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German Pages 190 [97] Year 2019
Birthe Kundrus und Hendrik Althoff (Hg.)
Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus Ein Kompendium
Birthe Kundrus und Hendrik Althoff (Hg.)
Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus Ein Kompendium
Inhalt
5 Grußwort 7 Vorwort
11 Zur Einführung I: Die Volksschule Eduardstraße vor 1933
• Hendrik Althoff 31 Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im
Nationalsozialismus • Birthe Kundrus
40 Volksschulen im Nationalsozialismus – Reformpädagogik
unter Druck • Sophie Wendt 43 Ausflüge – Fahrten ins Braune? • Anna Baier 50 Feiern und Feste – willkommene Abwechslung im Schatten des
Hakenkreuzes • Nikolas Aleksander Paul 60 Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
• Laura Gaudlitz 67 Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler? • Lea Baumert 74 Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
• Melina Terkamp 80 Fotos – fremde Vertrautheit • Kristina Jenzen, Paulina
Levenhagen, Fariha Saberi
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86 Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
• Frederic Wrage
Grußwort
91 Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
• Ole Herbold 100 Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“ • Dennis Krull 110 Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
• Elisabeth Jena 119 Willy Sprengpfeil und seine Mützenfabrik – ein Untermieter
zieht ein • Justin Retelsdorf
Die Schule Eduardstraße wurde 1905 als Volksschule gegründet und blickt auf eine weit über 100 Jahre lange Geschichte zurück. Der vorliegende
123 Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes?
• Janina Eggers 130 Hermann Hoffmann – SS-Mitgliedschaft als Episode
• Helena Strotman 134 Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge • Matthäus Schiefke 144 Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart
• Jonas Kaphingst 150 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene • Marlen Sundermann 164 Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
• Marie Seifert, Luka Sommerfeld 172 Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
• Marlen Sundermann 182 Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen
erinnern sich • Andrea Janke, Elisabeth Jena
Band nimmt sich nun mit der Zeit des „Dritten Reiches“ dem dunkelsten Kapitel dieser Schulgeschichte an. Dass die Initiative zu dieser umfassenden Forschung von der Schulleitung der Grundschule Eduardstraße selbst ausging, zeigt ein besonderes Engagement und einen Willen zum offenen Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Erforschung der Schulgeschichte erfolgte im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg und durch eine Gruppe von Studierenden in unterschiedlichen Phasen ihres Studiums. Ein solches gemeinsames Projekt zeigt eindrucksvoll die enge Vernetzung von Schulen und Universität, die die Stadt Hamburg seit vielen Jahren durch verschiedene Projekte fördert und gestaltet. Diese Kooperation beginnt nicht erst bei den Abiturientinnen und Abiturienten, die im Übergang zur Universität durch vielfältige Informationsangebote in der Studienorientierung begleitet werden. Sie beginnt bereits in den Grundschulen mit Projekten wie der Kinderuni, in der 8 – 12-Jährige bei Vorträgen zum ersten Mal Uniluft schnuppern können. Auch an den Zukunftstagen, am Girls’ und Boys’ Day, können Schülerinnen und Schüler die Hochschulen näher kennenlernen, bevor sie hier vielleicht sogar im Rahmen des Juniorstudiums noch vor dem Schulabschluss echte Studienerfahrungen sammeln.
190 Impressum
Für beide Seiten, Schulen und Hochschulen, entstehen so wertvolle Arbeitskontakte und vielfältige Synergieeffekte. Besonders positiv ist, dass vor allem die Studierenden in der Lehramtsausbildung von diesem
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Inhalt
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Dialog profitieren, und ich freue mich deshalb, dass sie in diesem Projekt
Vorwort
so zahlreich vertreten sind. Denn gerade für sie ist es eine wertvolle Erfahrung, sich das Schulsystem, in dem sie in Zukunft tätig sein werden, als historisch gewachsene und gewandelte Struktur vor Augen zu führen. Wenn Schulen heute die Persönlichkeit der Kinder in den Vordergrund stellen, Neugier wecken, Diskussionen fördern und lehren, die eigene Umwelt kritisch zu hinterfragen, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft der Demokratie – und gleichzeitig eine ihrer zentralen Voraussetzungen. Sich in eigenen Forschungen mit der Schule im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, bietet daher für angehende Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, das Bewusst-
Wie so häufig begann alles mit einer E-mail. Der stellvertretende Schul-
sein für die eigene zukünftige Verantwortung der Gesellschaft gegenüber
leiter der Grundschule Eduardstraße, Jörg Chmill-Völsch, hatte mich im
zu schärfen.
Web an der Universität Hamburg ausfindig gemacht. Er habe nämlich, so
Ich danke allen Beteiligten für die Umsetzung des Projektes: der
sagte er, eine Frage, die ihn seit Längerem umtreibe. Immer wieder hät-
Grundschule Eduardstrasse mit ihrer Direktion für ihre Initiative; der
ten ihm schon pensionierte Kollegen erzählt, dass der Nationalsozialis-
Professur von Frau Prof. Birthe Kundrus an der Universität Hamburg für
mus an der Schulgemeinschaft der damaligen Volksschule Eduardstraße
Forschungen und Manuskript, und der Landeszentrale für politische Bil-
spurlos vorbeigegangen sei. Diese Beteuerungen hätten sich mittlerweile
dung für die verlegerische Umsetzung.
zu einer schuleigenen Erinnerungserzählung verdichtet, ablesbar in den vorhandenen Festschriften zum 50-jährigen und 100-jährigen Bestehen
Ties Rabe
der Schule 1955 und 2005. Aber stimme diese Erzählung überhaupt? Er
Senator der Freien und Hansestadt Hamburg
habe da so seine Zweifel. Nun gebe es im Keller der Schule etliche Akten, Fotos, Bücher, Hefte aus der Zeit zwischen 1933 und 1945, alles ungeordnet. Ob ich mir das nicht einmal anschauen könne? Gefragt, getan. Angesichts der Fülle an Materialien entstand die Idee zu einem Seminar mit Studierenden von Bachelor- und Masterstudiengängen am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg. Es sollte der grundsätzlichen Frage nachgehen, wie nationalsozialistische Strukturen, z. B. ein neuer Festkalender, aber auch rassistische Lehrinhalte den Alltag an der Volksschule prägten. Zugleich war im Einklang mit der neueren Forschung von Bedeutung, welche Handlungsräume die Rektoren, die Lehrerinnen und Lehrer wahrnahmen und wie die Schülerschaft diese Zeit erlebte. Zu Beginn des Sommersemesters 2018 fanden sich 19 Studierende, darunter erfreulich viele LehrämtlerInnen, die die Thematik interessierte. Ein erfahrener Tutor, Hendrik Althoff, unterstützte die Studierenden.
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Grußwort
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Das Seminar machte sich auf in die Eduardstraße, schritt in den Kel-
die historischen Akteure, so geht es in erster Linie um die Täter (z. B.
ler – und die Idee wuchs sich zu einem veritablen Forschungsprojekt
Hans-Peter de Lorent; https://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene), vor-
aus. Es fanden sich viele Fotos, Zeugnisse, Bögen von SchülerInnen, Lie
zugsweise an Gymnasien bzw. weiterführenden Schulen oder der Schul-
derbücher, aber auch ein Konvolut mit den Lehrerkonferenzen der Mäd-
verwaltung. Volksschulen, „normale“ Volksschullehrer bzw. „normale“
chenschule. Überhaupt hatten sich viel mehr Materialien aus der Mäd-
Volksschullehrerinnen kommen eher selten in den Blick, und in noch ge-
chenschule als der Jungenschule der nach Geschlechtern getrennten Bil-
ringerem Maß gilt dies für die Schülerschaft an den Primarschulen. Eine
dungseinrichtung erhalten. Die Gründe hierfür sind unbekannt. Man-
Ausnahme von dieser Schräglage der Forschung bleibt die große, aber
ches hatten ehemalige SchülerInnen oder auch der Sohn eines ehema-
eben auch nicht fortgeführte Studie von Uwe Schmidt, Hamburger Schu-
ligen Hausmeisters der Schule geschenkt, nicht zuletzt anlässlich ihrer
len im „Dritten Reich“.
beiden Feiern zum 50. und 100. Jubiläum 1955 bzw. 2005. Es war also ein rechtes Sammelsurium, das erst einmal geordnet werden musste.
Darüber hinaus erweitert und vertieft das Kompendium den bisherigen Kenntnisstand zur Schulgeschichte Hamburgs im Dritten Reich.
Im Verlauf des Sommers und dann auch des Herbstes 2018 scann-
Diese Aussage gilt nicht nur für etliche Einzelbefunde, wie etwa die
ten und transkribierten die Studierenden die im Schulkeller liegenden
Fremdnutzung von Schulgebäuden durch Firmen nach den Bombenan-
Schriftstücke, recherchierten im Hamburger Schulmuseum, im Staatsar-
griffen im Juli 1943 oder die durchaus politische Bedeutung von Kno-
chiv, kopierten Personal-, Entnazifizierungs- und Wiedergutmachungs-
chensammlungen im Krieg. Entscheidender ist die Erkenntnis, nicht
akten, suchten in digitalen Zeitungsbeständen, forschten bei Geschichts-
dass, sondern wie sehr Ambivalenzen Unterricht und Schulalltag be-
werkstätten und befragten ehemalige Schülerinnen.
stimmten – und zwar auf allen Ebenen. Eindrucksvoll belegen dies die
Schnell war klar: Die Ergebnisse sollten nicht als klassische Semi-
Einträge zu den Lebensgeschichten von SchülerInnen und LehrerIn-
nararbeiten in der Schublade der Dozentin verschwinden, sondern der
nen. Insofern hat sich keine Schule, auch nicht die Volksschule Eduard-
Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Das gilt natürlich für die
straße, dem Nationalsozialismus, seinen Anforderungen wie Partizipa-
Grundschule Eduardstraße im Besonderen, für das Kollegium wie die
tionsangeboten, seinen Zwängen wie Ermöglichungsstrukturen entzie-
Eltern und Familien sowie die Schülerschaft. Darüber hinaus richtet sich
hen können. Die Kernfrage ist damit jedoch, wie sich diese Gemenge-
der Band an eine interessierte Öffentlichkeit, seien es Fachkollegen aus
lage über die zwölf Jahre des Dritten Reiches hinweg konturierte. Wie ge-
der Wissenschaft, Lehrerinnen und Lehrer anderer Schulen oder über-
staltete sich das Verhältnis von Erleiden, Erwehren und Mitmachen, von
haupt an Schulgeschichte Interessierte.
Konsens und Dissens in der NS-Diktatur? Die Volksschule Eduardstraße
Ebenso schnell wurde klar, dass keine Aufsätze den Band strukturie-
blieb, soweit man dies auf Grundlage der trotz aller Recherchen begrenz-
ren könnten, da die Splitterbestände kein Gesamtnarrativ ergaben. Des-
ten Quellenbasis sagen kann, frei von überzeugten Nationalsozialisten,
halb entschied sich das Seminar für das Format des Kompendiums mit
die die Kollegen auf den „rechten“ Weg führen wollten, abweichendes
Einträgen von drei bis ca. 20 Seiten, umrahmt von Abbildungen. Viele da-
Verhalten denunzierten oder anderweitig für ein Klima von Einschüchte-
von archiviert das Schulmuseum in Hamburg glücklicherweise in einem
rung und existenzieller Angst sorgten. Im Einzelnen aber hatte man sich
eigenen Bestand zur Eduardstraße.
an die Entlassungen von Kollegen oder das Wegbleiben von jüdischen
Der nun vorliegende Band füllt eine Lücke in der Forschung zur
SchülerInnen ebenso gewöhnt wie man politische Erfolge H itlers nicht
Hamburger Schulgeschichte. Diese befasst sich auf einer strukturellen
nur mit dem verordneten Schulfrei, sondern auch im Unterricht aner-
Analyseebene immer noch intensiv mit der Strahlkraft der ideologischen
kennend feierte. Insofern schließt der Band an neuere Forschungen an,
Vorgaben des Nationalsozialismus (z. B. Rainer Lehberger). Geht es um
die stärker als bislang die Ambiguität zwischen Kritik und Akzeptanz im Nationalsozialismus herausstreichen.
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Vorwort
Vorwort
9
Schließlich ist der Band ein weiteres eindrucksvolles Beispiel dafür, wie fruchtbar es sein kann, wenn sich Studierende in Projekten mit der NS-Zeit beschäftigen. Auf diese Leistung „unserer“ Hamburger Studierenden können die Universität und die Stadt durchaus stolz sein. Abschließend gehört der Dank allen aufgesuchten Einrichtungen,
Zur Einführung I: Die Volksschule Eduardstraße vor 1933
vor allem dem Hamburger Schulmuseum und seinem Bildarchiv. Die Landeszentrale für politische Bildung hat nach der Sichtung des Manuskripts sofort das Kompendium in seine Publikationen aufgenommen, auch hier danke ich für die ebenso kompetente wie aufmerksame Unterstützung.
Von der Planung zur Eröffnung
Ohne die Initiative durch die Leiterin der Schule Eduardstraße Beate Hansen und den stellvertretenden Leiter Jörg Chmill-Völsch jedoch hätte
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Eimsbüttel ein Stadtteil im Auf-
das vorliegende Buch nie realisiert werden können. Ihre – vom Kopierer
bruch. In der Innenstadt hatte die Choleraepidemie von 1892 überdeut-
über Scanner bis zum Schlüssel reichende – weitherzige Hilfe sowie ihr
lich gemacht, dass die hygienischen Zustände in den hafennahen Gänge-
großes Vertrauen in uns und unser Vorhaben haben das Projekt beglei-
vierteln nicht mehr tragbar waren. Ganze Quartiere wurden abgerissen
tet. Im Namen des Teams danke ich der Schulleitung sehr, sehr herzlich.
und saniert, auch weil nur so Platz für die neue Speicherstadt geschaffen werden konnte. Der verbleibende Wohnraum war knapp und teuer;
Hamburg, im April 2019
die ansässigen Arbeiter- und Handwerkerfamilien wurden verdrängt.1
Birthe Kundrus
Viele von ihnen zogen ins 1894 eingemeindete Eimsbüttel, wo sich binnen 25 Jahren die Einwohnerzahl verzehnfachte: Um 1900 lebten hier bereits rund 100.000 Menschen. Ganze Straßenzüge wurden aus dem Boden gestampft, um den Zugezogenen Wohnraum zu verschaffen. Große Mietshäuser bestimmten das Bild.2 Der Hamburgische Correspondent stellte 1905 fest: „In West-Eimsbüttel ist allmählich ein neuer Stadtteil entstanden; eine neue Straße reiht sich an die andere.“3 Wie man auf einem Stadtplan von 1903 gut erkennen kann, bildete der Stadtteil zu diesem Zeitpunkt die Grenze der bebauten Stadt. Jenseits der Rellinger Straße erstreckten sich noch Felder, die sich die wachsende Stadt langsam aber sicher einverleibte. Am Eimsbütteler Marktplatz, der direkt an 1 Schubert, Dirk: Der Städtebaukunst dienen – und der Finanz deputation eine Freude bereiten oder: Die wechselvolle Geschichte der Sanierung der südlichen Altstadt, in: Höhns, Ulrich (Hg.): Das ungebaute Hamburg, Hamburg 1991, S. 46 57. 2 Schule Eduardstraße (Hg.): 100 Jahre Schule Eduardstraße – Festschrift, Hamburg 2005, S. 4. (i. F.: „100 Jahre“). 3 Hamburgischer Correspondent, 17.09.1905, S. 11.
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Vorwort
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einen Brunnen und installierte ein Pumpwerk, das fast ein Jahr in Betrieb blieb und die Versorgung sicherstellte.4 Gravierender noch, weil schwieriger zu beheben, waren die Lücken in der schulischen Versorgung, die man zunächst ebenfalls provisorisch zu stopfen versuchte. Immer größere Zahlen von Kindern wurden nachmittags unterrichtet, weil vormittags in den Schulen kein Platz für sie war. Neue Schulen wurden dringend benötigt. Im Mai 1901 machte die Oberschulbehörde schließlich bei der Finanzdeputation der Stadt Hamburg Druck: Zwischen 1892 und 1901, so rechnet sie in einem Schreiben vor, habe sich die SchülerInnenzahl in Hamburg von 68.206 auf 89.330 erhöht, der jährliche Zuwachs betrage mittlerweile fast 5.000.5 Besonders bemerkbar mache sich das in den neuen Stadtvierteln wie Eimsbüttel, wo zwei Schulen mit jeweils 30 Klassen gebaut werden müssten. Eine Erste sollte sofort, eine Zweite für das Jahr 1904 geplant werden. Die Finanzverwaltung stimmte dem Plan zu und schuf so die Grundlage für den späteren Bau der Volksschule Eduardstraße. Da die Stadt jedoch in Eimsbüttel selbst keine Grundstücke mehr besaß, musste sie zunächst eine freie Fläche suchen und fand bereits im August ein passendes Stück Land an der Eduardstraße. Die 85 Meter breite und 50 Meter tiefe Liegenschaft gehörte einem Burghard Testament, der sie für 135.231,70 Mark zum Kauf anbot. Die um Rat gebetene Baudeputation hielt das Gelände für geeignet, „weil es an einer beVerlagsanstalt und Druckerei A.-G., URL: christian-terstegge.de, Grosser Plan von Hamburg. Altona-Ottensen und Wandsbek.
reits fertig gestellten Strasse und in ruhiger Gegend“6 lag, und so veranlasste die Stadt den Kauf. Am 22. Februar 1902 wechselte der Grund, auf dem die Schule noch heute steht, den Eigentümer.7 Spätestens in zwei Jahren, so hieß es in einer Bekanntmachung vom März 1902, solle der
die Eduardstraße grenzte, lagen altes und neues Hamburg nah beieinan-
Bau einer neuen Volksschule abgeschlossen sein.8
der: Einerseits fand hier noch regelmäßig ein Vieh- und Schweinemarkt statt, auf dem die Landwirte aus dem Umland ihre vierbeinige Ware verkauften, andererseits hatte der Platz schon eine eigene Straßenbahn haltestelle. Doch nicht auf allen Gebieten konnte der Ausbau der Infrastruktur mit dem Bevölkerungsboom mithalten. So versagte etwa 1906 das neue Wasserleitungsnetz, das infolge der Choleraepidemie angelegt worden war. In vielen der neugebauten Wohnhäuser Eimsbüttels fehlte der Wasserdruck. Kurzerhand grub man am Eimsbütteler Marktplatz
12
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
4 M elhop, Wilhelm: Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg von 1895– 1920. Mit Nachträgen bis 1923, Bd. 1, Hamburg 1923, S. 276. 5 S tAHH 311-2 IV/DV V D 9 a II Be 7a, Oberschulbehörde, Protokollauszug, 14.05.1901, Bl. 1. 6 S tAHH 311-2 IV/DV V D 9 a II Be 7a, Baudeputation, Protokoll auszug, 28.11.1901, Bl. 5. 7 S tAHH 111-1/35519, Abschrift des Kaufvertrages, 22.02.1902, Bl. 9. 8 H amburger Anzeiger, 19.03.1902, S. 5.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
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diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Finanzierung des Baus geklärt. Erst im September 1903 veranschlagte der Senat erstmalig die Kosten: 318.000 Mark kostete das Schulgebäude, 27.000 Mark die Turnhalle und nochmal 36.000 Mark die Einrichtung für beide Bauten – Kosten, mit denen die Finanzverwaltung ihren Etat erst 1904 belasten wollte und so die Bauarbeiten verzögerte.10 Im folgenden April, dem Beginn des neuen Schuljahres, traten abermals all die Unzulänglichkeiten in der Versorgung zutage. Sogar der städtische Verkehrsausschuss erklärte nun, man wolle „geeignete Schritte unternehmen, um auch den Bau des Schulhauses an der Eduardstraße zu beschleunigen.“ 11 Das Raumproblem war in Eimsbüttel besonders ausgeprägt; die hier eingerichteten 35 Nachmittagsklassen stellten einen Großteil der 87 dar, die im gesamten Hamburger Gebiet unterrichtet wurden.12 Angesichts dieser Zahl und erheblicher Kritik in der Presse kam Bewegung in die Angelegenheit. Die Entwürfe für das Gebäude aus dem Januar und Februar 1904 stammten von Carl Johann Christian Zimmermann, Hamburger Bau direktor und in diesem Amt direkter Vorgänger von Fritz Schumacher. Zimmermann schuf viele Hamburger Schul- und Verwaltungsbauten, auch die Pläne für das Museum für Kunst und Gewerbe stammten von ihm.13 Staatsarchiv Hamburg, 311-2 IV/DV V D 9 a II Be / a, Bebauungsplan (1904).
Die Volksschule entwarf er im Stil der Neorenaissance, in dem er zu dieser Zeit beinahe alle seine Bauten hielt; komplett mit schmucken Zwiebeltürmen über den Treppenhäusern und einem zentralen, funk-
Doch gut ein Jahr später war auf dem Grundstück noch nichts ge-
tional überflüssigen Turm, der das Dach krönte. Der Bau war geteilt in
schehen, obwohl die Lage sich weiter verschärfte. In der Neuen Ham-
ein Haupthaus und zwei Flügel, mit vier Stockwerken und vielen Fens-
burger Zeitung echauffierte sich ein Leser unter dem Titel „Die trauri-
tern verschiedener Größe, die dem Haus ein dynamisches Gesicht gaben.
gen Volksschulverhältnisse in Eimsbüttel“, es gebe im Stadtteil mittler-
Überhaupt erhielt mitunter die Wirkung gegenüber der Funktion den
weile nicht weniger als 27 Nachmittagsklassen. „Die Plätze für die Schul-
Vorzug: Das spitze Schieferdach beeindruckte zur Straße hin mit seiner
bauten in der Eduardstraße und in der Rellingerstraße sind vorhanden, es sind Wiesenplätze, die nicht einen Augenblick der Inangriffnahme der Bauten Hindernisse bereiten können, aber nein, begonnen ist mit dem Bau weder an der einen, noch an der anderen Stelle.“9 Tatsächlich war zu 9 „Die traurigen Volksschulverhältnisse in Eimsbüttel“, in: Neue Hamburger Zeitung, 11.04.1903, S. 13.
14
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
10 Hamburger Anzeiger, 15.09.1903, S. 2. 11 Der Mangel an Volksschulhäusern in Eimsbüttel, in: Hamburger Anzeiger, 10.04.1904, S. 5. 12 41. Sitzung der Bürgerschaft, in: Neue Hamburger Zeitung, 08.12.1904, S. 2. 13 Zimmermann, Carl Johann Christian, in: Hamburgische Biografie, Bd. 3, Göttingen 2006, S. 426 – 428.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
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StAHH, 321-2/B 778, Hinteransicht der Volksschule Eduardstraße (1904).
StAHH, 321-2/B 778, Seitenansichten der Volksschule Eduardstraße (1904).
imposanten Höhe – der Dachboden darunter war jedoch nicht ausgebaut
zu dessen prunkvoller Erscheinung beitrugen. Zwei ausladende Treppen
und somit unbenutzbar.14 Auch die Fassade war aufwändig verziert, z. B.
aus Granit führten zu den getrennten Eingängen für Mädchen und Kna-
durch die zwölf Tierkreiszeichen, die über die gesamte Breite des Hau-
ben, die durchgehend separat unterrichtet wurden. Noch im Frühjahr
ses verteilt auf der Höhe des ersten Stocks in Sandstein gemeißelt wur-
1904 begannen die Bauarbeiten, die nun zügig vorangingen. Bereits zum
den. Hermann Herzog, Schulleiter in den 50er Jahren, bemerkt in seiner
Jahresende ging es an die aufwändige Dekoration der Fassade: Die Bau-
Chronik der Schule schmunzelnd, „manches konservative Gemüt“ habe
behörde schaltete Ausschreibungen für die Töpferarbeiten am Gebäude.
„bedenklich das Haupt geschüttelt ob solchen Aufwands für gewöhnli-
Wer den Auftrag übernehmen wollte, hatte nur eine Woche Zeit, sich zu
che Volksschüler.“15 Auffällig waren auch die beiden Treppengiebel an
melden.16
den Rändern des Hauptbaus sowie zu den Seiten des Hauses hin, die viel
14 Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o.O., o.J. vermutlich Hamburg 1955, S. 6. 15 Herzog: 50 Jahre, S. 4.
16
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
16 Neue Hamburger Zeitung, 20.12.1904, S. 10.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
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Die Volksschule im späten Kaiserreich Tatsächlich gelang die Eröffnung bereits zum Schulbeginn nach Ostern des nächsten Jahres; im April 1905 konnten die SchülerInnen in ihre neue Schule einziehen. Dabei musste die Volksschule nicht etwa auf Anmeldungen warten. Weil sämtliche Schulen in der Umgebung hoffnungslos überfüllt waren, wurden die überzähligen SchülerInnen einfach in die Volksschule Eduardstraße und die ebenfalls neu eröffnete Schule an der Kielortallee umgeschult. Der Hamburger Anzeiger vermerkte daher zufrieden: „Die beiden Schulhäuser, die Raum für etwa 3.500 Kinder bieten, werden sofort voll besetzt sein.“ 17 So schnell die Bauarbeiten letztlich durchgeführt wurden: Herausgekommen war ein repräsentatives, beinahe prächtiges Schulgebäude mit 30 Klassenräumen für 1.200 Schüler und Schülerinnen. Im Oktober 1905 zeigte sich die Neue Hamburger Zeitung vorsichtig optimistisch, denn der „langen und viel gerügten Rückständigkeit auf dem Gebiete der Volksschulbauten scheint endlich in diesem Jahre etwas abgeholfen zu werden.“ 18 Tatsächlich schien das große Raumproblem überwunden; in der Eduardstraße hatte man – zumindest in der Turnhalle – sogar Platz übrig. Im Oktober 1905 gründete
Volksschule Eduardstraße, Kellerarchiv, Ansicht von der Straße aus, farbige Reproduktion der Originalzeichnung von 1904 aus der Nachkriegszeit.
der Eimsbütteler Turnverband eine Mädchenabteilung, die in der neuen Schulturnhalle übte.19 Im dicht bebauten Stadtteil freute man sich über
ein Neubau auf neuestem Stand.21 Im Lehrbetrieb der Schule jedoch war
die freie Fläche auf dem Schulhof. In den Sommerferien 1909 wurden
die Moderne noch nicht angekommen, hier herrschte unangefochten der
mehrere Schulhöfe in Eimsbüttel als Spielplätze freigegeben, darunter
wilhelminische Zeitgeist: Einer der ersten Jungen, die nach erfolgreicher
der Hof der Schule in der Eduardstraße. Ein Experiment mit Erfolg: Die
Laufbahn von der Knabenschule abgingen, war Franz H. Sein stolzer Va-
Aufsicht führenden LehrerInnen und SchülerInnen zählten an 63 offenen
ter schenkte ihm zu diesem Anlass 1911 ein kleines Poesiealbum, das noch
Tagen über 4.400 Kinder, die auf dem Hof spielten.20
heute im Archiv der Schule erhalten ist. Viele Klassenkameraden verewigten sich hier mit kurzen Sprüchen und besten Wünschen für die Zu-
Im Inneren des Hauses wartete der Neubau mit breiten, hellen Fluren auf.
kunft. Auch der Rektor wurde um eine Widmung gebeten, doch wo selbst
Die Klassenzimmer verfügten über Parkettböden und dreiteilige Tafeln
die Volksschüler sich um passende Goethe-Zitate bemühten, beließ er
und das ganze Haus über Toiletten mit Wasserspülung – für 1905 war das
es bei einem einzigen Satz. „Wissen ist Macht!“ 22 – etwas Erbaulicheres fiel dem Schulleiter nicht ein. Rektor Böe war ein konservativer Charak-
17 Umschulungen, in: Hamburger Anzeiger, 04.04.1905, S. 4. 18 Neue Hamburger Zeitung, 12.10.1905, S. 2. 1 9 Hamburgischer Correspondent, 17.09.1905, S. 11. 20 Neue Hamburger Zeitung, 02.11.1909, S. 8.
