Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance [1 ed.] 9783110957334, 9783598774195

Die Herausforderung durch "das Neue" hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einmal entscheidend verschär

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Die Wahrnehmung  des Neuen in Antike und Renaissance [1 ed.]
 9783110957334, 9783598774195

Table of contents :
Vorwort
Die Wahrnehmung des Neuen: Zwischen Selbstverortung und Flucht aus der Geschichte
Teilnehmer und Teilnehmerinnen
Inhaltsverzeichnis
Alt und Neu bei Aristophanes (unter besonderer Berücksichtigung der Wolken)
Literarische Innovation als Verjüngung der Tradition
Nach der Katastrophe
Das Alte als Maske des Neuen: Augustus und Cosimo de'Medici
Epoche als Ritual
Die Renaissance – Innovatio oder Renovatio
Überleben in der Risikogesellschaft
Das Neue ist das Alte: Antike Traditionen in den Emblembüchern des Joachim Camerarius
Das Neue im Alten: Innovation in Kunsttheorie und Kunstpraxis der Renaissance
Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ,Neuen Welt‘
Epilog
Tafelanhang

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Colloquium Rauricum Band 8 Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance

Colloquia Raurica Die Colloquia Raurica werden alle zwei Jahre vom Collegium Rauricum veranstaltet. Sie finden auf Castelen, dem Landgut der Römer-Stiftung Dr. René Clavel in Äugst (Augusta Raurica) bei Basel, statt. Jedes Colloquium behandelt eine aktuelle geisteswissenschaftliche Frage von allgemeinem Interesse aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Den Schwerpunkt bilden dabei Beiträge aus dem Bereich der Altertumswissenschaft. U m möglichst vielseitig abgestützte Erkenntnisse zu gewinnen, erörtern die eingeladenen Fachvertreter das Tagungsthema im gemeinsamen Gespräch. Die Ergebnisse werden in der Schriftenreihe „Colloquia Raurica" publiziert. Das Collegium Rauricum Joachim Latacz Jürgen von Ungern-Sternberg Hansjörg Reinau Peter Blome

Colloquium Rauricum Band 8

Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance Herausgegeben von

Achatz von Müller und Jürgen von Ungern-Sternberg

Κ · G · Saur München · Leipzig 2004

Gedruckt mit Unterstützung von Herrn und Frau Dr. Dr. h. c. Jakob und Antoinette Frey-Clavel, Basel

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 by Κ. G. Saur Verlag GmbH, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza ISBN 3-598-77419-2

ACHATZ V O N MÜLLER JÜRGEN VON UNGERN-STERNBERG

Vorwort Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die am achten Colloquium Rauricum gehalten wurden. Es fand vom 10.—12. Oktober 2002 in den Räumen der Römer-Stiftung Dr. René Clavel auf dem Landgut Castelen/Augst im Kanton Basel-Land statt — ein nunmehr schon bewährtes Domizil für geistigen Austausch und vielfältige Begegnungen. Das Konzept flir die Tagung wurde von Achatz von Müller vorgelegt. Wegen seiner großen Belastung als Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät im Rahmen der vielfältigen Reformbestrebungen an der Universität Basel trat ihm Jürgen von Ungern-Sternberg als Mitorganisator und jetzt auch als Mitherausgeber des Tagungsbandes zur Seite. Zu danken haben wir dem Collegium Rauricum nicht nur für die ehrenvolle Aufgabe, diese Tagung zu konzipieren und zu leiten, sondern auch für seine begleitende Beratung und Unterstützung. Die technische Organisation wurde umsichtig und stets hilfsbereit von Frau Leandra Pronesti und Herrn Christoph Carpenter vom Seminar für Alte Geschichte der Universität Basel gewährleistet. U m die aus vielen Gründen nicht einfache Drucklegung hat sich Frau Dr. Elisabeth Schuhmann von K.G. Saur Verlag GmbH mit nie versagender Hilfsbereitschaft und in schon gewohnter Kompetenz verdient gemacht. Allen Referenten und Referentinnen und allen an den Diskussionen und an der Gestaltung des Colloquiums und des Tagungsbands Beteiligten gilt unser herzlicher Dank. Ganz besonders aber danken wir Frau Antoinette Frey-Clavel, die in lebhafter Anteilnahme wieder die von ihr und ihrem Gatten Dr. Dr. h.c. Jakob Frey-Clavel begründete Stiftung repräsentierte, deren finanzielle Unterstützung auch dieses Colloquium zustande kommen ließ. Basel, im Juli 2004

ACHATZ V O N MÜLLER

Die Wahrnehmung des Neuen: Zwischen Selbstverortung und Flucht aus der Geschichte

Das Neue war der Alten Welt verdächtig. Mit dieser allgemeinen Feststellung bleibt man zunächst durchaus unangreifbar. U n d doch lohnt sich der genauere Blick. Dieser hat allerdings von der eigenen Betroffenheit durch „das N e u e " auszugehen, also von Haltungen und Wertungen, die unsere gegenwärtigen Gesellschaften mit der Wahrnehmung des Neuen verbinden. Dabei wird rasch deutlich, daß die vermeintliche Unterwerfung der „Neuzeit" unter den Prozeß einer dem Neuen ergebenen theoretischen Neugier zutiefst eingebettet ist in eine epistemologische Tradition, die eher an eine territoriale Verschiebung der „Weltneugierde" denn an einen substantiellen Wandel wissenschaftlicher Interessensorganisation denken läßt.1 Die in der Folge von Gaston Bachelard und Michel Foucault formulierte Epistemologie sieht die geschichtliche Interaktion von Wissen und Wissenschaft nicht mehr als Prozeß von Entwicklung und Einfluß, sondern von Brüchen und Verschiebungen. Das Neue kann dabei durchaus als eine andere Erscheinungsform des „Alten" aufgefaßt werden. 2 N u n ist allerdings beredt daraufhingewiesen worden, daß eine Geschichte der Wissenschaften, die weder „Wissenschaftsgeschichte" sein noch „Vorläufer" und Kontinuitäten suchen möchte, Diskontinuität und Episteme in ihr Zentrum stellen muß: „Zweifellos versteht es sich von selbst, daß der Fortschritt der Wissenschaften durch epistemologische Brüche die häufigste Neufassung der Geschichte eines Faches erforderlich macht, (allerdings) eines Faches, von dem sich nicht sagen läßt, es sei genau das gleiche, da es sich unter der gleichen gebräuchlichen, durch sprachliche Trägheit fortbestehenden Bezeichnung um einen anderen Gegenstand handelt." 3

1

H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1982, S. 361. M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, passim, abschließend S. 273; G. Bachelard, die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt 1980, S. 62ff. 3 G. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, hrsg. v. W. Lepenies, Frankfurt 1979, S. 53. 2

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Achatz v. Müller

Dieser Hinweis Georges Canguilhems kommt genauer noch als Bachelard auf den Punkt. Das Neue erscheint weder als Verschiebung des Alten noch als Bruch mit dem Alten. Vielmehr kann es sich als gänzlich Neues, also eine neuartige Episteme, oder als demaskiertes Altes oder als Altes, das man so noch nie gesehen hat, in Erscheinung setzen: „In einem Theoriegewebe können manche Fäden ganz neu sein, während andere aus alten Geweben genommen sind . . . So bezeichnet die Erhebung der Mathematik — der Arithmetik und der Geometrie — zur Würde eines Schlüssels für die Erkenntnis physikalischer Fragen die R ü c k kehr zu Piaton über Aristoteles hinweg." 4 Was immer aber diese Definitionsspiele um den Charakter des „Neuen" bezwecken — der Diskurs seiner Wahrnehmung steht außer Zweifel. Die Perzeption des Neuen stimuliert die Gegenwart jedweder Form der Moderne. Dabei geht es nicht um die Verwerfung der jeweiligen Gegenwart zu Gunsten einer dringlich erwarteten Zukunft, sondern um innerweltliche Eschatologie. Auf die Konstitution der Erwartung des Neuen im Kontext von Erlösungshoffnung und christlicher Endzeiterwartung wird noch grundsätzlich zurückzukommen sein. Aber kein Zweifel: die „Schaffung des neuen Menschen" — so lautet Julian Huxleys berühmte Formel — enthält den weltsüchtigen Versuch, die Kontingenz des Daseins abzuschütteln. Und zwar hier und jetzt, nicht morgen, übermorgen oder im Jenseits.5 Dies klingt ganz nach Säkularisierung einer bekannten christlichen Formel, die in der Taufe die Konstituierung des „neuen Menschen" sakramental begründete. Mag sein. Tatsächlich aber geht es nicht darum, abgesunkenes christliches Lehr-Gut wiederzubeleben, sondern zu zeigen, daß die Einlassung auf das Neue als existentielles Versprechen das kollektive Bewußtsein sowohl ganz und gar an die jeweilige Gegenwart bindet als auch vor ihr die Flucht ergreifen läßt. Die vermeintliche Funktionslosigkeit des „Alten", mit dem sich die Welt das Neue zurecht legt und legitimiert, 6 erweist sich dabei als lediglich äußerer sozialer Aufhänger. Mit Funktionsverlusten des Alten allein ist der Aufstieg des Neuen nicht zu erklären. Es geht um mehr. Wenn sich Altes als Neues maskieren muß, um vor den Augen der Welt zu bestehen, bezeugt dieser Umstand nicht etwa Hegels „Furie des Verschwindens", also die revolutionäre Ablösung der alten Gesellschaft nicht durch eine hypothetisch neue, sondern durch das radikal-nihilistische „Nein" ihrer eigenen revolutionären Kinder. Vielmehr zeigt sich die Verschränkung des Alten im Neuen,wie sie der „Moderne" zeittypisch geworden ist. Adolf Loos hatte einst in seinem skandalerregenden Essay über „Ornament und Verbrechen" die Tendenz der Moderne ausgemacht,

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Ebenda, S. 51. Vgl. K. P. Liessmann, Die Furie des Verschwindens. Uber das Schicksal des Alten im Zeichen des Neuen, Wien 2000, S. 13. 6 Ebenda, S. 10. 5

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sich unablässig selbst zu überholen. Das Ornament als Stilmerkmal der Moderne und der Massengesellschaft — man denkt an Kracauers Analyse der Massenornamentik — trage diese Tendenz in sich und repräsentiere sie zugleich, da nämlich die Ornamentierung in eine Zeitskala stelle, was durch „künstlichen Formenverschleiß" einem dynamisierten Alterungsprozeß zufuhrbar ist.7 Der dekorative Antipode zum Ornament werde demnach die „Patina", die das Alte als konsumierbar und prestigieux erscheinen lasse, ohne sich ihm tatsächlich als Erbe, Herausforderung, Alternative oder auch nur Repräsentant der Geschichte gegenüber einem neuen Augenblick des Geschichte-Werdens zu stellen. Insofern verbirgt sich hinter der Dauererwartung des „Neuen" die Dauerkonjunktur der Gedächtnislosigkeit, die Flucht vor der Geschichte. Darauf hatten Kritiker etwa der bundesdeutschen Nachkriegslust an „abstrakter Kunst" schon stets hingewiesen. Diese erfüllte zwei Wünsche zugleich: „absolut modern" zu sein, wie Baudelaire schon die modischen Lüste seiner Zeitgenossen ironisierte, und vergessen zu können. Der Furcht vor Wiedergängern war nun in der Tat vielleicht nur so zunächst zu begegnen. Am Ende zeigte sich jedoch auch hier: die Konjunktur des Neuen mag zwar berauschen, aber das Alte erweist sich in den verschiedenen Metamorphosen der Geschichte als mächtig genug, das schöne Leben, in dem man sich soeben eingerichtet hatte, kräftig zu stören. N u n mag man darüber streiten, ob solche die Nachkrieggesellschaften des Westens und gewiß auch bald die Nachwendegesellschaften des ehemaligen Ostens einholenden Herausforderungen des Neuen durch das Alte sich selbst als Neues zunächst maskieren müssen, um wahrgenommen zu werden. Die wechselvollen Auftritte des Täter-Opfer-Diskurses Hand in Hand mit jeweils entsprechenden Bestseller-Chargen könnten eine solche Sicht durchaus bestätigen. Insofern ist Aleida Assmanns These, „das Interesse am Gedächtnis gehe . . . deutlich über die üblichen Konjunkturphasen wissenschaftlicher Mode-Themen hinaus" 8 nicht so ohne weiteres zuzustimmen. Denn wo ist hier die Grenze zu dem von ihr selbst zitierten Statement Italo Svevos, die Vergangenheit sei immer neu und verrate uns daher, wie das Leben fortschreitet?: „Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie die Mitglieder eines Orchesters". 9 Der Schub des Gedächtnisparadigmas mag sehr wohl als eine selbstreferentielle List der Geschichte erscheinen, eine ihrer Metamorphosen, die sie benötigt, um das Alte neu erscheinen zu lassen. Sehr viel näher kommen wir offenbar der

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F. Achleitner, Dieses Haus stammt aus dem 8. Jahrhundert, erbaut 1898, in: K. P. Liessmann, Die Furie des Verschwindens (Anm. 5), S. 99 ff. 8 A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2000, S. 16. 9 I. Svevo, Zeno Corsini, Hamburg 1959, S. 467.

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Achatz ν. Müller

Gewalt des Alten gegenüber dem Neuen, wenn wir mit R . Koselleck den Ablösungsprozeß des Gedächtnisses der Zeitzeugen durch die Geschichte der Rekonstrukteure als immanente Innovation jedweder Geschichte und Struktur kollektiver Erinnerung überhaupt begreifen. 10 Das Gedächtnis wird damit zur Kunstfigur entweder mit oder gegen die Geschichte. Entscheidend bleibt der historische Diskurs und seine Zerlegung in Geschichte und Gedächtnis. So besehen geschieht das (ewig) Neue der Geschichte am unmittelbarsten und deutlichsten dort, wo es sich mit dem kollektiven Gedächtnis berührt. Darauf beruht etwa die Beobachtung von M. Jeismann, wenn er mit Blick auf die neueren Gedächtnisübungen gegenüber dem Unheil des Dritten Reiches die Verschiebung vom Gedächtnis der aussterbenden Tätergeneration zum Prüfstein individueller Moral konstatiert: „Vielmehr wurde die Vergangenheit zu einer individuellen Gewissensprüfung: Wie hättest Du gehandelt? Das war eine Frage, die unmittelbar mit der Gegenwart zusammenhing, in der brennende Unterkünfte von Asylbewerbern nicht allein als eine Sache von Justiz und Polizei, sondern als staatliche Bewährungsprobe aufzufassen war." 11 Neu also ist nicht die Struktur des kollektiven Gedächtnisses, auch nicht das epistemologische Paradigma des Gedächtnisses, sondern die Verschiebung von Geschichte auf das Gedächtnis zu. Mehr denn je soll offenbar Geschichte erzieherisch und politisch diskursiv genutzt werden können. Aber dafür braucht die Geschichte ihren aktualistischen Zwilling: das Gedächtnis. Das (ewig) Neue der Geschichte camoufliert sich aus „volkspädagogischen" Gründen als Gedächtnis. Insofern tritt nach wie vor das Alte in Gestalt des Neuen an uns heran, benötigt dafür aber auch neue mediale Inszenierungen seiner selbst, um genügend Aufmerksamkeit zu wecken. Das durchaus berüchtigte „Kapital der Aufmerksamkeit" erscheint so allein noch als medialer Reflex, der die Gestalt des Neuen effektvoller in Szene zu setzen vermag. So genügt schon lange nicht mehr die vorsichtige Nachkriegserinnerung an die Leiden der Bombentoten, Ausgebombten oder Vertriebenen. N u n muß es das „Gedächtnis der Opfer" sein, das die deutsche Vergangenheit zu einem „globalen Lehrstück" werden läßt. 12 Die Bilder und Texte sind alt, jedoch die Inszenierung neu und aufregend. Wenn aber im Namen des Neuen alles zur Gegenwart wird, ist damit die Geschichte zu Ende? Zwei aufgeladene metaphorische Installationen W. Benjamins haben den Diskurs über das „Ende der Geschichte" immer wieder neu inspiriert: das Bild des in einem als Türken kostümierten Schachautomaten über-

10 R . Koselleck, Nachwort, in: Ch. Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt 1999, S. 117. 11 M. Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, Stuttgart - München 2001, S. 56. 12 Ebenda, S. 57.

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legen spielenden Zwerges und der noch berühmtere und vielleicht auch rätselhaftere „Engel der Geschichte". 13 Benjamin deutet die Turkenpuppe bekanntlich als historischen Materialismus, der mit dem Zwerg die Theologie in Dienst nimmt. Nur einer derart animierten wissenschaftlichen Konstruktion könne es gelingen, im Kampf um die Deutung der Geschichte zu obsiegen. Erst die Verbindung von unbedingter Ratio der Moderne und Eschatologie der Vormoderne vermag nach Benjamin durch die Geschichte hindurch Erkenntnisgewinn zu versprechen. Ist damit die Geschichte erledigt? Theologie — der „häßliche Zwerg" der Vergangenheit — und Vernunft — die seelenlos mechanische Puppe der Gegenwart — sind alleine offenbar unfähig, die Geschichte zu bewältigen: „Ich könnte mir ein Pendant zu dieser Apparatur in der Philosophie um so leichter vorstellen, als der Streit um den wahren Begriff der Geschichte wohl in Gestalt einer Partie zwischen zwei Partnern sich denken läßt. Gewinnen soll, wenn es nach mir geht, die Türkenpuppe, die bei den Philosophen Materialismus heißt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem Gegner aufnehmen, wenn die Dienste der Theologie ihr gesichert sind, die heute ohnehin klein und häßlich ist und sich nirgends blicken lassen darf." Ist damit Geschichte ganz und gar auf eine neue Durchdringung ihrer selbst eingestellt? Also alles zuvor bedeutungslos — oder besser: ohne Begriff? Die Antwort könnte Benjamins „Engel" liefern. Es geht bekanntlich um Paul Klees Bild „Angelus Novus", das Benjamin besaß und das ihm als Allegorie einer vom „Sturm des Fortschritts" zwanghaft in die Zukunft getriebenen Geschichte erschien, die eine katastrophische Kette von Trümmern hinter sich läßt. Geschichte wäre damit katastrophische Vergangenheit, fragmentarisch, sinnlos und zugleich „das Neue" der Zukunft, das nur unrealisierte Katastrophe zu sein scheint. Fortschritt also erweist sich als Illusion, ausgestattet mit realer und fürchterlicher Gewalt. Und was wäre die Aufgabe der erkenntnistheoretisch inspirierten Schachspielpuppe, die an die Nanoorganischen Biocomputer Ray Kurzweils erinnern könnte? Aber nur könnte. Denn Kurzweils Biocomputer werden sich — so seine Prognose — als Weltenherrscher gebärden, der eschatologische Zwerg im materialistischen Automaten jedoch ließe Geschichte prozeßanalytisch erfahrbar und durchdringbar erscheinen. Der „Engel der Geschichte" und der Zwerg im analytischen Apparat erweisen sich als überaus geglückte Metaphern des Dilemmas einer auf „Fortschritt" und das „Neue" zielenden Geschichtswahrnehmung: Geschichte als zukunftsoffenen Prozeß zu begreifen und zugleich fur analysierbar zu halten. Insofern gibt Benjamin bereits eine Antwort auf die posthistorische Absage an die Geschichte, bevor sich diese gänzlich artikulieren konnte: Dem vermeintlich hilflosen Ausgeliefertsein des Einzelnen an die überindividuelle konturlose Macht der katastrophischen Megamaschine des „Neuen", die im rasenden

13

W Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I 3, Frankfurt 1972, S. 1247f.

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„Fortschritt" vorwärtsstürmend Simulation und Realität, Einzelgeschick und Massenlos, Strukturzwang und Entscheidungsapathie verschwimmen läßt, sei eben doch mit an der Geschichte geschulter beseelter analytisch-rationaler Kompetenz beizukommen. Dabei ist die von Benjamin apastrophierte Verbindung von „historischem Materialismus" und einer „Theologie des Eingedenkens", die Puppe und Zwerg „unschlagbar" machen, durchaus als klassisches analytisches Instrumentarium zu denken, das Geschichte und Gegenwart aufeinander zu beziehen und dem rasenden Fortschritt ins „Neue" zu begegnen weiß. 14 Doch ursprünglich war der Diskurs des Neuen frei von aller Fortschrittseuphorie. Denn wie zu Beginn erwähnt: Das Alte war erprobt. Dennoch war das Neue nicht undenkbar, mußte mit dem Alten konkurrieren, sich an ihm messen, mit ihm verbinden oder es als Altes verkleidet verdrängen. Die Kategorie „Reform" hielt schon in der antiken Ethik und Politik alle Spielarten dieser Art bereit und enthielt dennoch nur eine einzige wesentliche Konnotation: Die Rückkehr zum guten oder besseren Alten. 15 Dem Neuen galt kein unmittelbares Vertrauen: „Te innovasti" - „Du hast dich dem Neuen hingegeben und vom guten Alten abgekehrt". Mit dieser aus Cicero bezogenen Formel hat schon die Patristik und schließlich die Kirche selbst das alt- und neurömische Mißtrauen gegen das Neue übernommen. 16 Trotz, oder Augustin legt nahe: wegen des Mißtrauens der römischen Traditionalisten, wie es im Streit um den Victoria-Atar als Kampf des Alten gegen das Neue noch einmal vehement zum Ausdruck gekommen war. Vor allem aber war das Christentum im Kern eine Religion des „neuen Menschen", der Erneuerung an sich, gewesen und wollte und will es über alle Zeiten hinweg immer sein. Durch den Tod Christi, so die Paulinische Theologie, war nicht nur der Christus nachfolgende und dieses durch die Taufe bekennende Mensch ein „neues Geschöpf", sondern alles neu, denn „alle Dinge sind nun abgelegt. Haltet daran fest, dass alles neu erschaffen

14 Zur Begegnung Benjamins mit der Posthistoire avant la lettre vgl. grundlegend L. Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989, S. 121 ff. 15 Zur normativen Bedeutung des „Alten" vgl. J. Mietke, Reform, Reformation, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp. 5 4 3 - 5 5 0 ; E. Wolgast, Reform, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 4, 1984, S. 3 1 3 - 3 6 0 . Unverzichtbar: G. B. Ladner, The Idea o f Reform. Its Impact on Christian Thought and Action in the Age o f the Fathers, New York 1967. 16 Vgl. die Nachweise Ladners, Reform (Anm. 15), S. 44, 139, 411. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, daß in der in den Codices überlieferten berühmten Stelle bei Cicero (Oratio in L. Pisonem, 36,89) von der neueren Philologie renovasti statt innovasti emendiert wird: A. C. Clark, M. Tulli Ciceronis Orationes IV, Oxford 1909 (14. Aufl. 1990), S. 296. So übersetzt auch sinngemäß M. Fuhrmann „wie hast du dich wieder . . . ergeben": Cicero, Sämtliche Reden VI, Zürich — München 1980, S. 195. (Diesen Hinweis verdanke ich J. von Ungern-Sternberg).

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ist" (2.Kor.,5,15,17). 17 Aber die Augustinische Versöhnung mit R o m hatte die Kirche rasch zu bewährten römischen Mustern greifen lassen. Dem berühmten Paradoxon Papst Stephans I. war es sogar noch vor Augustin als prägender Formel gelungen, das Alte zum Maßstab des Neuen werden zu lassen: Nihil innovetur nisi quod traditum «f. 1 8 Aber tatsächlich vermochte es erst Augustin, das römische dem „Alten" zugewandte Reformkonzept mit der christlichen Orientierung auf das „Neue" zu verbinden. Reform blieb für ihn die ständige Aufgabe von R e i c h und Kirche. Erneuerung — innovatio — hingegen sei nicht weniger hartnäckig den einzelnen Gläubigen zur Pflicht zu machen. Damit begründete der Augustinismus die überaus folgenreiche Trennung von Person und Kirche als Differenz zwischen Tradition und Innovation. 19 In dieser „Falte" sollten sich noch viele verfangen. Für unseren Zusammenhang verbleibt das „Neue" damit der äußeren Geschichtsreflexion entzogen, nicht weniger den Normierungsprozessen von R e ligion und Gesellschaft. Strukturell aber mochte und konnte es fortan als Ausdruck persönlicher Frömmigkeit erscheinen und entsprechende Häresieverdächtigungen auf sich ziehen. Eine solche Konstellation ergab sich paradigmatisch in der Auseinandersetzung zwischen Bernhard von Clairvaux und Abaelard in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Für Abaelard war der dogmatisch gesicherte Glaube der Kirche an die Tradition gebunden. Immer wieder spricht er in seinen Briefen, aber auch im berühmten „Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen" von der consuetude fidei, die der Kirche zur Aufgabe gemacht worden sei. Hingegen jedoch sei die humana intelligentia, die erkenntnissuchende Vernunft, auf „das Neue" orientiert. Es sei jedoch nicht klug, in diesem Gegensatz zu verharren. Vielmehr müsse die inquisitio veritatis, die Wahrheitssuche, die Einsicht über die Glaubensinhalte stärken. Wahrheit bietet sich hier als Schnittstelle zwischen Vernunft und Glauben an und enthält damit alle Möglichkeiten des Neuen. Umso mehr, als sie notwendig nur der Einsicht einzelner zugänglich bleibt. 20 Damit forderte der Pariser Professor indirekt die Amtskirche, direkt jedoch Bernhard von Clairvaux heraus, der ebenso deutlich soeben für die Orientierung an der unumstößlichen Tradition des Glaubens eingetreten war. Bernhard, der zweifellos zu den bedeutenden Theoretikern der Autorität kirchlicher Tradition zählte, aber auch die Selbstreferentialität des Glaubens gegenüber den modischen Rationalisten zu verteidigen wußte, ging sofort zum Angriff über: „Da haben wir in Frankreich einen neuen Theologen, der sich aus einem Lehrer der alten

K. Pruemm S.J., Christentum als Neuheitserlebnis, Freiburg 1933. Cyprian, Epistola LXXXIV, in: Ders., Epistolae, CSEL III 1, S. 799. 19 Vgl. Ladner, Reform (Anm. 15), S. 153ff. 20 Peter Abaelard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, hrsg. v. H.-W. Krantz, Frankfurt 1995, S. 16-27. 17

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Schule entwickelt hat. Längst verurteilte Lehren versucht er zu neuem Leben zu erwecken und fugt noch weitere neue hinzu . . . Während er bereit ist, in allem die Vernunft walten zu lassen, nimmt er sich nun Behauptungen heraus, die j e n seits der Vernunft und gegen alle Vernunft sind, aber vor allem auch gegen allen Glauben. Denn was könnte mehr gegen die Vernunft sein als zu versuchen, mit Vernunft die Vernunft zu übersteigen . . . Wer würde nicht zurückschrecken vor seinen gottlosen Neuheiten . . . vor ihm, der immer nach Neuheiten sucht und erfindet, was er nicht findet."21 Man sieht - nicht weniger als Abaelard als R a tionalisten in Glaubenssachen zu diffamieren, ging es dem Kreuzzugsprediger und „honigsuchenden Lehrer" Bernhard auch u m Abaelard als Neuerer. Mit dem augustinischen Muster der Privatisierung des „nach innen neuen M e n schen" in der Tradition der Kirche war dieser Konflikt nicht zu lösen. U n d dennoch resultierte er aus der strukturellen Disposition des augustinischen Kirchenbegriffs, der Tradition nach außen und Innovation nach innen gestellt, aber keinen Diskurs zwischen beiden begründet hatte. In gewisser Weise versucht ein Zeitgenosse der beiden u m das Alte und N e u e miteinander verhakelten Theologen einen solchen diskursiven Kompromiß zu finden: Abt Suger von St.Denis. Dieser gelehrte und kunstsinnige Hüter der königlichen Grablege Frankreichs Heß anläßlich seiner Renovierungsarbeiten in der Klosterkirche der königlichen Abtei eine Gedächtnisstrophe anfertigen, die das „ N e u e " als Medium des „Alten" feiert: Pars nova posterior dum iungitur anteriori /... / Et quod peifundit lux nova, claret opus / Nobile.. ,22 Die Metapher der lux nova ist dabei zwar symptomatisch für Suger, aber nicht ohne Risiko. D e n n hier war durchaus Christologie im Spiel, die zwar gewiß auch die Metapher legitimieren sollte, aber in den Ohren eines Bernhard von Clairvaux blasphemisch klingen konnte. „ N e u " - das erweist sich in der Abaelard-Bernhard-Kontroverse - konnten m e thodische und ästhetische Lösungen eben jener „persönlichen" Glaubensfragen sein, die noch nicht im Schoß der Kirche Tradition geworden waren. Daß am Ende nicht nur über Kirchenbau und Kirchenschmuck oder den Aufstieg der Universität innere Öffnung für das Neue in äußere Versuchung durch das N e u e umschlagen, sondern weit darüber hinausfuhren konnte, zeigt Dantes Weg zu seiner eigenen „Vita Nuova". In dieser poetisch-allegorischen Schrift feiert er seine eigene Lyrik als Teil des „dolce stil nuovo" und erklärt zugleich einer Gruppe von Damen, die ihn spöttisch nach dem Ziel seiner unerfüllten Liebe zu Beatrice fragen, er habe allein das Ziel, seine Liebe lyrisch zu sublimie-

21 Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke 3, hrsg. v. G. Winkler, Linz 1992, S. 75 ff. 22 Abt Suger von St.Denis, Ausgewählte Schriften: Ordinatio, De consecratione, De administratione, hrsg. v. P. Speer - G. Binding, Darmstadt 2000, S. 326 (= De administratione, 180 f.).

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ren. Das eigene Kunstwerk wird zum Zeugen des verwandelten Künstlers. Schweigen wir hier darüber, was Dante damit für die Konstituierung der Ästhetik leistet, fragen wir nur nach der Funktion des „Neuen" in diesem Kontext. Die ganz nach innen verlegte Innovation durch ästhetisch sublimierte Erotik erscheint auf den ersten Blick wie eine säkularisierte Fassung des individualisierten Augustinismus. Die „Innovation" durch Christus ist nun zur Innovation durch Beatrice geworden. — Das ist gewiß nicht falsch. Aber es enthält nicht alles. Denn Dante deckt das von Benjamin beschriebene Problem des fortschreitend Neuen sofort auf: „Und eine der Damen fragte mich: ,Wenn du Recht hast, müßtest du die Verse über deinen Zustand in ganz anderer Absicht geschrieben haben'... Und ich begriff, daß ich meine Verse nicht nur an eine Frau, sondern an mehrere, aber nicht nur an mehrere, sondern an alle, die edel sind, richten müßte." 2 3 Damit stößt Dante zur Einhegung eben jener spezifischen Gefahr vor, die das „Neue" bereit hält: sich im Reiz der äußeren Welt zu verlieren. Petrarca wird wenig später auf dem Mont Ventoux eine ähnliche Entdeckung machen. 24 Sie fuhrt ihn vom Anblick der für einen Menschen seiner Zeit ungeheuren Weite und Gewalt der Landschaft und über das Medium der „Confessiones" des Augustin mit diesem zurück in die Betrachtung seines eigenen Inneren: „Hätte ich doch schon zuvor, schon von den Philosophen der Heiden, lernen müssen, dass nichts bewundernswerter ist als die Seele. Neben ihr ist nichts groß." 25 Die Entdeckung des Neuen in den unbekannten Kontinenten der Seele und der Stürme, die auf solchen Entdeckungsreisen zu gewärtigen sind, leitet eine ganze Epoche und Literaturgattung ein. Auch ihr wird dieses Neue reizvoll und gefährlich erscheinen. Das Schlagwort dieser Gefahr wird „Melancholie" sein. 26 Von Marsilio Ficino bis Robert Burton wird aber diese Literatur vor allem eines als selbstver-

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Dante Alighieri, Vita Nuova, Köln - Graz 1957, S. 53ff. (Cap. X V I I - X X ) . Vgl. R. Groh — D. Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt 1991; K. Stierle, Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, München - Wien 2003, S. 318ff. Das Neue an der Mont VentouxSzene als „Uberschreiten einer mittelalterlichen Matrix" und damit Voraussetzung einer erneuerten Parnaß-Besteigung durch die Dichterkrönung auf dem Kapitol sieht D. Mertens, Mont Ventoux, Möns Alvernae, Kapitol und Parnaß. Zur Interpretation von Petrarcas Brief Fam.IV,l „De curiis propriis", in: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt, hrsg. v. A. Bihrer u. E. Stein, München - Leipzig 2004, S. 713 ff. 25 F. Petrarca, Epistolae Famiiiares, ed. V. Rossi, Florenz 1933, S. 159 (= Farn. IV 1). 26 R . Klibansky - E. Panofsky - F. Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt 1990; P.-K. Schuster, Zur Wirkung von Dürers „Melancolía I", Frankfurt 1995; W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt 1998; M. Calvesi, La Melancolía di Albrecht Dürer, Torino 1993. 24

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Achatz v. Müller

ständlich voraussetzen: das „Neue" birgt die Gefahr und die Rettung. Seine Verlockungen wirken dabei beschleunigend. Und eben jene metaphorischen Dynamisierungsmotive, die bereits im Hochmittelalter diesen Prozeß vorwegnahmen — Kunst und Wissenschaft — werden allein noch über „Innovation" kategorial funktionieren — auch wenn diese in der ästhetischen Theorie des Quattrocento als inventio durchgehen muß. Damit aber ist die Selbstreferentialität des „Neuen" endgültig begründet. Allenfalls wird noch zu streiten sein, ob die „Neu-Zeit" auf Fortschritt gründet, als Säkularisierung von Heilsgeschichte zu betrachten ist, oder als „Telosschwund" und damit etwas wirklich Neues, Diskontinuität, bewirkt. 27 Zugleich bleibt hintergründig aber das Bewußtsein bestehen, daß „das Neue" eine unmögliche Kategorie ist. Ontologisch und logisch kann das Neue — so weiß man — nicht bestehen. Schon Aristoteles hatte gezeigt, daß die dreiwertige Logik in dem berühmten Rätsel von den zwei Brüdern, deren einer stets die Wahrheit sagt, der andere stets lügt, auf eine wörtlich identische Frage zum Herausrücken der Wahrheit herausläuft: „Was würde dein Bruder sagen" oder „was würdest du morgen sagen". Nach dem Satz des ausgeschlossenen Dritten kann somit das Neue nicht mit dem temporal Zukünftigen identisch sein. Womit aber dann, da es doch ist, weil es alles ist, was (noch) nicht ist?28 Man wird — so N. Luhmann — den Platz für das Neue erst finden, wenn Ursprung und Ende nicht heilsgeschichtlich zugleich präsent sind. Dann aber trete „das Neue" mit aller Macht und Verführung auf, um diesen Fortfall zu kompensieren. 29 Und somit trete das „Neue" jeweils dann mit besonderer Berückung in Erscheinung, wenn es tatsächlich um die Auflösung von Zeitstruktur, -bedeutung und -funktion geht. Das Kolloquium über die „Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance" hat zwei dem „Neuen" durchaus problematisch zugewandte Epochen zum Thema gemacht. Dabei ging es vor allem auch darum, die in diesen beiden Epochen spezifisch positionierten Haltungen gegenüber dem Neuen auch als Brechung des „Alten" zu hinterfragen. Das „Neue" sollte dabei als Konstrukt begriffen werden, das sich zeigen, sich verbergen, verkleiden und mit sich selbst identisch geben kann. Dabei ging es und geht es somit auch in diesem Band nicht darum, neue Strukturen, Prozesse, Haltungen, Wertungen, Ästhetiken und

27 H.-D. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt - Berlin - Wien 1980, S. 159 ff. Als Konkurrenz- und Differenzsyndrom vgl. S.Wiedenhöfer, Das Alte und das Neue. Tradition zwischen H u manismus und Reformation, in: Beitr. zur ersten Verleihung des Melanchthonpreises, hrsg. v. St.Rhein, Sigmaringen 1988, S. 35 ff. 28 G. Günther, Die historische Kategorie des Neuen, in: Ders., Beiträge zur Grundlegung der operationsfähigen Dialektik 3, Hamburg 1980, S. 183ff. 29 N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1998, S. 323 f.

Die Wahrnehmung des Neuen

XVII

kulturelle Konfigurationen auszumachen. Es ging also weder um „Modernisierung" noch um den Zivilisationsprozeß, sondern um Wahrnehmung, Bewertung und Perzeption des Neuen. Es geht mit anderen Worten um die Pluralität des phänomenologisch Neuen im Wahrnehmungshorizont von Gesellschaften. Mögliche Berührungen mit der Krisenforschung bieten sich hier an und sind auch thematisiert. Wesentlich schien es den Herausgebern, dass dabei unterschiedliche Wissenschaftsfelder zur Sprache kamen. Kunst, Philosophie, Philologien und Geschichte bilden somit nicht nur die immer noch bedeutsamen Möglichkeiten interdisziplinär vernetzter Wissenschaft ab, sondern Hefern vor allem mit eigenen methodischen Mitteln zu einem thematisch mehrere „Schnittstellen" bietenden Themenkreis einen Beitrag zur Wahrnehmungsgeschichte und historischen Habitusforschung. Der epochale Vergleich bietet darüber hinaus die reizvolle Möglichkeit, mit „Antike" und „Renaissance" eben jene Epochen miteinander zu vernetzen, die strukturell und geschichtlich ein ausgeprägtes gegenseitiges Projektionsverhältnis besitzen. Der besondere Wert dieses Bandes liegt neben solchen epistemologischen Reizen in so mancher Parallelerscheinung, den keineswegs eindeutigen Dispositionen zwischen „Neu" und „Alt", die häufig sogar nur als gegenseitige Brechungen in Erscheinung treten, vor allem in der Möglichkeit, die Differenz zwischen den beiden Kategorien sowohl als geschichtliches Strukturierungsprinzip auszumachen wie auch ein historisch-anthropologisches Kategorienmotiv (wieder) zu entdecken, das gesellschaftliche Selbstverortung mit historischer Projektion verbindet. Insofern enthalten „Alt" und „Neu" Zuschreibungsgesten, die längst als Konstanten der Moderne feststehen und zugleich im Gegensatz zu den durchaus verwandten Epochenbezeichnungen unablässige Verschiebungen, Neubewertungen und Beunruhigungen in sich bergen. Es sind diese Art Kategorien, die Benjamins Schachspielpuppe am ernsthaftesten herausfordern. Denn sie enthalten die Versuchung, mit Hilfe geschichtlicher Simulation der Geschichte zu entkommen.

Teilnehmer und 1. Referenten und

Teilnehmerinnen

Referentinnen

Dr. des. Annemarie Ambühl, Universität Basel, Seminar flir Klassische Philologie, Nadelberg 6, 4051 Basel Prof. Dr. Emil Angehrn, Universität Basel, Philosophisches Seminar, Nadelberg 6/8, 4051 Basel Prof. Dr. Anton Bierl, Universität Basel, Seminar fiir Klassische Philologie, Nadelberg 6, 4051 Basel Prof. Dr. Susanna Burghartz, Universität Basel, Historisches Seminar, Hirschgässlein 21, 4051 Basel Prof. Dr. Achatz von Müller, Universität Basel, Historisches Seminar, Hirschgässlein 21, 4051 Basel PD Dr. Ulrich Meyer, Universität Bielefeld, Institut flir Geschichte, Vormbaumstr. 24, 33604 Bielefeld Prof. Dr. Dietmar Peil, Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstr. 3 RG 80799 München Prof. Dr. Bernd Roeck, Universität Zürich, Historisches Seminar, Karl-SchmidStr. 4, 8006 Zürich Prof. Dr. Enno Rudolph, Hainsbachweg 8, 69120 Heidelberg Dr. Alfred Schmid, Universität Basel, Seminar fur Alte Geschichte, Heuberg 12, 4051 Basel Prof. Dr. Andreas Tonnesmann, Universität Zürich, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, ΕΤΗ Hönggerberg 8093 Zürich Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen von Ungern-Sternberg, Universität Basel, Seminar für Alte Geschichte, Heuberg 12, 4051 Basel Prof. Dr. Christine Walde, Universität Basel, Seminar für Klassische Philologie, Nadelberg 6, 4051 Basel

XX 2. Collegium

Rauricum

Prof. Dr. phil. Peter Blome, a. o. Prof, fur Klassische Archäologie, Direktor des Antikenmuseums und der Sammlung Ludwig, St. Alban-Graben 5, 4051 Basel Prof. Dr. phil. Joachim Latacz, o. Prof. fiir Griechische Philologie, Universität Basel, Seminar fiir Klassische Philologie, Nadelberg 6, 4051 Basel Dr. phil. Hansjörg Reinau, Universitätslektor in Klassischer Philologie, Universität Basel, Seminar fiir Klassische Philologie, Nadelberg 6, 4051 Basel Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Jürgen von Ungern-Sternberg, o. Prof. fiir Alte Geschichte, Universität Basel, Seminar fiir Alte Geschichte, Heuberg 12, 4051 Basel

3. Gäste

Antoinette Frey-Clavel, Rebenstraße 48, 4125 Riehen Robert Ehinger Krehl, Frey-Clavel Stiftung, Aeschenvorstadt 15, 4051 Basel Regierungsrat Peter Schmid, Vorsteher der Erziehungs- und Kulturdirektion des Kantons Basel-Landschaft, Präsident der Römer-Stiftung Dr. R e n é Clavel, 4410 Liestal Dr. phil. Elisabeth Schuhmann, K. G. Saur Verlag GmbH, Redaktionsleitung Altertumswissenschaft, Luppenstr. lb, 04177 Leipzig Prof. Dr. iur. Dr. h. c. Kurt Seelmann, Juristische Fakultät, Universität Basel, Mitglied des Direktoriums der „Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen", Maiengasse 51, 4056 Basel

Inhaltsverzeichnis Achatz v. Müller/Jürgen v. Ungern-Sternberg Vorwort Achatz v. Müller, Einleitung

V VII

Anton Bierl Alt und Neu bei Aristophanes (unter besonderer Berücksichtigung der Wolken)

1

Annemarie Ambühl Literarische Innovation als Verjüngung der Tradition: Kallimachos und die alexandrinische Dichtung Christine Walde Nach der Katastrophe: Zum Verhältnis von Erinnerung und Innovation in Vergils Aeneis

41

Achatz v. Müller/Jürgen v. Ungern-Sternberg Das Alte als Maske des Neuen: Augustus und Cosimo de'Medici

67

Alfred Schmid Epoche als Ritual: Anmerkungen zu den augusteischen Säkularspielen . . . .

90

Enno Rudolph Die Renaissance — Innovatio oder Renovatio?

104

25

Bernd Roeck Uberleben in der Risikogesellschaft: Formen der Bewältigung des Wandels im „langen 16. Jahrhundert"

121

Dietmar Peil Das Neue ist das Alte: Antike Traditionen in den Emblembüchern des Joachim Camerarius

134

Andreas TÖnnesmann Das Neue im Alten: Innovation in Kunsttheorie und Kunstpraxis der R e naissance

167

Susanna Burghartz Alt, neu oder jung? Zur Einheit der .Neuen Welt'

182

Emil Angehrn Epilog

201

Tafelanhang

ANTON BIERL

Alt und Neu bei Aristophanes (unter besonderer Berücksichtigung der Wolken) 1. Einleitung Das Streben nach Neuem, der Ehrgeiz, Altes hinter sich zu lassen, ist in jeder Kultur ein wichtiges Faktum." Während das Neue in der Neuzeit schließlich zum Konstituens wurde, so daß man alle Änderungen stürmisch als Fortschritt preist,1 stand man in vielen Epochen dem Neuen eher skeptisch gegenüber, da es Althergebrachtes notwendigerweise entwertet. Gerade die Moderne zeichnet sich durch ein Hervorbringen von innovativen Wenden im geistigen und kulturellen Leben aus, wobei man aber meist übersieht, daß in dem Bestreben, das Revolutionäre und Noch-nicht-Dagewesene herauszustreichen, alles Vorausliegende undifferenziert zusammengezogen wird. 2 Alt und Neu befinden sich permanent in einer gegensätzlichen Spannung. Reformen werden durch die Einverleibung von Altem legitimiert und geadelt, so daß Neues oft als nichts anderes als das Alte in verändertem Gewände erscheint. Die Wirkweisen dieser Dialektik sind mannigfach. Gerade in der Kunst, Kultur und Literatur pflegt man die Fähigkeit zur Innovation schon seit jeher hervorzuheben. Selbst in der Antike, wo das Neue eher im Sinne von Unerhörtem und Umstürzlerischem pejorativ besetzt ist, wird der Anspruch auf Originalität auf dem Feld der Künste schon seit den Anfängen von allen betont. Jeder Dichter will sich gerade in einem Gattungskontext, der noch dazu wie im Falle des griechischen Dramas vom Agonalen bestimmt ist, von seinen Vorgängern und Rivalen absetzen sowie die generischen Grenzen spielerisch austesten. Denn nur deqenige, der Aufsehen erregt, hat eine Chance, den Wettkampf zu gewinnen.

