seine Geschichte in Ri 13–16 kurz in Erinnerung gerufen werden. Simson, in dessen Gestalt sich die Bedrängnis des Stammes Dan durch die mächtigen Philister spiegelt, wird nach seiner, den Eltern durch Engel angekündigten Geburt vom »Geist des Herrn« im »Lager Dans zwischen Zora und Eschtaol« herumgetrieben (Ri 13,25). Von diesem Aufenthaltsort aus besucht Simson Timna, wo er eine junge Philisterin antrifft, die er gerne zur Frau haben möchte. Auf dem Weg zu seiner Hochzeit stellt er ein erstes Mal seine übermenschlichen Kräfte unter Beweis (auch wenn es hier noch geheim bleibt), indem er einen Löwen mit bloßen Händen zerreißt (14,6). Da beim Fest Simsons Braut die Lösung eines Rätsels an ihre Landsleute verrät, kommt es zu einem ersten Konflikt zwischen Simson und den Philistern. Unter militärischem Druck der Philister liefern die Judäer Simson an diese aus. Doch wieder überkommen ihn übermenschliche Kräfte (»Der Geist des Herrn kam über ihn« Ri 15,14), so dass er die Stricke, mit denen er gefesselt ist, zerreißen und tausend Männer des Feindes töten kann. Eine weitere Geschichte erzählt davon, dass Simson eines Tages in Gaza bei einer Dirne war und auf dem Rückweg mit seiner gewaltigen Kraft die Flügel des Stadttores samt den beiden Pfosten ausgerissen und nach Hebron mitgeschleppt habe (16,1–3). Doch nachdem er einer anderen Frau namens Delila, in die er sich auch wieder verliebt hatte, das Geheimnis seiner Kraft verraten hatte (die sieben Locken auf seinem Kopf), wird er von ihr seiner Kraft 785 Der Begriff Mischna umfasst »die drei Zweige der Tradition, den Midrasch als die Auslegung des Bibeltextes, die Halakhot als die von der Schrift unabhängig formulierten Satzungen, schließlich die Haggadot, alles nicht halakhische Material.« (STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 112) Die »in einen palästinischen und einen babylonischen Zweig gespaltene« Textüberlieferung beinhaltet Material aus dem 1. bis 2. Jh. n. Chr. (MAYER, Art. Mischna, in: TRE 23 (1994) 15–16). Als Grundtext der jeweils anschließenden Diskussionen (Gemara) ist die Mischna in den Druckausgaben der Talmudim abschnittweise enthalten. 786 b Sota 9b (GOLDSCHMIDT V 193).

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beraubt, an die Philister verraten und von diesen gefangen genommen. Sie stechen ihm die Augen aus. Kurz vor seinem Sterben erhält er ein letztes Mal seine Kraft zurück, womit er das Haus, in dem sich nebst ihm viele Philister befinden, zum Einsturz bringt und mehr Feinde mit in den Tod reißt, als er in seinem ganzen Leben getötet hatte. Begraben wird er von seinen Landsleuten zwischen Zora und Eschtaol (16,31). Die Mischna nimmt das Ausstechen der Augen Simsons aus Ri 16,21 auf und erklärt es dadurch, dass er seinen Augen gefolgt sei, d. h. dass er die junge Philisterin überhaupt geheiratet habe. In der Diskussion der Gemara bleibt dieser Kausalzusammenhang der Bestrafung Simsons aber nicht unangefochten. Zur Entschuldigung Simsons wird auf Ri 14,4 verwiesen, wo es heißt: »Sein Vater und seine Mutter wussten nicht, dass es vom Herrn so geplant war, weil er einen Anlass zum Kampf mit den Philistern suchte.« Trotzdem – so meint ein anderer Gelehrter – sei Simson seinen eigenen Trieben gefolgt und daher nicht entschuldbar. Ein weiterer Gelehrter sieht den Beginn von Simsons »Entartung«787 erst in Gaza, als er zur Dirne ging. In ähnlicher Weise werden weitere Details der Geschichte diskutiert. Wir können nicht auf alle eingehen, sondern begnügen uns mit der Stelle, die sich auf Ri 13,25 bezieht: »zwischen Zora und Eschtaol«. Es gibt dazu keine Diskussion, sondern eine bloße Erklärung: Rab Asi (um 300) hat gesagt: Cora und Eschtaol waren zwei große Berge, und Simson entwurzelte sie und zerrieb sie aneinander.788 (b Sot 3b)789

‫אמר רב אסי‬ ‫צרעה ואשתאול שני הרים גדולימ היו‬ ‫ועקרן שמשון‬ ‫וטחנן זה בזה‬

Wo der biblische Text eine geographische Angabe machen will, sieht der Talmud bereits einen Erweis von Simsons übermenschlichen Kräften (Ri 16,5: »so große Kraft«). Während der biblische Text Simsons Kräfte doch noch in einem vorstellbaren Rahmen schildert (Bezwingen eines Löwen, Befreiung aus Fesseln, Zerstörung eines Hauses durch Wegrücken einer Säule), gehen die Rabbinen etwas weiter, wenn sie Simson ganze Berge aneinander zermalmen lassen. Das Bergentwurzeln wird somit im wörtlichen Sinn verstanden als Tat übermenschlicher Kraft und Stärke. Dieselbe Deutung zu Ri 13,25 findet sich auch im Homilie-Midrasch790 b Sota 9b (GOLDSCHMIDT V 194). Übersetzung nach: BILLERBECK/STRACK, Evangelium nach Matthäus erläutert aus Talmud und Midrasch 759. 789 GOLDSCHMIDT V 195. 790 Midrasch bezeichnet als auf den Umgang mit der Bibel bezogener Begriff »das Auslegungsverfahren, die verschriftete Auslegung und die aus dieser hervorgegangene Literaturgattung« (MAYER, Art. Midrasch/Midraschim, in: TRE 22 (1992) 734). 787 788

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Die Metapher des Bergeversetzens im interkulturellen Vergleich

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Wajikra Rabba, der eine Auslegung zum Buch Leviticus darstellt.791 Die 8. Homilie beginnt mit Lev 6,13, wo es um das Opfer Aarons und seiner Söhne (d. h. der Priester) bei ihrer Salbung geht. Über einen Teil von Simsons Rätsel in Ri 14,14 »Vom Fresser kommt Speise« macht der Text einen Link zum Problem, was die Wendung »zwischen Zora und Eschtaol« (Ri 13,25) bedeutet. An der Spitze mehrerer Vorschläge792 steht die bereits bekannte Lösung: »Daraus geht hervor, dass Simson zwei Berge nahm und sie aneinander klopfte, wie ein Mensch, der zwei Bündel nimmt und sie aneinanderklopft.« (LevR 8)793

3. Die Metapher des Bergeversetzens im interkulturellen Vergleich Oda WISCHMEYER weist darauf hin, dass die Wendung »Berge umwerfen, zerschmeißen, versetzen« nicht nur eine jüdische, sondern auch eine gemeinantike Redeweise ist, die ein außergewöhnliches Handeln charakterisiert.794 In der griechisch-römischen Literatur des 1. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr. begegnet das Motiv des Bergeversetzens an einigen Stellen. Es bezeichnet meist ein von Menschen zwar herbeigesehntes, aber (für Menschen) unmögliches und eigentlich nicht vorkommendes Geschehen. Inhaltlich kann damit die Sehnsucht nach neuen politischen Zuständen (HORAZ epod 16,27–29), nach einer völligen Erneuerung der Welt (indirekt PLUTARCH Is Os 370b)795, nach persönlicher Allmacht (LUKIAN Nav 45), nach Erfüllung persönlicher Liebesgefühle (OVID am. II 16,51) sowie der Wunsch nach Rettung in militärisch aussichtsloser Lage (LIVIUS ab urbe condita 9,3,3) ausgedrückt werden. Stets treten die Berge dabei als lebenshindernde Elemente in den Vordergrund. Während die meisten Texte die Macht über den Topos der Berge als Unmöglichkeit oder nur als unerfüllbaren menschlichen Wunsch ansehen, wird in VERGILs Aen. IV 268–270 dem höchsten Gott das Prädikat zugesprochen, dass er Himmel und Erde »verrenke« (torqueo). Auch im griechischrömischen Bereich erscheint somit diese kosmische Erschütterungs- und Ver-

791 Daher wird der Text »nach dem hebr. Beginn von Lev in den MSS gewöhnlich als Wajiqra Rabba« bezeichnet (STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 267). Die Zeit der Redaktion von LevR fällt auf etwa 400 bis 500 n. Chr. Der Midrasch dürfte in Palästina entstanden sein (STRACK/STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch 269). 792 Nebst der Berg-Deutung sind dies: Simson machte einen Schritt, der so groß war wie die Distanz zwischen Zora und Eschtaol; oder Simsons Haare klopften wie eine Schelle aneinander, und man hörte diesen Laut so weit wie von Zora bis Eschtaol (LevR 8). 793 WÜNSCHE, Der Midrasch Wajikra Rabba (Bibliotheca Rabbinica 26) 52. 794 WISCHMEYER, Der höchste Weg 71. 795 PLUTARCH berichtet interessanterweise von persischen Mythen, in denen die Erde im »eschatologischen Zustand« eingeebnet sein wird.

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setzungskraft als göttliches Attribut. Weil Berge in die göttliche Sphäre hineinragen, kann auch bei den Griechen ein besonderer Berg als Göttersitz fungieren. 3.1 Die Versetzung von Bergen an einen anderen Ort bei HORAZ, LIVIUS und LUKIAN Im 16. Kapitel des Buchs der Epoden beklagt der Dichter Q. HORATIUS Flaccus (63–8 v. Chr.796) die Selbstzerfleischung Roms: Während das römische Reich bisher allen Feinden stand gehalten habe (u. a. auch Hannibal), breche es nun durch die eigene Kraft zusammen (epod 16,2) und werde von selbst zu einer Aschenhalde (epod 16,11), welche die Barbaren nicht mehr zu erobern brauchten, sondern nur noch siegreich betreten könnten.797 HORAZ’ Erfahrungen in den »Wirren der Bürgerkriege«798, worin er das ganze väterliche Erbe verloren hat, stehen wohl im Hintergrund dieser Aussagen, die er in den 30er Jahren gemacht hat.799 Angesichts dieser Situation kann der Dichter nur noch dazu auffordern, Rom zu verlassen. Eine Rückkehr kommt für ihn nur unter folgenden Bedingungen in Frage: Doch folgendes wollen wir schwören: Sobald Felsen sich vom Meeresgrund Lösen und wieder auftauchen, sei es kein Frevel mehr zurückzukommen. Auch soll es uns nicht verdrießen, zur Heimat gewandt die Segel zu setzen, wenn Der Po die Gipfel des Matinus bespült Oder sich der hochragende Appennin ins Meer vorschiebt Und in beispielloser Lust widernatürliche Verbindungen stiftet Ein seltsamer Trieb, dass es Tigerinnen gefällt, von Hirschen besprungen zu werden, Und dass die Taube mit dem Habicht buhlt Und arglose Rinder nicht mehr die falben Löwen fürchten Und glatt der Bock die salzige Meerflut liebt.800 (epod 16,25–34)

Wenn sich die Tiere nicht mehr voreinander fürchten, ja wenn zauberhafte Liebesbrunst Wunderbares entstehen lässt, dann wäre Wiederkehr möglich. Zu diesem paradiesischen Zustand gehört auch, dass Berge und Felsen von ihrem Platz entfernt werden, sowohl im Meer (V. 25–26: saxa… levata [hochgehoben]) als auch auf dem Land. Was die Berge auf dem Land betrifft, lauten im Lateinischen die daktylischen Verse (Hexameter und Tetrameter):

796

KYTZLER, Art. Horatius [7], in: Der Neue Pauly 3 (1998) Sp. 720. »Gemeint sind wohl die Parther, die 41/40 v. Chr. nach Syrien und Cilicien vordrangen und einen Einbruch in nahes römisches Gebiet befürchten ließen« (HORAZ, Sämtliche Werke 605). 798 KYTZLER, Art. Horatius [7], in: Der Neue Pauly 3 (1998) 720. 799 KYTZLER, Art. Horatius [7], in: Der Neue Pauly 3 (1998) 722. 800 HORATIUS, Oden und Epoden 307–309. 797

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neu conversa domum pigeat dare lintea, quando Padus Matina laverit cacumina, in mare seu celsus procurrerit Appenninus801 (epod 16,27–29)

Der Gipfel (cacumen) des Matinus (Berg am Garganus, einer bergigen Halbinsel an der Ostküste Italiens)802 badet sich (lavo) im Padus (der Norditalien durchziehende Fluss Po)803, der Appennin springt vor ins Meer (pro-curro). Der Appennin ist die Bergkette, welche die ganze italische Halbinsel von Norden bis Süden durchzieht und auch noch auf Sizilien ihre Ausläufer hat. Der Dichter geht nicht davon aus, dass diese topographischen Veränderungen und die wunderbare Liebesbrunst in der Tierwelt geschehen werden. Beide Bilder dienen wahrscheinlich dazu aufzuzeigen, wie viel sich in Rom und im römischen Reich verändern müsste, damit man wieder auf ihre positive Zukunft setzen könnte. Die reale Geschichte ist vom goldenen über das eherne ins eiserne Zeitalter vorgerückt, in dem für den Frommen (pius) nur die Flucht weg vom Strand der Etrusker (epod 16,40) übrigbleibt. Das Ziel der Flucht sind die seligen Inseln, die Jupiter selbst für die Geflohenen abgesondert hat (zu deren Beschreibung: epod 16,41–62). LIVIUS (59 v. Chr.-17 n. Chr.), der »Historiker der römischen Republik«804, berichtet in seinem Geschichtswerk »Ab urbe condita« von der militärischen Niederlage der Römer »in der Caudinischen Enge zwischen den beiden Pässen«805 (ab urbe condita 9,3,6). Sie ereignete sich 321 v. Chr. im Rahmen des zweiten Samnitenkrieges (326–304 v. Chr.).806 Durch die Streuung falscher Gerüchte täuschten die Samniten die Römer über ihren wahren Aufenthaltsort und lockten sie in eine topographische Falle. So »gerieten die Legionen der beiden Konsuln Sp. Postumius und T. Veturius in der Caudinischen Enge in eine hoffnungslose Lage.«807 In dieser Situation überlegen die Soldaten, was zu tun sei, und jammern, wobei einer sagt: Wohin sollen wir gehen und auf welchem Weg? Wollen wir uns etwa daranmachen, die Berge von ihrer Stelle zu rücken (Num montes moliri sede sua paramus)? Wie will man, solange diese Gebirgskämme vor uns aufragen, an den Feind gelangen?808 (ab urbe condita 9,3,3) 801

HORATIUS, Oden und Epoden 306.308. »Der norditalienische Strom Po wird nie und nimmer die beiden Gipfel des apulischen Bergs Matinus bespülen« (HORATIUS, Oden und Epoden 482). 803 UGGERI, Art. Padus, in: Der Neue Pauly 9 (2000) Sp. 138–139. 804 FUHRMANN/SCHMIDT, Art. Livius [III 2], in: Der Neue Pauly 7 (1999) Sp. 377. Die Bücher 6 bis 10 seiner Geschichte sind wohl vor 20 v. Chr. verfasst und publiziert worden (FUHRMANN/ SCHMIDT, Art. Livius [III 2], in: Der Neue Pauly 7 (1999) Sp. 378). 805 LIVIUS, Römische Geschichte. Buch VII–X 231. 806 LIVIUS, Römische Geschichte. Buch VII–X 679. Der erste Samnitenkrieg fand von 343– 341 statt, der dritte von 298–290 v. Chr. 807 LIVIUS, Römische Geschichte. Buch VII–X 633. Siehe dazu Ab Urbe condita 9,2,14. 808 LIVIUS, Römische Geschichte. Buch VII–X 228–231. 802

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Das Versetzen (molior = in Bewegung setzen) der Berge wäre in der Tat das einzige Unternehmen, welches das römische Heer retten könnte: Zwei hohe Gebirgspässe (saltus duo alti) schließen den dazwischen liegenden, von hohen Bergen umgebenen Talkessel ein, worin sich das Heer befindet. Beide Gebirgsübergänge sind durch Barrikaden und Truppen vom Feind besetzt. Daher können die Römer auch keine offene Schlacht mit den Samniten provozieren. Natürlich sind die Soldaten nicht in der Lage, die Berge zu versetzen: es handelt sich bei diesem Vorschlag um eine verzweifelte rhetorische Frage, worauf die negative Antwort nicht einmal gegeben zu werden braucht. Das römische Heer ist ohne Kampf, nur aufgrund seiner topographische Lage definitiv »gefangen und besiegt«809 (ab urbe condita 9,3,3). LUKIAN, ein griechischer Schriftsteller syrischer Herkunft des 2. Jh. n. Chr.810, kritisiert in seinem Dialog Πλοῖον ἢ εὐχαί (»Das Schiff, oder: Die Wünsche«) nacheinander die Wunschphantasien dreier Freunde. Adimantos wünscht sich als erster – ausgehend von einem prächtigen Schiff, das die vier Freunde im Hafen von Piraeus811 bewundern – Reichtum und Luxus. Samippus wünscht sich auf Eigenleistung beruhende militärische Erfolge als Feldherr. Der dritte, Timolaus, wünscht sich eine Sammlung von Ringen mit bestimmten Kräften: der eine soll ihm einen gesunden Körper verleihen, ein zweiter Unsichtbarkeit, ein dritter unermessliche Kraft, ein weiterer die Fähigkeit zu fliegen, schließlich sogar einer, der bewirkt, dass sich alle in ihn verlieben. Er meint, dass ihm so alles möglich sei. Wie LUKIAN, der unter dem Namen Lycinus auftritt, schon vorher alle Wünsche kritisiert hatte, macht er sich auch über seinen letzten Freund lustig (er selbst wird dann als letzter drankommen und sagen, dass er keinen Wunsch habe, sondern schon mit einem fröhlichen Lachen über die Wünsche seiner Freunde zufrieden sei): But I will ask you this: did you see in all those tribes you flew over any other old man so out of his mind, carried by a little ring and able to move whole mountains with his fingertip, loved by everyone, even though he was bald and snub-nosed?812 (Nav 45)813

LUKIAN nimmt die Wünsche, die mit den verschiedenen Ringen verbunden sind, auf und treibt sie auf die Spitze. Das Bewegen der Berge spielt auf die unermessliche Kraft an. Im Griechischen lautet die Passage: ει τινα ἄλλον 809

LIVIUS, Römische Geschichte. Buch VII–X 231. Die Römer werden dann in schmachvoller Kapitulation von den Samniten zu einem Friedensschluss gezwungen. 810 »Geboren wurde Lukianos zwischen 115 und 125 n. Chr.« und er starb um ca. 190 n. Chr. (NESSELROTH, Art. Lukianos [1], in: Der Neue Pauly 7 (1999) Sp. 493). 811 LUKIAN war »in den 160er und 170er Jahren […] wohl längere Zeit in Athen«, wo nebst anderen auch unsere Schrift spielt (NESSELROTH, Art. Lukianos [1], in: Der Neue Pauly 7 (1999) Sp. 393). 812 LUCIAN in eight volumes. Vol.VI 485. 813 Die Abkürzung Nav steht für Navigium und stammt somit vom lateinischen Titel der Schrift.

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εἶδες… ὄρη ὅλα κινεῖν ἄκρῳ τῷ δακτύλῳ δυνάμενον.814 Die »Dynamis« geht soweit, dass ganze Berge mit dem äußersten Finger (δάκτυλος ἄκρος) bewegt (κινέω) werden können. Wenn DERRETT dies als »the absurd«815

bezeichnet, folgt er ganz der Einschätzung des LUKIAN selber: Wenn Timolaus schon so viele Ringe wünscht, dann möchte er ihm unbedingt noch einen dazugeben, einen solchen nämlich, der ihn dazu bringe, endlich mit diesem »Blödsinn« aufzuhören. 3.2 Berge und die göttliche Macht bei VERGIL, HOMER und SENECA Berge zu versetzen ist für Menschen ein unerfüllbarer Wunsch. Die Macht, mit kosmischen Elementen frei zu hantieren, besitzen nur die Götter. In vierten Buch von VERGILs (70–19 v. Chr.)816 Aeneis überbringt ein göttlicher Bote einen Befehl Jupiters an Aeneas, auf den und dessen Zusammenhang hier nicht weiter eingegangen werden kann. Es soll nur auf drei Verse zu Beginn der Botenrede vor der eigentlichen Überbringung des Befehls hingewiesen werden: »Siehe, vom lichten Olymp entsendet zu dir mich der Herrscher selbst der Götter, der Himmel und Erde waltend beweget (caelum et terras qui numine torquet), er lässt diesen Befehl durch eilende Lüfte dir bringen:…«817 (Aen. IV 268–270)

Der Herrscher (regnator) des Olymp ist derjenige, der Himmel und Erde verrenken oder herumschleudern (torqueo) kann. Die Berge sind hier nicht explizit genannt, aber sie sind wohl als Teil der Erde ebenfalls mit betroffen: Auch sie werden in dieser Vorstellung von Jupiter verrenkt. Der freie Umgang mit diesen kosmischen Mächten ist somit ein Attribut des höchsten Gottes, das hier in einer einleitenden Botenspruchformel auftaucht. Den Göttersitz des Olymp beschreibt HOMER in seiner Odyssee folgendermaßen: ἡ μὲν ἄρ’ ὧς εἰποῦσ’ ἀπέβη γλαυκῶπις ᾽Αθήνη Οὔλυμπόνδ´’ ὅθι φασὶ θεῶν ἕδος ἀσφαλὲς αἰεὶ ἔμμεναι· οὔτ’ ἀνέμοισι τινάσσεται οὔτε ποτ’ ὄμβρῳ δεύεται οὔτε χιὼν ἐπιπίλναταί ἀλλὰ μάλ’ αἴθρη πέπταται ἀνέφελος´ λευκὴ δ’ ἐπιδέδρομεν αἴγλη·

814 815 816 817

Also sprach sie und ging, Athene mit Augen der Eule Fort zum Olympos; dort thronen die Götter immer und sicher Sagen die Menschen; ihn rüttelt kein Wind, nie netzt ihn der Regen Schnee fällt niemals darauf, so liegt er in himmlischer Klarhei Wolkenlos, umwallt von blendender Weiße Dort oben leben die seligen Götter in

LUCIAN in eight volumes, Vol.VI 484. DERRETT, Moving Mountains 28. SUERBAUM, Art. Vergilius [4], in: Der Neue Pauly 12/2 (2002) Sp. 42. VERGIL, Aeneis 148.149.