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Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
21 100 Jahre, S. 5. 22 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Archivalien bis 1919, Poesiealbum von Franz H.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
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Nicht einmal die Lehrer und Lehrerinnen konnten sich im selben Lehrerzimmer aufhalten.25 Auch der Unterricht war nach Geschlechtern unterschiedlich strukturiert, so erhielten die Mädchen Hauswirtschaftsunterricht, für den die Volksschule seit dem Sommer 1907 mit der Schule in der R ellinger Straße kooperierte. Hier gab es nämlich im Keller eine sog. Haushaltungsschule, bestehend aus einer Küche mit sechs Feuerstellen, einem Vorrats- und einem Kohlenraum. In diesen Räumen lernten die Mädchen alles, was man im Kaiserreich für ihr späteres Leben als Hausfrau und Mutter für wertvoll erachtete. Die Schülerinnen aus der Eduardstraße hatten hier ihren hauswirtschaftlichen Unterricht, übten das Kochen und durften die Ergebnisse kostenfrei verspeisen – im Arbeiterquartier Eimsbüttel ein nicht zu unterschätzender Vorteil.26 Gegen den autoritären Zeitgeist im Unterricht, verkörpert vor allem durch den bis 1919 amtierenden Rektor August Böe, versuchten einige LehrerInnen innerhalb der engen Vorgaben neue Impulse zu setzen. Ein Gebiet, auf dem dies gelang und mit dem die Volksschule Eduardstraße sogar den Ruf einer Avantgardeschule bekam, war eine neuartige Form der Kunsterziehung. Herzog bemerkt stolz: „Die Keimzelle dieStAHH, 321-2/B 778, Querschnitte (1904).
ser neuen Richtung ist unsere Schule, ihr Begründer unser Kollege Otto Wommelsdorff.“ 27 Für den berühmten Kunsterzieher war der althergebrachte Zeichenunterricht ein Graus. Die SchülerInnen saßen stumm am
ter, und er führte eine Schule, in der der Lernstoff im Mittelpunkt stand.
Tisch und skizzierten geometrische Formen in Perspektive – das Ergeb-
Der Unterricht war geprägt vom Stillsitzen und Zuhören; die Schule, so
nis war entweder richtig oder falsch. Diesen stumpfen Übungen stellte
der Lehrer Herzog rückblickend, „hatte ihr Vorbild im Militär.“ 23 Reden
→ Wommelsdorff
durfte nur, wer gefragt war, und wer gefragt war, hatte aufzustehen, bevor
Fokus stand die lebhafte Gemeinschaftsarbeit. Die Kinder zeichneten
er oder sie eine Antwort gab. Bei Fehlverhalten drohten Schläge mit dem
nicht mehr auf ihrem eigenen Blatt Papier, sondern bauten z. B. gemein-
Rohrstock und bei mehrmaligen Verfehlungen sogar die zeitweise Verset-
sam lebensgroße Figuren.28 Wenn gemalt wurde, so wurden die Themen
zung auf die Strafschule in Ohlsdorf. 24 Die Geschlechtertrennung wurde
nur grob vorgegeben, was die Phantasie der Kinder anregte. Auch neue
konsequent durchgesetzt; sogar der Schulhof war durch eine Holzwand
Materialien und Farben erhielten Einzug; es wurde gebastelt mit Ton,
getrennt, die schon auf den Plänen für die Bebauung eingezeichnet war.
Sand, Knete und Stoff. Wommelsdorff betrieb seine Kunstklassen gewis-
23 Ebd., S. 7. 24 StAHH 731 – 8/A 558, Flinzer, Priska: Auch wenn die Zahl der Kinder ständig abnimmt. Schule Eduardstraße feiert ihr 75jähriges Bestehen, in: Hamburger Abendblatt, 12./13.06.1980.
25 Ebd. 26 Hamburgischer Correspondent, 25.10.1907, S. 9. 27 Herzog: 50 Jahre, S. 11. 28 Gebhard, Julius: Alfred Lichtwark und die Kunsterziehungs bewegung in Hamburg, Hamburg 1945, S. 203.
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Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
ein intuitives, körperliches Kunstkonzept entgegen. Im
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
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sermaßen als Experiment und Studie, die Ergebnisse veröffentlichte er als Buch.29 Bei seinen Schulklassen legte er ungeahnte Einbildungskräfte frei. Irgendwann war ihnen das Papier nicht mehr groß genug und der Lehrer machte die gesamte Seitenwand des Klassenzimmers in Handarbeit zur Tafel. Als sie fertig war, stürzten sich die SchülerInnen geradezu auf die neue „Leinwand“ und malten gemeinsam ein großes Bild: „Rodeln auf der Sternschanze“. Viele weitere folgten, und 1929 zeigte Wommelsdorff die Arbeiten aus der Eduardstraße sogar im dänischen Helsingör auf einem pädagogischen Kongress. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie in England, den USA und Indien ausgestellt.30 Doch der Kunstunterricht blieb eine seltene Ausnahme im ansonsten grauen Schulbetrieb. Bei einem der noch seltenen Ausflüge ereignete sich 1908 ein tragischer Unfall, der die junge Schulgemeinschaft erschütterte. Am 3. Juli hatte eine Klasse der Knabenschule einen Ausflug nach Cuxhaven gemacht und dort eine Dampfschifffahrt auf der Nordsee unternommen. Den Abend verbrachte die Klasse am Strand. In der Nähe der berühmten Kugelbake, die den Übergang der Elbe in die Nordsee markiert, lief der Schüler Wilhelm Lainé beim Spielen im Watt zu weit ins Wasser, geriet plötzlich in die Strömung, wurde davongetragen und drohte zu er-
Schroedters Grabstein auf dem Rellinger Friedhof (Aufnahme Hendrik Althoff).
trinken. Der Klassenlehrer Heinrich Schroedter sprang sofort hinterher und versuchte, den Knaben zu retten. Doch auch er konnte nicht mehr amburger gegen die Strömung ankommen. „Beide versanken“, wie der H Anzeiger meldete, „ohne wieder emporzutauchen, auch die Leichen wur-
Neuen Hamburger Zeitung veröffentlichte ein Komitee einen Aufruf, an
den trotz längeren Suchens nicht gefunden.“ 31 Die Schulklasse konnte
die Hinterbliebenen zu spenden.34 Hermann Herzog erinnerte sich spä-
dem dramatischen Unfall nur tatenlos zusehen. Schroedter war 30 Jahre
ter, man habe S chroedters Leiche letztlich doch noch gefunden, sie war
alt gewesen, hinterließ Frau, Sohn und seine pflegebedürftige Mut-
quer über die gesamte Elbmündung getrieben und in Büsum angespült
ter.32 Der Fall weckte große Anteilnahme, auch über Hamburg hinaus.
worden.35 Die Hamburger Lehrerschaft finanzierte einen Grabstein auf
Das Lehrerkollegium schaltete einen Nachruf und hielt fest, Schroedter
dem Rellinger Friedhof mit der Aufschrift „Er liess sein Leben für seinen
sei „den Heldentod in der Ausübung seines Berufes“ gestorben.33 In der
Schüler.“ 36
29 Wommelsdorff, Otto: Die Gemeinschaftsarbeit einer Hamburger Grundschulklasse, Düsseldorf 1931. 30 Herzog: 50 Jahre, S. 12. 31 Hamburger Anzeiger, 05.07.1908, S. 4. 32 Neue Hamburger Zeitung, 18.07.1909, S. 2.
33 Hamburgischer Correspondent, 09.07.1908, S. 29. 34 Neue Hamburger Zeitung, 18.7.1908, S. 2. 35 Herzog: 50 Jahre, S. 14. 36 (Hg.) Friedhof Rellingen: Ort der Erinnerung – Ort der Begegnung, Rellingen 2013, S. 13.
22
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
23
Wenige Tage nach dem Unfall versammelten sich LehrerInnen, Eltern, SchülerInnen und Angehörige der Verstorbenen zu einer Trauer-
Aufbruchsstimmung und Reformpädagogik in der Weimarer Republik
feier in der Volksschule. Schulleiter Böe hielt, laut dem Hamburgischen Correspondenten eine andächtige Rede unter der Losung „Ein guter Hirte
Mit der Revolution und der Weimarer Republik erlebte die Pädagogik
läßt sein Leben für seine Schafe“ und legte den Kindern das beherzte
insgesamt – und mit ihr die Schule an der Volksschule Eduardstraße –
und aufopfernde Handeln ihres Lehrers als Vorbild ans Herz. Im Namen
eine ungekannte Freiheit. Hermann Herzog beschreibt diese Zeit rück-
der Kollegen versprach er, dass Schroedter und Lainé nicht in Vergessen-
blickend begeistert als permanenten Aufbruch. Den wichtigsten Schritt
heit geraten würden. „Mit Gebet und dem gemeinsam gesungenen Liede
in deren Entwicklung brachte das Jahr 1919 mit der neu festgeschriebe-
‚Aufersteh’n‘ schloß die erhebende Feier. Still gingen Lehrer und Schüler
nen schulischen Selbstverwaltung, die unter anderem bedeutete, dass
dann in die diesjährigen Sommerferien.“ 37
das Kollegium den Schulleiter wählen konnte und gewisse Mitsprache
Die Zeit des Ersten Weltkrieges bildete den Tiefpunkt an Tristesse
an der Gestaltung des Unterrichts erhielt. Nachdem dieser 14 Jahre lang
in der jungen Schule, die von immer umfangreicherem Unterrichtsausfall
in sehr traditioneller Form verlaufen war, zeichnete sich nun ein radika-
betroffen war. Lehrer wurden in den Kriegsdienst eingezogen, Lehrerin-
ler Wandel ab, dessen Gesicht der neue Schulleiter Heinrich Kreutzfeldt
nen mussten Hilfsdienste leisten, etwa bei der Ausgabe von Lebensmit-
darstellte. Er wurde bis zu seiner Pensionierung 1934 stets wiedergewählt
telkarten aushelfen. Die Kinder wiederum sammelten Knochen und an-
und prägte die Weimarer Jahre der Volksschule wie kaum ein anderer.
dere Reste in den umliegenden Haushalten, statt Unterricht zu erhalten.
Julius Gebhard, zu dieser Zeit als Lehrer in der Eduardstraße, würdigte
Im Winter 1916/17 wurde in der Turnhalle eine Küche eingerichtet, in der
Kreutzfeldt als begnadeten Deutschlehrer und vorbildliche Führungsper-
Gerichte aus Rüben zu günstigen Preisen an Bedürftige verkauft wurden.
son. Die deutsche Sprache wurde in seinem Unterricht lebendig; wäh-
Ein Gutes hatte dieser Dienst immerhin: Das Kriegsversorgungsamt be-
rend zuvor Auswendiglernen und Diktate die Mittel der Wahl gewesen
sorgte eine elektrische Lichtanlage für die Turnhalle, die auch nach dem
waren, diskutierte Kreutzfeldt nun mit den Kindern die Bedeutung i hrer
Krieg weiter in Betrieb war. Im Schulhaus war eine solche bereits beim
eigenen Namen oder geografischer Orte. „Sprichwörter und Kinder-
Bau installiert worden, in der Sporthalle hatte man bisher noch bei Gas-
reime wurden gesammelt. Neue Bezeichnungen der technischen Welt,
beleuchtung geturnt.38
der Bedeutungswandel der Wörter zeigten die Weiterentwicklung der Sprache.“ 39 Insbesondere stand der neue Rektor für eine andere Haltung den SchülerInnen gegenüber. Er nahm die Kinder als Persönlichkeiten ernst, war aber gleichzeitig auf seine Autorität bedacht. Auf seine Kollegen machte das großen Eindruck, sie besuchten Kreutzfeldts Unterricht und lernten von seinem Beispiel. Der Rektor wiederum verstand es, ein Kollegium zusammenzustellen, das, so Gebhard, „von der pädagogischen Begeisterung der Zeit nach dem ersten Weltkrieg mitgerissen, neue Wege der Erziehung und des Unterrichts suchte.“ 40
37 Hamburgischer Correspondent, 9.7.1908, S. 29. 38 StAHH 311-2 IV/DV V D 9 a II Be 7a, Domänenverwaltung an Oberschulbehörde, 16.2.1920, Bl. 21.
24
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
39 Herzog: 50 Jahre, S. 19. 40 Ebd.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
25
Nicht nur im Deutschunterricht, in allen Fächern wurden neue, freiere Methoden ausprobiert. „Es pulsierte ein reiches pädagogisches Leben an unserer Schule, das sich unter den früheren Verhältnissen nie hatte entfalten können und uns jetzt beglückte“ 41, so Herzog. „Für uns an der Eduardstraße begann mit der Einführung der Selbstverwaltung ein neues Leben.“ 42 Wo die SchülerInnen zuvor nur stumm sitzen und z uhören durften, wurde nun gebastelt, gemalt, gesungen, Theater gespielt und gewerkelt. Der erzieherische Fokus verschob sich hin zu den Kindern selbst, die nicht mehr zu Untertanen, sondern zu eigenständig denkenden StaatsbürgerInnen erzogen werden sollten.43 Die neue Pädagogik changierte zwischen Verständnis und Strenge, um den Kindern Freiräume zur eigenen Entfaltung zu geben, ohne sie dabei orientierungslos zurückzulassen, wie der Erziehungswissenschaftler Julius Gebhard 1946 in einem Buch über die Pädagogik zu dieser Zeit schreibt: „Mit Freiheiten, die ihnen gewährt wurden, wußten die Kinder wenig anzufangen; aber die kleinen Pflichten, die ein reiches Klassenleben mit sich bringt, – der Wandschmuck und der Blumenschmuck auf der Fensterbank, die Aquarien und Terrarien, die Verwaltung der Zeichengeräte und der Werkzeuge für das Basteln und für physikalische und chemische Schülerübungen – übernahmen sie gern.“ 44 Gebhard hatte selbst von 1908 bis 1913 an der Knabenschule Eduardstraße unterrichtet. Wie Dokumenten aus der NS-Zeit zu entnehmen ist, führten die SchülerInnen ein sog. Pensenheft, in dem sie ihre Lernerfolge selbst dokumentierten, und das sie dem Schulleiter regelmäßig vorlegen mussten.45 Der persönliche Fortschritt der Kinder war auch in den Berichten für die Schulbehörde das zentrale Thema. So heißt es in einem Bericht von 1930 über Hugo Heinrich R., er sei ein „aufgeweckter, recht selbstbewusster Junge. In der Klasse ist er nicht mehr so wild wie früher, ist gesittet und gefasster geworden. Langsam hat er gelernt, auf seine Schrift Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu wenden. Er
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Ausflug 1920er.
26
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
41 Ebd., S. 21. 42 Ebd., S. 18. 43 Ebd. 44 Gebhard: Alfred Lichtwark, S. 249. 45 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949, S. 26.
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
27
neigt noch heute zum flusigen Arbeiten, wenn er sich nicht beaufsichtigt fühlt. Er beobachtet scharf die Dinge seiner Umwelt, durchdenkt das Gesehene, ist sprachlich gewandt, erzählt viel, gern und genau, hat ein gutes Gedächtnis.“ Auch der soziale Charakter war ein Thema: „Im Spielen mit den Jungen übernimmt er mit gewisser Selbstverständlichkeit und mit Geschick die Führung. Sonst ist er noch kindlich, oft vernünftig, eigentlich nie albern oder ungeschickt.“46 Der neue Anspruch zur persönlichen Entfaltung der Kinder machte sich auch im Gebäude bemerkbar. Plakate und Zeichnungen schmückten die Flure, wodurch ganz nebenbei ein angenehmes Schulklima entstehen sollte, das erst jetzt als für die Entwicklung wertvoll anerkannt und gefördert wurde. Für Werk- und naturwissenschaftlichen Unterricht wurden spezielle Räume eingerichtet; für eine Schulbühne wurde Geld gesammelt und diese von einigen Vätern mit handwerklicher Erfahrung aufgebaut. Zuvor hatte dem Rektor selbst eine einstündige Weihnachtsfeier als Zeitverschwendung gegolten, nun wurden regelmäßig Schulfeste organisiert. Erstmals gab es eine echte Zusammenarbeit zwischen Lehrkörper und Schulleitung, in die LehrerInnenkonferenzen hielt eine echte Diskussionskultur Einzug. Und auch die Eltern wurden nun mit einbezogen, wodurch eine neue Schulgemeinschaft entstand. Im August 1930 gründete sich der Schulverein, dem zwei Väter von Schulkindern – ein Kontorist und ein Krankenpfleger – vorstanden.47 Noch einmal Herzog: „Wir suchten und fanden Fühlung mit der Elternschaft durch Veranstaltungen von Elternabenden, Gründung eines Schulvereins, durch Hausbesuche, Unterhaltungsabende, Sommerfeste für Eltern und Kinder, Aus-
Archiv Hamburger Schulmuseum, Herkunft: Kurt Braasch; HSM IV KKAwa 6.1; K lassenreise nach Cuxhaven der Volksschule Eduardstraße, Lehrer Wilhelm Braasch, 26. Juni 1926. Im Hintergrund die Kugelbake, an der 1908 ein Schüler und ein Lehrer verunglückt waren.
Fazit
stellungen, Theateraufführungen, Adventsfeiern und Entlassungsfeiern.“48 Selbst wenn der Enthusiasmus von Herzog etwas zu groß geraten
Die Volksschule Eduardstraße war bei ihrer Gründung 1905 zwar ein mo-
sein könnte: All die Reformen waren vorher undenkbar gewesen und ver-
dernes Bauwerk, doch dem pädagogischen Innenleben nach war sie im
änderten das Wesen der Schule von Grund auf.
alten Jahrhundert stehengeblieben. Bis nach dem Ersten Weltkrieg blieb der Geist des Kaiserreichs die prägende Kraft. Erst in der jungen Weimarer Republik konnten alte Strukturen überwunden werden und ein fri-
46 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Verschiedene Dokumente nach 1908, Bericht Hugo Heinrich R. 47 StAHH 231-10/Amtsgericht Hamburg, Vereinsregister, A 1, Bd. 46, Nr. 2546, S. 272 – 275. 48 Herzog: 50 Jahre, S. 21.
28
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
scher Wind ergriff von der Schule Besitz. Im neuen pädagogischen Reformklima erlebte sie eine Blütezeit, vorangetrieben durch einen neuen Rektor und engagierte Lehrkräfte, die die Chance zur Demokratisierung erkannten und nutzten. Eine erzieherische Ausrichtung am Kind,
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
29
freiere und kreativere Unterrichtsmethoden, Ausflüge in die Natur, ein neuer Umgangston und erste Elternabende: Alles musste anders werden. Bis 1933 hatte das Kollegium die Volksschule so vom wilhelminischen Zeitgeist befreit. An dessen Stelle traten eine kooperative Schulgemeinschaft und ein neues Verständnis von Erziehung. Die Lehrerinnen, Leh-
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
rer, Eltern, Schülerinnen und Schüler hatten etwas geschaffen, was wenige Jahre zuvor unmöglich schien: eine Volksschule als Ort der umfassenden Bildung, an dem die Entfaltung der Kinder im Mittelpunkt stand. Doch mit dem Systemwechsel 1933 erlebte die Schule erneut eine radikale Veränderung des politisch-kulturellen Klimas. Die Zeit der pädagogischen Freiheit war jäh vorüber und viele Errungenschaften der letzten
Nach dem 30. Januar 1933 und dem Machtantritt der NSDAP gab es in
Jahre wurden mit einem Mal infrage gestellt und bedroht. In den Jahren
Hamburg wie überall im Deutschen Reich einen größeren Personal-
der Weimarer Republik hatte sich die Schule in den Dienst einer Idee ge-
austausch bzw. -abbau in den Schulen und deren Aufsichtsverwaltun-
stellt, die es fortan zu verteidigen galt – nach außen wie nach innen.
gen. Die Leitung der Landesunterrichtsbehörde wie manche Oberschul rätInnen und SchulrätInnen wurden entlassen und durch männliche
Hendrik Althoff
Mitglieder des NS-Lehrerbundes oder ihm nahestehende Personen ersetzt. Insgesamt etwa 100 Lehrkräfte mussten gehen, weil sie entweder als politisch verdächtig oder gemäß dem „Gesetz zur Wiederherstellung des B erufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 als „Nichtarier“ galten. Dies traf den sozialdemokratischen Rektor der Jungenschule Eduardstraße Heinrich Kreutzfeld. Er wurde Mitte 1934 in den Ruhestand versetzt. Drei Versuche, einen Nationalsozialisten als Nachfolger zu finden, scheiterten, so dass Kreutzfeldts bisheriger Stellvertreter Hinrich König letztlich Schulleiter wurde. Er war ein eher unpolitischer Mann, der vor dem Ersten Weltkrieg kurzzeitig Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft gewesen war. Dagegen blieb der Direktor der Mädchenschule Friedrich Bödecker bis zu seinem Tod 1940 im Amt. Er hatte sich 1919 – 1920 in der liberalen Deutschen Demokratischen Partei engagiert, unterwarf sich aber nach 1933 den nationalsozialistischen Vorgaben und setzte diese weitgehend um → Lehrerinnen und Lehrer. Aber nicht nur Rassenpolitik spielte beim Personalabbau eine Rolle, auch die durch die Wirtschaftskrise leeren Stadtsäckel führten zu radikaleren Sparmaßnahmen. Die Kostensenkungen betrafen nicht nur, aber im besonderen Maße Frauen. So wurden in Hamburg 103 verheiratete
30
Zur Einführung I: Die Volkschule Eduardstraße vor 1933
31
Lehrerinnen im Zuge der Doppelverdienerkampagne arbeitslos. Der
zieren. Weitere Typen der Höheren Schule waren das den Jungen vorbe-
schon 1932 gestartete politische Feldzug bezweckte, die Arbeitslosig-
haltene humanistische G ymnasium, das Realgymnasium, die Oberreal-
keit dadurch zu beseitigen, dass Frauen als angeblich lediglich Mitver-
schule und die Deutsche Oberschule. Mit einer der vielen Schulreformen
dienende entlassen wurden und an ihrer Stelle Männer als die „eigent
wurde diese Vielfalt beschnitten, n eben den drei humanistischen Gymna-
lichen“ Ernährer von Familien eingestellt werden sollten, was allerdings
sien gab es fortan nur noch Oberschulen, 27 derartige Einrichtungen für
nicht immer geschah. Zudem wurden die Altersgrenzen für den Ein-
Jungen und 16 für Mädchen. An diesen mussten die Eltern anders als an
tritt in Rente oder Pension gesenkt. Auf diese Weise entließ die Hanse-
den Volksschulen jährlich ein Schulgeld von RM 240 zahlen, nach heuti-
stadt im Zeitraum bis 1936 von insgesamt 4.429 Lehrkräften 637 Lehre-
gem Wert etwa 58 Euro. Diese Mittel mussten die Väter und Mütter erst
rinnen und Lehrer – überwiegend gegen ihren Willen. Zu diesem Zeit-
einmal haben oder in die Zukunft ihrer Kinder investieren wollen. Viele
punkt waren bereits alle jüdischen sowie viele sozialdemokratische Leh-
entschieden sich daher für den schulgeldfreien Oberbau der Volksschu-
rerInnen im staatlichen Schuldienst ihrer Posten enthoben worden.1 Die-
len. 1934 wurde dann jedoch auch für den Oberbau die Schulgeldpflicht
ser aufoktroyierte Personalaustausch lässt sich auch für die Volksschule
eingeführt. Der zu leistende Betrag betrug allerdings nur die Hälfte des
Eduardstraße belegen → Lehrerinnen und Lehrer.