* Der Aufsatz ist den zahlreichen Neuerern der Universität Basel gewidmet. Ich danke den Mitsymposiasten fur die kritischen Diskussionen und Anregungen, insbesondere dem Kollegen von Ungern-Sternberg für die vielen Ermunterungen. 1 Vgl. Meier 1980, 435-443. 2 Vgl. Schmitt 2002 und Moog-Grünewald 2002.

2

Anton Bierl

2. Neuheit und ihre Grenzen in der Alten Komödie Im Falle der Alten Komödie ist die Thematik des Alten und Neuen besonders relevant und sinntragend. Zum einen stellt auch Aristophanes, der einzige Verteter der Gattung, von dem wir nicht nur Fragmente, sondern elf vollständig erhaltene Komödien überliefert haben, immer wieder das Innovative seines Theaters heraus. Entgegen den häufigen Ankündigungen, auf den vulgären Humor der Volksposse zu verzichten, setzt Aristophanes just diesen immer wieder ein. 3 In der Pose des gebildeten Poeten distanziert er sich wiederholt von der volkstümlichen Farce, deren sich seine Rivalen bedienen, indem er öffentlich erklärt, vom άγοραΐον und φορτικόν, das heißt vom niedrigen Gauklerscherz der Lastenträger auf dem Marktplatz, Abstand zu nehmen und eine literarisch gehobene Komödie verfassen zu wollen. So wendet er sich beispielsweise in den Wespen (V. 56-66) mit folgender Erklärung an sein Publikum: Zu Großes dürft ihr nicht von uns erwarten, Doch auch nicht Spaß, aus Megara gestohlen: Es kommen keine Sklaven, die aus Körben Mit Nüssen werfen nach dem Publikum, Kein Herakles, den man ums Essen prellt; Euripides wird nicht erneut gerupft, Selbst Kleon, hat er auch geglänzt, von neuem Woll'n deshalb wir ihn nicht zu Brei verrühren. Wir bringen euch ein Lustspiel, das Verstand hat, Nicht eben mehr als ihr, doch mindestens Gescheiter ist's als manche plumpe Farce.

Doch holt der Dichter diese dummen Späße paradoxerweise gleich wieder zur Hintertür herein und integriert sie in sein komisches Spiel; offenbar braucht er die alten Zoten, um durch Lachen das Publikum einzubeziehen. 4 Dem Genre sind eindeutige rituell-pragmatische Grenzen gesetzt.5 Aristophanes befindet sich an der Schwelle von einer dominant mündlich geprägten zu einer weitgehend schriftlich bestimmten Kultur der Rezeption. Die Alte Komödie ist weniger substantielle Literatur als vielmehr in ihrer Funktion und ihrem Sitz im Leben zu verstehen. Die Theaterauffiihrungen sind bekanntlich in einen rituellen Rahmen zu Ehren des Gottes Dionysos eingebettet. In seinem Umfeld treten mit Vorliebe Verkehrungen und Verzerrungen des alltäglichen Horizonts auf. In einer oral geprägten Lebensform ist das Denken weitgehend durch den Mythos und das 3 Vgl. Ar. Nub. 537-562; Pax 739-751; Vesp. 57-66; Ran. 1 - 1 8 . Zu diesen Äußerungen gegen die vulgäre traditionelle Farce vgl. Halliwell 1991, 290. 4 Zur Farce vgl. MacDowell 1988 und Lowe 1988. Z u m Spielcharakter des komischen Tanzes vgl. Bierl 2001, 8 6 - 9 6 . 5 Vgl. zum folgenden Bierl 2002b.

Alt und Neu bei Aristophanes

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Ritual einer eng begrenzten Örtlichkeit, in unserem Fall Athen, definiert. Das aus rituellen Schwarmumzügen hervorgegangene Spiel, das die heitere Verkehrung aller Normen im Rückfall in eine vorzivilisatorische Stufe feiert, wurde erst relativ spät (487/86 v. Chr.) in die theatralen Agone der Polis integriert und ist in viel größerem Maße als die Tragödie Ritual geblieben. 6 Die Funktion der komischen Gattung besteht also darin, im komischen Sprung 7 zurück in atavistische Zeiten aus der nach unten pervertierten Perspektive des Anderen, Häßlichen und DerbObszönen eine komplementäre Sicht auf die aktuelle Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten zu ermöglichen. 8 Der als Ganzkörpermaske 9 agierende komische Held begibt sich dabei meist auf eine Reise in eine Anderwelt, die auf den realen Alltag und die Polis dialektisch bezogen bleibt. Aus diesem zeitlich und örtlich so ganz anderen Territorium bezieht er Kraft und Heilpotential. Dieses überträgt sich in der Identifikation auf das Publikum, das auf der Folie der heiteren Alterität gleichzeitig Angebote für die Identität erhält. 10 Die funktionelle Gattungsbestimmung impliziert ein relativ stabiles, festumgrenztes Gerüst, das stets auf andere Weise ausgefüllt wird. 11 Neu ist die Alte Komödie nie in dem Sinne, daß ihre Autoren vollkommen andere Wege gehen und in völliger Freiheit Handlungen erfinden. Sobald man die Grenzen mißachtet, geht sie ihrer generischen Funktion verlustig, was dann in der Neuen Komödie eines Menander in einer nun schriftlich dominierten Kultur geschieht. Eine Novität stellt also nur dar, wie ein Vertreter der alten Gattung den Vorgaben genügt. Das Andere kann auf Frauen, Tiere, Sklaven, Barbaren, ja sogar zeitgenössische Intellektuelle, Philosophen und tragische Dichter projiziert werden. 12 Unerwartet und originell ist vor allem die Maske, die Art und Ausstattung des Chores sowie die gesamte öffentliche Performance als opsis.

3. Das Neue und Originelle: Aristophanes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Gerade die Komödie braucht das Neue, das Unerwartete und Improvisierte des Einfalls für die Provokation des konstitutiven Lachens. 13 Die Selbstdarstellung 6

Vgl. Bierl 2001, 29 f. Vgl. Lohr 1986, 6 3 - 6 8 . 8 Zur Perspektive des Häßlichen vgl. Breiich 1975, 112. Zum funktionell-komplementären Verständnis der Komödie, die mit einem .Zurück zu den Anfängen' operiert, vgl. Münz 1998, 78, 101, 109, 118, 134-136, 151f. und 228f. 9 Vgl. Münz 1998, 109, 120, 132 und 275-279. 10 Zu diesen Ausführungen vgl. auch Bierl 2002a, 172f. 11 Zu diesem Absatz vgl. Bierl 2002b. Vgl. auch Grilli 2001. 12 Vgl. Bierl 2001, 96-104. 13 Vgl. Lohr 1986, 175: „Zur Aufiührungssituation der theatralischen Form ,Komödie' 7

4

Anton Bierl

des auf Originalität pochenden Dichters hat häufig in der Parabase ihren Ort: 1 4 Vgl. Ar. Nub. 547 καινάς ιδέας und 561 εύρήμασιν; Vesp. 1044 καινοτάτας ... διανοίας; Vesp. 1053 καινόν τι λέγειν κάξευρίσκειν; Pherecrates fr. 84 Κ.-Α. άνδρες, προσέχετε τον νουν/ έξευρήματι καινω,/ συμπτύκτοις άναπαίστοις; Metagenes fr. 15 Κ.-Α. κατ' έπεισόδιον μεταβάλλω τον λόγον, ώς αν/ καιναΐσι παροψίσι και πολλαΐς εύωχήσω τό θέατρον. Vgl. Xenarchus fr. 7, If. Κ.-Α. ούδέ εν/ καινόν γαρ εύρίσκουσιν; Antiphanes fr. 189, 17f. Κ.-Α. άλλα πάντα δει/ εύρεΐν, ονόματα καινά. Die Äußerung des Dichters stellt freilich nur eine Abwandlung oder Weiterentwicklung der Eigenwerbung seines Chores dar, der seine besondere Qualität im Komödienagon zur Schau stellt. 15 Das Insistieren auf Neuartigkeit hängt zum Teil mit dem Aufkommen einer dominanten Schriftkultur zusammen und wird dann für den Hellenismus typisch. 16 Doch besteht der Topos schon seit der archaischen Zeit: Vgl. Horn. Od. 1, 351f. την γάρ άοιδήν μάλλον έπικλείουσ' άνθρωποι,/ ή τις άϊόντεσσι νεωτάτη άμφιπέληται; Hesiod (fr. 357, 2 M.-W.) berichtet, wie er und Homer in Delos Lieder sangen: εν νεαροΐς υμνοις ράψαντες άοιδήν; Alcm. fr. 3-fr. 1, If. Davies Όλ]υμπιάδες περί με φρένας/ ίμέρφ νέα]ς άοιδας; Alcm. fr. 4-fr. 1, 5f. Davies γαρύματα μαλσακά [/ νεόχμ' έδειξαν; Alcm. fr. 14a Davies Μώσ' άγε, Μώσα λίγηα πολυμμελές/ αΐέν άοιδέ μέλος/ νεοχμόν άρχε παρσένοις άείδην; Terp. fr. 6 Loeb (= 4 Gostoli) (PMG, ρ. 363) σοι δ' ήμεϊς τετράγηρυν άποστέρξαντες άοιδάν/ έπτατόνφ φόρμιγγι νέους κελαδήσομεν υμνους; Pind. Nem. 8, 20f. πολλά γάρ πολλά λέλεκται, νεαρά δ' έξευρόντα δόμεν βασάνω/ ες έλεγχον, άπας κίνδυνος; Pind. Ol. 3, 4-6 Μοΐσα δ' ουτω gehört immer ein Moment unvorhergesehener Neuheit, mit dem sich die Schauspieler — für den Zuschauer meist nicht bemerkbar - den Raum der komischen Communitas schaffen; gerade auch in einem durchinszenierten Stück des modernen Repertoire-Theaters." 14 Vgl. auch Sifakis 1971, 39. Außerhalb der Parabase im Prolog: Ar. Pax 54f. ό δεσπότης μου μαίνεται καινόν τρόπον,/ ούχ ονπερ ύμεις, αλλ' ετερον καινόν πάνυ und andere Stellen ohne Bezug auf καινός bei Sifakis 1971, 39. 15 Zur Identifikation des Dichters mit dem Chorführer (so beispielsweise in Nub. 518-562, Pax 734-764) vgl. Dover 1972, 5 0 - 5 3 und Sifakis 1971, 52. Die Anapäste können ebenso häufig für die Selbstdarstellung des Chores wie für die des Dichters verwendet werden; vgl. Hubbard 1991, 20. Der komische Chor kann unterschiedliche Stimmen auf sich vereinigen; gerade in der Parabase kann das chorische ,Ich'/,Wir' historischautobiographisch (als Dichter), allgemein politisch (als Chor in seiner lebensweltlichen Funktion), performativ (als Chor in der Rolle oder Funktion) und dramatisch (als Chor in der fiktionalen Rolle) vor das Publikum treten; der komische Chor kann in mehreren dieser Stimmen gleichzeitig reden und zwischen diesen Sprechhaltungen frei schwanken. Vgl. dazu Bierl 2001. 16 Vgl. Bing 1988, 22 f. Zur Betonung der Neuheit in der hellenistischen Poesie vgl. Parsons 1993, 163-166 und den Beitrag von Ambühl (in diesem Band).

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πον παρέ-/ στα μοι νεοσίγαλον εύρόντι πρόπον/ Δωρίω φωνάν έναρμόξαι πεδίλφ/ άγλαόκωμον; Pind. Ol. 9, 48f. α'ίνει δε παλαιόν μεν οινον, άνθεα δ' ΰμνων/ νεωτέρων; Bacchyl. Dith. 19, 8-10 ϋφαινέ νυν εν/ ταΐς πολυηράτοις τι καινόν/ όλβίαις 'Αθήναις; Eur. Tro. 512f. Μούσα, καινών ύμνων/ ασον συν δακρύοις φδάν έπικήδειον. Nach Pindar und Aristophanes ist bei Timotheos, Kinesias und Pratinas 17 parallel zur totalen Verschriftlichung eine Radikalisierung in der Betonung des künstlerischen Selbstbewußtseins zu beobachten, die in die Praxis des Hellenismus mündet. Die Alexandriner fassen die Neuheit dann vor allem in Kategorien des Buches. 1 8 Aristophanes steht hier also am Ende des fünften Jahrhunderts v. Chr. deutlich an der Schwelle zu einer neuen Auffassung, wenngleich seine Verwendung des Anspruchs auf Originalität noch ganz im Okkasionellen aufgeht.

4. Das Neue im fünften Jahrhundert v. Chr. Während die griechische Gesellschaft bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts vergleichsweise stabil und neuerungsresistent war, kann man, wie insbesondere Christian Meier gezeigt hat, dann gerade in Athen, dem O r t der dramatischen Auffuhrungen im Dionysostheater, von einem ungeheueren Anwachsen von Fähigkeiten sprechen. 19 Eine nie gesehene Aufbruchsstimmung und Dynamisierung in allen Bereichen des Lebens, insbesondere in der Politik und der Kultur, sind auf einmal zu konstatieren. Die Athener galten schließlich als notorische Neuerer. 2 0 Das plötzlich empfundene „Könnens-Bewußtsein" revolutioniert das Dasein. Allerdings geschieht die Entdeckung des N e u e n immer in Abgrenzung vom Alten, so daß in dieser Epoche undifferenzierte Fehlurteile ihren Anfang

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Bei Timotheos fr. 796 PMG tritt dieses Motiv besonders deutlich hervor: ούκ

άείδω τά παλαιά,/ καινά γαρ άμά κρείσσω·/ νέος ό Ζευς βασιλεύει,/ τό πάλαι δ' ήν Κρόνος άρχων·/ άπίτω Μοΰσα παλαιά. Ebenso geschieht dies in seinen Persern, wo er (fr. 791, 211 f.) beschreibt, daß die Spartaner ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er „die ältere Muse mit neuen Hymnen entehre" (οτι παλαίοτέραν ν έ ο ι ς / υμνοις μοΰσαν άτιμώ). Vgl. auch das Pochen auf Originalität bei Pratinas fr. 710 PMG ού γάν αύ-

λακισμέναν/ άρών αλλ' άσκαφον ματεύων, und Kinesias bei Ar. Au. 1376 . . . νέαν (id est όδόν) έφέπων und ibid. 1384f. καινάς . . . άναβολάς. 18

Vgl. Meleagers Kranz, Anth. Pal. 4, 1, 55, der seine Gedichte ερνεα πολλά νεόγραφα nennt; ähnlich Philippos' Kranz, Anth. Pal. 4, 2, 3; Boiskos von Kyzikos, Suppl. Hell. 233, 1 καινού γραφεύς ποιήματος; Philiskos von Korkyra, Suppl. Hell. 677 καινογράφου συνθέσεως (beide Dichter stellen ihre metrischen Erneuerungen damit in den Vordergrund). 19 Vgl. Meier 1980, 435-499, bes. 469-499. 20 Vgl. Meier 1980, 447-450 und Manuwald 2000, 92 Anm. 60 (mit Belegen).

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nehmen. Die Zunahme von Wissen und die neuen Formen der Fragestellungen haben zur Folge, daß bei den Vertretern der Philosophie der Anspruch aufkommt, man lasse den Mythos radikal hinter sich und bewege sich auf den Logos zu. Diese Selbstaussagen wurden dann von der modernen Forschung als Geistesbewegung unter dem Motto „Vom Mythos zum Logos" zusammengefaßt. Erst seit kurzem sieht man, daß diese Vorstellung bei aller vermeintlichen Tragweite zu kurz greift und sich beide Konzepte auch in dieser Epoche gegenseitig bedingen. 22 Das heißt, Mythos und Ritual blieben trotz gegenteiliger Beteuerung weiterhin zentrale Diskurse der Polis.

5. Alt und Neu auf der Inhaltsebene des Aristophanes Aufgrund des festen Verlaufsschemas der Alten Komödie, nach dem der Held in eine atavistische Anderwelt fallt, um eine komplementäre Sicht auf die Gegenwart zu eröffnen, erscheint gerade die Opposition zwischen Alt und Neu, bzw. zwischen einem Einst und Jetzt, auch in der Anlage der komischen Plots besonders prominent. 23 Hinsichtlich der Verankerung im Mythos und Ritual kristallisiert sich hinter den einzelnen Stücken ein übergreifendes Strukturmuster heraus: die Alte Komödie verarbeitet in ganz betonter Art und Weise kultische Bestandteile von Ausnahmefesten. In ihnen setzt man die normale Ordnung für kurze Zeit außer Kraft, um dann mit frischem Elan und Optimismus zum gewohnten Kosmos zurückzukehren. Die Tempel der olympischen Götter werden geschlossen. Tabus, die sonst gelten, werden temporär gebrochen, bestehende Hierarchien auf den Kopf gestellt und die Menschen in eine mythische Phase des längst überwundenen Chaos versetzt, die von der Auseinandersetzung zwischen zwei Göttern oder ganzen Göttergenerationen geprägt ist. Schließlich wird die Welt in der Vergegenwärtigung der Schöpfungsgeschichte gleichsam wieder neu geschaffen. 24 Im offiziellen attischen Kult zeichnen sich besonders die dionysischen Anthesterien durch die beschriebene Charakteristik aus. Die Kronia, Haloa, Thesmophoria und die Skira sind ebensolche Übergangs- und Ausnahmefeste der verkehrten Ordnung. 2 5 21

Vgl. Nestle 1940. Vgl. Most 1999; vgl. auch Buxton 1999 u n d Bierl (in Vorbereitung). 23 Vgl. auch Silk 2000, 379, 383, 392 und 423 (zum Motiv „once but now"). 24 Vgl. Auffarth 1991 und Auffarth 1994, der auch die kulturelle Abhängigkeit dieses Modells vom Alten O r i e n t betont. 25 Z u m Ausnahmefest der Verkehrung der normalen O r d n u n g vgl. Versnel 1993, 89—135, 1 3 6 - 2 2 7 u n d 2 2 8 - 2 8 8 („Kronos and the Kronia", „Saturnus and the Saturnalia" u n d „ T h e R o m a n Festival for Bona Dea and the Greek Thesmophoria"). Richtungsweisend sind vor allem Burkert 1966 u n d Burkert 1972, 1 5 3 - 2 3 5 („Auflösung und N e u jahrsfest") und 236—273 („Anthesteria"). 22

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Auf der Inhaltsebene paßt in dieses Schema der immer wieder betonte Gegensatz zwischen Alt und Neu (Jung), der in fast allen Stücken eine hervorgehobene Rolle spielt. Die Pole von Alt und Neu lassen sich auf der rituellen R e f e renzebene auf den Kampf zwischen Göttergeschlechtern, bzw. auf die Antithese von einer fernen Vergangenheit vor der Zivilisation und der Jetztzeit beziehen. Auch die Verjüngung von Alten spielt wie im Falle des Demos in den Rittern und des Philokieon in den Wespen eine Rolle. Der Aufbruch in eine phantastische Handlung hat meist utopische Züge. Die Utopie zeichnet sich, ähnlich wie in den genannten Festen die Ubergangsperiode, durch eine extreme Ambivalenz zwischen einer Eu- und Dystopie aus. 26 Besonders deutlich ist in den Komödien das Fest der Anthesterien präsent. Explizite Anspielungen darauf kommen in den Acharnern (Bruch mit der öffentlichen Ordnung in einer Polis, Schaffung eines Privatraumes, der durch den Ritus der Ländlichen Dionysien geheiligt wird, zuletzt Feier der Choes [Ach. 959—1234]) und Vögeln vor (Verweise auf die χύτροι, Opferstreik, Zeus und die Olympier werden zum Abdanken gezwungen, Heilige Hochzeit mit der Basilinna) , 27 Die Grundstruktur findet sich ebenso im Plutos (Opferstreik, Absetzung des Zeus und Installation eines neuen utopischen Gottes, Prozession mit χύτροι) 2 8 und im Frieden (Rückzug der olympischen Götter und Installation [Hidrysis] der Eirene, Heilige Hochzeit). 29 Ein ähnliches Handlungsmuster offenbart sich auch in den Rittern (Sukzessionsmythos, Agon der alten mit einer neuen Ordnung, die den herkömmlichen Rahmen sprengt, Jungkochen des Demos und wundersame Rückkehr zum Alten), Wolken (Absetzung des Zeus, Auseinandersetzung zwischen alter und neuer Bildung und Religion), Wespen (der Konflikt zwischen Vater und Sohn entspricht dem Kampf von Alt mit Jung und wird zusätzlich mit Allusionen auf die Göttergenerationen untermalt) und in den Fröschen (der Agon zwischen dem alten Dichter Aischylos und dem neuen Dichter Euripides wird mit Anspielungen aus dem Kontext des Götterkampfs verstärkt; Dionysos steigt in seinem Heiligtum έν λίμναις [216f.; vgl. 2 0 9 - 2 1 9 ] in die Unterwelt und holt die alte, chaotische Macht Aischylos zurück auf die Erde). Solche Ausnahmefeste lassen sich gut auf dem Hintergrund der drei wichtigen Paradigmen der antiken Religionswissenschaft veranschaulichen. Dies sind namentlich die Initiation oder der rite de passage, das Neujahrsfest sowie die Vegetation und Fruchtbarkeit im Jahreszyklus. Nach Paten der séparation, mit Hilfe derer sich die Beteiligten einer Initiation symbolisch vom früheren Zustand 2 6 Zur Terminologie vgl. Auffarth 1991, 342 und Farioli 2001. Zur Utopie bei Aristophanes vgl. Schwinge 1977; Auger 1979; Zimmermann 1983; Farioli 2001. 27 Vgl. Craik 1987 und Auffarth 1994. 2 8 Vgl. Bierl 1994. 2 9 Vgl. Auffarth 1991, 546-549 und Bowie 1993, 1 4 6 - 1 5 0 .

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verabschieden, gelangen sie nach van Genneps Schema in eine transitorische Phase der Liminalität. 30 Gerade die Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenendasein, beispielsweise auch die attischen Epheben, durchleben dabei einen antinormativen Zustand des ,Betwixt and Between'. In diesem kollabieren für sie alle Kategorien, vor allem primordiale Wildheit und neue Zivilisationsformen, bevor zuletzt nach der mit rituellen Praktiken markierten Statusänderung die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erfolgt. 31 Auch im Neujahrsfest stehen sich das Alte und das Neue in einem krisenhaften Ubergang gegenüber, der ebenso wie das Pharmakosritual mit bäuerlichem Brauchtum und Vegetationskulten erklärt werden kann. 32 Die drei Paradigmen treffen im Polisdiskurs zusammen. Biologische, jahreszeitliche und .politische' Faktoren werden im athenischen Festkalender miteinander in eine analoge Beziehung gesetzt. Denn in den mythisch-rituellen Themen der biologischen Reifung und des Wechsels der Jahreszeiten gelingt es, den gerade für die Gesellschaft relevanten Ablauf vom Chaos zur Ordnung zu problematisieren. Dionysos, der Gott der Komödie, und die an seinen Festen virulenten Verkehrungstendenzen geben den gemeinsamen Nenner für die gattungsspezifischen Kennzeichen: 33 Verkehrte "Welt, Komödie und Dionysos Initiation Alt-Neu Leben

Erziehung

Agon

30

Tod Unterwelt

Obszönität Anti-Norm Wildheit Stehlen tierisches Verhalten Chortanz Satyrn Phallos Utopie

Neujahr

Bäuerliches Brauchtum

Alt-Neu

Alt-Neu

Jahreszyklus Polis

Absetzung der Götter

Vegetationszyklus Land Wein, Nahrung Saat und Ernte Phallos Augenblicksgötter

Chortanz Sklavenfreiheit Agon Goldenes Zeitalter

Rausch Chortanz Bauern Agon, Pharmakos Frieden

Vgl. van Gennep 1909. Z u m Initiationskontext des komischen Chores vgl. Bierl 2001. 32 Vgl. auch Cornford 1914, bes. 6 6 - 7 7 . 33 Vgl. Hofiman 1989; allgemein zu Dionysos als Gott der coincidentia oppositorum vgl. Bierl 1991, 1 3 - 2 0 . 31

Alt und Neu bei Aristophanes

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6. Alt und Neu am Beispiel der Wolken Das Alte wird bei Aristophanes stets idealisiert, das Neue hat meist negative Konnotationen. Dabei wird die ferne Vergangenheit politisch auf die Marathonzeit übertragen, die bereits utopische Züge erhält (vgl. auch Nub. 986). Die Opposition kann schließlich einfach auf Generationenkonflikte, die typische Vater-Sohn-Thematik, appliziert werden. Die tempi passati werden in der Alten Komödie grundsätzlich verklärt: dort herrschen ländlich-bäuerliche Werte und Sitten sowie die dionysischen Merkmale der Komödie von ,Wein, Weib und Gesang'. 34 Vor allem gibt es im alten Zustand Sittlichkeit und Frieden, während das moderne Polisleben von Krieg, Entartung und Dekadenz bestimmt ist. Allerdings wäre es völlig verfehlt, diese Charakterisierung als Botschaft des Autors mißzuverstehen. Die Alte Komödie ist weder Ausdruck eines konservativen Traditionalismus noch vertritt Aristophanes eine pazifistische Grundhaltung. Die Aristophanische Komödie stellt als Kunstprodukt im Rahmen der dionysischen Okkasion keine Fortsetzung des Diskurses der Polis dar, sondern sie steht quer zu ihr. In einer raum-zeitlichen E n klave der Ausnahme spiegelt sich die immer neu hergestellte Anderwelt in der aktuellen Welt Athens, ohne mit ihr identisch zu sein. 35 Beide Sphären beleuchten sich gegenseitig und stehen im Verhältnis der Komplementarität zueinander. Eine tatsächliche Innovation liegt bei Aristophanes darin, wie er das strukturelle Schema auf diverse Weise umsetzt. Er bleibt nicht nur bei traditionellen Formen mit Hilfe von Chören, die in der Verkörperung von Tieren, Sklaven, Frauen, Barbaren, Unterweltsbewohnern etc. das Ambiente der grotesken Alterität für den Stoff eines Spieles schaffen.36 Wirklich neu und genial ist die Übertragung auf kulturelle Fragestellungen. Wie oben geschildert, hat man im fünften Jahrhundert v. Chr. erstaunliche Innovationen auf dem Gebiet der Kultur, Dichtung, Wissenschaft, Philosophie und Rhetorik erzielt.37 Gerade die aufblühende Sophistik stellt das neue Paradigma schlechthin dar. Durch das Mittel der Rede kann man nach Protagoras „das schwächere Argument zum stärkeren machen". 38 Sokrates und seine Denkerei (Phrontisterion) werden in den Wolken mit sämtlichen geistigen Strömungen der Zeit vermengt. 39 Naturwissenschafdiche Spekulation und Theorie im Fahrwasser

Vgl. Bierl 2001, 345. Vgl. Riu 1999, 1 1 - 4 8 , insbesondere zum Traditionalismus ebd. 4 1 - 4 6 . 3 6 Vgl. Bierl 2001, 9 6 - 1 0 0 . 37 Zur Analyse von Alt und Neu in den Wolken vgl. auch Marianetti 1992, 7 - 4 0 . Vgl. Reckford 1991, 388—402, der die Schwellensituation der Wolken zwischen traditioneller und innovativ-origineller Komödie thematisiert. 38 Protagoras DK 80 Β 6b (Aristot. Rhet. 1402a 23 . . . τον ήττω . . . λόγον κρείττω ποιεΐν). 3 9 Vgl. MacDowell 1995, 1 1 3 - 1 4 9 als Einführung. 34 35

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der Vorsokratik, religiöse Betrachtung und das Aufkommen des Atheismus sowie die Sophistik werden mitsamt orphisch-pythagoreischen Vorstellungen auf die historische Figur des Sokrates in komischer Verzerrung projiziert. 40 Dieses phantastische Konstrukt Sokrates steht unter dem Schutz der Wolken, die den Chor bilden und die linguistische Semiose, also den permanenten Signifikationsvorgang, insbesondere die Umsetzung in sprachliche Zeichen, verkörpern. 41 Das geistig Neue scheint das Mythisch-Alte vollends zu verdrängen. Ein Paradigma wird in der historischen Schwellenzeit des Aristophanes von einem anderen abgelöst. Aus der komplementären Perspektive macht die Komödie anschaulich, wie beide Diskurse paradoxerweise miteinander verquickt sind, das Neue also auch vom Alten durchdrungen ist. Das Vorzeitige und das Aktuelle, das Einst und Jetzt sind auf komische Art, wie sich herausstellen wird, vollkommen verwirrt und verzerrt. Gleichzeitig bedingen sich das Mythisch-Archaische und das Wissenschaftlich-Topaktuelle gegenseitig. 42 Diese Konstellation ist bereits in den Figuren angelegt. Strepsiades ist der Vertreter der Komödie, Verkörperung des traditionellen Ländlich-Bäurischen und des einfachen Lebens. Aufgrund der Verschwendungssucht und Pferdeliebhaberei seines mit einer Aristokratin gezeugten Sohnes Pheidippides, der bereits im Namen die Hybridität von sparsamem Bauerndasein und luxuriösem, dem Statussymbol des Pferdes sich verschriebenem Adel trägt, hat er immense Schulden angehäuft. Derer will er sich als Wort-,Verdreher' und mit anderen Tricksereien endedigen. Seine komische Idee Hegt darin, den Sohn in die benachbarte Schule des Sokrates zu schicken, damit er dort die neue Kunst der eristischen Rhetorik erlernt, um die Gläubiger abzuschütteln. Pheidippides weigert sich freilich. Trotz seiner Jugend vertritt er zunächst die Position des auf der Zeusreligion fußenden Alten, der Dezenz, der Aristokratie, Sitte und Zucht, während der alte Vater schließlich aus seiner N o t selbst zum Neuen getrieben wird. Er begibt sich nämlich selbst in die Schule. Der Ubergang dorthin erweist sich als der notwendige komische Sturz in eine Anderwelt. Die Schüler treten als absurde, ausgezerrtbleiche Gestalten auf, die den sonst an Ausnahmefesten herumschwirrenden Totengeistern ähneln. Sie wie auch ihr Meister gehen völlig eigenartigen Beschäftigungen nach, wie zum Beispiel einer komisch-grotesken Geometrie und Astronomie sowie der Untersuchung der Dinge unter der Erde im Tartaros. Sie treiben eine basale Naturkunde und untersuchen dabei Fragen, wie weit etwa

40

Vgl. Marianetti 1992, 41-75, 108-132 und Patzer 1993. Z u m Sokratesbild vgl. auch Schmid 1948; Erbse 1954; Geizer 1956; Strauss 1966; Nussbaum 1980; Edmunds 1986; Edmunds 1987. 41 Vgl. Ambrosino 1983; zum Wolkenchor vgl. auch Segal 1969; Köhnken 1980; Gaertner 1999. 42 Vgl. Marianetti 1992, 7 - 4 0 .

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der Floh springt oder ob Schnaken durch das Mundstück oder den Bürzel singen. Die Lösungen entsprechen dabei der Logik der Gattung. Der Sukzessionsmythos von Uranos zu Kronos und von Kronos zu Zeus ist hier auf kunstvolle Weise mit dem allgemeinen Thema der verkehrten Welt verwoben. Im Hintergrund dieser Verkehrung der sinnstiftenden N o r m e n stehen im Festkalender verankerte Kulte, in denen kurzzeitig die bestehende O r d n u n g außer Kraft gesetzt wird. In Festen wie den Kronia, Skira oder den Anthesterien werden, wie erwähnt, dabei in gleicher Weise die Götter kurzfristig abgelöst und der drohende Untergang der Welt bzw. utopische Alternativen durchgespielt, u m schließlich zum Bestehenden als dem denkbar Besten zurückzukehren. Die Götter sind dementsprechend in den Wolken entmachtet und durch neue Gottheiten, die Wolken, das Chaos und den Wirbel sowie die Zunge (424), ersetzt. 43 Gleichzeitig finden sich auch hier wieder Züge einer Initiation. 44 Die verkehrte Welt 4 5 und die Initiation treffen sich in der Übergangsphase des rite de passage der Einweihung, in dem für den Initianden ebenso wie den Epheben alle Werte und N o r m e n auf den Kopf gestellt sind. Strepsiades unterzieht sich einer Initiation in die Schule des Sokrates, 46 während dieser die Rolle eines komischen D o k tors und diebischen Einweihungspriesters übernimmt. 4 7 Für ihn ist jemand wie Strepsiades, der noch an Zeus glaubt, ein „antediluvianischer Kauz, der nach Kronia riecht und ein märchengläubiges Mondkalb" (Κρονίων ο ζ ω ν καί βεκκ ε σ έ λ η ν ε Nub. 398), 48 also jemand, der nicht von dieser Welt ist, sondern in der grauen Vorzeit lebt. 43

Die .Dreifaltigkeit' ist genauso wenig stabil wie die Wolken; vgl. Nub. 264f. und

627. 44

Vgl. Bowie 1993, 102—112. Allerdings ist seine Anwendung des Paradigmas im Sinne einer Verkehrung problematisch. 45 Vgl. Kenner 1970; Versnel 1999; Farioli 2001. 46 Vgl. u. a. Dieterich 1893; Byl 1980; Marianetti 1992, 4 1 - 7 5 ; Marianetti 1993. 47 Vgl. Bowie 1993, 1 1 2 - 1 2 4 . Diebstahl (Nub. 1 7 5 - 1 7 9 , 497, 856, 1498) ist nicht nur Folge der Armut (so Patzer 1993, 86), sondern auch Zeichen des komischen N o r m bruchs. Vgl. auch Meynersen 1993. 48 Vgl. Dover 1968, 152 ad loc., der das Element βεκ in β ε κ κ ε σ έ λ η ν ε mit der berühmten Kaspar-Hauser-Geschichte bei Hdt. 2, 2 zusammenbringt. Psammetich ordnete ein Experiment an, um herauszufinden, welches Volk das älteste sei, Ägypten oder Phrygien. Das erste Wort der beiden von der Umwelt isolierten Kinder für Nahrung sei β έ κ ο ς gewesen, das phrygische Wort für ,Brot'. Im Wort wie in der Komödie ist also Uraltes mit Barbarischem vermengt. Z u m zweiten Element ,Mond' vgl. ebenfalls Dover 1968, 152 ad loc.; außerdem werden Sokrates und die Seinen als Leute gekennzeichnet, die den Sitz des Mondes auskundschaften (Nub. 1507). Z u m astronomischen Interesse vgl. auch Nub. 172. Schießlich kann man die Thematik des Neumonds und des alten Mondkalenders damit assoziieren. Kronos nennt man auch einen altfränkischen M e n schen; vgl. Nub. 929 und Vesp. 1480; vgl. auch Plut. 581. Zu Kronos und den Kronia vgl. Versnel 1993, 8 9 - 1 3 5 .

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Nachdem aber Strepsiades am sokratischen Unterricht gescheitert ist, versucht der Vater seinen Sohn erneut zu überreden, für ihn die Schule zu besuchen. Als er sich weigert, wirft ihm sein Vater „archaisches Denken" vor (Nub. 821). Das Vordergründige hat er sich zu Herzen genommen: Zeus ist gestürzt, also soll man nicht mehr bei ihm schwören (Nub. 814ff.). Dinos, der Wirbel, hat jetzt die Herrschaft inne, nachdem er Zeus verjagt hat (Nub. 828 in Aufnahme von 380ff.), wobei die sprachliche Form eine Neuschöpfung nach dem ebenfalls ,goetischen' Empedokles darstellt.49 Allein die Ausdrucksweise markiert auf treffliche Weise die Spannung von Alt und Neu. 5 0 In Pheidippides' Augen ist sein Vater verrückt geworden (Nub. 846). Die grammatikalische Belehrung erachtet der Sohn als groben Unfug. Er nennt Sokrates und die Seinen γηγηνεΐς (Nub. 853), das heißt Erdgeborene, die wie die grotesk-riesenhaften Giganten oder die Titanen den Zeushimmel stürzen wollen. Das Uralte bedroht in der Form des sokratisch-sophistischen Neuen offenbar die bestehende Ordnung. Ein ähnlicher Schlagabtausch zwischen Alt und Jung wird in der Auseinandersetzung zwischen dem Logos Dikaios und Adikos fortgesetzt, zwischen denen sich Pheidippides nun zu entscheiden hat. Der Logos Adikos, der behauptet, Dike existiere nicht, da Zeus wegen des Sturzes seines Vaters Kronos nicht belangt worden sei (Nub. 904f.), bringt als Vertreter der sophistischen Moderne und neumodischen Erkenntnisse (γνώμαι καιναί Nub. 896) das gegnerische Argument der Vergangenheit polemisch mit den archaischen Urgewalten in Verbindung: Dikaios sei τυφογέρων (Nub. 908), 5 1 αρχαίος (Nub. 915; vgl. 1357) und ein Kronos (Nub. 929, vgl. 1070). Der Konflikt zwischen Vergangenheit und Moderne wird ebenso mit dem Sukzessionsmythos assoziiert. So meint der Logos Dikaios, daß, wer ihm folge, nie seinen Vater Iapetos - so heißt der aufrührerische Bruder des Kronos — schelten oder ihn gar schlagen würde (Nub. 998f.). Umgekehrt herrschte zur Zeit des Kronos bekanntlich das Goldene Zeitalter. Daher ist der Preis der guten alten Zeit durch den Logos Dikaios ebenso mit den Zeichen der Kronosherrschaft kodiert. Die grundsätzliche Dialektik der Kronosepoche ist in den dissoi logoi der Sophistik aufgehoben, die Sokrates mit seiner Schule unter anderem auch verkörpert. Gerade der folgende Wortwechsel der beiden Logoi macht den Gegensatz zwischen der Vorzeit und einer dynamischen Aktualität deutlich (Nub. 9 8 4 - 9 8 6 ) :

49 Vgl. Willi 2003, 101-105 und 110. Zum empedokleischen Hintergrund des Sokrates ebd. 110-113. Zu Empedokles als goes vgl. Bierl (in Vorbereitung). 50 Zu den linguistischen Neuerungen vgl. Noël 1997 und Willi 2003, 96-156. 51 Auch die Vertreter des Neuen Dithyrambos singen von Typhon (Nub. 336).

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Ητ. Κρ.

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άρχαΐά γε και Δνπολιώδη καν τεττίγων άνάμεστα καί Κηκείδου καί Βουφονίων. άλλ' ούν ταϋτ' εστίν εκείνα έξ ών ανδρας Μαραθωνομάχος ήμή παίδευσις εθρεψεν.

Schwächerer L.: Altvätrisches Zeug, altfränkischer Brauch der Dipolieia, voll von Zikaden, verklungener Musik eines Keikeides und Buphonien! Stärkerer L.: Ja freilich! Doch war dies genau jene Zeit, wo erzogen durch mich das Heroengeschlecht der Marathonkämpfer heranwuchs. 52

Hier zeigt sich erneut, wie der Diskurs der Gerechtigkeit mit der Urzeit, mit den Kronia und anderen uralten Bräuchen und Riten verbunden ist,53 die für die Polis von enormer Wichtigkeit und längst nicht passé sind. Zum anderen wird deutlich, wie die Marathon-Epoche als Goldene Zeit utopische Züge annimmt. Schließlich kommt der Sohn aus der Schule und schlägt in einer Auseinandersetzung, welcher Dichter besser sei, der archaische Simonides und Aischylos oder der moderne Euripides, als neuer „Zeus" seinen Vater „Kronos" (vgl. Nub. 904f.). Pheidippides vermag dabei noch dazu in sophistischer Manier zu beweisen, daß es zu Recht geschieht (Nub. 1391-1477). Nach dem zweiten Agon ist Strepsiades also endgültig gescheitert. Er ist wieder der Alte und kehrt, wenn auch noch immer grotesk verzerrt, zur Zeusordnung und -religion zurück. Er befrägt Hermes und zerstört das Phrontisterion, indem er es mit einer Leiter besteigt und von oben in Brand setzt.54 Der Sohn Pheidippides ist dagegen ab seiner Initiation mit dem Unwesen des Neuen assoziiert. Eng mit dem Gegensatz von Alt und N e u ist in den Wolken die für die So-

phistik so entscheidende Opposition von Nomos und Physis verbunden und ko-

52

Das Fest namens Dipolieia oder Buphonia wurde zur Erinnerung an die erste Begründung des Ackerbaues gegen Ende Juni (14. Skirophorion) für Zeus Polieus mit besonders archaischen Riten gefeiert. Vgl. Burkert 1972, 153-161. 53 Vgl. Nub. 915 und 929. Die Zikaden galten selbst als Erdgeborene (γηγενείς [vgl. Nub. 853]) und Verwandte der Urmenschen; vgl. Nub. 984f. mit Scholien. Daher steckte man sich am Buphonienfest goldene Zikaden ins Haar, nachdem man an den Skira an die Erdgeburt des Erichthonios erinnert hatte. Zur Zikade als Tier und Symbol der Goldenen Zeit vgl. Baudy 1992, 20. Vgl. auch Nub. 1360. Offenbar verkleideten sich Epheben als Zikaden und stellten initiatorische Tierchöre dar. Zu den Skira und der Pyrrhiche vgl. Bierl 2001, 233—251, bes. 236-239. Daher wird der Waffentanz an den folgenden Panathenäen auch so sehr vom Logos Dikaios thematisiert; vgl. Nub. 961-989. 54 Auffarth 1999, 93—96 sieht das Ende als Wiederaufnahme der Initiationshandlung. Durch die Feuerfackel werde die richtige Erkenntnis des Strepsiades symbolisiert. Wahrscheinlich wird er eher zum komischen Stürmer des neuen Himmels.

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misch dekonstruiert. 55 Die überlieferte Konvention wird in der Sophistik bekanntlich durch das Naturrecht aufgebrochen, der alte Nomos also durch die Rhetorik, moderne Philosophie und atheistische Theoreme zerstört. Sokrates und seine Denkerei stehen hier eher auf der Seite der Physis, die von der Sophistik in den Vordergrund gerückt wird. Als Erklärung für die Phänomene der Realität wird bevorzugt die Natur hervorgehoben. Trotzdem geht es Sokrates und den Wolken darum, die Doppelbödigkeit der Welt und ihre Begründung sowohl auf Nomos als auch Physis aufzuzeigen. In der Unterweisung in Metrik, Rhythmik und Grammatik behandelt Sokrates die Konventionen der Sprache (Nub. 627—699).56 Der Logos entzweit das kohärente System, hinterfrägt es und macht die Unstimmigkeiten der Normen deutlich. Durch eine komische Analyse wird somit das Chaos hinter der Ordnung sichtbar. Mit Hilfe der Sprache finden also entsprechend vorsokratischen Vorstellungen Hybridität und Verwirrung erst Eingang in die Welt. Der Wolkenchor referiert in der ersten Parabase die Klage des Mondes über die Unordnung des Kalenders (Nub. 615—626) - durch die aus dem altattischen System resultierende Differenz der tatsächlichen mit den kalendarischen Neumonden verschoben sich auch die Feste — und bestätigt auf komische Weise die Verzerrung im Stück. Die Wolken sind wie die Komödie insgesamt polyvalent. Zum einen haben sie in der Perspektive der Physis ein tauiges, irdisches und urtümliches Wesen (Nub. 275—290, 298, 330—338), zum anderen werden sie als hochfliegend, von der irdischen Haftung enthoben und als Ernährer der hochtrabenden Dithyrambendichter und Sophisten (Nub. 331—334) beschrieben und gelten dadurch als Vertreter der Moderne. Ferner sind sie entweder einfach Gebilde aus Wasser, Dampf und Nebel, phantastische Luftschlösser oder göttliche Wesen. In beiden Parabasen weist der Wolkenchor auf seine zweischneidige Kraft hin: Die Wolken stehen einerseits im Dienst einer zivilisationsstiftenden Gesetzmäßigkeit der Natur, indem sie einen geregelten Ackerbau garantieren. Daher fordern sie in der Hauptparabase ihren Kult gemäß den konventionalisierten Riten der attischen Religion ein. Als höhere Instanz sind sie wie Zeus Teil des tradierten Kosmos. Sie verkörpern die gerechte Satzung der Dike, die ein Leben in der Pollsgemeinschaft ermöglicht. Die Wolken können andererseits als ungestüme Naturkräfte diese Ordnung ebenso zerstören, falls die Menschen nicht an die Götter glauben. Sie sind nämlich in der Lage, die Felder verdorren zu lassen und Unfruchtbarkeit zu bringen. Ferner verfugen sie über die Macht, die Häuser der Menschen durch Hagel zu verwüsten sowie die Verbindung von Frau und Mann durch Regen zu verhindern (Nub. 1115—1130). Schließlich können sie sich sogar

55 56

Vgl. Heinimann 1945, 131; Nussbaum 1980, 5 2 - 6 3 ; Hubbard 1991, 112. Vgl. Willi 2003, 9 8 - 1 0 0 .