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τῷ ἔνι τέρπονται μάκαρες θεοὶ ἤματα Freuden alle die Tage. πάντα818 (Od 6,41–46)

Generell haben Berge »den Griechen und Römer immer an gottheitliche Mächte gemahnt.«819 So schreibt L. Annaeus SENECA (ca. 0–65 n. Chr.): si quis specus saxis penitus exesis montem suspenderit non manu factus, sed naturalibus causis in tantam laxitatem excavatus, animum tuum quadam religionis suspicione percutiet.820 (Epist 41,3)

Or if a cave, made by the deep crumbling of the rocks, holds up a mountain on its arch, a place not built with hands but hollowed out into such spaciousness by natural causes, your soul will be deeply moved by a certain intimation of the existence of God.

3.3 Berge als lebensfeindliche Regionen bei ARTEMIDOR von Daldis und ihre Einebnung an Ort und Stelle bei OVID und SENECA In Jes 40,4 dient die Einebnung der Berge dazu, eine ebene Straße entstehen zu lassen. Berge bildeten Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Für ein schnelles und problemloses Weiterkommen waren sie nicht geeignet: Es war nicht so einfach, durch Gebirge hindurchzuziehen. Dadurch erschweren sie die Lebensumstände in verschiedener Hinsicht, wie der folgende Text aus dem Traumbuch des ARTEMIDOR von Daldis (96–180 n. Chr.) zeigt: Sumpfige Wiesen sind nur Hirten von Nutzen, allen anderen Menschen bedeuten sie Stockung der Geschäfte und legen Fußgängern Hindernisse in den Weg, weil es keine gangbaren Wege in ihnen gibt. Berge, Täler, Schluchten, Bergklüfte und Wälder bedeuten jedermann Missstimmung, Ängste, Aufregungen und Arbeitslosigkeit, Sklaven und Verbrechern Folterungen und Prügel, Reichen Verluste, weil dort Holz gehackt und dabei immer etwas weggeworfen wird. Immer ist es besser, solche Gegenden zu durchqueren, gangbare Pfade in ihnen zu finden, auf ihnen in die Ebene hinabzusteigen und erst aus dem Schlaf zu erwachen, wenn man sie verlassen hat. Welcher Art die Wege sind, die einer einzuschlagen träumt, dementsprechend wird er sein Leben leben; die breiten, ebenen und im Flachland verlaufenden prophezeien große Leichtigkeit in den Geschäften, die glatten, aber steilen bedeuten, man werde seine Vorhaben nur mit Verzögerung und Missmut zu Ende führen, während die abschüssigen allen nachteilig sind, ausgenommen Leuten, welche in Furcht leben oder auf der Flucht sind; sie zeigen ihnen ein schnelleres Entkommen an. Einige Pfade bedeuten ganz und gar Missstimmungen.821 (ARTEMIDOR II 28)

Die Berge erweisen sich in diesem Traum als lebenshindernde, ja gar lebensfeindliche Regionen (außer für diejenigen, die auf der Flucht sind oder sich sonst wie aus Angst verstecken müssen). Dass Berge etwas Trennendes sind, zeigt sich auch im 16. Liebesgedicht des 818

HOMER, Odyssee. Griechisch und Deutsch 158–159. FOERSTER, Art. ὄρος, in: ThWNT V (1954) 477. 820 SENECA, Ad Lucilium Epistulae Morales (vol.1) 273–275. 821 ARTEMIDOR von Daldis, Das Traumbuch, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort von Karl BRACKERTZ, München 1979. 819

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2. Buchs der Amores822, wo OVID ein Loblied auf seine Heimat Sulmo beginnt. Publius OVIDIUS Naso wurde dort 43 v. Chr. geboren823 (gestorben ist er 17/18 n. Chr. in der Verbannung). Trotz der Schönheit der heimatlichen Landschaft, die der Dichter in glühenden Worten beschreibt, fehlt ihm die »Herrin«, welche seine Glut anfacht. Sie ist es eigentlich, die ihn die Schönheit seiner Heimat erkennen lässt. Diesen Gedanken entfaltet das Gedicht in zwei Schritten weiter: Wenn die Herrin dabei wäre, dann wäre für den Dichter jede Reise bequem, wohin und wie weit weg sie ihn auch immer bringen möge; umgekehrt wird aber die Heimat zur Fremde, wenn die Herrin nicht da ist. Dies ist offenbar die Situation des Dichters, denn er fragt sich, wieso er von der Herrin getrennt ist (am II 16,11.42). Als Verlassener bittet er am Ende des Gedichts: »Hast du für mich, den Verlassenen, noch etwas an Liebe und Treue, Dann beginne nun, das, was du versprachst, auch zu tun: Über den fliegenden Mähnen der Ponys schwinge die Zügel, Während den Wagen sie dir ziehen, so schnell wie es geht. Ihr aber, stolze Berge, senkt, wo sie naht, eure Gipfel! Wege, seid leicht zu befahren quer durchs gewundene Tal!« (am. II 16,47–52)824

Die »geschwollenen« Berge sollen »sich ducken« (subsido = sich niedersetzen, sich ducken), damit der Wagen der Herrin wirklich so schnell wie möglich zum Dichter gelangen kann. Die folgende Zeile, in der auch die Wege in den kurvigen Tälern aufgefordert werden, »leicht« zu sein, bestätigt, dass es um die Minimierung topographischer Hindernisse geht. Freilich bleibt der Wunsch nach der baldigen Einebnung der Berge auch hier vergebliche Liebesmüh – und dies im wörtlichen Sinn. Es gehört zum Wesen der elegischen Liebe, dass sie »vergebliches bzw. nicht in der gewünschten Weise erwidertes Lieben«825 ist. Die Berge bleiben somit ein Hindernis. Dass sie Platz machen, ist nicht nur topographisch, sondern auch von der elegischen Liebe her unmöglich. Von der Einebnung der Berge spricht auch SENECA. In »Ad Marciam de consolatione«, einer Trostschrift für Marcia, welche die früheste uns erhaltene Schrift SENECAs zu sein scheint und »noch in der Zeit Caligulas geschrieben«826 wurde (vor 40 n. Chr.), legt SENECA eine philosophische Abhandlung über die Lebenszeit und das Lebensende vor. Wie alle seine Werke hat auch diese Schrift einen konkreten Anlass: Marcias Sohn ist offenbar als junger Mann viel zu früh gestorben, und seine Mutter kommt nicht über diesen schmerzlichen Verlust hinweg. Durch Argumente und Beispiele versucht SENECA ihr aufzuzeigen, dass ein langes Leben auch nicht alles ist, ja dass überhaupt das menschliche Leben ganz kurz ist im Vergleich zu den Ewigkeiten des Universums. Für 822 823 824 825 826

Die Amores sind um 15 v. Chr. erschienen (OVIDIUS, Liebesgedichte – Amores 173). KENNEY, Art. Ovidius Naso, Publius, in: Der Neue Pauly 9 (2000) Sp. 110. OVIDIUS, Liebesgedichte – Amores 84–87. OVIDIUS, Liebesgedichte – Amores 170. DINGEL, Art. Seneca [2], in: Der Neue Pauly 11 (2001) Sp. 413.

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unseren Zusammenhang ist wichtig, dass SENECA gleich zu Beginn auf den Vater Marcias, Cremutius Cordus, rekurriert, der – um einem Todesurteil vorzubeugen – freiwillig in den Tod gegangen ist. So wie diese Verletzung bei Marcia mit der Zeit geheilt und zu einer Narbe geworden ist, bemüht sich SENECA in Erinnerung daran um die Heilung der neuen Wunde des Verlustes eines ihrer Söhne (vgl. ad Marc 1,5): In des ewigen Universums grenzenlose und unermessliche Weiten sind sie entlassen, es trennen sie keine Meeresarme und keine himmelhohen Berge oder weglose Schluchten oder die unberechenbaren Syrten mit ihren Untiefen. Alles steht ihnen offen, sie bewegen sich mit Leichtigkeit und ungehindert, und wechselweise nahen ihnen, treffen sie auf Sterne.827 (ad Marc 25,3)

Im irdischen Leben gehören himmelhohe Berge zu den trennenden Elementen, die ihre lebenshindernde Wirkung erst nach dem Tod verlieren. Bis dahin werden Berge zwar vom Schicksal eingeebnet, anderswo aber auch wieder aufgetürmt. Ganz am Ende der Schrift überlässt SENECA dazu das Wort dem verstorbenen Vater, der als von der Welt Erlöster aus den Himmelshöhen spricht: Denn wenn dich in deinem Schmerz das allgemeine Verhängnis trösten kann: Nichts bleibt an dem Ort stehen, wo es steht, alles wird das Alter niederzwingen und mit sich reißen. Und nicht mit den Menschen allein… sondern auch mit Örtlichkeiten, Landschaften, Erdteilen wird das Schicksal sein Spiel treiben. Ganze Berge wird es einebnen und anderswo Felsen hoch auftürmen.828 (ad Marc 26,6)

SENECA spielt hier mit den Verben sup-primo (herunterdrücken, einebnen) und ex-primo (emporheben, auftürmen), um die Vergänglichkeit der Berge auszudrücken: Auch sie werden und vergehen im Laufe der Zeit. Das menschliche Leben (auf der Erde) ist Teil des allgemeinen kosmischen Prinzips des Entstehens und Vergehens (auch Meere werden ausgetrocknet, Flüsse werden umgelenkt). Ein paar Zeilen weiter unten spricht der Vater dann von der Vernichtung dieser Welt und ihrer Neuwerdung: All diese Vorgänge können er und sein Enkel bereits überblicken. In den jüdischen Traditionsströmen tritt dieser trennende und beschwerliche Aspekt der Berge (abgesehen von Deuterojesaja) weniger deutlich hervor. Diese Texte sind ja auch in einem Gebiet von Palästina entstanden, das von Hügeln und Bergen geprägt war und wo sich das Leben von vornherein damit abfinden und arrangieren musste. Die Abgelegenheit der Berge bot zudem denen Schutz und Sicherheit, die in ihnen wohnten. Dies gilt nicht nur für Israel, sondern auch für Edom, das sich in den Bergen eingenistet hat: Dieses Volk der Israeliten vertraut nämlich weniger auf seine Speere als vielmehr auf die Höhe der Berge, die es bewohnt; denn es ist gar nicht so leicht, zu den Gipfeln ihrer Berge vorzudringen. (Jdt 7,10) Deine furchterregende Macht hat dich betört, dein vermessener 827 828

SENECA, Die kleinen Dialoge Bd. 1 383. SENECA, Die kleinen Dialoge. Band 1 86–387.

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Sinn, weil du in Felsklüften wohnst, an Bergeshöhen dich klammerst. Baust du dein Nest auch hoch wie der Adler, ich stürze dich von dort hinab – Spruch des Herrn. (Jer 49,16)

Der Schluss dieses Verses zeigt an, dass für Jahwe auch die höchsten Bergfestungen kein Hindernis darstellen, über das Land Verderben zu bringen (Jes 49,8).829 Zugleich bleiben die Berge aber auch hier der u. U. lebensfeindliche Ort, wo »wilde Tiere hausen, die das Leben von Menschen und verirrtem Vieh bedrohen.«830 In Jer 50,6 ist vom Volk die Rede, das in den Bergen herumirrt: »Eine verlorene Herde war mein Volk, ihre Hirten führten sie in die Irre, trieben sie ziellos in die Berge. Von Berg zu Hügel zogen sie weiter und vergaßen ihren Lagerplatz.« (Jes 50,6) In Mk 5,1–20 heißt es von einem Mann, der von einem unreinen Geist (ἐν πνεύματι ἀκαθάρτῳ) besessen ist, dass er sich normalerweise in den Grabhöhlen und auf den Bergen aufhält: καὶ διὰ παντὸς νυκτὸς καὶ ἡμέρας ἐν τοῖς μνήμασιν καὶ ἐν τοῖς ὄρεσιν ἦν κράζων καὶ κατακόπτων ἑαυτὸν λίθοις. (Mk 5,5) »Die Berge und Grabhölen als Aufenthaltsorte charakterisie-

ren […] den Besessenen als einen unreinen und isoliert lebenden Mann.«831 Weil er unaufhörlich schrie, sich mit Steinen schlug und nicht einmal durch Fesselung gebändigt werden konnte, war er sozial nicht mehr integrierbar. Jesus überlässt diesen Besessenen nun nicht einfach der lebensfeindlichen Region der Berge, draußen bei den Höhlen. Er räumt das Hindernis des Berges aus dem Weg, indem er die unreinen Geister dazu bringt, den Mann zu verlassen (Mk 5,13). Der Besessene kommt dadurch wieder zu sich selbst (Mk 5,15), was die Geschichte auch topographisch ausdrückt: Er wird davon befreit, sich in den Bergen draußen aufhalten zu müssen, bleibt zunächst bei Jesus und zieht dann (auf dessen Geheiß hin) zu seiner Familie (Mk 5,19; enger Kreis der sozialen Integration) und in die ganze Dekapolis (Mk 5,20; äußerer Kreis der sozialen Integration). Als Ergänzung soll an dieser Stelle noch auf einen Text hingewiesen werden, in dem die Berge nicht direkt genannt sind, der aber für den weiteren Zusammenhang dennoch interessant sein könnte. Der griechische Philosoph PLUTARCH (45–ca. 125 n. Chr.)832 referiert in seiner naturphilosophischen Schrift περὶ Ισιδος και Οσίριδος (Über Isis und Osiris) mythische Erzählungen über die Götter u. a. von den Persern. Das Ineinander von »Gut und Böse« in der Welt wird bei ihnen dadurch erklärt, dass der Gott des Lichts und der Gott der Dunkelheit miteinander im Krieg sind. Es werde aber ein bereits festgeleg-

829 Die Berge als Orte der Sicherheit und des Glücks tauchen auch im übertragenen Sinn auf: »Im sicheren Glück dachte ich einst: Ich werde niemals wanken. Herr, in deiner Güte stelltest du mich auf den schützenden Berg.« (Ps 30,7–8) 830 TALMON, Art. ‫הר‬ ַ , in: ThWAT II (1977) Sp. 469. 831 KLEINE, Art. ὄρος, in: EWNT2 II (1992) Sp. 1305. 832 HÜNEMÖRDER, Art. Plutarchos [2], in: Der Neue Pauly 9 (2000) Sp. 1159–1160.

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

ter Tag kommen, an dem der böse Gott der Dunkelheit nichts mehr ausrichten könne: Alors la Terre ne sera plus qu’une vaste plaine uniforme (τῆς δὲ γῆς ἐπιπέδου καὶ ὁμαλῆς γενομένης), il n’y aura plus qu’un seul mode de vie, qu’une seule forme de gouvernement, tous les hommes seront heureux et parleront la même langue.833 (Is Os 370b)

In diesem glücklichen Endzustand wird die Erde eben (ἐπίπεδος) und glatt (ὁμαλής) sein, was impliziert, dass die Berge und Täler nicht mehr existieren werden. Berge werden eingeebnet, wenn die aktuelle Welt von »Gut und Böse« zur zukünftigen rein »guten Welt« wird. Auch bei den jüdischen Apokalyptikern wird die Versetzung und Zerstörung von Bergen erst im Rahmen der endgültigen Durchsetzung von Gottes Macht im kommenden Äon erwartet. Erst dann, wenn die Berge tatsächlich zerbrechen und eingeebnet werden, wird die Zerbrochenheit der Welt, wovon der Apokalyptiker im Verborgenen jetzt schon weiß, für alle sichtbar. Und erst dann wird auch alles Böse vernichtet, das sich bis dahin jedoch fast ungehindert entfalten kann. Anders ist es bei Jesus von Nazareth: Wenn befreiendes und heilendes Geschehen wie in Mk 5,1–20 gelingt, dann werden Berge bereits mitten im Leben ihrer lebenshindernden Bedeutung beraubt. Dies ist auch eine andere Konzeption als bei SENECA, wo die himmelhohen Berge ihre trennende Bedeutung erst nach dem Tod in den höchsten Höhen verlieren.

4. Die jesuanische Vision und ihre christliche Deutung vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition der »hüpfenden Berge« (Ps 114,6) In der jesuanischen Verkündigung qualifiziert das Logion vom Berge versetzenden Glauben die Gegenwart als eine Zeit (Kairos834), in der das Geschehen der βασιλεία τοῦ θεοῦ fragmentarisch und anfanghaft bereits zum Vorschein kommen sollte und somit als »Fragment des Guten im Jetzt«835 wahrgenommen werden kann. Damit erhält die Gegenwart ein viel stärkeres Gewicht als in der traditionellen oder apokalyptischen Weisheit, wo sie ständig in Gefahr ist, ihre Bedeutung angesichts der verfehlten Vergangenheit oder der erwarteten Zukunft zu verlieren. In der jesuanischen Verkündigung und Praxis überlagern sich das auf die apokalyptische Zukunft hin erweiterte Potential traditioneller Weisheit und die traditionell-weisheitliche Erdung des apokalyptischen Horizontes und machen somit die Gegenwart zu einer Zeit, in der sich eine ungeahnte lebensförderliche Dynamik entfalten kann. Jesuanische Weisheit zielt auf die Eröffnung von Freiräumen, worin heilendes und befreiendes 833 834 835

PLUTARQUE, Oeuvres morales. Tome V. 2e Partie 220. Vgl. dazu WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 61. WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 56.