Satzes, der für den Besuch der höheren Schule aufzubringen war.2 Fer-
Inhaltlich zog man gegen politisch „ungeeignete“ Schulbücher zu
ner wurde die zum Teil eingeführte Koedukation aufgehoben, Mädchen
Felde. Sie sollten aussortiert werden. Diese „Bereinigung“ dauerte aller
und Jungen wurden wieder getrennt unterrichtet. Die Volksschule Edu-
dings etwas, war sie doch kostspielig, und entsprechende Lehrbücher
ardstraße hatte den gemeinsamen Unterricht jedoch trotz ihrer Reform-
mussten auch erst einmal geschrieben und gedruckt werden.
orientierung nie eingeführt. Die Umsetzung der nationalsozialistischen Vorstellungen von Schul-
An der Struktur der Schulbildung änderte sich zunächst wenig. Die Volks-
pädagogik und Lehrinhalten hing im Kern von der Bereitschaft des Lehr-
schule war wie vor 1933 mit einer achtjährigen Schulpflicht verbunden
personals ab, diesen Ideen zu folgen
→ Volksschulen
→ Ideologie
im Schulalltag. Wesent-
im Nationalsozialismus. Für besonders Begabte existier-
lich war in dieser Hinsicht die Person des Direktors, der Handlungs-
ten nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Möglichkeiten an weiterführen-
räume zulassen oder verschließen konnte. So gab es nach 1933 durch-
den Schulen. An manchen Volksschulen war der sog. „Oberbau“ einge-
aus Volksschulen, die sich weiterhin an den reformpädagogischen An-
richtet worden, der ab der 7. Klasse, ab dem Schuljahr 1937/38 ab der
sätzen orientierten und die Vorstellungen der Nationalsozialisten nur
6. Klasse, in einem drei- bzw. vierjährigen Durchgang zur Mittleren Reife
teilweise realisierten
führte. Die Volksschule Eduardstraße besaß weiterhin keinen derartigen
die Lehrkräfte der Volksschule Eduardstraße lässt sich dieses Changieren
Oberbau, die Schülerinnen und Schüler konnten aber an umliegende
zwischen Anpassung und in der Regel stillschweigendem, häufig partiel-
Volksschulen wechseln, so z. B. ab 1939 an die Lutterothstraße 78 – 80.
lem Dissens nachweisen, wie mehrere unserer Einträge → Werner Walter
Die Lehrerinnen und Lehrer der Volksschulen mussten sich für diesen
Melchior, → Hermann Hoffmann zeigen.
→ Volksschulen
im Nationalsozialismus.3 Auch für
Zug durch Fachstudien am Institut für Lehrerfortbildung weiterqualifi-
1 Vgl. Hartwig Fiege: Geschichte der hamburgischen Volksschule, Bad Heilbrunn und Hamburg 1970; Lehberger, Reiner; Lorent, Hans-Peter de: Schulen in Hamburg. Ein Führer durch Aufbau und Geschichte des Hamburger Schulwesens, Hamburg 2012, S. 119 – 135.
32
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
2 Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Bd. 1, Hamburg 2010, S. 30 u. 299. 3 Schmidt: Hamburger Schulen, S. 10.
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
33
mestopps für Mitglieder in die Partei. 1933 nach dem Wahlsieg im März war es zu einem Masseneintritt von Hunderttausenden gekommen, den die NSDAP nicht hatte bewältigen können. Erst 1937 gab die Parteileitung wieder Aufnahmeanträge aus. Zum zweiten nahm die Schulbehörde diesen Schritt zum Anlass, ein öffentliches Bekenntnis einzufordern. Sie übte einen verschärften Druck auf die LehrerInnen aus, „Parteigenosse“ bzw. „Parteigenossin“ zu werden. Etwas entschiedener oder opportunistischer hatten sich 4 Lehrer gezeigt, die sich gleich 1933 Hitler ange schlossen hatten: Julius Diemer und Johann von Deessen, über die bis auf ein Foto wenig Material in den Akten enthalten ist; sowie John Spohnholz, der zuvor zwei Jahre arbeitslos gewesen war, und Harald Helwig, den auch noch die nazifizierten „Deutschen Christen“ beeindruckt hatten. Er war neben
→ Friedrich
Stoffregen das zweite Kollegiumsmitglied,
das als „Mitläufer“ in die Kategorie IV eingestuft wurde. Alle a nderen, von denen Entnazifizierungsakten überliefert sind, wurden mit der Kate gorie V „unbelastet“ – nach damaligen Maßstäben – voll rehabilitiert. Im Falle Diemers nützte der frühe Parteieintritt wenig, er wurde als Schulleiter der Averhoffstraße 1934 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. 1942 wurde er wieder reaktiviert und im August 1943 als Schulleiter an Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, 1942 Lehrer Johann von Deessen.
die Mädchenschule Eduardstraße berufen. Diese Position hatte er bis zum 5. Oktober 1944 inne. Das überrascht, denn laut dem damals an der Schule lehrenden Hermann Herzog und anderen Quellen war die Schule
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Personal- und
total ausgebombt und der Unterricht fiel bis Kriegsende aus.5 Es ist mög-
Entnazifizierungsakten von Lehrerinnen und Lehrern der beiden Teil-
lich, dass Diemer in dieser Zeit für einige Stunden täglich die Aufsicht
schulen der Eduardstraße.4 Unser Team hat 52 Lehrkräfte, 25 Lehre-
über die leere Mädchenschule hatte, ähnlich wie sein Kollege König
rinnen und 27 Lehrer, ermitteln können, die irgendwann im Zeitraum
an der Jungenschule. Direktor König, so berichtet Herzog in der Chro-
zwischen dem 31. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 zum Kollegium der
nik zum 50jährigen Bestehen der Schule 1955, saß mutterseelenallein in
Eduardstraße gehört haben. Von 28 von ihnen, 9 Frauen und 19 Männern,
seinem Amtszimmer und bediente das offenbar noch funktionierende
liegen Personal- und/oder Entnazifizierungsakten vor. Unter diesen 28
Telefon.6 Wahrscheinlich war seine Aufgabe, Plünderungen von Bauma-
befanden sich mindestens 22 NSDAP-Mitglieder, darunter 5 Frauen. Die
terial und sonstige weitere Schäden am Gebäude der Stadt zu verhindern.
überwiegende Mehrzahl war 1937 in die NSDAP eingetreten. Dieser Kollektiveintritt erklärt sich zum einen durch die Aufhebung des Aufnah4 Die Akten befinden sich im Staatsarchiv Hamburg in den Beständen 221-11 Ed. sowie 361-3_A.
34
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
5 Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o. O., o. J. vermutlich Hamburg 1955, S. 29 – 30. 6 Ebd., S. 30.
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
35
Anders als die vier Genannten trat der der spätere Schulleiter und
benheit und nationaler Größe erfolgreich war, muss dabei offen bleiben.
erste Chronist der Schule Herzog erst 1941 in die Partei ein. In seinem
Denn leider wissen wir über die SchülerInnen mangels Quellen nur
Entnazifizierungsverfahren gab er an, dass der Druck auf ihn nicht nach-
sehr wenig
gelassen habe und ihm weiteres Widerstreben sinnlos erschien. Zu diesem
Nelki, die als „Halbjüdin“ nach Kriegsende einen Antrag auf Wiedergut-
→ Schülerinnen
und Schüler. Eine Ausnahme ist
→ Gisela
Gefühl von Sinnlosigkeit mag bei Herzog auch beigetragen haben, dass
machung stellte, wobei sie der Eduardstraße ein eher g utes Zeugnis aus-
sich 1941 das NS-Regime auf überwältigendem Erfolgskurs befand und
stellte. Erhalten geblieben sind aber ein
auf einem Höhepunkt in der Gunst der Deutschen. Es hatte halb Europa
ein 1980 entstandenes
besetzt und schickte sich an, auch die Sowjetunion zu unterwerfen.
→ Fotos
→ Gedicht
→ Diktatheft,
ein
→ Aufsatzheft,
eines ehemaligen Schülers sowie
aus dem Schulmuseum Hamburg, aber auch aus P rivatbesitz. Um
Schaut man auf die politischen Affinitäten vor 1933, so waren 4 Leh-
die dennoch vorhandene Informationslücke zu füllen, haben zwei Stu-
rerInnen Mitglieder der SPD gewesen, nämlich die Schulleiter Heinrich
dentinnen aus unserem Team nach ehemaligen SchülerInnen gesucht
Kreutzfeld und
und tatsächlich mit zwei Gesprächspartnerinnen Interviews führen kön-
→ Otto
Wommelsdorff sowie Wilhelm Brasch und Frieda
Happach. Der bis zu seinem Tod 1940 amtierende Direktor der Mäd-
nen → Zeitzeuginnen.
chenschule Friedrich Bödecker war wie beschrieben kurzzeitig in der
Die Kriegsjahre waren wie in allen Hamburger Volksschulen so auch
linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei gewesen und Julius
in der Eduardstraße durch Lehrermangel, Bombenangriffe, Vorkehrun-
Diemer in der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei. Der bis 1947 am-
gen für den
tierende Direktor der Jungenschule Hinrich König war 1906 bis 1907 Teil
räume und viele schulfremde Aufgaben bestimmt. Die Eduardstraße
der ältesten Organisation der deutschen Friedensbewegung gewesen, der
wurde dabei schon im August 1939 wie auch andere Hamburger Volks-
„Deutschen Friedensgesellschaft“. Wie sehr die Schule vor 1933 von dem
schulen zur Ausgabestelle für Lebensmittelmarken.7 Die mannigfalti-
Gedanken der Schulreform getragen war, belegt auch die recht große An-
gen Sammel tätigkeiten, etwa für das „Winterhilfswerk“, wurden nun
zahl derjenigen, die sich vor 1933 in der sozialdemokratisch geprägten
ausgeweitet durch die Suche nach wichtigen Rohmaterialien wie Alt
→ Luftschutz,
Unterrichtsausfall, Fremdnutzung der Schul-
„Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungs-
papier, Altmetallen oder auch Knochen
wesens“, dem führenden Lehrerverein der Hansestadt, engagiert hat-
Aus Letzteren wurde Seife hergestellt, entscheidender war aber nach
ten. Mindestens 12 Lehrkräfte waren den „Freunden“ beigetreten. Die
Kriegsausbruch 1939, dass sie Grundlage für die Produktion von Dyna-
„Gesellschaft der Freunde“ schaltete sich Anfang 1933 zwar auf Druck,
mit (Nitroglycerin) waren. Hinzu kam ab Oktober 1940 die Kinderland-
aber doch aus eigener Initiative gleich und beschloss am 27. April ihren
verschickung, als ganze Klassen, insgesamt vermutlich 150.000 Hambur-
Eintritt in den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), damit waren
ger Kinder, mit ihren Lehrerinnen in vermeintlich bombensichere Ge-
die Mitglieder nun automatisch Teil des NSLB.
biete wie z. B. ins ländliche Bayern oder Holstein, aber auch nach Ungarn
→ Volksgemeinschaft; → Gedicht.
Wie sehr ein Nebeneinander, z. T. aber auch eine Gemengelage von
reisten. Ende August 1942 sollen sich 1.300 Lehrer im Heeresdienst und
nationalsozialistischer Ideologie und traditioneller Wertevermittlung
mehrere Hundert in der Kinderlandverschickung befunden haben. Dies
→ Ausflügen
galt auch für die Eduardstraße → Zeitzeuginnen. In den Lagern versuchte
und Festen an der Volksschule Eduardstraße. Neue
die NSDAP vor allem in Gestalt der → Hitlerjugend einen stärkeren Ein-
den Schulalltag prägte, belegen auch unsere Recherchen zu sowie den
→ Feiern
Feste wie die Sonnenwendfeier im Juni und die Umgestaltung von überlieferten Feiern wie den Turnfesten sollten die Hinwendung zum Nationalsozialismus erleichtern. Ob diese Vergemeinschaftung – seit 1937 unter Ausschluss der jüdischen Mitschüler – durch das Erlebnis von Erha-
36
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
7 Hamburger Neueste Zeitung v. 20.08.1939, S. 10; vgl. auch Hamburger Neueste Zeitung v. 20.09.1939, S. 8.
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
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fluss auf die Kinder auszuüben. Je schwieriger jedoch die Kriegslage für die Deutschen wurde, je weiter die Alliierten auf das Reichsgebiet vorrückten, desto eher holten Eltern ihre Kinder heim. Und auch die Mädchen und Jungen wollten nicht länger im Ungewissen und getrennt von ihren Familien sein. Im Zuge der britischen Luftangriffe Ende Juli 1943 wurde die Schule Eduardstraße schwer beschädigt, und sie wurde wie alle anderen Schulen im Kerngebiet der Stadt geschlossen. Einen Teil der Räume nutzte daraufhin die benachbarte Mützenfabrik von
→ Willy
Sprengfeil. Für viele Kinder
in Eimsbüttel bedeuteten die Bombenangriffe: endgültig schulfrei – bis August 1945. In diesem Monat ließen die britischen Besatzer den Schulbetrieb in mehr oder minder funktionsfähigen Gebäuden wieder starten. Die Schüler der Eduardstraße waren zunächst in der Schule Lutterothstraße, die Schülerinnen in der Schule Schwenckestraße einquartiert, bis die Mädchen, 45 an der Zahl, im Juni 1946, die Jungen 1947 wieder im angestammten Gebäude unterrichtet werden konnten. Bis zur vollständigen, aber immer noch provisorischen Instandsetzung der Schule Eduardstraße sollten aber noch drei Jahre vergehen, bis zum 11. September 1950. 900 Jungen und Mädchen sollen in diesem Jahr die Schule wieder besucht haben.8 Das jetzige Gebäude wurde im Zuge eines umfangreichen Bauprogrammes im Jahre 1957 bezogen. Birthe Kundrus
Archiv Hamburger Schulmuseum, Herkunft: Landesbildstelle Hamburg (Fotograf: Wilhelm Beutler), Signatur: HSM VII Ed.1 – 4, Schule Eduardstraße in Trümmerlandschaft, 08.07.1947.
8 100 Jahre Schule Eduardstraße Hamburg 1905 – 2005, hg. von der Schule Eduardstraße, o. O., o. J., vermutlich Hamburg 2005, S. 14 – 16.
38
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
Zur Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus
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Volksschulen im Nationalsozialismus – Reformpädagogik unter Druck
Mit dem Machtritt der Nationalsozialisten kam es zu etlichen Reformen des Schulwesens, die sowohl dessen Aufbau als auch seine Inhalte betrafen. Ziel war es, demokratische Errungenschaften aus der Weimarer Republik zu eliminieren, um einerseits nationalsozialistische Inhalte wie etwa Rassenkunde zu verankern und überholte Formen der Erziehung wie absolute Disziplin im Unterricht wieder zu stärken, andererseits aber auch personalsparende Zentralisierungen durchzuführen. Dies betraf aufgrund ihrer Anzahl vor allem die Volksschulen. 1933 waren von den 285 öffentlichen Schulen in Hamburg 225 Volksschulen, die von ca. 96.500 Schülern besucht wurden.1 Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937
Archiv Hamburger Schulmuseum: VII Ed 5, Volksschule an der Eduardstraße, Eimsbüttel, Rückseite, aufgenommen im Auftrag der Bau-Deputation, Noch keine Koedukation von Jungen und Mädchen: Die getrennten Eingänge an der Schule Eduardstraße, 19.12.1905.
mit seinen Eingemeindungen der Städte Harburg, Altona, Wandsbek sowie Wilhelmsburg war diese Zahl auf 381 Schulen angewachsen, darun-
tere Schule besucht oder den Oberbau einer Volksschule durchlaufen,
ter 312 Volksschulen mit 127.760 Schülerinnen und Schülern beie iner
um das Abitur zu bekommen. Mädchen und Jungen wurden getrennt un-
Gesamtgröße der Schülerschaft von 148.285. 4.340 Lehrerinnen und
terrichtet, hatten unterschiedliche Eingänge und oftmals auch getrennte
Lehrer unterrichteten die Kinder, von ihnen waren ca. 3.700 an Volks-
Pausenhöfe, so auch in der Volksschule Eduardstraße.
schulen tätig.
Vor 1933 orientierten sich die Schulen eher an dem pädagogischen
Die Volksschule war mit einer achtjährigen Schulpflicht verbun-
Ansatz, den wir heute unter dem Begriff der Reformpädagogik kennen.
den, nach der man mit einem Volksschulabschluss die Schule verlassen
Dabei stand vor allem das humanistische Menschenbild im Vordergrund,
hat. Die ersten vier Jahre besuchten die Kinder die Grundschule und für
welches sich an der individuellen Persönlichkeit des Menschen orien-
die Schuljahre 5 – 8 die Volksoberschule.2 Nach der Volksschule sind die
tierte.3
SchülerInnen entweder direkt ins Arbeitsleben gestartet, haben eine wei-
Doch ab 1933 sollte die Reformpädagogik unter Druck geraten. In den Augen der N ationalsozialisten sollte die Volksschule neben der Hitlerju-
1 Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Hamburg 2010, S. 874 f. 2 Link, Jörg-Werner: Erziehungsstätte des deutschen Volkes – Die Volksschule im Nationalsozialismus, in: Horn, Klaus-Peter; Link, Jörg-W.: Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbronn 2011, S. 79 – 108, S. 79.
40
gend und der Familie ein Teil der Erziehungsordnung sein und gemeindiesen Erziehungsmächten den nationalsozialistischen Mensam mit schen formen. Dies sollte vor allem durch den Unterricht und spezielle 3 Schmidt: Hamburger Schulen, S. 23.
Volksschulen im Nationalsozialimus – Reformpädagogik unter Druck
41
Umgangsformen passieren.4 Die schulische Erziehung sollte also durch Lernangebote und Lebensformen als Hilfe zu einer Entwicklung vorhandener Fähigkeiten auf ein Leben in der → Volksgemeinschaft vorbereiten.
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
Das schulpolitische Credo der Nationalsozialisten war zu der Zeit, die Erziehung am parteipolitischen Programm auszurichten. Dabei standen die körperliche, seelische und geistige Gesundheit und Stärke im Vordergrund, die als Bedingungen der Wehrkraft und Wehrbereitschaft der Jugend betrachtet wurden → Ideologie im Schulalltag.5 Diese Formierung des Schulbetriebs erfolgte durch verschiedene Ge-
Ausflüge, Exkursionen, der Besuch von Museen und Sportveranstal-
setze, Erlasse und Verordnungen, die innerhalb eines sehr kurzen Zeit-
tungen waren schon lange vor 1933 wichtiger Bestandteil pädagogischer
raums in den Jahren 1933/34 von der NSDSP verabschiedet wurden
Arbeit. In der Zeit des NS-Regimes wurden diese Schulveranstaltun-
→ Lehrerinnen und Lehrer. Einige dieser Maßnahmen betrafen den Volks-
gen ideologisch aufgeladen, sie sollten nationalsozialistisches Gedan-
schulalltag unmittelbar, darunter z. B. die Einführung des Hitlergrußes
kengut vermitteln und der paramilitärischen Erziehung dienen. Inwie-
(22. Juli 1933) oder auch der Erlass zur Vererbungslehre und Rassenkunde
weit gab es diese Entwicklung auch an der Eduardschule? Antworten auf
(13. September 1933), die in die Lehrpläne prominent eingeführt wur-
diese Frage geben die Erinnerungen eines ehemaligen Schülers1, vermut-
den.6 „Rassenkunde“ besaß dabei einen besonderen Stellenwert, sollte
lich aus dem Jahre 2004, sowie zeitgenössische Aufsätze einer Schüle-
sie doch nicht nur als gesonderter Unterrichtsinhalt behandelt werden,
rin2 und Hinweise im Konferenz-Protokoll3 der Mädchenschule Eduard-
sondern als unterrichtliches Prinzip alle Fächer durchdringen.
straße. Sie machen deutlich, dass Ausflüge auch nach 1933 den Schulall-
Die Umsetzung der Vorstellungen der Nationalsozialisten hing aller-
tag prägten, dass vermutlich aber für die Schülerinnen und Schüler die
dings von der Bereitschaft des Lehrpersonals ab, sodass es auch nach 1933
durch sie gewonnene Abwechslung und die „freie Zeit“ wichtiger waren
viele Schulen gab, die sich weiterhin an den reformpädagogischen Ansät-
als die o ffenbar nur bedingt von den Lehrern umgesetzte ideologische
zen orientierten und die Vorstellungen der Nationalsozialisten nur teil-
Absicht der „Wandertage“.
weise verfolgten.7 Sophie Wendt
Sportliche Aktivitäten Im Konferenz-Protokoll wird deutlich, dass Ausflüge immer von großer Bedeutung und wichtiger Bildungsbestandteil der Schule waren. Weiter-
4 Apel, Hans Jürgen (Hg.): Die Volksschule im NS-Staat. N achdruck des Handbuches „Die deutsche Volksschule im Großdeutschen Reich. Handbuch der Gesetze, Verordnungen und Richtlinien für Erziehung und Unterricht in Volksschulen nebst den einschlägigen Bestimmungen über Hitler-Jugend und Nationalpolitische Erziehungsanstalten“, Köln 2000, S. XXIX. 5 Ebd., S. XXIX f. 6 Link: Erziehungsstätte, S. 81 f. 7 Schmidt: Hamburger Schulen, S. 10.
42
Volksschulen im Nationalsozialimus – Reformpädagogik unter Druck
hin gab es für die jüngeren Kinder Ausflüge zu Spielplätzen, wie das Foto von Siebtklässlern, heute wäre das die 2. Klasse, aus dem Jahr 1934 belegt. 1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Bericht von Werner Prüter, nach 2004. 2 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Aufsatzheft. 3 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstraße 28, 1932 – 1949.
43
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Kl. 7/1934 Kinderspielplatz am Köhlbrand.
Daneben wurden Klassenfahrten sowie viele Tagesausflüge gemacht. Bewegung und sportliche Aktivitäten spielten dabei eine zentrale Rolle. So wurde in der Konferenz im Oktober 1933 festgelegt, dass es einmal im Monat eine Wanderung geben sollte, „die für Oberklassen eine Leistung zu bedeuten habe“4. Besonders Sportausflüge zum Schwimmen wurden häufig von der Schule unternommen.5 Durch einen Bericht des ehemaligen Schülers Werner Prüter, der sich an seine Klassenkameraden und die Ausflüge seiner Klasse erinnert, wird zudem deutlich, dass Wanderungen, Ausflüge und Sport schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 einen wichtigen Aspekt in der Pädagogik darstellten, an den die LehrerInnen anknüpften.
4 Konferenzbuch, S. 29. 5 Bericht von Werner Prüter, nach 2004, S. 2.
44
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Bericht von Werner Prüter, nach 2004. Das 2. Foto ist von einem Ausflug der Klasse von Prüter in die Harburger Berge im Mai 1934, das 1. Foto ist leider nicht beschriftet.
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
45
So berichtet Prüter von einem sechstägigen Ausflug im Jahr 1932 nach Moorwerder, den der Lehrer Johann von Deessen wenige Jahre nach der Machtübernahme ähnlich wiederholte: „3 – 4 Jahre später machten wir mit Herrn von Deessen die gleichen Ausflüge.“6 Die „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“, eine Vorläuferorganisation der heutigen GEW, hatte die Hamburger Freiluftschule Moorwerder eingerichtet. Aus einem Bericht von Bernhard Mandel, der Vorsitzender dieser Einrichtung war, geht hervor, dass 1933 die Baulichkeiten und Einrichtungen von der NS-Volkswohlfahrt (NSV) übernommen und dem Deutschen Jugendwerk, dem Dachverband der national sozialistischen Jugendorganisationen, zugeteilt wurden.7 Von da an sei es zu e inem ständigen Rückgang der Besucherzahlen gekommen.8 Ganz sicher hatten sich die pädagogischen Ziele in der Zeit des Nationalsozialismus verschoben: Ging es vorher darum, den Kindern Erholung zu ermöglichen, aber vor allem um ein ganzheitliches Lernen in Freude und ohne Schuldruck in der Freiluftschule, so formulierte nun das Amt für Volkswohlfahrt als „Aufgabengebiet der Freilufterziehung: 1. Erziehung zur Gemeinschaft, 2. Körperliche Ertüchtigung, 3. Das Erleben der engeren Heimat.“9 Vielleicht fanden auch die LehrerInnen der Volksschule Eduardstraße Moorwerder weniger attraktiv, denn die Schule, soweit ersichtlich, organisierte keine weiteren Ausflüge mehr.
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Rundflug mit der „Kindermöwe“ über Hamburg 1933.
Ausstellungen
Obwohl die sportliche Erziehung im Dritten Reich mit der Gründung des Referats für Sport im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wis-
Mit der Gründung des oben genannten Referats wurde auch der „För-
senschaft, Erziehung und Volksbildung 1934 institutionalisiert10 und da-
derung des Luftschutzes“11 Nachdruck verliehen. Im Protokoll der Kon-
mit besonders Augenmerk auf den Sport an Schulen gelegt wurde, lässt
ferenz vom Januar 1935 findet sich der Hinweis der Landesunterrichts-
sich im Konferenz-Protokoll keine Steigerung sportlicher Unternehmun-
behörde, dass der
gen an der Mädchenschule Eduardstraße feststellen.
→ Luftschutz
in den Unterricht zu bringen sei: „Es ist
ferner dafür zu sorgen, daß auf allen Stufen und in allen Unterrichtsfächern der Luftschutzgedanke Berücksichtigung findet.“12 Das bedeutete
6 Ebd. 7 1911 – 2011: 100 Jahre Freiluftschule Moorwerder, hg. vom Hamburger Schulverein, Hamburg 2012, Bericht von Bernhard Mandel. 8 Ebd. 9 Faltblatt vom Amt für Volkswohlfahrt, zit. nach: 1911 – 2011: 100 Jahre Freiluftschule Moorwerder, hg. vom Hamburger Schulverein, Hamburg 2012. 10 Fricke-Finkelnburg, Renate: Nationalsozialismus und Schule, Opladen 1989.
46
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
z. B. auch, dementsprechende Ausstellungen zu besuchen, wie eine N otiz in der Lehrerkonferenz über einen Ausflug zu einer Luftschutzausstellung in der Emilie-Wüstenfeld-Schule belegt.13
11 Ebd. 12 Konferenzbuch, S. 5. 13 Ebd.
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
47
Für die Luftwaffe bzw. überhaupt für die Fliegerei sollte durch ein
angefertigt werden, die bis zum 14. Dez. abgeliefert werden müssen.
Programm der Nationalsozialisten, die „Kindermöwe“, die Jugend be-
Kleine Hefte zu 10 Pf. Verkehrsregeln sind zu haben.“17. Gleichermaßen
geistert werden. Das Programm umfasste Rundflüge mit einem von der
war ein Besuch des Hamburger Doms18 Thema im Aufsatzheft.