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in die Politik der Polis einmischen, wie im Epirrhema der Parabase (Nub. 575—594) gezeigt wird. Die Wolken und Sokrates verfuhren Strepsiades auf den reinen Weg der Physis, obwohl die Notwendigkeit des Korrektivs durch den Nomos deutlich wird. Die neue, von Sokrates und den Wolken propagierte Religion basiert ausschließlich auf der Natur. Ich stelle die Zusammenhänge zunächst graphisch dar: Nomos Zeus trad. Theologie

Physis naturwiss. Forschung myth. Vorstadium Physiologie der Vorsokratiker sophistischer Atheismus Orphik, Hesiod neue Religion Chaos, Dinos, Aither etc.

Aristophanes' Komik Hegt also darin, den Physis-Begriff in zwei Bereiche aufzufächern. In der Abfolge von Nomos/herkömmlicher Theologie zu Physis/naturwissenschaftlich-sophistischem Atheismus wird einerseits ein zeitliches Kontinuum im Sinne eines Fortschritts von Alt zu Neu evoziert. Andererseits implizieren die mit der Physis verbundenen Begriffe auch ein zirkuläres Zurück in eine mythische Urzeit vor der Konsolidierung der Zeusherrschaft. Chaos ist das leere Urgähnen, aus dem sich nach Hesiods Theogonie (116ff.) der Kosmos entwickelte. Zuerst war Chaos, wenig später Gaia. Sie bilden den Anfang. Dann kommen Tartaros und Eros hinzu. Aus Chaos entstehen Erebos und Nyx. Nyx gebiert Aither; Gaia bringt Uranos, die Berge und Pontos hervor. Mit Uranos zeugt sie „Okeanos, den tiefen voller Wirbel" ( Ώ κ ε α ν ό ν βαθυδίνην Hes. Th. 133) und die Titanen, unter anderen Iapetos und Hyperion, zudem die Kyklopen, Brontes und Steropes zuerst, die Donner und Blitz für Zeus erschaffen. Uranos ist bekanntermaßen der Vater des Kronos. Aus der Vereinigung von Kronos mit Rhea entsteht Zeus. In dieser Vorzeit sind also das primäre Chaos (Nub. 424, 627) sowie Nebel, Wolken, Aither, Luft, Atem und Wirbel anzusetzen, die wiederholt als neue göttliche Instanzen angesprochen werden (Nub. 264f., 424, 627, 814). Göttergeschlechter lösen sich bekanntlich gewaltsam ab. Ich erinnere an die Titanenund Gigantenkämpfe. Der Glaube an die neuen Götter ist also in Wahrheit ein temporäres Zurück in eine bereits überwundene Entwicklungsstufe der Menschheit und des Kosmos. Er versteht sich also nicht als Atheismus, sondern als die wiedererwachte Verehrung der Urmächte der Natur, die im Laufe der Geschichte längst unter die neue Zeusreligion subsumiert worden waren. Die Natur ist voller Ambivalenz. Einerseits stellt sie eine urtümliche Gewalt dar, welche die Zivilisation sprengen kann, andererseits wird sie für die Entwicklung des Ackerbaus und jeglicher Kultur gebraucht. Daher steht sie ebenso unter der Herrschaft des Zeus. Die Wolken sind Teil der doppelschneidigen Physis, die im Nomos der Zeusherrschaft integriert und aufgehoben werden muß. Falls j e doch die Einbettung in den Nomos entfällt, bricht die Macht der Wolken und

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der Natur ungezügelt hervor und bedroht die Welt mit Chaos, verkehrter Welt und Untergang. Somit erklären sich sowohl die traditionellen Oden des Wolkenchors auf die olympischen Götter als auch seine sogenannte .Wende' am Ende. Die Wolken stehen nämlich in Wahrheit nicht in Opposition zu Zeus, sondern sie sind Teil seiner Herrschaft über den gesamten Kosmos. Daher ist Zeus als Wettergott im frühgriechischen Epos häufig mit dem Beiwort „Wolkensammler" (νεφεληγερέτα) verbunden. 57 Die Wolken führen Strepsiades an der Nase herum (Nub. 344ff.) und machen ihm zusammen mit ihrem Weihepriester Sokrates weis, daß es Zeus nicht mehr gibt. Strepsiades lernt in seiner Beschränktheit nicht die dissoi logoi, sondern die komplexe Lehre wird ausschließlich auf das Prellen, Betrügen und Uberlisten reduziert. Die Komik liegt darin, daß der bäurische .Naturmensch' Strepsiades ausschließlich die Argumente der Natur rezipiert. Als er von Sokrates gefragt wird, wie er sich der Gläubiger entledigen könnte, rezitiert er nur ein komisches Konzentrat der eben erlernten Naturphilosophie. Er schlägt ein Einsperren des Mondes, ein Einschmelzen der Wachsanklageschrift durch Feuer aus dem Brennglas oder die Ausflucht durch Selbstmord vor (Nub. 749—782). Schließlich vertreibt er die Schuldeneintreiber mit einer komischen Wiederaufnahme der somatischen Argumente und mit Brachialgewalt (Nub. 1214-1302). Seine Begründung auf dem natürlichen Recht des Stärkeren bedroht allerdings das Zusammenleben der Bürger unter den festen Regeln der Dike. Pheidippides wird erst im Laufe der Handlung zum Instrument der Wolken. Durch sein Eingreifen wird die Hierarchie zwischen Alt und Jung, Vater und Sohn außer Kraft gesetzt. Strepsiades' Strafe besteht darin, von seinem Sohn konsequent den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Er schlägt ihn, wie Strepsiades die Gläubiger schlug. Als dieser mit der Vergeltung des Zeus droht, entgegnet ihm Pheidippides mit den Sophisma, daß der Herrscher des Olymps durch Dinos entmachtet sei, und er als αρχαίος zu gelten habe, wenn er noch an das alte Zeug der Zeusreligion glaube (Nub. 1469—1471). Das Ende (Nub. 1478—1511) bleibt offen. Entweder wollen die Götter wirklich die Bestrafung des Sokrates — Strepsiades wäre somit ausführendes Organ der Rache am θ ε ο μ ά χ ο ς , wodurch die Stadt gerettet und gesühnt wäre; Sokrates und Pheidippides dienen dabei als Modelle des Pharmakos. 58 Nach dem Chaos wäre dadurch die Ordnung wiederhergestellt. 59 Oder, die wahrscheinlichere Alternative: Strepsiades projiziert sein Handeln auf die Götter, die ihn weiterhin verspotten. Die Orgie der Gewalt gegen das Phrontisterion paßt auch zu 57

Ζ. B. Horn. Π. 1, 511; es gibt 47 Belege im frühgriechischen Epos. Vgl. Nub. 1449. 59 Nach Segal 1969, 195 ist die Aktion als Wiederherstellung des alten Strepsiades zu deuten. 58

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seinem Wesen. Er hat nichts gelernt und bleibt seiner ungehemmten Natur treu. Er hält sich nicht an die Dike und den Nomos Athens, nämlich mit legalen Mitteln einen Prozeß gegen Sokrates zu fuhren, sondern schreitet erneut zu Gewalt, mit Feuer und Hacke, ähnlich den ungestümen Giganten, die mit einer Leiter den Himmel stürmten. Insgesamt wird also dem Publikum auf der Bühne ein komisches Ende der Zeusherrschaft und der Poliszivilisation inszeniert. Das Chaos bricht auf komische Weise in der Gestalt des Sokrates und des Initianden Strepsiades herein. Die Abschaffung des theologischen Systems wird vor der versammelten Stadt durchgespielt. Der wissenschaftlich-sophistische Fortschritt wird als Zurück in die graue Vergangenheit des Schöpfungsmythos karikiert und durch das gemeinschaftliche Lachen wird die verkehrte Welt nach Beendigung des Stücks wieder gebannt. Zeus und die Ordnung, die auf Kult und politischen Normen beruht, werden schließlich gestärkt. Denn das Abschaffen der Werte erzeugte letztlich keine gangbare Alternative. Umgekehrt konnte dem Publikum die Komplexität der modernen Theorien angedeutet werden, die sich als weitaus differenzierter erweisen, als im Stück vorgetragen wurde. Nicht die Philosophie selbst, sondern die naive Interpretation der Bürger stellt die eigentliche Gefahr für die Stabilität dar. Die verkehrte Welt, die im realen Athen ihren Spiegel hat, wird neben dem Beispiel der grammatischen Illogizität im Genusgebrauch bei Substantiven mit männlicher Endung und weiblichem Artikel auch anhand konventionalisierter Begriffe wie „der alte und der neue Tag" (ενη τε καί νέα Nub. 1134) vorgestellt, der die Zweiheit in der Einheit, die krisenhafte Verschränkung der Zustände, versinnbildlicht.60 Er ist der Tag des Neumonds, also des Übergangs. An ihm werden auch die Schulden eingetrieben. Werden sie nicht gezahlt, wird der Nomos durchbrochen. Die Anthesterien stellen, wie erwähnt, ein typisches Fest der verkehrten Welt dar. Hier wird die Ordnung ebenso vom kurzzeitigen Chaos bedroht. Man versuchte an solchen Tagen auch die Rechnungen zu begleichen. Athenaios (437d) berichtet vom Brauch, am Tage der Choen den Lehrern Geschenke und die Besoldung zu schicken (πέμπεσθαι δώρά τε καί τούς μισθούς τοις σοφισταΐς). Von dieser Notiz kann man einen ironischen Blick auf den Schluß des Stückes werfen. Strepsiades ist offenbar noch nicht geheilt. Er begleicht auf seine Weise die Rechnung mit den Sophisten, indem er das hereingebrochene Chaos mit einer ,wirbelnden' Gewaltorgie in einer Art Wüstung fortsetzt,61 die an die

6 0 Durch die Kalenderverschiebung zwischen Sonnen- und Mondjahr gab es ein strittiges Grenzgebiet für den bürgerlichen Monatsanfang. Vgl. den Sophismus, zwei Tage können nicht einer sein (Nub. 1 1 7 8 - 1 2 0 0 und 1222 f.). Vgl. Willi 2003, 98 und Walsh 1981. 6 1 Vgl. Meuli 1953, 234 und Davies 1990.

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Zerstörung des Versammlungshauses der Pythagoreer in Kroton im zweiten Viertel des fünften Jahrhunderts v. Chr. erinnert.

7. Kurzer Ausblick auf die Vogel In den Vögeln haben wir eine ganz ähnliche Situation vor uns.62 Es geht erneut um die Abschaffung der Olympier durch die neuen Götter der Vogel, also um ein Weiterspinnen der Sukzessionsmythen im modischen Kontext der Sophistik und Rhetorik. 6 3 Peisetairos' Reise ins Land der Vögel läßt sich ebenfalls als Weg in eine atavistische Anderwelt in komischer Vermengung mit modernem, sophistischem Gedankengut verstehen. Die geniale Idee der Gründung einer neuen utopischen Stadt namens Wolkenkuckucksheim eröffnet wiederum eine komplementäre Sicht auf das aktuelle Athen. 64 Und erneut wurde die Komödie mit den Anthesterien und anderen orientalischen Mythen und Kulten des Sturzes der Götter in Verbindung gebracht. 65 Die Einführung des Neuen bedeutet zugleich wie in den Wolken einen Rückfall in ein primordiales Zivilisationsniveau. Zugrunde liegen verschiedene R i ten der Ausnahme und des Ubergangs, in denen die temporäre Auflösung des B e stehenden und die Rückkehr zur Ordnung begangen werden. Dabei wird stets eine Urzeit und die Kulturentstehung als Schöpfungsgeschichte evoziert.66 Nicht von ungefähr steht in der Parabasen-Rede (Au 685—722) des Peisetairos, in der der Machtanspruch der Vögel begründet wird, das Ursprüngliche im Zentrum. In der Komödie wird nämlich eine Zeit reaktualisiert, als Mensch, Tier und Gott noch nicht eindeutig voneinander geschieden waren. Im Mythos der Griechen wird diese Trennung erst durch Prometheus vollzogen. Daher spielen diese myhisch-rituellen Elemente eine herausragende Rolle im Plot. Die einzelnen Teile der Schöpfungsgeschichte werden vom Dichter aber in karnevalesker Freiheit zusammengesetzt.67 Das neue Element der Physis in der Tierwelt ist zugleich wiederum uralt. U m eine Herrschaft auf der Basis der Physis ohne Nomos zu errichten, wird das Neue mit dem Argument des Uralten abgesichert und legitimiert. Der Aufbruch in eine neue Alternative gerät schließlich zu einem Zurück in eine unheimliche Vergangenheit.

Vgl. MacDowell 1995, 1 9 9 - 2 2 8 als Einführung. Vgl. Hofmann 1976, bes. 79—90 zur Folie der Gigantomachie, in welche die Titanomachie eingelegt ist. Zum Thema des neumodischen Atheismus vgl. Romer 1994. 6 4 Vgl. Bertelli 1983; Corsino 1987; Hubbard 1997. Zur Verarbeitung von Gründungsmythen vgl. Bowie 1993, 152—166. 65 Vgl. Craik 1987 und Auffarth 1994. 6 6 Vgl. Zannini Quirini 1987. 67 Vgl. Ricciardelli Apicella 1993 und West 1994. 62

63

Alt und N e u bei Aristophanes

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Wie so oft wird auch hier eine Welt eines anfanglichen Chaos und des ganz Anderen auf der attischen Bühne lebendig. Die ambivalenten Vogel übernehmen die Herrschaft, indem sie sich ihr altes Recht zurückholen. Als Herren des Luftraumes (Chaos) blockieren sie die olympischen Götter im Himmel und zwingen die Menschen auf Erden unter ihr Regime. Die Schöpfung wird nicht im Sinne einer Wiedergewinnung der jetzigen Lebensform durchgespielt, sondern nach dem Zurück zum Ursprung wird eine alternative orphische Kulturentstehung aufgebaut, die die Gründung der Vogelstadt untermalt. 68 Das Alte installiert sich als Neues. Die Rückkehr zur Normalität muß vom Zuschauer alleine vollzogen werden. Auf der Bühne etabliert sich die neue Macht der uralten Vogel unter der Regie eines machthungrigen Atheners, der sich zum Tyrannen und verzerrten Abbild des olympischen Göttervaters aufschwingen konnte. Die Bestätigung des alten Kosmos geschieht aufgrund des Lachens über die Absurdität der grotesken neuen ,Zeus'-Ordnung.

8. Schluß Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, diesen Ansatz auf alle Aristophanischen Komödien auszuweiten. Insgesamt konnte gezeigt werden, wie die Thematik des Alten und Neuen in der Gattung der Alten Komödie nicht nur, wie wohl kaum seitdem in anderen literarischen Werken, von herausragender Bedeutung, sondern sogar konstitutiv ist. Das in einem Sitz im Leben, der Okkasion der dionysischen Feste, verankerte Genre hat in einer weitgehend mündlich geprägten Kommunikationsform, in der Mythos und Ritual entscheidende Bezugsmakrotexte darstellen, die Funktion, in einer Reise in eine atavistisch-primordiale Anderwelt eine komplementäre Sicht auf die Gegenwart zu eröffnen. Hier hat sich vor allem das rituelle Muster von Ausnahmefesten als fruchtbarer Hintergrund erwiesen. Der geniale und originelle komische Einfall des Dichters Hegt darin, dieses Schema immer wieder mit zeitgenössischen Themen auszufüllen. Dabei wird ebenso in der Plotgestaltung Neues in der Verschränkung mit Uraltem problematisiert. Die Konstruktion einer verkehrten Welt im Neuen auf der Folie des Archaischen schafft das notwendige Ridiculum. Aus der komisch-verzerrten Perpektive, die komplementär zur aktuellen Welt der Polis steht, schöpft der antike Zuschauer in der kollektiven Erfahrung des Lachens Kraft und Heilung, um den Strapazen und Frustrationen des Alltags gewachsen zu sein.

68

Vgl. Pardini 1993.

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Anton Bierl

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ANNEMARIE AMBÜHL

Literarische Innovation als Verjüngung

der Tradition

Kallimachos und die alexandrinische Dichtung 1 1. Innovationsstrategien in der alexandrinischen Dichtung vor dem Hintergrund der griechischen Literaturgeschichte In der griechischen Literatur erscheint das N e u e als ein uraltes Phänomen: D e r literarische Innovationsdiskurs stellt nicht etwa erst eine Erfindung der alexandrinischen Dichtung dar, sondern ist bereits von ihrem B e g i n n an in die griechische Literaturgeschichte eingeschrieben. 2 In der Odyssee stellt Telemachos fest, dass die Zuhörer immer das allerneueste Lied am meisten loben (1.351 f.: τήν γαρ άοιδήν μάλλον έπικλείουσ' άνθρωποι, / ή τις άϊόντεσσι νεωτάτη άμφιπέληται). In verschiedenen Gattungstraditionen wie etwa der Lyrik oder der Komödie bildet der selbstbewusste Hinweis auf die eigene Fähigkeit zur Innovation einen festen Bestandteil des traditionellen Motivinventars; mittels solcher Kommunikationssignale, welche sich als Selbstempfehlung an die Rezipienten und oft auch als Seitenhiebe gegen

1 Der vorliegende Artikel ist aus einem Diskussionsbeitrag am Colloquium Rauricum Octavum hervorgegangen und stellt eine Zusammenfassung der Hauptthesen meiner von Prof. Joachim Latacz und Prof. Annette Harder betreuten Dissertation dar (Kinder und junge Helden. Innovative Aspekte des Umgangs mit der literarischen Tradition bei Kallimachos, Diss. Basel 2002 [erscheint in der Reihe Hellenistica Groningana, Leuven]). Ich danke den Herausgebern und Frau Dr. Elisabeth Schuhmann (Saur-Verlag) fur ihre Bereitschaft, den Beitrag in den Tagungsband aufzunehmen. 2 Vgl. Schwinge (1986, 1). Stellenangaben und weitere Literaturhinweise finden sich bei Harriott (1969, 98-100); Haussier (1976, 7 2 - 7 5 , 303f.); Verdenius (1983, 22f.); Bing (1988, 22, 104f„ 108f.); Harder (1990, 287f.); Asper (1997, 4 6 - 7 2 mit Anm. 207); Hose (2000); Schwindt (2000a); Hunter (2001). Allgemein zum komplexen Verhältnis von Alt und Neu im Innovationsdiskurs vgl. die Beiträge in Kluxen (1988; V: ,Die ästhetische Präferenz des Neuen'); Haug/Wachinger (1993); Schwindt (2000); Moog-Grünewald (2002). - Ich verwende hier bewusst den Begriff der Innovation, nicht den der Originalität (pace Hose 2000, 23), um das romantisch geprägte Konzept der absoluten Originalität im Sinne der Genieästhetik fernzuhalten, welches der antiken Literatur nicht gerecht wird (vgl. Kaminski 1998, 2 7 6 - 2 8 2 , der indes ebenfalls vom .alexandrinischen Originalitätsgestus' spricht [242]).

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Annemarie Ambühl

potentielle Konkurrenten deuten lassen, präsentieren sich Dichter wie Pindar oder Aristophanes als Meister ihrer Kunst, die dank der perfekten Beherrschung der Gattungsregeln deren Spielraum bis an die Grenzen auszuloten verstehen und dadurch etwas Neues, innerhalb der Gattung bisher noch nie Dagewesenes zu schaffen imstande sind. Auf der sprachlich-motivischen Ebene wird das Neuheits-Motiv meist durch die Adjektive νέος oder καινός sowie damit zusammengesetzte Komposita oder durch poetologische Metaphern wie etwa das Bild des unbetretenen Pfades, der unberührten Wiese oder der reinen Quelle ausgedrückt. 3 Die römische Dichtung übernimmt diese griechisch-hellenistische Tradition des literarischen Innovationsbewusstseins und verbindet sie zusätzlich noch mit dem stolzen Anspruch auf die sprachlich-kulturelle Transferleistung, welche die Überführung der verschiedenen Gattungen von Griechenland nach R o m und ihre Adaptation und Integration in den neuen gesellschaftlichen Kontext ermöglicht hat. 4 Innerhalb dieser antiken Motivtradition lassen sich nun aber unterschiedliche Formen und Funktionen literarischer Innovationsstrategien voneinander abgrenzen: Die Neuerung kann sich auf die Ebene des Inhalts oder der Form beziehen; sie kann sich sowohl explizit in programmatischen Aussagen als auch implizit in der Wahl abweichender oder der Einfuhrung neuer Mythenversionen manifestieren. 5 Die höchste Innovationsdichte ist erreicht, wenn Theorie und Praxis zusammenfallen, so dass der Innovationsdiskurs sich selbstreflexiv in der Struktur des Textes selbst spiegelt. Solche Phänomene lassen sich wohl nicht zufällig gerade bei Autoren beobachten, die am Ende einer langen Gattungstradition stehen oder die selbst eine neue Tradition begründen: so insbesondere bei Euripides, der als jüngster der drei grossen Tragiker die Entwicklung der Tragödie in Athen bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges mitprägt, 6 oder bei Kalümachos, der eine zentrale Rolle beim Aufbau einer neuen wissenschaftlichen und literarischen Kultur in der aufstrebenden hellenistischen Metropole Alexandria in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. spielt. Dies führt zur Frage, wie sich die alexandrinische Dichtung mit ihren Hauptvertretern Kallimachos, Theokrit, Apollonios von Rhodos sowie den Repräsentanten kleinerer Gattungen, insbesondere des Epigramms, innerhalb der grie-

3

Zur Tradition dieser poetologischen Metaphern vgl. Asper (1997, 2 1 - 1 3 4 ) ; Niinlist (1998, 33, 198, 213, 257). 4 Vgl. die bei Nisbet-Hubbard (1970, 307f.) angeführten Stellen zu Hör. Carm. 1.26.10; Haussier (1976, 7 2 - 7 5 , 303f.); Schmidt (1987, 2 5 3 - 2 5 5 ) ; Hinds (1998, 5 2 - 6 3 ) ; Kaminski (1998, 2 4 0 - 2 4 3 ) ; Schwindt (2000a). Speziell zur Rezeption des Kallimacheischen Aitien-Prologs in der augusteischen Dichtung vgl. W i m m e l (1960). Zur römischen Literatur siehe auch den Beitrag von C. Walde in diesem Band (S. 4 1 - 6 6 ) . 5 Zur mythologischen Innovation vgl. March (1987); Horsfall (1993). 6 Z u Innovationen des Mythos bei Euripides vgl. Stephanopoulos (1980); zu deren selbstreflexiver Dimension, die sich i m Text selbst spiegelt, vgl. M c D e r m o t t (1991).

Literarische Innovation als Verjüngung der Tradition

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chischen Literaturgeschichte positioniert. Gerade die alexandrinische Dichtung stellt sich in eminenter Weise als ,Literatur auf zweiter Stufe' im Sinne Genettes dar, indem sie einerseits bewusst auf die ihr vorangegangene literarische Tradition Bezug nimmt und andererseits ihren Ort innerhalb dieser Tradition im Text selbst reflektiert. 7 Das Verhältnis zur Tradition braucht dabei weder als radikaler Bruch mit der gesamten früheren Literatur definiert zu werden, 8 zumal sich für manche Charakteristika der alexandrinischen Dichtung Vorläufer in der Literatur insbesondere des 4. Jahrhunderts aufzeigen lassen,9 noch als polemische Destruktion eines als einengend empfundenen Normensystems einer vorbildhaften Klassik,10 da sich eine Kanonbildung in der Bibliothek des Museions zur selben Zeit ja gerade erstmals vollzieht. 11 Anstatt zu einer Lähmung der Kreativität zu führen, befruchten sich im Gegenteil die wissenschaftliche und die literarische Tätigkeit der alexandrinischen Dichter-Philologen gegenseitig, so dass ein deutlicher quantitativer und qualitativer Anstieg des Innovationspotentials in der alexandrinischen Dichtung zu verzeichnen ist.12 Gerade die Beschäftigung mit dem von seiner historischen Kontextgebundenheit losgelösten literarischen Erbe öffnet ein neues Feld für eigene literarische Experimente, das sich von der Bevorzugung oder Zurückweisung bestimmter Gattungen, der Erweiterung der Gattungsgrenzen und der Gattungsmischung bis hin zur Etablierung neuer Gattungen erstreckt. 13 Die Komplexität der alexandrinischen Dichtung lässt sich durch eine eindimensionale Polarität von Ablehnung oder Fortschreibung der Tradition nicht adäquat erfassen, sondern äussert sich in vielfältigen Verfahren zu ihrer schöpferischen Rekonstruktion, Adaptation und Transformation. Der Zusammenhang dieser literarischen Entwicklungen mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die den Beginn der hellenistischen Epoche markieren, ist in der Forschung unterschiedlich erklärt worden: Während die einen in 7

Genette (1993). Extrem etwa die Formulierung von Schwinge (1986, 1): „Während sich bislang literarische Hervorbringungen jeweils nur von den ihnen relativ unmittelbar vorausliegenden literarischen Erscheinungen absetzten, bringt sich die alexandrinische Poesie in Distanz zur bisher stattgehabten griechischen Literatur in ihrer Gesamtheit." 9 Vgl. Hutchinson (1988, 10-25). 10 So Effe (1993). 11 Vgl. Schmidt (1987). 12 Vgl. die ausgewogeneren Urteile von Pfeiffer (1960,155f.): "There should not be either a break with tradition or a sterile traditionalism."; Schmidt (1987, 251): „Neuinterpretation (nicht: Destruktion) der Summe griechischer Kultur"; Bing (1988,64f.); Bulloch (1993, 128): "[...] inner creative balance: the weight of the past is almost always acknowledged without sacrificing the creative vitality of the present."; Hose (1997, 46): „[...] Tendenz zur Innovation: der Dichter setzt die Kenntnis der vorhellenistischen Dichtung voraus, zitiert, evoziert und spielt an - doch zugleich bedeutet eben dieses Verfahren, auf das Alte zu verweisen, auf die Transformation des Alten in etwas Neues aufmerksam zu machen."; Schwindt (2000a, 32f.). 13 Vgl. Schmidt (1987, 250f.). 8

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der alexandrinischen Dichtung eine reine ,art pour l'art' sehen möchten, die sich in ihrem dezidierten Rückzug auf das Private bewusst von der politischen Öffentlichkeit distanziere, 14 definieren andere umgekehrt die Funktion der alexandrinischen Dichtung als eine vom ptolemäischen H o f geforderte kollektive Identitätsstiftung einer kolonialen Elite, die sich durch die Selbstvergewisserung ihrer kulturellen Wurzeln von ihrer ägyptischen Umwelt abzugrenzen und im Bewusstsein des E p o chenbruchs eine nostalgische Verbindung zum Erbe der Vergangenheit herzustellen suche. 15 Hier soll der Akzent auf die alexandrinische Literatur als einen autonomen künstlerischen Freiraum jenseits aller politischen Instrumentalisierung gelegt werden, ohne dass ihr damit eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Funktion prinzipiell abgesprochen werden müsste. 16 Das Innovationspotential der alexandrinischen Literatur soll weniger in Bezug auf seinen historischen Kontext als vielmehr in Hinblick auf seine Reflexion im Medium der Dichtung selbst untersucht werden.

2. Innovationsmetaphorik bei Kallimachos: die Verjüngung der Tradition Im folgenden werden zwei Texte des Kallimachos vorgestellt, in denen sich der Innovationsdiskurs im oben definierten selbstreflexiven Sinn ausprägt. 17 Beim ersten Beispiel, dem Ai tien-Prolog, handelt es sich u m einen explizit programmatischen Text, beim zweiten, der Teiresias-Erzählung im fünften Hymnos, u m einen Stoff, der durch die Figur des Sehers implizit auf den Bereich der Dichtung verweist. Die Grenzen zwischen den beiden Formen verlaufen indes nicht so klar geschieden, da auf der einen Seite im Aitien-Prolog das Programm selbst wieder im Gewand poetologischer Metaphorik auftritt, 18 auf der anderen Seite sich der Teiresias-Mythos als ,narrative Metapher' deuten lässt, die eben dieses Programm als immanente Poetik verkörpert; 19 der Aitien-Prolog Hesse sich somit als dramatisiertes Programm, die Teiresias-Erzählung als programmatisches Drama umschreiben. In beiden Texten treten junge und alte Figuren in prominenten Rollen auf. Jung' und ,alt' sind dabei sowohl im biologischen Sinn des Lebensalters als auch

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Schwinge (1986); ähnlich Schwindt (2000a, 33). Zanker (1987); Bing (1988, bes. 56, 74f.). 16 Zu einem differenzierteren Verständnis der ptolemäischen Hofdichtung gelangt Weber (1993); vgl. auch Kerkhecker (1997); Schwindt (2000a, 3 1 - 3 3 ) . 17 Für ausfuhrlichere Interpretationen und weitere Literatur sei auf die entsprechenden Kapitel meiner Dissertation verwiesen (siehe oben Anm. 1). 18 Vgl. Asper (1997, bes. 246f.). 19 Zu den Teiresias- und Erysichthon-Erzählungen im fünften und sechsten Hymnos als ,narrativen Metaphern' vgl. Müller (1987). Vgl. auch die metapoetische Deutung des Delos-Hymnos durch Bing (1988, 9 1 - 1 4 3 ) . 15

Literarische Innovation als Veqiingung der Tradition

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im literaturgeschichtlichen Sinn zu verstehen, wobei die beiden Bedeutungen bisweilen in einem paradoxen Verhältnis zueinander stehen: Eine in der mythologischen und literarischen Uberlieferung bereits alte Figur wie Teiresias kann im Text als ihr verjüngtes Ebenbild auftreten oder umgekehrt eine neue Figur wie beispielsweise die Titelheldin der Hekale als Greisin eingeführt werden. Die hier vorgeschlagene Interpretation geht von der These aus, dass sich in diesen Figuren das komplexe Verhältnis des Kallimachos zur literarischen Tradition spiegelt. Kallimachos scheint das metaphorische und narrative Potential, das in der Doppelbedeutung von νέος (,neu'/jung') angelegt ist, ausgeschöpft und in dramatische Handlung umgesetzt zu haben. Die Figuren des Kindes und des jungen Helden und ihre Komplementärfiguren erscheinen somit als Leitbilder der Kallimacheischen Poetik, welche die Selbstpositionierung des Dichters zwischen Tradition und Innovation reflektieren. 2. a) Der Aitien-Prolog als dramatisiertes Programm Der Prolog zu den Aitia, dem in der von Kallimachos selbst besorgten Schlussredaktion vier Bücher umfassenden elegischen Kollektivgedicht über die .Ursachen', gliedert sich in zwei Teile: den eigentlichen Prolog (fr. 1 Pf./M.), der die Erwiderung des Erzählers an seine Kritiker, die sogenannten Teichinen, enthält, und das nahtlos daran anschliessende Somnium (fr. 2 Pf. = 4 M.), das den Traum des Erzählers von seiner Begegnung mit den Musen auf dem Helikon schildert. 20 Da der Text insgesamt leider nur fragmentarisch erhalten und das Scharnier zwischen den beiden Teilen bis auf wenige Reste (frr. la—2a Pf. = 2—3 M.) ganz verloren ist, müssen manche Schlussfolgerungen notwendigerweise hypothetisch bleiben, doch soll hier eine Interpretation skizziert werden, die eine Gesamtdeutung des Textes im Sinne einer Selbsteinordnung des Kallimachos in die griechische Literaturgeschichte zum Ziel hat. In der poetischen Textur des Prologs und des Somniums übernehmen die Motive der Kindheit/Jugend und des Alters, deren Bedeutungen sich von einer fiktivautobiographischen über eine literarisch-intertextuelle bis hin zu einer metaphorisch-poetologischen Ebene verschieben, eine zentrale Funktion. In beiden Partien tritt der Erzähler jeweils in einer Doppelrolle als junger und als alter Dichter auf. Die verschiedenen Altersstufen sind dabei in komplexer Weise miteinander verschränkt, indem Kindheit und Jugend dem Alter mehrmals kontras2 0 Aus der umfangreichen Literatur zum Aitien-Prolog werden hier stellvertretend nur ein paar wichtige ältere und neueste Beiträge zitiert, insbesondere zu den Motiven von Kindheit/Jugend und Alter: Pfeiffer (1928=1960); Wimmel (1960); Cameron (1995); Asper (1997); Sier (1998); Schmitz (1999); Hunter (2001); Acosta-Hughes/Stephens (2002); Fantuzzi/Hunter (2002, 8 - 1 0 , 7 1 - 8 1 , 8 8 - 9 7 ) . Zum Text vgl. die Ausgaben von Pfeiffer und Massimilla.

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tiv gegenübergestellt oder in Rückblenden eingeholt werden. Während der Erzähler im Prolog aus der Altersperspektive auf sein Leben zurückblickt, das von Geburt und Kindheit an ganz im Zeichen Apollons und der Musen stand, erinnert er sich im Somnium an einen Traum, den er als Jüngling geträumt und in dem er sich auf dem Helikon mit den Musen über die Ursprünge verschiedener Bräuche unterhalten habe. Die Wiedergabe dieses Gesprächs bildet den narrativen R a h m e n fur die ersten beiden Bücher der Aitia. Unter der Wirkung des Bogens, der sich von der Kindheit und Jugend bis zum Alter des Erzählers spannt, präsentieren sich die Aitia somit aus einer doppelten Perspektive: Als Frucht des Gesprächs mit den Musen gehören sie in die früheste Jugendzeit des Dichters, zugleich aber werden sie in der Retrospektive als krönender Abschluss seiner dichterischen Laufbahn präsentiert. Prolog und Somnium erzeugen so zusammen die Fiktion einer poetischen Autobiographie des Kallimachos, die die Aitiologie seines dichterischen Schaffens überhaupt liefert. 21 Den Kern dieses Aidons bildet die Berufungsszene, in der Apollon den Schüler gleich bei dessen erstem Griff zur Schreibtafel vorsorglich über die richtige Art des Dichtens aufklärt: Er solle die Muse schlank halten, die vielbefahrenen Wege meiden und die unbetretenen, schmalen Pfade suchen (fr. 1.21—28 Pf./M.). Kallimachos präsentiert sich hier als ,Wunderkind', dem die dichterische Begabung schon in die Wiege gelegt ist und von Apollon, der den Jungen spontan als Dichter anredet (23: άοιδέ), nur noch auf den richtigen, innovativen Weg gelenkt zu werden braucht. In dem einen schicksalhaften Moment, der in die Kindheit zurückverlegt wird, ist der künftige Lebenslauf des Dichters bereits vorgeprägt: Er hat dem Gebot des Gottes Folge geleistet und ist seinem zikadenhaften Dichtungsstil sein ganzes Leben lang unbeirrbar treu geblieben (fr. 1.29f. Pf./M.). D a her hofft er jetzt dem bedrückenden Greisenalter zu entfliehen, denn die Musen verlassen ihre Freunde, denen sie bereits als Kindern ihre Gunst erwiesen haben, auch im Alter nicht (fr. 1 . 3 1 - 4 0 Pf./M.). Kindheit und Greisenalter als die beiden äusseren Pole des Lebens schliessen sich so im Umfang weniger Verse zusammen. Dadurch dass der Sprecher seine frühe Auserwählung betont, nimmt er den Vorwurf der Teichinen, er dichte trotz seines hohen Alters ,wie ein Kind' (fr. 1.5f. Pf./M.: παις ατε), auf und widerlegt ihn zugleich, indem er demonstriert, dass er im Gegensatz zu den Teichinen (fr. 1.2 Pf./M.) als Musenliebling geboren und sein Dichtungsstil bereits im Kindesalter durch Apollon sanktioniert worden sei. Die Rollen Apollons und der Musen ergänzen sich dabei perfekt: Im Prolog erscheint Apollon dem Knaben, als dieser gerade zu dichten

21 Cameron (1995, 132), Acosta-Hughes/Stephens (2002, 253) und Fantuzzi/Hunter (2002, 9, 71, 88) beziehen die Definition des Aitien-Prologs als eines Aitions dagegen ausschliesslich auf die Aitia selbst.

Literarische Innovation als Vegüngung der Tradition

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anfangt, im Somnium die Musen dem Jüngling, der nun bereits als selbstbewusster Dichter auftritt. Auch inhaltlich sind die Funktionen Apollons und der Musen im Prolog und im Somnium komplementär: Apollon erteilt ihm programmatische Ratschläge zum richtigen Dichtungsstil, während die Musen präzise Auskunft über einzelne Aitia geben. Apollon vertritt somit eher den formalen Aspekt oder die Theorie, die Musen den inhaltlichen Aspekt oder die Praxis der Kallimacheischen Dichtung. Im Somnium erhalten die Motive der Jugend und des Alters neben der fiktivautobiographischen zusätzlich eine literaturgeschichtliche Dimension. Die namentliche N e n n u n g Hesiods (fr. 2.2 Pf. = 4.2 M.) verweist zurück auf den Beginn des Prologs, wo weitere N a m e n von Dichtern und Titel von Werken zitiert worden waren (fr. 1.9—12 Pf./M.), erweitert ihn jedoch zu einer narrativen Szene, indem nicht eine weitere literaturkritische Erörterung, sondern eine dramatisierte Erzählung von Kallimachos' Begegnung mit den Musen folgt. Der träumende Jüngling Kallimachos, dem eben der erste Bart wächst (Schol. Flor. 18: ά]ρτιγένειος), wandelt am Musenberg Helikon im wörtlichen Sinn auf den Spuren seines Vorgängers Hesiod (fr. 2 Pf. = 4 M.; vgl. fr. 112 Pf.). Hesiod, der aus der Perspektive des Alexandriners als alter Dichter erscheint, war seinerseits einst als junger Mann am Helikon den Musen begegnet und von ihnen zum Dichter geweiht worden, wie er im Prooimion seiner Theogonie berichtet. 2 2 Der ,alte' Dichter Hesiod und der j u n g e ' Dichter Kallimachos treffen an einem fiktiven Traum-Ort aufeinander, an dem die irdischen Gesetze von R a u m und Zeit für eine Weile aufgehoben sind und der zugleich als eminent literarisches und intertextuelles Symbol fungiert. Die Berufung auf Hesiods Dichterweihe dient als ,Erinnerungsspur' fur den jüngeren Dichter, der aufgrund seiner Lektüre der Theogonie den Ort, an den ihn der Traum versetzt hat, mit dem O r t von Hesiods Dichterweihe identifizieren und zugleich seine eigene Erfahrung mit den Musen an dem Modell messen kann. Die Evokation von Hesiods Musenweihe dient dazu, durch die scheinbar affirmative Berufung auf das Alte dessen Transformation zu etwas N e u e m noch deutlicher sichtbar werden zu lassen. Denn Kallimachos' geträumte Begegnung mit den Musen verläuft in ganz anderen Bahnen als die seines Vorgängers: Während Hesiod seine Dichterweihe passiv und stumm erlebte und sich von den Musen sogar als ungebildeter Hirt beschimpfen lassen musste (Theog. 22—34), tritt der junge Kallimachos mit dem Selbstbewusstsein eines gelehrten Dichters den Musen als gleichberechtigter Gesprächspartner gegenüber und nutzt sogleich die günstige Gelegenheit, sie über entlegene Kultbräuche zu befragen, wobei er ungeniert auch seine eigene Gelehrsamkeit ausbreitet. 23

22 23

Zur Tradition der Dichterweihe vgl. Kambylis (1965). Vgl. Harder (1988); Pretagostini (1995); Cameron (1995, 368).

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Der Traum des Erzählers markiert somit nicht nur die abschliessende Fixierung einer Tradition, die durch den zitierten Text Hesiods repräsentiert wird, sondern auch den Beginn einer neuen Tradition, die durch die Begegnung der Figur des jungen Kallimachos mit den Musen konstituiert wird. Die zunächst noch etwas prekäre Position dieser neuen Tradition im Verhältnis zur alten verlangt nach besonderen Selbstrechtfertigungsstrategien. Einerseits wird die Figur des jungen Kallimachos durch ihre besondere Nähe zum Göttlichen und ihr selbstbewusstes Auftreten den göttlichen Autoritäten gegenüber legitimiert. Andererseits wird aber auch die alte Tradition leicht ummodelliert, u m sie an die neugeschaffene Tradition anzunähern und damit als deren Vorläuferin erscheinen zu lassen. 24 Kallimachos präzisiert und ergänzt den Referenztext, indem er etwa den Ort von Hesiods Dichterweihe, welchen dieser allgemein am Fuss des Helikon lokalisiert hatte (Theog. 23), als die Musenquelle Hippukrene definiert. Mittels solcher subtiler Manipulationen des Vorgängertextes wird zunächst die Musenweihe Hesiods ,alexandrinisiert', u m aus dem ,alten' Hesiod einen ,neuen' Hesiod zu formen, der dann seinerseits als positives Modell und zugleich negative Folie für die Figur des jungen Kallimachos dient, welche auch diesen ,neuen' Hesiod noch überbietet. Der Kallimacheische Text schliesst somit den älteren Text Hesiods in sich ein und überformt ihn durch seine eigene neue Version, die als Gegenstück zur H e siod-Legende eine alexandrinische ,Kallimachos-Legende' erschafft. Aus der Perspektive des gealterten Erzählers ist dieser Prozess der Selbstkanonisierung oder Selbstheroisierung bereits zu seinem erfolgreichen Abschluss gelangt. 25 Als Gegenstück zum Somnium, wo das N e u e (Kallimachos' jugendliches Traum-Ich) zunächst hinter der Maske des Alten (Hesiod) auftritt, um eine neue Tradition zu initiieren, lässt sich der erste Iambos heranziehen: Hier wird das Alte selbst in Gestalt des archaischen Iambographen Hipponax wiederbelebt, der als Wiedergänger aus der Unterwelt nach Alexandria kommt, u m den dort versammelten Philologen einen Iambos nicht im alten Hipponakteischen, sondern im neuen Kallimacheischen Stil zu präsentieren (fr. 191.1—4 Pf.); Hipponax muss denn auch bald wieder in die Unterwelt zurückkehren (32—35, 96f.) und räumt so den Platz für die eigene iambische persona des Kallimachos. Das in der alexandrinischen Literatur verbreitete Motiv des toten Dichters mündet hier gerade nicht in einen in Anbetung erstarrten Kult, sondern dient zur selbstbewussten Vereinnahmung des Vorgängers, der als unangreifbare Legitimationsinstanz für ei-

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Hinds beschreibt analoge subjektiv-tendenziöse Konstruktionen von Literaturgeschichte durch römische Dichter (1998, 52—98: Ch. 3: 'Diachrony: literary history and its narratives'; 'Old poets'; 'New poets'; 123-144: Ch. 5: 'Tradition and self-fashioning'; 'Do-it-yourself literary tradition'). Vgl. auch Greene (1986); Hardie (1993, 88-119). 25 Zur Selbstkanonisierung der augusteischen Dichter vgl. Schmidt (1987, 248); zur (Selbst-)Heroisierung epischer Dichter vgl. Hardie (1993, 98-101); zur „Selbstinthronisation des avantgardistischen künstlerischen Bewusstseins" vgl. Schwindt (2000a, 29).