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Handeln lebensfeindliche Hindernisse aus dem Weg schaffen will und lebensförderlichen Optionen auf allen Ebenen zum Durchbruch verholfen werden soll. Das Schema auf folgender Seite bietet einen zusammenfassenden Überblick über die verschiedenen Stränge der jüdischen Tradition der hüpfenden Berge (Ps 114,6). Sie bilden den Hintergrund, auf dem die jesuanische Vision vom Berge versetzenden Glauben bezüglich beider Bezugsfelder jüdischer Weisheit verortet, ihre theologische Verarbeitung in den synoptischen Evangelien abschließend dargestellt und ihre Rezeption in weiteren neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften skizziert werden kann. 4.1 Der Berge versetzende Glaube und die jesuanische Transformation des traditionell-weisheitlichen Nährbodens. Wenn Jesus das Wort vom Berge versetzenden Glauben gesprochen hat, dann ist zweifellos auch das traditionell-weisheitliche Bedeutungsfeld des Motivs vom Bergeversetzen in seine Deutung mit einzubeziehen. Am besten fassbar wird dieses in der rabbinischen Tradition vom Bergentwurzeler als Gesetzesgelehrtem und als Mensch mit besonderen Kräften. 4.1.1 Versetzte Berge als Metapher für das heilende und befreiende Wunderwirken Der historische Jesus hat wahrscheinlich immer dort vom Glauben geredet, wo er heilend und wunderwirkend in Aktion getreten ist. Mehrfach sind Wundergeschichten überliefert, in denen er die Heilung der Kranken ihrem Glauben zugesprochen hat (z. B. Mk 5,34). Von daher kann »glauben« als Voraussetzung und als Vollzugsverb des heilenden und wunderwirkenden Handelns Jesu verstanden werden, als Sich Einlassen und Hineingenommen Werden in sein heilendes Wirken. Dieser Haltung des Sich Einlassens bedarf es nicht nur auf Seiten derer, die geheilt werden, sondern auch auf Seiten derer, die heilen (Mk 9,19). Dies drückt Jesus dadurch aus, dass er den Jüngern die Vision zuspricht, dass sie als Glaubende Berge versetzen. Vor dem Hintergrund der sprichwörtlichen Wendung aus der rabbinisch-jüdischen Tradition, wonach ein Bergentwurzeler ein Wundertäter mit außerordentlichen Kräften ist, erscheinen die Jüngerinnen und Jünger als heilende und wunderwirkende Menschen wie Jesus. 4.1.2 Ein Zuspruch zur Ermutigung in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten Vor dem rabbinischen Hintergrund könnte Jesus das Logion vom Berge versetzenden Glauben auch im Kontext der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten verwendet haben (abgesehen davon, dass es im literarischen Kontext

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des Mk-Evangeliums in 11,18 und 11,27 ff von Versen umrahmt wird, welche den Konflikt zwischen Jesus und den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten ausdrücklich thematisieren). Jesus wollte damit den Angesprochenen Die jesuanische Vision vor dem Hintergrund der jüdischen Traditionsstränge des Motivs der versetzten Berge: Bergeversetzen als zerstörerisches Geschehen göttliches Attribut der Allmacht und des Zornes, Element der Gottes Zorn bei den Theophanie kult- und sozial(Ri 5,5) kritischen Propheten (Jes 5,5; Hos 10,8) Bergeversetzen als erlösendes und befreiendes Geschehen Bergeversetzen als außerordentliche menschliche Kraft Zuspruch in hoffnungsloser Lage (Jes 41,15)

Deuterojesajanische Hoffnungsvision der göttlichen Einebnung der Berge (Jes 40,4; 45,2) Göttlich-königliches Herrschaftszeichen der geschichtlich realisierten βασιλεία τοῦ θεοῦ

in der Kultgemeinde der persischen Provinz Jehud (Ps 46) Rabbinische Tradition: Bergentwurzeler als scharfsinniger Gesetzesgelehrter; Bergentwurzeler als Mensch mit besonderen Kräften

Apokalyptik: Befreiungsgeschehen bei der Etablierung der zukünftigen βασιλεία τοῦ θεοῦ

Apokalyptik: Gerichtsgeschehen bei der Etablierung der zukünftigen βασιλεία τοῦ θεοῦ

Jesus von Nazareth: Bergeversetzen als visionäre Deutung des heilenden und wunderwirkenden Handelns seiner selbst und seiner JüngerInnen als anfanghafte Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ

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vielleicht Mut zusprechen, sich als Bergentwurzeler auf die Diskussion mit den Schriftgelehrten einzulassen. SCHWARZ hebt diese Interpretationsmöglichkeit stark hervor: Nach ihm handelt das Logion davon, dass »Jesu Jünger, obwohl sie ›ungebildet‹ waren, einem Vielwisser und einem Gelehrten furchtlos entgegentreten und in der Auseinandersetzung überwinden könnten.«836 Wie Jesus selbst furchtlos diese Auseinandersetzung geführt hat, so sollen auch seine Jünger diejenigen, die sich im Gesetz auskennen und daher als »Berg«, bzw. »Sinai« bezeichnet werden837, ihres Scheinwissens überführen, d. h. sie entwurzeln und ins Meer werfen.838 Sie sollen dies aus ihrem Glauben heraus tun, den SCHWARZ als Vertrauen widergibt: »Jesus spricht ihrem Vertrauen zu, was Horaj.14a (siehe oben) dem Scharfsinn zuspricht.«839 Die πίστις erscheint in dieser Deutung als Quelle, aus der heraus ein siegreiches Bestehen in der schriftgelehrten Auseinandersetzung möglich wird. Das Bild vom Bergeversetzen beschreibt darin eine Wirkung des Glaubens. Genau darin liegt m.E. auch die Grenze dieser Deutung: SCHWARZ geht davon aus, dass der Begriff der πίστις schon geklärt vorliegt, dass Jesus nur noch das, was der Glaube bewirkt und was aus ihm folgt, aufzeigen muss. Es findet sich aber nirgends eine Definition dessen, wie Jesus »Glaube« verstanden, was dieses Wort für ihn bedeutet hat. Es sollte daher versucht werden, den Zusammenhang zwischen πίστις und dem Bergeversetzen nicht im Sinne einer Kausalkette von Ursache und Wirkung zu verstehen, sondern in der Metapher des Bergeversetzens selbst eine Beschreibung dessen zu erkennen, was es mit der πίστις auf sich hat.840 Zu diesem Wesen des Glaubens kann dann durchaus auch (als Aufnahme der Hinweise von SCHWARZ) eine kritische Spitze gegen diejenigen gehören, welche die Schriften und darin Gott selbst oder seinen Willen genauestens zu kennen meinen.

836 SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 35. Die These gründet auf seinem rekonstruierten Urlogion Jesu, das oben bereits besprochen worden ist. Auch wenn die rekonstruierte Kombination von Berg und Maulbeerbaum nicht zwingend übernommen werden muss, bleibt sein Vorschlag interessant. 837 Falls das jesuanische Logion wie in der mk Fassung bei »Berg« ein Demonstrativpronomen enthielt, könnte dies die Situation spiegeln, »dass Jesus auf tatsächlich anwesende Personen (Schriftgelehrte?) hinwies« (SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 35 Anm. 27). 838 Nach SCHWARZ könnte mit der Wendung »und wirf dich ins Meer« eine »Selbstbestrafung gemeint sein; vielleicht: das Gewußte und Gelernte preiszugeben, um offen zu sein für eine bessere Erkenntnis?« (SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 35). Dieser Ansatz könnte im Sinne eines rettenden Wissens nach dem Konzept von LÖNING weiterverfolgt werden. 839 SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 35. 840 In die gleiche Richtung weist HAHN, wenn er darauf aufmerksam macht, dass »nicht so rasch, wie das gewöhnlich geschieht, von einem bloßen ›Vergleich‹ mit dem Versetzen eines Berges« ausgegangen werden soll (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 158).

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4.1.3 Von der gefährdeten Wirklichkeit zur heilen Welt Psalm 46, worin das Wanken der Berge in das Innere der Meere keinen Anlass zur Furcht mehr darstellt, sondern bereits als ein Zeichen des göttlichen Königtums und seiner Macht verstanden wird, ist zusammen mit den ihn umgebenden Jahwe-Königs-Psalmen 45 und 47 ein Beleg für die »theokratische Vorstellung vom Königtum Gottes«841, bei der sich die Kultgemeinde im nachexilischen Jerusalem »als Verwirklichung der Königsherrschaft Gottes schon in der Gegenwart«842 aufgefasst hat. Gott als Herr der Geschichte und der Schöpfung markiert in Jerusalem seine Präsenz; alle Kräfte, welche diese Herrschaft gefährden könnten, werden von ihm unter Kontrolle gehalten, selbst das Ringen kosmischer Mächte. Während dieses Ringen in Ijob oder Sirach von Gott geradezu einverleibt erscheint, indem das Beben der Berge zu einem Zeichen von Gottes Macht wird, ist in Psalm 46 immerhin noch eine Ahnung der einmal da gewesenen Gefährdungen spürbar. Wenn nun Jesus davon spricht, dass die Glaubenden selbst Berge versetzen können und dies als befreiendes Geschehen zu verstehen ist, dann scheint auch noch der Rest der Ahnung der Gefährdung des Lebens verschwunden zu sein. Dies erscheint vor dem Hintergrund traditionell-weisheitlicher Lebenskonzeptionen höchst irritierend, weil die Gebrochenheit der Wirklichkeit an dieser Stelle auf einer fundamentalen Ebene ausgeblendet wird. Dass die einstige Gefährdung der sich bewegenden Berge in eine Metapher für das heilende Geschehen im Wunderwirken Jesu und seiner JüngerInnen umgewandelt werden konnte, hat aber auch eine faszinierende Wirkung, welche mit der Kehrseite der Irritation dieselbe Provokation bewirkt, die auch bei den Logien von den Raben und Lilien und der damit verbundenen Sorglosigkeit festgestellt werden konnte. Die Gegenwart erscheint als Heilszeit weit über das Potential hinaus, das ihr durch die traditionelle Weisheit eröffnet wird. 4.1.4 Neue Vorläufigkeit und Brüchigkeit In Ps 46 wurde deutlich, dass das Heiligtum in Jerusalem den Thron der Königsherrschaft Gottes darstellte, welcher der ganzen Stadt Sicherheit und Schutz verlieh (Ps 46,2.6). Ganz Jerusalem wird zur »Gottesstadt« (Ps 46,5), zum topographischen Zentrum der präsentisch-theokratisch verstandenen Königsherrschaft Gottes. Daher übernimmt sie nicht nur die den Bergen allgemein zugesprochene Funktion der Sicherheit und des Schutzes, sondern auch deren Bedeutung als wasserspendende Quellen der Vegetation: »Wasserläufe erfreuen die Gottesstadt« (Ps 46,5). Die Nähe Gottes, politische Sicherheit und segenspendende Natur werden im Tempelberg in unüberbietbarer Weise

841 842

THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 227. THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 227.

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kumuliert (wenn auch nicht topographisch von seiner natürlichen Höhe her, so wird dieser Berg doch theologisch unüberbietbar).843 Im spätnachexilischen Jerusalem kommt es somit zu einer Identifizierung von Heiligtum und Berg:844 Ps 43,3 spricht von Gottes »heiligem Berg«. In den apokalyptischen Texten spielt meist nur noch der Berg, der Zion, eine Rolle (z. B. 4 Esra XIII,36), wobei er da nicht mehr nur theologisch, sondern zuweilen auch topographisch unüberbietbar über dem eingeebneten Land emporragt (Sach 14,10). Auch in den synoptischen Evangelien sind Berge »Stätten der besonderen Gottesnähe«845: In Mk 6,46par geht Jesus auf einen Berg, um zu beten. Besondere Ereignisse oder Reden werden von den Evangelisten auf Bergen lokalisiert: von Mk die Kreierung der Zwölfergruppe (Mk 3,13–19), die Verklärung (Mk 9,2–10) sowie die apokalyptische Rede (Mk 13). All diese Erzählungen oder Reden wollen eine Tiefendimension der Jesusbewegung, bzw. der Person Jesu selbst, bzw. der Geschichte aufdecken. Mt kennt darüber hinaus die BergPredigt (Mt 5,1; 8,1); er lokalisiert auf einem Berg in Galiläa (Mt 15,29) zahlreiche Heilungen (Mt 15,29–31) und die zweite Brotvermehrung (Mt 15,32 ff; Mk 8,1–10!);846 und sein ganzes Evangelium endet auf einem Berg in Galiläa (Mt 28,16). Trotz dieses recht häufigen Vorkommens von Bergen bei Mk und Mt werden sie nie mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ in Verbindung gebracht (ausgenommen ihre Versetzung!). Die Königsherrschaft Gottes hat ihren Topos nicht mehr in Jerusalem (Ps 46) oder sonst auf einem heiligen Berg, sondern sie behält in den Evangelien ihre völlig andersartige Topographie, die ihr Jesus verliehen hatte: »Nicht kommt das Königtum Gottes unter Beobachtung, auch werden sie nicht sagen: Siehe, hier! oder: Dort! Denn siehe, das Königtum Gottes ist unter euch.« (Lk 17,20–21) Die βασιλεία ist unter den Menschen lokalisiert, nicht an bestimmten, räumlich fassbaren Orten. Daher werden diese heiligen Berge vom Glauben als der anfanghaften Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ versetzt.847 Bezüglich des Gebets spricht Johannes hier Klartext, 843 In den Schriften des AT ist uns aber nicht nur diese »Perspektive« allein erhalten geblieben. Daher findet sich darin, wie TALMON zu Recht feststellt, eine Spannung zwischen zwei Denkweisen (»mythologisch« und »historisch-theologisch und kultisch«). Diese Spannung wird »illustriert einerseits durch die Vorstellung vom Berg als der selbstgewählten Wohnung eines Gottes und andererseits durch den davon deutlich zu trennenden Glaubenssatz, dass ›die ַ , in: ThWAT II ganze Erde voll von seiner Herrlichkeit ist‹ (Jes 6,3; Ps 138)« (TALMON, Art. ‫הר‬ (1977) Sp. 470). 844 TALMON spricht davon, »dass ›Heiligtum‹ und ›Berg‹ begrifflich identisch wurden« (TALMON, Art. ‫הר‬ ַ , in: ThWAT II (1977) Sp. 480). 845 KLEINE, Art. ὄρος, in: EWNT2 II (1992) Sp. 1305. 846 Vgl. auch Joh 6,1–15. 847 Es steht daher schon in einer gewissen Spannung zur jesuanischen Vision, dass die Evangelien die Berge als Orte besonderer Geschehnisse so stark hervorheben. Es scheint mir aber nur eine Spannung zu sein und kein Gegensatz, denn anders als etwa der Zion, zu dem

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indem er die »prinzipielle Irrelevanz der Frage nach dem Ort der Anbetung«848 aufweist: »Es kommt eine Stunde, da ihr weder auf diesem Berg [= Garizim] noch in Hierosolyma anbeten werdet den Vater… Aber (es) kommt eine Stunde, und jetzt ist sie, da die wahren Anbeter anbeten werden den Vater in Geist und Wahrheit…« (Joh 4,21.23)

Dass damit aus der Sicherheit verleihenden Festigkeit des Gottesberges eine neue Vorläufigkeit und Brüchigkeit der βασιλεία τοῦ θεοῦ wird, ist Teil der jesuanischen Vision vom Berge versetzenden Glauben. Denn so stark dieses Bild auch ist, die Verwirklichung davon gelingt nur bruchstückhaft und fragmentarisch in gewissen Freiräumen der Gegenwart. Die Jünger konnten den epileptischen Knaben nicht von seinem Dämon befreien (Mt 17,19); Jesus kann in seiner Vaterstadt wegen deren Unglauben nichts tun (Mk 6,1–6). Die neuen Strukturen der Königsherrschaft Gottes sind heilende und befreiende Prozesse, dynamische Vorgänge (vgl. Mk 6,2), die als solche offen und unsicher bleiben. Wenn sie aber gelingen, dann leuchtet darin die βασιλεία τοῦ θεοῦ auf, dann ist Gottes Herrschaft mitten »unter euch«. Das Wort Glauben drückt die offene Haltung aus, die es von den Menschen her dafür braucht, sich auf andere Menschen hin zu öffnen, um dadurch Raum für das heilende Geschehen, für das Wirken Gottes zu schaffen. Dies ist eine Haltung der Aufgabe von gängigen Abgrenzungen und damit von Sicherheit: Wenn Berge versetzt werden, dann geht es nicht nur um ihre Funktion als räumliche Fixierungen der Nähe Gottes, sondern auch um ihren Charakter als Orte der Sicherheit. 4.2 Der Berge versetzende Glaube und die jesuanische Transformation des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes Der Berge versetzende Glaube ist nicht nur Metapher für das heilende und befreiende Wunderwirken, sondern steht ebenso im apokalyptischen Horizont der βασιλεία τοῦ θεοῦ. Der Zusammenhang zwischen Jesu Wunderwirken und der βασιλεία τοῦ θεοῦ ist in der Forschung bereits als solcher festgestellt worden und anerkannt: »Die Einzigartigkeit der Wunder des historischen Jesus liegt darin, dass gegenwärtig geschehenden Heilungen und Exorzismen eine eschatologische Bedeutung zugesprochen wird. In ihnen beginnt eine neue Welt.«849 Die hoch-theologische Metapher des Bergeversetzens wird nun

die Völker hinziehen sollen, ist beispielsweise der Berg in Galiläa am Ende des Mt-Ev. nicht der Ort, wo man bleiben oder wohin man zurückkehren soll, sondern er ist der Ausgangspunkt, um zu allen Völkern und allen Menschen zu gehen (Mt 28,19). 848 STOMMEL/KLOEPPEL, Art. Berg, in: RAC II (1954) Sp. 137. Vgl. auch DEVILLERS, Le Lieu où il faut adorer (Jn 4,20) 211–224. 849 THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 279. Auch HAHN und DERRETT weisen auf die »neue Welt« hin: HAHN macht auf die »Erneuerung der Welt« als »endzeitlicher Verwandlung des

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den expliziten, verbindenden ›Link‹ dieser »zwei geistigen Welten« liefern, »die vorher [d. h. vor dem historischen Jesus] nie in dieser Weise verbunden worden sind: die apokalyptische Erwartung universaler Heilszukunft und die episodale Verwirklichung gegenwärtigen Wunderheils.«850 4.2.1 Der Berge versetzende Glaube als anfanghafte Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Die Vielzahl der Belege des Motivs des Bergeversetzens in der alttestamentlichen und frühjüdischen Literatur macht deutlich: »Jesus’ saying about moving mountains […] is a development of meaningful biblical clichés.«851 In den Texten der späten atl. Prophetie und der frühjüdischen Apokalyptik ist in Zusammenhang mit der kosmischen Erscheinung der versetzten Berge explizit das Stichwort der βασιλεία τοῦ θεοῦ aufgetaucht (Sach 14,9; Dan 2,44; AssMos 10,1 u. a.). Dabei sind nicht mehr Sicherheit oder Vertrauen auf Gott als weltliche Zuflucht, sondern Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit in dieser Welt diejenigen Erfahrungen, die hinter einer »eschatologischen Erwartung des Königtums Gottes«852 stehen: Am »Tag für den Herrn« (Sach 14,1), »am Ende der Tage« (Ez 38,16) wird ohne Menschenhand ein Berg losgeschlagen, der aus der Unterdrückung durch das (hellenistische) Weltreich befreien und als Königsherrschaft Gottes die ganze Erde erfüllen wird (Dan 2,34–35; 4 Esra XIII,6.35); am Ende der Tage wird Gottes Rachefeldzug gegen die Leute, die die Armen ausbeuten, sie betrügen und vertreiben (AssMos X), die Berge einebnen und Gott wird das gerettete Israel zu sich in eine gänzlich andere Heilssphäre erheben. Jesus teilt die große Vision vom Kommen Gottes und übernimmt daher das endzeitliche Bild des Bergeversetzens in der ganzen Radikalität der Endzeit; er macht aber den »apokalyptischen Exodus aus der Gegenwart«853 nicht mit, sondern gibt dem Kommen Gottes bereits in der Gegenwart einen Ort: in den Freiräumen des heilenden und wunderwirkenden Handelns seiner selbst und seiner Jüngerinnen und Jünger. Darin werden die lebensfeindlichen Kräfte bereits im jetzigen Kairos bezwungen. Deshalb ist der Berge versetzende Glaube nicht nur ein Bild für das heilende und wunderwirkende Handeln Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger, sondern zugleich die Deutung dieses

Kosmos« aufmerksam, die »jetzt bereits ihre Spuren« hinterlässt (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 166); DERRETT sagt: »…the disciples can command the New Age to down« (DERRETT, Moving Mountains 40–41). Beide treffen den Sachverhalt aber nicht in seiner ganzen Radikalität. 850 THEISSEN, Gerd, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8) 274. 851 DERRETT, Moving Mountains 35. 852 THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 227. 853 WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft 55.