Lufthansa umgebauten Flugzeug, eben der besagten „Kindermöwe“. Für
Zu bemerken ist, dass die Zahl der Ausflüge anfänglich nicht zurück-
zumindest eine Jungenklasse der Schule Eduardstraße ist einer dieser
ging, obwohl die
Flüge im Bild festgehalten. Die Kinder und einige Lehrer und/oder Väter
ten neben Reisen in Freizeitlager ausrichtete.19 Auch hielt das Konferenz-
hatten sich für ein Erinnerungsfoto vor der Maschine aufgestellt, vermut-
buch am 18. Oktober 1934 fest: „Von 21.10 – 4.11 findet eine Ausstellung
lich am Flughafen Fuhlsbüttel. Der Junge in Uniform war offenbar schon
der Hitlerjugend statt. Der Besuch wird den Klassen empfohlen.“20 So
Mitglied der Hitler-Jugend.
kam es bei den Ausflügen zu einer Konkurrenz zwischen (Volks-)Schulen
→ Hitlerjugend
ebenfalls eine Vielzahl von Tagesfahr-
Museen gehörten ebenfalls zu den Ausflugzielen. Allerdings beklagte
und HJ21, was vermutlich den eigentlichen Schulunterricht weiter redu-
die LehrerInnenkonferenz im Dezember 1934: „Die M useen sollen häufi-
zierte. Wahrscheinlich ging die Zahl der Ausflüge im Krieg zurück, was
ger besucht werden.“14 Auch wenn im Konferenzbuch von Ausflügen häu-
nicht nur mit dem Lehrermangel, sondern auch den neuen Kriegsver-
fig nur unter Mitteilungen an das Lehrerkollegium die Rede und nichts
pflichtungen der Schule und der SchülerInnen wie dem Aufsammeln von
über eine genauere Planung zu erfahren ist, kann man vermuten, dass die
Flugblättern, dem Sammeln von Kleidung oder der Zählung von Fahrrä-
Exkursionen zumindest zum Teil realisiert wurden.
dern zu tun hatte. Insofern ist zu vermuten, dass die Volksschule Eduard-
Eine weitere wesentliche Quelle, die Auskunft über die Ausflüge der Eduardstraße vermittelt, ist das
→ Aufsatzheft
straße im Hinblick auf Ausflüge nicht völlig gleichgeschaltet war.
von Martha G.15 Von
den 19 Aufsätzen des Heftes berichten zwei dezidiert von Tagesausflü-
Anna Baier
gen ihrer Klasse und ein weiterer Aufsatz über einen Ausflug in das Kloster Lüne, das Benediktinerinnenkloster im damaligen Landkreis Lüneburg.16 Mit genauem Blick auf den eben genannten Ausflug wird deutlich, dass in der Schule während des NS-Regimes, das Aufsatzheft ist von ca. 1936, nicht nur typische nationalsozialistische Themen für die Ausflüge gewählt wurden, sondern ebenso die geschichtliche Vergangenheit gelehrt wurde, die nicht von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden war. Auch die anderen Aufsätze über Tagesausflüge lassen erkennen, dass es wertfreiere, weniger stark ideologisierte Ausflüge gab – so der Besuch einer Verkehrsausstellung: „Am 21. Nov. 9.30 Uhr besuchen die Klassen 1 – 4 die Verkehrsschutzausstellung im Zoo. Jede Schule soll ihre Verkehrserziehungswoche geben. Unsere Woche wird vom 21. – 24. Nov. odelle festgesetzt. In dieser Zeit sollen Aufsätze, Zeichnungen und M
14 Konferenzbuch, S. 57. 15 Aufsatzheft. 16 Ebd., S. 13 – 15.
48
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
17 Ebd., S. 18 – 20. Vgl. auch Konferenzbuch S. 71, Protokoll vom 31.10.1935. 18 Ebd., S. 20 – 22. 19 Kollmeier, Kathrin: Erziehungsziel „Volksgemeinschaft“– K inder und Jugendliche in der Hitler-Jugend, in: Horn, Klaus-Peter u. a. (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 34. 20 Konferenzbuch, S. 52. 21 Scholtz, Harald: Schulen unterm Hakenkreuz, in: Dithmar, Reinhard u. a. (Hg.): Schulen und Unterricht im Dritten Reich, Ludwigsfelde 2001, S. 22.
Ausflüge – Fahrten ins Braune ?
49
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung im Schatten des Hakenkreuzes
auch Ziel der Erziehung: „Erziehung geht aus von der Gemeinschaft und mündet wieder in die Gemeinschaft ein.“3, brachte es ein Pädagoge 1933 auf den Punkt. Durch die gemeinsame Teilhabe an bestimmten Veranstaltungen und das Singen von Liedern sollte generell alles Trennende überwunden werden.4 Dies galt besonders für die Schulen. In den im Dezember 1939 herausgegebenen Grundsätzen zur „Erziehung und Unterricht in der Volksschule“ hieß es: „In der Schulfeier tritt die Eingliederung der Schule in die große Volksgemeinschaft am deutlichsten in Erscheinung. Sie bildet den
„Und ich weiß – das mach ich jetzt nicht mehr, aber noch vor
Höhepunkt im Gemeinschaftsleben der Schule und ist deshalb mit
einigen Jahren –: Wurd’ ich so ein bißchen niedergeschlagen, keine
besonderer Liebe und Sorgfalt zu gestalten.“ 5
Depression, aber doch so ein bißchen nach unten, dann hab ich immer automatisch Nazilieder gesunden, dann ist das sofort wie-
Doch Zugehörigkeit hieß auch Ausgrenzung. Da während der Feierstun-
der alles stramm, geradeaus […]. Das ist mir eine gute Medizin
den Uniform getragen werden sollte, fielen jene Schüler auf, die nicht –
gewesen. Weil diese Lieder in mich eingespritzt worden sind wie
oder noch nicht – der Hitlerjugend (HJ) angehörten. Und den jüdischen
eine Droge. Sie wissen, wenn man Heroin nimmt, dann bleibt das
Mitschülern wurde im Juli 1937 die Teilnahme an Schulfeiern ganz ver-
noch ein ganzes Jahr im Blut. Und wenn man unter Nazis aufge-
boten.
bracht worden ist, dann bleiben diese Nazilieder noch für zwanzig, dreißig Jahre im Hirn.“ 1
Das im Kellerarchiv der Volksschule Eduardstraße überlieferte Lehrerkonferenz-Protokollbuch der Mädchenschule für die Jahre 1932 bis 1949 informiert nicht nur über die Gestaltung des Unterrichts, sondern
50
Dieses Zitat des elsässischen Zeichners Tomi Ungerer aus dem Jahre 1981
belegt auch die in der Tat große Rolle, die Feiertage und Feste im Schul-
zeigt auf, wie gerade auch das Lied für Indoktrinationszwecke der Nati-
alltag spielten. Da die Aufzeichnungen erst 1932 beginnen, ist der Ver-
onalsozialisten während bestimmter Feierlichkeiten missbraucht wurde,
gleich zur Zeit der Weimarer Republik schwierig, doch es kann davon
wie stark der Einfluss dieser Indoktrination war und wie lange dieser an-
ausgegangen werden, dass die Zahl der Veranstaltungen ab 1933 deut-
hielt. Die Lieder, aber auch Feste sollten auf emotionaler Ebene die Hal-
lich zunahm. Die neuen Feste, wie die teilweise Umgestaltung von tra-
tungen und Ideen des Nationalsozialismus vermitteln und einprägen.
ditionellen Feiern, sollten das Gemeinschaftsgefühl im und die Zugehö-
Feiern stellen eine durchaus typische Erziehungsform in der Schule dar.2
rigkeit zum neuen politischen System des Nationalsozialismus stärken.
So war die gewollte und gepredigte Gemeinschaft nicht nur Ort, sondern
Die Feste beschworen gerade in den Jahren 1933 bis 1935 die politische
1 Tomi Ungerer in einem Interview mit Judith Prieberg-Mohrmann am 06. Januar 1981, zitiert nach: Spratte, Sebastian: Die Schulfeier und ihre Rolle im Erziehungssystem des Dritten Reichs, in: N iedhart, Gottfried; Broderick, George (Hg.): Lieder in Politik und Alltag des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, Berlin, Bern etc. 1999, S. 133. 2 Ebd., S. 134.
3 Krieck, Ernst: Menschenformung, Grundsätze der v ergleichenden Erziehungswissenschaft, Leipzig 1933, S. 21; zitiert nach: Jung, Michael: Liederbücher im Nationalsozialismus, Frankfurt 1989, S. 60. 4 Spratte, 1999, S. 135. 5 Erziehung und Unterricht in der Volksschule, Halle, Saale, Breslau 1939, S. 7, zit. nach: Spratte, 1999, S. 135.
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
51
Zeitenwende; sie verdeutlichten die Machtergreifung, das Regime und
Gott in Gehorsam gebundene Mensch, der seiner Familie, seinem Volk
die Schule zeigten im wahrsten Sinne Flagge. Ob die Inklusion durch
u. Staat verhaftet ist“9.
Vergemeinschaftung und Erlebnis funktionierte, lässt sich mit den we-
Diese bedingt antichristliche und antikirchliche Haltung des R egimes
nigen Quellen für die Schule Eduardstraße nicht beurteilen. Es wird aber
schloss eine Wertschätzung für bestimmte Kirchenführer wie etwa
deutlich, dass diese ersten zwei bis drei Jahre eine Zeit des Übergangs
Martin Luther nicht aus. Insofern sollte 1933 zum 450. Geburtstag des
waren, in der NSDAP und Bürokratie in Hamburg bzw. im Reich eine
Reformators am 10. November eine Lutherfeier 10 stattfinden. Wiederum
feine Balance zwischen der Teilnahme am Aufbruch in eine neue, mäch-
wurden die Klassen aufgeteilt, die Jüngeren sollten für sich feiern; für
tige Epoche und dem Festhalten an bekannten und geschätzten Traditi-
die mittleren Jahrgänge sollte die Lehrerin Elly Rehse, vermutlich die
onen hielten.
Religionslehrerin, eine Ansprache halten. Die oberen Klassen wurden im
Die einzige vor dem 30. Januar 1933 dokumentierte Feier ist die Verfassungsfeier 6, der Nationalfeiertag der Weimarer Republik am 11. August
Protokoll nicht erwähnt – vielleicht sollten sie zu einer zentralen Feier gehen.
1932. An diesem Tag wurde die 1919 zu den neuen Reichsfarben erklärte
Überhaupt war der Festkalender 1933 für die Schülerinnen der Edu-
schwarz-rot-goldene Fahne gehisst, eventuell, so das Konferenzbuch,
ardstraße gut gefüllt. Am 1. Juli des Jahres fand das Schulfest statt, wel-
auch die Hamburgische Landesflagge. An der Feier selbst nahmen die
ches alljährlich das Ende des Schuljahres vor den Sommerferien einläu-
oberen beiden Abschlussklassen teil, die jüngeren Schülerinnen und
tete.11 Am 18. August wurde dann das erste Turnfest der Hamburger Volks-
Schüler erhielten unterrichtsfrei.
schulen ausgerichtet, an dem sich auch die Volksschule Eduardstraße be-
Das erste Fest nach der Machtergreifung war ein für die Schule ver-
teiligte.12 Den jüdischen Schülerinnen wurde wahrscheinlich zum Laub-
mutlich neues Format, nämlich eine Sonnenwendfeier, welche am 24. Juni
hüttenfest, dem hebräischen Sukkot, eine Befreiung vom Unterricht ge-
1933 stattfand. Mittsommer wurde, so wie auch andere germanische Ritu-
währt, denn in der Konferenz vom 14. September 1933 heißt es, dass diese
ale7, aus ideologischen Zwecken instrumentalisiert, um die ersehnte Ver-
„während ihrer Herbstfeiertage“13 freigestellt würden. Ob die Rücksicht-
bindung zu den schwer rekonstruierbaren Bräuchen der germanischen
nahme in den folgenden Jahren bis 1938, als jüdische Kinder unmittel-
Ahnen herzustellen und diese für politische Zwecke zu instrumentalisie-
bar nach der Reichspogromnacht keine „deutschen“ Schulen mehr be-
ren. Die Sonnenwendfeier hatte schon die Jugendbewegung der 1920er
suchen durften, auch noch galt, kann leider mangels Quellen nicht ge-
Jahre reaktiviert. Nun sollte sie zu einem ganzen Ensemble von Symbo-
sagt werden.
len, Feiern und Kulten gehören, das das Dritte Reich schuf, um sich selbst
Das Jahr 1934 war dann – zumindest laut dem Protokollbuch der Leh-
einen sakralen Charakter zu verleihen und damit die etablierten Kirchen
rerkonferenzen – das Jahr mit den meisten Feiern, s. Diagramm. Es be-
zurückzudrängen. Gleichwohl gehörte auch der Religionsunterricht wei-
gann mit dem ebenfalls neuen Reichgründungsfest am 18. Januar, welches
terhin zum festen Bestand im Schulalltag der SchülerInnen. Doch war
an die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 erinnern sollte.14
auch er nicht vor nationalsozialistischen Zugriffen gefeit. So heißt es im
In dieser schwer zu verbindenden Kontinuität „deutscher Reiche“, vom
Protokoll der Konferenz vom 5. November 1934 zu den Themen im Religionsunterricht etwas kryptisch: „ Christianisierung des Germanentums eine Germanisierung des Christentums.“8 Ziel war d emgemäß der „an 6 Konferenz-Protokolle, S. 2. 7 Zum Beispiel die Wintersonnenwende. 8 Konferenz-Protokolle, S. 54.
52
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
9 Ebd. 10 Ebd., S. 31. 11 Ebd., S. 19. 12 Ebd., S. 22. 13 Ebd., S. 25. 14 Ebd., S. 37.
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
53
Heiligen Römischen Reich deutscher Nation über das Kaiserreich bis
vermutlich vom Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA)19, mit Be-
zum „Dritten Reich“, wollte sich der Nationalsozialismus sehen. Am
richtspflicht der Schulleitung über die durchgeführten Aktivitäten an die
10. März 1934 wurde dann wiederum eine kirchlich-traditionelle Feier
Schulbehörde. Ihm ging es darum, das Bewusstsein der Kinder für die
für die in diesem Jahr 72 Konfirmandinnen zusammen mit den Eltern in
in fremden Ländern wohnenden „Volksgenossen“ wach zu halten. Ab-
der Schule ausgerichtet.15 Für 1933 lässt sich allerdings kein Eintrag im
geschlossen wurde der Festkalender des Jahres 1934 mit traditionellen
Konferenzbuch über eine derartige Festlichkeit finden. Womöglich soll-
Weihnachtsfeiern, welche am 14. und 15. Dezember stattfanden, bei de-
ten die vielen Einträge zu den alten wie neuen Festen auch dokumen-
nen die Besucher mit einem Theaterstück, Das verirrte Weihnachtspüpp-
tieren, dass die Mädchenschule die von Behörden und der NSDAP an-
chen, einem Singspiel und Weiterem unterhalten wurden.20 Zur Feier
gesetzten Veranstaltungen ernst nahm, auch wenn diese manchmal die
der Wintersonnenwende als germanisierte Ausdeutung der Weihnacht
Zeit des eigentlichen Unterrichts verkürzten. Auf das Reformationsfest
konnte sich das Regime weder zu diesem frühen Zeitpunkt noch spä-
im Oktober sollten die Lehrer 1934 möglicherweise lediglich hinweisen,
ter, als es politisch fest im Sattel saß, durchringen. Der Unmut über die-
eine eigene Feier schien nicht geplant.16
sen Ersatz der von der Bevölkerung als schönstes Familienfest empfun-
Wiederum eine Instrumentalisierung eines zurückliegenden Ereignisses war der Kolonialtag, welcher am 24. April begangen wurde.17 Das
denen Feiertage wäre zu groß gewesen. Auch parteiintern wäre mit sehr viel Widerstand zu rechnen gewesen.
Jahr 1934 hatte die NS-Regierung zusammen mit der Koloniallobby zum Kolonialgedenkjahr erklärt, zur Erinnerung an die erste Herrschaft über
Eine Schülergruppe hatte anlässlich der Weihnachtsfeiertage 1934 so-
eine Kolonie in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1884. Die Landesunter-
gar einen Auftritt außer Haus: Sie traten auf einer Weihnachtsfeier der
richtsbehörde hatte im März die Initiative ergriffen und alle Schulen auf-
Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) der Ham-
gefordert, diesen Tag feierlich zu gestalten. Gebilligt wurde dieser Aufruf
burger Wasserwerke auf, einem firmeninternen Zusammenschluss der
durch eine im April folgende Verfügung des Reichsinnenministers. Ziel
NSDAP-Mitglieder. Die NSBO war als eine Art Ersatzgewerkschaft ge-
war es, im Zuge der nationalsozialistischen Lebensraumpolitik das Den-
gründet worden und hatte im Mai 1933 das Hamburger Gewerkschafts-
ken in „Reichen“ und „Kolonialimperien“ in der Schuljugend zu wecken
haus besetzt, das fortan den Namen „Germanenhalle“ trug. Auf Kame-
und zu verbreiten.
radschaftsabenden wurden hier den Arbeitern „Führertreue“ und die
Für den Sommer und Frühherbst waren dann saisongemäß mehrere
Vorzüge einer nationalsozialistisch ausgerichteten „Betriebsgemein-
Sportveranstaltungen angesetzt; so das vermutlich von der Hitler-Jugend
schaft“ schmackhaft gemacht.21 Wie aus einem Zeitungsartikel hervor-
veranstaltete Fest der Jugend am 21. Juni, das mit der Sonnenwendfeier
geht, folgte die Weihnachtsfeier dem üblichen Muster: Nachdem der
zusammenfiel, ein Staffellauf am 23. August sowie ein nicht näher be-
Leiter der NSBO-Betriebsgruppe, „Pg.“ (Parteigenosse) Carl Prueß, die
stimmtes „großes Turnfest“ am 2. und 9. September. In der Konferenz
Kollegen begrüßt hatte, hielt Max Conrad Stavenhagen eine Rede – ihn
vom 18. Oktober 1934 ist die Rede von einem weiteren Sportfest, dem
hatten die Nationalsozialisten als strammen Deutschnationalen im Juli
Fest der deutschen Schule.18 Ins Leben gerufen wurde diese Veranstaltung 15 Ebd., S. 38 u. S. 40. 16 Ebd., S. 52. 17 Ebd., S. 43. Ein solcher Tag hatte auch schon im Jahr 1924 stattgefunden. 18 Ebd., S. 52.
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Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
19 Der VDA wurde ab 1933 als Volksbund für das Deutschtum im Ausland gleichschaltet. 20 Konferenz-Protokolle, S. 55 u. S. 58. 21 Templin, David: Wasser für die Volksgemeinschaft. Wasserwerke und Stadtentwässerung in Hamburg im „Dritten Reich“, München/ Hamburg 2016, S. 67 f.
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
55
täten an den Schulen gewinnen, nicht zuletzt, um diese zu kontrollieren. Die erste erwähnte Feier des Jahres war eine Schulfeierstunde zu Ehren Bachs, Händels und Schütz’.25 Waren die drei Komponisten bislang vor allem vom Bildungsbürgertum mit Veranstaltungen gewürdigt worden, versprach der Nationalsozialismus, diesen angeblich elitären „Dünkel“ aufzuheben und volkstümliche Feste zu organisieren, die zeigHamburger Nachrichten v. 20.12.1934, Abendausgabe, Erste Beilage, S. 11.
ten, dass die „unsterblichen Meister“ auch „der Durchschnittsbevölkerung“26 Hochgenuss bieten konnten. Diese Idee griff die Mädchenschule im Arbeiterbezirk Eimsbüttel offenbar gerne auf. Dass Kultur aber auch
1933 zum neuen Direktor ernannt.22 Anschließend folgte der lockere Teil
zweitrangig sein konnte, vor allem gegenüber dem Sport, wurde bei dem
des Abends. Diesmal sorgte neben der eigenen Werkskapelle auch eine
Schulsportfest am 6. und 7. November 1935 deutlich. Eigentlich fiel der
Schülergruppe der Volksschule Eduardstraße für Unterhaltung, die, ange-
7. November auf den Gedenktag für den plattdeutschen Schriftsteller
leitet durch den Kunst- und Musikpädagogen
Wommelsdorf, ein
Fritz Reuter, jedoch wurde dieser kurzerhand zu Gunsten der Veranstal-
Theaterstück aufführte. Wie die Verbindung zu den Wasserwerken ent-
tung um einen Tag verschoben.26 Begleitet wurde der Gedenktag von vor-
stand, ist unklar; denkbar wäre, dass ein Elternteil dort arbeitete und den
getragenen plattdeutschen Geschichten. Der 21. November 1935 war auf
Schülern so einen Auftritt verschaffte.
Veranlassung der Reichsmusikkammer als Tag der deutschen Hausmusik
→ Otto
Auf der Konferenz vom 13. April 1934 wurde beschlossen, bei der Landesunterrichtsbehörde zu erfragen, ob nationale Feiern wie Hitlers
festgesetzt. Er sollte vor allem in den Volksschulen das häusliche Musizieren wiederbeleben.
Geburtstag am 20. April, der Tag der Arbeiterbewegung am 1. Mai, der
Anfang 1936 fanden erneut eine Konfirmandenfeier27 und der Kolo
„Deutsche Erntedank“ am 1. Oktober oder der Gedenktag an den Marsch
nialtag28 statt. Auch im März 1937 wird eine Konfirmandenzeremonie er-
auf die Feldherrnhalle am 9. November während der Unterrichtszeit in
wähnt.29 Sie war für dieses Jahr die einzige Feier, die das Protokollbuch
der Schule via Rundfunk mitgehört werden dürften.23 Man könnte ver-
verzeichnete. Ein für den März 1938 geplanter Elternabend, welcher der
muten, die Lehrer wollten die Identifikation mit der neuen Regierung
plattdeutschen Sprache gewidmet sein sollte, konnte nicht stattfinden,
durch die Übertragung solcher Feste stärken. Möglicherweise aber woll-
da die Anmeldefrist für die Veranstaltung nicht eingehalten worden
ten sie auch die Pläne der Schulbehörde zumindest ein Stück weit durch-
war.30Aus diesem Grund beschloss das Kollegium, während der Schulent-
kreuzen und den Unterrichtsausfall durch die modernen und von den
lassungsfeier am 17. März ein niederdeutsches Gedicht verlesen zu lassen.
Nationalsozialisten eifrig propagierten „Volksempfänger“ begrenzen: Schließlich bedeutete jeder dieser Tage „schulfrei“. 1935 wurde in der Konferenz vom 28. Februar mitgeteilt, dass ab sofort alle Schulfeste vom Oberschulrat genehmigt werden mussten.24 Die Schulverwaltung wollte vielleicht einen Überblick über die Festivi-
22 Ebd., S. 54. 23 Konferenz-Protokolle, S. 43. 24 Ebd., S. 65.
56
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
25 Ebd., S. 66. 26 Zit. nach Elfie Rembold, Die Geburt der „deutschen Volksseele“ aus dem Geiste deutscher Barockmusik. Das Reichsbachfest in der Musikstadt Leipzig 1935, in: Adelheid von Saldern (Hg.): Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935 – 1975), Stuttgart 2005, S. 126 – 127. 27 Ebd., S. 72. 28 Ebd., S. 75. 29 Ebd., S. 79. 30 Ebd., S. 89.
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
57
9,0
völkischen“ Weihnachtsfeier beendet werden, für die zwei Lehrer, der
8,5
mit dem Nationalsozialismus offenbar sympathisierende Werner Mel-
8,0 7,5
chior sowie Hermann Mahnken, Lieder einübten bzw. ein Märchenspiel
7,0
vorbereiten ließen.34
6,5
Nach 1938 ist in keiner der protokollierten Konferenzen mehr die
6,0
Rede von Festen. Inwieweit hier der 1939 vom Deutschen Reich begon-
5,5 5,0
nene Krieg Einfluss nahm, ist nicht genau zu sagen. Es ist jedoch wahr-
4,5
scheinlich, dass er den Schulablauf und damit auch die Feiergestaltung
4,0
änderte. Zu vermuten ist zudem, dass die Hitlerjugend und der Bund
3,5
Deutscher Mädel mit steigendem Einfluss während der 1930er Jahre be-
3,0 2,5
stimmte Veranstaltungen übernahmen und die Volksschule hierbei ab-
2,0
lösten.
1,5 1,0
Nikolas Aleksander Paul
0,5
45 19
44 19
43 19
42 19
41 19
40 19
39 19
38 19
37 19
36 19
35 19
34 19
33 19
19
32
0
Anzahl der Veranstaltungen
Auf der Konferenz am 1. Juli 1938 wurde beschlossen, dass das Schulfest am 3. September stattfinden solle.31 Für den 9. November, der an Hitlers Putsch im Jahre 1923 als angeblichen Auftakt der Machtergreifung erinnern sollte, wurde eine ausschließlich für die „Oberklassen“ stattfindende Schulfeier angesetzt.32 Für die erneut veranstaltete Feier am Tag der deutschen Hausmusik im November wurden kostenlose Eintrittskarten vergeben; jedoch wurde an den Schulfesten auch verdient, wie die Konferenz vom 15. Oktober klarmacht, bei der auf einen Überschuss von immerhin 399,35 RM33 hingewiesen wurde. Dass die Mädchenschule sich von dem germanisierten Brauchtum nicht unbeeinflusst zeigte, wurde im Oktober 1938 deutlich. Das Jahr sollte nämlich mit einer „deutsch-
31 Ebd., S. 93. 32 Ebd., S. 95. 33 Ebd., S. 96.
58
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
34 Ebd., S. 95.
Feiern und Feste – willkommene Abwechslung ...