Literarische Innovation als Vegüngung der Tradition

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ne innovative Erweiterung der Gattungstradition des Iambos in Anspruch gen o m m e n wird. 2 6 2. b) Die Teiresias-Erzählung im fünften Hymnos als programmatisches Drama Der elegische fünfte Hymnos des Kallimachos, das sogenannte Bad der Pallas, evoziert mimetisch eine Kultprozession, bei der eine Statue der Athene zum rituellen Bad gefahren wird. Als Kernstück darin eingelegt ist die mythische Erzählung von der unfreiwilligen Begegnung des jungen Teiresias mit der badenden Athene, seiner Bestrafung, die in seiner Blendung besteht, und der ihm daraufhin von der Göttin gewährten Kompensation, der Verleihung der Sehergabe (H. 5.57—136). Der ungewöhnliche O r t des Geschehens, die Musenquelle Hippukrene auf dem Helikon (71), lässt Teiresias als einen mythischen Vorgänger (oder Nachfolger) H e siods erscheinen, der dort seine Dichterweihe erlebt hatte, und macht ihn damit auch zu einem Doppelgänger des Kallimachos selbst, oder genauer zu einem Spiegelbild von dessen fiktivem alter ego aus dem Somtiium. Die enge Assoziation von Sehern und Dichtern im griechischen Denken trägt ebenfalls zur Plausibilität einer metapoetischen Deutung bei. 2 7 Die Teiresias-Erzählung kann daher in Parallele zum Aitien-Prolog als Manifestation einer selbstreflexiven Strategie des Kallimachos im Umgang mit der literarischen Tradition gelesen werden. Der Kallimacheische Teiresias, dem wie Kallimachos' jugendlichem Traum-Ich eben der erste Bart spriesst (75f.), ist eine noch ,unschuldige' Figur, sowohl in Bezug auf sein unbeabsichtigtes Vergehen (78: ούκ έθέλων) als auch in Bezug auf seine literarische Vorgeschichte. Die Verjüngung des Teiresias lässt sich als ein Rückgriff hinter die in der attischen Tragödie bereits kanonisch fixierte Gestalt des greisen blinden Sehers Teiresias auf die offenere vorklassische Tradition verstehen, die zwei unterschiedliche Versionen von der Blendung des Teiresias bereithält: die oben erwähnte vom Bad der Athene, die der Kallimacheischen Erzählung zugrundeliegt, und eine weitere, die einen mehrfachen Geschlechtswechsel des Teiresias, seine Schiedsrichterrolle in einem Ehestreit zwischen Zeus und Hera, seine Blendung durch die erzürnte Hera sowie die Verleihung der Sehergabe durch Zeus als Kompensation für den Verlust des Augenlichts impliziert. Die Entscheidung für die eine dieser Versionen schliesst dabei Anspielungen auf die Parallelversion sowie auf weitere Uterarische Darstellungen des Teiresias-Mythos keineswegs aus, sondern die Kallimacheische Teiresias-Erzählung bezieht ihren innovativen Charakter im Gegenteil gerade aus der Ubereinanderblendung der verschiedenen Fassungen des Mythos und seiner literarischen Bearbeitungen.

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Vgl. Bing (1988, 5 6 - 7 2 , bes. 65-67); Acosta-Hughes (2002, 21-59). Zur metapoetischen Deutung vgl. Müller (1987, 55-64); Heath (1988). Für Einzelheiten vgl. auch den Kommentar von Bulloch (1985). 27

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Die Kallimacheische Erzählung setzt an einem Punkt des Mythos an, wo Teiresias' Zukunft noch offen ist und potentielle Alternativen zulässt: Was wäre aus der gesamten nachfolgenden literarischen Tradition geworden, wenn Athene sich von der Klage von Teiresias' Mutter hätte bewegen lassen, die Blendung rückgängig zu machen, oder wenn sie im Gegenteil auf der Angemessenheit der Strafe beharrt und ihm die Sehergabe als Ersatz fur das verlorene Augenlicht verweigert hätte? Athenes Akt, der den Kallimacheischen Teiresias zum berühmten Seher Teiresias macht, initiiert erst die Tradition. Zugleich projiziert sich Kallimachos' Text, der am (vorläufigen) Endpunkt der Traditionskette steht, an deren imaginären U r sprung zurück und reklamiert damit paradoxerweise für sich die Anfangsposition. Die Teiresias-Erzählung erweist sich somit als genuin aitiologisch: Sie begründet die traditionelle Rolle des Teiresias, indem sie anhand einer dramatischen Szene zeigt, wie er zu der bekannten literarischen Figur geworden ist, und zugleich mittels gezielter Verweise auf frühere Texte Elemente inkorporiert, die auf seine spätere Identität als berühmter Seher vorausweisen. So lässt Kallimachos die Göttin Athene in Form einer Prophezeiung Teiresias mit genau den Attributen und Fähigkeiten ausstatten, die er in der Odyssee und in der Tragödie besitzt. Durch den Kunstgriff, in futurischem Modus auf Teiresias' literarisches Vorleben zu verweisen, wird die gesamte literarische Tradition des Teiresias-Mythos in den Hymnos integriert und zugleich darin aufgehoben. Zudem stellt Athene Teiresias ewigen R u h m in der Dichtung in Aussicht (121: άοίδιμον έσσομένοισιν), was im Augenblick der Äusserung im Text gerade realisiert wird: Das Bad der Pallas ist ja das aktuellste Zeugnis in einer langen Reihe von Uterarischen Werken, die vom R u h m des Teiresias künden. Athenes Versprechen, dass Teiresias alle anderen Seher weit übertreffen werde (122: ή μέγα των άλλων δή τι περισσότερον), proklamiert mithin auch die Überlegenheit der Kallimacheischen Version des Teiresias-Mythos über die früheren Versionen. Aitiologie dient im fünften Hymnos nicht wie in den verschiedenen Episoden der Aitia als äusseres Strukturelement, sondern wird auf die mythologische Figur selbst angewendet, die auf den Ursprung ihrer Identität hin befragt wird. Eine vergleichbare Strategie lässt sich auch im Pendant zur Teiresias-Erzählung, der Erysichthon-Erzählung im sechsten Hymnos, die die frevelhafte Zerstörung eines heiligen Hains durch den jugendlichen Erysichthon und seine Bestrafung durch Demeter schildert, sowie in weiteren Werken des Kallimachos identifizieren: Mythologische Figuren wie Theseus in der Hekale und Herakles in der Victoria Berenices oder Götter wie Zeus, Artemis und Apollon in den Hymnen treten im Kindheits- und Jugendstadium noch ,vor' ihrer in der Tradition bereits festgeschriebenen .Zukunft' auf. 28 Diese Texte leben von der Spannung zwischen dem in den jugendlichen

28 Zu vergleichbaren Strategien in Ovids Heroides vgl. Barchiesi (1993); Walde (2000); zu Theokrits verjüngtem Kyklopen (Eid. 11) vgl. Goldhill (1986, 30f.).

Literarische Innovation als Verjüngung der Tradition

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Figuren angelegten Potential zur Innovation und dem Vorwissen der Rezipienten, die quasi als Augenzeugen die Geburt einer aus der literarischen Tradition längst bekannten Figur nochmals neu miterleben können. Die Tradition wird durch dieses Verfahren von ihrem Beginn her aufgebrochen — gewissermassen veijüngt — und damit wieder für neue Gestaltungsmöglichkeiten geöffnet.

3. Callimachus

ante retroque

respiciens

Der Höhepunkt dieses durch das Gesamtwerk hindurch in immer neuen Variationen angewendeten Verfahrens zur Verjüngung der Tradition ist im Aitien-Prolog erreicht, wo Kallimachos die aitiologische Strategie auf seine eigene künstlerische persona zurückbezieht. Die Schilderung der Begegnungen seines jugendlichen alter ego mit Apollon und den Musen entpuppt sich als das Aition für die Kallimacheische Dichtungsproduktion überhaupt. Die Figur des Dichters selbst wird in den Kosmos der Kallimacheischen Dichtung integriert und damit auf eine Stufe mit den mythischen und göttlichen Figuren gestellt, die ihn bevölkern. Diese Selbstmythisierung bildet die letzte Konsequenz aus der souveränen Einordnung der Kallimacheischen Dichtung in die literarische Tradition. E n t sprechend treten auch die Gegenspieler der dichterischen persona nicht als zeitgenössische Kritiker, sondern als Teichinen, mythische G n o m e aus einer längst vergangenen Vorzeit, auf: 29 Die Heraufbeschwörung des (Ur-)Alten, das einen veralteten literarischen Geschmack repräsentiert, dient als — überzeichnete oder möglicherweise sogar eigens zu diesem Zweck konstruierte — Gegenposition zu der sich davon abgrenzenden Selbstdefinition des Neuen. 3 0 Der im Aitien-Prolog inszenierte Sieg des betagten Erzählers, der sich der lebenslangen Gunst Apollons und der Musen gewiss ist, über die Teichinen repräsentiert den endgültigen Triumph seiner Dichtung. Der Wunsch nach Befreiung von der Last des Alters, den der Erzähler am Ubergang zwischen Aitien-Prolog und Somnium ausspricht (fr. 1.32—40 Pf./M.), ist jüngst als Bekenntnis des Kallimachos gedeutet worden, der Erstarrung unter der Bürde der Tradition zu entrinnen und nach einer originellen, ,kindlichen' Poetik zu streben. 31 Eine solche Deutung besitzt im Kontext des Kallimache-

29

Vgl. Müller (1987, 45); Bing (1988, 112f.); Acosta-Hughes/Stephens (2002, 241, 245 f.). 30 Vgl. Asper (1997, 145-147); Schmitz (1999). 31 Sier (1998); ähnlich auch Acosta-Hughes/Stephens (2002, 245f.). Vgl. Hunter (2001) zur Repräsentation der Literaturgeschichte als eines Alterungsprozesses und der Assoziation von Veijüngung und Innovation bei Simonides, Timotheos von Milet und Kallimachos (vgl. auch Fantuzzi/Hunter 2002, 96).

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ischen Innovationsbewusstseins zwar durchaus ihre Attraktivität, doch ist dabei das Risiko der verfälschenden Übertragung spezifisch moderner Ideen auf den antiken Text im Blick zu behalten. So hat etwa das Konzept von der kindlichen Originalität speziell im poetischen Bereich seinen geistesgeschichtlichen U r sprung in der Romantik. Auch wenn das Motiv des Kindes in der Kallimacheischen Poetik durchaus bestimmte positive Konnotationen impliziert, wie oben anhand der Textbeispiele aufzuzeigen versucht wurde, findet die absolute Idealisierung der Kindheit keinen Rückhalt in der antiken Auffassung. Auch die spiegelbildlich entsprechende Assoziation des Greisenalters mit der Last der Tradition wird dem souveränen Umgang des Kallimachos mit der literarischen Tradition nicht völlig gerecht, die er nicht im Sinne einer Bloomschen ,anxiety of influence' als Bedrohung seiner Schaffenskraft zu furchten scheint, sondern die er im Gegenteil zur Ausgangsbasis seiner kreativen Experimente macht. 3 2 Kallimachos sagt ja gerade nicht, dass er wieder ein Kind werden möchte, um seine dichterische Kreativität wiederzuerlangen, sondern dass die Musen ihm sein Leben lang bis ins Alter die Treue bewiesen haben und weiterhin beweisen werden. Der Wunsch nach Verjüngung drückt nicht so sehr eine nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit im Sinne einer Suche nach dichterischer U r sprünglichkeit als vielmehr die Hoffnung auf Unsterblichkeit und Apotheose durch die Dichtung aus, welche das unmittelbar anschliessende Somnium durch den impliziten Verweis auf die Legende von Hesiods Veijüngung in der poetischen Fiktion gleich in Erfüllung gehen lässt.33 Falls der Wunsch des Erzählers eine Vegüngung nicht nur in metaphorischem, sondern auch im physischen Sinne intendiert, so wäre wohl entsprechend der antiken Auffassung nicht im Kind des Prologs, sondern im Jüngling des Somniums die fiktive ,Idealform' des Dichters zu sehen; aber auch diese Figur gewinnt ihr Profil durch den Bezug zum alten Dichter, der auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht und seine dichterische Produktion im Rückblick auf sein Leben legitimiert. Erst die Aufspaltung des Dichters in eine junge und eine alte persona vermag die gesamte Palette der Kallimacheischen Dichtkunst abzudecken, indem sie die Vorzüge beider Altersstufen in einem literarischen Kunstgriff verbindet. Wie sich in der narrativen Struktur des Ai tien-Prologs die Figuren des jungen und des alten Dichters unauflöslich miteinander verbinden, so ergänzen sich auch in der literaturhistorischen Perspektive die Konzepte der Tradition und der Innovation gegenseitig. Die Doppelrolle des Erzählers im Aitien-Prolog reflektiert die janusköpfige Position, an der sich Kallimachos in der griechischen Literaturgeschichte positioniert: Er charakterisiert sich gleichzeitig als ,alten' Dichter am

32 Bloom (1973). Explizit auf Bloom berufen sich etwa Goldhill (1986, 30) und Acosta-Hughes/Stephens (2002, 246). 33 Zu Kallimachos' Anspielung auf die Hesiod-Legende vgl. Scodel (1980, bes. 318f.).

Literarische Innovation als Veijüngung der Tradition

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Ende einer langen Traditionskette und als jungen' Dichter am Beginn einer neuen Epoche. 34 Wenn der Akzent dabei auf der Figur des von Apollon und den Musen geförderten jungen Dichters zu liegen scheint, die in der Erinnerung des alten Dichters nochmals heraufbeschworen wird, mag sich darin die bewusste Präferenz des Neuen in der Kallimacheischen Poetik spiegeln. Die Tatsache, dass Kallimachos auch heute noch als einer der innovativsten griechischen Dichter gilt, zeugt nicht zuletzt vom Erfolg seiner Selbstdarstellungsstrategie, mittels welcher er die Rezeption seiner eigenen Werke antizipiert und damit auch in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. An einer dem Beginn des Hellenismus vergleichbaren Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance-Humanismus wird sich Petrarca als ,ante retroqué respiäens' beschreiben, als jemand, der einerseits auf die hinter ihm hegende

antike Tradition zurückblickt und sich andererseits vorausschauend selbst in der Rolle eines Traditionsstifters für künftige Generationen sieht.35

Bibliographie 1.

Textausgaben

Pf.

Callimachus, ed. R . Pfeiffer, Vol. I: Fragmenta, Vol. II: H y m n i et Epigrammata, Oxford 1949/1953. M. Callimaco, Aitia: Libri Primo e Secondo. Introduzione, testo critico, traduzione e commento a cura di G. Massimilla, Pisa 1996. Francesco Petrarca, Epistolae familiares XXIV: Vertrauliche Briefe. Lateinisch-Deutsch. Ubersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von F. N e u mann, Mainz 1999.

2.

Sekundärliteratur

Acosta-Hughes 2002

Acosta-Hughes/ Stephens 2002 Asper 1997

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34 Vgl. Hunter (2001, 251): "It is a very Callimachean irony that such [sc. neos] poetry is produced by a man 'whose decades of years are not few' (fr. 1.6) and is sanctioned by the example of one of the 'oldest' of past poets, namely Hesiod." 35 Francesco Petrarca, Epistolae familiares X X I V (Epistolae antiquis illustrioribus), 1.23 (vgl. das Nachwort zur Ausgabe von F. N e u m a n n , bes. 332—342).

38 Barchiesi 1993 Bing 1988 Bloom 1973 Bulloch 1985 Bulloch 1993

Cameron 1995 Effe 1993

Fantuzzi/Hunter 2002 Genette 1993

Goldhill 1986 Greene 1986

Haussier 1976

Harder 1988 Harder 1990 Hardie 1993 Harriott 1969 Haug/Wachinger 1993 Heath 1988 Hinds 1998 Horsfall 1993

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Literarische Innovation als Verjüngung der Tradition Hose 1997 Hose 2000

Hunter 2001

Hutchinson 1988 Kambylis 1965

Kaminski 1998

Kerkhecker 1997 Kluxen 1988

March 1987 McDermott 1991 Moog-Griinewald 2002 Müller 1987 Nisbet-Hubbard 1970 Nünlist 1998 Pfeiffer 1928=1960

Pfeiffer 1960

Pretagostini 1995

Schmidt 1987

39

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40 Schmitz 1999 Schwindt 2000

Schwindt 2000a

Schwinge 1986 Scodel 1980 Sier 1998 Stephan opoulos 1980 Verdenius 1983 Walde 2000 Weber 1993

Wimmel 1960 Zanker 1987

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CHRISTINE WALDE

Nach der

Katastrophe

Zum Verhältnis von Erinnerung und Innovation in Vergils Aeneis Innovationen können nur wahrgenommen werden, wenn ein Bewußtsein für die eigene Vergangenheit existiert oder wenn ein Zustand hergestellt wird, der eine markante Verbesserung gegenüber früheren Zeiten erkennbar werden läßt. Der reflektierende Mensch ist immer innovativ, sofern er auf die sich jeden Tag seines Lebens stellenden Anforderungen reagiert, diese aber nicht nur auf schon Bekanntes reduziert, sondern kreativ verarbeitet. Insofern könnte man mit Walter H A U G das „Innovative" sogar als „ein Wesenselement" der „menschlichen Erfahrung" bezeichnen.1 Da sich das Erfahrungswissen des Menschen ständig erweitert, ergibt sich ein rein quantitativer Effekt, der zu ständigen Neuhierarchisierungen der Erfahrungen, möglicherweise auch erst phasenverschoben in der Nachträglichkeit, zwingt. Die aus diesem Lern-Prozeß resultierenden Sinnüberschüsse kann man als das „Neue" bezeichnen. Zweifellos gibt es hierbei Phasen resp. Epochen, die sich durch ein schnelleres oder langsameres Tempo der Innovationen auf dem Gebiet der Technik, der Literatur, der Gesellschaft oder der Politik auszeichnen. Hiervon müssen die Wahrnehmung und kulturelle Muster der Deutung der Innovation unterschieden werden. Das R o m des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, das von grossen politischen Unruhen, Bürgerkriegen und — in der Folge — von einer irreversiblen politischen Neuordnung geprägt war, zählt sicher zu den intensiveren Innovationsphasen. Es drängt sich auf, einen Zusammenhang zwischen diesem Innovationsschub und der Bürgerkriegszeit herzustellen, ist es doch ein weithin beobachtbares Phänomen, daß auf .Katastrophen' ein sichtbar höheres Niveau kultureller Anstrengungen, mithin eine Phase der notwendigen Restauration resp. Innovation folgt.2 1

D a z u prinzipiell HAUG (1993).

2

Vgl. FUHRMANN (2002); allgemein zum traumatischen Prozess und kultureller Aktivi-

tät: ROTH (1998).

Christine Walde

42

Vieles 3 deutet darauf hin, daß insbesondere der Bürgerkrieg zwischen den berühmtesten Feldherrn R o m s , Caesar und Pompeius (49/48 v. Chr.), dem nach dem Tod beider Protagonisten noch weitere kriegerische Auseinandersetzungen in verschiedenen Freund-Feind-Konstellationen folgten, als ein starker Einschnitt, j a als ein zivilisatorischer Zusammenbruch wahrgenommen wurde, der zu einer Verunsicherung in allen Wert- und Lebensmassstäben führte. In der unmittelbaren Nachbürgerkriegszeit steuerte Octavianus—Augustus den öffentlichen Diskurs so weit, daß es sich beim Bürgerkrieg u m ein gleichsam offenes und zugleich auf lange Jahre tabuisiertes T h e m a handelte. D i e zu beobachtende Anekdotenbildung, etwa in bezug auf die Gestalt des Republikaners par excellence, Cato Uticensis, ist hierfür gerade kein Gegenargument, da gebahnte stereotype Formen der Erzählung bekanntermassen eine misslingende Form der Verarbeitung eines Traumas darstellen. Innovation im prägnanten Sinne wurde in R o m häufig als renovatio4, als W i e derinstandsetzung eines besseren, temporär verlorengegangenen Zustandes inszeniert. Auch die augusteische Restauration .tarnte' sich durch einen konstitutiven R ü c k g r i f f auf die Frühzeit R o m s , gab das N e u e als das Alte aus, j a griff zu einer symbolischen N e u g r ü n d u n g der Stadt, u m die unmittelbare Vergangenheit in einer bestimmten Weise zu deuten und dadurch nachhaltig aus d e m Gedächtnis zu drängen. 5 Aus diesem Kontext wird verständlich, daß im R o m der Nachbürgerkriegszeit die renovatio des Augustus mit der Vorstellung einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters verbunden wurde — trotz aller Probleme, die dieser Vergleich mit sich bringt. 6 Immer aber werden bei einem derartig in die gesellschaftlichen Strukturen eingreifenden Ereignis wie einem Bürgerkrieg unabgegoltene Elemente — gesellschaftliche, individuelle — bleiben, die sich einer staatlichen Reglementierung entziehen. Hier läßt sich die römische Dichtung als ein Bereich ausmachen, der in relativer Flexibilität und Eigenständigkeit auf den durch den Bürgerkrieg ausgelösten Reflexionsdruck reagieren konnte. Dies ist bei der R o l l e der Dichtung 3 Ich werde dieser Fragestellung in einer in der Entstehung begriffenen Publikation (im Rahmen meiner SNF-Förderungsprofessur) nachgehen, in der ich die Rolle von Lucans Bellum Civile in der Verarbeitung des römischen Bürgerkriegstraumas näher bestimme. 4 Jnnovatio' ist in der heute gebräuchlichen Bedeutung für das Klassische Latein nicht belegt (vgl. ThLL, Bd. VII.l, s.v. innovatici, Sp. 1715-1716). Zur Wort- und Bedeutungsgeschichte von Innovation', s. ZINGERLE (1976). 5 Dieses in R o m zu beobachtende Muster einer .Katastrophenverarbeitung' zeigt VON

UNGERN-STERNBERG

(2000)

exemplarisch a m

Galliereinfall auf. V g l .

a u c h VON M Ü L L E R -

VON UNGERN-STERNBERG, Das Alte als Maske des Neuen: Augustus und Cosimo de' M e dici (in diesem Bande). 6

D a z u g r u n d l e g e n d WALLACE-HADRILL

( 1 9 8 2 ) , v g l . S C H M I D , E p o c h e als R i t u a l :

merkungen zu den augusteischen Säkularspielen (in diesem Bande).

An-

Nach der Katastrophe

43

in R o m , vor allem des Epos, auch gar nicht anders denkbar, hatte sie doch von ihren Anfängen im 3. vorchristlichen Jahrhundert an eine markante Funktion in der Mentalitätsbildung und der Bahnung gesellschaftlicher Prozesse, in denen sie nicht nur reaktiv, sondern auch aktiv wirkte. 7 Die ersten römischen Epen, das Bellum Punicum des Naevius und die Annales des Ennius, begleiteten in keineswegs einseitig-undifferenzierter Auseinandersetzung den politischen Aufstieg R o m s und trugen maßgeblich zu einer Konturierung des römischen Sendungsbewusstseins bei. Die sich in der Folge entwickelnde historische Epik Roms, die trotz einer fragmentarisch fassbaren griechischen Tradition als genuin römisch gelten kann, nahm oft auch nur leicht zeitversetzt auswärtige Kriege und später auch innenpolitische Ereignisse mit den Mitteln der Fiktion/Dichtung in den Traditionsbestand der römischen Gesellschaft auf; d.h. diesen Ereignissen wurde als .zugespitzte Bilder' (Hayden White) eine Bedeutung im Koordinatensystem des römischen Selbstverständnisses verliehen, was nicht einer Niederschrift der historischen Wahrheit entspricht. 8 Diese Form der ,Fiktionalisierung' von historischen Ereignissen bahnte mit der Zeit ein Vorverständnis, das das römische P u blikum auch Dichtung mit genuin mythologischen Stoffen in diesem Horizont verorten ließ. Da es ohnehin Ressort der Dichtung ist, reale oder erfundene Dinge darzustellen, bedeutet die Darstellung oder Verarbeitung einer menschengemachten Katastrophe letztlich nur eine Sonderform. Gerade die literarische Darstellung von .Katastrophen' zeichnet sich - zwangsläufig — durch eine Dekomposition 9 überkommener literarischer Traditionen aus, die sich in neuen Formen und in einer Gewinnung neuer Gehalte für die Dichtung manifestiert. 10 Auch in der unmittelbar auf die Bürgerkriege folgenden römischen Dichtung wurde immer auch ein avanciertes Dichtungsprogramm vertreten, das sich nicht auf eine rein politische Stellungnahme, etwa im Sinn einer pro-augusteischen Propaganda, reduzieren lässt. Das Verhältnis, das in R o m zwischen Dichtung und Tagesaktualität hergestellt wurde, müßte allerdings in einer umfassenden, kontrastiven Analyse aller Dichter erst noch näher bestimmt werden. Ich möchte mich im folgenden nur Vergils Aeneis zuwenden, obwohl sich dieser Sachverhalt zweifellos auch in den Oeuvres von Lukrez, Horaz, Properz, Tibull und Ovid niedergeschlagen hat und bis mindestens zu Lucans Bellum Civile und den Epen der Flavischen Zeit weiterverfolgt werden könnte.

7 Zum gesellschaftlichen Ort, den die frühe römische Dichtung in der Gesellschaft hatte, siehe auch R Ü P K E (2001). 8 Vgl. hierzu insbesondere Ciceros programmatische Aussagen zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und historischer Epik in De legibus I 4—5. 9 Vgl. ISER (2002), bes. 662-668. 10 R O S E N (2001) geht diesem Phänomen fur die neuzeitliche Literatur nach.

Christine Walde

44

Obwohl die Dichtung spezifische Formen und Wahrnehmungen des Innovativen 1 1 aufweist, die Vergil mittels seiner Dichtung thematisiert, kann zugleich auf den gesellschaftlich-politischen Bereich geblickt werden, da die Aeneis als poetische Reaktion auf den durch die Bürgerkriege ausgelösten Reflexionsdruck in exemplarischer Weise Möglichkeit, Notwendigkeit und Grundbedingungen der gesellschaftlichen Neuerung offenlegt.

I. Vergils Aeneis Innovation' in verschiedenen Dimensionen und Formen ist ein dominantes T h e ma der Aeneis. Es ist eng verknüpft mit dem Konzept der Erinnerung, der conditio sine qua non fur die Wahrnehmung von Veränderungen. Vergil macht von den beiden Proömien an, in denen uns verschiedene Erinnerungsräume (der Iuno, des fatum, des Aeneas, der römischen Geschichte, des Dichters, der Musen) eröffnet werden, ,Erinnerung' und Neuhierarchisierung des Erfahrungshorizontes zum prägnanten Gegenstand seiner Darstellung und zugleich zum Darstellungsprinzip. Diese Thematisierung der Erinnerung als Schaltstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist deshalb so überzeugend — H E G E L bezeichnete die Aeneis als den ersten wichtigen Referenztext der Erinnerung —, weil sie mit dem Sonderfall einer menschengemachten Katastrophe, der Zerstörung Trolas, und deren Bewältigung verknüpft ist. Troia Die antike Dichtung in ihrer Gesamtheit hat ihre Imagination an dem in Verblendung und Gewaltexzessen geführten Troianischen Krieg entzündet, galt doch die Zerstörung der Heimatstadt 12 als das Schlimmste, was Menschen anderen Menschen antun können, weil durch sie Kultur, Identität, Kontinuität und kollektives Gedächtnis/des Gedenkens verloren gehen. 1 3 Diese Einschätzung findet ihren Ausdruck in dem zum literarischen Topos sich entwickelnden Bild einer einstmals großen, nun langsam der Vergessenheit anheimfallenden Stadt, die man nicht mehr an der selben Stelle in alter Schönheit aufbauen konnte. (Das ist eine andere Erfahrung als etwa die Zerstörung moderner Städte im Zweiten Weltkrieg oder diejenige des World Trade Centers [11.9. 2001], die zwar durch die

11

Dazu allgemein: H A U G (1993); für die römische Literatur: C O N T E / B A R C H I E S I (1989). Zum literarischen Motiv der untergegangenen Stadt (besonders in der augusteischen Literatur): LABATE ( 1 9 9 1 ) . 13 Prinzipiell zu den verschiedenen Strategien, mit der Zerstörung von Kommunen durch Katastrophen umzugehen: CAVALLI (1997). 12

Nach der Katastrophe

45

Vernichtungstechnologie noch grauenhafter und vollständiger ist, andererseits eben mithilfe der Technik auch eine scheinbar bruchlose Kontinuität, zumindest der Bausubstanz, suggerieren könnte). Die Weiterbearbeitung einzelner Gestalten des Troianischen Sagenkreises und ihrer Schicksale fuhrt mit der Zeit in der europäischen Geistesgeschichte zu einer differenzierten Psychologie des Verlustes und der Verarbeitung von Extremsituationen. Vergil konnte an diesen Diskurs im Sinne eines Erfahrungsraumes, den Dichter und Rezipienten als einen fernen Spiegel der Selbstvergewisserung gemeinsam nutzen, anschliessen. In diesem Spiegel aber reflektiert sich in wie auch immer vermittelter Form die Problematik der Nachbürgerkriegszeit in R o m . In der Gestalt des Aeneas gibt Vergil in dieser Dimension dem Mythos von Troia eine neue Wendung und weitere Tiefe. D e n n obwohl der Aeneas-Mythos schon im 6. Jahrhundert vor Christus in Etrurien, im 4. Jahrhundert in Lavinium, faßbar ist, obwohl z. B. Caesar den Troia-Mythos für politische Zwecke instrumentalisierte, obwohl es auch vor Vergil markante römische Verarbeitungen des Troia-Stoffes, bei Ennius, bei Catull gegeben hat, ist erst mit Vergils Aeneis ein Punkt erreicht, wo der Mythos von Troias Untergang mit einer inneren Notwendigkeit in der Geschichte R o m s aufgeht. Von Troia nach R o m Entscheidendes M o m e n t der Aeneis ist, daß sie das Epos eines „nicht mehr" und eines „noch nicht" ist, d. h. nicht nur daß Troia zerstört ist und R o m noch nicht existiert, sondern daß eigentlich noch nichts existiert, nicht einmal die troianischen Ansiedelungen in Latium. 1 4 Aus dem in den Proömien umrissenen weiten geschichtlichen R a u m mehrerer Jahrhunderte (Arma uirumque cano, Troiae qui primus ab oris/Italiam fato profugus Laviniaque venit/litora [...]; genus unde Latinum/ Albanique patres atque altae moenia Romae.), greift Vergil nur ein wichtiges Teilstück heraus, nämlich die Strecke von Troia nach Latium. Deren Bewältigung ist allerdings die Grundbedingung dafür, dass das spätere römische Weltreich entstehen kann. Trotz der über-individuellen historischen Dimension der Aeneis wird durch die Fokussierung auf Aeneas dieser Weg subjektiv, d. h. aus der Warte des Troianers, erzählt auch als eine Uberwindung bzw. Neubewertung seiner eigenen Vergangenheit als troianischer Krieger, hat er doch in Troia seine ganze Welt, ja eine ganze Welt und Kultur untergehen sehen. Die Rezipienten werden Zeugen, wie es dem Troianer gelingt, die Traumatisierung durch den irreversiblen Verlust von Heimat und Identität als Chance, als unabdingbare Voraussetzung dafür zu akzeptieren, daß etwas Anderes, Neues entstehen kann. Durch diese Leistung kann er seine individuelle Erfahrung im Sinne eines immer wieder neu zu er-

14

SUERBAUM ( 1 9 9 9 ) , 1 4 0

(mit weiteren Literaturangaben).

46

Christine Walde

kämpfenden Kulturfortschrittes ins kollektive Gedenken einschreiben. Paradoxerweise bedeutet gerade dies das definitive Ende Troias, denn es wird in der neuen Stadt, in Roma, ,aufgehoben' (im Hegeischen Sinne) sein. In der formal-poetischen Struktur der Aeneis wird ein ähnlicher Prozeß der .Aufhebung' und Innovation (bzw. renovatio) sichtbar: Fast in jeder Zeile der Aeneis sind Anspielungen auf, Erinnerungen an frühere literarische Werke, Prätexte, zu erkennen, unter diesen prominent, aber nicht ausschließlich, die Homerischen Epen. Und doch ist alles anders: neu! Zwischenklärung Die Tatsache, daß wir es mit „Literatur auf zweiter Stufe" (GENETTE, 1 9 8 9 ) zu tun haben, wirft notwendigerweise die Frage nach dem Verhältnis von ,Neuem' und ,Originalität', bzw. von .Originalität',,Neuem' und .schöpferischer Kreativität' auf. (1) „Originalität" und das eng damit verbundene Konzept des „Originalgenies" sind neuzeitliche Vorstellungen, die ab dem 18. Jh. an Deutungsmacht gewinnen. Legt man diesen Massstab an, wird man zwangsläufig an den Besonderheiten der römischen Literaturproduktion und dem Erwartungshorizont ihrer Rezipienten vorbeigehen. Auch die beiden Begriffe schöpferisch' und .original' sind keine Synonyme, da sich schöpferische Kreativität auch in einem individuellen Umgang mit schon vorhandenem Material, einer Neu-Zusammensetzung/ Neu-Hierarchisierung, manifestiert. 15 In der Literatur ist das „Neue", die .Innovation', eine Anreicherung, Präzisierung, Transformation, quasi Neu-Erfindung überkommener Formen und Gehalte, die sich als ,Tradition' aber erst im Kehrbild der Dekomposition manifestieren. In bezug auf die Dichtung wird man aber ohnehin nicht nur mit dem Gegensatzpaar .Tradition' und .Innovation' operieren können. Da der Akt des Tradierens im Allgemeinen immer nur von Individuen resp. Gruppen/Institutionen in einem zielgerichteten Auswahl- und Bewertungsprozess vollzogen wird, müssen ,Tradition' und .Innovation' — wie B A R N E R vorschlägt - mindestens um den Begriff der .Norm' erweitert werden. 16 Erst vor dem Hintergrund einer N o r m können Innovationen überhaupt sichtbar werden. Wenn sich Dichter erkennbar in eine Schlüsseltradition17 stellen, setzen sie sich selbst eine Norm, die sie sogleich wieder durch Normbrechung oder Modifikationen in etwas ,Neues'

1 5 Seneca hat in Epistulae morales 84 diesen Sachverhalt programmatisch diskutiert, ind e m er in bezug auf intellektuelle Tätigkeit/Dichtung das N e u e als eine Neukomposition von (schon vorhandenen) Gedanken/Prätexten, die als Manövriermasse dienen, definiert. In diesem Kontext verwendet er die Metaphorik der Verdauung und der Honigproduktion. 1 6 Dazu BAHNER (1989); SCHRÄM (1991). 1 7 Zur Frage der Gattungsnormen und ihrer relativen Instabilität: MOST (2000).

Nach der Katastrophe

47

ü b e r f u h r e n u n d damit außer Kraft setzen. So gefasste dichterische Kreativität u n d Innovativität sind — anders als etwa in der Technik — w e d e r ein zielgerichteter, berechenbarer n o c h ein j e ein f ü r allemal abgeschlossener Prozess. O b w o h l ein Dichter sich k a u m einer P r ä g u n g durch das eigene soziokulturelle U m f e l d wird entziehen k ö n n e n , k a n n er — u n t e r Ausnutzung des ,zeitfreien' R a u m s der Literatur — sich auch Prätexte z u m M o d e l l wählen (in Details o d e r in grösserem U m f a n g ) , von d e n e n ihn J a h r h u n d e r t e trennen u n d mittels einer Juxtaposition mit anderen K o n t e x t e n paradoxe Sinnstiftungen schaffen. Konkret auf die Aeneis bezogen: Fern davon, sich auf N a t u r resp. Realität zu beziehen, b e t o n t Vergil — w i e die hellenistischen Dichter — die Kunst als wichtigsten R e f e r e n z r a h m e n der Kunst. Dadurch daß hinter fast j e d e r Zeile dieses Epos — fast w i e in der m o d e r n e n Kollagetechnik — b e k a n n t e literarische Kunstwerke o d e r Motive durchschimm e r n , wird ein unablässiger Prozeß des Vergleichens, des E r i n n e r n s in G a n g gesetzt, 1 8 der letztlich n u r zu der Erkenntnis f u h r e n kann, daß hierdurch weniger die „Homerizität" als vielmehr die „absolute Vergilizität" 1 9 illuminiert wird. Was auf den ersten Blick als H o m m a g e u n d Sicherung des Traditionsbestands erschein e n mag, ist in Wirklichkeit eine Positionierung des eigenen Werks i m Sinne einer Geltungseinschränkung der Prätexte. Die D e k o m p o s i t i o n lässt die Prätexte in ihrem Anachronismus aufscheinen u n d verleiht der Aeneis die Qualität eines die ,Tradition' fortan d o m i n i e r e n d e n ,Hyper-Epos'. D i e E r i n n e r u n g e n des A e n e a s 2 0 Es gibt in der Aeneis Passagen, in d e n e n Vergil seine Auseinandersetzung mit den Prätexten gleichsam als interne Interpretationsanweisung in besonderer Verdicht u n g inszeniert, nämlich dann, w e n n Aeneas sich an seine Vergangenheit als Troianer erinnert oder mit dieser durch äußere Ereignisse konfrontiert wird. Eine große Tiefe, ja Dreidimensionalität des Textes entsteht dadurch, daß die E r i n n e r u n g e n des Aeneas häufig ,künstlich' vermittelt werden, d. h. daß die Erlebnisse, derer Aeneas gedenkt oder die i h m widerfahren, den R e z i p i e n t e n aus der D i c h t u n g vor Vergil i m Sinne einer auch poetischen E r i n n e r u n g b e k a n n t sein k ö n nen, sei es, daß es sich u m ein Ereignis handelt, das ,Aineias' in e i n e m anderen literarischen Werk erlebt hat, sei es, daß es sich u m eine wiedererkennbare S t r u k tur einer Episode aus e i n e m Prätext, etwa u m eine typische Szene (Traum, Aristie, Reise etc.) handelt. Ein offensichtliches Beispiel hierfür, das unmittelbar am A n f a n g der Aeneis in dieser Hinsicht ein interprétatives Vorzeichen setzt, ist der verzweifelte Ausruf des Aeneas i m Seesturm (I 94—101), als der H e l d in e i n e m

18 19

20

Grundlegend zu ,Homer' in Vergil:

KNAUER (1964).

SCHMIDT ( 2 0 0 1 ) , 6 4 .

Dazu prinzipiell:

Q U I N T (1982); H E R Z O G (1993).

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Christine Walde

vieldiskutierten Makarismos der vor Troia Gefallenen wünscht, er wäre damals im Zweikampf von Diomedes getötet worden. Die Rezipienten können sich hier unter anderem die entsprechende Szene in Bias V 29 ff. vorstellen, mit allen Implikationen, die dieser Bezug mit sich bringt, auch einer Kritik an seiner Mutter Aphrodite, die ihn ,dort' gerettet hat. 21 Durch diesen Bezug auf Prätexte, die kommentiert und probehandelnd modifiziert werden, wird die Erinnerung als Medium und Gegenstand der Reflexion auch zum poetologischen Thema: Setzt sich Aeneas mit seiner Vergangenheit auseinander, so eröffnet Vergil — in Assmannscher Terminologie — ,den Dialog von Texten mit Texten', der ja die Grundvoraussetzung für eine ,Ideenevolution' ist. 22 In der Neufokussierung und Schaffung von Parallelversionen sowie durch die für die römische Dichtung typische „Kreuzung der Gattungen", in der Elemente anderer Gattungen - z. B. der Elegie oder der Tragödie — zur Erschliessung neuer Sinngehalte in das Epos integriert werden, konnte Vergil zu einer neuen Qualität literarischen Ich-Bewusstseins vordringen. Vergil verfolgt also in seinem Dichten in Form und Inhalt sehr unterschiedliche, sehr ambitiöse Ziele, gesellschaftliche, poetische, die jedoch wie in keinem anderen Werk der Antike — außer vielleicht in Lucans Bellum Civile — aufs engste, ja untrennbar miteinander verknüpft sind: Vor dem Hintergrund der Nachbürgerkriegszeit diskutiert Vergil in der Gestalt des Aeneas nicht nur die jederzeit gefährdete Soziabilität des Menschen, die eine Art inneren labor, eine kontinuierliche, oft schmerzhafte Neubewertung der eigenen Erfahrungen erfordert, sondern auch den Konflikt zwischen Altem und N e u e m seines eigenen Dichtens, kurzum das Spannungsverhältnis zwischen Anachronismus und Innovation. 23 Eine zentrale Episode fur beide Textdimensionen ist der Besuch des Aeneas in Buthrotum im dritten Buch (293—505) — bekanntermassen eine literarisch sehr folgenreiche Geschichte . . .

II. Buthrotum Der Kontext der Buthrotum-Episode in der Aeneis In Buch II und III hat fast ausschließlich Aeneas das Wort, 2 4 der vor der Karthager-Königin Dido in einer Art Autobiographie sein Leben während und nach 21

Dies ist gleichwohl nicht der einzige Bezug. Die Rezipienten können auch Aussagen anderer berühmter Helden, Achilleus (Bias XXI 276—280) und Odysseus (Odyssee V 297-312), mithören, was dem ,neuen' Helden Aeneas Konturen verleiht. Zu den intertextuellen Implikationen der Seesturmszene zusammenfassend S C H M I D T (2001), 66ff. 22 A S S M A N N ( 1 9 9 7 ) , 2 8 1 , 2 8 9 und passim. 23 Dazu grundlegend: G R E E N ( 1 9 8 6 ) . 24 Zu den verschiedenen Erzählerstimmen in Aeneis II und III: FERNADELLI ( 1 9 9 9 ) .

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dem Troianischen Krieg Revue passieren läßt. Buch II ist der apokalyptischen Schilderung seiner letzten Stunden im untergehenden Troia gewidmet, dessen Vernichtung er in der göttlichen Verheißung eines größeren weltenbeherrschenden Ilion entkommen war. Seine Erzählung konfrontiert die Rezipienten mit verschiedenen Wort-imagines Troias: das schlafende Troia in aller Schönheit vor der Zerstörung; das brennende, in der Vernichtung begriffene Troia, der Kampf der Götter um Troia. 25 Die besondere Qualität dieser Bilder besteht darin, daß Aeneas sich an etwas erinnert, das es zum Zeitpunkt nicht mehr gibt. Seine Erinnerungen haben darum einen künstlerischen, ja demiurgischen Charakter, erschaffen sie doch das Vergangene, Verlorene in Worten aufs neue. Doch ist dies keine ungetrübte Erinnerung, denn sie ist eine Falle: Aeneas wird sich — Troia deleta — an die Heimat, an das Leben dort, die Menschen, an das, was ihm wertvoll war, immer nur unter dem Aspekt ihrer Vernichtung erinnern können. In der Tat endet Aeneas' Erzählung von Troia damit, wie er — zusammen mit dem Vater Anchises, dem Sohn Ascanius und anderen profugi — von der Stätte massloser Zerstörung, die einstmals Troia gewesen war (III 11: ubi Troia fuit), flieht. Der radikal andere Charakter von Buch III läßt zunächst den Eindruck einer bleiernen Anti-Klimax aufkommen. Doch ist die gedrückte Stimmung, die vor allem am Anfang des dritten Buches herrscht, keine Kunstlosigkeit oder gar langweilig, wie das mit großer Beharrlichkeit in der Sekundärliteratur seit ungefähr dem 19. Jahrhundert tradiert wird, 26 sondern vermittelt — im Sinne einer poetischen Psychotraumatologie27 — mit großer Plausibilität und Einfühlungsvermögen den Versuch der Aeneaden, den Willen des fatum zu erfüllen, obgleich sie selbst nach dem Verlust der Heimatstadt eigentlich ganz andere Bedürfnisse hätten — Vergessen, Ruhe, Restitution. Nach hastigen fehlgeschlagenen Versuchen, in Thrakien und Kreta ErsatzTroias zu gründen, präzisieren zwar auf Kreta die dem Aeneas im Traum erscheinenden Penaten das Fahrtziel,28 doch schon an der nächsten Station, den Strophaden, mischt die gehässige Prophezeiung der Harpyie Celaeno einige Wermutstropfen in die feierlich-hymnische Verkündigung der Penaten. Trotzdem brechen die Aeneaden in relativem Optimismus auf nach Latium. Nach erfolgreicher Durchsegelung griechischen Feindesgebietes weiht Aeneas in Actium (278—289) in signifikanter Umkehrung des normalen Kriegsbrauchs als Verlierer ein Tropaion aus Waffen der Sieger, das er mit einem carmen, einem Gedicht,

25 26

Dazu Ross (1998). Sehr gute knappe Interpretation von Aeneis III: PUTNAM (1980); vgl. HÜBNER

(1995). 27

Zum Begriff der Naturgeschichte der Psychotraumatologie (zu der die poetische zu

zählen wäre): FISCHER/RIEDESSER ( 1 9 9 8 ) , 28FF. 28

Vgl. WALDE (2001), 275ÍF.