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Geschehens als anfanghafte Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ.854 Die Königsherrschaft Gottes ist somit in der Gegenwart ver-ortet855, sie ist nicht ortlos in einer anderen Sphäre am Sternenhimmel (AssMos X,9). Wie brüchig allerdings dieser »Topos« ist (es ist ja noch nicht Endzeit), konnte schon anhand des Glaubens und Unglaubens der Menschen um Jesus herum (inklusiv seiner Jüngerinnen und Jünger) beobachtet werden. Es sollte daher vom bergeversetzenden Glauben als von einem Bild der anfanghaften Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ gesprochen werden.856 4.2.2 Freiräume von Befreiung und Heilung in der Gegenwart Versetzte Berge zeigen nicht nur an, dass die Realisierung der Gottesherrschaft anfanghaft geschieht, sondern sagen auch etwas darüber aus, was die Gottesherrschaft bedeutet. Deuterojesaja verkündete die Hoffnungsvision, dass die Götter für Jahwe und das verbannte Israel eine Straße bauen und dass sich Berge und Hügel senken werden, bzw. dass Gott selbst für Israel alle Berge zu Wegen machen wird. Das wunderbare Bild, das in der jüdischen Tradition (Bar 5,7; Ps Sal 11,4) immer wieder aufgenommen worden ist, will Trost sein, indem es die Befreiung aus der Verbannung und die Heimkehr nach Jerusalem ankündigt. Jesus versuchte auch, Berge einzuebnen, damit ein Weg sichtbar wird, der von unüberwindlichen Hindernissen befreit ist und auf dem die Menschen hoffnungsvoll gehen können. Seine Wunder eröffneten Menschen in Not eine Perspektive, sie sind Wege der Heilung und der Befreiung: der Gelähmte steht auf und kann wieder auf den eigenen Beinen seine Wege gehen (Mk 2,1–12); zur blutflüssigen Frau sagt Jesus: »Tochter, dein Glaube hat dich

Diese Verbindung mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ wird von den Kommentaren zu den entsprechenden Stellen in den synoptischen Evangelien kaum gesehen. Es finden sich bloß folgende Hinweise: »Im AT ist das Bewegen der Berge Sache Gottes (Jes 40,4). Es ist Teil der endzeitlichen Umgestaltung des ganzen Kosmos (Jes 49,10 f; 54,10).« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 213) »Denn die Macht, Berge zu versetzen, ist die spezifisch Gott eignende eschatologische Schöpfungsmacht.« (SÖDING, Glaube bei Markus 329) LUZ weist zögerlich auf Jes 40,3–5; Jes 49,11; Sach 14,10 hin und ist dabei noch kritischer als GNILKA und SÖDING: »Es gibt zwar biblische Aussagen, die davon reden, dass Gott in seiner Heilszukunft Berge eben machen (aber nicht versetzen!) werde.« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 524) 855 Jesus meint damit »nicht die Präsenz der schon seit je bestehenden Herrschaft Gottes über die Welt, sondern die Präsenz der von der Zukunft erwarteten Herrschaft Gottes – jenes Zustandes, in dem Gott sich ganz durchsetzen wird gegen alle Feinde und gegen das Böse« (THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 235). 856 Wir stoßen hier auf das Problem des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft in der Verkündigung Jesu, in der wir sowohl auf futurische als auch auf präsentische Aussagen zur Königsherrschaft Gottes stoßen. »Während die Existenz einer futurischen Eschatologie bei Jesus nur bestritten werden kann, wenn man Jesus eindeutig futurische Aussagen recht gewaltsam abspricht, ist bei den präsentischen Aussagen deren Authentizität unbestritten…« (THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus, 234). 854

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gerettet; geh fort in Frieden und sei gesund von deiner Plage!« (Mk 5,34); und zum Blinden in Jericho: »Geh fort! Dein Glaube hat dich gerettet« (Mk 10,52). Ebenso sollen die Jüngerinnen und Jünger Berge aus dem Weg räumen, um am jesuanischen Straßenbau der βασιλεία τοῦ θεοῦ mitzuarbeiten.857 Selbst die (eingeebneten oder versetzten) Berge künden dann vom befreienden Geschehen: Sie werden jauchzen und sich freuen (Jes 49,13). Heilungen und Wunder geschehen zunächst im Nahbereich der unmittelbaren persönlichen Begegnung. Dass damit der Anbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ, wofür das Bergeversetzen ja steht, nicht einfach nur auf das persönliche Lebensschicksal eingeengt bleibt, sondern auch Auswirkungen auf die Strukturen und die Gestaltung von Politik und Gesellschaft hat, zeigt sich stärker in Jesu Gleichnissen858 und Sentenzen859 als in den Erzählungen über seine Heilungstätigkeit, jedoch scheint sie in der Heilungsgeschichte von Mk 5,1–20 ebenfalls durch: Der Name des Dämons ist λεγιών (Mk 5,9). Man liegt wohl nicht falsch, wenn man dabei an die römischen Legionen denkt. Die auf den Besessenen als Individuum bezogene Austreibung der Dämonen wird als einzelne Tat in kleinem Rahmen transparent für größere Veränderungen, die auch die politischen und gesellschaftlichen Strukturen im Imperium Romanum betreffen. Wie vom Dämon, so können die Menschen auch von der ausbeuterischen römischen Besatzung zermürbt werden. Auch diese lebensfeindlichen ›Regionen‹ sind im Blick der großen Vision von den versetzten Bergen. Dass diese politische Dimension in eine Dämonenaustreibung eingetragen ist, zeigt wohl an, dass auch die Versetzung dieses Berges in den kleinen konkreten Schritten der Eröffnung neuer Lebensperspektiven angegangen werden muss. 4.2.3 Eine neue Unmittelbarkeit als Provokation für Jerusalem und den Tempel In Jes 40 bildet Jerusalem das Ziel der Rückkehr der Exulanten. Führen die Wege der Befreiung auch bei Jesus nach Jerusalem? Falls Jesus tatsächlich auch auf dem Weg nach Jerusalem vom Berge versetzenden Glauben im Hinblick auf den Ölberg gesprochen hat (wie es Mk überliefert), dann wäre damit aufgrund von Sach 14 eine Aussage über Jerusalem verbunden. Etwas gewagt könnte folgende Korrespondenz formuliert werden: Wie der Ölberg (von Gott) gespaltet wird und nach Norden und Süden zurückweicht (Sach 14,4), so sollen die Jüngerinnen und Jünger Jesu den Berg ins Meer werfen, damit ein

857

HAHN geht daher davon aus, dass der ursprüngliche Ort des Logions in der »Aussendung der Jünger Jesu« zu suchen ist (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 167). Wir begnügen uns mit der allgemeineren Aussage, dass das Logion im Zusammenhang mit dem heilenden und wunderwirkenden Handeln Jesu und seiner Jüngerinnen und Jünger geäußert worden ist. 858 Vgl. oben zu Mt 20,1–16. 859 Siehe Kapitel I.

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

»großes Tal« (Sach 14,4) entsteht. In Sach bedeutet dieses Tal einen Fluchtweg für die Auserwählten aus der Stadt, die durch den endzeitlichen Völkersturm erobert und geplündert wird. Im Unterschied dazu stehen Jesus und seine JüngerInnen nicht einem zerstörten Jerusalem gegenüber, sondern einer blühenden Stadt mit der prächtigen herodianischen Tempelanlage. Dennoch wird (indirekt und bildhaft) dazu aufgefordert, den Fluchtweg aus Jerusalem zu eröffnen.860 Auch wenn Jerusalem in seiner Pracht vor Jesus und den JüngerInnen steht, kann darin trotzdem nicht die Königsherrschaft Gottes lokalisiert werden. Sie befindet sich nicht im zuvor kritisierten Tempel (Mk 11,15–19), sondern sie steht – wie in Sach – außerhalb der Stadt auf dem Ölberg, wo Gott steht und kämpft, bzw. wo Jesus die Vision vom Berge versetzenden Glauben verkündet. Mit dieser kritischen Spitze verweist Jesus auf sein Verständnis der βασιλεία τοῦ θεοῦ zurück, die sich in Heilungen und Wunder überall zu realisieren beginnt. Bei der Heilung des Gelähmten in Mk 2,1–12 wurde deutlich, dass angesichts der Verwirklichung der Gottesherrschaft auch Sündenvergebung möglich ist, was als »indirekter Angriff auf den Tempel«861 und seine Liturgie angesehen werden kann, der folgerichtig den Widerspruch der Schriftgelehrten und den Vorwurf der Gotteslästerung hervorrufen musste: Sie berufen sich dabei auf ein Dogma, das im Glauben des jüdischen Volkes fest verankert war. Die Sünde – richtig verstanden – berührt allzu sehr das Wesen der Schöpfung und die Substanz des Menschen, als dass sie ›einfach so‹ vergeben werden könnte. Sündenvergebung ist ein schöpferisches Geschehen, und schöpferisch im eigentlichen und letzten Sinn ist Gott allein.862

Die Unmittelbarkeit Gottes in der Dynamik der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ zeigt sich auch in der Heilung des Aussätzigen in Mk 1,40–45. Der Aussatz als primär theologisches, kultisches und politisches Problem bedurfte der Behandlung durch den Priester, der die Vollmacht hatte, den Ausschluss aus, bzw. die Integration des Aussätzigen in der Gesellschaft festzusetzen. Da diese Gesetzgebung aufs engste mit dem Tempel und seiner Definition der Kultfähigkeit eines Menschen verbunden war, ist die Befreiung des Aussätzigen durch Jesus als Infragestellung nicht nur des damaligen Priestertums, sondern auch der gesamten Tempelgesetzgebung zu verstehen: »Ohne zu übertreiben darf man sagen: Wo Gottesherrschaft im Sinne Jesu um sich greift, haben der Tempel und die mit ihm verbundene Priesterschaft und Gesetzgebung ihre beherrschende Bedeutung verloren.«863

860 861 862 863

Lk lässt Jesus in 19,41 über die Stadt weinen. VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft 81. VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft 81. VENETZ, Jesus von Nazareth: Prophet der angebrochenen Gottesherrschaft 81.

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Die jesuanische Vision und ihre christliche Deutung

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4.2.4 Gottes Kommen als Gericht und Zerstörung? – Eine Fehlanzeige Es scheint mir unsicher, ob Jesus selbst wirklich vom Ölberg gesprochen hat, oder ob diese Verbindung der mk Theologie zuzuschreiben ist. Falls Jesus seinen JüngerInnen zumutete, den Ölberg ins Meer zu werfen, müssen die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Gerichts- und Heilsbotschaft der jesuanischen βασιλεία τοῦ θεοῦ gestellt werden. Denn ist nicht in Sach 14 die Rettung der Auserwählten durch das »Tal von Gottes Bergen« (vgl. Sach 14,5) die Kehrseite der Vernichtung der Völker? Zerschlägt nicht der losgehauene Stein in Dan 2 zuerst alle Weltreiche, bevor er selbst zu einem großen Berg wird und die Erde als Königsherrschaft Gottes erfüllt? Sind die Erschütterung der Berge und die Einebnung der Hügel in Äth Hen 1,6 nicht ausdrücklich als Gericht gekennzeichnet? Bereits in den Aussprüchen der sozial- und kultkritischen Propheten des 8. Jh. v. Chr. (Jes 5,25; Mi 1,4; Hos 10,8) geht die Erschütterung der Berge einher mit Gottes Zorn gegen das eigene Volk. Finden sich nicht gerade in diesem Bereich kritische Aussagen auch bei Jesus? Gehört zur βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht auch, dass sich Gott ganz durchsetzt gegen das Böse? Werden nicht die Ersten zu Letzten? Erstaunlicherweise zeigt bei Jesus die Verwendung des Motivs vom bergeversetzenden Glauben keinerlei Gerichtsgedanken. Selbst wenn Jesus vom Versetzen des Ölbergs gesprochen haben sollte, bezeichnet er damit ein heilshaftes Geschehen (wie in Sach 14, wo das Spalten des Berges zwar im Rahmen des zerstörerischen Handelns Gottes geschieht, darin aber eine »Befreiungstat« darstellt), das seine kritische Spitze gegen Jerusalem erst durch die direkte Gegenüberstellung erhält und von daher als Alternative erscheint. Es geht auch hier um die heilbringende und befreiende Königsherrschaft, die sich nicht von außen gewaltsam durchsetzt, sondern dort geschieht, wo Menschen offen sind für das heilende Handeln anderer Menschen und sich darauf einlassen. Dass dieses Geschehen unterschiedliche Reaktionen auslöst, dass Menschen sich darauf einlassen können oder eben nicht, wurde auch deutlich, so bei der Heilung des Gelähmten in Mk 2,1–12, wo die Schriftgelehrten Jesus im Stillen Gotteslästerung vorwerfen und es zu einer ersten Auseinandersetzung kommt. Vom Bergeversetzen als beginnender Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ her kann daher die Aussage unterschrieben werden, »dass Jesus das Gericht als selbstgewählten oder verschuldeten Ausschluss aus dem von ihm in Wort und Tat nahegebrachten Heil verstanden hat.«864 Eine apokalyptische Gerichtsszenerie scheint für ihn hingegen nicht bestimmend gewesen zu sein, was auch MERKLEIN richtig herausstellt, indem er innerhalb seiner apokalyptischen Deutung die »theo-logische Neuqualifizierung Israels

864

THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus 242.

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und damit die von Gott gewährte sachliche Nähe von Israel und Heil«865 festhält. 4.2.5 Auf Menschen übertragene göttliche Hoheitsattribute Wenn die Schriftgelehrten Jesus Gotteslästerung vorwerfen, wenn er dem Gelähmten die Sünden vergibt, müsste man dann nicht denselben Vorwurf wiederholen, wenn Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern die Macht zuspricht, Berge zu versetzen? Ist dies nicht ein Erhabenheitszeichen, das nur Gott allein zusteht? Es wurde aufgezeigt, dass in 2Makk 9,8 Antiochus IV. Epiphanes für seine göttliche Anmaßung bestraft wird, dass er glaubte, Berge wiegen zu können. Andererseits wird in Jes 41,15 den Menschen in hoffnungsloser Lage in Aussicht gestellt, dass sie Berge dreschen und zermalmen werden. Jesus steht in der Tradition der prophetischen Hoffnungsvision, die den Menschen – wenn es ihm gut geht – zu seiner Verantwortung ruft und ihn – wenn es ihm schlecht geht – mit unbegrenzter Zuversicht tröstet. Da Jesus die βασιλεία nicht erst am Ende der Zeit erwartet, sondern sie in seinem Handeln und im Handeln der JüngerInnen bereits aufscheinen sieht, ist es nur konsequent, dass er dieses Handeln auch mit der entsprechenden βασιλεία-Terminologie umschreibt. Es wurde bisher immer von Jesus und seinen Jüngerinnen und Jünger gesprochen, die Wunder und Heilungen bewirken. Inzwischen sollte deutlich geworden sein, wie sehr diese Gleichstellung Jesu mit seinen Schülerinnen und Schülern von der Sache her berechtigt ist, ja geradezu gefordert wird. Denn Jesus sagt nicht von sich, dass er Berge versetze (obwohl er das ja auch tut), sondern er möchte, dass die Jüngerinnen und Jünger Berge versetzen. Sie sollen mit ihm wunderwirkend und heilend handeln (und predigen), er sendet sie aus, damit sie selbst die βασιλεία verkünden und aufscheinen lassen.866 Jesus bindet die Königsherrschaft Gottes nicht an seine eigene Person.867 Dabei wird seine Bedeutung keineswegs geringgeschätzt:

865

MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft 53. Dass die Jünger selbständig als Boten der βασιλεία τοῦ θεοῦ ausgesandt wurden und unterwegs waren, hat schon Mk 9,14–29 gezeigt, auch wenn sie in diesem Fall nach der mk Darstellung nicht erfolgreich gewesen sind. 867 Es ist daher falsch, das Jesuswort so zu verstehen, dass mit πίστις »der Glaube an Jesus selbst als den Bringer der Gottesherrschaft gemeint sein« könnte (ZMIJEWSKI, Der Glaube und seine Macht 283). Es geht »nicht um einen Glauben an Jesu Person, sondern, wie im Markustext ausdrücklich hinzugefügt ist, um Glauben an Gott. Die urchristliche Auffassung, dass im Glauben an Jesus sich der Glaube an Gott und Gottes Heilshandeln konkretisiert, darf hier noch nicht vorausgesetzt oder eingetragen werden.« (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 167). 866

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Wer die ›Herrschaft Gottes‹ den im Volk benachteiligten Gruppen zuspricht, handelt radikaltheokratisch an Gottes Stelle. Wer anderen ›Königswürde‹ in der Königsherrschaft Gottes zuspricht, hat eine Vollmacht, die mehr ist als die eines ›Königs‹, auch wenn sich dieses ›Mehr‹ sowohl den damaligen Kategorien wie unseren Verstehensbemühungen entzieht.868

4.3 Die theologische Verarbeitung der jesuanischen Vision in den synoptischen Evangelien 4.3.1 Die Deutung von Blindenheilung, Tempel und messianischem Einzug (Mk 11,22–25) Mk schließt den zweiten großen Teil seines Evangeliums, der den Weg zur Passion und die Tätigkeit in Judäa beinhaltete (Mk 8,27–10,52), mit der Blindenheilung in Jericho ab. Unmittelbar vor dem Beginn von Jesu Aufenthalt und Tätigkeit in Jerusalem wird darin nochmals auf das jesuanische Verständnis des Glaubens als Voraussetzung und Vollzug seines heilenden und wunderwirkenden Handelns hingewiesen. Jesus sagt zum Blinden: »Geh fort! Dein Glaube hat dich gerettet.« (Mk 10,52)869 Wenn Jesus zweiundzwanzig Verse weiter unten spricht: »Habt Glauben an Gott!« (Mk 11,22), dann ist klar, dass hier der »Glauben« von 10,52 her zu lesen und zu verstehen ist. Durch diese Stichwortverbindung macht Mk deutlich, dass er den Berge versetzenden Glauben in V. 23 als jesuanische Vision der anfanghaften Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ verstanden haben will.870 In 11,24–25 fährt Mk damit fort, die Vision vom Berge versetzenden Glauben weiter zu entfalten. Der nicht ganz einfache V. 24 ist wahrscheinlich auch von der Blindenheilung her zu verstehen: Die Jünger werden aufgefordert zu glauben, dass sie das, worum sie bitten, schon erhalten haben. In Mk 10,51 fragt Jesus den Blinden, was er ihm tun soll, worauf dieser seine Bitte äußert. Die Erfüllung dieser Bitte schreibt Jesus dem Glauben des Blinden zu. Wenn Jesus in 11,24 vom Glauben, dass man das Erbetene schon erhalten habe,

868 THEISSEN, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu 123. 869 Außerhalb des Jesajabuches finden sich wenige Anspielungen auf die Blindenheilung im Alten Testament. Nur Ps 146 erwähnt eine solche Heilung. Der masoretische Text lautet: »Der Herr öffnet die Blinden [d. h. den Blinden die Augen].« (Ps 146,8 MT). Interessanterweise übersetzt die Septuaginta anders: »Der Herr macht die Blinden weise« (Ps 145,8 LXX: κύριος σοφοῖ τυφλούς). 870 Falls die exakte Formulierung von V. 23 auf Mk selbst zurückgeht (Ἄρθητι καὶ βλήθητι εἰς τὴν θάλασσαν), könnte die Ähnlichkeit mit dem Motiv bei HORAZ »in mare seu celsus procurrerit Appeninus« (Epod 16,29), worin ebenfalls das Meer als Versetzungsziel angegeben wird, vielleicht als kleines Mosaiksteinchen einen Beitrag zur Debatte um den Entstehungsort des Evangeliums leisten (vgl. zur Orientierung: SCHNELLE, Einleitung 217–219).

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spricht, kann damit das in 10,51–52 illustrierte Sich Einlassen auf das heilende Geschehen gemeint sein. Mit der Vergebung in V. 25 (ἀφίετε) greift Mk ein Stichwort auf, das er auch in Zusammenhang mit einer Heilung (nämlich der des Gelähmten) in Mk 2,5 (ἀφίενται) verwendet hat. Auch die Vergebung gehört in den Zusammenhang von Jesu heilendem Wirken; Mk akzentuiert den Kontrast zwischen diesem neuen Topos der Königsherrschaft Gottes und dem alten Topos des Tempels in Jerusalem ganz bewusst. Bereits bei Jesu messianischem Einzug wurde darauf hingewiesen, dass Mk den Text dem 9. Kapitel des Sacharjabuches nachgebildet hat (Sach 9,9: Ritt auf einem jungen Esel). Wie schon das Motiv des Versetzens des Ölbergs in Sach 14,4, so findet sich auch der Bezug zum Tempel in Sach 14: An jenem Tag wird auf den Pferdeschellen stehen: Dem Herrn heilig. Die Kochtöpfe im Haus des Herrn werden gebraucht wie die Opferschalen vor dem Altar. Jeder Kochtopf in Jerusalem und Juda wird dem Herrn der Heere geweiht sein. Alle, die zum Opfer kommen, nehmen die Töpfe und kochen in ihnen. Und kein Händler wird an jenem Tag mehr im Haus des Herrn der Heere sein. (Sach 14,20–21)

Wenn Gott seine Königsherrschaft realisiert hat, dann ist nicht mehr nur der Tempel heilig, sondern alle Kochtöpfe in Juda. Mk war sich dieser Kritik (vgl. die Händler) am Ende vom Sach sicher auch bewusst. Er hat sie eben dadurch aufgenommen, dass er die Versetzung des Ölbergs an das Verdorren des Feigenbaums angeschlossen hat. Es ist ferner erstaunlich, wieso Mk die Kontrastierung von Tempel und jesuanischer βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht auf dem Rückweg von der Stadt hinaus nach Betanien eingeordnet hat. Es wäre vom narrativen Verlauf her naheliegender, alles an einem Tag geschehen zu lassen. Wieso kommen Jesus und seine Jünger erst am nächsten Morgen wieder beim verdorrten Feigenbaum vorbei? Der Grund dafür liegt m.E. in einer zweiten Kontrastierung, die Mk hier vornimmt. Das Geschehen spielt am dritten Tag in der »Frühe«, nachdem Jesus »messianisch« in Jerusalem eingezogen ist. In Mk 11,23 bringt Mk das Proprium der jesuanischen Tätigkeit zur Sprache, die nicht messianisch, sondern radikal »theokratisch«871 ausgerichtet war: Es ging Jesus nicht um seine Person (die beim messianischen Einzug im Mittelpunkt steht), sondern um die Unmittelbarkeit Gottes, die er durch sein heilendes Wirken aufscheinen lassen wollte. Dadurch wird der messianische Einzug in die Stadt, der in Mk 11,11 ein völlig unpassendes Ende findet, korrigiert, oder besser gesagt: Er kommt erst in Mk 11,23 zu seinem (ebenso unerwarteten) Abschluss. Der »Messias« Jesus ist als Messias nur dann richtig verstanden, wenn die radikal

871 Ich verwende den Begriff hier offen als Abgrenzung gegen messianische Konzeptionen, ohne ihn auf eine rein und vollständig präsentische Realisierung der Königsherrschaft Gottes einzugrenzen (anders als im Zitat von THEISSEN oben).