59
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
Im Gegensatz zu anderen → Schülerinnen und Schülern ist von der Schülerin Margot Güers nicht nur ein Schülerbogen oder Gesundheitszeugnis, sondern eine größere Auswahl an Schulmaterialien erhalten. Darunter fallen einige Schulbücher, Zeugnisse, Sporturkunden sowie zwei Hefte aus dem Deutschunterricht, eines mit
→ Diktaten
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Aufsatzheft von Margot Güers, Titelbild.
und eines mit
Aufsätzen. Das Aufsatzheft bietet als einziges im Archiv erhaltenes Dokument, das von einer Schülerin selbst verfasst wurde, nicht nur wie das Diktatheft einen Einblick in die Themen des Unterrichts, sondern auch Anhaltspunkte für die persönliche Denkweise einer Schülerin. Diese müs-
schrieben1. Da die Aufsätze nummeriert sind und die Zählung nach dem
sen nicht zwangsläufig ihre eigene Meinung widerspiegeln, sondern wa-
Aufsatz mit der Nummer 19, wobei einige Nummern ausgelassen wer-
ren (auch) auf die Erwartung des Lehrers zugeschnitten. Wie stark die
den, erneut beginnt, ist es wahrscheinlich, dass das Heft über zwei Schul-
ideologische Erziehung die Schulkinder geprägt hat, lässt sich also an
halbjahre um das Jahr 1936 geführt wurde. Auch ein Aufsatz anlässlich
diesem Dokument nicht abschätzen. Außerdem handelt es sich um das
der Verkehrserziehungswoche vom 21. – 24. November weist auf diesen
einzige Aufsatzheft im Archiv der Eduardstraße, sodass kein Vergleich
Zeitraum hin. Für diese Veranstaltung wurde die Anfertigung von Aufsät-
mit den Texten anderer Schüler möglich ist.
zen, Modellen und Zeichnungen auf einer Lehrerkonferenz beschlossen.2
Im Heft enthalten sind 19 Aufsätze, die meist kurz gehalten sind
In mehreren Konferenzen wurde auch die konkrete Anzahl der Aufsätze
und häufig weniger als 200 Wörter umfassen. Aufsätze zu Ausflügen
festgelegt, im Jahr 1933 wird in zwei Protokollen ein 14-tägiger Rhythmus
oder besonderen Anlässen sind tendenziell ausführlicher und länger
vorgegeben, zwei Jahre später beschloss man eine Gesamtzahl pro Schul-
als Aufsätze zu anderen Themen. Die einzelnen Aufsätze sind nicht da-
jahr von 20 Aufsätzen.3
tiert, allerdings werden die Olympischen Spiele 1936 zweimal thematisiert und ein Text in Briefform wurde mit „Hamburg d. 11.2.36“ über1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Aufsatzheft, S. 29.
60
2 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949, S. 30 – 31. 3 Ebd., S. 11, 16, 18, 37.
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
61
Während sie das Heft führte, war die Schülerin Margot etwa 14 Jahre
Ebenfalls eher schlecht bewertet wurde der Aufsatz „Tod in Ähren“,
alt, ein Jahr später erhielt sie ihr Abschlusszeugnis.4 Ihr Klassenlehrer
bei welchem offensichtlich das gleichnamige Gedicht von Detlev von
Stoffregen, der zeitweise auch stellvertretender Schul-
Liliencron als Vorlage diente.8 Das Gedicht handelt von einem verwun-
leiter der Mädchenschule war. Durch einen Aufsatz über einen Besuch
war
→ Friedrich
deten Soldaten, der nicht auf dem Schlacht- sondern im Kornfeld seinen
des Hamburger Doms ist auch die Klassengröße bekannt: 35 Mädchen
Verletzungen erliegt. Im Aufsatz von Margot wurde jedoch der Inhalt an-
wurden gemeinsam unterrichtet5, wobei auf → Fotos anderer Klassen der
ders und um einige Sätze ergänzt wiedergegeben, sodass sich das Gedicht
Schule teilweise noch mehr SchülerInnen abgebildet sind. Diese Anzahl
nicht mehr reimte.
war also nicht unüblich.
Trotz der Beschlüsse der Lehrerkonferenzen finden sich nur in we-
Den Zeugnissen und auch dem Aufsatzheft ist zu entnehmen, dass
nigen Aufsätzen klare Anzeichen eines nationalsozialistisch gepräg-
Margot eine Schülerin mit überwiegend guten Noten war; beinahe alle
ten Unterrichts. Lediglich drei aufeinanderfolgende Texte lassen solche
Texte wurden mit „sehr gut“ bis „befriedigend“ benotet. Lediglich der
Schlüsse zu. Der erste beschäftigt sich mit Schillers „Wilhelm Tell“. Schü-
Aufsatz „Kitsch“ wurde mit „ausreichend“ bewertet. Dieser Text befasst
lerinnen der Volksschule Eduardstraße hatten 1933 eine Vorstellung des
sich mit Hakenkreuzen auf zahlreichen Gegenständen, die dadurch ver-
zunächst bei den NS-Kulturbürokraten recht beliebten Stücks besucht.9
schönert werden sollten. Margot bezeichnete dies mehrfach als Kitsch
Das Werk wurde von den Nationalsozialisten schon früh zu Propagan-
und schreibt:
dazwecken instrumentalisiert.10 So wurde der Rütlischwur auf die Volksgemeinschaft bezogen und von der eigentlichen Aussage des Werks ent-
„Alles, was anders[,] besser oder mehr erscheinen will, ist Kitsch.
fremdet. 1941 wurden jedoch auf Anweisung Hitlers jegliche Aufführung
Broschen, Ohrringe, Ketten und Ringe zu tragen, worauf das
sowie die Behandlung des Stücks in Schulen verboten, was auch Schulbü-
Hakenkreuz zu sehen ist.“ 6
cher betraf. Bei Neuauflage oder neuer Herausgabe mussten Kernsprüche aus Schillers Tell entfernt werden. Gründe für das strikte Verbot sind
Ob die schlechte Benotung sich auf den Inhalt oder den Ausdruck des
trotz des umfangreichen Briefwechsels zwischen Parteifunktionären,
Textes bezieht, ist unklar. Dabei ist der Text nicht etwa als Kritik am Re-
den das Thema auslöste, nicht überliefert. Jedoch gelten der im Stück
gime zu lesen. Die Regierung selbst hatte bereits am 19. Mai 1933 das
thematisierte, moralisch gerechtfertigte Tyrannenmord sowie die darge-
„Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole“ erlassen, das verbot, „die
stellte Teilung eines Reichs, die nicht mit Schmerz, sondern mit Freude
Symbole der deutschen Geschichte, des deutschen Staates und der na-
aufgenommen wird, als zentrale Motive.11
tionalen Erhebung Deutschlands öffentlich in einer Weise zu verwenden, die geeignet ist, das Empfinden von der Würde dieser Symbole zu verletzen.“7 Die Regierung versuchte so, die schnell entstandene Flut an Dekorationen mit dem Konterfei Hitlers oder dem Hakenkreuz einzudämmen. In diesem Punkt war sich Margot also mit der Regierung einig. 4 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abschlusszeugnis Margot G., S. 1. 5 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Aufsatzheft, S. 20. 6 Ebd., S. 6. 7 Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole, 19.05.1933, Reichs gesetzblatt 1933, S. 285 f.
62
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
8 Liliencron, Detlev von: Tod in Ähren, in: Conrady, Karl Otto (Hg.): Der Neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf 2000, S. 517. 9 Konferenzbuch, S. 6. 10 Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Reclam XL – Text und Kontext, Stuttgart 2013, S. 160. 11 Vgl. Ruppelt, Georg: Hitler gegen Tell. Vor fünfzig Jahren: Der Kampf des Führers gegen Schiller, in: Die Zeit Nr. 41, 1991, URL: https://www.zeit.de/1991/41/hitler-gegen-tell (eingesehen am 19.10.2018).
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
63
Ebenfalls mit einem Zitat aus Schillers Wilhelm Tell überschrieben ist ein weiterer Aufsatz. Der Text: „Greif an mit Gott! Dem Nächsten muss man helfen“ beschäftigt sich mit dem sogenannten „Eintopfsonntag“, der 1933 eingeführt wurde, um Spenden für Hilfsbedürftige zu sammeln. Zu diesem Zweck wurden alle Haushalte aufgerufen, sich zwischen Oktober und März an jeweils einem Sonntag im Monat auf ein Eintopfgericht zu beschränken und das dadurch ersparte Geld an das Winterhilfswerk zu übergeben, auch aus Solidarität mit den „armen und leidenden Deutschen Volksgenossen“, wie Margot dazu schrieb. Die Schülerin lobte abschließend das große Werk ihres „Führers“, der so vielen D eutschen Arbeit und Brot gegeben habe. Zwar diente auch diese ropaganda und wurde vom NS-Regime gezielt zur Stärkung Aktion der P der
→ Volksgemeinschaft
genutzt, Margot jedoch beschrieb die Spen
densammlungen positiv als Errungenschaft und zeigte sich beeindruckt, wie schnell die Arbeitslosigkeit der frühen 1930er Jahre verschwunden schien. Auch dem Versailler Friedensvertrag wurde ein Aufsatz gewidmet. Schon aus den Protokollen der Lehrerkonferenzen geht hervor, dass der Beschäftigung mit dem „Versailler Diktat“ 12 ein besonderer Stellenwert zukam. Bereits am 20. Juni 1933 wurde die Mitteilung bekanntgegeben, dass am 28. Juni, dem Jahrestag der Unterzeichnung, „in würdiger Form auf die Bedeutung dieses Tages hinzuweisen u. halbstock zu flaggen sei“13, ein symbolisches Zeichen der Staatstrauer. Auf der Konferenz vom 26. September 1934 wurde das Thema „Versailles als Quelle unseres Unglücks“14 von Schuldirektor Bödecker als Unterrichtsthema vorgeschlagen. Ein Gebiet, auf dem die NSDAP die Annullierung des Vertrages forderte, waren die Kolonien, die das Deutsche Reich mit dem Vertrag verloren hatte. Die Nationalsozialisten führten den Kolonialkult durch Denkmäler, Schriften und die Huldigung einzelner für den Aufbau der ieser Kolonien zentraler Persönlichkeiten fort.15 Auch in der Schule fand d 12 Konferenzbuch, S. 19. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 50. 15 Speitkamp, Winfried: Deutsche Kolonialgeschichte, 3. Auflage, Stuttgart 2014, S. 172.
64
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Aufsatzheft, S. 34, Nr. 18, „Warum müssen wir unsere Kolonien wieder haben?“
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
65
Revisionismus seinen Ausdruck. Margot G. sollte in einem Text etwa die tendenziöse Frage beantworten, warum „wir unsere Kolonien wiederhaben“ müssen.
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
In ihrer Argumentation zeichnet sich deutlich eine indoktrinierte Meinung ab: Deutschland habe zu wenig Raum, die fruchtbaren Böden der ehemaligen Kolonien würden den Handel erneut aufblühen lassen und die Selbstversorgung Deutschlands sichern, außerdem sei er die Ursache für das Auswandern vieler Deutscher in die USA.16 In diesem Aufsatz wird besonders an seiner Anspielung auf den fehlenden „Lebensraum“ für die „germanische Rasse“ deutlich, wie die Geschichte Deutsch-
Aus moderner pädagogischer Perspektive sind Diktate eine veraltete
lands gezielt aus nationalsozialistischer Perspektive behandelt wurde.
Methode. In vielen deutschen Bundesländern wurden sie längst aus den
Der überwiegende Teil der 19 Aufsätze jedoch ist nicht so deutlich
Lehrplänen verbannt. „Über die Rechtschreibkompetenz eines Kin-
ideologisch geprägt. Stattdessen schrieb Margot beispielsweise über
des“ gäben sie nämlich „nur bedingt Auskunft“1, wie der „Focus“ berich-
den Garten ihrer Familie in Niendorf, einen schlechten Traum, in dem
tete. Jedoch, so ein pädagogischer Verlag, sei das regelmäßige Schreiben
sie Einbrecher hörte, Schulausflüge zum Hamburger Dom sowie zum
von Diktaten „eine Konzentrationsübung, die zugleich diszipliniert und
Lüneburger Kloster oder auch über die Nachtarbeit im Hafen. Die Texte
beim Einprägen von Wörtern und Sätzen auch sprachliche Elemente ver-
haben häufig einen regionalen oder persönlichen Bezug. Margot konnte
mittelt“2. Wie dem auch sei: An der Volksschule Eduardstraße in Ham-
sehr detailgetreu die Hafenarbeit darstellen und kannte die entsprechen-
burg-Eimsbüttel wurde in den 1930er Jahren wöchentlich ein Diktat im
den Fachbegriffe. Dies deutet darauf hin, dass typisch hamburgische
Unterricht geschrieben.3
Themen wie der Hafen auch im Unterricht eine Rolle spielten. Ansons-
Eines dieser Diktathefte ist überliefert. Es wurde 1934 von der Schü-
ten aber ging es um ihre eigene Lebenswelt, die nicht politisiert war und
lerin Margot Güers verfasst und mit der Aufschrift „Diktatheft“ gekenn-
auch für die Aufsätze nicht politisiert werden musste.
zeichnet.
Die explizit nationalsozialistische Erziehung, wie sie laut den Kon-
Margot Güers war 1922 geboren und besuchte die Schule von 1929
ferenzprotokollen angestrebt war17, ist in dem Aufsatzheft von Margot
bis 1937. Ihre Zeugnisse zeigen, dass sie eine gute Schülerin war und sehr
G. kaum zu erkennen. Nur wenige vorgegebene Themen enthalten da-
sportlich, u. a. machte sie im Rahmen des Schulunterrichts ihren Fahr-
für die entsprechende Grundlage. In diesem Nebeneinander von kindli-
tenschwimmer, was eine halbe Stunde Schwimmen ohne Unterbre-
cher Lebenswelt und beschränkter Indoktrination bietet das Dokument
chung umfasste.4 Die Lehrkraft in diesem Unterricht war
→ Friedrich
einen guten Einblick in den Deutschunterricht an der Mädchenschule Mitte der 1930er Jahre. Laura Gaudlitz
16 Aufsatzheft, S. 36. 17 Konferenzbuch, S. 21.
66
Das Aufsatzheft – mit Schiller zum Eintopfsonntag
1 Scheufler, Simone: Diktate abschaffen, 10.01.2011, URL: https:// www.focus.de/familie/schule/paedagogik/diktate-abschaffen-schule_ id_1993525.html (zuletzt eingesehen am 11.07.2018). 2 Karin Pfeiffer: Sinn oder Unsinn von Diktaten, 08.04.2009, https:// www.stolzverlag.de/de_blog_ permalink_301.html (zuletzt eingesehen am 11.07.2018). 3 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i.F.: Konferenzbuch), S. 20. 4 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Zeugnisse von Margot Güers.
67
gungssätzen, Kommasetzung oder Anführungsstriche gehörten zur täglichen Routine. Einige Diktate sind auffallend einfach wie zum Beispiel ein Diktat, in welchem die Kinder Anführungsstriche anhand der Geschichte eines Kaufmanns einüben sollten. Andere Texte jedoch wie zum Beispiel „Der westfälische Hofschulze“ schienen bewusst als Ziel zu haben, die Kinder an ihre Grenzen stoßen zu lassen. In dem genannten Text, welcher deutlich mehr unbekannte und überwiegend fachspezifische Wörter enthält, machte die Schülerin besonders im Fortsetzungsteil5 des Diktates auffällig viele Fehler.6 Das erste Diktat war jedoch ein thematisches, betitelt: „Unser Führer“. Es wurde am 20. April 1934 zum 45. Geburtstag Adolf Hitlers geschrieben. Wie sich aus dem Titel schon schließen lässt, behandelt der Inhalt, der in zwei Teile geteilt ist, Werdegang und politische Motivation Adolf Hitlers bis zur Novemberrevolution 1918. Besonderes Augenmerk legt das Diktat auf die vermeintliche Nähe des „Führers“ zur ArSchule Eduardstraße, Kellerarchiv, Diktatheft von Margot Güers, Titelbild.
beiterschaft: Die Arbeiter „kannten kein Vaterland und kein Volk, wollten keine Religion und kein Gesetz. Das alles erschütterte ihn tief, und er dachte viel darüber nach wie man dem Arbeiter helfen konnte.“7 In der Fortsetzung wird dann an die Meldung Adolf Hitlers als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg erinnert. An der Front wäre ihm nämlich klar gewor-
Stoffregen, wie sich der Unterschrift entnehmen lässt, die der in einem
den, „daß der Arbeiter, welcher jetzt das Leben für sein Vaterland ein-
ebenfalls im Archiv befindlichen
entspricht, das ebenfalls
setzte, auch in Friedenszeiten das Recht haben mußte, von allen Volks-
von Margot Güers stammte. Eine Note wurde für die Arbeiten nicht ge-
genossen geachtet zu werden.“8 Ein Jahr nach der Machtergreifung ist
geben, lediglich die Fehleranzahl ist bei allen Diktaten vermerkt.
der Deutschunterricht zumindest zum Teil schon auf das NS-System um-
→ Aufsatzheft
Das Diktatheft ist jedoch vor allem deshalb interessant, weil es
gestellt, wenngleich hier alte Traditionen, nämlich das Schreiben von
das einzige Dokument ist, das unmittelbar Einblicke in die Inhalte des
Hagiographien auf das Staatsoberhaupt – z. B. „Unser Kaiser“ zwischen
Unterrichts erlaubt. Denn die Lehrinhalte werden in der Diktatform
1871 und 1918 – aufgenommen wurden. Den Kindern, überwiegend aus
praktisch unverändert wiedergegeben. Welche Themen spielten also
Arbeiter- und Handwerkerhaushalten kommend, vermittelte dieses Dik-
1934 im Deutschunterricht eine Rolle? Drei Inhalte stechen besonders
tat das Bild eines fürsorglichen Kanzlers, der sich endlich – und nicht zu-
hervor: der Führerkult, der Nationalismus sowie das Sparen. Diese eher
letzt durch das Erweckungserlebnis des Weltkrieges – der Mehrheit der
ideologisch aufgeladenen Themen bilden aber nur die Minderheit unter den insgesamt 24 Diktaten. In der Mehrheit der Diktate ging es nämlich um Übungen zur Rechtschreibung. Bei einigen Diktaten handelt es sich um einfache Grammatik übungen. Konjugationsschemata, Übungen zur Benutzung von Beifü-
68
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
5 Einige der Diktate bestehen aus zwei oder mehr Teilen, welche an verschiedenen Tagen geschrieben wurden. 6 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Diktatheft, S. 20. 7 Ebd., S. 1. 8 Ebd.
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
69
Gesellschaft annähme, nämlich der Arbeiterschicht. Sie allerdings galt es aus der Perspektive des Regimes in der Tat noch zu gewinnen, hatte die NSDAP in den letzten freien Wahlen weder im Reich noch in Hamburg eine Mehrheit erzielt. In der Hansestadt hatten im November 1932 27,2 % und selbst im März 1933 auch nur 38,8 % die Partei Hitlers gewählt; immer noch gingen mehr Stimmen an SPD und KPD. Ob Stoffregen das Schreibstück selbst konzipiert, er eine Vorlage benutzt oder die Schulbehörde dieses Diktat vorgegeben hatte, ist dabei leider nicht bekannt. Doch nicht nur dem „Führer“ wurde an der Volksschule Eduardstraße Treue versprochen. Auch die Liebe zum „Vaterland“ wurde vom Lehrer diktiert. Aufhänger waren dabei politische Tagesereignisse wie der „Saarkampf“, den die Nationalsozialisten mit sehr viel Propaganda führten. Nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg war das Saarland Mandatsgebiet des Völkerbundes geworden. Wie im Versailler Vertrag vorgesehen, sollte am 13. Januar 1935 unter Aufsicht des Völkerbunds eine Volksabstimmung stattfinden. Die NSDAP versuchte, diese Wahl und damit das Saargebiet mit allen Mitteln (wieder) zu gewinnen.9 Stoffregen nahm nun das Saarlied als Grundlage des Diktats mit der Strophe: „Deutsch schlägt das Herz, stets sonnenwärts, und deutsch schlug´s als uns auch das Glück gelacht, und deutsch schlägt es auch in Leid und Nacht.“10 Der Text machte den Schülerinnen klar, dass sie für immer dem „Vaterland“ durch Geburt und Familie verbunden wären und ein Entkommen nicht möglich wäre. Mit der Pointe: „Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohnen Armut und Mühe mit dir: Du mußt das Land ewig lieb haben“11 wurde der auf die Kinder ausgeübte Zwang zur Loyalität unmissverständlich deutlich. Fraglich bleibt allerdings, ob sich die Mädchen von der Elbe so intensiv wie gewünscht mit dem fernen Saarland identifizieren konnten. Das Diktat Nummer acht behandelte dann im Oktober 1934 das Sparen. 1925 hatte der Internationale Sparkassenkongress in Mailand als Reaktion auf die Geldentwertung nach dem Ersten Weltkrieg den
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Diktatheft von Margot Güers, S. 1, „Unser Führer“.
70
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
9 Ebd., S. 14. 10 Ebd. 11 Ebd.
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
71
Weltspartag am 30. Oktober ausgerufen. Er sollte jedes Jahr stattfinden,
hausen geschrieben, basierte ein weiteres Diktat: „Der westfälische Hof-
die NS-Regierung benannte diesen Tag um in den „Nationalen Spartag“.
schulze“. Dieses Kapitel aus Münchhausen fand in deutschen Lesebü-
Schon in der Weimarer Republik hatten sich die Aufrufe zum Sparen be-
chern immer wieder Verwendung. Ein starker, brachialer Mann, der sein
sonders an Kinder und Jugendliche gerichtet, hieran knüpften die Schu-
Handwerk versteht, sich ebenso robust wie zuverlässig der Arbeit zuwen-
len nach 1933 an. Der „Spruch“12 forderte die Schülerinnen explizit zum
det und das Eisen im Feuer schmiedet, stand hier im Mittelpunkt.
Sparen auf, und selbst Friedrich von Schiller musste für einen Lehrsatz herhalten: „Erspart ist so gut wie gewonnen“13.
Andere Diktate widmeten sich kleinen „Lebensweisheiten“, Liedertexten, Märchen und Aphorismen. Ein Diktat informierte beispielsweise
Die anderen Diktate griffen ganz auf den bildungsbürgerlichen Kanon
über „Giftpflanzen“19 wie den Schwarznachtschatten oder den Garten-
des 19. Jahrhunderts zurück. In Diktat Nummer drei14 zum Beispiel geht
schierling und deren mögliche Gefahren, ein anderes widmete sich e iner
es eigentlich um Anführungsstriche. Die Satzzeichen wurden am Bei-
Strophe aus dem 1878 erschienenen Volkslied „Nun will der Lenz uns
spiel des antiken Mythos „Herkules am Scheideweg“15 eingeübt. Stoffre-
grüßen“20. Auch die Gebrüder Grimm waren mit einem Märchen, näm-
gen hatte den Text nach einem 1852 zuerst erschienenen Lehrbuch dik-
lich „Der Nagel“21 vertreten. Der sehr nationale Ernst Moritz Arndt mag
tiert, das bei Lehrern überaus beliebt und 1928 in 37. Auflage erschienen
mit einem Aphorismus aus seinem „Katechismus für den deutschen
war.16 Der junge Herkules muss gemäß der griechischen Götterlehre eine
Kriegs- und Wehrmann: worin gelehret wird, wie ein christlicher Wehr-
Entscheidung zwischen den Göttinnen Aphrodite und Athene treffen.
mann sein und mit Gott in den Streit gehen soll“ die Zustimmung der
Aphrodite steht dabei für ein lasterhaftes, Athene für ein tugendhaftes
Hamburger Schulaufsicht gefunden haben, stammte aber ebenfalls mit
Leben. Im Text verlangt Athene „Arbeit und Gehorsam“17 von Herkules,
seinem Erscheinungsdatum 1813 aus dem frühen 19. Jahrhundert.
im Gegenzug erhalte er „Unsterblichkeit [,] Ehre und Ruhm bei den Göt-
Zusammenfassend ist für das Heft zu sagen, dass die Diktate eine
tern und Menschen“18. Herkules entscheidet sich „richtig“, nämlich für
auffällige Mischung aus traditionellen bildungsbürgerlichen Stoffen des
ein Leben im Dienst der Athene. Die Moral dieses Textes für die Schüle-
Deutschunterrichts, mit dem Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert, und
rinnen ist demnach, dass „Helden“ ein tugendhaftes Leben in Arbeit und
aktuellen nationalsozialistischen Inhalten darstellten. Gemäß dem Kon-
Gehorsam führen und dafür Ehre und Ruhm bei den Göttern als auch bei
ferenzbuch, das die Protokolle der Lehrerkonferenzen der Mädchen-
den Menschen erhalten.
schule festhielt, und den Bestimmungen des 1933 in Kraft getretenen
Ebenfalls auf einem Werk aus dem frühen 19. Jahrhundert, nämlich
„neuen hamburgischen Schulgesetzes“22 sollten die Lehrer den neuen
dem Roman „Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken“, 1839 von Karl
Staat festigen und ausbauen. Der Lehrer Friedrich Stoffregen scheint
Leberecht Immermann um die Lügengeschichten des Barons von Münch-
diese Vorgaben zumindest 1934 sehr zurückhaltend angenommen und eher die Flucht zurück ins 19. Jahrhundert angetreten zu haben.
12 Ebd., S. 11. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 23. 15 Ebd. 16 August Wilhelm Grube, Charakterbilder aus der Geschichte und Sage, für einen propädeutischen Geschichtsunterricht gesammelt, bearbeitet u. gruppirt (in 3 Bänden) / erster Theil: Die vorchristliche Zeit, Leipzig 1852. 17 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Diktatheft, S. 23. 18 Ebd.
72
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
Lea Baumert
19 Ebd., S. 16. 20 Ebd., S. 18 – 19. 21 Ebd., S. 25. 22 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenzbuch, S.20. Konferenz am 18.08.1933.
Das Diktatheft – Schreiben lernen mit Hitler?
73
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
Im Jahre 1980 erreichte den damaligen Schulleiter Klaus Ewert ein an ihn adressierter Brief von E. Liesche, einem früheren Schüler der Volksschule Eduardstraße. Dieser Brief befindet sich heute im Kellerarchiv der nunmehrigen Grundschule. Bei dem Brief handelt es sich um ein Gedicht, anhand dessen Liesche auf knapp dreieinhalb Seiten nicht nur den Unterricht, sondern vor allem einzelne Lehrer und ihr Verhalten charakterisierte, aber auch Freud und Leid der Schüler darstellte.1 So t hematisierte er den Unterrichtsausfall ebenso wie Körperstrafen oder die Begeisterung über die Resultate Hitlerscher Außenpolitik. Vielleicht mögen hier und da die Erinnerung und die Form eines Gedichts seine Schulzeit anders erscheinen lassen als Liesche sie als Junge erlebt hatte. Die Zeilen ermöglichen dennoch gerade in ihrer Emotionalität einen subjektiven,
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Gedicht von E. Liesche, o. S.
aber vermutlich recht repräsentativen Einblick in die damaligen Unterrichtsverhältnisse. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Persönlichkeiten der Pädagogen waren und wie vielgestaltig dadurch die Lehre bzw.