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schmückt. Die ungewöhnliche Waffenweihe von Actium 2 9 — eine Präfiguration des Sieges, den Augustus 29 ν. Chr. erringen wird — markiert eine Etappe des Abschieds von der Troianischen Vergangenheit und setzt — gleichsam proleptisch — ein dezidiert römisch-historisches Vorzeichen vor die folgenden Stationen. Allerdings fuhrt der anschließende Besuch in Buthrotum Aeneas in einem Pendelschlag in die andere Richtung noch einmal tief zurück in seine Vergangenheit. U m den Text, Aeneas selbst, zu Wort kommen zu lassen (III 294—299): „Hier kommt ein unglaubliches Gerücht zu Ohren, daß der Priamos-Sohn Helenus über griechische Städte herrsche, daß dieser sich der Ehe des Aiakiden Pyrrhus und seiner Szepter bemächtigt habe und daß Andromacha wiederum in den Besitz eines Ehemannes aus der Heimatstadt gekommen sei. Ich erstarrte vor Staunen und das Herz entbrannte in wundersamer Liebe, den M a n n persönlich anzusprechen und so große Schicksalsfálle genauer in Erfahrung zu bringen." Aeneas gibt hier nur ein Gerücht wieder, das er — seine damalige Perspektive vermittelnd 3 0 — als incredibilis bezeichnet. Doch selbst diese unglaubliche fama verriet höchstens die Hälfte des eigentlichen Tatbestandes. Die aufgrund des Gerüchtes zu erwartende rührende Begegnung mit alten Landsleuten wird in Wirklichkeit — überraschend auch für die Rezipienten — zu einem fast surreal anmutenden Besuch in Aeneas' Heimatstadt Troia. Denn gerade als Aeneas sich vom Hafen aus der Stadt nähert, da (300) „bringt Andromacha zufällig der Asche feierliche Mähler und traurige Gaben dar vor der Stadt in einem Hain nahe der Welle eines falschen Simois und ruft die Manen zum leeren Grabmal, das dem Hectors (Hectoreus) ähnlich ist, welches sie auf grünem Rasen, zusammen mit doppelten Altären, Ursache der Tränen, geweiht hatte." Doch beschränkt sich die Inszenierung des alten Troia nicht nur auf Hectors Grabhügel und die Landschaft vor der Stadt, sondern Aeneas findet in Buthrotum eine verkleinerte Kopie Troias vor.

29

Dazu P U T N A M ( 1 9 8 0 ) , 6f. Für die Buthrotum-Episode ist von entscheidender Bedeutung, daß Aeneas sie in Nachträglichkeit selbst erzählt und zwar mit einer sekundären Bearbeitung, die der Geschichte schon eine bestimmte Position in seiner Biographie zuteilt. Insofern kann man in der Erzählung schlecht unterscheiden zwischen dem Nachvollzug des Erlebens in Buthrotum und der Perspektive der Nachträglichkeit. Der eben zitierte Anfang kann z. B. nicht als Banalisierung des Schicksals der Andromacha gewertet werden, die eigentlich mit ihrer standesgemäßen Wiederverheiratung zufrieden sein sollte, sondern ist eine Wiedergabe des Gerüchts (cessisse [297], das fiir den modernen Interpreten unvermittelt vielleicht einen negativen Beigeschmack hat, ist, wie W I L L I A M S [ 1 9 6 2 , ad loc.)] aufweist, ein Terminus der römischen Rechtssprache). 30

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Auch von Vergil unabhängige Quellen, ζ. B. Dionysios von Halikarnass (I 51, 1), berichten über die per se bemerkenswerte Großzügigkeit des Griechen Pyrrhos, der dem Troianer Helenos Andromache und mit ihr seine Herrschaft vererbt. 31 Dionysios erwähnt sogar kurz einen Besuch des Anchises (ohne Aeneas) in Buthrotum und daß die dort angesiedelten Troianer ihre Burg Troia nannten. Doch nur Vergil läßt Buthrotum eine parva Troia, ja ein Disney-Troia sein. Der morbide Zauber dieser Episode tritt durch einen Blick auf den K o m m e n tar des Servius deutlich hervor: Wenn Servius (ad Aen. 10, 60; vgl. B E T T I N I [2000], 222) konstatiert: novimus enim hanc fuisse consuetudinem ut advenae patriae suae imaginem sibi redderent, weist er lediglich darauf hin, daß Kolonisten oder Exilierte an ihrem neuen Aufenthaltsort den Geist der Heimat in irgendeiner Form weiterleben lassen, etwa in einem bestimmten Ensemble von Gebäuden und Plätzen, durch Namensgebungen und Folklore. Bei dieser eher symbolischen Reproduktion, 3 2 die auch heute noch in Ansiedelungen von Emigranten beobachtet werden kann, flöß jedoch auch der Genius loci des neuen Wohnortes, in Gestalt der örtlichen Gegebenheiten, des Klimas, des Zeitgeschmacks, der technischen Möglichkeiten ein. Vergil hingegen evoziert durch eine kleine Veränderung dieser Konstellation etwas im Wesen völlig anderes. Denn das Troia B u throtums ist nicht eine Troia ähnliche Stadt, sondern das zu dieser Zeit einzige Troia, die Kopie einer ganzen längst untergegangenen Stadt und der sie u m g e benden Landschaft, die ihre Bewohner gemeinsam mit den Phantasmen von Gestern in .lebendiger Vergangenheit' bevölkern: Das falsche (oder echte?) Troia Buthrotums ist in unterschiedlicher Ausprägung ein mentales Gefängnis 33 der dort angesiedelten Troianer. In dieser Episode der Aeneis wird die Problematik der Erneuerung und der Erinnerung und ihrer Medien auch eine offensichtliche und psychologisch stringente Problematik der Handlungsfiguren, die deutliche Identifikationsangebote an das intendierte Publikum seiner Zeit macht. Durch diese Verdichtung kann Vergil auf einer metapoetischen Ebene um so wirkungsvoller auch ein Manifest seiner Dichtkunst lancieren. Die Bedeutung der Buthrotum-Episode auf der Ebene der Handlung Besser als mit diesem Doppelgänger- oder Wiedergänger-Troia hätte man die Kraftlosigkeit von Uberlebenden, die durch eine menschengemachte Katastrophe ihre Existenz verloren haben und keinen Neuanfang mehr zustande bringen, 31

Zu den vor-vergilischen Traditionen von Andromache und Aineias:

(2002). 32 33

Zu diesem Phänomen: M U S T I (1988); Ähnlich auch Q U I N T ( 1 9 8 2 ) .

BETTINI

(2000).

CAÑAVERO

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k a u m versinnbildlichen k ö n n e n . Die exakte R e p r o d u k t i o n der Heimatstadt an e i n e m anderen O r t ist, was die Troianer in B u t h r o t u m betrifft, der Versuch des Vergessenmachens des traumatischen Erlebnisses, i n d e m m a n — so gut es eben geht — hinter dieses zurückgreift. D a ß die Vorstellung eines künstlichen Ersatzes nicht eine R ü c k p r o j e k t i o n m o d e r n e r psychologischer Konzepte ist, beweist ein anderes literarisches Motiv, das gerade in der Augusteischen Zeit eine markant häufigere Darstellung findet, nämlich die Verfertigung einer Statue als Ersatz der/s f e r n e n oder toten G e liebten. Maurizio B E T T I N I hat die E n t w i c k l u n g dieses Motivs in seiner bezaub e r n d e n Studie ,11 ritratto dell' amante' nachgezeichnet. Die berühmteste aller ,Fetischistinnen' ist zweifellos Laodamia (vgl. auch Aen. VI 447), die sich eine Statue des abwesenden bzw. toten Gatten Protesilaos, des ersten griechischen Toten des Troianischen Kriegs, verfertigen u n d in ihrem Schlafzimmer aufstellen lässt. O v i d schildert wenige Jahre nach Vergils Aeneis in seinem zwölften Heroidenbrief meisterhaft ihre Obsession u n d f u h r t dadurch direkt-indirekt eine Diskussion ü b e r das Verhältnis von Original u n d Kopie, vermutlich entschieden zugunsten der Kopie. 3 4 Vergil hat Z ü g e u n d Funktionen dieses Motivs der Verfertigung eines Surrogats auf die Troianer in B u t h r o t u m übertragen bzw. in der A n w e n d u n g erweitert. 3 5 E r hätte ja z. B. auch eine Andromacha darstellen k ö n n e n , die sich mit Abbildern, effigies ihrer toten Familie, von H e c t o r u n d Astyanax, u m g i b t u n d darin eine gewisse Tröstung findet.36 In der Aeneis aber hat sich eine allzusehr der Vergangenheit verhaftete G r u p p e von Menschen z u sammengetan u n d sich die effigies einer verlorenen Stadt geschaffen, in der sie die Vergangenheit konkret inszeniert. O b es sich hierbei in j e d e r Hinsicht u m eine minderwertige Kopie handelt, m ö c h t e ich anders als etwa B E T T I N I 3 7 nicht abschliessend entscheiden. I m m e r h i n wünscht Aeneas in seinen etwas zwiespältigen Abschiedsworten ( 4 9 3 f f ) , daß dieses kleine Troia nicht dasselbe Schicksal erleiden m ö g e wie das ,Original'. Troia o h n e zukünftige Zerstörung, o h n e W i e d e r h o l e n der Fehler seiner Herrscher, wäre j e d o c h zweifellos ein Kulturfortschritt. Innerhalb dieses n e u e n ,alten' Troia ist Andromacha n o c h einmal eine Steiger u n g dieser sich i m Konkreten verlierenden Vergangenheitsverhaftung. Ihre A u f tritte, jeweils p r o m i n e n t hervorgehoben durch direkte R e d e n , u m r a h m e n die zentrale Prophezeiung des Sehers Helenus. Andromacha lebt in einer an einem bestimmten Z e i t p u n k t ihres Lebens eingefrorenen, erstarrten Scheinwelt, nämlich nach d e m Tode Hectors, aber vor der endgültigen Zerstörung Troias. Aeneas sieht sich, als er sie vor den Toren Buthrotums trifft, unversehens selbst in diese

(1992), 12ff.;

34

BETTINI

35

V g l . BETTINI ( 2 0 0 0 ) .

WALDE

36

V g l . BETTINI ( 2 0 0 0 ) 2 2 4 .

37

BETTINI ( 2 0 0 0 ) , 2 2 4 f f . ,

(2001), 324f.

insistiert, es sei eine effigies in deterioribus.

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Zeit zurückversetzt. D a erblickt A n d r o m a c h a Aeneas u n d auch sie wird durch die B e g e g n u n g mit e i n e m Totgeglaubten in einen Schockzustand versetzt. 3 8 Bei der Schilderung der ersten B e g e g n u n g stellt Aeneas seine eigene Verwirrung, die lediglich in raris turbatus vocibus hisco (314) erahnbar wird, in d e n H i n t e r g r u n d u n d konzentriert sich auf die heftige R e a k t i o n der A n d r o m a c h a (306ff.): „Als sie m i c h k o m m e n sieht u n d ringsum fassungslos troische Waffen, da erstarrte sie mitten im Blick, als ob sie von g r o ß e n monstra erschreckt w o r den wäre, u n d die K ö r p e r w ä r m e verließ das M a r k ihrer K n o c h e n . " Die stammelnden W o r t e der völlig verängstigten Andromacha lassen ahnen, daß ihr, die sich mit vollem Bewußtsein in der zweitbesten Welt eingerichtet hat, n u n echte u n d fiktive Realität d u r c h e i n a n d e r k o m m e n ; oder daß sie das plötzliche Auftauchen des Aeneas f u r eine Totenerscheinung hält, die sie d u r c h das Totenopfer a m leeren Grab des H e c t o r hervorgerufen hätte u n d n u n erwarten könne, sogleich nach Aeneas auch den geliebten Gatten wiederzusehen. I h m , Hector, gilt - w i e ihre Fragen zeigen — auch weiterhin Andromachas primäres Interesse. Selbst n a c h d e m sie sich nach Aeneas' Versicherungen, er sei wirklich eine lebende Person, etwas von ihrem Schrecken erholt u n d sie ihre Leidensgeschichte erzählt hat, erkundigt sie sich n u r oberflächlich nach den Erlebnissen des Aeneas u n d nach dessen S o h n Ascanius. Ganz schnell kreist ihr D e n k e n w i e der u m die Heben Toten in Troia, u m Kreusa, u m Hector. A u c h ihre A b schiedsrede zeigt, daß A n d r o m a c h a im Gegenwärtigen i m m e r n u r das d e m Vergangenen Ahnliche sieht, daß es f u r sie n u r B e d e u t u n g als Platzhalter der Vergangenheit hat. Ascanius ist f ü r sie eine lebende imago ihres eigenen Sohnes Astyanax. D a d u r c h klingt die T h e m a t i k der Statue als Ersatz in vermittelter W e i se d o c h an. Andromacha vervollständigt diese imago dadurch, daß sie Ascanius ein G e w a n d webt, wie es einst ihr S o h n getragen hatte, d o c h in erster Hinsicht u m damit an ihre Liebe z u m eigenen Sohn, nicht etwa zu Ascanius zu erinnern. Das Individuelle, Andere, N e u e k a n n u n d will sie als solches nicht m e h r w a h r n e h m e n — eine feinfühlige Schilderung einer tiefen Traumatisierung. D i e Andromacha Vergils ist eine glaubwürdige i m Lebensalter vorangeschrittene A n d r o m a c h e aus den Troerinnen des Euripides. 3 9 Sie ist bedauernswert u n d 38

Aeneas schreibt dieser Angst eine konkrete Ursache zu: sie sei dadurch ausgelöst, daß Andromacha so ohne jede Vorwarnung ihn (und Troianer) vor sich sah. Trotzdem ist das eine zumindest merkwürdige Reaktion, denn sonst erschrecken in der Aeneis eher Nicht-Troianer, etwa Griechen, beim Anblick von Troianern (Achaemenides, UnterweltsGriechen). Vgl. auch G R I M M (1967), 154f. Die ganze Szene hat eine tief oneirische Qualität. Die Reaktion der Andromacha gleicht deijenigen auf einen sehr eindrücklichen Traum, etwa mit einer Botenfigur aus der Unterwelt. 39 Senecas Andromacha der Troades ist ein anderer, entwicklungsfähiger Phänotyp (vgl. WALDE [2001], 366ff.).

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pathetisch, in der autistisch-selbstsüchtigen Sterilität ihrer in Konkretismus und Wiederholungszwang eingefangenen Erinnerungen zugleich eine fast unerträgliche Gestalt. Wenn BAUDELAIRE zwei Jahrtausende nach Vergil in ,Le Cygne' (1857) in mehrfacher Brechung und Spiegelung Vergils seinerseits „Ich gedenke dein, Andromacha" ausruft, betont er hingegen den liebenswert-pathetischen Anachronismus seiner eigenen Person. Denn er selbst spaziert durch das durch massive Stadtsanierung veränderte Paris, und doch treten ihm, ob er will oder nicht, immer nur die abgerissenen Gebäude, das frühere Leben dort vor das innere Auge, im Neuen immer nur das Alte suchend.40 Bei BAUDELAIRE sind aus dem Konkretismus der Andromacha innere Bilder geworden, was das bedrückende Element abschwächt. Dieser Ausblick auf die Rezeption beleuchtet die besondere Qualität der Gestaltung Vergils, und man sollte vorsichtig sein, Baudelaires Lesart auf die Andromacha der Aeneis zurückzuprojizieren.41 In der Tat entspricht eigentlich eher Aeneas dem erinnerungsverhafteten Flaneur B A U D E LAIRES.

Buthrotum ist fur Vergils Aeneas, der auch schon nur bei der Erwähnung lebender Troianer von wundersamer Liebe (amor mirus) — nennen wir sie Nostalgie — gepackt worden war, die unerwartete Konkretisierung all seiner Wünsche nach einem Wiederaufleben des zerstörten Troia und damit eine Einladung zum (partiellen) Vergessen.42 Wir hatten aus seinem eigenen Munde erfahren (131 ff.), wie begierig (avidus) die Uberlebenden unter seiner Führung ,neue', d. h. ,alte' Troias gründen wollten. Im ejfigies-Troia Buthrotums erkennt Aeneas durchaus sein Troia wieder. 43 Sonst könnte er nicht einmal Aussagen wie die Klassifizierungen des Simois als falsus Simois oder des tumulus als inanis machen. Und 4 0 Siehe GREEN (1986); BETTINI (2000), 2 1 3 ff. (mit weiteren Literaturangaben in Fussnote 17). Zur Rezeption der Buthrotum-Episode bei Lucan: Rossi (2000). 4 1 . . . wie das in der neueren Sekundärliteratur, z. B. bei BETTINI (2000), der Fall ist, der Helenus als ungenügendes Surrogat des strahlenden Hector sieht. Doch geht diese Einschätzung an der sehr positiven Zeichnung und wichtigen Rolle des Sehers Helenus vorbei. 4 2 QUINT (1982) setzt den Grad des Vergessenmachens durch die Konstruktion des Surrogat-Troia zu hoch an. Es ist nicht notwendig, daß Aeneas (oder andere Uberlebende) alles, was mit Troia zusammenhängt, vergessen. Vielmehr geht es um eine realistische Neu-Hierarchisierung der Erfahrungen. Insofern schätze ich auch seine Analogisierung des Untergangs Troias mit dem Untergang der Republik (und der politischen Neuordnung) anders ein. Die R ö m e r mussten den Bürgerkrieg nicht vergessen (auch wenn für die Bewältigung des Alltags auch ein gewisses Maß gesunder Verdrängung not tat), sondern als Erfahrung in eine gleichwohl durch die Vergangenheit gezeichnete Zukunft einbringen. Dies bedeutet aber nicht zuletzt eine Deutung, die dem Vergangenen einen Sinn zuteilt. 43 agnosco (371) bedeutet „etwas Bekanntes wiedererkennen" (s. auch ThLL, Bd. I, 1354ff., s.v. agnosco, bes. Abschnitt I. Aeneas erkennt das ,wahre' Troia im Falschen (BET-

TINI [ 2 0 0 0 ] ,

221).

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er reagiert sehr emotional auf diese Kopie (349fi), wo er bei ihrer Beschreibung sagt: Scaeaeque amplector limina portae, amplector (351) im Sinne von „zärtlich umfassen", „umschlingen" (wie es solche tun, die in die richtige Heimatstadt zurückkehren). 44 Obwohl Aeneas - etwas neidisch vielleicht — zugesteht, daß die in Buthrotum lebenden Troianer R u h e gefunden hätten (vobis parta quies, 495), kommt es ihm nicht in den Sinn, sich ebenfalls in Buthrotum niederzulassen. Denn bei aller zugestandener Funktionalität für die Buthrotaner ist diese Troia parva ein Anachronismus, weil in ihr eine wesentliche Erfahrung, nämlich die Zerstörung Troias, ihre Ursache und die sich daraus ergebenden Individualschicksale ausgeklammert werden. Weil Aeneas erst jetzt — in Distanz zu und Konfrontation mit anderen Landsleuten - seine anders geartete Mission (und seinen eigenen Anachronismus) anerkennen kann, markieren seine Abschiedsworte an die Landsleute auch eine Abgrenzung von einer allzu Troia-dominierten Vergangenheit. Insofern ist es von fast zwingender Logik, daß der Seher H e lenus, der seinerseits ein alternatives Modell von .Vergangenheitsbewältigung' darstellt, 45 Aeneas erst jetzt, als er bereit dafür ist, durch seine Prophezeiungen weitere Details und Hintergründe des Schicksalsplanes eröffnet. Dazu treten k o n krete Anweisungen, sowohl hinsichtlich seines Abstiegs in die Unterwelt als auch wie man nach der Niederlassung in R o m sich durch Riten des dauernden Wohlwollens der Götter, besonders der Iuno, versichern könne. Als aitiologische Fenster in die historische Zeit R o m s richten sich diese Aussagen sogar noch an die römischen Rezipienten der Aeneis. Die Buthrotum-Episode stellt eine Art Zeitkollaps 46 für alle Beteiligten dar. Es prallen verschiedene Modi der Vergangenheits-, also auch Gegenwartsbewältigung aufeinander: sich in der Vergangenheit verlierende, im Konkretismus verhaftete Erinnerungen, die an konkrete Ortlichkeiten oder ihre konkrete R e p r o duktion gebunden sind auf der einen Seite; und auf der anderen die in Erfahrung umgewandelte und bereicherte Erinnerung. Das Aufheben in einer inneren Realität, das der Akt eines unablässigen inneren labor ist, erreicht einen höheren Abstraktionsgrad als die Nachbildung in der äußeren Realität und kann so den Weg zu etwas N e u e m bahnen. Aeneas stellt in seinen Abschiedsworten

44

Zu amplector vgl. PARATORE (1978), comm. ad 351 (S. 151). Helenus hat andere Motive fìir seinen bewußt gewählten Anachronismus: Da er als Seher überblickt, was ist, was war, was sein wird, weiß er, daß ihm und den ihm anvertrauten Troianern kein Neuanfang vergönnt sein wird und das Surrogat-Troia in Buthrotum das erreichbar Beste ist. Aus dieser Position der Erkenntnis kann Helenus auf die Begegnung mit Aeneas angemessen reagieren, mit Tränen der Freude und Rührung und Fragen nach dem seit dem Troianischen Krieg Durchlebten. 46 Darunter verstehe ich ein Zusammenfallen der gültigen Zeitkoordinaten, in dem die Zeit kein homogenes Medium der Entwicklung ist, sondern zukünftige und vergangene Zeitstufen in die Gegenwart einbrechen. 45

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die Troia nova (eigentlich das dritte Troia), also R o m , dem Troia Buthrotums (utramque Troiam) zur Seite, doch wird deutlich, daß der in der Zukunft w ü n schenswerte Bezug dieser beiden Troias fiir ihn eher eine spirituelle Dimension und nicht Ähnlichkeit der Architektur bedeutet (500ff.). Der Besuch in Buthrotum ist neben der Penatenerscheinung in Kreta der zweite Gipfelpunkt des dritten Buchs: er markiert die Wende in der Entwicklung des Aeneas, der sich nun nicht mehr als profugus sieht. Daß er aber von nun an dem fatum keineswegs blind und anfechtungslos folgen wird, wissen die Rezipienten zu diesem Zeitpunkt schon. Vor dem autobiographischen Rückblick des Aeneas in Buch II und III haben sie miterlebt, wie Aeneas regelrechte .Erinnerungsanfälle' — u m eine Formulierung H E R Z O G S aufzugreifen — erleidet, die zeitlich nach Buthrotum anzusetzen sind. Diese Verschachtelung von Erzählebenen fordert von den Rezipienten sehr komplexe Orientierungsleistungen, eine aktive Erinnerung, ein Sich-der-Zusammenhänge-Vergewissern ein. N e b e n dem schon erwähnten Makarismos im Seesturm am Anfang der Aeneis (I 34 ff.) meine ich natürlich die Szene, in der Aeneas am Iuno-Tempel in Karthago Bilderzyklen des Troianischen Krieges liest wie eine Geschichte aus lange vergangenen Tagen, in der er selbst einmal eine wichtige Rolle als Krieger gespielt hat (I 440—493). Anders als die parva Troia Buthrotums bieten die Bilder keine Konfrontation mit den eigenen Wünschen nach der Restitution des Vergangenen, sondern sie sind eine Begegnung mit einem anachronistisch gewordenen Ich, bezeichnenderweise erstarrt in einem statischen Werk der Bildenden Kunst, das für eine kollektive (und in diesem Sinne nicht individuelle) Erinnerung an diese Ereignisse (in Gestalt der Homerischen Epen?) steht. Die durch die verschiedenen Zeitebenen entstehende Dynamik der Erzählung legt es nahe, daß Aeneas auch nicht bei Dido in Karthago, seiner bislang grössten, da nicht mit Troia zusammenhängenden Versuchung bleiben wird. Durch immer wieder aufs N e u e zu erbringende, schmerzliche Trennungsleistungen eröffnet Aeneas sich und anderen eine neue Existenzgrundlage: Das erst nach seiner Lebenszeit gegründete R o m wird, ja m u ß etwas anderes als Troia, also etwas Neues sein, moenia et mores umfassen, wie Iuppiter es in seiner Rede vor Venus einfordert (I 264). Auch wenn sich in Latium erst einmal der Krieg u m Troia mit veränderten Rollen zu wiederholen scheint, wenn Aeneas und Turnus u m eine Frau, Lavinia, kämpfen, so ist doch allein dadurch ein Kulturfortschritt 47 erzielt, daß Aeneas,

47

Diese Entwicklung wird auch dadurch deutlich, daß Aeneas und sein Erzfeind Diomedes, als sie sich nun auf latinischem Gebiet begegnen, sich ihre Feindschaft aufkündigen: Diomedes wird nicht die Feinde der Troianer unterstützen. (Aen. XI 225ff). Der Krieg um Troia hat nämlich, wie das Schicksal des Diomedes zeigt, nicht nur den Verlierern geschadet, sondern auch das Leben der Sieger, die mit dem Bewusstsein des durch sie vollbrachten Werks der Zerstörung leben, nachhaltig geprägt.

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der aus seinem eigenen Schicksal gelernt hat, schon vor der Entscheidung des Kriegs verspricht, daß er sich auf der Grundlage der pietas, einer gemeinsamen Sprache, des Lateinischen, und der Verehrung der einstmals italischen, dann troischen, nun aber römischen Penaten mit den Besiegten arrangieren, eigentlich sich ihnen sogar unterordnen werde (Aen. XI 175-194). Zwar bricht die Aeneis mit Aeneas' furiosem Sieg über Turnus ab, doch wissen die Rezipienten, daß dank seiner Leistung die Troianer sich mit den in Latium lebenden Volksstämmen, die aus Griechen, Latinern und Latinern troianischer Abstammung bestehen, später wirklich zu einem neuen Gemeinwesen zusammengeschlossen haben: Es hat kein Weiterleben der Troianer als Troianer gegeben, und insofern ist die Aeneis das den troischen Sagenkreis beschliessende Epos. D e n n alles m u ß anders, nämlich römisch werden, damit Troia fortbestehen kann. Troia und auch Griechenland sind in R o m a , dem caput mundi, durch die Transformation in etwas Bedeutsameres im mehrfachen Wortsinne aufgehoben und in Ewigkeit überfuhrt. Die gemeinsame Heimat wird R o m sein, das Lateinische ihre Umgangssprache, die Verehrung der n u n römischen Penaten und der anderen Götter wird sicherstellen, daß diese neue Stadt vor einem Zerstörungskrieg sicher ist. R o m wird anders als Troia eine ewige Stadt sein, weil in ihren Gründungsmythos schon der Verlust eingeschrieben ist. Mit dieser Konzeption richtet Vergil eine deutliche Botschaft an das römische Publikum der Nachbürgerkriegszeit: ,Innovation' und kultureller Fortschritt bedeuten rückwärts gewandt immer auch die Destruktion des Alten, von dem nur isolierte Aspekte und das Erfahrungswissen des Menschen übrigbleiben können. Dies teilt wenigstens nachträglich einem zivilisatorischen Zusammenbruch wie der Zerstörung Troias — oder den Bürgerkriegen in R o m — einen Sinn zu: die Nachtseite des Menschen, die Negativität, wird hierdurch als wesentlicher M o t o r der Entwicklung markiert, sofern diese Erfahrungen in gesellschaftliche Innovationen umgesetzt werden können. Dichtung und Innovation - Innovation in der Dichtung: Die poetologische Ebene Auf der Metaebene einer poetologischen Aussage 48 diskutiert Vergil auch die Frage nach Möglichkeit und Bedingungen der Innovation in der Dichtung. Er inszeniert

48

Unter poetologischen Aussagen sind diejenigen Aussagen zu verstehen, „aus denen ein dichterisches Programm (eine immanente Poetik') abgeleitet werden kann" (NÜNLIST, 1998, 10). Mir ist bewusst, daß man mit poetologischen Lesarten sparsam umgehen muß, weil man vermutlich immer etwas dieser Art in einen künstlerisch gestalteten Text hineinlesen kann (vgl. CONTE/BARCHIESI [1989], 93). Aber es gibt durchaus Textpartien, die eine einschlägige Metaphorik oder offensichtliche, doppelte Fiktionalitätssignale aufweisen.

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in der Buthrotum-Episode, in der imagines, effigies, simulacra, also Kopien, künstlich verfertigte Abbilder der Vergangenheit offensichtliches Thema sind, den Anachronismus des Alten, kurzum die Frage, wie die Dichtung der ständigen Anreicherung und Modifikation der Erfahrung R e c h n u n g tragen kann. N e b e n der Tatsache, daß in der Passage selbst mehrere einschlägige poetologische Metaphern (Sticken, Hausbau, Seefahrt) vorkommen, wird diese Textdimension durch zwei Aspekte unterstützt, die das Buch III insgesamt determinieren: (1) In der längeren direkten R e d e einer Figur der Handlung, des Aeneas, liegt seit den sog. Apologen der Odyssee eine poetologische Standardsituation vor, in welcher der Dichter das literarische Erzählen selbst thematisiert. (2) Das gesamte Buch III ist ein prägnantes, vielleicht sogar das prägnanteste Beispiel für Vergils Umgang mit der literarischen Tradition: 49 Vergil ruft in den verschiedenen Reisestationen der Aeneaden berühmte Szenen anderer literarischer Werke fast im Sinne einer immanenten Literaturgeschichte auf, als wolle er dem Publikum vor Augen führen, daß es in seinem Epos die gesamte Zeit, die seit den Homerischen Epen vergangen ist, mitlesen muß. 5 0 Damit positioniert er aber auch sein eigenes Epos. So folgt auf eine subjektive Parallelversion zu den Homerischen Epen in Buch II zu Anfang des dritten Buches eine Episode in Thrakien, die den Stoff einer Tragödie, der Hekabe des Euripides, aus einer anderen Perspektive erzählt (19-68). Es schließen mit Delos (69—120) und Kreta (121ff.) — chronologisch korrekt - Stationen der Argonauten des Apollonios Rhodios an. In der Buthrotum-Episode wird dieses Verfahren noch einmal gesteigert, nicht nur durch das Troia-Motiv, sondern auch dadurch daß Vergil hier ganz offensichtlich Darstellungsstrategien und Elemente der Tragödie ins Epos transplantiert („Kreuzung der Gattungen"): Durch diese doppelte Fiktionalisierung kann er den Sachverhalt ,literarische Produktion' versinnbildlichen.

49 Mit diesem Verfahren einer modifizierten Wiederholung wollte Vergil seine Rezipienten bestimmt nicht zu Tode langweilen. Die meist negativen Bewertungen des dritten Buches als ,langweilig', weil es Wiederholungen oder scheinbare Wiederholungen bietet, projizieren ein modernes Verständnis, nämlich Originalitätszwang, auf die römische Antike zurück. Das geht auch deshalb am antiken Literaturverständnis vorbei, weil dieses Wiederholen mit markanten Abänderungen das fundamentum inconcussum der antiken Literaturproduktion ist, auch wenn sicher immer wieder Punkte erreicht werden, wo man dieses Verfahren überdenkt oder den Kanon der Geschichten erweitert oder fur diese neue Dimensionen erschliesst. Die augusteische Zeit ist definitiv solch eine Epoche der Neuorganisation, in der die Dichter auch vermittels der Dichtung über eben dieselbe reflektieren und zwar in erkennbar höherer Quantität. Ganz offensichtlich ist dies bei Properz und Ovid, doch auch Vergils Umgang mit der literarischen Tradition ist ein Akt souveräner Eigenständigkeit und Originalität. 50

D a z u PUTNAM ( 1 9 8 0 ) ; NELIS ( 2 0 0 1 ) ; HUNTER ( 1 9 9 3 ) ,

170-189.

Nach der Katastrophe

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Die unerwartete Begegnung zwischen Aeneas und Andromacha wird wie ein Theaterauftritt inszeniert. Die Konstellation ,Totenspende, zu der eine erst eintreffende Person, ein Heimkehrer, als Beobachter hinzutritt', ist nämlich eine signifikante Episode sehr berühmter Tragödien, der Choephoren des Aischylos, der Elektra des Sophokles. Diese Konstellation ist übrigens schon ein impliziter Verweis auf die etwas verquere Heimkehrsituation, die Aeneas in Buthrotum erwartet. Aeneas (bzw. Vergil) schildert den Auftritt der Andromacha in einer unpersönlichen Perspektive, die allen Rezipienten (Dido im inneren Kommunikationssystem, den Rezipienten der Aeneis) das Geschehen als Bild, als Tableau präsentiert: d. h. er sagt nicht: „ich sah da plötzlich", sondern er sagt: „als zufälligerweise Andromacha ihre (übliche) Totenspende darbrachte Aeneas läuft unvorhergesehen in eine fremde und gleichzeitig allzu bekannte, d.h. unheimliche Inszenierung hinein. 51 Durch diesen Bruch in ihrer Inszenierung fällt Andromacha ihrerseits für eine kurze Zeit ,aus der Rolle': Die Lebensgeschichte, die sie weinend berichtet, ist aber aus dem Stoff, aus dem die Tragödien des Troianischen Sagenkreises sind, etwa Hekabe, Andromache und Troades des Euripides. Diesen Werken scheint die zu einem Phänotyp ihrer selbst erstarrte Erzählerin selbst entsprungen zu sein. Bar jeder inneren Entwicklungsmöglichkeit ist sie jedoch — anders als etwa die Andromacha Senecas — so auf ihre Rolle als Hector-Gattin festgelegt, daß sie sich selbst sogar coniux hectorea (mit einem Epitheton) nennt, obwohl viel geschehen ist seit dem U n tergang Troias, was ihren Horizont, auch ihre Einstellung zu Hector, hätte verändern können. 52 Eine Steigerung erfährt diese Vergangenheitsverhaftung, als Aeneas später das simulacrum Troias, eine illusionäre Kulisse, ein Kunstwerk also, betritt. Vor diesem Hintergrund einer inszenierten Fiktionalität erhalten die Abschiedsworte des Aeneas (492 ff.) über den Oberflächensinn hinaus eine zweite Dimension: „Lebt glücklich, denen ihr Lebensglück sich schon erfüllt hat. Wir hingegen werden von anderen fata zu anderen fata gerufen. Euch aber ist Ruhe beschieden. Ihr müßt keine Fläche des Meeres durchpflügen und nicht die immer rückwärts weichenden Fluren Ausoniens aufsuchen. Ihr seht eine effigies des Xanthus und ein Troia, das eure Hände geschaffen

„Unheimlich" ist hier im Sinne FREUDS (1919), 259ff. zu verstehen. Irreparabel traumatisiert versucht die zur Witwe Hectors versteinerte Andromacha ihren offenbar nicht durch Trauerarbeit zu bewältigenden Verlust ungeschehen zu machen und in ihrer Erinnerungsidylle die Lebensrealität (z. B. zwei weitere Ehen, ,neue' Kinder) nicht zur Kenntnis zu nehmen. Selbst diese reduzierte Existenz kann sie nicht alleine aufrechterhalten. Nur die Ehe mit dem Bruder des Hector und Sohn des Priamus, Helenus, der sich als unzulänglicher Ersatz, als Bild ohne Individualität missbrauchen läßt, sichert ihr weiterhin ihren fur sie lebensnotwendigen Status als Königin. 51

52

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Christine Walde

haben, mit besseren, hoffe ich, Auspizien, und das den Griechen weniger entgegensteht. " 5 3 Insbesondere vivite felices, quibus est fortuna peracta/ iam sua (493f.) ist angesichts der nicht stillbaren Trauer der Andromacha erklärungsbedürftig. Entscheidend ist m. E. die Mehrfachbedeutung von peragere: Erstens bezeichnet peractum est prägnant den Schluß einer dramatischen Aufführung. 54 Die Worte des Aeneas wären metapoetisch zu deuten als „ihr, deren Lebensglück nun schon aufgeführt, inszeniert worden ist", als klarer Verweis auf die literarischen Versionen ihrer Schicksale (z. B. bei Homer oder in den entsprechenden griechischen und römischen Tragödien). Doch zweitens wird durch die Kombination mit fortuna und quies im Folgesatz eine weitere Konnotation des peracta aktiviert, die Bedeutung von peragere wie in vita peracta: doch das Leben eines Menschen kann niemals abgeschlossen sein, solange er lebt. 55 Die quies, das reduzierte Stillstandleben der Buthrotaner wäre eine Art Tod bei lebendigem Leibe. 56 Unterstützt wird diese Deutung durch die Adjektive inanis, falsus, simulatus sowie die Substantive imago, simulacrum, effigies. Diese werden bei Lukrez und anderen, auch bei Vergil selbst ebenfalls in bezug auf Personen und Örtüchkeiten des Totenreichs verwendet. Auch wenn der Hades in vielem ein Abbild der Welt der Lebenden ist, so besteht der wesentliche Unterschied darin, daß es dort (in der Regel) keine Veränderungen gibt. Die Schatten gehen in alle Ewigkeit denselben Tätigkeiten nach wie zu Lebzeiten, wie z. B. die Troianer, denen Aeneas in der Unterwelt begegnet (VI 63ff.). Der Gedankengang, daß das Troia in Buthrotum Züge der Unterwelt trägt, 57 fuhrt uns tiefer in die poetologische Deutung. Denn weil der Hades ein Parallelkosmos des Lebens ist, wird er, gerade auch von den augusteischen Dichtern, z. B. Properz (IV 7) und nicht zuletzt Vergil selbst, als Projektionsfläche, Chiffre der literarischen Produktion verwendet. 58 Vor diesem Hintergrund stellen sich Opfergang und Trauer der An53

4 9 2 - 4 9 9 : „uiuite felices, quibus est fortuna peracta /iam sua: nos alia ex aliis in fata uocamur./uobis parta quies: nullum maris aequor arandum,/arua ñeque Ausoniae semper cedentia retro/ quaerenda. effigiem Xanthi Troiamque videtis/quam uestrae fecere manus, melioribus, opto, auspiciis, et quae fuerit minus obvia Graecis. " 54 Z u den verschiedenen Bedeutungen von peragere, s. O L D (1968), s.v. perago (besonders Abschnitte 5, 6c, 10, 11). 55

56

V g l . BETTINI (2000), 2 3 2 .

Eine indirekte Unterstützung findet die Deutung von Buthrotum als ,Unterwelt in der Welt der Lebenden' darin, daß Strabon (VII 7,5) in der N ä h e von Buthrotum einen oberirdischen Ausfluss des Unterweltsflusses Acheron verortet und daß sich in Epiros das berühmte Totenorakel Nekyomanteion befand (s. F. GRAF, Der N e u e Pauly, Bd. 1, Sp. 72f., s.v. Acheron [1] und [2]). Dazu siehe QUINT (1982) und bes. BRIGHT (1981). 57 QUINT (1982) kommt auf einem anderen Argumentationsweg zu einer ähnlichen Deutung, zieht aus ihr jedoch andere Schlussfolgerungen. 58 Dazu generell MOST (1992).

Nach der Katastrophe

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dromacha ganz im Sinne einer Stereotypisierung ihrer Gestalt dar (schon Aen. II 4 5 3 - 5 7 nennt Aeneas sie infelix). Auch das Troia ihrer reduzierten Existenz ist Sinnbild einer sterilen Mythen- und Literaturproduktion, die keine Verankerung im Leben des Dichters und seiner Rezipienten hat. Für den kurzen Moment seiner Abschiedsworte wird Aeneas, der ja schon das Tropaion in Actium mit einem Gedicht geschmückt hat, zum Stellvertreter des Dichters im Text. In seinen Abschiedsworten formuliert er das ihm auferlegte Durchpflügen des Meeres, das Aufsuchen fremder Gestade negativ als eine Aufgabe, die Helenus und Andromacha nicht mehr vollbringen müssen. Spätestens seit Kallimachos und besonders in der augusteischen Dichtung (nicht zuletzt in Vergils Geórgica) sind „Reise", „Meer befahren" und „pflügen" geläufige poetologische Metaphern fur eine Literaturproduktion, die die gewohnten Gefìlde verläßt (risikoreich, .innovativ' sein möchte und muß). 59 Vergil fuhrt den langwierigen Prozeß der Akkulturation, der zur Etablierung des römischen Imperiums führt, modellhaft an seinem eigenen Umgang mit dem literarischen Erbe vor, indem er sein Publikum fast in jedem Vers mit der früheren Literatur konfrontiert. Diese läßt Vergil unter Aneignung ihrer Leistungen ebenso hinter sich, wie Aeneas Troia. Gebrochen durch die Perspektive des Aeneas vollzieht Vergil einen Akt der nachträglichen Bedeutungszuteilung, in der sich Troia und der Troianische Krieg gleichsam als überwundene, immer von neuem zu überwindende Stufe der Kulturentwicklung darstellen. Resumé Die Frage nach dem Verhältnis und dem Zusammenhang von gesellschaftlicher und poetischer Innovation kann nicht verallgemeinernd beantwortet werden. Es sollte jedoch soviel deutlich geworden sein, daß die Aeneis nicht auf eine Propagandaschrift im Dienste der Restaurationspolitik des Augustus reduziert werden kann. Vielmehr stellt Vergil den Innovations- und Neugründungsprozess einer menschlichen Gemeinschaft mit allen Risiken und Schwierigkeiten dar, d. h. er eröffnet in seiner Dichtung Möglichkeitsräume, Raum fur Phantasie, in dem praktische Projekte ,probehandelnd' (FREUD) verfolgt werden. Sein literarisches Experiment hätte nicht eine derartige Uberzeugungskraft entfaltet, wenn er dies nicht auch mit einer sinnstiftenden Dekomposition verbunden hätte, was — wie gezeigt wurde — auf Innovation der überkommenen literarischen Formen und Gehalte hinausläuft. Die wichtigsten poetologischen Metaphern dieser Passage: Das Sticken (z. B. Pindar, Pythien 9, 7 6 - 7 8 , vgl. NÜNLIST [1998], llOff.); Hausbau und Architektur (NÜNLIST, loc. cit., 98ff.); Seefahrt und Reise: allgemein: NÜNLIST, loc. cit. 228ff., bes. 265£F.); vgl. in augusteischer Zeit: Properz III 3, 23f., Vergil, Geórgica II 5 4 (vgl. WALDE [2001], 245). 59

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Christine Walde

In der stellvertretenden Erinnerung des epischen Sängers wird im Aufsuchen von Ursachen und Zusammenhängen ein Prozeß der modifizierenden Veränderung vorgestellt, die in Wirklichkeit die Aufhebung früherer Bedingungen ist. Auf der inhaltlichen Ebene stellt sich die Aeneis als eine konsequente Fortsetzung der Geórgica dar: war in den Geórgica labor, Arbeit, Mühe im prägnanten Sinne, als ein Heilmittel zur Linderung der kärglichen Existenz des Menschen dargestellt worden, so wendet Vergil sich in der Aeneis der Arbeit an der inneren Natur zu, in der der eigenen und kollektiven Erinnerung eine zentrale Funktion zugeteilt wird. Aeneas und Andromacha sind hierbei als Kontraposte des Umgangs mit der Erinnerung gesetzt. 60 Aeneas' Leistungen und psychische Ressourcen treten erst vor der Folie des abgebrochenen', zur Neuerung nicht mehr fähigen Lebens der Andromacha zutage. Die Schicksale von Andromacha und Aeneas sind Parallelgeschichten mit nur leichten Parameterverschiebungen. Sie unterscheiden sich nicht in ihrer Abhängigkeit vom fatum, kann es doch kein Leben außerhalb des fatum geben. Doch wird deutlich, daß es Gleiche und Ungleiche vor dem fatum gibt. Die Wechselfälle der Andromacha, die nun in ihrer vergangenheitsfixierten Rolle als coniux hectorea verharren muss, sind eine Nebenwirkung des auf R o m fokussierten fatum, nicht dessen Antinomie. Aeneas aber, der die Erfahrung eines verlorenen Lebens mit nach Latium in das neue Leben nimmt, bewahrt in seiner Erzählung und Erinnerung auch das zerstörte Leben der Andromacha (und anderer Troianer) auf. Aeneas' Blick ist also nicht nur auf die Zukunft gerichtet, auch die Vergangenheit bleibt fur ihn präsent. Doch verändert sie sich in seiner Bewertung, denn sie changiert neben der Nostalgie immer auch in einem „was wäre gewesen, wenn" oder einem „wenn doch nicht . . . " . Seine Erinnerung ist eine komplexe Form der Mythenproduktion, durch deren alternative Handlungsentwürfe er selbst zu einer neuen Einstellung findet.61 Diese Einstellung, die einen Kulturfortschritt markiert, zeitigt sogar noch Auswirkungen in der historischen Zeit.