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theokratische Orientierung seines Handelns deutlich bleibt (dadurch sprengt er gerade die gängigen Messias-Kategorien). Diese radikal theokratische Orientierung lässt sich durch zwei Indizien in Mk 11,22 ff belegen: (1) Mk lässt Jesus zum Glauben an Gott (!) auffordern.872 (2) In Sach 14, worauf sich Mk m.E. stützt, ist das Bergeversetzen (wie in allen anderen Texten, in denen das Bergeversetzen in Zusammenhang mit der Königsherrschaft Gottes anzutreffen ist873) eine Tat Gottes. Am einem dritten Tag, an dem die Sättigung der Volksmenge geschieht (Mk 8,2)874 und an dem die beiden Maria und Salome das leere Grab vorfinden (Mk 16,2) und nach Galiläa zurückverwiesen werden (Mk 16,7), weist Mk entschieden auf die jesuanische βασιλεία τοῦ θεοῦ als dem Aufscheinen der Unmittelbarkeit Gottes selbst hin. Die Korrektur an messianischen Erwartungen und messianischen Zuschreibungen an Jesus geht aber noch weiter. Denn Jesus spricht das Versetzen von Bergen seinen Jüngerinnen und Jüngern zu. Es steht in Mk 11,23 somit nicht das Handeln Jesu, sondern die Tätigkeit seiner Jüngerinnen und Jünger im Vordergrund, die mit ihm zusammen im heilenden und wunderwirkenden Handeln anfanghaft die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu realisieren versuchen:875

872 »Nach Michael HAUSER vertritt zwar das Markusevangelium eine klare und konsequente Vorstellung des Christentums. Im Zentrum ist aber nicht die Christologie […], sondern die Theologie im strengen Sinne. Jesus ist der Verkünder des Gottesevangeliums, das heißt, der Gegenwart eines Machtbereiches Gottes, der weder mit der Person noch mit der Parusie des Menschensohnes verbunden ist. Entsprechend fordert das Markusevangelium nicht zum Christus-, sondern zum Gottesglauben auf« (Nachwort von VOUGA in: HAUSER, Herrschaft Gottes im Markusevangelium 159). 873 Ausnahme: 4 Esra XIII, wo der »Mensch« einen Berg losschlägt. 874 Die Sättigung der Volksmenge gehört auch zu den »Wundern« Jesu, so dass das Vorgehen gegen Hunger auch als Dimension des Bergeversetzens angesehen werden kann (obwohl in Mk 8,1–9 nicht ausdrücklich vom Glauben die Rede ist). Dies würde gut zum hungrigen Jesus in Mk 11,12 passen: Die wirtschaftliche und soziale Not bringt auch Jesus dazu, das Wirtschaftszentrum »Tempel« zu verfluchen (Not lehrt ja bekanntlich nicht nur beten, sondern auch fluchen!). Auch hier eröffnet sich in seinem eigenen Handeln eine Alternative, die auch die Jünger fortführen sollen. 875 THEISSEN hat dieses Phänomen »Gruppenmessianismus« genannt. Vgl. dazu seinen Artikel: THEISSEN, Gruppenmessianismus 101–123. SÖDING sieht ebenfalls richtig, dass durch die Jünger »in dem Masse, wie sie sich vom Vertrauen auf Gott leiten lassen, in ihrem Wirken die heilshafte Nähe der Gottesherrschaft erfahrbar werden kann.« (SÖDING, Glaube bei Markus 335). Er hat dabei aber immer noch Angst vor dem Verlust der Souveränität Gottes: »Mk 11,24 macht damit keineswegs Gottes Handeln von menschlichem Handeln abhängig (und sei es in der Form eines besonders starken Glaubens)« (SÖDING, Glaube bei Markus 335). HAHN formuliert es klarer: »Aber dem wahrhaft Glaubenden ist verheißen, dass er vollmächtig reden und handeln darf. Ja, nach dem Wort vom bergeversetzenden Glauben darf der rückhaltlos auf Gott Vertrauende geradezu an Gottes Stelle reden und handeln.« (HAHN, Verständnis des Glaubens 52).

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Der Verfasser des Markusevangeliums hat die βασιλεία-Verkündigung Jesu und die Christologie in eine Verbindung gebracht, die es ihm ermöglichte, eine christologische Konzeption durchzuführen, ohne die eigene Verkündigung Jesu damit zu verdrängen oder zu überlagern. […] Das bedeutet, dass die Gottesherrschaft das übergeordnete Thema bleibt, so stark die Christologie ausgebaut und in die Aussagen über die Gottesherrschaft mit einbezogen worden ist.876

Aufgrund dieser Hinweise wird offensichtlich, dass Mk in 11,22–25 ein Résumé und eine abgrenzende Charakterisierung der jesuanischen Tätigkeit unter dem Stichwort der sich verwirklichenden βασιλεία τοῦ θεοῦ vorlegt, und zwar in der Form einer Zuschreibung dieser Tätigkeit an Jesu Jüngerinnen und Jünger. 4.3.2 Berge versetzender Glaube im Kontext des heilenden Wirkens Jesu (Mt 17,20) Mt hat die Verbindung des Wortes vom Berge versetzenden Glauben mit den Heilungs- und Wundergeschichten verstärkt. Wenn er es bereits in Mt 17,20 im Anschluss an die Heilung des epileptischen Knaben bringt, führt er das Wort in den ursprünglichen Kontext zurück, in dem es Jesus wahrscheinlich ausgesprochen hat. Es geht ihm in 17,14–20 nicht um den Glauben auf Seiten derer, die geheilt werden (wie bei Mk). Dies thematisiert er in anderen Wundergeschichten. Vielmehr ist auch bei den Jüngern Glaube gefordert, damit Heilung geschieht. Mt macht es also explizit: die πίστις ist die Voraussetzung und der Ausdruck des Vollzugs des heilenden und wunderwirkenden Geschehens, bei dem sich HeilerInnen und zu Heilende gegenseitig aufeinander einlassen (eben beide gläubig sind).877 Darin geschieht der Anfang der βασιλεία τῶν οὐρανῶν, bei dem die Berge versetzt werden.878

876

HAHN, Verständnis des Glaubens 66. Was ist also Sache des Glaubens? »Nach Matthäus ist es offenbar gerade das Heilen von Kranken bzw. andere außergewöhnliche Beanspruchungen der Macht Gottes. Gerade dadurch unterscheidet sich nach ihm Glaube von Kleinglaube« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 525). 878 LUZ übersieht diese Verbindung zwischen der Wundertätigkeit und der βασιλεία τῶν οὐρανῶν, wenn er sagt: »Entgegen einer beliebten Interpretation geht es also m.E. in dem Logion nicht darum, dass der Glaube ›an Gottes schöpferischem Wirken‹ oder am ›Wunder der endzeitlichen Erneuerung‹ teilhaben wird, sondern viel einfacher darum, dass ihm scheinbar Unmögliches verheißen wird. Was? Es spricht nichts dagegen, dass es in diesem Wort schon bei Jesus mindestens auch um Wunder ging.« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 524) Weil LUZ den Berge versetzenden Glauben von der βασιλεία τῶν οὐρανῶν löst, muss er folgende Kritik üben: »Nun wird man hier gewiss ein Fragezeichen machen dürfen. […] Hier rückt das, was dem Glauben verheißen ist, gefährlich in die Nähe einer eigenen Potenz. […] Matthäus denkt vielleicht zu enthusiastisch«! (LUZ, Matthäusevangelium (EKK 877

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Mt bringt das Logion aber nicht nur an seinen ursprünglichen Ort zurück, sondern versieht es bereits in 17,20 mit eigenen theologischen Akzentsetzungen, und zwar in zweifacher Hinsicht: (1) Bei der Untersuchung des Glaubensverständnisses des Mt-Evangeliums wurde deutlich, dass Mt πίστις stärker auf die Person Jesu fokussiert. Glaube bedeutet für ihn nicht mehr einfach nur »Glaube an Gott« (Mk 11,22), sondern »Glaube an Jesus«. Mt hebt dadurch die ursprüngliche jesuanische Bedeutung dieses Wortes nicht auf: Wie Mt 17,20 belegt, bleibt es weiterhin Voraussetzung und Vollzug des heilenden und wunderbaren Geschehens. Mt bringt dieses ganze Geschehen aber noch stärker mit der Person Jesu in Verbindung879 und nimmt dadurch eine gewisse Einschränkung des Berge versetzenden Glaubens vor. (2) Wenn Mt den Berge versetzenden Glauben als das Erfahren oder Aufscheinen Lassen der Herrschaft der Himmel formal an die Person Jesu zurückbindet, kann er im Anschluss an den Ausspruch vom Berge versetzenden Glauben inhaltlich offener formulieren: οὐδὲν ἀδυνατήσει ὑμῖν (Mt 17,20). Die Kraft (δύναμις), alles zu tun, erinnert an Simson, der in den rabbinischen Texten Bergentwurzeler genannt wird. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die Jünger etwa zu Kriegshelden mit übermenschlichen Kräften werden sollen (wie Simson). Den Zuspruch, dass den JüngerInnen nichts unmöglich sein wird, formuliert Mt eindeutig im Hinblick auf das heilende Handeln: Es bedeutet eine Ermutigung, trotz Misserfolg (die Jünger konnten den Knaben ja nicht heilen) weiterhin zu versuchen, Dämonen auszutreiben und Kranke zu heilen und darin die βασιλεία τῶν οὐρανῶν anfanghaft aufscheinen zu lassen. 4.3.3 Jesu heilendes Handeln auch noch im Tempel (Mt 21,21) Vor diesem Hintergrund ist auch das Logion in Mt 21,21 zu lesen. Doch kommt einem hier nicht eine andere Stimmung entgegen, weil das Bergeversetzen unmittelbar im Anschluss an die Verfluchung des Feigenbaums genannt und als dessen Überbietung bezeichnet wird? Ist das Bergeversetzen nicht zu einem zerstörerischen Handeln gegen den Tempel, Jerusalem oder die Führer Israels geworden? Steht es so nicht gerade im Kontext der bei Mt

I,2) 525). Im Unterschied dazu pflichtet uns GNILKA bei: »Schon in der Aussendungsrede hatte Mt die unlösliche Verbindung der Wunder mit der Proklamation der Himmelsherrschaft hergestellt (10,7 f), wie er in der Zusammenfassung des Wirkens Jesu 11,4 f dessen Wunderwirken mit dem an die Armen gerichteten Evangelium verknüpft. In der durch den Glauben gewährleisteten völligen Bindung des Jüngers an Gott erfährt dessen Wirken seine Größe und auch seine Grenze.« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 109). 879 GNILKA drückt es so aus: »Glaube versteht sich auch hier als Vertrauen auf die Wirkmacht Gottes, die in Jesus erschienen ist« (GNILKA, Matthäusevangelium (HThK I,2) 109).

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akzentuierten Auseinandersetzung mit den jüdischen Schwestern und Brüdern? M. E. geht es Mt beim Berge versetzenden Glauben in Mt 21,21 um genau das gleiche wie in Mt 17,20. Ich halte die These von LUZ für falsch, dass der Wunsch, der Glaube möge nur dann allmächtig sein, wenn er heilende und befreiende Taten vollbringe, der Absicht unseres Textes zuwider läuft. Sein Wunsch deckt sich sehr wohl mit der Aussage von Mt 21,21: Am matthäischen zweiten Tag des Jerusalem-Aufenthaltes erfolgt die theologisch-bildhafte Deutung der Geschehnisse des ersten Tages, bei der sich das Bergeversetzen auf die Heilungen Jesu im Tempel bezieht. Mt hat die Zusammenhänge in Mk 11 sehr genau durchschaut. Er sieht, dass Mk ein Résumé der jesuanischen Tätigkeit als (schon rein topographisches) »Gegenüber« zum Tempel und den dahinter stehenden Autoritäten formuliert hat. Daran bleibt auch er interessiert. Die bei Mk durch die Zäsur des dritten Tages betonte theokratische Korrektur am messianischen Einzug ist ihm hingegen weniger wichtig. Er bleibt dabei, dass er das Versetzen der Berge den Jüngern zuspricht (wie schon in 17,20), jedoch hat dies keine so starke korrigierende Funktion wie bei Mk. Jesu Messianität hat er ja bewusst in starken Farben gezeichnet, was beim Einzug in die Stadt und dem Lobpreis der Kinder im Tempel deutlich wird. Im Tempel besteht Jesu Tätigkeit aus zwei Teilen: Zuerst geht er gegen das wirtschaftliche Treiben darin vor (eigentliche Tempelreinigung); danach heilt er Lahme und Blinde, was die Kinder mit der messianischen Proklamation und die Hohepriester und Schriftgelehrten mit ihrem Argwohn begleiten. Im Tempel Mt 21,12–13: Tempelreinigung Mt 21,14: Heilung von Blinden und Lahmen

[Am Ölberg] Mt 21,18–10: Verfluchung des Feigenbaums Mt 21,20–22: Vision des Berge versetzenden Glaubens

In der Frühe des zweiten Morgens kommt es auf dem Weg zurück in die Stadt zur bildhaften Deutung beider Ereignisse: Die Verfluchung und das Verdorren des Feigenbaumes stehen für das Ende des Tempels (auch als Zentrum einer unterdrückerischen wirtschaftlichen Struktur)880 und die Kritik an den jüdischen Autoritäten. Der Berge versetzende Glaube hingegen nimmt die (messianische) heilende Tätigkeit Jesu im Tempel auf: Wie beim epileptischen Knaben, so ist auch hier das Bergeversetzen Ausdruck und Deutung der Heilung der Lahmen und Blinden. Es ist beachtenswert, dass Mt beide Aspekte auf die Jüngerinnen und Jünger überträgt. Nicht nur bei Jesus, sondern vor allem auch in seiner eigenen Gemeinde geht es auch um die intensive Auseinandersetzung mit den jüdi880

Vgl. auch der Hunger Jesu in Mt 21,18.

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schen Schwestern und Brüdern. Sowohl die kritische Auseinandersetzung, die bis zur Verfluchung und zum völligen Bruch gehen kann, als auch die anfanghafte Realisierung der βασιλεία τῶν οὐρανῶν im heilenden Geschehen werden hier aus dem Munde Jesu angesprochen.881 4.4 Die Rezeption der jesuanischen Vision in weiteren neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften Die geniale Verbindung von traditioneller und apokalyptischer Weisheit in der Vision vom Berge versetzenden Glauben ist schon sehr bald in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung missverstanden worden. So muss bereits Paulus in Erinnerung rufen, dass das solidarische, uneigennützige, heilende und befreiende Handeln in der Gegenwart über allen Charismen, auch dem des sich durch Krafterweise auszeichnenden Glaubens, steht. Völlig losgelöst vom Ausspruch und der Vision Jesu ist das Motiv der versetzten Berge sowohl in der Johannesapokalypse als auch im Hirten des Hermas Teil des eschatologischen Geschehens. In Offb 6,14; 8,8; 16,20 ist es Ausdruck des Gerichts und des zerstörerischen Handelns, in Herm vis I 3,4 gehört es zum (dem Gericht folgenden) erlösenden Heilsgeschehen. Zwei »Jesuslogien« im Thomasevangelium greifen das Motiv des Umfallens von Bergen auf (Logion 48 und 106). Meines Erachtens geht es beide Male um die Realisierung des »Königreichs (der Himmel)«, womit man sich formal auf der jesuanischen Linie bewegt. Während das Friedenschliessen (Logion 48) auch inhaltlich der Vision Jesu nahe steht, zeigt sich in Logion 106 die gnostische Tendenz des Evangeliums – mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Konzeption des »Königreichs«. 4.4.1 Lk 3,4–6 – Für Jesus eingeebnete Berge Lk ist der einzige der Synoptiker, der das Motiv des Bergeversetzens aus dem unmittelbaren Kontext des Wirkens und der Tätigkeit Jesu löst und es nur noch auf seine Person bezieht, wobei Jesus nicht derjenige ist, der selbst Berge versetzt, sondern derjenige, für den die Berge eingeebnet werden sollen. In Lk 3,4–6882 wird die vorbereitende Tätigkeit Johannes’ des Täufers, der eine Taufe der Umkehr zum Erlass von Sünden verkündete (Lk 3,3), mit dem Zitat aus LXX Jes 40,3–5 gedeutet. »Johannes ist mit der Tradition als ›Stimme des Rufenden in der Wüste‹ (Jes 40,3–5) verstanden, die dem kommenden König – hier christologisch verstanden – voraneilt, zur Wegbereitung aufruft und Heil

881

»Dass in der Gemeinde wunderbare Heilungen wirklich geschehen, ist für den Evangelisten eine Zentralfrage für den Glauben« (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I,2) 525). 882 Die Parallelstellen Mk 1,3 und Mt 3,3 zitieren nur Jes 40,3 (Bahnen des Weges, Einebnung der Straßen), ohne die Einebnung der Berge.

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ankündigt.«883 Worin diese Wegbereitung (d. h. das Einebnen der Berge) besteht, verkündet Johannes in den folgenden Versen: Und es befragten ihn die Volksmengen und sagten: Was nun sollen wir tun? Er gab eine Antwort und sagte ihnen: Derjenige, der zwei Gewänder hat, soll Anteil geben dem, der keines hat, und derjenige, der Essen hat, soll gleicherweise tun. Es kamen aber auch Zöllner, um getauft zu werden, und sprachen zu ihm: Lehrer, was sollen wir tun? Er aber sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr als das, was euch zusteht! Es befragten ihn aber auch Soldaten und sagten: Und was sollen wir tun? Und er sprach zu ihnen: Misshandelt und erpresst keinen und begnügt euch mit eurem Sold! (Lk 3,11–14)

Die Einebnung von Bergen meint also auch hier ein bestimmtes Verhalten, das sich aus der Lehre Jesu ergibt. Dadurch gibt Lk indirekt einen Ausblick auf die befreiende Tätigkeit Jesu selber. 4.4.2 1Kor 13,2 – Die einseitige Rezeption des jesuanischen Logions in der korinthischen Gemeinde Es scheint, dass einige korinthische Christinnen und Christen den großen Zusammenhang des jesuanischen Wunderwirkens mit der βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht mehr richtig verstanden haben, denn Paulus muss in 1Kor 13 den Berge versetzenden Glauben als eines der Charismen, die in der Gemeinde teilweise zu Problemen geführt haben, in das rechte Licht rücken: Und wenn ich eine Prophetengabe (προφητεία) habe und alle Geheimnisse (τὰ μυστήρια πάντα) und alle Erkenntnis (γνῶσις) besitze und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze (πᾶσα ἡ πίστις ὥστε ὄρη μεθιστάναι), Liebe (ἀγάπη) aber nicht habe, so bin ich nichts. (1Kor 13,2)

Der Glaube, der Wunder als Krafterweise (δύναμις) wirkt, steht hier im Vordergrund: »Mit πίστις ist dabei wie in 12,9 weniger der Heilsglaube als der wunderwirksame Glaube gemeint, wie der Konsekutivsatz ὥστε ὄρη μεθιστάναι sicherstellt.«884 Dabei wird πίστις nicht mehr im Sinn des Sich Einlassens und Offen Seins auf das wunderwirkende Handeln verstanden, sondern isoliert demjenigen zugesprochen, der die großartigen Wunder wirkt. Der Glaube ist bereits in Gefahr, als bloß theoretischer Begriff missverstanden zu werden, der inhaltlich an die Kreuzestheologie (1Kor 1,21) und die Auferstehung Jesu von den Toten (1Kor 15) gekoppelt wird: »Wenn wir glauben, dass Jesus starb und aufstand.« (1Thess 4,14). Dass von der Option Jesu her das befreiende, heilende und solidarische Handeln konstitutiv zum Wesen des Glaubens gehört, kann von daher – auch wenn Paulus es so nicht beabsichtigt haben mag – leicht in Vergessenheit geraten. 883

SCHÜRMANN, Lukasevangelium (HThK III,1) 160. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII,3) 288. Zugleich betont SCHRAGE aber auch, zu Recht: »Das notwendige Dabeisein der Liebe beim Glauben gilt zweifellos über den Wunderglauben hinaus.« (SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII,3) 288) 884

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Die jesuanische Vision und ihre christliche Deutung

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Entsprechend diesem Glaubensbegriff ist auch die daraus folgende Handlung des Bergeversetzens in Gefahr, die solidarische Dimension zu verlieren. Vor dem jüdisch-rabbinischen Hintergrund sind die Wunder dann physische Krafterweise von Menschen, über die der Geist des Herrn gekommen ist,885 wobei sie vor dem griechisch-römischen Hintergrund – der in Korinth vorausgesetzt werden kann – sehr schnell zum Ausdruck persönlicher Allmacht werden können. Wahrscheinlich rührt auch von daher das problematische Vollendungsbewusstsein der Korinther, das den Blick für die (noch nicht auferstandene) Realität mit den geforderten Schritten konkreter Solidarität verdunkelt.886 Dagegen ruft Paulus mit dem Bild des Leibes die Einheit der Gemeinde in Erinnerung und korrigiert alle eigenmächtigen Tendenzen durch das Stichwort der ἀγάπη. Gegen einen wunderwirkenden Glauben, der zur reinen Machtdemonstration verkommt, hebt er die solidarische Dimension hervor, der im Hier und Jetzt der Gegenwart besondere Beachtung geschenkt werden soll. Er kommt dadurch wieder voll auf die jesuanische Linie des Glaubens als heilendem und befreiendem Geschehen, wenn er von der ἀγάπη sagt, dass sie es ist, die alles glaubt (1Kor 13,7). 4.4.3 Versetzte Berge in den siebenfachen Plagen der Apokalypse des Johannes Im apokalyptischen Teil der Offenbarung des Johannes, in dem die Gemeinde vor dem Hintergrund der Thronsaalvision (Offb 4,1–5,14) als »Heilsindikativ«, worin »die Wirklichkeit der bereits angebrochenen Herrschaft Christi thematisiert wird«887, getrost die Enthüllung des Kommenden schauen kann, 885 Dass das Motiv in 1Kor 13,2 hauptsächlich scharfsinnige Gesetzesgelehrsamkeit und Disputierfreudigkeit ausdrücken will, ist unwahrscheinlich. Denn diese Fähigkeit ist eher im Charisma der Erkenntnis (εἰδέναι τὰ μυστήρια πάντα καὶ πᾶσαν τὴν γνῶσιν) enthalten. Es geht wohl eher um die physischen Kräfte, die außerordentliche Wunder zustande bringen. Vielleicht hat man sich auch korinthische Simsons vorzustellen, über die der Geist des Herrn gekommen ist (Ri 14,6). Auch Beglaubigungswunder sind möglich, um die Richtigkeit seiner Meinung und seines eigenen Glaubens zu beweisen. Wahrscheinlich hätte Paulus gegen all diese Phänomen gar nichts einzuwenden, wenn sie nicht als eigene Leistung, als eigener Machterweis missverstanden worden wären. Wahrscheinlich hätte er sie nicht unter die korrigierende ἀγάπη unterordnen müssen, wenn sie nicht zu egoistischen Entartungen und Aufkündigung von Solidarität geführt hätten. 886 Wenn der Glaube einem schon alle Macht gibt, Berge zu versetzen, dann lassen sich alle alltäglichen Probleme wie durch einen Zauber lösen, dann steht man schon halb im Himmel. Damit verschließt sich dem Mitglied der Gemeinde aber auch der Blick für die konkrete, mühevolle Realität, die statt großartiger Wunder der Schritte konkreter Solidarität bedarf. Damit dieser Blick nicht verloren geht, vergleicht Paulus die Gemeinde auch mit einem Leib (1Kor 12). Wie dieses Bild, so kommt auch das Verrücken von Bergen im Werk »ab urbe condita« des LIVIUS vor. Was dort den Soldaten in aussichtsloser Lage nicht möglich war, schien manchen Korinthern unter dem Vorzeichen des Glaubens möglich! 887 SCHNELLE, Einleitung 533.