Über E. Liesche selbst ist nichts bekannt. Jedoch waren alle von ihm
das Lernen ausfiel. Schließlich spiegeln sie die seit 1938 wachsende Be-
erwähnten LehrerInnen an der Knabenschule der Eduardstraße tätig. Am
deutung der nationalsozialistischen Politik für den Schulalltag, nämlich
Ende seines Gedichtes gibt Liesche an, vom Sommer 1938 bis zum Früh-
die Vorbereitung auf den Krieg, und damit die Einbußen an Qualität der
jahr 1940 die Schule Eduardstraße besucht zu haben. In den Schülerak-
Schule wider. Ob diese Erkenntnis Liesche aber schon während seiner
ten, die zur Verfügung standen
Schulzeit kam oder doch eher als Erwachsener, muss offen bleiben.
doch nicht auf.
→ Schülerinnen
und Schüler, taucht er je-
Das Gedicht, welches den Namen „Unsere Schule“ trägt, gliedert sich in mehrere Strophen in denen auf insgesamt sechs LehrerInnen einge1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, E. Liesche, Gedicht von 1980: Unsere Schule, S. 4.
74
gangen wird: Johann von Deessen, Hermann Herzog, Henri Büddig, Hermann Hoffmann, Karl Stümpfel, Annemarie Stürzel und Hinrich König.
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
75
Die erste Strophe widmet Liesche von Deessen, der neben seiner
nass, / spritzt er durch die ganze Klass’“, heißt es in der lebhaft gestalteten
Tätigkeit als Schuldirektor vermutlich Mathe und Deutsch unterrich
vierten Strophe. Seine Unterrichtsinhalte scheint er sehr gegensätzlich
tete. Schon mit den ersten Worten wird sein raues Verhalten gegenüber
zu von Deessen vermittelt zu haben. Hoffmann habe nicht nur den Spaß
den Schülern angezeigt: „Sorgt für Ordnung, sorgt für Ruh / Und kas-
der Schüler verstanden, sondern auch selbst für reichlich Unterhaltung
siert das Geld dazu. / (…) / Wer nicht artig; muß sich bücken / Und der
gesorgt – zum Missfallen von von Deessen.
Stock tanzt auf dem Rücken.“ Von Deessen war nicht nur gleich 1933 Mit-
Die anderen vier Lehrer finden jeweils nur kurz Erwähnung. H erzog
glied der NSDAP geworden, sondern kassierte offenbar auch Mitglieds-
wird in der zweiten Strophe als sehr strenger Lehrer beschrieben, der
beiträge oder Spenden für NS-Organisationen wie das Winterhilfswerk
auch gerne mal mit der Kreide nach unaufmerksamen Schülern warf.
ein. Dass Liesche die Körperstrafen, die von Deessen anwandte, so pro-
Hingegen wird Büddig mit sehr warmen, herzlichen Worten charakteri-
minent herausstreicht, könnte auch als Hinweis darauf gelesen werden,
siert: „Und Herrn Büddig, diesen Stern, / haben wir von Herzen gern; / in
dass die anderen LehrerInnen an der Volksschule Eduardstraße weniger
Erkunde und Geschicht’ / gibt er uns den Unterricht. / Von den Schwarzen
oder gar nicht schlugen. Prügelnde Lehrer waren an und für sich nicht
und den Weissen, / von den Schwaben, von den Preissen / von den Bergen,
ungewöhnlich und auch nicht NS-spezifisch. Noch bis 1973 bestand ein
von den Seen / erzählt er uns ganz wunderschön. / Und er tut uns alles
Züchtigungsrecht für den Lehrkörper in einigen Bundesländern. Reform-
kund / von dem ganzen Erdenrund.“ Offenbar war er ein Lieblingslehrer
orientierte LehrerInnen, die an der Volksschule Eduardstraße vermutlich
der Kinder oder zumindest von Liesche. Dies ist im Übrigen die einzige
die Mehrheit stellten, setzten jedoch seit der Weimarer Republik eher
Stelle, an der Rassen erwähnt werden. Vermutlich spielte die Zeile darauf
auf ein gutes Miteinander von Pädagogen und Schülern. Zumindest für
an, dass Büddig das Thema Kolonialismus im Unterricht behandelt hatte.
die Mädchenschule heißt es im Konferenzbuch am 1. Juli 1938: „Noch-
Den Stoff hatte der Pädagoge erkennbar spannend für die Jungen auf-
mals wird darauf hingewiesen, daß das körperl. Züchtigungsrecht nur im
bereitet – von postkolonialer Kritik war man noch weit entfernt. Schon
alleräußersten Falle anzuwenden ist.“2 Schließlich macht die Betonung
seit der Gründung des deutschen Kolonialreiches 1884 waren Imperien
von großer Ordnungsliebe in der Beschreibung von Deessens deutlich,
wie das British Empire politische Realitäten und Vorbilder für Teile der
dass dieser wohl nicht nur wegen seiner Schläge, sondern auch seiner
Gesellschaft – und nun auch für das Dritte Reich.
Pedanterie wenig beliebt war und Liesche ihn wohl eher als „Parteigenossen“ einstufte.
Die kurzen Passagen, in denen der Sport und sein Lehrer Stümpfel Erwähnung finden, lassen darauf schließen, dass bestimmte Sportarten
Als eine Art Pendant zu von Deessen wird Hoffmann vorgestellt,
draußen auf dem Schulhof stattfanden. Dieser befand sich offenbar nicht
dessen Unterricht Liesche als „ungeheuren Spaß“ beschreibt: „In der
in bestem Zustand, was auf einigen Renovierungsbedarf an der Schule
Schul muß Ordnung sein, / prägt uns Herr von Deesen ein. / Doch Herr
schließen lässt: „Wenn die Kinder dann mit Wonnen / Handball eben erst
Hoffmann, dieser Mann, / sorgt für’s Gegenteil sodann. / Er macht ’nen
begonnen, / fällt der Ball dann mit Geklatsche in den Matsche und Gepat-
Klex in Dennis Heft. / Dieser schimpft dann gar nicht schlecht. / Hoffmann
sche, / in die Tümpel, in die Seen, / die auf diesem Hofe stehn.“ Bauliche
lehrt uns die Geschichte, / von dem Corpus, dem Gerichte. / Was er an die
Mängel waren an vielen Schulgebäuden Hamburgs festzustellen, inves-
Tafel schrieb / dort nicht lange stehen blieb, / nimmt den nassen Schwamm
tierte die Stadt doch nicht in ihre Lehranstalten. Stümpfel löste das Prob-
zur Hand, / wischt damit die Tafelwand. / Mit dem Schwamm, der gar zu
lem, indem er Sand nachschüttete, wahrscheinlich zur Enttäuschung der Jungen, denen Spielen im Schmutz mehr Spaß machte.
2 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949, S. 93.
76
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
Die Kunstlehrerin Frau Stürzel schließlich scheint von den gewaltlosen außenpolitischen Annexionen Hitlers 1938 und 1939 so begeistert
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
77
gewesen zu sein, dass sie diese „Erfolge“ augenblicklich im Unterricht
zu Recht. Knochen waren im Dritten Reich ein wichtiges Rohmaterial3,
bekannt gab. Ihrer Meinung nach, so jedenfalls könnte man zwischen den
wurde aus ihnen doch u. a. Seife hergestellt. Nach Kriegsausbruch 1939
Zeilen lesen, verhelfe Hitler Deutschland nach dem verlorenen Ersten
dagegen dienten sie vor allem der Produktion von Dynamit (Nitroglyce-
Weltkrieg und dem „schmachvollen“ Versailler Frieden mit seinen Ge-
rin). Dass Sammeln kriegswichtig für die
bietsabtretungen wieder zu „wahrer Größe“: „Mitten in der Z eichenstunde
dass jeder, der sich nicht beteiligte, geradezu unsozial gegen diese Ge-
/ bringt uns Fräulein Stürzel Kunde / von dem großen deutschen Reich, /
meinschaft handelte, bekamen auch die Schulkinder zu spüren, nämlich
keiner macht’s dem Führer gleich. / Von Österreich, Böhmen, Memelland,
mit schlechten Noten, wie sich Liesche erinnerte: „An zwei Tagen in der
/ das mit dem Altreich er verband.“ Hitler als „General Unblutig“: Das be-
Wochen, / sammeln wir die alten Knochen. / ,Heil Hitler, gibt es Knochen
eindruckte viele Deutsche, so auch diese Hamburger Lehrerin.
heut’‘? / so fragen wir sodann die Leut’. / Und wer diese Pflicht vergessen /
König als Rektor der Jungenschule wird nur kurz in den letzten Ver-
→ Volksgemeinschaft
war und
kriegt’ne ,Sechse‘ zugemessen.“
sen gestreift. Sie befassen sich mit den Defiziten, die den Unterricht im
Wenn auch das Gedicht von E. Liesche keine unbedingt neuen
Dritten Reich prägten. Inhaltlich, so Liesche, habe man aufgrund der vie-
Erkenntnisse über die Volksschule Eduardstraße oder generell die Schule
len Ausfälle von Stunden durch → Feiern und Feste nicht mehr viel gelernt
im Nationalsozialismus liefert, so verschafft es doch einen lebendigen
und deshalb auch keine guten Noten mehr bekommen können. Wieder
Einblick in den Alltag der Volksschule Eduardstraße aus der Sicht eines
betont Liesche die NS-Außenpolitik, die die Deutschen implizit auf den
ehemaligen Schülers.
Krieg vorbereiten sollte, als wichtigen Taktgeber für den Unterricht in den Jahren 1938 bis 1940. An dieser neuen Prioritätensetzung, dem Poli-
Melina Terkamp
tischen in der Schule mehr Gewicht zu geben als dem eigentlichen Lernstoff, habe auch der Direktor nichts ändern können: „Sieg Heil! Sieg Heil ! die Fahnen raus, / die Schule ist oft früher aus. / Schularbeiten gibt es wenig, / doch dafür kann nicht Herr König. / Zweimal in der Woche keine, / an den andern’n Tagen kleine. / Nur ein bissel Rechnen, Schreiben, / wer soll da nicht sitzen bleiben? /Einsen sind nun fast verpönt, / man an ,Sechsen‘ sich gewöhnt. / Nur im Turnen und im Sport / findet man die ,Eins‘ noch dort.“ Der Fokus in den verbliebenen Unterrichtseinheiten scheint auf den Grundfächern Mathematik und Deutsch gelegen zu haben. Besonderer Aufmerksamkeit erfreute sich aber wohl ganz NS-typisch der Sport, in dem die Kinder im Gegensatz zu den anderen Fächern noch gute Noten hätten erzielen können. rsache In der letzten Strophe beschrieb Liesche dann eine weitere U für den Verfall der Bildungsqualität an den Volksschulen: das vor allem im Krieg immer wichtigere Sammeln
→ Aufsatzheft.
Die Volksschüler
wurden auf diese Weise auf den Krieg eingeschworen und bekamen ein Bewusstsein für die Bedeutung scheinbar wertloser Stoffe. In Liesches Erinnerung spielen dabei Knochen eine prominente Rolle – durchaus
78
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
3 Vaupe, Elisabeth: Wertvolle Knochen. Ein Thema im Schulunterricht der NS-Zeit, in: Kultur & Technik 3/2017, S. 54 – 59.
Das Gedicht – von guten Gelehrten und prügelnden Pädagogen
79
Fotos – fremde Vertrautheit
aus ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext heraus interpretiert werden, um zu Erkenntnissen über die Vergangenheit zu gelangen.2 Diese Gedanken sind auch für uns bei der Arbeit mit den gefundenen Fotos aus der Schule von großer Bedeutung, denn es tauchen zunächst eine Reihe an Fragen auf: Welche Personen werden auf den F otos gezeigt? Welche Gegenstände/Gebäude kann man auf den Fotos erkennen? Zu welchem Anlass wurden die Fotos gemacht? Zudem ist es wichtig, die reine Bildbeschreibung von der Bildinterpretation zu unterscheiden. Zuallererst sollte ein Bild genau betrachtet werden. Anschließend wird beschrieben, was man auf dem Bild erkennen kann, ohne das Gesehene zu deuten. Hierzu können systematische Einordnungen genutzt werden,
Fotos finden in historischen Arbeiten vor allem dann Verwendung, wenn
also zum Beispiel Farbe oder Perspektive. So werden zunächst Themen-
es um eine anschauliche oder unterhaltsame Präsentation vergangener
bereiche gesucht, zu denen das Foto Erkenntnisse beitragen kann. Erst
Ereignisse geht. Dabei können sie mehr als nur bereits Bekanntes bebil-
im nächsten Schritt kommt es zur Interpretation, bei der man nicht nur
dern. Schaut man genau hin, so erzählen Bilder Geschichte auf ihre je-
das auf dem Foto Dargestellte berücksichtigt, sondern auch alle weiteren
weils ganz eigene Weise. Gerade bei Fotos wird das gerne übersehen; sie
Informationen, die zum Foto vorliegen. Dazu gehört beispielsweise, falls
genießen mitunter ein etwas naives Vertrauen und gelten dann als unmit-
vorhanden, der Name der Person, die das Foto gemacht oder in Auftrag
telbare und wahrheitsgetreue Wiedergabe von realen Ereignissen in der
gegeben hat. So entsteht ein Eindruck vom Zweck der Aufnahme, wo-
Vergangenheit. Es würde gezeigt, was tatsächlich vor der Linse gestan-
durch sich diese wiederum besser einordnen lässt. Wie groß ist die Aus-
den habe. Doch gerade wegen dieser nur scheinbaren Eindeutigkeit ist im
sagekraft des Fotos zu dem Thema, das es darstellt? Abschließend kann
Umgang mit Fotos Vorsicht geboten. Denn wirklich spontan und doku-
eine zusammenfassende Aussage über die Fotografie an sich und die dar-
mentarisch entstehen sie nur selten. Im Normalfall hat der Fotograf oder
gestellte Zeit getroffen werden, die der/dem BetrachterIn eine „Vorstel-
die Fotografin schon im Kopf, was das Foto auf welche Weise zeigen soll,
lung von der Geschichte“ vermittelt.3 Möchte man darüber noch hin-
bevor der Auslöser gedrückt wird. Zudem können sie immer nur einen
ausgehen, dann beschäftigt man sich auch mit der Überlieferung eines
Ausschnitt einer Szenerie zeigen. Ihre Objekte sind mitunter nur für das
Fotos, also zum Beispiel: Wer hat dieses Foto aufbewahrt? War es ein
Foto in Szene gesetzt oder das Endprodukt retuschiert.1 Vor allem aber
Archiv oder eine Privatperson?
präsentieren sie nur eine Momentaufnahme und niemals gesamte Ab-
In unserem Fall trifft in gewissem Maße beides zu. Denn die F otos,
läufe; sie zeigen also stets nur, erklären aber nichts. Für HistorikerInnen
die wir von der Volksschule Eduardstraße im Hamburger Schulmuseum
heißt das: Fotos müssen – wie jeder Brief und jede amtliche Urkunde –
fanden, waren teilweise eine Spende von Privatpersonen, stammen aber auch aus der Landesbildstelle Hamburg.
1 Vgl. Wohlfeil, Rainer: Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: Tolkemitt, Brigitte / Wohlfeil, Rainer (Hg.): Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (ZHF, Beiheft 12), Berlin 1991, 17 – 35. Vgl. auch Jäger, Jens; Knauer / Martin (Hg.): Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, Paderborn 2009.
80
2 Vgl. Bergmann, Klaus: Das Bild, in: Pandel, Hans-Jürgen / Becher, Ursula A. J. (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2010, S. 226 – 268. 3 Bergmann, Klaus: Das Bild, S. 245.
Fotos – fremde Vertrautheit
81
Am besten lassen sich Fotos, so wie alle historischen Quellen, mit
Während das erste Foto ein zerstörtes Gebäude ohne Fenster zeigt,
einer Leitfrage betrachten. Bei diesem Projekt ging es in erster Linie
sieht man auf dem zweiten Foto ein ähnliches, aber erkennbar neu-
darum, die Geschichte der Volksschule Eduardstraße während der NS-
eres Haus. Anhand der Informationen, die zu den Fotos vorliegen, kann
Zeit zu erforschen. Es wurde also untersucht, inwiefern sich Schulalltag
eine erste Interpretation erfolgen: Beide zeigen das Schulgebäude der
und Unterricht durch die politischen Umstände veränderten. Verände-
Eduardstraße, einmal 1943, einmal 1957. Die Zerstörung im ersten Bild
rungen sind auf Fotos dann erkennbar, wenn zwei Fotos, die möglichst
lässt sich somit recht sicher der Bombardierung Hamburgs während des
das Gleiche zu unterschiedlichen Zeiten zeigen, vorliegen. Am folgenden
„Feuersturms“ im Juli 1943 zuordnen. Nach dem Krieg wurde das Haus
Beispiel kann man etwa die Zerstörung des eigentlichen Schulgebäudes
wieder instandgesetzt. So erhält man bereits durch zwei Fotos einen Bau-
erkennen:
stein zur Schulgeschichte. Die Fotos zeigen zwar eine deutliche Veränderung, trotzdem werfen sie mehr Fragen auf, als sie beantworten. Die Zerstörung ist offensichtlich, doch wann genau fand sie statt? Wurde jemand verletzt? Konnte danach noch Unterricht stattfinden? Wann begann der Wiederaufbau? Zudem wurde die Schule nicht einfach instandgesetzt, sondern modernisiert. Je genauer man hinsieht, desto mehr Unterschiede fallen auf und Archiv Hamburger Schulmuseum, Landesbildstelle Hamburg, HSM VII Ed7-2, Schule Eduardstraße 1943. Dieses Foto zeigt die Vorderseite des Schulgebäudes im Jahr 1943. Das Dach ist zu einem großen Teil eingestürzt, und es existieren keine Fenster.
umso mehr Fragen ergeben sich. So wurde etwa aus dem stattlichen Giebeldach mit Erkern, Schornsteinen und Turm ein modernes Flachdach. Was war auf diesem riesigen Dachboden vorher untergebracht und wie wurde dieser Raumverlust kompensiert? Und was verrät dieser Umbau über den repräsentativen Wert des Gebäudes, welche Wirkung hat es noch? Neben dem, was sich verändert, ist immer auch beachtenswert, was gleich bleibt. Das Haus wurde zwar gründlich umgebaut, doch der symmetrische Aufbau mit zwei Treppenhäusern, eines zur Jungen-, eines zur Mädchenschule, ist derselbe geblieben. Die Koedukation von Mädchen und Jungen wurde erst ab 1960 eingeführt. Auch die Fassade wurde – wie im Vergleich der leeren Rundbögen und der eckigen Fensterrahmen gut erkennbar ist – völlig erneuert. Doch auch hier erkennt man eine Kontinuität: Jeder Flügel hat auf drei Stockwerken jeweils sechs Fenster, im vierten Stock dann acht. War das Gebäude im Inneren womög-
Archiv Hamburger Schulmuseum, Landesbildstelle Hamburg, HSM VII Ed7-1, Schule Eduardstraße, 4. Juni 1957. Auf diesem Foto ist ebenfalls das Schulgebäude zu sehen, hier im Jahr 1957.
82
Fotos – fremde Vertrautheit
lich gar nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, wie es zunächst aussieht? Oder versuchte man hier nur architektonisch an die Vorkriegszeit anzuknüpfen? Zu diesen Themen können die Bilder selbst zunächst nicht viel beitragen, doch sie werfen neue Fragen auf und schärfen den Blick zum gezielten Weiterforschen.
Fotos – fremde Vertrautheit
83
Ein weiteres schönes Beispiel ist das Klassenfoto der Volksschule Eduardstraße aus dem Jahr 1938. Namentlich ist hier nur der Lehrer genannt, er heißt Johann von Deessen (→ Gedicht, irrigerweise hier mit Dreessen angegeben). Zwar liegt kein zweites Foto aus einer anderen Zeit vor, man kann aber Vergleiche zur heutigen Zeit ziehen. Wie unterscheidet sich das Bild von heutigen Klassenfotos, was erscheint vertraut? Bevor analytische Schlüsse gezogen werden, gilt es, sich die Eigenheiten des Bildes ins Gedächtnis zu rufen. Ein Klassenfoto ist kein spontaner Schnappschuss aus dem Schulalltag, sondern es hat eine klare Aufgabe: Es soll die gesamte Klasse abbilden, dient der Schule zur Repräsentation und den Kindern vielleicht als Erinnerungsstück. Ausgehend von der Annahme, dass hier die Klasse in ihrer Gesamtheit gezeigt wird, ist ein Befund sicher: In der Klasse von von Deessen waren mindestens 36 Schüler. So erfährt man relativ direkt etwas über die Struktur der nach Geschlechtern getrennten Schule. Bei anderen Interpretationen gilt es jedoch vorsichtig zu sein, etwa bei der Frage, welcher Kleidungsstil und welche Frisuren damals Mode waren. Denn die Kinder wussten wahrscheinlich vorher vom Fototermin und wollten sich von ihrer besten Seite zeigen. Anzug und Krawatte gehörten wahrscheinlich nicht in die Alltagsgarderobe von Kindern im
Archiv Hamburger Schulmuseum, HSM V KKG 13.1, Herkunft: Frau von Deessen, Knabenklasse Schule Eduardstraße, Lehrer Johann von Deessen, 1938.
Arbeiter- und Handwerker-Bezirk Eimsbüttel, sondern beweisen eher ein Interesse einer Selbstdarstellung als adrette junge Männer. Die zwei
Auch Mimik und Körpersprache können Gegenstand der Analyse
Jungs in der ersten Reihe etwa präsentieren stolz ihre Uhrenketten; ob
sein. Manche Jungen halten Abstand, einige rücken eng zusammen, an-
daran aber wirklich eine Taschenuhr hängt, darf bezweifelt werden. Pech
dere stehen in beinahe militärischer Haltung. Dass zwei Jungen neben-
gehabt: Weil sie in der ersten Reihe sitzen, bleiben sie durch ihre kurzen
einandersitzen, kann daran liegen, dass sie befreundet waren – vielleicht
Hosen als Schulbuben erkennbar. In der zweiten Reihe wären die ver-
gab es aber auch eine feste Sitzordnung, wofür der symmetrische Aufbau
steckt geblieben.
spricht. Der Gesichtsausdruck dagegen stand ihnen anscheinend frei,
Auffällig ist, dass keiner der Jungen in HJ-Uniform (→ Hitlerjugend) zum Fototermin erschien. 1938 war die Mitgliedschaft noch kein Zwang,
hier zeigt sich die ganze Bandbreite von ernsten Mienen bis zu breitem Lächeln.
hatte sich die ganze Klasse also bislang dem Einfluss der HJ widersetzt? Oder hatte die Schule ihnen verboten, sich in Uniform fotografieren zu
Beide Beispiele zeigen: Historische Fotos sind mehr als nur I llustrationen.
lassen? Allerdings lässt sich nichts zu den Ansteckern sagen, die einige
Stellt man gezielte Fragen und bleibt in der Interpretation kritisch, dann
Jungs am Revers tragen, denn sie sind zu unscharf, um sie zu identifizieren.
erzählen sie ihre eigenen Geschichten – und werfen neue Fragen auf. Kristina Jenzen, Paulina Levenhagen, Fariha Saberi
84
Fotos – fremde Vertrautheit
Fotos – fremde Vertrautheit
85
Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
Die Hitlerjugend (HJ) war die staatliche Einheitsjugendorganisation im Dritten Reich. Sie gliederte sich in Jungmädel und Jungvolk für 10 – 14-jährige und den Bund Deutscher Mädel bzw. die Hitlerjugend (hier als Bezeichnung der männlichen Mitglieder) für 14 – 18-Jährige.1 Die HJ übernahm aber auch Funktionen in der Organisation von Wehr ertüchtigungslagern und im Arbeitsdienst sowie weitere Aufgaben im Be-
Hamburg Bildarchiv, AA9046, URL: www.hamburg-bildarchiv.de, Heinrich-Hertz-Straße (Uhlenhorst), Flaggenappell der HJ auf dem Gelände des Waisenhauses, um 1935.
reich der Jugendpolitik, so dass sie als universelle Fürsorgeinstanz wahrgenommen werden konnte.2 Sie sollte der charakterlichen Formung der
fasst werden.3 Diejenigen Kinder, die nicht Mitglieder der Hitlerjugend
Kinder und Jugendlichen im Sinne des Konzepts der Volksgemeinschaft
waren und eine Schule besuchten, sollten zu den Dienstzeiten der HJ po-
und nach dem Führerprinzip sowie der physischen und mentalen Vorbe-
litisch-weltanschauliche Schulungen erhalten.4
reitung auf den Wehrdienst dienen. 1936 wurde sie als öffentlich-recht-
Zu der charakterlichen Formierung durch Erlebnis und Erfahrung
liche Erziehungsgewalt gleichberechtigt neben den traditionellen Erzie-
wurden in der Hitlerjugend Fahrten und längere Aufenthalte in Frei-
hungsträgern der Familie und Schule etabliert. Aufgenommen wurden
zeitlagern und bei Geländespielen sowie die Beteiligung an symboli-
nur „arische“ und „erbgesunde“ Kinder und Jugendliche, wobei das Ziel
schen Massenaktionen wie Aufmärschen verwendet.5 Die Möglichkeit,
der vollständigen Erfassung aller diesen Kriterien entsprechenden Kin-
auf diese Weise zu Ferien für ihre Kinder zu gelangen, war besonders
der und Jugendlichen formuliert wurde, die Mitgliedschaft aber erst 1939
für wirtschaftlich schwächere Familien interessant. Weniger verlockend
verpflichtend wurde. Durch starken sozialen Druck konnte jedoch auch vor 1939 ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen auf diese Weise er1 Vgl. Neumann, Franz: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933 – 1944, Chicago 2009, S. 70. 2 Vgl. Janzyk, Stephan: Sozialisation in der Hitlerjugend. Eine systematische Genese des deutschen Offizierskorps?, Hamburg 2013, S. 24, 39. Albert-Schweizer-Gymnasium Hamburg: Kleine Erwachsene. Kinder im Nationalsozialismus, Hamburg 2011, S. 11.