60

61

Z u Aeneas u n d A n d r o m a c h a , vgl. GRIMM (1967).

Diese qualitative Vertiefung literarischen Ich-Bewußtseins, das letztlich aus der eigenen Erfahrung einer menschengemachten Katastrophe ihre Uberzeugungskraft bezog, wird Ovid in seiner subjektiven Dichtung — den Heroides und der Exildichtung - zu einer Psychologie von Menschen in Leidens- und Extremsituationen ausbauen. In Lucans Bellum Civile wird Vergils literarische Erinnerungstechnik in eine weitere Dimension überfuhrt und auf den Erzähler des Epos selbst gewendet. In einem zeitlichen Abstand von mehr als 100 Jahren wird im Bellum Civile nun der Bürgerkrieg, der Vergil geprägt hatte, nicht mehr in mythischer Verbrämung, sondern in einem historischen Epos geschildert. Die Beschreibung einer menschengemachten Katastrophe führte hier mehr als einmal zu einer innovativen literarischen Form.

Nach der Katastrophe

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Erinnerung und Innovation sind keine Gegensätze, sie gehören vielmehr aufs engste zusammen, wie Vergi] uns in der Aeneis vor Augen fuhrt und insbesondere in der Buthrotum-Episode sinnfällig verdichtet. Die Pointe dabei aber ist, daß die Erinnerung, die wirklich Innovation tragen kann, j e n e ist, die das Zerstörte, von der Realisierung Abgeschnittene, seiner Zukunft Beraubte einbezieht, j a es in erster Linie berücksichtigt. 6 2 Die Alternativen und Optionen, die mit der Zerstörung Troias derealisiert wurden, gehören zum tragfähigen Grund der N e u g r ü n d u n g , d.h. der Gründung R o m s . Eine Neugründung, die nur in der Geschichte der Sieger ihren Grund hätte oder in der Imitation des vormals bis zum Zeitpunkt der Zerstörung Existierenden, erfolgte auf Treibsand. Jedenfalls ist das eine, mit einem poetologischen Programm verknüpfte Botschaft der Aeneis. Bibliographie ANGEHRN, E .

ASSMANN, J. BAHNER, W .

BETTINI,

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6 2 Natürlich ist diese Lektüre beeinflusst durch ein kritisches, theologische Impulse nicht verleugnendes Geschichtsverständnis, wie Walter B E N J A M I N es artikuliert. Vgl. A N GEHRN (2001), 50: „ . . . Erinnerung und Neuanfang [verweisen] wechselseitig aufeinander: Die radikalisierte Erinnerung, die hinter die sedimentierte Vergangenheit auf deren eigene Tiefenschichten, auf das darin Unterdrückte und Unabgeschlossene zurückgeht, ist Fundament für den Impuls zur Veränderung; und der Einbruch des Anderen, das Aufbrechen des Neuen ist Voraussetzung dafür, daß im Vergangenen das Nichtoffenbare ans Licht kommt." Der französische Philosoph Paul R I C O E U R (1998, 66) hat kürzlich diesen Gedanken wieder aufgenommen, wenn er auf die „nicht gehaltenen oder durch den weiteren Verlauf der Geschichte verhinderten oder verdrängten Versprechen hinweist", die ein integraler Bestandteil historischer Erinnerung zu sein hätten.

64

Christine Walde Gedächtnis und Identität. Wie das Gedächtnis nach katastrophalen Ereignissen rekonstruiert wird, in: K. E. M Ü L L E R / J. R U E S E N (Hrsgg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, 455-470. Imitazione e arte allusiva. Modi e funzioni dell' intertestualità, in: G . CAVALLO/P. F E D E L I / A . G I A R D I N A (edd.), Lo spazio letterario di R o m a antica, vol. I, R o m a 1989, 81 — 114.

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Sic pater Aeneas...

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Nach der Katastrophe MUSTI, D. NELIS, D . NÜNLIST,

R.

PARATORE, E . PUTNAM, M . C . J . QUINT, D. R I C O E U R , P.

ROSEN, A .

Ross, D. O.

Rossi, A. ROTH, M . S.

RÜPKE, J . (Hrsg.) -

DERS.

SCHMIDT, Ε . Α . SCHRÄM, D . H . SCHWARTZ, H . SUERBAUM, W . VON U N G E R N STERNBERG, J .

Vergil WALDE, C . W A L L A C E - Η ADRILL, A .

65

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Christine Walde

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ACHATZ V. MÜLLER/JÜRGEN V. U N G E R N - S T E R N B E R G

Das Alte als Maske des Augustus und Cosimo

Neuen:

de'Medici''

Augustus Ganz anders als heute hatte gerade auf dem Gebiet des Politischen in der Antike der Begriff des ,Neuen' von vornherein einen negativen, ja gefährlichen Klang. Νεωτερίζω war nach Liddell-Scott häufig „with an implication of violence" verbunden und bezeichnete schlechthin Revolutionäre Bewegungen'. Ebenso bedeuteten res novae verfassungsmäßige Umwälzungen' und war ein novarum rerum cupidus ,auf Umsturz bedacht', ein .Revolutionär'. Das ,Neue' hatte hier also besonderen Grund, sich als ,alt' zu gerieren.

I Im 8. Kapitel seines Tatenberichts (Res Gestae) schreibt Augustus:1 Legibus novifs] m[e auctore l]atis m[ulta ejxempla maiorum exolescentia iam ex nostro [saeculjo red[uxi et ipse] multarum rer[um exejmpla imitanda pos[teris tradidi]. Dieser Satz wirkt zunächst ganz .republikanisch': Augustus erneuert die exempta maiorum und stiftet neue für die Nachwelt. In diesem Sinne interpretiert A. Heuß: „Hinsichtlich der Vergangenheit greift er auf die vorhergehenden exempla zurück, hinsichtlich der Zukunft kann er nur hoffen und anregen, daß in ihr auf ihn zurückgegriffen wird, daß er damit in die Rolle der exempla tritt, genauer, wie es ja auch gesagt wird, daß er, wenn er die Tradition, d. h. die exempla, aufnimmt, damit auch exempla weitergibt. Augustus will wohl sagen, daß er der Vermittler zwischen Vergangenheit und Zukunft ist und zwischen beiden eine Mit* Der Teil über Augustus wurde von J. v. Ungern-Sternberg, der Teil über Cosimo von A. v. Müller verfaßt, der Vergleich gemeinsam. 1 Grundlegend zu allen Fragen: D. Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, 3. Auflage, Darmstadt 1999.

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Achatz v. Müller/Jürgen v. Ungern-Sternberg

telstellung einnimmt. Sollte das zutreffen, dann bezeichnete er sich als Glied in einer Kette und brächte damit auch von dieser Seite eine konservative Gesinnung zum Ausdruck" 2 Man könnte es auch anders wenden: die rechtzeitige Anpassung an das Neue konnte geradezu als Erfüllung des mos maiorum bezeichnet werden. Cicero argumentierte so, als es um die Verleihung eines unerhört neuen außerordentlichen Kommandos an Pompeius ging, 3 der Kaiser Claudius in seiner Senatsrede über die Verleihung des ius honorum an die Gallier.4 Der Sinn der Aussage des Augustus ist freilich damit allenfalls teilweise getroffen. Ubergangen wird von Heuß: ex nostro saeculo. Als bloße Zeitangabe hätte Augustus auch einfach ex nostro tempore wählen können. Saeculum bezeichnet aber mehr: die ,Mitte', die ,Fülle' der gegenwärtigen Zeit, die ein von Augustus heraufgefuhrtes und geprägtes Zeitalter ist.5 Zu kurz kommt auch die unerhörte Engfìihrung: die exempia maiorum werden durch die Fürsorge der einen Person des Augustus (me auctore) durch neue (!) Gesetze quasi ins Leben zurückgerufen — eigentlich waren sie doch in der Obhut des Senates /der Nobilität, die aber versagt hatte: exolescentia — und dieselbe Person erklärt selbstbewußt, daß sie es sei, die in vielfacher Weise fur die Nachwelt ein Beispiel gegeben habe — ein Anspruch, der wiederum zunächst doch dem Urteil kompetenter Anderer, dem Senat, der Nobilität, zu unterwerfen gewesen wäre. Ein Vergleich mit einigen Passagen in der Augustusvita des Sueton macht überdies klar, daß Augustus hier nicht von irgendwelchen Bräuchen und Gesetzen spricht, sondern von seiner Sitten- und Ehegesetzgebung, die er gegen den harten Widerstand der Betroffenen durchzusetzen hatte. 6 Es geht also um den Bereich der mores im eigentlichen Sinne, den Bereich zensorischer Wachsamkeit, das Zentrum republikanischer Staatsgesinnung. Schon in diesem einen Satz können wir somit das Phänomen Augustus in nuce erfassen: Er stellt sich in die republikanische Tradition, geriert sich also als

A. Heuß, Zeitgeschichte als Ideologie. Bemerkungen zu Komposition und Gedankenfiihrung der Res gestae Divi Augusti (1975). in: Gesammelte Schriften II, Stuttgart 1995, 1346. 3 Cie. de imp. Cn. Pomp. 60. 4 ILS 2 1 2 , Ζ. Iff. 5 Vgl. L. Wickert, R E XXII, 1954, 2069f., s.v. Princeps; A. Schmid, Epoche als Ritual: Anmerkungen zu den augusteischen Säkularspielen (in diesem Bande). 6 Suet. Aug. 34,1: Leges retractavit et quasdam ex integro sanxit, ut sumptuariam et de adulteriis et de pudicitia, de ambitu, de maritandis ordinibus; 89,2; vgl. A. Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps, Stuttgart 1 9 9 1 ; M. H. Dettenhofer, Herrschaft und Widerstand im augusteischen Prinzipat. Die Konkurrenz zwischen Res Publica und Domus Augusta, Stuttgart 2000, 1 3 3 f f . 2

Das Alte als Maske des Neuen: Augustus und Cosimo de'Medici

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Bewahrer und Erneuerer des Alten, zugleich aber erhebt er keineswegs verhüllt einen Anspruch, der alle republikanischen Maßstäbe transzendiert. Und doch wieder in einer nicht leicht beschreibbaren Weise. Hat Heuß die eine Seite zu sehr herausgestellt, so ist es bezeichnend, daß der griechische Ubersetzer der Res Gestae in der anderen Richtung vergröbert und kurzerhand zusammenfaßt: „ich habe mich selbst der Nachwelt in vielem zum Exempel gemacht", 7 während auch er auf ex nostro saeculo verzichten zu können glaubt. II Die Res Gestae beginnen mit dem befreienden Eintreten des jugendlichen Oktavian fiir die unterdrückte res publica im Jahre 44 v. Chr.: Annos undeviginti natus exercitum privato Consilio et privata impensa comparavi, per quem rem publicam a dominatione factionis oppressant in libertatem vindicavi (cap. 1). Sie enden mit der Rückgabe der res publica in den Jahren 28/27 v. Chr. aus der Allgewalt des Siegers an die zuständigen Instanzen, Senat und Volk, 8 wofür sich in der modernen Forschung der - durchaus problematische - Begriff der res publica restituía eingebürgert hat.9 Danach, so die Selbstaussage des Augustus, habe sich seine Amtsgewalt (potestas) ganz im Rahmen des Üblichen bewegt: Post id tem[pus ajuctoritate [omnibus praestiti, potestjatis au[tem njihilo ampliu[s habu]i quam cet[eri, qui m]ihi quoque in ma[gis]tra[t]u conlegaeßuerunt] (cap. 34). Ganz dem entsprechend betont er anderswo in seinem Tatenbericht, daß er kein Amt, schon gar nicht die Diktatur, contra morem maiorum angenommen habe, obwohl ihm die dafür zuständigen Instanzen, Senat und Volk, wiederholt derartige Angebote gemacht hätten. 10 Nicht viel anders: Ovid met. X V 832fF.: pace data terris animum ad civilia vertet/iura suum legesque feret iustissimus auctor/exemploque suo mores reget ... 8 R G 34: In consulatu sexto et séptimo, po[stquam b]ella [civijlia exstinxeram, per consensum universorum [potens reru]m om[n]ium, rem publicam ex mea potestate in senat[us populique Rom]ani [ajrbitrium transtuli. Zur Ergänzung von potens statt des üblicherweise angenommenen potitus s. D. Krömer, Textkritisches zu Augustus und Tiberius (Res gestae c.34 — Tac. ann. 6,30,3), Z P E 28, 1978, 1 2 7 - 1 4 4 . 9 K. Bringmann, Von der res publica amissa zur res publica restituía. Zu zwei Schlagworten aus der Zeit zwischen Republik und Monarchie, in: J. Spielvogel (Hrsg.), Res Publica Reperta. Zur Verfassung und Gesellschaft der römischen Republik und des frühen Prinzipats. Festschr. J. Bleicken zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2 0 0 2 , 1 1 9 f F . ; dazu die kritischen Bemerkungen von D. Kienast, Göttingische Gelehrte Anzeigen 255, 2003, 58ff. S. auchJ.-L. Ferrary, Res publica restiiuta et les pouvoirs d'Auguste, in: S. Franchet d'Espèrey u. a. (Hrsg.), Fondements (Anm. 2 4 ) , 4 1 9 f f . 7

10

R G 5 / 6 : [nullum magistraium conira morem maiorum delalum

recepì.]

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Gute Propaganda lügt bekanntlich nicht, sie läßt weg. 11 Sofern Augustus nach dem Jahre 27 noch das Konsulat bekleidet hat, hatte er dabei selbstverständlich jeweils einen (formal) gleichberechtigten Kollegen; rechtliche Grundlage seines Handelns war aber nicht ein Amt, sondern ein ganzes Bündel von Amtsgewalten, vor allem die tribunicia potestas u n d das imperium proconsulare. D a f ü r aber gab

es keine etablierte Kollegialität. Selbst wenn Augustus Mitinhaber ernennen Heß — es waren dies seine designierten Nachfolger Agrippa und Tiberius —, so waren sie ihm nachgeordnet. Wenn Augustus hingegen seine überragende auctoritas hervorhebt, so entspricht das zunächst durchaus republikanischer Tradition. Auctoritas erwarb sich ein römischer Feldherr oder Politiker durch seine Leistungen, und welche konnte größer sein als die Rettungstat für die ganze res publica? Auch die Antithese von auctoritas und potestas ist im übrigen republikanisch möglich. Cicero verwendet sie hübsch, um das Volk bei aller Anerkennung seiner Entscheidungsgewalt der Leitung des Senats zu unterstellen: quom potestas in populo, auctoritas in senatu sit (de leg. 3,39). 1 2

Zwischen die beiden soeben betrachteten Sätze im 34. Kapitel seiner Res Gestae sind aber die Ehrungen eingeschoben, die der Rückgabe der res publica gefolgt waren: die Verleihung des Beinamens Augustus — die beiden Lorbeerbäume an der Türe zum Haus des Augustus auf dem Palatin 13 — die darüber angebrachte corona civica für den Retter der Bürger — der goldene Ehrenschild in der Curia Iulia m i t der Inschrift, er sei i h m f ü r seine virtus, dementia, iustitia u n d pietas v e r -

liehen worden, für die Gesamtheit aller Tugenden also, die den vorbildlichen Staatsmann charakterisieren. Keine dieser Ehrungen, erst recht nicht ihre Gesamtheit, hatte ein republikanisches Vorbild; zum großen Teil, wenn nicht alle, verweisen sie in eine religiöse Sphäre. Sie aber sind es, die in der Abfolge des Textes die auctoritas des Augustus begründen (post id tempus), die sich somit in einer republikanische Grenzen überschreitenden Fülle repräsentiert. Es bleibt dabei, daß auctoritas einen informellen Einfluß, eine informelle Macht, bezeichnet, zugleich aber doch eine von geradezu monarchischer Qualität. Wiederum sehen wir also, wie sich in der Selbstdarstellung des Augustus republikanische und darüber hinausweisende Elemente ineinanderschieben; das Festhalten am Herkommen betont und zugleich, ebenso spürbar wie letztlich doch unbestimmt, etwas Neues suggeriert wird.

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F. Hampl, ,Denkwürdigkeiten' und ,Tatenberichte' aus der Alten Welt als historische Dokumente. Ein Beitrag zur Glaubwürdigkeit von Selbstdarstellungen geschichtlicher Persönlichkeiten, in: Geschichte als kritische Wissenschaft III, Darmstadt 1979, 206ff. bezichtigt freilich Augustus hier der Lüge. 12 A. Heuß, Ciceros Theorie vom römischen Staat (1975), in: Gesammelte Schriften II, Stuttgart 1995, 1279ff. 13 A. Alföldi, Die zwei Lorbeerbäume des Augustus, Bonn 1973.

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III Was also schuf Augustus eigentlich? Eine (wiederhergestellte) Republik? Eine Monarchie? Die Forschung schlug und schlägt sich wacker mit dieser Frage herum, 1 4 die Antike freilich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß mit Augustus eine monarchische Epoche begonnen hatte. 15 Aber eine besonderer Art. Der Senat spielte weiterhin eine wichtige Rolle; griechische Autoren konnten noch im 2. Jahrhundert geradezu von einer .Demokratie' sprechen. Eine zusammenfassende Bezeichnung jedenfalls hat Augustus fur seine Stellung nicht gefunden und wohl auch gar nicht gewollt. Der Königstitel kam von vornherein nicht in Frage. ,Caesar' entwickelte sich erst allmählich zu einem Herrschertitel, wie es auch das Cognomen Augustus tat. Princeps war hingegen eine gut republikanische Bezeichnung, die allerdings eher im Plural aufzutreten pflegte: principes viri. Konnte man indes die in den Res Gestae mehrfach verwendete Epochenbezeichnung me principe noch als eine republikanische verstehen? Dieselbe Frage stellt sich bei der Ehrung, mit der der Tatenbericht sein strahlendes Ende findet (cap. 35), die Verleihung des Titels pater patriae im Jahre 2 v. Chr. durch Senat, Ritterstand und das ganze römische Volk. Als parens oder pater patriae waren für ihre Rettertaten auch andere hervorragende Männer der späten Republik, ein Marius, ein Cicero bezeichnet worden — in jedem Fall eine Benennung, die sie in die Nähe des vergöttlichten Gründervaters Romulus rückte. 16 Die förmliche Proklamation indes durch die Gesamtheit Roms, repräsentiert durch seine drei Stände, und ihre inschriftliche Verewigung gleich dreimal an prominenter Stelle: im Hause des Augustus, in der Curia Iulia und an der Quadriga des Augustus in der Mitte des von ihm geschaffenen Forums, war doch von einer ganz anderen Qualität. Sie machte Augustus zum ,super -pater17 der alle anderen patres — dies die den Senatoren zukommende Anrede! — mediatisierte. Durchaus zu Recht haben neuzeitliche ,Landesväter' mit diesem Titel ihre Monarchie feiern lassen.

14

Ein guter Überblick über Forschungsthesen und Aporien bei A. Winterling, ,Staat', Gesellschaft' und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, Klio 83, 2001, 93ff.; s. a u c h j . Bleicken, Augustus eine Biographie, Berlin 1998, 37Iff. 15 Tacitus, Dial. 17,3 und Sueton, Aug. 8,3 rechnen die Regierungsjahre des Augustus ganz selbstverständlich vom Jahre 43 v. Chr. ab; vgl. Tac. ann. 1,9,1: der 19. August 43 als dies accepti quondam 16

imperii.

Α. Alföldi, Der Vater des Vaterlandes im römischen Denken, Darmstadt 1971; C. J. Classen, Romulus in der römischen Republik (1962), in: Zur Literatur und Gesellschaft der Römer, Stuttgart 1998, 3Iff. 17 So richtig Th. Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt/M.—New York 1994, 339 ff.

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IV Keine Eindeutigkeit folglich, dafür eine Fülle von Hinweisen und Umschreibungen, die in ihrer Summe durchaus unmißverständlich waren. Augustus hatte gute Gründe, diesen Umweg zu wählen. Zunächst galt es das Schicksal Caesars zu vermeiden, der bereits als dictator perpetuus für republikanisches Empfinden untragbar geworden war. 18 Die republikanische Verfassung war aber in einem viel umfassenderen Sinne nicht auszulöschen, sondern zu respektieren. Schließlich handelte es sich um ein Erfolgsmodell, durch das R o m zur Herrin der gesamten Mittelmeerwelt und weit darüber hinaus aufgestiegen war. Insbesondere war das Prestige der Führungsschicht, des Senats, im engeren Sinne: der Nobilität, unverzichtbar. 19 Aber auch die politische Partizipation aller römischen Bürger in Wahlen und Volksbeschlüssen war fest verankert. Deshalb war auch bei den schweren Auseinandersetzungen der späten R e p u blik bis Caesar niemals die Verfassung Roms selbst auf dem Spiele gestanden, hatte es sich - nach dem glücklichen Ausdruck Christian Meiers - um ,eine Krise ohne Alternative' gehandelt, 20 die -wiederum Meier — Augustus beendete, indem er seine Monarchie als Wiederherstellung der Republik begründete. 21 Das Neue folglich in der Form des Alten ? Ganz so einfach ging das nicht. Zu sehr hatten die Bürgerkriege das politische Leben, die politischen Selbstverständlichkeiten zerrüttet, als daß die republikanische Staatsform realiter wiederherzustellen gewesen wäre. Allen Zeitgenossen, allen späteren antiken Beurteilern war klar, daß der Friede nur um den Preis der Unterwerfung unter einen Herrn erreichbar war, 22 der das Militär in seine Grenzen zurückweisen konnte, gerade darum aber als der Befehlshaber der Militärs eine praktisch unbeschränkte Macht besaß. 23

18

Doch hat sich Augustus von Caesar nicht distanziert: D. Kienast, Augustus und Caesar, Chiron 31, 2001, Iff. 19 Α. Winterling, .Staat' (Anm. 14), 110. 20 Ch. Meier, Res Publica Amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, 3. Auflage, Frankfurt/M. 1997; s. aber auch J. v. Ungern-Sternberg, Die Legitimationskrise der römischen Republik, Hist. Zeitschr. 266, 1998, 607 ff. 21 Ch. Meier, Augustus. Die Begründung der Monarchie als Wiederherstellung der Republik, in: Die Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar. Drei biographische Skizzen, Frankfurt/M. 1980, 223ff. 22 Lucan 1,160; Tac. hist. 1,1,1; ann. 1,1,1; dazu L. Wickert, Princeps (Anm. 5), 2071 ff.; 2090ff.; etwas modifizierend W. Kunkel, Z u m Freiheitsbegriff der späten R e p u blik und des Prinzipats, in: R . Klein (Hrsg.), Prinzipat und Freiheit, Wege der Forschung 135, Darmstadt 1969, 68ff. = Kleine Schriften. Z u m römischen Strafverfahren und zur römischen Verfassungsgeschichte, Weimar 1974, 518ff. 23 K. Raaflaub, Die Militärreformen des Augustus und die politische Problematik des frühen Prinzipats, in: G. Binder (Hrsg). Saeculum Augustum I. Herrschaft und Gesellschaft, Wege der Forschung 266, Darmstadt 1987, 246ff.

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Eine derartige Macht ließ sich nicht verbergen, ja sie durfte gar nicht verborgen werden. Wenn Augustus die Republik erneuerte, so mußte er zugleich unmißverständlich deutlich machen, daß sie eigentlich überholt war. Eine schwierige Balance also, fur die Eric Voegelin in "anderem Zusammenhang die treffende Bezeichnung der ,postkonstitutionellen Herrschaft' gefunden hat, 24 einer Herrschaft, die nicht in der Lage ist, die Legitimität einer Erbmonarchie für sich in Anspruch zu nehmen, da die einmal erreichte politische Partizipation aller Bürger eine Errungenschaft ist, die in einem Staat niemals mehr ganz in Vergessenheit geraten kann. Von daher kam es zu dem sich jeder Definition entziehenden, fortdauernden Nebeneinander von älteren, republikanischen, und jüngeren, kaiserzeitlichen Elementen, 25 auch wenn mit Eugen Täubler zu konstatieren ist, daß nur die letzteren entwicklungsfähig waren.26

V

Es war also nicht an dem, „daß Augustus im verborgenen, gewissermaßen als graue Eminenz regieren wollte. Ganz im Gegenteil: er wollte als der maßgebende Mann im vollen Lichte stehen." 27 das bis in die fernsten Länder der Erde strahlte.28 Sichtbaren monarchischen Glanz verliehen ihm seine Ehrungen, ebenso viel konnte aber der Bereich der bildenden Künste und der Literatur dazu beitragen. Das von Schwierigkeiten nicht freie, insgesamt indes durchaus dem Lob des Herrschers dienende Verhältnis der Dichter, aber auch des Historikers Livius zum Princeps hat stets die gebührende Beachtung gefunden. 29 In den letzten

2 4 E. Voegelin, Rez. Leo Strauss, O n Tyranny, in: T h e Review o f Politics 11, 1949, 241 ff.; dazu J. v. Ungern-Sternberg, L'influence de l'histoire surla philosophie: le cas de Denys l'Ancien de Syracuse, in: S. Franchet - d'Espèrey - V. Fromentin - S. Gotteland - J . - M . Roddaz (Hrsg.), Fondements et crises du pouvoir, Bordeaux 2 0 0 3 , 23ff. und (demnächst) A. Schmid, Augustus und die Macht der Sterne. In der Sache vieles schon bei A. Heuß, Theodor Mommsen und die revolutionäre Struktur des römischen Kaisertums (1974), in: Gesammelte Schriften III, Stuttgart 1995, 1730ff.

A. Winterling, .Staat' (Anm. 14), 108. E. Táubler, Der römische Staat (1935), Stuttgart 1985, 70f. 2 7 W, Kunkel, Uber das Wesen des augusteischen Prinzipats (1961), in: W. Schmitthenner (Hrsg.), Augustus, Wege der Forschung 128, Darmstadt 1969, 331 = Kleine Schriften (Anm. 22), 400. 2 8 „Die c. 31—33 lenken mit dem gleichförmigen Beginn ad me bzw. a me auf Augustus hin, der R o m gegenüber dem Ausland vertritt": H . Volkmann, Res Gestae Divi A u gusti. Das Monumentum Ancyranum, Berlin 1957, 53. 2 9 S. etwa die Beiträge in G. Binder (Hrsg.), Saeculum Augustum II. Religion und Literatur, Wege der Forschung 512, Darmstadt 1988; K. Galinsky, Augustan Culture: an interpretative introduction, Princeton 1996, 91ff. 225ff. 25 26

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Jahrzehnten ist aber etwa durch die Berliner Ausstellung ,Kaiser Augustus und die verlorene R e p u b l i k ' und das Werk Paul Zankers ,die Macht der Bilder' in den Vordergrund getreten. 3 0 In einem nie gekannten Ausmaß waren schon die Porträts des Augustus und der kaiserlichen Familie im privaten w i e im öffentlichen Bereich allgegenwärtig, von Statuen und Büsten angefangen bis hin zu den Münzbildern. Sie wirkten i m ganzen R e i c h ebenso stilbildend — man denke nur an die Haarfrisuren! — w i e der Übergang in der Wanddekoration vom Zweiten zum Dritten Stil, 31 der i m fernen Judäa von einem Herodes in seinen Bauten sogleich nachvollzogen wurde, oder generell die Ablösung des Hellenismus durch den neuen augusteischen Klassizismus. Zahlreiche Ehreninschriften gaben i m lateinischen Westen den A n stoß zu einer explosionsartigen Vermehrung der Inschriftenzahl, 32 die Tempel für , R o m a und Augustus' prägten an prominenter Stelle - auch in Äugst — das Bild der Städte. In ganz besonderem M a ß e aber galt die Fürsorge des Augustus der Stadt R o m , die er nach den berühmten Worten des Sueton (Aug. 28,3) als „im H i n blick auf die Hoheit des Reiches unzureichend ausgestattet" vorfand (neque pro maiestate imperii ornatam) und von einer Stadt aus Ziegeln zu einer aus M a r m o r umgestaltete. Es folgt eine längere Aufzählung der Bauten (29) w i e sie Augustus selbst schon in seinem Tatenbericht gegeben hatte (cap. 19—21). N o c h wichtiger als die einzelnen Bauten ist aber die völlig neue Systematisierung des Urbanen Organismus. 3 3 Augustus schuf eine neue Infrastruktur durch die R e g u l i e r u n g der Tiberufer, die Verbesserung der Wasserversorgung und der Straßen, den Hafenausbau, die Einteilung der Stadt in R e g i o n e n und Vici, die Einrichtung einer Feuerwehr. All dies war während der späten Republik sträflich vernachlässigt worden, so daß Augustus sein neues R e g i m e hier besonders w i r kungsvoll positiv profilieren konnte. Profil verliehen i h m aber vor allem die eindrucksvollen neuen Ensembles auf dem Palatin u m seine domus und die der Livia neben dem Apollotempel — das Forum Augustum mit dem Tempel des Mars U l tor — vielleicht als Höhepunkt die weiträumige Anlage auf d e m Marsfeld mit

3 0 Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Ausstellungskatalog Berlin 1988; P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 2. Aufl., München 1990; G. Binder (Hrsg.), Saeculum Augustum III. Kunst und Bildersprache, Wege der Forschung 632, Darmstadt, 1 9 9 1 . 3 1 B. Andreae, Wandmalerei augusteischer Zeit, in: Kaiser Augustus (Anm. 30), 273fF.; K. Galinsky, Augustan Culture (Anm. 29). 179 ff. 3 2 G. Alföldy, Augustus und die Inschriften: Tradition und Innovation. Die Geburt der imperialen Epigraphik, Gymnasium 98, 1 9 9 1 , 2 8 9 f f . 3 3 D. Favro, The Urban Image of Augustan R o m e , Cambridge 1996; Α. Scheithauer, Kaiserliche Bautätigkeit in R o m . Das Echo in der antiken Literatur, Stuttgart

2000.

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der Ara Paris, dem Obelisken und der Sonnenuhr 34 und dem Mausoleum, Schauplatz schließlich auch seiner Apotheose. — Daß aber auch die Apotheose ein Element der prekären Balance zwischen Monarchie und Republik gewesen ist, mag ein Caligula richtig begriffen haben. Als er seine Macht durch die Annahme des Königstitels einprägsam zur Schau stellen wollte, brachte ihn seine Umgebung mit dem schlauen Argument davon ab, er habe das Niveau von Königen längst überschritten. Worauf Caligula sich umgehend zum Gott erklärte (divinarti ex eo maiestatem asserere sibi coepit).35

VI Mit alledem konnte Augustus als ein neuer .Gründer der Stadt', als ein ,zweiter Romulus' gelten. Und in der Tat hat er angesichts der Schwierigkeit einer Legitimierung aus der Geschichte — das Königtum war verpönt, die republikanischen Traditionen standen ihm entgegen — seine monarchische Stellung über die Geschichte hinweg im Bereich des Mythos zu legitimieren gesucht. 36 In der Anknüpfung an Mars, Aeneas und Romulus zugleich hat er das durch ihn heraufgeführte neue saeculum als eine neue Anfangszeit und zugleich als Erfüllung der Geschichte darstellen können. Mit dem Gedanken der Wiedergewinnung des ,goldenen Zeitalters' griff er sogar noch weiter, nun wirklich in die ,Urzeit', zurück. Insofern ist hier das Älteste das Neueste. 37 Dabei verfuhr Augustus ungehemmt eklektisch. Indem er nicht eine Referenzzeit in der (mythischen) Vergangenheit wählte, konnte er die verschiedensten Elemente frei kombinieren und sich als die Summe präsentieren. „Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war und was sie geprophezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit."

3 4 E. Buchner, Die Sonnenuhr des Augustus, Mainz 1982; A. Schmid, Aequinokt und Ara Pacis, in: A. Pérez Jiménez - R . Caballero (Hrsg.), H o m o Mathematicus, Málaga 2002, 29ff. 3 5 Suet. Cal. 22,1-2; auf diese Stelle hat mich A. Schmid hingewiesen. Zu Caligula s. neuerdings M. H. Dettenhofer, Gaius' populare Willkürherrschaft, Latomus 61, 2002, 643ff.; A. Winterling, Caligula eine Biographie, München 2003, bes. 139ff. 3 6 T. Hölscher, Mythen als Exempel der Geschichte, in: F. Graf (Hrsg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Colloquium Rauricum 3, StuttgartLeipzig 1993, 8 0 f f ; J. v. Ungern-Sternberg, Die Romulusnachfolge des Augustus, in: W Schuller (Hrsg.), Politische Theorie und Praxis im Altertum, Darmstadt 1998, 166 ff. 3 7 K. Galinsky, Augustan Culture (Anm.29), 90 ff: Die Wiederkehr der Saturnia regna und die Verbindung dieser Wiederkehr mit der Gegenwart gilt als .Innovation' Vergils; dazu K. Kubusch, Aurea Saecula: Mythos und Geschichte, Frankfurt/M. 1986.

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Sichtbaren Ausdruck fand dies in der Gestaltung des Forum Augustum,38 In der Cella des Mars Ultor-Tempels standen Venus, Mars und der vergöttlichte Vater Caesar; vom Giebel des Tempels blickten wiederum Venus, Mars und Romulus herab - in den Seitenapsiden standen Aeneas umgeben von den Juliern bzw. die albanischen Könige und Romulus - es folgten jeweils die bedeutendsten Männer der römischen Geschichte. In der Mitte des Platzes aber stand die Quadriga des Augustus mit der Inschrift, die ihn als pater patriae proklamierte. Er war somit die zentrale Gestalt, der in sich Mythos und Geschichte verband, ja der beide geradezu in sich aufsaugte. Vorgebildet war diese Konzeption aber bereits in der ,Heldenschau", durch die Vergil im 6. Buch der ,Aeneis' den Ahnherrn in die Zukunft R o m s vorausblicken läßt. 39 Zunächst erscheinen die Nachkommen des Aeneas bis hin zu Romulus und dann, nach kurzer Erwähnung Caesars, Augustus als das Endziel aller Geschichte: hic vir hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, Divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latió regnata per arva Saturno quondam ... Ihm schließen sich, wie auf dem Augustusforum, die Könige und die großen Gestalten der römischen Republik an.

VII Neuerdings hat Wallace-Hadrill in einem sehr bedeutsamen Aufsatz den Wandel von der Republik zum Prinzipat mit dem Konzept der ,cultural revolution' zu erfassen gesucht. 40 Dabei geht er von Termini der spätrepublikanischen wie der augusteischen Diskussion aus, die auch wir bereits einleitend betrachtet haben: mos maiorum — exempla — auctoritas. Er nimmt sie aber nicht in ihrem engeren moralisch-politischen Sinn, sondern zeigt, daß sie die gesamte römische Lebenswelt betrafen, insofern die Führungsschicht, die Nobilität, beispielgebend war und die Standards setzte. Die Krise der republikanischen Ordnung läßt sich dann

38 P. Zanker, Forum Augustum. Das Bildprogramm, Tübingen o. J. [1968]; J. Ganzert, Der Mars-Ultor-Tempel auf dem Augustusforum in Rom, Rom 1996; M. Spannnagel, Exemplaria Principis. Untersuchungen zu Entstehung und Ausstattung des Augustusforums, Heidelberg 1999; J. Ganzert, Im Allerheiligsten des Augustusforums. Fokus „oikumenischer Akkulturation", Mainz 2000. 39 Verg. Aen. 6,755 ff.; N.M. Horsfall, A Companion to the Study of Virgil, Leiden 1995, 144ff. (mit Lit.) 40 A. Wallace-Hadrill, Mutatio morum: the idea of a cultural revolution, in: Th. Habinek - A, Schiesaro (Hrsg.), The Roman Cultural Revolution, Cambridge 1997, 3ff.

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dahingehend beschreiben, daß der Nobilität die Kontrolle über zentrale Gebiete des Wissens entglitt — wie das richtige Verständnis der Tradition, das R e c h t , der Kalender, sogar die korrekte lateinische Sprache —, weil dafür Spezialisten: Grammatiker, Antiquare, Juristen, Astronomen zuständig wurden. Augustus aber, so Wallace-Hadrill, versammelte die entsprechenden Fachleute um sich und erlangte so die Kontrolle, d.h. aber er erwarb sich neue auctoritas in einem ganz umfassenden Sinne. Erscheint Augustus somit als ein Erbe von Entwicklungen, die schon längst im Gange waren, so erweist er sich, anders gewendet, als ein Meister im Erkennen und Nutzen der .Tendenzen der Zeit'. Er konnte in der Tat für sich in Anspruch nehmen, ein eigenes Zeitalter, saeculum, heraufgeführt zu haben, nicht weil er seine Macht, sie geschickt kaschierend, fest etablierte, sondern weil er weit über den engeren Bereich des Politisch-Gesellschaftlichen hinaus in allen Bereichen des Lebens prägend wirkte. Indem er aber sein Erscheinen als das Endziel, die Erfüllung aller Zeiten, proklamierte und vor allem proklamieren ließ, übersteigerte er seine Epoche ins Eschatologische. Dafür zahlte R o m einen hohen Preis. Die Frage mußte nämlich sich unvermeidlich stellen: Was tut man nach dem Ende der Geschichte? 4 1 Literatur und Kunst der nächsten zwei Jahrhunderte lassen sich unter dieser Problematik ebenso betrachten, wie z. B. die Frage der Reichsgrenzen oder — ganz fundamental — die nie recht gelingende Etablierung des Kaisertums als einer Erbmonarchie. 4 2 So fällt Nero, respektive seinen Beratern, um ihren epochalen Anspruch zu begründen, nichts anderes ein, als wieder ein Goldenes Zeitalter unter der Ägide Apollos zu proklamieren.

Cosimo de'Medici Dass Florenz sich wie ein Kranker in seinem Bett wälzt, um durch Veränderung der Lage die Schmerzen seines (politischen) Körpers zu lindern, ist den Florentinern durch Dante ein wohlvertrauter Topos. Dante selbst wiederum bezog das Bild von Cicero und attackierte mit ihm die vermeintliche Sucht der Stadt nach Neuem — nach neuer Politik, neuen Ordnungen, neuen Leuten. Uomini nuovi, die neuen Leute waren für den politischen Visionär Dante die Zerstörer der ursprünglichen Gesundheit des politischen Körpers der Stadt. Das „gute alte Flo-

41 W Hartke, Römische Kinderkaiser. Eine Strukturanalyse römischen Denkens und Daseins, Berlin 1951, bes. 7 4 ff. 4 2 D. Timpe, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, Wiesbaden 1962; A. Heuß, Theodor Mommsen und die revolutionäre Struktur des römischen Kaisertums (Anm. 24), 1730ff.

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renz" - „Fiorenza dentro dalla cerchio antica" (Par. XV 97) — propagierte er als „vera icon" des „bello viver di cittadin", des schönen Lebens als Bürger. N u n wäre durchaus von Interesse, was dem politisch konservativen Dichter, der als Sprachtheoretiker ein epochemachendes Lob auf den „dolce stil nuovo" und als Metaphysiker eine anagogische Synthese von irdischer und himmlischer „Erweckungstheologie" unter dem Kategorem „vita nuova" veröffentlichte, als verderbliche Merkmale des „Neuen" erschien. Wir würden erfahren, dass nicht nur der bekannte Verlust aller Moral, mithin die Herrschaft von Prostitution und Kredit dazu zählten, sondern auch Vermassung, Gleichmacherei und nicht zuletzt die Wurzel allen Übels die Überfremdung durch Vermischung, „la confusion delle persone" (Par. XVI 67), zu den festen Begleiterscheinungen des „Neuen" zu zählen seien. Zunächst soll uns aber Dante allein als Zeuge fur eine ausgedehnte Florentiner — aber natürlich nicht auf Florenz beschränkte — Dominanz substantieller politischer, sozialtheoretischer sowie moralischer Antagonismen gegenüber dem „Neuen" zur Verfügung stehen. Allerdings sollte dieser Hinweis auch mit einer Warnung verbunden werden: Die Nähe zum uralten Diskurs über Wirken von Tyche und Fortuna bleibt unübersehbar. Die Frage wird sich also immer wieder stellen: in welcher Weise sind die Diskurse über Fortuna und „das schlechte Neue" bzw. das „das gute Alte" ineinander verwoben, aufeinander bezogen oder der eine das Derivat des anderen. Die zweite Warnung gilt dem Diskursgehalt selbst: Daher noch einmal zurück zum Bild des sich auf dem Krankenbett wälzenden politischen Körpers. Der pathologische Zwang zur Verfassungsänderung — wie wir das Bild in aller Vorsicht nun übersetzen wollen — wendet sich zwar gegen „das Neue", aber es sanktioniert keineswegs „das Alte". Vielmehr suggeriert das Bild die pathologische U n unterscheidbarkeit des Alten vom Neuen. Denn so wie dieses soeben noch jenes war, wird jenes schon bald dieses sein. Mit anderen Worten: der pathologische Befund könnte entweder darin Hegen, dass das Alte sich nicht mehr vom Neuen unterscheiden lässt, oder einfach darin: dass es allein um den Prozess unablässiger Veränderung geht. Eine Art politischen Suchtverhaltens, das dem „Neuen" keine Merkmale mehr belässt ausser dem einen: neu zu sein. Wie wirkungsvoll das Bild des kranken politischen Körpers für die politische Ideengeschichte in Florenz wurde, könnte ein Blick auf die beiden substantiellen politischen Theoretiker der Florentiner Frührenaissance, Coluccio Salutati und Leonardo Bruni, zeigen. Beide widmen sich förmlich erregt dem Danteschen Antagonismus zwischen der „vera icon" des „grand old vivere bello" und dem kranken Körper. Übrigens beide mit dem Schluss, dass Neuerungssucht und „Verführung durch das Neue" zum Wesen politischer Demagogik zu zählen seien. 43 Ein Neuerer des politisch43

Vgl. den locus classicus in Salutatis Invektive gegen Antonio Loschi: Prosatori latini del Quattrocento, ed. E. Garin, Milano 1952, 31-37. Zusammenfassend Ch. Trinkaus, Antiquity Versus Modernity, in: Journal of the History of ideas 47, 1987, l l f f .