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

löst jeweils eine Handlung des Lammes oder eines Engels siebenfache Plagen aus. Es findet sich darunter dreimal das Motiv der versetzten Berge: (1) in der Vision der sieben Siegel (Offb 6,1–8,1), (2) in der Vision der sieben Posaunen (Offb 8,2–11,19) und (3) in der Vision der sieben Schalen (Offb 15,1–16,21). (1) Nachdem das Lamm bereits die ersten fünf Siegel geöffnet hatte, in denen hauptsächlich Plagen freigelassen wurden, »die im Rahmen irdischgeschichtlicher Erfahrungen bleiben«888 (Krieg, Tod), weitet sich beim sechsten Siegel (Offb 6,12) das Geschehen »zur kosmischen Katastrophe«889: Erdbeben, Verdunkelung der Sonne, blutroter Mond, Herunterfallen der Sterne vom Himmel, Zusammenrollen des Himmels und: »Jeder Berg und (jede) Insel wurden von ihren Plätzen bewegt.« (καὶ πᾶν ὄρος καὶ νῆσος ἐκ τῶν τόπων αὐτῶν ἐκινήθησαν) (Offb 6,14) Aus Angst verbergen sich alle Menschen in Höhlen und Felsen und sagen zu den Bergen und Felsen: Fallt auf uns (πέσετε ἐφ’ ἡμᾶς) und verbergt uns (κρύψατε ἡμᾶς)890 »vor (dem) Angesicht des Sitzenden auf dem Thron und vor dem Zorn des Lammes.« (Offb 6,16) Es geht hier also um den »großen Tag ihres Zorns« (6,17), d. h. des Zorns Gottes und des Lammes. (2) Die ersten vier Plagen der Posaunenvision891 (Offb 8,2–13) betreffen die vier Lebensbereiche von Erde, Meer, Flüssen/Quellen und Gestirnen. Der zweite Engel bewirkt folgendes: »Und etwas wie ein großer Berg, von Feuer brennend, wurde ins Meer geworfen« (καὶ ὡς ὄρος μέγα πυρὶ καιόμενον ἐβλήθη εἰς τὴν θάλασσαν) (Offb 8,8) Ein Drittel des Meeres wird zu Blut, ein Drittel der Meerlebewesen stirbt und ein Drittel der Schiffe wird vernichtet. Der Engel mit der siebten und letzten Posaune wird dann »das Königtum (βασιλεία) der Welt unseres Herrn und seines Gesalbten« (Offb 11,15) proklamieren, als dessen Vorbereitung die vorhergehenden Posaunen verstanden werden können. (3) In der Vision der Sieben Schalen gießen sieben Engel »Schalen voll der Wut Gottes« (15,7; 16,1) über die Welt aus. Der letzte Engel, bei dem das ganze Geschehen seinen Höhepunkt und Abschluss findet, gießt die seinige über die Luft aus. Die Stadt (Rom)892 wird zerstört (16,19). Begleiterscheinungen als »Ausdruck dieses Gerichts selbst«893 sind Blitze, Donner, Erdbeben und Hagelbrocken. Inseln fliehen; die Berge werden nicht mehr bloß bewegt, sie sind nun überhaupt nicht mehr zu finden (die Welt ist völlig zerstört): καὶ 888

MÜLLER, Offenbarung des Johannes (ÖTK NT 19) 173. MÜLLER, Offenbarung des Johannes (ÖTK NT 19) 173. 890 Zitat aus Hos 10,8. Auch in Lk 23,30 wird diese Stelle zitiert, um die kommenden Tage zu beschreiben, an denen man sagen wird: »Selig die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht gebaren, und Brüste, die nicht nährten.« (Lk 23,29) 891 Vgl. dazu und auch zur Schalenvision das Vorbild der ägyptischen Plagen in Ex 7–10. 892 MÜLLER, Offenbarung des Johannes (ÖTK 19) 283. 893 MÜLLER, Offenbarung des Johannes (ÖTK 19) 283. 889

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Die jesuanische Vision und ihre christliche Deutung

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πᾶσα νῆσος ἔφυγεν καὶ ὄρη οὐχ εὑρέθησαν. (Offb 16,20) Das Versetzen

der Berge steht in allen drei Stellen als Zeichen des Gerichts und des Zornes Gottes, bzw. seines Lammes. Die Offenbarung greift somit die kritische prophetische Linie dieses Motivs – die der Anklage und des Erscheinens Gottes zum Gericht – auf (vgl. Hos 10,8), wie sie auch in den jüdischen Apokalypsen (Äth Hen 1,6; AssMos 10,4) begegnet ist. Natürlich will die Johannesapokalypse vor allem ein Trostbuch sein, in dem sich Gottes Herrschaft trotz der Plagen befreiend und erlösend durchsetzen wird. Das Versetzen der Berge gehört aber zu den (vorbereitenden) Plagen. Von der jesuanischen Bedeutung des Motivs als Hoffnungsvision (in der prophetischen Linie von Deuterojesaja) ist nichts mehr zu spüren. 4.4.4 Herm vis I 3,4 – Das Bergeversetzen als eschatologische Heilstat Gottes Auch im Hirten des Hermas (der griechische Titel lautet einfach: ΠΟΙΜΗΝ), welcher zwischen 90 und 130/140 n. Chr. in Rom entstanden ist894, taucht das Motiv der versetzten Berge in apokalyptischem Kontext895 auf, und zwar ganz zu Beginn in Visio I. Hermas, der als freigelassener Sklave »Frau, Kinder und einen οἶκος hat896«, wird in einer ersten Entrückung zur Umkehr ermahnt, weil er seine ehemalige Herrin sich im Tiber waschen gesehen hat und sich gewünscht hatte, sie wäre seine Frau. Davon völlig niedergeschlagen, sieht er in einer zweiten Erscheinung eine Greisin, die sich in Visio II als die Kirche herausstellen wird. Sie tadelt ihn wegen seiner Kindererziehung, die in moralischer Hinsicht offenbar nicht streng genug war. Ihre letzten (vorgelesenen) Worte, die »nützlich und mild« waren (vis I 3,3), lauten: Siehe, der Gott der Mächte, der mit unsichtbarer und gewaltiger Macht und mit seiner großen Einsicht die Welt geschaffen und durch herrlichen Ratschluss seine Schöpfung mit Schönheit umkleidet und mit machtvollem Wort den Himmel befestigt und die Erde auf den Wassern gegründet und in seiner Weisheit und Vorsehung seine heilige Kirche geschaffen hat, die er auch segnete, siehe, er versetzt die Himmel und die Berge, die Hügel und die Meere, und alles wird eben seinen Auserwählten, damit er ihnen die Verheißung, die er verheißen hat, erfülle mit großer Herrlichkeit und Freude, wenn sie die Satzungen Gottes bewahren, die sie empfangen haben in großem Glauben.897 (vis I 3,4)

Gerade der letzte Teil dieses langen Satzes macht die enge Verbindung des apokalyptischen Ausblicks mit dem paränetischen Interesse des Hirten im

894

Papiasfragmente. Hirt des Hermas (Schriften des Urchristentums, Dritter Teil) 135.137. »Eine mit dem Zwei-Äonen-Schema und der Erwartung des universalen Endgerichts gekoppelte Endzeiterwartung« prägt den Hirten des Hermas und weist ihn als Apokalypse aus, als welche die »Schrift auch im frühen Christentum verstanden« wurde (Papiasfragmente. Hirte des Hermas 128–129). 896 Papiasfragmente. Hirt des Hermas 132. 897 Übersetzung nach Martin LEUTZSCH: Papiasfragmente. Hirt des Hermas 153. 895

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

Hinblick auf die christliche Gemeinde, in der er gegenwärtig lebt, deutlich. Das Versetzen der Berge dient hier der Einebnung des Landes (wie verheißen),898 was Gott mit großer Herrlichkeit und Freude tut. Bei der Schilderung des Versetzungsvorgangs kommen nur inzwischen bereits bekannte griechische Wörter vor: ἰδοὺ μεθιστάνει (von μεθίστημι) τοὺς οὐρανοὺς καὶ τὰ ὄρη καὶ τοὺς βουνοὺς καὶ τὰς θαλάσσας καὶ πάντα ὁμαλὰ γίνεται.899 (vis I 3,4) Anders als in der Johannesoffenbarung ist hier die Versetzung der Berge und Hügel nicht Gerichtszeichen oder Ausdruck von Zorn, sondern ein heilbringendes Geschehen. Das Gerichtshandeln Gottes war offenbar Inhalt des ersten Teils der Rede der Greisin, die Hermas sich nicht merken und aufschreiben konnte. Denn auf die Frage, ob ihm das Vorgelesene gefallen habe, antwortet er: »Herrin, dieses Letzte gefällt mir, das Vorherige aber ist schwer und hart.«900 (vis I 4,2) Die Versetzung der Berge gehört somit zum eschatologischen Heilsgeschehen für die Gerechten und nicht zum Gericht für die Heiden und (von der Gemeinde) Abtrünnigen (vgl. vis I 4,2). 4.4.5 Das Bergeversetzen als gegenwärtiges Geschehen im Thomasevangelium Im koptischen Thomasevangelium, das in Codex II von Nag Hammadi überliefert ist und das wahrscheinlich in Syrien um die Mitte des 2. Jh. entstanden ist901, beinhalten zwei Logien das Motiv des Bergeversetzens (Logion 48 und 106). Im als Spruchsammlung konzipierten Evangelium handelt es sich dabei beide Male um Aussprüche Jesu. Logion 48 lautet: »Jesus sagte: Wenn zwei Frieden schließen unter sich in diesem einen Haus, werden sie dem Berg sagen: Versetze dich, und er wird sich versetzen.«902 Das Friedenschliessen erinnert an die Bergpredigt, wo in Mt 5,9 die εἰρηνοποιοί (diejenigen, die den Frieden machen) selig gesprochen werden, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Wir befinden uns mit diesem Logion meines Erachtens sehr auf der jesuanischen Linie. Es spricht nichts dagegen, dass auch das Thomas-

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Spielt der Text hier auf Jes 40 an? Papiasfragmente. Hirt des Hermas 152. 900 Übersetzung nach: Papiasfragmente. Hirt des Hermas 153. 901 »Es spricht viel dafür, dass das Thomasevangelium um die Mitte des 2. Jh. im östlichen Syrien entstanden ist, wobei allerdings das zusammengestellte Spruchmaterial zum Teil auch bis in das 1. Jh. zurückreichen kann« (BLATZ, Das koptische Thomasevangelium, in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung (Bd. 1 Evangelien) 97). 902 Übersetzung nach: BLATZ, Das koptische Thomasevangelium, in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung (Bd. 1 Evangelien) 107. HAHN übersetzt das »versetzen« als »umfallen« (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 152). Vgl. auch noch den Text in der syrischen Didaskalia: Duo si convenirent in unum et dixerint monti huic: tolle et mitte te in mari, fiet. (Die syrische Didaskalia, übersetzt und erklärt von ACHELIS und FLEMMING (TU 25,2) 345). 899

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Dritte Rückfrage nach dem historischen Jesus

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evangelium das Bergeversetzen als anfanghafte Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ verstanden hat, im Gegenteil: der Ausdruck »Königreich« selbst (Reich des Vaters oder Reich des Himmels) taucht als »Zentralbegriff des Thomasevangeliums«903 in mehreren Logien auf. Dabei »scheint nur die Gegenwärtigkeit des Reiches«904 wichtig zu sein. Dies könnte mit der gnostischen Tendenz des Evangeliums zu tun haben, die sich auch in Logion 106 zeigt: »Jesus sagte: Wenn ihr aus zwei eins macht, werdet ihr Söhne des Menschen werden; und wenn ihr sagt: Berg, gehe weg, wird er sich wegbewegen.«905 Mit »zwei zu einem machen« ist die gnostische »Vereinigung der himmlischen Seele mit dem irdischen Seelenfunken«906 gemeint. Durch diese wiedergewonnene Ureinheit kommt der Gnostiker zu seiner Vollendung. Dass Berge versetzt werden, ist also auch hier ein Zeichen von Erlösung, die allerdings etwas anders aussieht, als sie Jesus verstanden hat. Die Gegenwärtigkeit des Königreiches ist stark spiritualisiert. Zudem spricht keines der beiden Logien mehr von der πίστις907, die bei Jesus noch die Brüchigkeit und die Vorläufigkeit der Realisierung der βασιλεία τοῦ θεοῦ aufgewiesen hatte. Es geht in Logion 106 nicht mehr um das (prozesshafte) Aufscheinen der neuen Welt, sondern um die Sicherheit des Gnostikers, darin einzugehen, wenn er zur Ureinheit zurückgefunden hat: Wenn ihr aus zwei eins macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere und wenn ihr aus dem Männlichen und dem Weiblichen eine Sache macht, sodass das Männliche nicht männlich und das Weibliche nicht weiblich ist, und wenn ihr Augen macht statt eines Auges und eine Hand statt einer Hand und einen Fuß statt eines Fußes, ein Bild statt eines Bildes, dann werdet ihr in das Königreich eingehen.908 (Th.Ev. Lg.22)

5. Eine dritte Rückfrage nach dem historischen Jesus Das Logion vom Berge versetzenden Glauben lebt sowohl vom traditionellweisheitlichen Bezugsfeld des unmöglich zu Realisierenden als auch vom apokalyptisch-weisheitlichen Konzept des endgültigen Kommens von Gott. Beide Pole können nur dann zusammengehalten werden, wenn der Begriff des Glaubens gemäß der synoptischen Tradition als Voraussetzung und als Voll903

BLATZ, Das koptische Thomasevangelium 97. BLATZ, Das koptische Thomasevangelium 97. 905 Übersetzung nach: BLATZ, Das koptische Thomasevangelium 112. 906 HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 152 Anm. 14. 907 »Die Erkenntnis und Vollkommenheit des Gnostikers lässt die Stufe der πίστις weit hinter sich zurück.« (HAHN, Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben 153) 908 Übersetzung nach: BLATZ, Das koptische Thomasevangelium 102. 904

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Die neue Qualität der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ

zugsverb des heilenden Wirkens Jesu und seiner Jüngerinnen und damit des Aufleuchtens der βασιλεία τοῦ θεοῦ im gegenwärtigen Kairos verstanden wird. Erst dann ist das Logion kohärent mit der jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit, die der Gegenwart eine eigene Qualität und Dynamik verleiht. Diese Dynamik wird verfehlt, wenn das Versetzen von Bergen bloß als Folge des Glaubens und nicht als dessen Charakterisierung gedeutet wird und wenn das Logion entweder nur vor traditionell-weisheitlichem Hintergrund als ermutigender Zuspruch oder aus apokalyptischweisheitlicher Perspektive als Initiierung des apokalyptischen Geschehens verstanden wird. 5.1 Nicht mehr als ein traditionell-weisheitlicher Zuspruch zur Ermutigung? Wenn SCHWARZ909 die Bedeutung des Bergeversetzens ausschließlich im Rahmen der rabbinischen Tradition deutet, spricht er damit dem Logion eine Bedeutung zu, welche sich noch gänzlich in traditionell-weisheitlichen Kategorien bewegt. Das Bestehen in der Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten mag durchaus auch im Blickfeld des Logions gewesen sein, und dass Jesus seine Jüngerinnen und Jünger auch darauf vorbereiten und sie dazu ermutigen wollte, sei keinesfalls bestritten. Jesuanische Weisheit zeichnet sich aber dadurch aus, dass es ihr gelingt, das Potential des traditionell-weisheitlichen Nährbodens erheblich zu erweitern. Diesem erweiterten Potential unter apokalyptischem Horizont verschließt man sich, wenn die apokalyptischen Bezüge des Motivs der versetzten Berge ausgeblendet werden. Dies vermag keineswegs mehr Plausibilität für den historischen Jesus zu generieren, sondern büßt gerade angesichts der Verletzung des historischen Plausibilitätskriteriums erheblich an Überzeugungskraft ein. 5.2 Herbeibefehlen des neuen Zeitalters? Auf der anderen Seite ist latent die Gefahr vorhanden, das Logion vom Bergeversetzen so zu verstehen, als wolle Jesus seine Jünger dazu auffordern, ein neues Zeitalter herbeizubefehlen: »The meaning […] was that, with sufficient faith, with its own peculiar internal power of growth, the disciples can command the New Age to dawn.«910 Auf dieser Grundlage ist es nur noch ein kleiner Schritt, im Logion aufgrund der apokalyptischen Motive der versetzten Berge die Aufforderung zur Herbeiführung des neuen Äons und damit zum Vollziehen der apokalyptischen Wende zu erkennen. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch der apokalyptische Horizont in Jesu Verkündigung transfor-

909 910

SCHWARZ, πιστιν ως κοκκον σιναπεως 33–35. DERRETT, Moving Mountains and Uprooting Trees 36.

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Dritte Rückfrage nach dem historischen Jesus

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miert erscheint und die apokalyptische Rede von zwei Äonen nur noch bedingt zu seiner eigenen Weisheitskonzeption passt. Es geht ihm nicht darum, die Ablösung des gegenwärtigen dunklen durch den zukünftigen Äon einzuleiten. Anders als in dieser apokalyptischen kosmischen Katastrophenerwartung wird der gegenwärtige Kairos in der noch alten Welt zum entscheidenden Ort, wo sich die Freiräume der βασιλεία τοῦ θεοῦ eröffnen können. Dabei lässt sie sich nicht herbei befehlen, sondern kann nur dort Platz ergreifen und Raum gewinnen, wo in der Nachfolge Jesu befreiendes und heilendes Handeln an Mitmenschen praktiziert wird.