86
3 Vgl. Kollmeier, Kathrin: Erziehungsziel „Volksgemeinschaft“ – Kinder und Jugendliche in der Hitler-Jugend, in: Horn, Klaus- Peter u. a. (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler A nspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 59 – 76, S. 59 – 61 und S. 65. 4 Vgl. Scholtz, Harald: Schule unterm Hakenkreuz, in: Dithmar, Reinhard u. a. (Hg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich. Ludwigsfelde 2001, S. 17 – 38, S. 24. 5 Kollmeier: Erziehungsziel, S. 68 f. Jancyk: Sozialisation, S. 34.
Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
87
wirkte sich hingegen aus, dass Eltern die von vielen Kindern als fesch
der HJ mussten nicht zur Schule gehen, sondern eben zu den HJ-Veran-
empfundene Uniform selbst bezahlen mussten.6
staltungen, die SchülerInnen wiederum mussten im Unterricht staats
Die Hitlerjugend wurde zur wichtigsten der drei Säulen der Bildungs politik im Nationalsozialismus neben Schule und Familie. An ihr zeich-
tragende Themen behandeln. Im Oktober hielt das Konferenzprotokoll als ein Thema von vielen
net sich eine Eigenheit des Dritten Reiches ab, nämlich dass die Partei-
fest, dass die HJ von Ende Oktober bis Anfang November eine Ausstel-
Organisationen über dem Staat stehen und mit ihm in Konkurrenz ge-
lung in Hamburg zeige und der Besuch den Klassen empfohlen werde.
raten konnten.7 Diese Konkurrenz zwischen Schule und Hitlerjugend
Gleich im nächsten Satz erinnerte jedoch der Schulleiter auch an den
kreiste um die Frage, wer das Monopol auf die Erziehung der Kinder
Reformationstag am 31. Oktober.11 Die Hitlerjugend erfährt hier keine be-
besaß. Der Konflikt wurde dabei nicht offen geführt, zumal eine Zusam-
sondere Aufmerksamkeit. Für den Fall der Volksschule Eduardstraße ent-
menarbeit von Schule und HJ verlangt wurde, sondern über den Faktor
steht so zumindest zu diesem Zeitpunkt der Eindruck einer eher von oben
Zeit verhandelt, die die SchülerInnen in der HJ oder in der Schule ver-
verordneten und eingeforderten als von der Schule selbst initiierten und
brachten.8
gewünschten Kooperation mit der HJ.
Konflikte an der Volksschule Eduardstraße
noch nicht recht verinnerlicht worden war, wird an Einträgen im Konfe
Dass nicht nur in der Volksschule Eduardstraße der Vorrang der HJ renzbuch aus dem Jahre 1935 deutlich. Am 21. Januar gab es nämlich
Im Konferenzbuch der Eduardstraße 28, also der Mädchenschule, wird
eine „Aussprache Schule und Hitlerjugend“ im Curiohaus, dem ehema-
an mehreren Stellen die Hitlerjugend thematisiert. Noch am 20. Juni 1933
ligen Sitz des Lehrervereins „Gesellschaft der Freunde des vaterländi-
verwahrte sich die Schule dagegen, Entschuldigungen für Fehlzeiten an-
schen Schul- und Erziehungswesens“, seit 1933 nunmehr im Besitz des
zuerkennen, die von HJ-Jugendführern ausgesprochen wurden. Offenbar
„Nationalsozialistischen Lehrerverbandes“ NSLB, an der auch der Schul-
gab es Klärungsbedarf, denn am 24. Oktober vermeldete das Protokoll,
leiter der Mädchenschule Friedrich Bödecker12 teilgenommen hatte.
ohne Genaueres zu verraten: „Bestimmungen über die Beziehungen der
Prompt verkündete er am 31. Januar 1935: „Das Kollegium tritt geschlossen
Schule zur Hitlerjugend und anderen nationalen Jugendbünden werden
für eine Zusammenarbeit mit der Hitlerjugend ein.“13 Die Tatsache, dass
zur Kenntnis gebracht.“9 Ergänzend gab es vier Tage später noch einen
die Kooperation noch 1935 ein Diskussionsthema war, spricht für einen
nicht näher bestimmten Hinweis auf Anweisungen zu den arbeitsfreien
holprigen Integrationsprozess der beiden konkurrierenden Erziehungs
Nachmittagen der HJ.
institutionen.
Im August 1934 notierte das Protokoll dann, dass auch der neu ein-
Im Sinne der vollständigen Erfassung der „arischen“ Jugend und als ver-
geführte Staatsjugendtag an der Mädchenschule „vorläufig geregelt“10
mutlich weitere Folge der klaren Töne im Curiohaus wurde die Schule dar-
werde. Er war durch eine Verfügung des Reichsjugendführers Baldur von
über hinaus beauftragt, der Hitlerjugend diejenigen Kinder zu nennen, die
Schirach vom 7. Juni 1934 auf den Samstag gelegt worden. Angehörige
aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der HJ waren, weil sie sich die Uniformen nicht leisten konnten.14 HJ und NS-Volkswohlfahrt übernahmen in
6 Jancyk: Sozialisation, S. 37 f. Kollmeier: Erziehungsziel, S. 69. 7 Janzyk: Sozialisation, S. 20 – 22. Neumann: Behemoth, S. VII und S. 65 – 71. 8 Janzyk: Sozialisation, S. 21 f. Scholtz: Schule, S. 23 f. 9 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i. F.: Konferenzbuch), S. 18, 30 f. 10 Ebd. 11.08.1934, S. 48.
88
Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
11 Ebd, S. 52. 12 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 361-3_A 1475, Personalakte Friedrich Heinrich Bödecker. 13 Konferenzbuch 31.01.1935, S. 63. 14 Ebd., S. 60.
Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
89
diesen Fällen die Kosten. Indem die Schule dieser Aufforderung nachkam und diese Listen erstellte, wird deutlich, welche D ominanz die HJ mittlerweile gegenüber der staatlichen Bildung gewonnen hatte.
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
In diesem Sinne musste die Schule im Oktober 1935 der HJ die Zahl der schon in den BDM eingetretenen Mädchen mitteilen.15 Novität und ebenfalls Kontroll- wie Mobilisierungsinstrument waren die Schuljugendwalter. Sie waren Lehrer und Lehrerinnen, die als Verbindung zur HJ fungierten. Im Februar 1936 vermerkte das Protokoll: „Aus einer Versammlung der Schulleiter und Schuljugendwalter teilt Herr Bödecker Einzelheiten über die Eingliederung der jetzigen Kl. 5 in die Hitler-Jugend mit.“16 Weitere Einträge zur HJ finden sich nicht im Protokollbuch der Leh
Das Protokollbuch der Lehrerkonferenzen gibt einen anschaulichen Ein-
rerkonferenzen. Es lässt sich daher nicht sagen, ob sich das Thema im
druck davon, wie sich – schnell und zumindest äußerlich – der Schul
Sinne der HJ geregelt hatte oder schlicht nicht mehr von der Schullei-
alltag 1933 veränderte. Einer der ersten Belege für diesen Einfluss der na-
tung auf die Agenda gesetzt wurde. Wie die vorliegenden Einträge zeigen,
tionalsozialistischen Politik auf den Schulalltag findet sich keine drei
scheint Ersteres wahrscheinlicher. Es sieht aus, als ob es einen etwas
Monate nach der „Machtergreifung“ im Protokoll der Lehrerkonfe-
widerstrebenden, aber dennoch schleichenden Prozess der Anpassung
renz vom 20. Juni 1933. Der Leiter der Mädchenschule Friedrich Böde-
der Mädchenschule an die Wünsche des nationalsozialistischen Systems
cker gab die Gleichschaltung der gesamten deutschen Lehrerschaft be-
gegeben hat. Von einer so klaren Distanz, wie sie der stellvertretende
kannt.1 Knapp zwei Wochen zuvor, am 7. Juni, waren auf der Magdebur-
Schulleiter, der Lehrer → Friedrich Stoffregen, in seinem Entnazifierungs-
ger Lehrertagung 44 Lehrerverbände dem NS-Lehrerbund beigetreten.
verfahren im November 1947 für sich reklamierte, kann für die gesamte
Damit wurde eine nationalsozialistische Dachorganisation der bis dato
Lehrerschaft der Mädchenschule in der Eduardstraße und vor allem für
freien Lehrerorganisationen geschaffen, parallel wurden die alten Ver-
den langjährigen Direktor Bödecker kaum die Rede sein. Stoffregen gab
bände aufgelöst. Diese Übernahme bzw. Anpassung an das NS-Regime
zu Protokoll: „Ich bin jedem Versuch der HJ, Einfluß auf das Schulleben
bildete eine der Grundlagen für die Entwicklung und Verbreitung der na-
zu gewinnen, auf das energischste entgegengetreten und habe die Erzie-
tionalsozialistischen Ideologie in der Pädagogik und an den Schulen.2
hungsgrundsätze der Nazis stets bekämpft.“17 Den hier so demonstrativ
Auf der Konferenz teilte Bödecker ebenfalls mit, dass am 24. Juni
zur Schau gestellten Widerstandsgeist mag es hier und da gegeben haben,
1933 der Unterricht wegen der Sonnenwendfeier ausfalle und stattdessen
die Praxis sah aber anders aus. Den Wünschen der HJ beugte man sich an
sportliche Veranstaltungen stattfänden → Feiern und Feste.3 Ebenso habe
der Volksschule Eduardstraße – oftmals nolens volens – aber dennoch.
die Behörde angeordnet, dass am 28. Juni – der Tag der Unterzeichnung des Versailler „Schanddiktats“ – in den letzten Unterrichtsstunden in
Frederic Wrage 15 Ebd. 31.10.1935, S. 70. 16 Ebd. 13.03.1936, S. 73. 17 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 221-11_X 2956, Stoffregen, F riedrich, Bl. 16, Schreiben Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vom November 1947.
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Die Hitlerjugend – Erziehungskonkurrent aus der NSDAP
1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i. F.: Konferenzbuch), S. 16. 2 Vgl. Henrik Bispinck: Bildungsbürger in Demokratie und D iktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 – 1961, München 2011, S. 101 – 102. 3 Konferenzbuch, S. 17.
91
würdiger Form auf die Bedeutung dieses Tages hingewiesen werden solle und auf halbstock zu flaggen sei.4 In der Konferenz am 18. August 1933 besprach das Kollegium dann die Umstrukturierung der Landesschul behörde in die Landesunterrichtsbehörde.5 Von dort aus steuerte von nun an die sich allmählich nazifizierende Schulbehörde die Hamburger Schulen und von dort erhielt die Volksschule Eduardstraße in den kommenden Jahren ihre behördlichen Anweisungen. Alle Ebenen der Verwaltung wurden schrittweise auf die nationalsozialistischen Vorstellungen ausgerichtet und an das Führerprinzip angepasst. Der Schulleiter hatte nun die uneingeschränkte Verfügungsge walt gegenüber dem Kollegium.6 Im Rahmen dieser Änderung heißt es im Protokoll: „Herr Bödecker betont die jahrelange Verbundenheit mit dem Lehrkörper, hofft auf dasselbe Verhältnis in der Zukunft, fordert aber im Interesse eines guten Zusammenarbeitens unbedingtes Vertrauen.“ 7 Bödecker erbat sich mit dieser Bitte um Vertrauen einen Blankoscheck für alle Maßnahmen, die er in Zukunft traf bzw. treffen musste. Bei aller Anpassung an die neuen politischen Zeitläufte, so suggerierte er, würde er auch weiterhin stets das Wohl der Schule als oberste Priorität ansehen. Dieser Satz könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Direktor wusste oder zumindest vermutete, dass nicht alle Kolleginnen und Kollegen für die NSDAP votiert hatten. Ob und wie sich das Verhältnis zwischen Schulleiter und LehrerInnen im Alltag veränderte, lässt sich aufgrund der fehlenden Quellen allerdings nicht sagen. Das Konferenzbuch diente vermutlich lediglich dem Protokollieren von den seitens der Schulbehörde vorgeschriebenen Konferenzen und dadurch auch als Arbeitsnachweis. Inwiefern die Protokolle mit dem Gesagten übereinstimmten, ist dabei nicht sicher. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, dass weitere, inof enen die Lehfizielle Treffen des Kollegiums stattgefunden haben, auf d rerInnen Themen besprachen, deren Inhalte nicht an die Behörde gelangen sollten. 4 Ebd., S. 19. 5 Ebd., S. 20. 6 Vgl. Schmidt, Uwe: Nationalsozialistische Schulverwaltung in Hamburg. Vier Führungspersonen. Hamburg 2008, S. 53 – 54. 7 Konferenzbuch, S. 20.
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Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstraße 28, 1932 – 1949, S. 20, Konferenz vom 18.08.1933.
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
93
Rasant ging unterdessen die braune Umgestaltung weiter. Ebenfalls am 18. August wurde der Hitlergruß in der Schule eingeführt
und deshalb eine „politische Grundhaltung“ Voraussetzung war → Lehre-
→ Volks-
rinnen und Leher. Schulleiter Bödecker zeigte sich wieder engagiert: Am
gemeinschaft: „Die Kinder haben sich in Zukunft beim Kommen u. Ge-
11. August 1934 gab er an, er fühle sich für die Durchführung dieser nati-
hen des Hitlergrußes zu bedienen. Sie haben zu grüßen, wenn eine neue
onalsozialistischen Erziehung persönlich verantwortlich.12
Lehrkraft die Klasse betritt, ebenso sollen fremde Personen, die sich im Schulgebäude befinden, durch Erheben des rechten Armes bis zur Kinnhöhe gegrüßt werden. Die Lehrkräfte sollen ebenfalls mit Hitlergruß
Ideologisierung des Unterrichtes
danken.“ 8 Im Rahmen der „deutschen Kulturwoche“ wurde dann im Septem-
In der Erziehungswissenschaft kam es zu einem schnellen Paradigmen-
ber 1933 eine Veranstaltung für die SchülerInnen geplant.9 Diese Kultur-
wechsel.13 Der nun bestimmende rassenideologische Diskurs hielt auch
woche wurde von dem „Kampfbund für deutsche Kultur“ organisiert und
in der Mädchenschule der Eduardstraße 28 Einzug. Bevor die Schüle-
richtete sich gegen „Entartungserscheinungen“ der modernen Kunst und
rinnen mit den Inhalten konfrontiert wurden, sollten die LehrerInnen
gegen den „jüdischen Einfluss“ auf die deutsche Kultur. Verantwortlich
sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut auseinandersetzten.
für die Ausstellung war der ehemalige Leiter der NSDStB-Hochschul-
Dafür sollten sie die „richtige“ Literatur durcharbeiten. Darunter waren
gruppe wie ASTA-Vorsitzende und nunmehrige Leiter der Volkshoch-
Bücher des Historikers, SA- und NSDAP-Mitglieds Wilhelm v. Kloeber
schule, Henrich Haselmayer.10 Durch solche Ausflüge und immer häufi-
Vom Weltkrieg zur nationalen Revolution oder auch Adolf Hitlers Mein
ger stattfindende Feste wurden die Schülerinnen schon früh mit dem NS-
Kampf 14. Für die Schulbücherei wurde die Fibel zum Versailler Friedens-
Gedankengut in Kontakt gebracht
Doch
diktat des NSDAP-Reichstagsabgeordneten Heinrich Siekmeier bestellt.
die Ausrichtung galt für Schüler- und Lehrerschaft, wie folgender Mahn-
Außerdem wurde das Programm der NSDAP für jede Schülerin der 1. und
ruf vom 13. April 1934 verdeutlicht: „Aufruf des Landesschulrats Schulz
2. Klasse angeschafft.15 Auch wurde der „nationalsozialistische Unter-
zur Arbeit im Dritten Reich: eindeutige politische Haltung der Lehrer-
richt am Sonnabend“ in den Klassen 1 – 4 mit folgenden Themen gestal-
schaft wird vorausgesetzt: der Schulleiter soll nicht nur Vorgesetzter sein:
tet: „Der Führer; Männer um Hitler; Hindenburg; Helden des Weltkrie-
im Unterricht sollen die Anforderungen nicht zu hoch gespannt werden,
ges; 1918 – 1933 Unsere Leidensjahre; Versailles als Quelle unseres Un-
vielmehr sollen Kräfte zur politischen Schulung freigemacht werden.“ 11
glücks; Schlageter“.16 Für diesen Unterricht wurden zwei Leitgedanken
Fachunterricht schien nun weniger wichtig als die „richtige“ politische
formuliert: „Wir sind jetzt eine politische Schule“ und „Der Lehrer soll
Haltung. Mit dieser Mitteilung wurde deutlich, dass die Lehrerschaft ein
nicht mitmarschieren, er soll voranmarschieren.“ 17 Mit regelmäßig statt
→ Feiern
und Feste;
→ Ausflüge.
wichtiger Bestandteil der Indoktrinierung der SchülerInnen sein sollte
8 Ebd., S. 20 – 21. 9 Ebd., S. 25. 10 Vgl. Lorent, Hans-Peter de: Heinrich Haselmayer, in: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg URL: http://www.hamburg.de/clp/dabeigewesene-suche/clp1/ ns-dabeigewesene/onepage.php?BIOID=758&cM=41&qR=H (eingesehen am 18.07.2018). 11 Konferenzbuch, S. 42.
94
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
12 Ebd., S. 48. 13 Vgl. Harten, Hans-Christian, Nierich, Uwe, Schwerendt, Matthias: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, in: Berlin 2010, S. IX Einleitung. 14 Konferenzbuch, S. 21, 18.08.1933. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 50. Leo Schlageter war ein militanter rechtsnationaler Aktivist; er wurde 1923 von einem französischen Militärgericht wegen Spionage u. a. hingerichtet und als „brauner Märtyrer“ verehrt. 17 Ebd., S. 49.
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
95
findenden Flaggenappellen wurde parallel zu den Änderungen im Unterricht auch symbolisch auf dem Schulhof das neue Regime geehrt.18 Gleichzeitig fand dadurch eine weitere Militarisierung des Schulalltags statt und Tugenden wie Disziplin oder Patriotismus wurden in den Vordergrund gestellt. Um die Schülerinnen weiter in das Dritte Reich zu integrieren und damit den „Volksgedanken“ zu stärken, wurde regelmäßig für verschiedene Vereine gesammelt.19 So wurde beispielsweise ein „Blumentag“ angeordnet, an dem die Kinder vermutlich selbstgebastelte Blumen verkauften und den Erlös spendeten.20 Auch tätigten die Schülerinnen regelmäßig Sammlungen z. B. für den „Verein für das Deutschtum im Auslande“ 21 → Volksgemeinschaft.
Rassenbiologie als festes Standbein im Unterricht Die Rassenbiologie wurde schnell zum Bestandteil der Allgemeinbildung erklärt und in der Philosophie des nationalsozialistischen Schulsystems fest verankert. Neue Forschungsfelder wie „medizinische Ras-
Artikel zur Ausstellung „Erbgut in Familie, Rasse und Volk“ in der Hamburger Lehrerzeitung vom 9.2.1935. August Hagemann war im NSLB Gausachbearbeiter für Rassenfragen und Biologie, Mitarbeiter des Gauamtes für Rassenpolitik und zudem Abteilungsleiter am Hamburger Institut für Lehrerfortbildung für Biologie.
senhygiene“, oder „rassenbiologische Didaktik“ entstanden und lieferten die Grundlage für eine hohe Zahl an Publikationen, welche sich der
Unterricht die rassische Grundlage des deutschen Volkes behandeln“.24
Thematik widmeten.22 Die Mädchenschule in der Eduardstraße bestellte
Danach wurden am 15. Januar 1934 die Grundsätze des neuen Bildungs-
erst einmal am 18. August 1933 ein Tafelwerk zu Rassenkunde.23 In der
planes besprochen. Dieser sah vor, dass Erblehre und Rassenkunde nun
Konferenz vom 11. Dezember wurde folgende Mitteilung verlesen: „Im
immerhin sechs Wochenstunden in Anspruch nehmen sollten. Diese
letzten Vierteljahr des laufenden Schuljahres soll in den ersten Klassen
Unter richtseinheiten waren grob gegliedert in einen geschichtlichen
der Volksschule und ihres Oberbaues der geschichtliche lebenskundliche
Lehrgang mit „Frühgeschichte oder Vorgeschichte, Rassenkunde, die Judenfrage“ und in einen biologischen Lehrgang, welcher „Familienkunde, Erblehre, Erbpflege“ umfasste.25 Somit wurde bereits ein Jahr nach der
18 Ebd., S. 2 und S. 29. 19 Ebd., S. 21. 20 Ebd., S. 22. 21 Ebd., S. 3. Der VDA wird schon ab 1933 Volksbund für das Deutschtum im Ausland. Bereits die Wahl von Steinacher als neuem Vorsitzenden 1933 führt zur Gleichschaltung und damit zu einer radikalen Änderung der Politik des VDA (siehe auch Handbuch der völkischen Wissenschaften, Lemmata VDA und Steinacher). 22 Vgl. Harten, Nierich, Schwerendt: Rassenhygiene, S. 3. 23 Konferenzbuch, S. 23.
96
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
Machtergreifung mit der Rassenbiologie ein Grundpfeiler der Propaganda und Indoktrinierung fest in den Lehrplan an der Schule eingebaut. Die dazugehörigen Bücher wurden im gleichen Schritt angeschafft.26
24 Ebd., S. 35 – 36. 25 Ebd., S. 38. 26 Ebd., S. 38 – 39.
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
97
Der Lehrplan in den anderen Fächern wurde neu strukturiert. Von
sich Schulleiter und LehrerInnen? Leider vermerkt das Protokoll hier-
nun an wurde „Deutschkunde“ unterrichtet, welche als Ziel haben sollte,
über nichts. Dies könnte zum einen den Grund haben, dass die Lehre-
die Schülerinnen „zum nationalistischen Staat und zum deutschen Men-
rInnen tatsächlich dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden
schen, zur Wahrheitsliebe, Wille, Mut, Charakter“ zu erziehen.27 Auch in
und im Falle einer Überprüfung durch die Schulbehörde keine Indizien
Geschichte sollte der Fokus auf die „germanische“ Vorgeschichte mit der
im Konferenzbuch hinterlassen wollten, um eine politische Verfolgung
„nordischen Rasse“ im mittelalterlichen Kaiserreich und andere Themen
zu vermeiden. Oder solche Auseinandersetzungen wurden standardmä-
gelenkt werden.28 Im laufenden Schuljahr wurde zudem wahrscheinlich
ßig nicht in den Protokollen erwähnt. Beide Varianten sind möglich, und
die Ausstellung „Erbgut in Familie, Rasse und Volk“ von einigen Klas-
weder die eine noch die andere lässt sich verifizieren.
sen der Schule besucht. Zumindest fand die Eröffnung dieser Ausstellung
Letztlich gibt das Konferenzbuch viele interessante Einblicke und In-
in der Spitalerstr. 6 im Protokoll der Konferenz vom 31. Januar 1935 Er
formationen über den Einfluss der nationalsozialistischen Politik auf die
wähnung.29
Schule. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Wie wurde zum Beispiel mit jüdischen Schülerinnen umgegangen? Inwiefern gab es überhaupt eine
Fazit
systematische Diskriminierung von Minderheiten an der Schule? Aus der Zeit nach 1938 sind im Buch nur noch wenige Konferenzprotokolle enthalten. Gerade für die Zeit der Machtergreifung finden sich jedoch zahl-
Wie sich der Lehrkörper zu dem nationalsozialistischen Gedankengut
reiche und eindrückliche Beispiele für den Umbau des Schulsystems und
positioniert hat, lässt sich anhand des Konferenzbuches nicht genau
für die versuchte Ideologisierung des Schulalltags.
sagen. Die Mitteilungen und Beschlüsse wurden oftmals von der Landesschulbehörde an die Schule weitergeleitet und dann in der Konferenz be-
Ole Herbold
sprochen bzw. schlicht dem Lehrkörper bekanntgegeben. Insofern fungierte der Direktor immer mehr als Verlautbarungsorgan und die Konferenzen sollten nur noch dem stummen Abnicken oder der freudigen Willenserklärung der LehrerInnen dienen, weitere Aufgaben zu ü bernehmen. In welcher Art und Weise die nationalsozialistische Programmatik von den LehrerInnen aufgegriffen wurde, ist nicht erkennbar. In dem Protokoll der Konferenz am 31. Januar 1935 wird allerdings erwähnt, dass sich im Anschluss der Buchvorstellung „Rasse und Schule“ eine lebhafte Diskussion entsponnen habe.30 Das war eine Ausnahme. Welche Argumente wurden während dieser Diskussion vorgebracht und wie positionierten
27 28 29 29 30
Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., S. 63.