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sozialen Selbstbewusstseins der Florentiner bleibt zunächst zurückgestellt: Matteo Palmieri. Auf ihn wird im Zusammenhang mit Cosimo zurückzukommen sein. Florentiner

Verfassung:

Tradition

und

Öffentlichkeit

Die Medici spielten seit der Ciompi-Revolte von 1378 eine Rolle in der Florentiner Politik. Sie zählten zur „gente nuova", zu jenen Familien, die sich den Zugang zur Oligarchie der ratsfähigen Gruppierungen über wirtschaftlichen Erfolg und Klientelbildung in der Volksversammlung in zähen Integrationskämpfen ertrotzt hatten. Die Familie hatte sich als „volksfreundlich" profiliert, d. h. sie hatte ihre Klientel neben durch Connubium und Patenschaften verbundenen Familien ranggleicher und ranghöherer Gruppierungen vor allem in jenem Teil der Florentiner Handwerkerschaft gesucht (und gefunden), der durch alte Rechte an der politischen Macht qua Ratsfähigkeit und Amterbesetzung partizipierte. Allerdings war es erst Cosimos Vater Giovanni gelungen, über seine Funktion als Bankier eines Papstes zu den fuhrenden Kreisen der Bürgerschaft vorzustossen, jener Gruppe von bis zu 100 Familien, die die Machtpositionen in Guelfenpartei und Accopiatori-Amt (Amtsträger, die das Einfüllen der „Losbeutel" für die Funktionsämter der Stadt überwachten) besetzten. 44 Cosimo selbst war durch das Erbe seines Vaters und eigene Geschicklichkeit zum „leader" einer Klientelgruppe aufgestiegen, in einer Zeit, in der unter einer ganzen Reihe solcher Verbindungen vor allem Medici und Albizzi die dominanten Gruppierungen darstellten. Wichtigstes Kampfmittel der konkurrierenden Gruppierungen bildete die Verbannung, oft garniert mit schweren Finanzstrafen oder gar Todesstrafen in contumacia — es sei denn einer hätte das Spiel nicht begriffen. Das Ganze geschah auf einer politischen Bühne, die nach wie vor von der traditionellen SignorieVerfassung bevölkert war mit im Rhythmus von zwei Monaten wechselnden „Räten" der Signoria sowie wechselnden Besetzungen der „Volks- und Kommunalräte" von jeweils 200 bzw. 300 Mitgliedern sowie kurzfristig und auf begrenzte Zeit eingesetzten Exekutivräten, die sogenannten „balie" (Singular: balia), die als Kriegs- und Krisenbewältiger zu Amt und Ehren kamen. U m die Grössenverhältnisse zu zeigen: im Idealfall wurden die Losbeutel für die höchsten Amter der Signoria — insgesamt neun Sitze — mit etwa 2000 Namen gefüllt bei einer Bevölkerung von 50000, allenfalls 60000 Einwohnern. Das Losverfahren sicherte den Schein der Unmanipulierbarkeit eines Selektionsverfahrens, dessen entscheidende Weichenstellung in jenem Augenblick erfolgte, in dem die Losbeutel gefüllt wurden. Die Bühnendekoration des Florentiner „Regierungssystems", wie

44 Vgl. zu allen Verfassungsfragen und -techniken der fraglichen Zeit in Florenz: N. Rubinstein, The Government of Florence under the Medici (1434 to 1494), Oxford 1966. Zu den Accopiatori: 236-257.

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der Nestor der Florentiner Verfassungsgeschichte Nicolai Rubinstein in seiner magistralen Studie über „The government of Florence under the Medici" 45 diese Mischung aus Oligarchie, Klientelherrschaft und Bandenkrieg bezeichnet, verlieh dem immer wieder unkalkulierbaren Risiko des politischen Dauermachtkampfes eine traditionelle Würde und regulative Eingrenzung, die — auch wenn sie als Spielregelsimulation erscheint — die jeweiligen Kombattanten in Duktus und Habitus politischen Verhaltens soweit band, dass durchaus von einer Zähmung der Affekte im Verbund mit einer affektiven Kontrolle durch eine Art von Ö f fentlichkeit gesprochen werden kann. U m welchen Typus von Öffentlichkeit es sich hierbei handelte, ist durchaus jedwede Auseinandersetzung wert. Denn das Florentiner System transzendierte bei weitem den symbolischen Gestus der repräsentativen Öffentlichkeit auch in der korrigierten Habermasschen Typologie, wie sie umgekehrt allerdings auch nicht jene korrektive Dimension gewann, die Habermas oder Koselleck der „kritischen Öffentlichkeit" der klassischen Frühmoderne zusprechen. 46 Begnügen wir uns also mit dem hier gewählten Begriff einer „affektiven Öffentlichkeit", die zu Intervention aber nicht zu konstanter kritischer Reflexion politischer Ereignisse und Strukturen fähig sein konnte. Cosimos

Rückkehr

1434 kehrte Cosimo de' Medici aus einer einjährigen Verbannung nach Florenz zurück. Seine Klientelgruppen, parenti und amici hatten den Weg zurück in die Heimatstadt frei gemacht. Und wie weit man in der Erwartung ging, die sich mit seiner Rückkehr in Florenz verband, zeigt die Tatsache, dass die „balia", die diese Rückkehr angeordnet hatte, im selben Atemzug gleichsam beschloss, sämtliche noch von der gegnerischen Gruppierung der Albizzi induzierten Losbeutel für die Rätebesetzungen verbrennen zu lassen, um, wie es nicht ohne ironische Prophetie hiess, „einen neuen Beginn" zu ermöglichen 47 . Zugleich Hess Cosimo verkündigen, dass nunmehr wieder die alten Grundsätze der Stadt, nämlich Sicherheit und Frieden, gälten. In seinen „Memoiren" spricht er den Zusammenhang von „Neuem" und „Altem" direkt an: „Als wir Florenz erreichten (am Tag der Rückkehr aus der Verbannung) wandten wir uns zunächst zum Dom (Sta. Reparata/sic!/), von dort zum Palazzo del Podestà, von dort zum Palazzo des Esecutore di Ordinamenti, von dort schliesslich zum Palazzo della Signoria, den

45

Rubinstein, passim. In dieser Hinsicht bleiben J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 3. Aufl., Frankfurt 1990 sowie R . Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Freiburg, München 1959 jenseits des jeweiligen „Forschungsstandes" bedeutsam. 47 Vgl. D. Kent, T h e Rise of the Medici. Faction in Florence 1426-1434, Oxford 1978, 340 ff. 46

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wir betraten, ohne eigentlich von irgend jemandem gesehen zu werden. Denn alles hielt sich in der Via Larga auf (vor dem Haus der Medici), um uns zu begrüssen. Ich bat aber die Prioren (die Mitglieder der Signoria) nicht bei uns einzutreten, um keinen Tumult hervorzurufen. Vielmehr wollte ich, dass sie und andere Bürger in den Palazzo della Signoria zurückkehrten — und so geschah es. Dort beschlossen sie sofort, dass eine Reihe von Bürgern exiliert werden sollte . . . , und so wurden Stadt und Land befriedet. Vor allem auch dadurch, dass auf der Piazza und vor dem Palast bewaffnete Wachen aufzogen, um die alte Sicherheit der Stadt herzustellen . . . Das einzig Neue, das ich in meiner Zeit herbeigeführt habe, war, dass ich eine Art Miliz ausheben liess, die seitdem für gewöhnlich vor dem Stadtpalast Wache steht, um die alte Sicherheit zu gewährleisten". 48 Der Text Cosimos ist von ausserordentlichem Raffinement. Cosimo gesteht, dass er als Neuerer in Erscheinung getreten sei, beschränkt die Anstössigkeit des Neuen aber zugleich auf eine reine Sicherheitsmassnahme, die am Ende allen zu Gute komme. Der Gestus des Gemeinwohls wird zugleich mit dem Gestus der „renovatio" verbunden. Die wahrhaft umstürzlerische, jedoch nur beiläufig erwähnte Neuerung aber ist im Diskurs der Paläste zu sehen. Das provokative Eindringen in den Palazzo della Signoria — wozu der Zutritt Ungeladenen und zur Signorie nicht gehörigen Bürgern und Nichtbürgern bei höchster Strafe untersagt war 49 - setzte tatsächlich die traditionelle Ordnung ausser Kraft. Die Floskel, man sei eigendich nicht gesehen worden, sucht das Skandalon der politischen Tabu-Verletzung — des „crimen laesae majestatis" — zu überspielen. Deutlich ist Cosimo in seiner Erinnerung sowohl daran interessiert, die „Machtergreifung" symbolisch und körperlich nachzuzeichnen, als auch die dabei verletzte Verfassungstradition als in den „Augen der Öffentlichkeit" unversehrt zu schildern. Und zugleich versteht er es meisterhaft, den „Privatpalast" der Medici ins Zentrum des Geschehens zu rücken. Es ist die Signoria selbst, die in seiner Schilderung den Palazzo Medici (wohlgemerkt noch der Vorgängerbau des heutigen öffentliche Bedeutung und Pracht verkörpernden Gebäudes) fur einen Augenblick zum Zentrum der Republik erhebt, indem sie — auch wiederum „contra legem" — die private Sphäre des Hauses öffentlich überschreitet. Und es ist natürlich Cosimo selbst, der sie auf Gesetz und Herkommen aufmerksam macht, und die „alte Ordnung" bewahrt. Die Pose des Garanten der traditionalen Legitimität nimmt dabei derjenige ein, der in seiner eigenen Schilderung diese soeben zutiefst verletzt hatte. Aber eben diese Reziprozität der Verfassungsverletzungen sichert Cosimo den Weg zu seiner eigentümlichen politischen

Ricordi di Cosimo de' Medici, in: A. Fabroni, Magni Cosmi Medicei Vita, II, Pisa, 1789, 9 5 - 1 0 4 , 103f. 4 9 Rubinstein, 130 ff. 48

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Herrschaft, die auf reine Sichtbarkeit der Tradition angelegt ist, da hinter der Fassade der sichtbaren Traditionswahrung die entscheidenden Neuerungen der Medici-Herrschaft verborgen werden können. Allerdings geht es, wie der Text nur allzu deutlich werden lässt, dabei nur um die Simulation des Unsichtbaren. Es ist eine Augurenverborgenheit, die davon lebt, dass die traditionale Herrschaft allen als das erscheint, was sie ist: Fassade. In diesem Kontext wird auch die tatsächliche Einräumung des „Neuen" zu einem Augurengestus der renovatio, einem symbolischen Gestus der Sicherung des Alten. Und fast beiläufig im Duktus aber ähnlich instrumental gewendet, positioniert Cosimo seine Einlassung auf die offensichtlich von ihm verordnete Verbannung. Er schliesst diese förmlich an die Exilierung an und erklärt sie wie die Miliz in seinen Händen zum Friedensinstrument. Was er verschweigt, ist schlicht die Zahl dieser Friedensverbannungen. Es handelt sich um ein tiefgreifendes revirement der Florentiner Politik. Zur Verdeutlichung: 1433 waren Cosimo, sein Bruder und zwei weitere Verwandte in die Verbannung geschickt worden, ihnen folgten zu Beginn des nächsten Jahres noch sechs weitere Medici, aber keineswegs alle männlichen Vertreter der Familie, sowie zwei Angehörige der Familie Pucci sowie ein Mitglied der Accialiuoli — insgesamt also 11 Gegner der zu der Zeit herrschenden Albizzi-Fraktion. Nach der Rückkehr Cosimos und seines clans erbrachte die von ihm selbst in seinen Memoiren angesprochene Verbannung von Medici-Gegnern die stolze Zahl von insgesamt 73 Männern. Darunter wurden alle Männer der Familien Albizzi, Peruzzi und Guasconi — allesamt zum Kern der Albizzi-Fraktion gehörig - auf Lebenszeit verbannt. Cosimo, so urteilt Nicolai Rubinstein hatte damit ein neues Regime errichtet: „The contrast reflects a difference in political aim: in 1433 the consolidation of an existing regime; in 1434 the establishment of a new one." 50

Die Maske

der

Konstitution

Den entscheidenden Schlag gegen die Verfassung führte der soeben noch Verbannte jedoch gegen die Prioratsverfassung, also gegen die traditionale Signoria selbst. Cosimo Hess die von seiner Klientel dominierte Balia verfügen, dass die Losbeutel der neu zu „wählenden" Signoria nicht mehr voll aufgefüllt wurden. Statt der üblichen etwa 2000 Namen beschränkte man sich „wegen eines allgemeinen Notstandes" darauf, nur 74 Namen in die Beutel zu geben. Damit war selbst für schwerfällige Rechner die Voraussage der jeweils zu ziehenden Signoria zu einem schlichten mathematischen Problem blosser Subtraktion geworden, der Zufall mithin fast ausgeschlossen. Bis auf zwei Perioden zu Beginn und am Ende der vierziger Jahre gelang es der Medici-Fraktion diesen „Ausnahmezustand" bis

50

Rubinstein, 2

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in das Jahr 1455 zu verlängern. 51 Danach schlug Cosimo eine neue Strategie ein, denn die Perpetuierung des Notstandes rief immer wieder Kritik hervor, erforderte vor allem aber ausserordentliche Phantasie zur jeweiligen Begründung. Mit anderen Worten: die Notstandsmassnahme war prinzipiell in sich widersprüchlich, da sie ohne Debatte unmöglich schien, mithin ihre eigene Kritik provozierte. Das neue Konzept nach 1455 sah vielmehr die Einführung eines Ratgremiums vor. Aber auch hier ging es darum, dieses neue Gremium der „Hundert" (consiglio di cento) an die traditionelle Verfassungsphänomenologie zu binden: Cosimos Parteigänger schlugen in den „consulte", den Beratungen der Signoria mit den „buon uomini", einem Beisitzergremium, vor, den neuen Rat mit dem Ziel einzuführen, den Willen der alten Räte (Rat des Volkes, Rat der Gemeinde) zu verdeutlichen. Das Neue erscheint wieder als Instrument des Alten, als „renovado". Allerdings war die Willkür dieser Argumentation so deutlich empfunden worden, dass die Räte des Jahres 1458 zu einem überraschenden Mittel griffen: sie beriefen das „parlamentum" — die Volksversammlung. Dieses gleichsame uralte, aus dem 12. Jahrhundert stammende Mittel der Instrumentierung von Politik, hatte in der Zeit Cosimos nur zwei mal gegriffen. 1434 zu Cosimos Gunsten, 1454, um sich am Ende zu vertagen. N u n aber erklärten die Prioren der Volksmenge, es ginge um eine Verfassungsänderung, daher habe sie abzustimmen. C o simo fürchtete im Prinzip das parlamentum nicht, die Medici waren „volksfreundlich". 52 Aber dieses war ein Affront. Die Volksversammlung war gegen seinen Willen und vor allem unter Aufdeckung seiner Verschleierungstaktik einberufen worden. Ein Legatenbericht nach Mailand schildert anschaulich den allein mit seiner Miliz im Medicipalast wartenden Cosimo, der von allen scheinbar verlassen, fast ohnmächtig den Entscheid der Versammlung erwartet. Am Ende siegten die Medici-Einpeitscher, das neue Verfassungsorgan wurde gebilligt. Z u gleich aber war zum ersten Mal das Neue als das Neue erschienen. 53 Cosimos

Repräsentation

Cosimo hat es recht konsequent vermieden, die Kontraktion der politischen Entscheidungsstrukturen auf die zunehmend engere Gruppe einer Faktionselite mit ihm als Zentrum auffällig werden zu lassen. Vielmehr hat er auch personell die Maske der Tradition bevorzugt. So achtete er sorglich darauf, nicht durch

51

Rubinstein, 248 ff. Die Parteinahme aus ganz eigensüchtigen Interessen fìir die Ciompi 1378 durch Salvestro de' Medici war ein Florentiner Popular-Mythos. Vgl. A. von Müller, Ständekampf oder Revolution? Die Ciompi-Bewegung in Florenz (1343-1378), in: I. Geiss, R . Tamchina (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Geschichtswissenschaft, München 1975 u. ö., 54-75. 53 Rubinstein, 442 ff. 52

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Amterhäufung aufzufallen. Nur dreimal sass er in der Signoria, siebenmal in der „balia della guerra", dreimal in den balie, die als Regierungsorgane wirkten. Allein im Ausschuss für Staatsschulden sass er länger als andere: insgesamt 5 Jahre. Damit konnte er sein Interesse am Gemeinwohl demonstrieren, entsprach seiner Rolle als reichster, zuweilen auch nur zweitreichster Mann der Republik und zugleich erscheint auch diese Zeit für einen Machthaber, der zwischen 1434 und 1464 einen Staat kontrollierte oder zumindest dominierte, also über dreissig Jahre, nicht allzu lange. 54 Umso auffälliger die Selbstinszenierung Cosimos auf drei Gebieten: der Aussenpolitik, der Ökonomie, der öffentlichen Ästhetik. In seinen memoirenhaften Notizen (ricordi) erwähnt Cosimo selbst immer wieder sein Interesse an Briefverkehr und politischen Beziehungen mit auswärtigen Mächten. 55 Er duldete es nicht nur, dass Fürsten und städtische Räte innerhalb und ausserhalb Italiens Anfragen in Florenz häufig direkt an ihn, ohne jede Erwähnung des politischen Regiments der Stadt richteten. Enea Silvio Piccolomini charakterisiert die Aussenwahrnehmung Cosimos und zugleich dessen Maskierung nach innen: „Obwohl Cosimo Herr der Stadt ist, verhält er sich so, als sei er Privatmann". 56 Dass Enea — auch sonst scharfsinniger Beobachter — damit einer offenkundigen Inszenierung des Medici auf der Spur war, könnte die bekannte Charakterisierung Cosimos durch einen Klientel-Vertrauten, den Buchhändler Vespasiano da Bisticci, belegen. Die Passage über seinen wichtigsten Auftraggeber und Kunden in dessen Rolle als Politiker in den berühmten „Vite" Vespasianos lautet: „Er ging in aller Stille mit grösster Vorsicht zu Werke, um sich nicht selbst zu gefährden, und wenn er sein Ziel erreicht hatte, brachte er es fertig, den Anschein zu erwecken, als habe ein anderer und nicht er die Sache in Gang gesetzt". 57 — Dem wäre der weniger bekannte Hinweis der Alessandra Strozzi an die Seite zu stellen, man dürfe über die wahre Natur der Macht in der Stadt nicht reden. Zum Beleg schreibt sie in ihren Briefen den Namen Cosimos niemals aus, sondern versteckt ihn hinter wechselnden Nummerncodes. Ein Verfahren, das sie auf den Nachfolger Piero de' Medici überträgt. Als Witwe eines Verbannten und Mutter verbannter Söhne ist sie für die Strategien der Macht besonders hellhörig. 58 Mit anderen Worten: es Hessen sich genügend Belege dafür finden, dass

54

F. Arnes-Lewis (ed.), Cosimo „il Vecchio" de'Medici, 1389—1464. Essays in C o m memoration of the 600th Anniversary of Cosimo de' Medicis Birth, Oxford 1992, 12. 55 Ricordi, vor allem 99 f. 56 Enea Silvio Piccolomini, De viris illustribus, Stuttgart 1843, 22: Sed Cosmus quamquam dominus 57

civitatis existât,

ita tarnen se gerit,

ut privatus

videatur.

Vespasiano da Bisticci, Le Vite, dt.: Grosse Männer und Frauen der Renaissance, hrsg. v. B. Roeck, München 1995, 325. 58 Alessandra Macinghi degli Strozzi, Tempo di affetti e di mercanti: lettere die figli esuli, Milano 1987.

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die politische Elite — und zieht man die vielen Petitionen an Cosimo heran nicht nur sie — den seigneuralen Charakter des Florentiner Regiments seit 1434 durchaus wahrnahm. Mehr noch: dass sie am Maskenspiel des Neuen durch das Alte — wohlgemerkt das Neue in der Maske des Alten — sogar teilnahm. Der Augurencharakter des Spiels erscheint umso deutlicher, wenn man Cosimo als selbstverständlichen und gesuchten Gastgeber fiir hohen auswärtigen Besuch, als überdeutlichen Dominator der fur die politische Teilhabe konstitutiven Steuerordnungen der Stadt, als j e nach Bedarf grosszügigen oder bis zur Brutalität harten Kreditgeber oder als den auffälligsten Mäzen fur die architektonische Modernisierung der Stadt sowie die Förderung der „studia humanitatis" in ihren Mauern auftreten sieht. Die berühmten Bauten und Stiftungen Cosimos — der erste Palastgrossbau in Florenz, die Villen vor den Toren, die Erneuerung des Klosters San Marco, der Parochialkirche San Lorenzo im Quartier der Medici, der Bau des Dormitoriums von Sta. Croce, der Abtei von Fiesole, die bestimmende Mitwirkung am Kuppelprojekt für den Florentiner Dom — alles dies weist auf jenen „herrscherlichen, ja fürstlichen Gestus", von dem Gombrich spricht, wenn er das Mäzenatentum Cosimos zu charakterisieren sucht. 59 Nichts daran war jedoch wirklich neu — bis auf eines: dass ein vermeintlicher Privatmann und einfacher Bürger in dieser Fülle, mit solchem Aufwand an Mitteln, das Gesicht der Stadt an Knotenpunkten der öffentlichen Wahrnehmung zu prägen suchte. Und ein Zweites: bei Cosimos Bauprojekten handelte es sich keineswegs um eine funktionale oder ortsangepasste Programmatik. Als Architekten bevorzugte er Michelozzo und Brunelleschi, als Bildhauer Donatello. Sie gelten uns als Vertreter der „Frührenaissance", einer „neuen Kunstbewegung". — Auch in den Augen Cosimos? Man ist versucht zu pointieren: im Gegenteil! In seinen Bibliotheksstiftungen suchte er konsequent die antiken Autoren und unter den Zeitgenossen nur solche, die sich mit der Antike auseinandersetzten. Mit einem Wort: er suchte die „maniera antica", das Studium der Alten. Wie bei Büchern bevorzugte er auch bei Künstlern eben diejenigen, die ein solches Studium vorweisen konnten. — Aus Kommentaren ästhetisch versierter Zeitgenossen, etwa dem Lob Donatellos aus der Feder Alamanno Rinuccinis oder aus den Commentari des Ghiberti wissen wir, dass die Fähigkeit, die Kunst der Antike zu reproduzieren, als besondere Leistung der eigenen Zeit erkannt wurde, als Differenz eben dieser Gegenwart gegenüber den Zeiten zuvor. Man erschien damit als „neue Zeit" mit einer neuen Fertigkeit.

E. H. Gombrich, The Early Medici as patrons of Art. A Survey of Primary Sources, in: ders., N o r m and Form, London 1992. Zu Cosimos Kunstpolitik jetzt D. Kent, Cosimo de' Medici and the Florentine Renaissance: the Patrons Oeuvre, N e w Haven 2000. 59

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Es war jedoch einem politischen Traktat vorbehalten, diesen Zusammenhang begrifflich zusammenzufassen. In seinem bereits erwähnten und zur späteren Betrachtung zurückgestellten Traktat „Deila vita civile" von 1428 beschreibt Matteo Palmieri in Form eines Dialoges die kulturelle und soziale Leistung der Florentiner Bürgergesellschaft. Dabei wendet sich der Fragende auch dem Verhältnis zwischen Alt und Neu zu: „Aus welchen Bedingungen nun, mein Agnolo, entsteht der Willen zum Neuen? - nasca nuove voghe"? fragt Luigi, der in dem Traktat die Rolle des Schülers gibt. Und Agnolo holt nun weit aus, beschreibt die Vorteile der Freiheit der Bürgergesellschaft und des Friedens, den einer bürgerlichen Welt Gott zu schenken bereit sei. Und er fährt fort: „In einer solchen Gegenwart entsteht das Neue, indem das gute Alte wieder ans Licht geholt wird. Das begann mit Giotto. Und in unseren Tagen siehst Du die Architektur durch das Studium der grossen Werke aus der bewundernswerten alten Zeit wieder ans Licht treten." 60 Das neue ist das Alte, wiederbelebt durch Freiheit und Frieden als Katalysatoren für diese Erneuerung. Es ist aber dabei kein beliebig Altes, sondern eben die Antike. Die Fähigkeit zum Neuen als psychische und soziale Disposition ist die Voraussetzung ihrer Wiederbelebung. — Cosimo inszeniert sich in diesem Sinn politisch als Dantes Urahn Cacciaguida, als tugendhafter einfacher Bürger. Das real Neue seiner politischen Ambitionen lässt er hinter einem medialen Vorhang verschwinden, der einmal eine alte politische Figur, einmal eine neue kulturelle Staffage präsentiert. Der ehrwürdige Alte in den Prospekten der antikisch erneuerten Stadt bietet so die rechte Mischung fur die offenbar geläufige und notwendige Diffusion zwischen Alt und Neu. Als die Stadt Florenz nach dem Tode Cosimos ihm den ehrwürdigen über Vergil und Petrarca vermittelten Titel eines „Pater Patriae" 61 verleiht und beschliesst, mit einer Gedenkmünze und einer Grabinschrift die „memoria" des Mediceers entsprechend zu ehren, findet sie keineswegs unwillkürlich den richtigen Duktus: einen antiken Begriff für eine neue politische Erscheinung — oder anders gewendet: einen Begriff, der das politisch Neue an Cosimo durch ein politisch Uraltes maskiert.

Augustus — Cosimo — ein Vergleich Der Versuch einer Synkrisis zwischen Augustus und Cosimo de'Medici hat, wie die entsprechenden Bemühungen Plutarchs lehren, seine Tücken. Stößt doch je-

60 Matteo Palmieri, Vita civile, ed. G. Belloni, Firenze 1982, S. 38. Die Argumentation basiert auf Ciceros „De inventione", entwickelt jedoch einen autonomen Duktus. 61 Text des Dekretes über Cosimos Ehrung als „Pater Patriae" in Fabroni II, 257ff.

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der geschichtliche Vergleich auf den keineswegs vergilbten Einwand Rankes, dass alle Geschichte unmittelbar zu Gott sei, somit zunächst historische Plausibilität für sich und nicht an sich besitze. U n d doch ist das Tertium Comparationis offenkundig. Die beiden Akteure verbindet ein entscheidendes und in aller Weltgeschichte seltenes M o m e n t — als Dritter im Bunde wäre jedenfalls noch Perikles zu nennen: Sie haben eine informelle und doch unbezweifelte Herrschaft in ihren jeweiligen Staatswesen ausgeübt. Ein Blick auf diese Staaten zeigt freilich sogleich, dass die Beiden in sehr verschiedenen Welten zu agieren hatten; schon in der Größenordnung. Augustus erneuert mit seiner Strategie der konservativ verkleideten Entgrenzung des Prinzipats ein Weltreich. Cosimo vollzieht seine Politik der N e u o r d n u n g von Florenz im R a h m e n einer mittelalterlichen Kommune, die allenfalls wirtschaftlich — wenigstens zu seiner Zeit — die eigenen engen Grenzen transzendierte. Darüber hinaus wirken kulturelle und gesellschaftliche Faktoren gänzlich unterschiedlicher Art auf die Handlungen dieser beiden „Modernisierer" und die von ihnen veränderten politischen Strukturen ein: hier eine Weltgesellschaft mit weitreichenden Kommunikationsstrukturen, hoch kultivierter intellektueller Elite und in freier Verfugung über ein gewaltiges Potential hellenistischer Bildungs- und Bildertraditionen. Dort eine zwar verhältnismäßig entwickelte Bürgergesellschaft, doch noch stark gebunden an religiöse Konventionen, Paradigmen und N o r m e n , vor allem aber noch immer ohne wirklich breites Bildungspotential. Beide Akteure handelten eben doch in verschiedenen Epochen unter verschiedenen Bedingungen. Dennoch: der Vergleich gerade dieser beiden Gestalten ist so naheliegend und reizvoll, dass bereits die Zeitgenossen Cosimos selbst durch die Verleihung des Ehrentitels „Pater Patriae" die Verbindung zwischen ihnen hergestellt haben. Darin dem so Geehrten durchaus folgend, denn dieser sah in der kulturellen Erneuerungsgestik des römischen Princeps eine Art Modell für die eigene magnificentia. Aber auch die kritische Geschichtsschreibung hat sich diesem Reiz nicht entziehen können. Schon Roscoe sah in diesem ersten Medici von „welthistorischer" Bedeutung eine Gestalt vergleichbar der des Augustus. Ihm folgte mit ähnlichen Wendungen der Lorenzo-Biograph Alfred von R e u m o n t und selbst Basel bietet mit Franz Dorotheus Gerlachs Darstellung der beiden „Gründergestalten" eine, wenn auch nur mittelbar nahegelegte, Vergleichsassoziation zwischen dem römischen Caesar und dem Florentiner Bankier. 62

62

W. Roscoe, The life of Lorenzo de' Medici called the Magnificent, 4. Aufl., Heidelberg 1825/26; A. von Reumont, Lorenzo de' Medici il Magnifico, 2. Aufl., Leipzig 1883; F. D. Gerlach, Das Zeitalter Augusts. Cosmus von Medicis. Zwei akademische R e den, Basel 1849.

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Die hier vorgelegte Studie versucht, nun allerdings explizit, ebenfalls einen solchen Vergleich: nicht um epochale Differenzen zu negieren, sondern um einen Beitrag zur Morphologie politischen Handelns und seiner mentalen Dispositionen zu Hefern. Eben dafür - so meinen die Autoren - eigenen sich die beiden Akteure vorzüglich. Beide haben sich in der vorliegenden Studie als politische Neuerer unter der Maske des Alten erwiesen, beide erschienen als Meister des Spiels mit den Konventionen kultureller und politischer Repräsentation bei gleichzeitiger tiefgreifender Umdeutung eben dieses konventionellen Arsenals an Gesten, Bildern und Bauten. Beide Akteure suchten ihre realpolitischen Neuerungen, ihre Usurpationen, Machterweiterungen, Machtdurchsetzungen zu verbergen, nicht allein durch Konventionalisierung ihres äußeren Politik-Bildes, sondern durch eine offensive Bilder-Politik, die usurpierend die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum überschritt. Die inszenierte „Unschärfe" zwischen den entsprechenden Repräsentationsgesten und -mustern schuf neue, bisher unbekannte Flächen für politische Projektionen. Neue Formen der Kunst, Opulenz und Kühnheit der ästhetischen Sprache überhaupt sorgten für Aufmerksamkeit und Ablenkung zugleich. Die Aufmerksamkeit galt nun ganz der ästhetischen Innovation oder der Aneignung des Raumes, aber sie überspielte zugleich die politischen Neuerungen struktureller und „harter" Natur. Die scheinbaren Privatinvestitionen, architektonischen Megalomanien, pointiert frommen Devotionen um die Person de Stifters — fast scheint es an seine Person —, diese literarischen Fluten neuartiger Panegyriken auf den „erneuerten" Staat und seinen Gründer lenkten einerseits von den realen Innovationen ab, anderseits schufen sie jedoch ein Klima der Erneuerung, das geeignet war, das Gefühl kollektiver Identität mit und in der politischen Ordnung zu steigern. Zugleich begannen sich — und dies mochte noch entscheidender sein — die Mitbürger der Erneuerer als „Zeitgenossen" zu fühlen — auf der Höhe ihrer Zeit, ihres saeculum. Die Kultur, der sie angehörten, war als Friedensordnung inszeniert und zu verstehen: als eine erneuerte aetas aurea nach leidvoller Erfahrung einer zutiefst zerissenen res publica, als Bürgerfriede nach Bürgerkrieg. Insofern signalisierte das pointierte Spiel mit dem Neuen das Versprechen der Erfüllung einer tiefen kollektiven Sehnsucht nach dem Alten: dem „guten Alten" längst verloren geglaubter bürgerlicher Ordnung und Eintracht. Auch die kulturelle Innovation schien somit verkleidet, sie diente als Maske gesellschaftlicher renovatio. Das gegenläufige Umspielen des Neuen mit Mitteln seiner Verschleierung, U n terstreichung und Verwandlung zeigt dieses Neue als eine faszinierende und zugleich gefährliche Macht. Die politische Klugheit gebot die Maskierung des politisch Neuen mit dem Gestus und Repräsentationsduktus des Alten, der herkömmlichen politischen Ordnung. Mit der Investition in kulturelle Neuerungen großen Stils verband sich die Spekulation auf die Herstellung einer Aura der Erneuerung um die Person des politischen „Gründers", ja Revolutionärs, die seine Bedeutung gesellschaftlich sublimieren sollte, ohne ihn politisch zu belasten.

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M e h r noch: sie sollte von der politischen „Revolution" ablenken, die doch u n zweifelhaft stattgefunden hatte. Zugleich aber enthielt eben dieser Gestus des pointierten N e u e n die Botschaft des Alten: Frömmigkeit, Magnifizenz, Ordnung, Friede. Das N e u e erwies sich unablässig als das erneuerte Alte u n d war doch nicht mit dem wirklich Alten identisch. Es sollte als politisches, kulturelles, gesellschaftliches Instrument dienen und zeigte sich schließlich doch als ein gefährliches „Spielzeug", das unversehens die Gewalt geschichtlicher Veränderung in sich barg. In den Nachfolgeregelungen des Augustus, erst recht bei d e m tatsächlichen Ubergang der Macht an Tiberius, wurde der tiefere Sinn der Inszenierung freigelegt: die Errichtung einer Militärmonarchie, einer universalen Herrschaft n e u en Typs, frei von Gesetzen, gebunden an das R e c h t , gebunden an die Tradition, frei fur das Neue. Cosimo seinerseits legte den Grundstein fiir den Aufstieg einer städtischen Elitefamilie zur europäischen Dynastie. N o c h weiter jenseits seines Intentionshorizontes bahnte sich mit ihm aber ein strukturell gänzlich neues historisches Potential den Weg: die gegenseitige Durchdringung von Politik, Kapital und Kultur zum Aufstieg einer neuen politischen Macht — des Bürgertums. Beide agierten demnach in einer gänzlich verschiedenen „historischen Stunde". Augustus in der Endphase der antiken Welt, die im Imperium R o m a n u m ihre letztgültige Form finden sollte, Cosimo am Anfang dessen, was als take-off europäischen Geistes, europäischer Politik, europäischer Wirtschaft hin zur Weltgeltung u n d zu einem sich bis heute immer m e h r beschleunigenden Innovationsprozeß scheinen m ö c h te. Sinnfällig wird dies in der sehr begrenzten Entwicklungsfähigkeit, ja Erstarrung des augusteischen Klassizismus einerseits, in der weiteren Entfaltung der Renaissance andererseits, wo auf Donatello und Brunelleschi ein Raffael u n d Michelangelo erst noch folgen sollten. U n d doch: daß sich beide teils geplanten, teils hinter ihrem R ü c k e n abspielenden, jedenfalls so tiefgreifenden N e u e r u n g e n im Urbanen R a u m zweier bürgerschaftlich organisierter Gesellschaften vollzogen, läßt unsere beiden weltgeschichdich getrennten Akteure denkwürdig wieder zusammenrücken.

ALFRED SCHMID

Epoche als

Ritual

Anmerkungen zu den augusteischen Säkularspielen

Der erste Princeps hat es bekanntlich vermieden, das Neue und Umwälzende, das in dem monarchischen Gehalt seiner nach Actium erreichten Stellung nur schwer zu übersehen war, in ausgesprochen konstitutionelle Begriffe zu fassen.1 Er soll zwar nach Sueton (Aug. 28, 2) selber dafür gesorgt haben, dass niemand mit dem novus status unzufrieden war — aber dabei ist offensichtlich der Ausdruck novus status eine Zusammenfassung Suetons, und bezieht sich auf den von Augustus geäusserten Anspruch, der optimi status auctor zu sein. Der „neue" status war somit eigentlich der „beste". Das Neue daran sollte offenbar als die eigentliche Vollendung des Alten, vielleicht als Realisierung des in dem Alten enthaltenen, aber verlorengegangenen oder veruntreuten Guten erscheinen. Der von Augustus selber betonte private Effort eines Individuums, 2 das dieses gute Alte aus der bedrückenden dominatio factionis befreit haben wollte 3 , war aber doch ein revolutionärer Hinweis. Denn ein Monarch als Spitze einer Gesellschaft, die ihr ziviles Selbstverständnis mit einer historischen Erinnerung verband, nach der der Sieg ihrer Werte als eine geschichtliche Bewegung von den Urkönigen weg zur ,Antimonarchie' (der Republik) anschaulich gemacht würde, war irgendwie deplaziert. Er musste daher entweder sich selbst oder aber den Verlauf der Geschichte .umplazieren', um nicht als deqenige zu erscheinen, welcher als Umstürzler die stolze Tradition dieser Gesellschaft zerstört hatte. So konnte er die Wahrnehmung seiner fatalen Person etwa als „ Summe " der römischen Geschichte 4 1

H i e r z u u n d z u m Folgenden siehe auch d e n obigen Beitrag J. v. U n g e r n - S t e r n b e r g s . R g d A 1 : annos undeviginti natus exercitum privato Consilio ... comparavi. 3 Ebd. — Z u Augustus als ν index libertatis siehe W. Kunkel, Bericht ü b e r neuere A r b e i t e n zur römischen Verfassungsgeschichte III, in: Z R G R o m . Abt. 75 (1958), 340ff. (= Kleine Schriften, W e i m a r 1974, 536ff.). 4 J. Bleicken, Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998, 524 (zur Programmatik des F o r u m A u g u s t u m ) . - Ähnlich D. Kienast, Augustus. Prinzeps u n d M o n a r c h , D a r m s t a d t 1999 3 , 2 4 3 (A. als „Vollender der Geschichte"); P. Zanker, F o r u m A u g u s t u m . Das Bildprog r a m m (1967), in: G. B i n d e r (Hrsg.), Saeculum A u g u s t u m III, Darmstadt 1991, 96 (den A. „feiert das ganze Programm als die Erfüllung der römischen Geschichte"). 2

Epoche als Ritual

91

nahelegen, als ein jenseits der Anfänge der Geschichte schon angelegtes Telos5. Und er konnte sich als Inaugurator eines ,neuen' 6 goldenen Zeitalters empfehlen lassen.7 Das „goldene Zeitalter" als Vorstellung einer wunderbaren Zeit, in welcher Menschen anstrengungslos an der natürlichen' und spontanen Fülle einer harmonisch strukturierten Welt teilhaben durften, 8 erscheint in der römischen Literatur seit den Sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts v. Chr. 9 Von Anfang an hat es eine offensichtlich „kontrapräsentische" 10 Stossrichtung und denunziert als Gegenbild einer idealen Vergangenheit (die auch durch den zwanglos möglichen Kontakt von Göttern mit Menschen definiert ist) schon bei Catull eine Gegenwart, die verderbt, schamlos, verdreht und ,denaturiert' ist.11 Die Auffassung nun, dass dieses längst vergangene und gewissermassen ,älteste' Zeitalter wiederkehren und zukünftig imminent sein sollte, findet sich so vor Vergil in der Literatur nicht; 12 nach den Arbeiten A. AlfÖldis13 ist das Motiv der wiederkehrenden Heilszeit aber auf Münzen der späten Republik vielfach präsent und wird besonders dominant in den turbulenten Jahren von etwa 45—40 v. Chr., in denen auch Vergils IV. Ekloge entstand. Fest steht wohl, dass die Prominenz dieses Motivs mit der „Krise der Republik" (damit mit dem Übergang zur Monarchie) zu tun und damit „soziopolitische" 14 Ursachen hat. Bei Vergil wird nun, in der berühmten IV. Ekloge, die neue Zukünftigkeit einer aurea aetas auch schon mit dem ,sibyllinischen Bereich' verbunden: die Realisierung des Kommenden wird durch das Orakel garantiert 15 — der apollinisch-prophetische Charakter macht es im Prinzip dem sehend ,frommen' vates zugänglich. 16 Dazu kommt ganz entscheidend das Problem einer „Historisierung" dieses Goldzeit-Mythos: das mythische Motiv sollte ja nun Gegenwart, 5 6

Verg. Aen. VI 791 ff. Verg. Eel. IV 5 ff.

7

Verg. A e n . V I 7 9 3 f . : Augustus

8

J.-P. Brisson, R o m e et l'âge d'or, in: Poikilia. Etudes off. à J.-P. Vernant, Paris 1987,

Caesar, Divi genus, aurea

condet/saecula.

126. 9

Ebd. 123 f. Der Ausdruck nach J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1997, 82. 11 Brisson (wie Anm. 8) 125. 12 K. Kubusch, Aurea Saecula: Mythos und Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, 93f.; Brisson ebd., 128. 13 A. Alföldi, Redeunt Saturnia Regna, Bonn 1997 (Sammlung älterer Aufsätze zum Thema), passim. 14 Brisson (wie Anm. 8), 123f. 15 Ebd. 128. — Auch diese ,apollinisch-sibyllinische' Atmosphäre ist nach Alföldi (wie Anm. 13, bes. 68ff.) schon ein Element der Ikonographie von Münzen der Bürgerkriegszeit. 16 Brisson ebd. 127f., wo darin, in Ansätzen schon in der 16. Epode des Horaz greifbar, auch eine „intériorisation du mythe" gesehen wird. 10

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und gar eine historisch bestimmte Gegenwart — es sollte ein sozusagen ,realexistierender' Mythos werden. 17 Die neue Konzeption des saeculum aureum wurde zu einem Element augusteischer Kultur,18 welches allerdings schon bei Vergil keineswegs bei der ,schlaraffischen' Version der IV. Ekloge stehengeblieben ist. 19 Da es, als ein „kontrapräsentisch" normatives Ideal, zugleich .historisch* werden sollte, müsste sich eigentlich in dem Umkreis dieses ,historiomythischen' Symbols auch Erklärendes finden, ein Hinweis auf ein Epochenverständnis, das die eigene Zeit als ,Erfüllung' des Alten und zugleich als Neubeginn deuten konnte, oder auf ein Deuten von Zeit, das den Widerspruch von mythischer und historischer Konzeption zu entschärfen, den Mythos vom Neuen an die Geschichte des Alten zu knüpfen vermochte. Wir haben nun inschriftlich gut dokumentierte Kunde von einem öffentlichen Ereignis, als welches eben der epochale Charakter der augusteischen Zeit selbst in ritueller Form inszeniert und gefeiert worden ist, nämlich von den ludi saeculares des Jahres 17 v. Chr. Und da in der eben erst erschienenen Neuedition der inschriftlichen Zeugnisse dieser Spiele 20 gerade die Relevanz von Ideen wie „goldenes Zeitalter" und ,epochaler Neubeginn' kritisch zurückgewiesen wird21, wobei sich die Herausgeberin ausdrücklich gegen eine einseitig politische oder ideologische Interpretation wendet 22 , möchte ich festhalten, dass ich im Folgenden ausdrücklich eine ältere Interpretation zu stützen gedenke, die hier die Geburt des saeculum, ja gar die politische „Geburtsfeier des Prinzipats"23 zelebriert sehen wollte.

Zu Vergils „Historisierung" dieses Konzepts etwa R . Glei, Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil, Trier 1991, 79f.; 91 mit Anm. 39; sowie 46f. (zur entsprechenden „Historisierung" der Bukolik). 17

18 Siehe etwa K. Galinsky, Augustan Culture, Princeton 1996, 90ff. - Bezeichnend ist, dass man Tiberius vorwarf, er habe das goldene Zeitalter in ein eisernes verwandelt (Suet. Tib. 59). 19 Zur Entwicklung des Konzeptes bei Vergil Kubusch (wie Anm. 12), 9 Iff.; Brisson (wie Anm. 8), 130 ff. 2 0 B. Schnegg-Köhler, Die augusteischen Säkularspiele, München/Leipzig 2 0 0 2 (nachfolgend zitiert als: Schnegg) 21 Schnegg, 10; 242f, wonach es in den Quellen keine direkten Belege gebe, die auf epochalen Neubeginn weisen oder das Wort „golden" in diesem Zusammenhang verwenden. Vgl. auch das Geleitwort von J. Scheid, der in saeculum und „Zeitkreistheorie der Weltalter" moderne Vorstellungen oder „antike Spekulationen" sieht, die „mit der römischen Vorstellung von Religion " wenig zu tun hätten. 2 2 Ebd. 9 f. 2 3 M. P. Nilsson, R E I A (1920), 1716f. s. v. Saeculares ludi - Vgl. dagegen Schnegg, 187 ff; 2 4 5 - 2 6 2 . - Zusammenfassende Behandlung mit weiterführender Literatur bei Galinsky (wie Anm. 18), lOOff.; Kienast (wie Anm. 4), 2 2 3 f f ; M. Beard/J. North/S. Price: R o m a n Religions, Cambridge 1998, I 20Iff.