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C. Die Weisheit der Gottesherrschaft als jesuanische Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit 1. Das Profil jesuanischer Weisheit im Kontext frühjüdischer Weisheitskonzeptionen Aus den untersuchten Aussageformen, paränetischen Wendungen und Gleichnissen lässt sich ein Gesamtbild jesuanischer Weisheit extrahieren, dessen Konturen sowohl in weltanschaulicher als auch in lebenspraktischer Hinsicht vor dem Hintergrund der idealtypischen Pole von traditioneller und apokalyptischer Weisheit sichtbar gemacht werden können. Jesus ist historisch unbestreitbar mit beiden Weisheitsströmungen in Kontakt gekommen. In Nazareth aufgewachsen, hat er sich als Handwerker in einem »volkstümlich-weisheitlichen«1 Milieu aufgehalten, bis er bei Johannes dem Täufer mit apokalyptisch-weisheitlichen Traditionen intensiv vertraut gemacht wurde.2 Seine Verkündigung und Lebenspraxis seit der Rückkehr nach Galiläa können daher gar nicht anders als vor dem Hintergrund von traditioneller und apokalyptischer Weisheit verstanden werden. Dabei mündete die Transformation sowohl des traditionell-weisheitlichen Nährbodens als auch des apokalyptisch-weisheitlichen Horizontes nicht in ein unausgeglichenes Nebeneinander, sondern in eine jesuanische Synthese, die Jesus zwar nicht aus dem Spektrum jüdischer Weisheitskonzeptionen in hellenistisch-römischer Zeit herausreißt, ihm darin aber doch ein eigenständiges und für die christliche Tradition höchst bedeutsames Profil verleiht.

1.1 Jesuanische Dynamik als Synthese von traditionell-weisheitlicher Ordnung und apokalyptisch-feuriger Dramatik In weltanschaulicher Hinsicht zeichnet sich jesuanische Weisheit dadurch aus, dass sie die traditionell-weisheitliche Ruhe der Geschichte aufbricht und die apokalyptisch-weisheitliche Dramatik hinter den Kulissen irdischen Geschehens entscheidend umwandelt in eine lebensförderliche Dynamik innerhalb der Geschichte. Nur durch diese Transformation beider weltanschaulicher

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 421. Zur Beschreibung dieser Zeit (inklusive des Schlüsselerlebnisses Lk 10,18 im Zusammenhang mit Mk 1,12 f): EBNER, Jesus von Nazareth 80–92. 1 2

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Im Kontext frühjüdischer Weisheitskonzeptionen

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Optionen wird es möglich, dass die apokalyptische Abwertung des gegenwärtigen Äons überwunden und sich im Kairos der Gegenwart Freiräume der sich bereits realisierenden βασιλεία τοῦ θεοῦ eröffnen können. Diese Freiräume sind dabei nicht einfach als zeitliche Vorwegnahme der βασιλεία τοῦ θεοῦ zu deuten, sondern vom Machtaspekt der βασιλεία und ihrem Raumgewinnen in der Gegenwart her zu verstehen. Sie werden zu einem Machtbereich Gottes; in ihnen kommt Gottes lebensförderliche Kraft zum Ausdruck und es scheint auf, was es mit erfülltem Menschsein von Gott her auf sich hat. Die wirtschaftlich, sozial, religiös und politisch ›Letzten‹ werden darin zu ›Ersten‹ (Mt 20,16; Mk 9,35) und es erfolgt eine Befreiung sowohl vom Zwang der egoistischen Überlebenssicherung (Mt 6,25) als auch von allen Einengungen, welche die Menschen krank machen (Mt 17,20). Das Logion vom Berge versetzenden Glauben bringt diese befreiende Dynamik in der Geschichte, die letztlich nicht analytisch, sondern immer nur symbolisch in Worte gefasst werden kann, adäquat zur Sprache. In dieser befreienden Dynamik der βασιλεία τοῦ θεοῦ kommt ein Licht zum Vorschein, das die Gegenwart wirklich hell machen kann und nicht bloß als weit zurück liegender Leuchtturm von der Vergangenheit her in das Schattenreich der Gegenwart leuchtet (traditionell-weisheitliche Option) oder als weit voraus liegender umnebelter Leuchtturm, der nur von einigen wenigen in einem kurzen nebelfreien Augenblick erkannt werden konnte, den Weg aus der finstersten Gegenwart hinaus weist (apokalyptisch-weisheitliche Option). Nach Mk 4,21 gehört das Licht weder unter das Bett, wo es den Raum nur halbherzig erhellt, noch unter ein übergestülptes Gefäß, welches das Licht erstickt und den Raum dunkel lässt, sondern auf den Leuchter: Μήτι ἔρχεται ὁ λύχνος ἵνα ὑπὸ τὸν μόδιον τεθῇ ἢ ὑπὸ τὴν κλίνην; οὐχ ἵνα ἐπὶ τὴν λυχνίαν τεθῇ; οὐ γάρ ἐστιν κρυπτὸν ἐὰν μὴ ἵνα φανερωθῇ, οὐδὲ ἐγένετο ἀπόκρυφον ἀλλ᾽ ἵνα ἔλθῃ εἰς φανερόν.

Kommt denn die Leuchte, damit sie unter den Scheffel gestellt wird oder unters Bett? Nicht, damit sie auf den Leuchter gesetzt wird? Denn nicht gibt es Verborgenes, es sei denn, damit es offensichtlich gemacht werde, noch wurde Geheimes, außer damit es an den Tag komme. (Mk 4,21–22)3

Das Licht, die βασιλεία τοῦ θεοῦ, gehört in apokalyptisch-weisheitlicher Weltsicht unter den Scheffel, weil der gegenwärtige dunkle Äon erst beim apokalyptischen Kommen Gottes vom neuen hellen Äon abgelöst wird. Erst dann, bei jener »Äonenwende, die nach dem geheimen Geschichtsplan Gottes 3 Übersetzung in Anlehnung an PESCH, Markusevangelium 1,1–8,26 (HThK II/1) 247. Es gilt zu beachten, dass im Griechischen für »offensichtlich gemacht werden« und »an den Tag kommen« das gleiche Verb verwendet wird, weshalb PESCH an beiden Stellen einheitlich »offenbar werden«, bzw. »ins Offenbare kommen« verwendet. Eine Parallelstelle zu Mk 4,21–22 findet sich in Lk 8,16–17. Das Logion vom Verhüllten (Mk 14,22) ist zudem als Doppelüberlieferung auch in Q vorhanden (Mt 10,26 und Lk 12,2).

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Die Weisheit der Gottesherrschaft

abläuft«,4 wird das, was jetzt noch verborgen ist, ans Licht kommen. Diese apokalyptische Gewissheit kommt in folgenden zwei Texten aus den Höhlen von Qumran sowie einem weiteren Auszug aus äth Hen zum Ausdruck: Aber Gott in den Geheimnissen Seines Verstandes und in der Weisheit Seiner Herrlichkeit hat einen Zeitraum für den Bestand des Unrechts gegeben und zum Termin (19) der Heimsuchung wird Er es für immer vertilgen. Dann kommt auf immer Welt-Wahrheit hervor… (1QS IV,18–19)5 (1) Und Gott sprach zu Habakuk, niederzuschreiben, was (da) kommt über (2) {über} die letzte Generation, doch die Vollendung der Zeit hat Er ihm nicht kundgetan. (3) [(leer)] Und wenn es heißt: Damit eilen kann, der darauf liest, (4) so geht seine Deutung auf den Anweiser der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat die Gesamtheit (5) der Mysterien der Worte Seiner Diener, der Propheten. Denn noch gibt es Schau (6) für den Termin, er stößt es hervor zur Zeit und trügt nicht (Hab 2,3). [(leer)] (7) Seine Deutung ist, dass die letzte Zeit sich in die Länge zieht und zwar mehr als alles, (8) was die Propheten gesagt haben, weil die Mysterien Gottes wundersam sind. (9) Wenn sie verzieht, harre darauf! Denn sie kommt gewiss und bleibt (10) nicht aus. [(leer)] Seine Deutung (bezieht sich) auf die Männer der Wahrheit, (11) die Täter der Tora, deren Hände nicht abgelassen haben vom Dienst (12) der Wahrheit, als sich über ihnen die letzte Zeit hinzog, denn (13) alle Zeiten Gottes treffen ein nach ihrer Ordnung, wie Er es eingezeichnet hat (14) für s[ie] in den Mysterien Seiner Klugheit. (Q pHab VII, 1–14)6 Und der Erwählte wird in jenen Tagen auf meinem Thron sitzen, und alle Geheimnisse der Weisheit werden aus dem Urteil seines Mundes hervorgehen, denn der Herr der Geister hat (dies) ihm gegeben und ihn verherrlicht. In jenen Tagen werden die Berge springen wie Widder und die Hügel hüpfen wie Lämmer, die mit Milch gesättigt sind. (äth Hen 51,2–3)7

In jesuanischer Perspektive hingegen ist der Leuchter für das Licht nicht die apokalyptische Zukunft, sondern das heilende und befreiende Geschehen in der Gegenwart, bei dem die Berge zwar auch schon ›springen‹ (Mk 11,23), ohne aber der geologischen Struktur der Erde Gewalt anzutun. Jesuanische Weisheit kann an diese Welt anknüpfen, weil die Gewissheit, dass alles Verborgene ans Licht kommen wird, auch eine Einsicht traditioneller Weisheit ist: »Trägt man denn Feuer in seinem Gewand, ohne dass die Kleider in Brand geraten? Kann man über glühende Kohlen schreiten, ohne sich die Füße zu verbrennen?« (Spr 6,27–28) Was hier bildhaft ausgedrückt ist, bringt in der griechischen Literatur MENANDER auf den Punkt: »Alles Verborgene bringt die

EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 80. MAIER, Die Qumran-Essener I 176, nach der Textausgabe von BURROWS, The Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery Vol. 2. 6 MAIER, Qumran-Essener I 161; neuere Textausgabe: CHARLESWORTH, Pesharim, other commentaries and related documents (The Dead Sea Scrolls 6B). Dazu weiter: DAVIES/BROOKE/CALLAWAY, Qumran 96–98. 7 UHLIG, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6) 594. Vgl. ebenfalls syr Bar 54,1–5; 4 Esr 4,46. 4 5

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Im Kontext frühjüdischer Weisheitskonzeptionen

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Zeit ans Licht.« (Sent 839)8 Die Ruhe und Gelassenheit, die in dieser traditionell-weisheitlichen Weltanschauung zum Ausdruck kommt, wird bei Jesus unter Einwirkung der apokalyptisch-feurigen Dramatik zu jener befreienden Dynamik transformiert, die in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ aufleuchtet (Mk 4,22). Diese Freiräume sind somit die Leuchter, auf denen das Licht der βασιλεία τοῦ θεοῦ die Gegenwart erhellt (Mk 4,21). Auch wenn das Licht in den Freiräumen nur punktuell aufscheint (die βασιλεία gewinnt Raum im Fragment), so leuchtet es dort doch in seiner ganzen Helligkeit und erhellt die ganze Umgebung. Dabei handelt es sich um eine Dynamik, die weit über den traditionell-weisheitlichen Nährboden hinauswächst und dabei zugleich in ihm (und damit in der Schöpfung) verwurzelt bleibt.9

1.2 Eine provokative Weisheit und ihre lebenspraktischen Konsequenzen Damit sich Freiräume der βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Gegenwart eröffnen können, ist entsprechendes menschliches Handeln unerlässlich. Jesu lebenspraktische Anweisungen leiten dazu an, sich auf die befreiende und heilende Dynamik seines eigenen Wirkens einzulassen und zu ihrer weiteren Entfaltung beizutragen. Die paränetischen Logien können daher nur von dieser weltanschaulichen Dynamik her verstanden werden. Jesuanische Weisheit unter apokalyptisch-weisheitlichem Horizont fordert dazu auf, »sich die Lebensrichtung nicht von ›dieser Weltzeit‹, der Jagd nach Wohlstand und anderen Objekten der Gier bestimmen zu lassen.«10 Damit ist nicht nur Reichtum im Visier, dessen Unvereinbarkeit mit Gott, bzw. der βασιλεία τοῦ θεοῦ mehrfach deutlich wurde (Mk 10,25parr sowie Mt 6,24par), sondern auch die alltägliche Sorge um Nahrung und Kleidung (Mt 6,26.28–30par). Die daraus resultierende Irritation teilt jesuanische Weisheit mit der apokalyptischen Weisheit der Yahad in Qumran oder des Trägerkrei8 Übersetzt nach: EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? (1998), 80; PERNIGOTTI, Menandri Sententiae. Weitere Belege bei EBNER und bei LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/2), 123 Anm. 5. 9 Aufgrund dieser gegenseitigen Durchdringung traditioneller und apokalyptischer Weisheit auch auf weltanschaulicher Ebene können traditionsgeschichtliche Rekonstruktionen nicht nachvollzogen werden, welche Mk 4,22 bloß als nachösterliches apokalyptisches Deuteschema (für die Gleichnisse, die inzwischen angeblich zu Geheimnissen geworden seien) verstehen wollen (EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? 82–83). Die von LUZ angegebene, nach ihm schwer zu entscheidende Alternative zwischen einem Bezug auf die gegenwärtige Verkündigung (wo das Verborgene offenbart wird) oder das eschatologische Endgericht sieht zwar das weisheitliche und apokalyptische Bezugsfeld, bleibt aber bei der Gegenüberstellung und vermag die hier vorgeschlagene Synthese beider Elemente noch nicht überzeugend zu bewerkstelligen (LUZ, Evangelium nach Matthäus (EKK I/2) 123). 10 SCHOTTROFF, Luise, Die Gleichnisse Jesu 92 (zu M 4,19).

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ses von 4QInstructions. Da die Jesusbewegung nicht abgeschottet gelebt und gewirkt, sondern ihr Leben unter apokalyptischem Horizont inmitten traditioneller Alltagsstrukturen gestaltet hat, entfaltet ihre Weisheit ebenfalls die bei 4QInstructions konstatierte subversive Wirkung: Man lebt zwar noch in dieser Welt mit ihrer Unrechtsordnung, ausgerichtet ist man jedoch in aller Vehemenz auf die neue Wertordnung (Mt 20,16), deren endgültige Durchsetzung der Apokalyptiker für das Ende dieses Äons erwartet. Aber anders als in der letztlich ganz und gar ›himmlischen‹ Weisheit von 4QInstructions kommen bei Jesus traditionelle praktische Ratschläge nicht bloß als Hilfsmittel in den Blick, um die jetzige Unrechtszeit möglichst unbeschadet zu überstehen (Überlebenstechnik), sondern bringen auch den mit ihnen verbundenen weltanschaulichen Realitätsbezug ein in die jesuanische Weisheitssynthese. So entfaltet jesuanische Weisheit nicht nur eine irritierende, sondern auch eine faszinierende Wirkung, indem die Wurzeln traditioneller Weisheitskonzepte (Sozialpflicht des Eigentums Mk 10,25parr, paradiesische Zustände Mt 6,26.28–30) freigelegt werden und die Eindämmung der negativen und mindernden Kräfte in paradiesischen Freiräumen geschehen kann. Während in 4QInstructions die weltlichen Verhältnisse vorerst unangetastet bleiben, können sie in jesuanischer Option aufgrund des traditionellweisheitlichen Nährbodens unter apokalyptischem Horizont umgestaltet werden. Jesuanische Weisheit ruft zur aktiven Umgestaltung der Gegenwart in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ auf. Aus der Verbindung von Irritation und Faszination entsteht somit jene Provokation, welche die Menschen dazu herausfordert, ihre eigene Nahrung und Kleidung nicht zu den bestimmenden Kategorien des Handelns werden zu lassen (Mt 6,25.33par), sondern einen solidarischen und uneigennützigen Umgang mit Nahrung, Kleidung und Besitz einzuüben. In der Aufforderung, dass keine irdischen Schätze gesammelt werden sollen (Mt 6,19), kommt eine Eindeutigkeit und Schärfe zum Ausdruck, die zwar stärker ist als die traditionell-weisheitliche Ambivalenz im Umgang mit Reichtum (Sir 31,6–11), aber schwächer als die apokalyptischweisheitliche Verteufelung des Reichtums (CD 4,12–19). Denn wer alles aufgibt, erhält schon im gegenwärtigen Kairos das Vielfache dessen zurück, was er aufgegeben hat (bei Mk 10,25parr). Wie auf weltanschaulicher Ebene die Synthese von traditionell-weisheitlicher Ordnung und apokalyptisch-weisheitlicher Dramatik ihren Niederschlag in einer neuen Dynamik gefunden hat, so vereinen sich in lebenspraktischer Hinsicht die Indikative der traditionellweisheitlichen Ordnung und die Imperative der apokalyptisch-weisheitlichen Dramatik zu einem jesuanischen Optativ11, der lebensförderliche Freiräume der βασιλεία τοῦ θεοῦ in der Gegenwart eröffnet. Erst sie bilden den Rah-

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KÜCHLER, Die Weisheit der Paradiese 15.

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Im Kontext frühjüdischer Weisheitskonzeptionen

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men für Aussagen wie die Seligpreisungen, worin den Armen zugesprochen wird: »Euch gehört die βασιλεία τοῦ θεοῦ!« (Lk 6,20) Hier wird keine Vertröstung ausgesprochen auf etwas, das erst noch kommen wird, noch wird die Realität in Palästina zur Zeit Jesu ausgeblendet, sondern Armen, Hungernden und Weinenden eröffnen sich im konkreten solidarischen Wirken Jesu und seiner Jüngerinnen neue Lebensmöglichkeiten und Lebensperspektiven. Das Handeln gemäß der βασιλεία τοῦ θεοῦ umfasst dabei nicht nur die materielle Ebene. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden schon in der Gegenwart fragmentarisch und anfanghaft, aber doch greifbar und real umgekehrt, wenn Kleine, Unbedeutende und Machtlose aufgenommen werden (Mk 9,35), die eigene Rolle in der Jesusbewegung als Dienen verstanden wird (Mk 9,35 u. ö.) und Krüppel, Lahme, Blinde, Kranke und aus der Gesellschaft Ausgestoßene in den Mittelpunkt des eigenen Handelns gestellt werden (Lk 14,11; Mt 17,20). Wo nach diesem zur aktuellen gesellschaftlichen Realität in Kontrast stehendem Programm gelebt wird, kann die βασιλεία τοῦ θεοῦ aufscheinen und real gegenwärtig sein. In einer Gegenwart, die ansonsten im besten Fall als ambivalente und gebrochene, im schlechtesten Fall gar als zerbrochene Wirklichkeit betrachtet wird, Freiräume der βασιλεία τοῦ θεοῦ mitzugestalten, ist auch dahingehend als eine im wahrsten Sinne des Wortes provokative Tätigkeit zu bezeichnen, dass sie eine neue befreiende und heilende Qualität des gegenwärtigen Kairos sichtbar macht. Das Logion vom Berge versetzenden Glauben ist in der Lage, diesen provokativen Charakter noch einmal zu verdeutlichen: Berge werden versetzt, wenn die Sorge um das eigene Überleben nicht mehr an erster Stelle steht, sondern eine solidarische Praxis (Glauben) im Umgang mit dem alltäglich Überlebensnotwendigen zu jener Sorglosigkeit führt, die im Raben- und Lilienlogion dem Kleinglauben der Jüngerinnen und Jünger entgegen gestellt wird (Mt 6,30 par Lk 12,28); Berge werden versetzt, wenn Klein- und Unglaube dem Glauben weichen und heilendes Geschehen gelingen kann (Mt 17,20). Die provokative jesuanische Weisheit ist ohne die Dynamik des Bergeversetzens und damit der Gegenwart Gottes in den Freiräumen der βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht zu verstehen. Deshalb liefert die Charakterisierung jesuanischer Weisheit auch eine einzige Antwort auf die zwei Fragen, die in Mk 6,2 beide gestellt werden und unlösbar zusammen gehören: »Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit (σοφία), die ihm gegeben ist (ἡ δοθεῖσα)? Und was sind das für Kräfte (δυνάμεις), die durch seine Hände wirken?« (Mk 6,2)

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2. Christliche Weisheit in der Nachfolge Jesu – Ein Ausblick Jesuanische Weisheit scheint bereits an manchen Stellen in den synoptischen Evangelien im Kontext spezifischer Gemeindesituationen oder spezifischer Fragestellungen interpretiert und weiterentwickelt worden zu sein. Aber auch in der theologischen Verarbeitung der Evangelisten und der sich allmählich entfaltenden Christologie bleibt das Profil jesuanischer Weisheit in manchmal deutlichen, manchmal etwas schwächeren Umrissen erkennbar. Bis heute bleiben diese Konturen wesentlich für alles, was sich christliche Weisheit nennen will. Einige theologische Spuren, die m. E. für christliche Weisheit auch knapp zweitausend Jahre nach dem Wirken Jesu von Nazareth hilfreich sein können, sollen abschließend vor dem Hintergrund der exegetischen Untersuchungen sowohl in weltanschaulicher als auch in lebenspraktischer Hinsicht gelegt werden. In christlicher Weisheit darf die Gegenwart nicht in Gefahr geraten, ihre Bedeutung zu verlieren, indem entweder bloss einer idealisierten Vergangenheit nachgetrauert oder eine utopische Zukunft herbeigesehnt wird. Denn weder das eine noch das andere lässt sich aktiv gestalten, sondern bloss der konkrete, oft mühsame, oft aber auch freudvolle Alltag der Gegenwart. Dabei ist der jeweiligen Gegenwart zunächst in die Augen zu schauen; sie ist realistisch in ihrer ganzen Ambivalenz, mit ihren menschenverachtenden und gnadenlosen Strukturen, aber auch mit ihrem lebensförderlichen Potential wahrzunehmen. In seinen Gleichnissen hat Jesus diese beiden Dimensionen seiner eigenen Lebenswelt in Palästina immer wieder aufgenommen (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg). Er ist dieser Realität aber nicht auf den Leim gegangen und hat sie nicht zur letztgültigen und bestimmenden Grösse erhoben. Orientierung für ihre aktive Mitgestaltung gibt vielmehr jener Werteund Lebenshorizont, den Jesus βασιλεία τοῦ θεοῦ genannt hat und der als Wirkbereich Gottes, wo die Welt insgesamt und menschliche Existenz im Besonderen zu ihrer von Gott her gedachten vollen Entfaltung gelangen, umschrieben werden kann. Eine solche befreite und heile Existenzweise des Menschen steht in Kontrast zur gegenwärtigen Wirklichkeit insgesamt – heute ebenso wie vor zweitausend Jahren. Wenn die gegenwärtige Wirklichkeit aufgrund des neuen Werte- und Lebenshorizontes umgestaltet werden soll, dann kann dies nur fragmentarisch und anfanghaft geschehen. Alles andere würde der realistischen Wahrnehmung der Gegenwart in ihrer ganzen Ambivalenz, die auch jesuanischem Wirklichkeitsverständnis eine so grundlegende Erdung verleiht, zuwiderlaufen. Aber dort, wo der Wirkbereich Gottes Raum gewinnt, können Freiräume entstehen, worin die Ambivalenz der Wirklichkeit einer Eindeutigkeit von Heilung, Befreiung und Erlösung weicht; es sind Orte des Ankommens Gottes in der Gegenwart, Orte, wo Gott und Welt tatsächlich zusammen gebracht werden. Die theologische Tradition kennt solche Orte unter dem Namen Sak-

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Christliche Weisheit in der Nachfolge Jesu – Ein Ausblick

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ramente, wobei die Sakramentalität nicht nur in sakraler Verdichtung, sondern auch in der konkreten christlichen Lebensgestaltung erkennbar wird: »Das gläubig angenommene und gestaltete Leben von Christinnen und Christen selbst ist Ereignis, Ort und Symbol, Zeichen und Hinweis für das, was es mit dem Menschsein unter den Augen Gottes auf sich hat.«12 Christliche Weisheit darf davon ausgehen, dass in Freiräumen der Gegenwart eine lebensförderliche Dynamik um sich greift und Ereignisse dessen, was es mit dem Menschsein von Gott her auf sich hat, »in aller Bruchstückhaftigkeit, sozusagen im Erdreich des unmittelbaren persönlichen und gesellschaftlichen Lebens«13 geschehen. So entstehen Orte, die davon geprägt sind, dass Gottes Wille geschieht. Christliches Handeln zielt auf die Entfaltung dieser lebensförderlichen Dynamik und die daraus resultierende Umgestaltung der Gegenwart in den Freiräumen von Gottes Wirkbereich. Aus den subversiven Tendenzen und der Irritation, die dadurch entsteht, dass die gegenwärtige Wirklichkeit nicht zur bestimmenden Grösse erkoren wird, und der Faszination des neuen Werteund Lebenshorizontes entsteht dabei jene provokative Zumutung, so zu leben, als würden bereits die neuen Werte und Regeln erlösten Menschseins gelten. »Punktuelle Befreiungserfahrungen«14 können sich dort einstellen, wo ein radikal solidarischer und uneigennütziger Umgang mit dem alltäglich Überlebensnotwendigen eingeübt wird; dort, wo nicht Besitz und Reichtum im Zentrum des eigenen Strebens stehen; dort, wo ideologische Verblendung entlarvt wird und menschliche Selbstfindung gelingen kann; dort, wo aufgebrochen und neu angefangen werden kann; und dort, wo gelingendes Leben ermöglicht wird und lebenshindernden Kräfte auf allen Ebenen Einhalt geboten wird. Diese heilenden und befreienden Prozesse sind zunächst im Nahbereich zwischenmenschlicher Beziehungen anzusiedeln. Aber das in ihnen hell aufscheinende Licht will die weitere Umgebung erleuchten und bringt somit ihr kritisches Potential gegenüber politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Unrechts- und Unterdrückungsstrukturen zum Vorschein. Wenn hier von einem neuen Werte- und Lebenshorizont gesprochen wird, dann ist in diesem Bild bereits angedeutet, dass mit der radikalen Gegenwärtigkeit Gottes zugleich eine ebenso radikale Unverfügbarkeit der befreienden Wirklichkeit einhergeht. Der Horizont weist über die Gegenwart hinaus und kann Christinnen und Christen in ihrem Engagement für gegenwärtige Freiräume einer lebenswerten Welt bestärken, auch dann, wenn Hilflosigkeit und 12 KARRER, Die Stunde der Laien 165. In diesem Zitat wird auf der Linie des jesuanischen Glaubensverständnisses noch einmal deutlich, dass sich Glauben nur »als Hoffnung und als gelebte und tätige Solidarität […] verleiblichen« kann (KARRER, Der große Atem des Lebens 57). 13 KARRER, Die Stunde der Laien 166. 14 KOSCH, Die Gottesherrschaft erreicht das Jetzt 86.

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Resignation angesichts der Brüchigkeit und Vorläufigkeit der befreienden Wirklichkeit um sich zu greifen drohen. Zugleich warnt er vor »Machbarkeitswahn und eigenen Allmachtphantasien«15, denn es geht um die Teilhabe an einer Dynamik, die sich ohne die menschlichen Hände nicht entfalten kann, die aber nicht allein in den Händen der Menschen liegt. Denn sie behält ihre Kraft auch dann, wenn ein Fragment abbricht und wenn der Einsatz für sie gänzlich zu scheitern droht. Christinnen und Christen glauben, dass die in die Freiräume der Gegenwart hineinreichende befreiende Wirklichkeit auch die letztgültige und bleibende Wirklichkeit ist, in die hinein auch jedes Scheitern aufgehoben wird und worin alles Fragmentarische von Gott her seine Vollendung findet.

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KOSCH, Die Gottesherrschaft erreicht das Jetzt 88.

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Register 1. Sachregister Antithetische Gleichnisse 56 Apokalyptik 31, 35, 113, 116, 222, 227, 242 Christus 16 Erfahrungsweisheit 42, 44, 106 Gegenwart 36, 46, 83, 108, 113, 114, 115, 118, 216, 220, 222, 223, 245, 247, 250 Gottesherrschaft 15, 33, 35, 38, 40, 41, 82, 112, 114, 140, 165, 216, 220, 222, 223, 225, 226, 236, 245, 247, 250 Glaube 15, 118, 140, 165, 219, 223, 233, 236 Heilung 157, 217, 224, 232, 233 Jesus, historisch 48, 217 Johannes der Täufer 34, 114, 235

Kohärenzkriterium 48 Kyniker 33, 43, 94, 110 Plausibilitätskriterium 48 Qumran 27, 74, 245, 247 Sapientiale Soteriologie 36 Schöpfung 22, 40, 107, 220 Tora 20, 41 Weisheit 17, 21, 31, 250 Weisheit, apokalyptisch 20, 25, 27, 29, 82, 112, 115, 216, 244 Weisheit, hypostasiert 18, 19 Weisheit, traditionell 20, 22, 38, 42, 82, 112, 114, 216, 217, 242, 244

2. Stellenregister 2.1 Altes und Neues Testament Gen 1 ff Gen 8,7 Gen 18,14 Gen 49,26 Ex 14,2.9 Ex 19,18 Lev 19,18 Num 20,28 Num 33,7 Dtn 33,2 Dtn 33,15 Dtn 34,1–6 Jos 24,29 f Ri 5,1–31 Ri 5,5 Ri 16,5 2 Sam 2,1–10 2 Sam 15,32 1 Kön 10,27 1 Kön 11,7–8 1 Kön 19,11–12

22, 23, 24 98 61 170 174 174 60 174 174 175 170 174 174 175 172, 174 206 75, 76 192 155 192 178

2 Kön 23,13–14 1 Chr 27,28 2 Chr 1,15 2 Chr 9,27 2 Makk 9,8 Ijob 9,5 Ijob 14,18–19 Ijob 18,4 Ijob 22,29 Ijob 28,9 Ijob 38,41 Ijob 42,2 Ps 6,9 Ps 18 Ps 29 Ps 29,5–6 Ps 43,3 Ps 46 Ps 65,10 Ps 78,47 Ps 97

192 155 155 155 180, 190, 228 173, 180, 199 181 181 75 181 107 61 58 172, 176, 199 172 155 221 167, 220, 221 91 155 172, 175

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263

Stellenregister Ps 103,15–16 Ps 104,30 Ps 114,4.6 Ps 118,25 f Ps 119,164 Ps 147,7–9 Spr 6,6–8 Spr 6,27–28 Spr 10,4 Spr 10,5 Spr 10,22 Spr 11,28 Spr 14,27 Spr 16,8 Spr 16,20 Spr 18,23 Spr 22,7–9 Spr 25,6–7 Spr 29,23 Spr 30,8–9 Koh 3,2 Sir 3,18–21 Sir 10,8.14.16 Sir 10,23–24 Sir 11,1 Sir 11,5–6 Sir 11,17 Sir 11,21 Sir 16,18–19 Sir 24,1–3 Sir 24,4–8 Sir 24,23–34 Sir 31,1–11 Sir 38,29 Sir 42,9 Sir 43,17–18 Jes 5,1–7 Jes 5,8 Jes 5,25 Jes 9,9 Jes 10,33 Jes 11,1–9 Jes 24,21 Jes 40,1–5 Jes 40,12 Jes 41,15 Jes 45,1–2 Jes 49,10–12 Jes 49,13

107 190 173, 188, 217 148 153 107 25; 108 246 25 108 91 92 101 101 101 92 92 80 75 92 156 75 67 91 91 67 91 91 173, 181 18 18 18, 25 23, 99, 248 99 99 181 182 92, 182 182, 227 155 76 76 174 187, 197, 225, 235 173, 180, 225 173, 189, 228 188 187, 197 225

Jes 54,10 Jes 56,7 Jes 56,8 Jes 60,21 Jes 63,19 Jer 1,10 Jer 4,23–24 Jer 7,9–10 Jer 7,11 Jer 49,16 Jer 50,6 Bar 5,5–9 Ez 11,23 Ez 17,11–21 Ez 17,22–24 Ez 19,10–14 Ez 21,31 Ez 38,16 Ez 38,18–21 Dan 2,34–35 Dan 2,45 Hos 10,8 Am 7,14 Am 9,15 Mi 1,4 Mi 1,6 Nah 1,3–5 Hab 3,6.10 Hag 1,6 Sach 9,9 Sach 14 Mt 5,1 Mt 5,2 Mt 6,19–24 Mt 6,24 Mt 6,25–34 Mt 6,26 Mt 6,28–30 Mt 7,7 Mt 7,28 Mt 8,1 Mt 8,5–13 Mt 8,20 Mt 8,23–27 Mt 9,1–8 Mt 9,18–26 Mt 9,27–31 Mt 10,10

169 149 135 156 189 156 184 135 135 214 215 155, 198, 224 192 76 76 156 76 190, 223 184 194, 223 195, 223 184, 227 155 156 183, 227 183 185 186 54 141, 148, 230 190, 221, 223, 225, 227, 230 221 102 93, 248 40, 93, 103, 112, 247 38, 97, 245, 248 40, 97; 112, 247, 248 98; 112, 247, 248, 249 105, 109 102 221 162 103 163 163 163 163 102

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264 Mt 10,28 Mt 13,15 Mt 14,13–21 Mt 14,22–33 Mt 15,21–28 Mt 15,29–31 Mt 15,32 ff Mt 16,25 Mt 17,14–20 Mt 17,19 Mt 17,20 Mt 18,4 Mt 19,16–30 Mt 19,20 Mt 19,24 Mt 19,30 Mt 20,1–16 Mt 20,16 Mt 20,20–28 Mt 20,26 f Mt 21,1–32 Mt 21,18–22 Mt 21,21 Mt 21,31 Mt 23,11 Mt 23,12 Mt 28,16 Mk 1,15 Mk 1,35 Mk 1,40–45 Mk 2,1–12 Mk 3,13–19 Mk 4,21–22 Mk 4,35–41 Mk 5,1–20 Mk 5,21–43 Mk 5,34 Mk 6,1–6 Mk 6,2 Mk 6,8 Mk 6,27–35 Mk 6,46 Mk 8,1–10 Mk 8,2 Mk 8,26 Mk 8,31 Mk 8,35

Register 103 157 104 163 163 221 221 68, 103 159, 232 222 120, 122, 152, 162, 165, 232, 233, 245, 249 73, 82 60, 87 101 87 52, 82, 85 39, 40, 53, 101 52, 53, 62, 82, 85, 245, 248 65 63, 82 147 150 118, 122, 162, 233 57 69, 71, 83 39, 73, 74, 82 221 15, 136 144 226 137, 224, 226, 227, 230 221 245 137 215, 225 137 217, 225 222 15, 46, 249 102 37 221 221 130, 231 143 130 68, 103

Mk 9,2–10 Mk 9,14–29 Mk 9,19 Mk 9,23 Mk 9,31 Mk 9,33–37 Mk 9,35 Mk 10,17 Mk 10,17–31 Mk 10,25 Mk 10,31 Mk 10,34 Mk 10,35–45 Mk 10,43 f Mk 10,46–52 Mk 10,52 Mk 11–13 Mk 11,12–14 Mk 11,15–19 Mk 11,18 Mk 11,20–21 Mk 11,22 Mk 11,23 Mk 11,24–25 Mk 11,27 ff Mk 12,38–40 Mk 13 Mk 14,32–42 Mk 15,42 Mk 16,2 Mk 16,7 Lk 3,4–6 Lk 3,11–14 Lk 6,20 Lk 9,10–17 Lk 9,24 Lk 9,48 Lk 9,58 Lk 10,4 Lk 10,17 Lk 10,18 Lk 11,9–10 Lk 11,20 Lk 12,5 Lk 12,22–32 Lk 12,24 Lk 12,27 f

221 137, 144, 157 217 162 130 64 39, 63, 64, 67, 83, 245, 249 101 60, 87 60, 87, 112, 247, 248 52, 82, 85 130 65 63, 67, 82 137 39, 136, 141, 225, 229 128 132 226 218 132 136, 158, 229, 233 46, 118, 122, 141, 158, 230, 246 142, 158, 229, 231 218 144 221 144 130 130, 231 231 235 236 249 104 68, 103 68, 70, 83 103 102 116 75, 116 105, 109 35 103 97 97 98, 249

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265

Stellenregister Lk 13,4 Lk 13,18–19 Lk 13,22–30 Lk 13,30 Lk 14,7–14 Lk 14,11 Lk 16,9–13 Lk 16,13 Lk 17,1–10 Lk 17,4 Lk 17,6 Lk 17,10 Lk 17,20–21 Lk 18,9–14 Lk 18,14

154 153 58 52, 58, 82, 85 80 73, 80, 82, 83, 249 93 93, 103 152 156 120, 122, 154, 155 156 221 81 73, 81

Lk 18,17 Lk 18,18–30 Lk 18,25 Lk 22,24–30 Lk 22,26 Joh 4,21–23 Apg 5,6 Offb 6,14 Offb 8,8 Offb 16,20 1 Kor 1,21 1 Kor 13,2 1 Kor 13,7 1 Kor 15 1 Thess 4,14

70 87 87 70 69, 83 222 71 238 238 239 236 236 237 236 236

2.2 Weitere jüdische und frühchristliche Schriften Ass Mos 10,4 Äth Hen 1,6 Äth Hen 42,1–3 Äth Hen 51,2–3 Äth Hen 82,2 Äth Hen 96,8 Äth Hen 97,8–10 Äth Hen 98,12 Äth Hen 102,5 Äth Hen 103,1–15 Äth Hen 104,6 B BB 3b B Hor 14a B Sanh 24a B Sot 3b CD 4,12–19 4 Esra 7,47 4 Esra 8,20–23 4 Esra 9,15–16

200, 223, 224 199 19 246 20 66 30, 89 89 89 89 89 204 203 202 206 29, 88, 248 58 198 58

4 Esra 13,6 4 Esra 13,36 Herm vis I 3,4 Jos Ant 9,225 Lev R 1 Lev R 8 Ps Sal 11,4–6 Q pHab 7,1–14 1QS 2,19 1QS 2,23 1QS 4,18–19 1QS 5,1–2 1QS 9,8 1QS 11,3–9 4Q417 Th Ev. Lg 22 Th Ev. Lg 48 Th Ev. Lg 106

196, 223 196, 233 239 193 75 207 197, 224 246 74 74 246 29 90 27 30 241 240 241

2.3 Antike Autoren Archilochos Frag. 58 Aristophanes Lys 722 f Artemidor II 28 Cato Agr. 5,4 Columella I 7,4 Diog Ep. 9

78 80 212 54 54 95

Diog Ep. 38,3 Diog Ep. 38,4 f Diog L. 6.87 Euripides Troer. 612 f Herodot I 5,3 f Hesiod Werke u. Tage 55 f

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111 95 95 79 78 77

266

Register

Homer Il 20,242 f Homer od 6,41–46 Homer od 16,211 ff Horaz epod 16,27–29 Horaz Ged. I Livius ab urbe condita 9,3,3 Lukian Nav 45 Menander Sent 839 Ovid am. II 16,47–52

78 211 78 209 79 209 210 246 213

Platon Gorg 491.e Plutarch Is Os 370b Pseudo-Anacharsis 5 Seneca ad Marc 26,6 Seneca Epist 41,3 Teles Reliquiae 11 Varro Res rust. I 17,2–3 Vergil Aen. IV 268–270 Xenophon Anab III 2,10

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71 216 110 214 212 96 54 211 80

Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 95: Martina Janßen / Stanley F. Jones / Jürgen Wehnert (Hg.)

Band 89: Eric K.C. Wong

Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerd Lüdemann. Mit einem Geleitwort von Eduard Lohse 2011. 218 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53977-4

2011. 201 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53037-5

Evangelien im Frühes Christentum und Dialog mit Paulus Religionsgeschichtliche Schule Eine intertextuelle Studie zu den Synoptikern

Band 92: Joseph Verheyden / Tobias Nicklas / Andreas Merkt (Hg.)

Ancient Christian Interpretations of „Violent Texts“ in The Apocalypse In Cooperation with Mark Grundeken 2011. 313 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53976-7

Band 91: Michael Bachmann

Von Paulus zur Apokalypse – und weiter Exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studien zum Neuen Testament 2011. 644 Seiten mit 15 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53398-7

Band 90: Dieter Sänger (Hg.) Gerhard Sellin

Allegorie – Metapher – Mythos – Schrift

Band 87: Christian Wetz

Eros und Bekehrung Anthropologische und religionsgeschichtliche Untersuchungen zu »Joseph und Aseneth« 2010. 256 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-54007-7

Band 86: Florian Herrmann

Strategien der Todesdarstellung in der Markuspassion Ein literaturgeschichtlicher Vergleich 2010. VIII, 407 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55011-3

Band 85: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)

Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 3: Keilschriftliche Texte, Aramäische Texte, Armenische Texte, Arabische Texte, Chinesische Texte 2010. VIII, 512 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53388-8

Beiträge zur religiösen Sprache im Neuen Testament und in seiner Umwelt 2011. 306 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55020-5

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525539781 — ISBN E-Book: 9783647539782

Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Band 84: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)

Band 80: Darina Staudt

Quellen zur Geschichte des Partherreiches

Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden 2011. 345 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55015-1

Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 2: Griechische und lateinische Texte, Parthische Texte, Numismatische Evidenz 2010. X, 639 Seiten mit 62 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53387-1

Band 83: Ursula Hackl / Bruno Jacobs / Dieter Weber (Hg.)

Quellen zur Geschichte des Partherreiches Textsammlung mit Übersetzungen und Kommentaren. Bd. 1: Prolegomena, Abkürzungen, Bibliografie, Einleitung, Indices, Karten, Tafeln 2010. CXLIII, 256 Seiten mit 77 Abb. und 5 Karten, gebunden ISBN 978-3-525-53386-4

Band 82: Stefan Schreiber

Weihnachtspolitik Lukas 1-2 und das Goldene Zeitalter 2009. 174 Seiten mit 8 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-53392-5

Band 81: Georg Schelbert

ABBA Vater Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Midrasch- und HaggadaWerken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim Jeremias 2011. 413 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55029-8

Der eine und einzige Gott

Band 79: Takashi Onuki

Neid und Politik Eine neue Lektüre des gnostischen Mythos 2011. 226 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-55021-2

Band 77: Ulrich Mell

Christliche Hauskirche und Neues Testament Die Ikonologie des Baptisteriums von Dura Europos und das Diatessaron Tatians 2010. 340 Seiten mit 38 Abb. und 5 Tab., geb. ISBN 978-3-525-53394-9

Band 76: Timo Glaser

Paulus als Briefroman erzählt Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen 2009. 376 Seiten mit 6 Tab., gebunden ISBN 978-3-525-53389-5

Band 75: Peter Lampe / Helmut Schwier (Hg.)

Neutestamentliche Grenzgänge Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens 2010. 248 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-53393-2

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