Epoche als Ritual

93

Die Gründe, eine solche Feier anzusetzen, waren offensichtlich ebensowenig vorgegeben wie der genaue Umfang der Bedeutung von saeculum. Die zuständige Priesterschaft konnte eine solche anordnen, etwa wenn besondere Umstände es erforderlich erscheinen liessen, wobei ein wahrgenommenes portentum und das Konsultieren sibyllinischer Bücher wohl zum korrekten Ritual gehört haben. 2 4 Ein detaillierteres Muster fur Verlauf und ,Theologie' gab es für die organisierende Preisterschaft in den antiqui libri offenbar nicht; vorgegeben waren in der Tradition nicht viel mehr als nächtliche Opfer an die Unterweltsgötter Dis und Proserpi na auf dem Terentum. 2 5 Die augusteische ,Liturgie' hat offensichtlich diese Unterweltsgötter umgeschrieben' in die „Moiren", denen zusammen mit J u n o Diana, für welche ein Sellisternium durch 110 Matronen dargeboten wurde 2 6 , die erste Nacht gehörte, die Eilithyien (Gottheiten der Geburt) für die zweite Nacht, und Terra mater (3. Nacht). Zugleich wurde die nächtliche Feier n u n ergänzt durch Feiern am Tag für Jupiter (1. Tag), Juno (2. Tag) und Apollo mit Diana zum Abschluss (3. Tag). Die augusteische Feier dauerte drei Nächte und Tage und begann nach julianisch korrekter Zählung in der Nacht auf den 3. Juni 17 v. Chr. mit einem Opfer des Augustus allein an die Moiren (moerae)27. Augustus wird in den Akten als Imperator Caesar Augustus bezeichnet, er war aber zugleich magister der priesterlichen quindecemviri sacris faciundis28

u n d somit von A m -

tes wegen an der Durchführung des Ganzen beteiligt. Dass er selbst (bzw. seine Berater) hinter der Theologie dieses Festes stand, ist nicht zu bezweifeln; ebenso wird sichtbar, dass ihm selber, mit seinem Schwiegersohn Agrippa (damals dem ,zweiten Mann' hinter Augustus) eine priesterlich dominante Rolle zukam. So betet er, den fatalen Schwestern opfernd, allein zu Beginn der Spiele nach Einbruch der Nacht für das Wohl der res publica, fügt dem aber eine Fürbitte fur seine domus und das Heer bei 29 . Diese Fokussierung auf Augustus (und Agrippa) würde dieses Ritual allein schon von möglichen republikanischen Säkularspielen unterscheiden, 30 deren ursprüngliche Form im übrigen kaum mehr aufzuhellen ist.

24

Schnegg, 156ff.; 12 Anm. 18. — Nicht auszuschliessen ist aber nach Kienast (wie Anm. 4), 223, dass die republikanischen Vorläufer dieser Feier eine „annalistische Fiktion" gewesen sind. — Nach Galinsky (ebd. 101) waren die Spiele eine „combination of the Etruscan idea of the saecula and the traditional practice of Greek the threshold of particularly 25

portentous

religion to institute

cultic performances

at

and serious occasions in the life of the state. "

Schnegg, 184 Anm. 49f.; 75; Nilsson (wie Anm. 23), 1705. Schnegg, 37 Z. 101 f. - vgl. Komm. 129ff. ebd. 27 Schnegg, 34 Ζ. 90. 28 Fragment 5, 20 Schnegg. 29 36 Schnegg, Z. 99. 30 Beard/North/Price (wie Anm. 23), 202; A. Kiessling/R. Heinze, Q. Horatius Flaccus, Berlin 19558, I 469. 26

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Es ist in der Forschung unbestritten, dass die augusteische Feier einen zukunftsgerichtet-,gebürtlichen' Aspekt besonders herausgestellt hat. 3 1 Das Motiv der Fruchtbarkeit ist deutlich betont, und dabei fällt auch die Anspielung auf die Ehegesetzgebung des Augustus vom Voijahr (18 v. Chr.) im offiziellen Festlied auf, welches Horaz eigens fur den Anlass verfasste, und mit dessen feierlichem Vortrag durch j e 27 ausgewählte Knaben und Mädchen auf dem Palatin und Kapitol die Feier ausklang. 32 Die Spiele wurden durch ein zweifellos neu redigiertes ,altes' Orakel sibyllinisch sanktioniert. 33 Die erkennbare Theologie hinter dem .uralten' Ritual aber war völlig neu: schon die rituelle Beschwörung von Moiren (im Säkularorakel als παντογόνοις, „allzeugend", bezeichnet) war ohne Präzedenz und in keiner römischen Tradition begründet, desgleichen die Verehrung von Geburtsgottheiten wie den Eilithyien. 34 Ebenso erscheint die unverhältnismässige Betonung von Apollo und Diana als auffällig und war durch keine Überlieferung nahegelegt. 35 Die abwechselnden Tag- und Nachtfeiern mochten aber eine Basis-Polarität der ,Zeitstruktur' sinnlich inszenieren, 36 und dem entspricht es, wenn eine Assoziierung von Apollo mit Sol und Diana mit Luna vom Säkularorakel ausdrücklich vorgeschrieben' 3 7 wie vom Carmen saeculare hervorgehoben

31 Nilsson (wie Anm. 23), 1716f. — Nach Schnegg, 178 ging es um „Sicherstellen einer neuen Generation ", wobei zurecht von Schnegg die prominente Rolle römischer Matronen hervorgehoben wird (251—256). - Für J. Gagé, Betrachtungen zum Carmen saeculare, in: H. Oppermann (Hrsg.), Wege zu Horaz, Darmstadt 1972, 36 ging es darum „mit dem Himmel einen neuen Vertrag von 110Jahren zu schliessen". (Wobei die 110 Jahre als - offensichtlich ungenauer - Versuch anzusehen sind, das saeculum zeitlich festzulegen, bzw. den augusteischen Ansatz durch den Bezug auf eine ,historische' Feier des Jahres 146 v. Chr. zu legitimieren). 32 Hör. carm. Saec. 1 7 - 2 4 ; vgl. Schnegg, 244ff.; Galinsky (wie Anm. 18) 102 („a chorus of 27 boys and 27 girls, representing the result of marital fecundity and the future hope of Rome "). 3 3 Das Säkularorakel (Zosimos II 6, nach Phlegon v. Tralleis) bei I. B. Pighi, De ludís saecularibus populi Romani quiritium, Amsterdam 1965 (im Folgenden: Pighi), 56f. - Es wird deutlich, dass das Orakel aktuelle Anspielungen vermied und betont ,anachronistisch' war, wo es etwa den Römern die Herrschaft über Italien und die Latiner verhiess (57 Pighi Z. 37 f.) und auch den neuen Apollo-Tempel auf dem Palatin nicht erwähnte (Schnegg, 224). 34 Kiessling/Heinze (wie Anm. 30), 476. — Die Assoznerung von Eleithyia und Moira findet sich allerdings schon bei Pindar (Nem. VII 1), einem für die Augusteer (Horaz!) vorbildlichen Dichter. 35 Schnegg, 145f.; 234. 3 6 Gagé (wie Anm. 31), 33: „Wahrscheinlich gewannen die Säkularspiele den Vorstellungen von jenem krassen Gegensatz zwischen nächtlichen und täglichen Riten sehr viel ab. " - Vgl. carm. saec. 23f.: ter die claro totiensque grata/nocte frequentis. 37 Zit. Pighi, 57 Z. 16f. zu Phoibos Apollon, der „auch Helios genannt" werde.

Epoche als Ritual

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wird 38 . Nach F. Blumenthal 39 hätten sowohl Horaz wie der Verfasser des Orakeltexts in der Zuordnung Sol-Apollo und Luna-Diana-Eilithyien 40 im Einklang mit Ateius Capito (der fur die Festtheologie zuständig war) gearbeitet, und dabei sei „mit Instruktion von oben" zu rechnen. Diese eine „zivile T h e o l o g i e " u n t e r l a u f e n d e theologia naturalis liesse n u n die ludi saeculares als

Feier

der

„monatswälzenden"

Himmelslichter,

der

clarissima mundi

lumina

(Verg. Georg. I 5f.) erscheinen - jedenfalls hat ein spätantiker Scholiast diese Folgerung gezogen: ludi saeculares ternis diebus et noctibus agebantur pro cultu

solis et lunae,41 wobei er das auch mit der sorgsam symmetrischen Verteilung

des Festchors auf Knaben und Mädchen in Verbindung bringen konnte: Ita pro puellis lunam ut audiantur,

ut Apollinem

pro pueris

precatur.42

Mit der so greifbaren Assoziationskette Apollo-Sonne (tagmachendes männliches Gestirn) und Diana-Luna-Lucina-Ilithyia (die Fruchtbarkeit regierende, weibliche ,Königin der Nacht') wäre dann hier etwas wie ein gesegnetes Gleichgewicht grundlegender Polarität, eine .kosmische Vollständigkeit' der Zeit beschworen worden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine lunar aufzufassende Gottheit der ,Gebürtlichkeit' und Fruchtbarkeit 43 einer verbreiteten Vorstellung antiker Medizin entsprach, nach welcher der Mond die Fruchtbarkeit der Frauen (im Zyklus der Menstruation) regierte. 44 38

Apollo mit Diana spricht dieses Festlied als lucidum caeli decus an, was durch den Anruf alme Sol (Apollo) und siderum regina bicornis [...] Luna (Diana) verdeutlicht wird. Siehe auch H ö r . c a r m . IV 6, 3 6 f f . : rite Latonae puerem canentem/rite crescentem face Noctilucam, /prospérant frugum celeremque pronos/volvere mensis. (mit a u s d r ü c k l i c h e m B e z u g z u m Car-

men saeculare). - Dazu jetzt M. Putnam, Horace's Carmen Saeculare. Ritual magic and the Poet's Art, New Häven/London 2000, 51 ff. 39 Ludi saeculares, in: Klio 15 (1918), 226. 40 Dass Carm. Saec. 14f. Ilithyia als Lucina bezeichnet wird, gilt als Hinweis, dass „Uithyia und Diana

ein und dieselbe Gottheit

vorstellen"

: G a g é (wie A n m . 33), 26. M a n h a t

offenbar schon in der klassischen griechischen Zeit nach einer Geburt Artemis und Eilytheia geopfert: L. Bruit Zaidman/P. Schmitt Pantel, La religion grecque, Paris 1989, 54. — Zu lucina als inschriftlich belegtem Beinamen für Iuno wie Diana: Schnegg, 229 f. - Vgl. Verg. Eel. IV 10: casta fave Lucina: tuus tarn regnat Apollo. 41

Pseudo-Acron, zit. Pighi, 215.

42

E b d . 2 1 6 — n a c h C a r m . saec. 3 4 f f : audi pueros, Apollo;/siderum regina bicornis, audi,/ Luna, puellas. 43 H ö r . c a r m . IV 6, 38ff: rite crescentem face Noctilucam/prosperam frugum; c a r m saec. 1 3 f f : Rite maturos aperire partus/lents, Ilithyia, tuere maires, /sive tu Lucina probas vocari/seu Genita-

lis:/diva, producás subolem ..."( — bezeichnend ist der hier unmittelbar folgende Hinweis, Vers 19f., auf die neue Ehegesetzgebung des Augustus und damit eine .kosmische Verankerung' der Moral). - Putnam (wie Anm. 38) weist 113ff. auf das wichtige Gedicht Catulls (Nr. 34), das diese Konzeption Dianas als lunarer Fruchtbarkeitsgöttin vorwegnimmt. 44 Belege bei D. Gourevitch, La lune et les règles des femmes, in: Β. Bakhouche/ A. Moreau/J.-C. Turpin (Hrsg.): Les astres. Les correspondances entre le ciel, la terre et l'homme (Act. Coll. Montpellier, Bd. II), Montpellier 1996, 8 5 - 9 9 .

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Ein Weiteres ist dazu in Betracht zu ziehen: wie A. Alföldi vielfach b e t o n t hat, ist die Verbindung von Sonne u n d M o n d das symbolische Zeichen fiir „Aion", eine synkretistische Gottheit der gesegneten ,Fülle der Zeit', etwa von Nigidius Figulus auch mit Ianus, der die Identität v o n Apollo u n d Diana besage, gleichgesetzt. 4 5 — Vergleicht m a n die imaginären Möglichkeiten dieser Gestalt, welche hermaphroditisch eine primordiale Einheit aufgehobener Gegensätze (und damit gleichsam ein Aufgehobensein von Zeit) zu evozieren scheint (in der Auffassung Alföldis eindeutig mit messianischen E r w a r t u n g e n verbunden), mit der entsprec h e n d e n F u n k t i o n der ,luni-solaren' Polarität in der T h e o l o g i e der Säkularspiele, d a n n erscheint darin eine nüchternere Konzeption des .schönen Gleichgewichts': nicht die revolutionäre Imago phantastischer A u f h e b u n g der Gegensätze, sondern eine dezidiert m u n d a n e Auffassung ,natürlich-idealer' Balance weltlicher K o n stanten. M a n ordnet n u n aber, wie ich meine, das alles erst richtig ein, w e n n m a n eine (von der Forschung k a u m bemerkte) B e o b a c h t u n g H . Dessaus berücksichtigt: die rituell explizit ,luni-solar' orientierte Feier, die in der ungewöhnlichen D o minanz der göttlichen Geschwister Apollo u n d Diana z u m Ausdruck kam, fiel nämlich mit d e m D a t u m des exakten Vollmonds zusammen. 4 6 Damit hätte aber diese Inszenierung auch einen im Wortsinn epiphanen Charakter gehabt — d e n n die Gestirnsgötter sind ja (seit d e m späten Piaton) die horatoi theoi, die „sichtbaren G ö t t e r " (Tim. 40d). D i e w a h r n e h m b a r e Präsenz des vollen M o n d e s in der N a c h t als Parusie der fruchtbringenden Gottheit Diana-Lucina-Eilithyia, der m a n — in ihrem Licht - ein Sellisternium herrichtete, m a g ein keineswegs unbeabsichtigter .Effekt' des augusteischen Rituals gewesen sein (davon abgesehen, dass der Vollm o n d an sich gegebener Zeit-Teiler gewesen ist). 47 N u n aber zu den Einwänden, die gegen eine Verbindung dieser Feier mit d e m Saeculum, d e m Weltalter oder der aurea detos-Konzeption vorgebracht werden! 4 8 — Es ist o h n e weiteres einzuräumen, dass eine Tradition, der m a n durch die künstlich hergestellte .Konstruktion' eines „saeculum" von 110 Jahren

45

Zit. Alföldi (wie Anm. 13), 4f.; zu Aion=Sonne-Mond (Apollo-Diana) auch etwa 7 mit Anm. 46; 51 (zur Mann-Weiblichkeit Aions), und passim. 46 H. Dessau, Der Mond und die Säkularfeier des Augustus, in: Klio 10 (1910), 360—363. — Was Schnegg (75), die ich auf diesen Artikel hinwies, immerhin als ein Indiz fiir „minutiöse Planung" wertet. — Der Vollmond war nach der Berechnung F. K. Ginzels, welche Dessau einholte, am 2. Juni morgens 8h 31 exakt, während die Feier nach Sonnenuntergang desselben Tages begann. 47 C. H. V Sutherland, Roman History and Coinage 44 BC-AD 69, Oxford 1987, 19, weist auf eine Münze mit Halbmondsymbol (RIC I , 85, Nr. 539f.), welche er mit den Säkularspielen und spezifisch der Rolle des Mondes bei den Nachtfeiern (nach Horaz) in Zusammenhang bringt. 48 Oben Anm. 20-22.

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D a u e r gerecht werden wollte, an sich kein R i t u a l zur E r ö f f n u n g „goldener Z e i t " herzugeben v e r m o c h t e . 4 9 Schliesslich ist schwer einzusehen, dass ein goldenes Zeitalter 110 Jahre dauern sollte. G e h t m a n aber davon aus, dass die ihrerseits offenbar konstruiert .traditionelle' F o r m dieser Spiele — die v e r m u t lich recht informell jeweilen als A n t w o r t auf ein ungewöhnliches Ereignis 5 0 angeordnet werden k o n n t e n — durchlässig genug war, dann Hess sich in diesem Gefäss auch ein ganz untraditioneller Gehalt transportieren. U n d dass etwas w i e ein epochales Selbstgefühl damals existierte, 51 ist nicht zu bezweifeln; H o raz spricht selber einmal von tua aetas, Caesar (Carm. IV 15, 4) in e i n e m G e dicht, das mit d e m W o r t Phoebus beginnt, diese aetas i m weiteren als f r u c h t bringend bezeichnet und mit der (bekanntlich propagandistisch als welt-befriedend ausgeschlachteten) R ü c k g a b e der Parther-Signa des Jahres 20 verbindet. U n d n u n belegt der sogenannte „Panzer von P r i m a Porta" in einer Ikonographie, welche w i e d e r u m Apollo u n d Diana in Z u s a m m e n h a n g mit Sol u n d Luna zeigt, 5 2 dass auch dieses Ereignis gleichsam i m .kosmischen Format' w a h r g e n o m m e n w u r d e . 5 3 N a c h G. Alföldy stand auch ein damals a u f k o m m e n der Inschriften-Stil, der mit vergoldeter Bronze arbeitete, im „Dienste der Ideologie des neuen Goldenen Zeitalters".54 Was n u n aber das Fehlen des Wortes „golden" in den Q u e l l e n zu den Säkularspielen angeht, so ergibt sich das „ G o l d e n e " hier allein aus d e m Bezug zu A p o l lo. D e n n dieser, als „Hauptgott der neuen Monarchie"55 w u r d e gerade von Augustus

49

Zur (unklaren) Tradition etwa Schnegg, 156ff„ die neben den 249 v. Chr. gefeierten Spielen auch diejenigen von 146 v. Chr. fur historisch hält. - Anders Kienast (wie Anm. 4), 223. 50 Dass mindestens nachträglich der Komet des Jahres 44 v. Chr. (das sidus Iulium) eben die Rolle des Prodigiums spielte, welches das Ende, bzw. den Anfang von Zeit ankündigte - und durch den sog. Sanquinius-Denar vom Jahr 17 auch explizit ikonographisch mit diesen Spielen verbunden wird — halte ich für erwiesen. — Die Besprechung bei Schnegg (216 Anm. 1; 245 Anm. 2) ist ungenügend (u. a. entgeht der Autorin, dass auf dem von ihr abgebildeten Denar in der Tat der Komet zusammen mit der Aufschrift ludi saeculares vorkommt). - Siehe dazu Kienast ebd. 118 Anm. 129. 51 Zu Actium fiel etwa Manilius ein, dass damals in ponto quaesitus rector Olympi (I 916) -

vgl. V 5 3 : in ponto caeli fortuna

natabit.

— F ü r M a n i l i u s ist also d i e M a c h t ü b e r n a h m e d e s

Octavian ein kosmisches Ereignis. 52 Sol über Apollo und Luna (Aurora?) über Diana angeordnet umrahmen die Szene der Zeichenübergabe auf dem Brustpanzer. 53 So sprach P. Zanker (Augustus und die Macht der Bilder, München 1990 2 , 195) v o m „kosmischen

Charakter,

den Zeit und Raum

hier

haben".

54

Augustus und die Inschriften: Tradition und Innovation, in: Gymnasium 98 (1991), 298f. - Solche Inschriften wurden nach Alföldy „erst nach dem Jahre 17 v. Chr. regelmässig und massenhaft" 55

„divine

a n g e f e r t i g t . — V g l . a u c h 3 1 8 m i t A n m . 8 1 e b d . z u m saeculum

Augustum.

Kienast (wie Anm. 4), 230. - Nach Galinsky (wie Anm. 18), 188 war Apollo das alter ego" d e s A u g u s t u s .

98

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als dezidiert solare Gottheit aufgefasst 5 6 , u n d eben dieser solare Aspekt enthielt die rtMrei«-Assoziation, d e n n die Verbindung von „ S o n n e " u n d „ g o l d e n " ist o f fenbar uralt u n d verbreitet (Pindar gebrauchte sie etwa i m Eingang zur ersten Olympischen O d e ) - ein Zeitalter u n t e r der Ägide Apollo-Sols, des siegreich lichten, war eo ipso ein „goldenes". 5 7 Des weiteren ist zu beachten die P r o m i n e n z der ganz .unrömischen' M o i r e n Parzen, d e n n i h n e n gilt ja der erste rituelle Akt dieser Spiele. D a m i t wird eine Atmosphäre providentieller Fatalität beschworen, von welcher der Ubergang, der das N e u e ans Alte fugt, hier imprägniert sein soll — u n d es leuchtet gewiss ein, dass eine politische F o r m von zweifelhafter Legitimität allen G r u n d haben m o c h te, sich selber als eine fatale Finalität aufzufassen. 5 8 D i e Parzen, deren „Wahrspruch" die „Grenze der D i n g e " bewahre, sollen nach d e m Festlied bona fata an das schon Vergangene f ü g e n , 5 9 u n d sie t u n das im Z e i c h e n des gütigen Sol, der den Tag herauffiihrt u n d verbirgt u n d als „ein anderer u n d derselbe" aufgeht bzw. geboren wird. 6 0 Dieselben Parzen stehen w o h l nicht umsonst schon i m Eingang der Aeneis, 6 1 deren Auffassung von römischer ,Geschichte' ja n u n dezidiert eine ,fatale' ist — dabei war Vergil offenbar auch mit der damals wohl populärsten V e r sion' der Fatalität, der astrologischen, vertraut (wenn etwa f ü r „Schicksal" die crudeltà astra stehen k ö n n e n ) . 6 2 N i c h t n u r hatte der notorisch astrologiegläubige A u gustus (der sich auf sein Horoskop soviel einbildete, dass er es publizieren Hess)63

56

Dafür spricht auch, dass Helios auf dem Giebel des Apollo-Tempels auf dem Palatin dargestellt war (Prop. II 31, 11). Zum solaren Apollinismus des Augustus auch etwa P. M. Martin, Le soleil comme agent de souveraineté, in: Bakhouche et al. (wie Anm. 44), Bd. I (Les astres et les mythes), 115ff. (Weiteres dazu demnächst im 6. Kapitel meiner Dissertation: Augustus und die Macht der Sterne. Ein Element politischer Theologie des frühen Prinzipats und seine Vorgeschichte). - Nach M. Bergmann, Die Strahlen der Herrscher: Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Mainz 1998, 104 war Apollo-Sol der „Herrscher des goldenen Zeitalters". Zur Geschichte der Solarisierung Apollons etwa P. Boyancé, L'Apollon solaire, in: Mélanges Carcopino, Paris 1966, 149-170. 57 Nach P. Hardie, Virgil's Aeneid. Cosmos and Imperium, Oxford 1986, 56 ist auch die goldene Leier des Iopas in der Aeneis als Hinweis auf Apollo zu verstehen. 58 Wenn hierzu Schnegg (116f.) nach Wissowa anmerkt, auch der (griechische) Schicksalsgedanke sei der römischen Religion fremd, und man habe eben die Parcae mit der römischen Geburtsgottheit Parca verwechselt, dann gibt es dagegen gewichtige Einwände: vgl. nur W. Pötscher, Das römische Fatum - Begriff und Verwendung, in: ANRW II 16, 1 (1978), 394ff. 59 H ö r . c a r m . saec. 2 5 f f . : Vosque, veraces cecinisse Parcae, /quod semel dictum est stabilisque rerum /terminus servet, bona iam peractis/iungite fata. 60 E b d . lOff.: alme Sol curru nitido diem qui/promis et celas aliusque et idem/nasceris . . . . 61 I 22: sic volvere Parcas. 62 E c l . V 23. - Vgl. A e n . IV 519f.: sidera conscia fati.

63

Suet. Aug. 94, 12; Cass. Dio 56, 25, 5.

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gewiss keine M ü h e damit, sich „ Z e i t " als fatale A n o r d n u n g vorzustellen, s o n d e r n m a n wird auch generell sagen dürfen, dass die Aura fataler (und apollinischer) ,Vorgesehenheit' ein zentrales E l e m e n t augusteischen Selbstverständnisses gewesen ist. — Es passt dazu gut, dass in der Kaiserzeit offenbar die Parzen n u n auch (auf Reliefs) als Astrologinnen dargestellt werden k ö n n e n , die m a n mit d e m Zirkel auf e i n e m Globus anlässlich einer G e b u r t hantieren sieht, u m offensichtlich den Aszendenten zu b e s t i m m e n . 6 4 N u n ist gerade der Globus diesbezüglich ein interessantes Symbol: er taucht als Zeichen römischer Herrschaft — ihres ,globalen' Anspruchs — etwa seit der ersten Hälfte des 1. Jhdts. v. Chr. auf römischen M ü n z e n auf, 6 5 u n d dabei ist die Frage nicht irrelevant, ob dabei in der R e g e l der E r d - o d e r aber der H i m m e l s globus gemeint war. 6 6 U n d f ü r den Himmelsglobus spricht, wie C . N i c o l e t b e tonte, dass nach den damaligen durchaus realistischen Vorstellungen v o m W e l t u m f a n g selbst der römische imperiale Ausgriff bei gutwilligster Auslegung n u r eine von m e h r e r e n O i k u m e n e n beanspruchen konnte. D e r Erdglobus bestand zu Dreiviertel aus .weissen Flecken' u n d war ein unattraktives Symbol, d e m m a n e n t n e h m e n musste, dass selbst R o m geographisch n o c h nicht einmal ein Viertel der m u n d a n e n Oberfläche zu meistern verstand. Keine Herrschaft k o n n t e diesen Globus (samt den Antipoden-Bereichen) erobern, aber sie k o n n t e „claim to fit in the order of the cosmic destiny".67 U n d dazu k o m m t , dass die Himmelssphäre in der damals verbindlichen Kosmologie das sozusagen ontologisch Primäre war: die Erdkugel galt als „ R e p l i k " der Himmelssphäre, 6 8 sie war sozusagen ,deszendent' konstruiert. Jener ,Reichsapfel', den ikonographisch als erster vermutlich P o m peius in H ä n d e n hielt, 6 9 war somit Hinweis auf ein m u n d a n e s Verständnis v o n Macht, das m a n in seiner Imperialität als ein i m G r u n d e .metaphysisches Projekt' bezeichnen muss. Diese ,uranozentrisch' aufgefasste Welt war aber nicht n u r eine göttliche A n o r d n u n g des R a u m e s , sondern auch der Zeit. In der vielzitierten Definition des Aristoteles (Zeit als „Zahl der Bewegung") ist es relevant, dass sich das „ u m w i e viel" der Quantität (also das Zählbarsein) auf B e w e g u n g von K ö r p e r n , zweifellos

64 O. Brendel, Symbolik der Kugel, in: MdAI R o m . Abt. 51 (1936), 7 6 f f , der das als „ Vorgang religiös-begrifflicher Neubildung" bezeichnet. 65 A. Schlachter/F. Gisinger, Der Globus, Leipzig 1927, 64; S. Weinstock, Divus Julius, Oxford 1971, 42; T. Hölscher, Victoria Romana, Mainz 1967, 12ff. 66 Gegen Himmelsglobus Hölscher ebd. 14ff. 67 C. Nicolet, Space, Geography, and Politics in the Early Roman Empire, Ann Arbor 1991, 35. - Zur augusteischen Himmels-Herrschaft siehe die Manilius-Zitate oben Anm. 51. 68 G. Aujac, Claude Ptolemée astronome, astrologue, géographe, Paris 1993, 31. 69 Nicolet (wie Anm. 67), 38. - Octavian liess sich schon in den 30er Jahren v. Chr. nackt mit dem Fuss auf dem Globus darstellen: Zanker (wie Anm. 53), 48f.

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von Himmelskörpern, bezieht, 7 0 wie schon für Piaton die periodoi der beseelten und göttlichen 7 1 Himmelskörper selber „Zeit" gewesen waren (Tim. 39dl). „Zeit" war somit phänomenal die Bewegung des Himmels und der Planeten selbst, war räumlich wahrnehmbare, beseelte Selbstbewegung göttlicher Körperlichkeit im R ä u m e , damit selbst sozusagen Parusie des erscheinenden Gottes: des Kosmos-mundus.72 Die entsprechende intellektuell-philosophische Konzeption von Zeit — die mit dem eigenartigen „physiko-theologischen" 7 3 Gebilde, das als „ptolemäisches Weltbild" bezeichnet wird, zusammenhängt, war durchaus Gemeinbesitz, u n d sie war Resultante eines Prozesses, den man als eine ,Kosmifizierung' der Zeit bezeichnen kann. Eine doxographische Zusammenfassung philosophischer Standpunkte wie die Epitome des Areios Didymos, bei dem es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit u m den gleichnamigen Vertrauten des Augustus handelt, 74 referiert jedenfalls die Zeitdefinitionen verschiedener stoischer Autoritäten in diesem Sinne. 7 5 D e m Princeps, der j a selber auch hortationes ad philosophiam ver-

fasste, 76 konnte es also nicht fernliegen, Zeit in einer Weise zu verstehen, die sich als Epiphanie himmlischer Gottheiten, und besonders geeignet: des Geschwisterpaars Apollo-Sol u n d Diana-Luna, inszenieren Hess. — Die Auffassung des PseudoAcron, die Spiele seien pro cultu Solis et Lunae gefeiert w o r d e n , ist durchaus nicht abwegig, w o b e i der Scholiast anfugt: his enim reguntur omnes res terrarum.77

Dazu bedenke man, dass gerade die augusteische Zeit in R o m eine Zeit des Booms himmelsfrommer Betrachtungen gewesen ist, 78 die sich nicht zuletzt in

70

Vgl. Arist. Met. 1020a; D e cael. 279a; Phys. 219bff. - Dezidiert zum ,kosmischen Format' von Zeit bei Aristoteles: Meteor. I 2; D e gen. et corr. 336a—b ; Met. 1071b 6—11. 71 Z u diesem T h e m a etwa J. Moreau, L'âme du m o n d e de Platon aux stoïciens, Paris 1939; Α. Scott, Origen and the Life of the Stars, Oxford 1991. 72 Z u m göttlichen Kosmos in der antiken Literatur A. Festugière, La révélation d' H e r mès Trismegiste II: Le Dieu cosmique, Paris 1949. 73 Der Ausdruck nach Moreau (wie A n m . 71), 78. 74 Z u i h m und anderen Griechen in der U m g e b u n g des Augustus näheres in Kap. 8 meiner Dissertation. Die Fragmente bei H . Diels, Doxographi Graeci, Berlin 1879, 445—472. 75 Vgl. fr. 6; 7; 26. - Siehe auch etwa fr. 1; 9; 2 9 - 3 4 , w o über die göttlichen Sterne und die providentielle Anordnung der Welt informiert wird. - Was die philosophische Auffassung der Zeit spezifisch nach Aristoteles angeht, so schrieb darüber ein anderer Freund des Augustus, Nikolaos von Damaskus (vgl. H . Drossaart Lulofs, Nicolaus Damascenus o n the Philosophy of Aristotle, Leiden 1965, 132f.). 76 Suet. Aug. 85, 1. 77 Zit Pighi, 213. 78 Vgl. nur das Urteil bei J. Soubiran, Vitruve, D e l'Architecture, Paris 1969, Intr. xxvii zum „engouement des Romains pour les choses du ciel" in dieser Zeit — es wurde jeder Vorwand genutzt „pour parler des étoiles, des planètes et de l'ordre du monde". — Z u m gleichzeitigen Aufschwung der Astrologie etwa W. u n d H . G. Gundel, Astrologumena, Wiesbaden 1966, 121 — 139; F. Cramer, Astrology in R o m a n Law and Politics, Philadelphia 1954, 2 2 - 8 0 ; T. Barton, Ancient Astrology, L o n d o n 1994, 32ff.

Epoche als Ritual

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lateinischen N a c h d i c h t u n g e n von Arats Himmelsbeschreibung in Versen äusserte, 7 9 deren einzige vollständig erhaltene, die Aratea des Germanicus, 8 0 aus der kaiserlichen domus, damit aus der Zentrale der M a c h t selbst stammt. U n d z u d e m scheint es, dass diese E p o c h e überhaupt eine Vorliebe f ü r das Thematisieren von Zeit (etwa in Personifikationen wie den „ H ö r e n " ) 8 1 hatte — auch das b e r ü h m t e A r r a n g e m e n t von „Solarium" u n d ara Pads auf d e m Marsfeld hat auf j e d e n Fall die .kosmische Symmetrie' von Z e i t 8 2 anschaulich gemacht. — Vergessen wir nicht, dass ein verbindliches E l e m e n t n o c h unserer ,Strukturierung' v o n Zeit als E r b e j e n e r E p o c h e gelten muss: die 7-Tagewoche als „ P l a n e t e n w o c h e " 8 3 ist nicht vor Augustus nachweisbar. 8 4 U n d ebenso ist die julianische K a l e n d e r r e f o r m hier zu erwähnen: sie hat ja effektiv erstmals den bürgerlichen Kalender a m S o n nenlauf .fixiert' u n d damit im G r u n d e auch eine b ü r g e r l i c h e ' Kalenderzeit ,kosmifiziert' — jedenfalls b e m ü h t e sich n u n O v i d in seiner Kalenderdichtung, die römischen Festdaten mit astronomischen Zeitangaben (Eintritt der S o n n e in die Tierkreiszeichen, Sternaufgänge) 8 5 zu kombinieren, wobei er ersichtlich I n k o m patibles (nämlich zivil-rituelle u n d ,kosmische' Zeit) zusammenbringen wollte. 8 6 Das kosmische Format der Zeit entsprach eben damals in glücklicher Weise d e m globalen Format römischer M a c h t . U n d dieses Format hätte die Säkularfeier nicht zuletzt beschworen — als ,kosmische Vollständigkeit' der Zeit — u n d angerufen, unter der F ü h r u n g des priesterköniglichen Mitders aus göttlichem G e schlecht 8 7 , der als Garant fungierte f ü r die politische Zuständigkeit einer i m

79

Dazu Uberblick bei E. Gee, Ovid, Aratus and Augustus, Cambridge 2000, 1 2 6 - 1 5 2 . Germanicus, Les Phénomènes d' Aratos, ed. A. Le Boeufïle, Paris 1975. 81 Vgl. E. Simon, Augustus. Kunst und Leben u m die Zeitenwende, M ü n c h e n 1986, 139f.; C. R . Long, T h e Pompeii Calendar Medaillons, in: AJA 96 (1992), 487ff., N . D e Grummond, Pax Augusta and the Horae on the Ara Pacis Augustae, in: AJA 94 (1990), 670; J. M . Strazzulla, Il principato di Apollo, R o m 1990, 29. - Z u m Nachdenken über „Temporalità" im Carmen saeculare Putnam (wie Anm. 38), 54f. ; 90. 82 Dazu Verf., Augustus, Aequinokt u n d Ara Pacis, in: A. Pérez J i m é n e z / R . Caballero (Eds.), H o m o Mathematicus (Act. Coli. Benalmádena), Málaga 2002, 2 9 - 5 0 . (Und ausfuhrlicher im 7. Kap. meiner Dissertation). 83 Siehe F. Boll, R E VII (1912), 2556ff. s. v. Hebdomas; R . Merkelbach, Mithras, Königstein 1984, 208ff„ J. Rüpke, Kalender und Öffentlichkeit, Berlin 1995, 456ff.; 587 ff. 84 A. Le Boeufïle, Le ciel des Romains, Paris 1989, 18f. 85 In augusteischer Zeit finden sich erstmals Steinkalender, die etwa auch angeben, dass die Sonne in ein Sternzeichen eintritt — vgl. R ü p k e (wie Anm. 83), 110; 144. 86 Etwa die Pferderennen zum Abschluss der Cerealia (am 19. April) hatten in W i r k lichkeit sicher nichts mit dem „dritten Tag nach dem Untergang der Hyaden" zu tun (vgl. Fasti IV 679) — die Kombination bürgerlicher mit kosmischer Zeit ist ersichtlich gekünstelt, und das ist Hinweis darauf, das sie etwas .Intendiertes' war. 87 Ausdrücklich erwähnt im Carmen saeculare, 51: clarus Anchisae Venerisque sanguis. — Vgl. Verg. Aen. VI 793f.: Augustus Caesar, Divi genus, aurea condet saecula. 80

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„physiko-theologischen" Wortsinn realisierten Neuen Weltordnung. Das neue apollinische Zeitalter konnte dabei natürlich die Zeit selber nicht zum Stehen bringen. Doch was immer als Zukunft noch kommen würde, konnte doch nur geschehen in der Form einer Epiphanie jener göttlichen Körper, 8 8 damit in der Form des leuchtenden Phänomens mundaner ,Realisiertheit' des optimus status. Eines idealen Staates, in dem die Weltvernunft triumphierte 8 9 wie in dessen Pendant, dem Kosmos-Ouranos. Der letztere war jedenfalls, eine domus publica mit dem fastigium der Sterne, 90 so ewig wie die Zeit: deus est, qui non mutatur in aevo (Manil. I 523). Indem also der Princeps, der selber zu diesem Zeitpunkt noch nicht pontifex maximus war, aber als ordentliches Mitglied aller wichtigen Priesterschaften schon damals einen „dominierenden Einfluss auf die Gestaltung des staatlichen Kultes ausüben

Abb. 11: Epiphanius: Ad Physiologum (Antwerpen 1588), S. 95.

fi

Das Neue ist das Alte: Antike Traditionen in den Emblembüchern u n t e r die NIBUVS VOBIS" hingegen

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h ö h e r e n Ziele des Staates. Z w e i Impresen m i t d e n M o t t i „ M E N S O M V N A E S T " (.Allen w o h n t derselbe Geist inne') u n d „ S I C V O S N O N (,Nicht f u r e u c h selbst') 5 6 beschließen d e n K o m m e n t a r . Das D i s t i c h o n preist die O r d n u n g der B i e n e n als Vorbild f ü r d e n R e c h t s g e l e h r t e n :

Doctus apum et studia et mores et jura revolvat. Qui bene vult populis dicere jura suis. (,Der Gelehrte, der in seinem Land vorbildlich Recht sprechen möchte, überdenke die Beschäftigungen, Gewohnheiten und Rechtsverhältnisse der Bienen.') 57 Eines der beliebtesten E m b l e m - u n d Impresenmotive ist der sagenhafte Vogel P h ö n i x . (Abb. 12) C a m e r a r i u s v e r w e n d e t dieses M o t i v bereits in der H a n d s c h r i f t u n d ü b e r n i m m t es auch in die Druckfassung. D e r E n t w u r f m i t d e m M o t t o „ V T V I V A T " (,Damit er lebe') greift die vielfältig überlieferte Imprese des Kardinals C h r i s t o p h o r o M a d r u z o (1512—1578), des Bischofs v o n Trient, w i e d e r auf. 5 8 Diese Imprese findet sich in vielen D r u c k w e r k e n u n d ist a u c h auf S a c h g e g e n ständen nachweisbar. D e r E n t w u r f des Camerarius k ö n n t e auf die ,Imprese n o b i le' des Lodovico D o l c e z u r ü c k g e h e n . 5 9 I m k n a p p e n K o m m e n t a r zitiert C a m e r a rius aus Plinius u n d d e u t e t das E m b l e m als E r m a h n u n g an das e w i g e L e b e n : Plinius scribit phoenicem senescentem, casias thurisque surculis construere sibi nidum, et super emori: ex ossibus deinde et medullis ejus nasci primum ceu vermiculum, inde rursum fieri pullum. Hac imagine admonemur, ex hac vita mortali et aerumnosa nobis migrandum, ut consequamur aeternam ac beatam vitam. (,Plinius schreibt, daß der alternde Phönix sich aus Zimt- und Weihrauchzweigen ein Nest baut und darauf stirbt. Aus seinen Knochen und seinem Mark wird dann so etwas wie ein Wurm geboren, aus dem wiederum ein Küken entsteht. Durch dieses Bild werden wir daran erinnert, daß wir dieses totgeweihte mühselige zu verlassen haben, um das ewige glückselige Leben zu erreichen.') Diese D e u t u n g sieht er in e i n e m M o n u m e n t in R a v e n n a bestätigt; es bietet z u m P h ö n i x ein Distichon aus Tertullians ,In libro de resurrectione carnis': Securus moritur, qui seit se morte renasci: Mors ea non dici, sed noua vita potest. (,Sicher stirbt, wer weiß, daß er nach dem Tod wiedergeboren wird. Das kann man nicht Tod, sondern ein neues Leben nennen.')

56

Dasselbe Motto verwendet Camerarius fur die einen Lorbeerbaum umrankende Weinrebe; vgl. Henkel/Schöne 1976, 261. 57 Ubersetzung nach Henkel/Schöne 1976, 926. 58 Vgl. SinnBilderWelten 1999, Nr. 107-110. 59 Dolce 1583 (vgl. SinnBilderWelten 1999, Nr. 109). Auch bei Ruscelli 1583, 137, findet sich diese Imprese, doch steht dort der Phönix weniger aufrecht im Nest und blickt (aus der Sicht des Betrachters) nach links in die Sonne (vgl. SinnBilderWelten 1999, Nr. 110). - Die Impresenbücher von Dolce, Ruscelli, Bargagli und Pittoni sind jetzt in der Emblemdatenbank der Bayerischen Staatsbibliothek verfügbar (http://www.mdz2.bib-bvb.de/~emblem/).

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VIVAT.

Abb. 12: Joachim Camerarius: Symbola et emblemata tarn moralia quam sacra (abgeschlossen 1587), S. 109 (Mainz, Stadtbibliothek, Hs. 11/366).

Für die Druckfassung übernimmt Camerarius pictura und Motto der Handschrift und beschließt mit dem Phönix-Emblem die dritte Centurie; der Kommentar ist diesmal fünfmal so umfangreich wie sonst, weil die Uberlieferung viele verschiedene Auffassungen erkennen läßt und weil dieser Vogel für zahlreiche berühmte Embleme benutzt worden ist. In der langen Liste der Autoren, die sich über den Phönix geäußert haben, erscheint diesmal auch Epiphanius. Die Liste beginnt mit Herodot und endet mit Conrad Gesner

Das Neue ist das Alte: Antike Traditionen in den Emblembüchern . . .

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und bietet folgende Namen 60 : Herodot, Philostratus, Horapollo, Plinius, Solinus, Seneca, Tacitus, Aelianus, Lucianus, Sextus Aurelius Victor, Suidas, Xiphilinus, Glycas, Artemidorus, AEneas Platonicus, Aristides, Marc Aurel, Oppian, Ovid, Claudian, Laktanz, Tzetze, Statius, Gregor v. Nazianz, Basilius, Tertullian, Cyrill, Cyprian, Epiphanius, Eusebius Pamphilius, Rufinus, Ambrosius, Isidor, Albertus Magnus, Volaterranus, Scaliger, Pierius Valerianus, Erasmus, Hadrianus Junius, Conrad Gesner. Epiphanius ist hier nur ein Name unter vielen; bei der Erörterung der verschiedenen Belege wird er nicht berücksichtigt, erst innerhalb der ImpresenReihe — Camerarius zitiert sieben verschiedene Motti — und unmittelbar im Anschluß an das auch in der Druckfassung wiederholte Distichon aus Ravenna taucht er zusammen mit Tertullian und Ambrosius wieder auf als einer der Autoren, die im Phönix die Hoffnung auf die Wiederauferstehung versinnbildlicht sehen: Sic B. Tertullianus in libro de ressurrectione carnis inquit plenißimum ac firmißimum specimen esse huius spei (ressurrectionis) ex hoc alite sumendum, quod B. Ambrosius quoque et Epiphanius in Physiologo asserunt. (,So sagt Tertullian im Buch von der Auferstehung des Fleisches, daß daraus das vollkommenste und festeste Zeichen für die Hoffnung auf die Wiederauferstehung zu entnehmen ist, was Ambrosius und Epiphanius im Physiologus bestätigen.') Daß Epiphanius hier erwähnt wird, ist darauf zurückzuführen, daß Camerarius anders als im Bienenemblem diesmal auch die religiöse Deutung übernimmt. In der Gestaltung der pictura hingegen schließt er sich nicht dem physiologus' an, da dieser den Phönix als eher gewöhnlichen Vogel auf dem Erdboden (Abb. 13) und nicht wie sonst üblich im brennenden Nest zeigt. — Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, daß Camerarius auch im Kommentar zum Pelikan-Emblem, das die Handschrift noch nicht enthält, Epiphanius anführt. 61 Epiphanius wird zwar erst im Autorenverzeichnis der dritten Centurie unter den alten Autoren genannt, 62 aber bereits in der zweiten Centurie erscheint ein Emblem, daß ohne den Einfluß des Epiphanius-Physiologus kaum zu erklären ist. Unter dem Motto „CVRRENTI CEDE FVRORI" (,Weiche der rasenden

60 61

Camerarius 1986-88, 3,100 v -101 r . Camerarius 1986-88, 3,37v. Auch in diesem Fall übernimmt er die religiöse Deu-

tung. Camerarius 1986-88, 3,103 r . Wahrend in der ersten Centurie die Autoren nicht differenziert werden, unterscheidet Camerarius in der zweiten und dritten Centurie zwischen den „Autores vetustiores" und den „Autores recentiores". In der vierten Centurie ist die benutzte Literatur nicht verzeichnet. 62

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Dietmar Peil

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H O E Ν I X auis pauone pulcbior eft. pauo en'tm au~ teas argenteáfquc habet alai: phoenix vero hjaç'tntbinas , & fmaragd'tnas,precio forúmque lapidimi coloribits diílinttas ; coronam autem habet in capite & in pcdibus malleolos. Prope In diata àegit. viuit autem amos quiti' «IHPÌT'iι

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