98
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
Ideologie im Schulalltag – Anspruch und Wirklichkeit
99
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
paganda wurde der „Luftschutzgedanke“ als zentrales Motiv der gemeinsamen Verantwortung zur „Selbsthilfe“ inszeniert und spielte so für die militärische Mobilisierung der Gesellschaft eine wesentliche Rolle.4 Mit einer Mischung aus Zwang und scheinbarer Freiwilligkeit ließ Hermann Göring als Reichsminister der Luftfahrt bereits 1933 den Reichsluftschutzbund (RLB) als Verein zur Mobilmachung der Zivilbevölkerung gründen. Veranstaltungen, Ausstellungen, Zeitschriften, Plakate und Rundfunkbeiträge riefen zur Rekrutierung neuer Mitglieder der deutschen „Luftgemeinschaft“ auf.5 Der RLB sollte eine „Volksbewegung“ sein. In Zusammenarbeit mit den für den Luftschutz zuständigen Polizeibehörden wurde daher die Bevölkerung bis in die Privatsphäre er-
Das NS-Regime leitete unmittelbar nach der „Machtergreifung“ 1933 um-
fasst, kontrolliert und letztendlich militärisch organisiert: „In einem hie-
fangreiche Maßnahmen zu einem „passiven Schutz“ gegen Luftangriffe
rarchisch aufgebauten System von Luftschutzstellen, Betriebsluftschutz-
ein. Aufgrund der Auflagen des Versailler Vertrages von 1919 wurde dem
leitern und Luftschutzwarten wurde bis ins Einzelne festgelegt, wer je-
Deutschen Reich durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs ein
weils für welchen zu schützenden Bereich zuständig und damit verant-
„aktiver Luftschutz“ mit dem Einsatz von Luftstreitkräften und Flakbat-
wortlich war.“6 Im Juli 1935 war der Aufbau des Reichsluftfahrtministe-
terien verwehrt.1 Die Alliierten gewährten den Deutschen jedoch nach
riums (RLM) abgeschlossen und das Reichskabinett verabschiedete das
einer Botschafterkonferenz mit dem Pariser Abkommen von 1926 einen
Luftschutzgesetz „als rechtliche Grundlage aller Schutzmaßnahmen“,
„passiven Luftschutz“, der u. a. die Errichtung von Bunkeranlagen, spezi-
welches „alle Deutschen zu Dienst- und Sachleistungen für die Durch-
elle Vorkehrungen zur Brandschutzvorsorge, die Benutzung eines Warn-
führung des Luftschutzes“ verpflichtete.7
systems und die Ausgabe von Gasmasken an die Zivilbevölkerung er-
Im Netz der Organisationen, die im Folgenden zur flächendeckenden
laubte.2 Die von den Nationalsozialisten getroffenen Vorkehrungen soll-
Umsetzung der Luftschutzmaßnahmen gebildet wurden, waren die Bil-
ten in erster Linie Schutz vor feindlichen Bombenangriffen gewähren
dungseinrichtungen fest integriert. Schulen hatten hierbei weitreichende
und wurden offiziell als notwendige Vorsorge zur Verteidigung der deut-
Aufgaben zu erfüllen, um den sogenannten „erweiterten Selbstschutz“ für
schen Bevölkerung ausgegeben. Tatsächlich gehörten die Luftschutz-
die SchülerInnen und das Schulgebäude sicherzustellen. Darüber hinaus
maßnahmen bereits zu den systematischen Vorbereitungen eines Krie-
sollte das Lehrpersonal unabhängig von der Schulform in jedem geeig-
ges, den das NS-Regime zur Realisierung seiner rassistischen und expan-
neten Unterrichtsfach Unterweisungen und Übungen zum Thema „Luft-
siven Pläne in Europa führen wollte. Der Luftschutz war ein wesentlicher
schutz“ durchführen – der eindeutige Appell in einem Handbuch für
Bestandteil für die Planungen an der „Heimatfront“.3 Durch massive Pro1 Vgl. Schmal, Helga/Selke, Tobias: Bunker – Luftschutz und Luftschutzbau in Hamburg, Hamburg 2001, S. 19; S. 123. 2 Vgl. Lemke, Bernd: Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939, München 2005, S. 106. 3 Vgl. Süß, Dietmar: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, S. 48.
100
4 Vgl. Bruhns, Maike / Preuschoft, Claudia / Skrentny, Werner: Als Hamburg „erwachte“. 1933 – Alltag im Nationalsozialismus, Hamburg 1983, S. 130. 5 Vgl. Schmal / Selke: Bunker, S. 23. 6 Hering, Rainer (Hg.) / Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Hamburg 2010, S. 529. 7 Schmal / Selke: Bunker, S. 20.
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
101
LehrerInnen lautete: „Der Luftschutz gehört in die Schule!“8 Hier diente
darauf wurde eine auffällig kurze Anordnung ohne weitere Erläuterung
der „Luftschutzgedanke“ den Nationalsozialisten als ideologische Pro-
wiederholt vermerkt. Zunächst lautete am 13. April 1934 eine Mitteilung:
jektionsfläche und als Vehikel für Indoktrinierung. Ein Hamburger Leh-
„Auskunft an Ausländer über Luftschutzanlagen darf nicht erteilt wer-
rer bezeichnete rückblickend den Luftschutz sogar als „eine der wirk-
den“; und am 10. Oktober hieß es nochmals: „Es wird davor gewarnt,
samsten Einrichtungen zur Verbreitung braunen Gedankengutes“9.
Ausländer über Luftschutzeinrichtungen zu orientieren.“12 Es bleibt unklar, was den Anlass für diese „ausländerfeindlichen“ Direktiven gab und
Erste Anordnungen für den Schulbetrieb (1933 – 1934)
woher sie stammten. Einerseits könnten diese Reminiszenzen an die Zeit des Ersten Weltkriegs sein, in der eine regelrechte Paranoia vor „ausländischen Spionen“ grassiert hatte. Andererseits ließe sich zwischen den
Die Einführungen von Luftschutzmaßnahmen und -verordnungen sind
Zeilen ein schützender Rat der Schulleitung an das Lehrpersonal heraus-
auch in einer Quelle der Volksschule Eduardstraße dokumentiert, welche
lesen, sich in einer politisch neuen Situation ideologisch konform zu ver-
aus dem Kellerarchiv der heutigen Grundschule stammt: Im Lehrerkonfe-
halten, um nicht negativ aufzufallen.
renzbuch der Mädchenschule (Eduardstr. 28) beziehen sich mehrere Pro-
Im Oktober und November 1934 deuteten zwei Protokolleinträge die
tokolleinträge zwischen 1933 und 1943 auf diesen Themenbereich. Die
organisatorische Entwicklung des Luftschutzes in der Volksschule an.
ersten Einträge aus dem Jahre 1933 zeigen auf, dass die umgehende Mobi
Hierzu findet man am 18. Oktober die Anordnung, dass für die Schule
lisierung zum Luftschutz nach der „Machtübernahme“ der National
eine Karteikarte angefertigt werden solle, „aus welcher jederzeit zu er-
sozialisten auch den Alltag der Volksschule Eduardstraße frühzeitig er-
fahren [ist], welches Amt jedes Kollegiumsmitglied in Fragen des Luft-
fasste. Vom ersten Vermerk zum Thema „Luftschutz“ im Juni bis zum
schutzes verwaltet.“13 Des Weiteren wurden Beamte am 27. November
November 1933 wurde mehrfach auf Versammlungen und Lehrgänge hin-
dazu aufgefordert, in den Reichsluftschutzbund einzutreten, welcher u. a.
gewiesen, die die Lehrkräfte letztendlich verpflichtend zu besuchen hat-
für die gesamte Luftschutzausbildung zuständig war.14 Die zunehmenden
ten. Der Schulleiter der Mädchenschule, Friedrich Bödecker, teilte am
institutionellen Verpflichtungen lassen sich vermutlich durch den bevor-
2. November mit, „daß alle Lehrkräfte zu Luftschutzlehrgängen herange-
stehenden Abschluss der konzeptionellen Aufbauarbeit des Reichsluft-
zogen werden. Bis April 1934 sollen 18.000 Hauswarte ausgebildet sein,
fahrtministeriums erklären, aus welcher schließlich auch die Verabschie-
vor allem Lehrer.“10 Am 24. Oktober 1933 wurde erstmals erwähnt, dass der
dung des Luftschutzgesetzes im darauffolgenden Jahr resultierte.
Luftschutz in den Unterricht eingebunden werden sollte: „Vom 13. Nov. – 20. Dez. soll im Unterricht der Luftschutz behandelt werden nach einem verbindlichen Lehrplan. Der Wehrwille ist zu pflegen und die Eltern sind
Der Luftschutz wird präsenter (1935 – 1938)
aufzufordern, sich der Luftschutz-Vereinigung anzuschließen.“11 Im Jahr 8 Meyer, Dr. E. / Sellien, Dr. E. / Burkhardt, Kapt.-Ltn. W.: Schule und Luftschutz, 2. Aufl., München und Berlin 1940, S. 98. 9 Zit. nach Lehberger, Reiner/ de Lorent, Hans-Peter (Hg.): „Die Fahne hoch“. Schulpolitik und Schulalltag in Hamburg unterm Hakenkreuz, Hamburg 1986, S. 98. 10 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i.F.: Konferenzbuch), S. 32. 11 Konferenzbuch, S. 30.
102 Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
Nachdem die grundlegenden organisatorischen und rechtlichen Strukturen landesweit geschaffen worden waren, wurden die Aspekte des Luftschutzes auch im Schulalltag merklich präsenter – durch Unterweisungen
12 Konferenzbuch, S. 42; S. 51. 13 Konferenzbuch, S. 51. 14 Vgl. Konferenzbuch, S. 56.
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“ 103
im Unterricht, Alarm- und Feuerlöschübungen, Anproben von G asmasken
Die Einbindung des „Luftschutzgedankens“ in den Schulunterricht
oder Exkursionen zu Luftschutzausstellungen.15 In diesem Zusammen-
wurde 1939 durch den „Luftschutzerlaß“ verpflichtend angeordnet. Zum
hang übermittelte Bödecker in der Konferenz vom 31. Januar 1935 Mittei-
genauen Ausmaß und Umfang bei der Umsetzung von Luftschutz-The-
lungen und Anweisungen aus der Hamburger Landesunterrichtsbehörde:
men im Schulunterricht erhält man für die Volksschule Eduardstraße durch die vorliegenden Quellen keine aussagekräftigen Informationen.
In der Zeit vom 1. Febr. – 28. Febr. 1935 ist in der 1. Klasse Unter-
Am 25. Februar 1938 wurde im Konferenzbuch lediglich vermerkt, dass
richt im Luftschutz, mindestens im Umfange des dem Schreiben
der Lehrer → Friedrich Stoffregen mit seinen Zeichenklassen die Herstel-
der Behörde beiliegenden Lehrplanes zu erteilen. Es ist ferner da-
lung von Plakaten zum Luftschutz übernehmen wolle.18 Ansonsten exis-
für zu sorgen, daß auf allen Stufen und in allen Unterrichtsfächern
tiert nur der Hinweis von zwei ehemaligen Schülerinnen
der Luftschutzgedanke Berücksichtigung findet. Als Hilfsmittel ist
nen, die in einem Interview erklärten, dass der Luftschutz während ih-
für die Hand des Lehrers das Buch „Schule und Luftschutz“ von
rer Schulzeit zwischen 1939 und 1943 in keinem Schulfach thematisierte
Meyer-Sellien-Borowitz geliefert worden. Vom 4. Febr. – 1. März
wurde. Ab 1935 wurden auch die Vorkehrungen für den Ernstfall zuneh-
findet in der Emilie-Wüstenfeld-Schule eine Luftschutzausstellung
mend konkreter geplant, und so berichtete Schulleiter Bödecker auf der
statt. Klassenweiser Besuch ist vorher mit dem Leiter der Ausstel-
Konferenz am 7. Mai 1936 über das erforderliche Verhalten bei Luftan-
lung zu vereinbaren. Am Montag, dem 4. Febr. 1935, findet um 16
griffen:
→ Zeitzeugin-
½ Uhr eine Vorbesprechung in der Emilie-Wüstenfeld-Schule statt, an der die Schulluftschutzleiter teilzunehmen haben. Ein Schreiben
Bei Fliegeralarm darf kein Kind die Schule verlassen. Unsere Sorge
des Reichsluftschutzbundes weist auf das Puppenspiel vom Luft-
gilt 1. dem Leben der Kinder und 2. dem Schutz des Hauses. Die
schutz hin, das in der Zeit vom 2. – 28. Febr. 1935 aufgeführt wird.16
Bomben fallen in Parabeln, also evtl. in die Fenster. Wegen der Splitterwirkung sind die Klassen zu räumen und die Kinder auf
iner Das erwähnte Handbuch Schule und Luftschutz beinhaltet neben e
die Gänge zu führen, wo keine Fenster sind. Der 3. Stock ist wegen
allgemeinen Übersicht zum Thema (Notwendigkeit des Luftschutzes, Be-
der Gasbomben am meisten gefährdet. Die 1. + 2. Klasse laufen ins
schreibung von Flugzeugarten und -waffen, rechtliche und organisatori-
Erdgeschoß, die 3. Kl. in den 2. Stock. Alle Fenster sind zu schlie-
sche Hinweise) detaillierte Informationen und Anleitungen zur Durchfüh-
ßen + jedes Gefäß mit Wasser zu füllen + Vorhänge + Tücher an-
rung von Unterrichtseinheiten in verschiedenen Schulfächern und Schul-
zufeuchten. […] Die männlichen Lehrkräfte unter 45 J. sind außer-
formen. Eine empfohlene Rechenaufgabe für die Volksschule lautete:
halb der Schule verpflichtet.19
„Ein Bombenflugzeug hat eine Tragfähigkeit von 500 kg. Zur Zer-
Die einzelnen Verpflichtungen und Verantwortungsbereiche der Lehr-
störung von 3 qkm bebauter Fläche sind 1000 t Sprengbomben nö-
kräfte wurden später in der Luftwaffendienstvorschrift 755 (LDv. 755)
tig. a) Wieviel t Sprengbomben sind nötig, um Berlin mit einer be-
festgehalten. Schulen und Hochschulen gehörten nach dieser Vor-
bauten Fläche von 130 qkm zu zerstören?“ 17
15 Vgl. Ortmeyer, Benjamin: Schulzeit unterm Hitlerbild. Analysen. Berichte. Dokumente, Frankfurt 1996, S. 65. 16 Konferenzbuch, S. 59 f.
104 Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
17 Meyer, Dr. E. / Sellien, Dr. E. / Borowietz, Pol.-Major: Schule und Luftschutz, München und Berlin 1934, S. 93. 18 Vgl. Konferenzbuch, S. 89. 19 Konferenzbuch, S. 76.
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“ 105
schrift zu den schützenden Betrieben im „erweiterten Selbstschutz“. Zur
Es hat eine Sitzung mit der Polizei über den Luftschutz stattgefun-
Durchführung von Luftschutzmaßnahmen sei die „Heranziehung der
den. In unserer Schule können nur 100 Kinder, die Klassen 1 u. 2,
‚Gefolgschaft‘ erforderlich“.20 Das bedeutete, dass in einer Schule Leh-
untergebracht werden. 150 Kd. werden in den Röhrenbunker am
rern, Angestellten und Arbeitern (Hausmeister, Heizer) in einer „Einsatz-
Eimsb. Marktpl. gebracht. 130 Kinder sollen sofort, ohne Sachen
gruppe“ für den Fall eines Luftangriffes „bestimmte Selbstschutzaufga-
mitzunehmen, nach Hause laufen, die 500 m von der Schule ent-
ben zufallen, für die sie ausgebildet sind. […] Die Führer der Einsatz-
fernt wohnen, wenn Tagalarm ist. […] Verteilung des Urlaubs in
gruppe und der einzelnen Trupps sollen Lehrkräfte sein.“21 Diese Zustän-
den Sommerferien (15.7. – 22./8.): Der Urlaub für die Lehrkräfte
digkeiten und Verantwortungsbereiche bezogen sich auch auf die unter-
beträgt, je nach Alter, 14 Tage od. 3 Wochen. Außerschulischer Ein-
richtsfreie Zeit.22
satz durch die Lehrkräfte darf nur erfolgen, falls alle Schulbelange und der Luftschutz gesichert sind.[…] Die Hälfte des Kolle-
Fliegeralarm und „Operation Gomorrha“ (1939 – 1943)
giums soll während der Ferien in Hamburg sein. 1. Verbleibshälfte: 15 – 31.7. 2. Hälfte: 1. – 21.8. Wer in Hamb. bleibt, muß (außerhalb seiner Arbeitszeit) Luftschutz machen […].25
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde im November 1939 im Konferenzbuch vermerkt, dass die Mädchen- und Knabenschule nun fortan
Auch wenn hier u. a. durch Urlaubssperren die Bedeutung des Luftschut-
eine gemeinsame Betriebsgemeinschaft für den Luftschutz bilden wür-
zes untermauert wurde, so wird zugleich deutlich, dass nicht alle Kin-
den.23 Danach wurde anscheinend vier Jahre lang keine Lehrerkonferenz
der in dem schuleigenen Luftschutzraum Platz fanden und den gefährli-
mehr abgehalten bzw. kein Protokoll geführt – die Gründe hierfür bleiben
chen Weg zum nächsten Bunker am Eimsbütteler Marktplatz oder nach
unklar. Eine Erklärung könnte sein, dass nach dem Ausbruch des Krieges
Hause nehmen mussten. Zu der Aufnahme des Schulbetriebs nach den
der Schulbetrieb nur noch eingeschränkt stattfinden konnte. Hermann
Sommerferien sollte es allerdings nicht mehr kommen. Im Rahmen der
Herzog, damaliger Lehrer und nach dem Krieg Schulleiter der Knaben-
„Operation Gomorrha“ führten die Bombenangriffe der britischen und
schule (Eduardstr. 30), schrieb dazu in einer Festschrift zum 50-jähri-
US-amerikanischen Luftstreitkräfte vom 25. Juli bis 3. August 1943 zu den
gen Schuljubiläum: „Bei den immer häufiger werdenden Fliegeralarmen
größten Zerstörungen in Hamburg während des Zweiten Weltkrieges –
und Luftangriffen war an einen geregelten Unterricht nicht mehr zu den-
etwa 30.000 Menschen starben, Hunderttausende wurden vorüberge-
ken.“24 Erst am 26. Mai 1943 folgte der nächste und zugleich letzte Proto-
hend obdachlos.26 In Eimsbüttel erzielte bereits der erste Angriff in der
kolleintrag bis zum Ende des Krieges. Im Konferenzbuch wurden hierbei
Nacht vom 24. auf den 25. Juli die verheerendste Wirkung.27 32 von 46
neue Anordnungen zum Evakuierungsplan der Mädchenschule im Falle
Schulen im Umkreis des Stadtteils wurden während der Ferien völlig zer-
eines Luftangriffs festgehalten:
stört – auch die Schule in der Eduardstraße wurde schwer beschädigt.28
20 Helbig, H. / Sellien, Dr. E.: Der Luftschutz in Schulen und Hochschulen, Berlin 1942, S. 41. 21 Ebd. 22 Vgl. ebd. S. 42; S. 339. 23 Vgl. Konferenzbuch, S. 102. 24 Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o. O., o. J. vermutlich Hamburg 1955, S. 29.
25 Konferenzbuch, S. 103.; Vgl. Staatsarchiv Hamburg (StAHH) 322-3 B 76 Listen der Luftschutzkeller in Schulen (1943). 26 Vgl. Brietzke, Dirk: Luftangriffe, in: Kopitzsch, Franklin / Tilgner, Daniel (Hg.): Hamburg Lexikon, 4. Aufl., Hamburg 2010, S. 447. 27 Vgl. Böge, Volker/Jutta Deide-Lüchow: Bunkerleben und Kinderlandverschickung, Hamburg 1992, S. 18. 28 Vgl. Hering/Schmidt: Hamburger Schulen, S. 607; S. 794.
106 Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“ 107
Im Staatsarchiv Hamburg findet sich ein Bericht, in dem Hermann Herzog als zuständiger Betriebsluftschutzleiter der Schule das Ausmaß der Zerstörung beschrieb: Das Schulhaus Eduardstrasse 28/30 wurde in der Nacht auf den 25. Juli 1943 durch Fliegerangriff völlig demoliert. […] In kürzester Zeit stand die mit Betten und Strohsäcken der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] vollgestopfte Turnhalle in Flammen. Dann ging in nächster Nähe des Hauses eine Luftmine nieder und richtete unbeschreibliche Zerstörungen im Gebäude an. Sämtliche Fensterkreuze und Türpfosten wurden herausgerissen. Die leichteren Zwischenwände auf den Fluren stürzten ein. Die Treppen waren mit Trümmern bedeckt und durch herabgestürzte Hölzer versperrt. […] Löschversuche wären zwecklos gewesen, zumal a lles mit Rauch erfüllt war und die strahlende Hitze von der Strasse her den Aufenthalt im Erdgeschoss unmöglich machte.29 Die Schule in der Eduardstraße wurde nicht völlig zerstört, jedoch musste der Unterricht bis zum Kriegsende eingestellt werden.30 In den letzten Kriegsjahren wurden einige Räumlichkeiten des Schulgebäudes schulfremd vermietet
→ Willy
Sprengpfeil. Nach dem Krieg wurde der Schul-
betrieb unter zunächst erschwerten Bedingungen ab dem Frühjahr 1946 wiederaufgenommen.31 Die Wiederherstellung des Schulgebäudes war letztendlich erst im Jahre 1950 abgeschlossen.32 Dennis Krull
29 Staatsarchiv Hamburg (StaHH) 731-6 Zeitgeschichtliche Sammlung I 3 h, Berichte der Schulen des Kreises II über die Auswirkung der Großangriffe im Juli 1943, Blatt 21. 30 Vgl. Böge / Deide-Lüchow: Bunkerleben, S. 23.; Vgl. Herzog: 50 Jahre, S. 29. 31 Vgl. Herzog: 50 Jahre, S. 30 f. 32 Vgl. ebd., S. 33 f.
108 Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“
Bundesarchiv, Plak 003-026-054 / Grafiker: Die Vier | 1933/1945, Mitgliederwerbung für den Reichs- Luftschutzbund.
Luftschutz – Mobilmachung für die „Heimatfront“ 109
Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
Um eine Antwort hierauf zu versuchen, soll zunächst kurz die Programmatik der Volksgemeinschaft etwas genauer umrissen werden. Im Fokus der nationalsozialistischen Weltanschauung standen Rassismus und Antisemitismus, die die Grundlage für die Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten legten – zugunsten der „arischen Volksgenossen“. Wie viele vor ihnen beriefen sich auch die Nationalsozialisten auf Charles Darwins Lehre und konstruierten aus ihr einen „Sozialdarwinismus“: Die Menschheit, bestehend aus „höherwertigen und minderwertigen Rassen“, befände sich in einem Kampf, und nur die „höherwertige Rasse“ könne überleben. Damit war die nordische, die „arische Rasse“ gemeint, der sich andere „minderwertige Rassen“ unterordnen mussten.
„Wie immer auch das Leben und das Schicksal des Einzelnen sein
Insbesondere gegen den „Erbfeind der Arier“, den Juden, galt es sich ab-
mag, über jedem steht das Dasein und die Zukunft der Gesamtheit.
zugrenzen, indem die „Reinhaltung der Rasse“ beschworen und Juden
[…] Über Klassen und Stände, Berufe, Konfessionen und alle übrige
isoliert, schließlich sogar physisch vernichtet wurden. Aber auch Erb-
Wirrnis des Lebens hinweg erhebt sich die soziale Einheit der deut-
kranke und andere als „degeneriert“ oder „entartet“ geltende Deutsche
schen Menschen ohne Ansehen des Standes und der Herkunft, im
wurden aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Während sich die
Blute fundiert, durch ein tausendjähriges Leben zusammengefügt,
„Volksgemeinschaft“ nach außen zusehends gewalttätig abgrenzte, sollte
durch das Schicksal auf Gedeih und Verderb verbunden. Unser
sie nach innen als Gesinnungsgemeinschaft fungieren, in der die Volks-
Wille ist der Sieg der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft!“ 1
genossinnen und Volksgenossen die nationalsozialistische Weltanschauung teilten. Die „Volksgemeinschaft“ stellte mithin eine soziale Organi-
Die Idee einer nach „rassischen Prinzipien“ geordneten „Volksgemein-
sationsform dar, in der die Zugehörigkeit zu einer Rasse und die politi-
schaft“ war zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Weltan-
lles sche Gesinnung bestimmten, wer dazugehörte und wer nicht.2 Das a
schauung, wie dieser Auszug aus einer Rede Hitlers unterstreicht. Gleich-
hatte wenig mit Darwins Schriften zu tun, vor allem ging es darum, die
zeitig war sie Werkzeug und Ziel der NS-Politik. Der Wert und die Prin-
„Wissenschaftlichkeit“ der eigenen Weltanschauung zu untermauern.
zipien dieser rassistischen Gesellschaftsordnung wurden bereits Kindern
In den Konferenz-Protokollen der Mädchenschule Eduardstraße
vermittelt, die in dieses System hineinwachsen sollten. Die Schnittstelle,
kann man in einem Eintrag vom 31. Januar 1935 die rassenorientierte Aus-
an der die Nationalsozialisten Jungen und Mädchen mit der Idee der
richtung der Erziehung innerhalb der Schule erkennen:
Volksgemeinschaft in Berührung brachten, war – neben den Jugendorganisationen der NSDAP – die Schule. In welcher Form zeigte sich diese
„Herr Bd. hält ein kurzes Referat über das Buch von Benze „Rasse
Idee in der Volksschule Eduardstraße in Eimsbüttel?
u. Schule“ an das sich eine lebhafte Diskussion anschließt. Es ergibt sich die Forderung: Herausstellung des nordischen Zielbil-
1 Auszug aus Hitlers Rede am Heldengedenktag (10.03.1940), zitiert nach Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 – 1945, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 2.1, Würzburg 1963, S. 1477 – 1479.
110
2 Vgl. Süß, Dietmar: Süß, Winfried: „Volksgemeinschaft“ und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland, in: dies. (Hg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 79 – 83.
Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
111
des auf körperlichem und vor allem auf seelischem und geistigem Gebiet und möglichst Pflege der Menschen, die dieses Rassenbild in ihrem Wesen und Handeln verkörpern.“ 3 Dass es bei diesem Thema laut Protokolleintrag Anlass zum Diskutieren gab, lässt erahnen, dass auch Personen auf der Konferenz anwesend waren, die eine andere, nicht nationalsozialistische Meinung vertraten. Die anschließende Forderung nach der Herausstellung der „nordischen Rasse“ war jedoch eine, die ganz auf den Abstammungsprinzipien der
Hamburger Nachrichten v. 9.11.1933, Morgenausgabe, S. 4.
„Volksgemeinschaft“ gründete. Ein Instrument, um das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der „Volksgemeinschaft“ zu stärken, waren Sammlungen, die die Solidari-
kolliert.5 In einer Aufzeichnung vom Mai 1934 wird ebenfalls auf eine be-
tät gegenüber den „Volksgenossen“ stärken sollten und gleichzeitig den
vorstehende Kleidersammlung zugunsten bedürftiger Kinder hingewie-
Sozialstaat entlasteten. Immer wieder findet man in dem Konferenz-
sen, die während der Ferien aufs Land geschickt werden sollten.6 Dabei
buch der Volksschule Einträge zum „Winterhilfswerk des Deutschen Vol-
galten ebenso einige Kinder der Eduardstraße als bedürftig. So hieß es im
kes“ (WHW). Im September 1933 gegründet, sollte das Winterhilfswerk
Protokoll vom 27. November 1934: „Herstellung von Weihnachtsgeschen-
öffentlichkeitswirksam die Rolle des Nationalsozialisten als Wohltäter
ken für das Winterhilfswerk und Verteilung der angefertigten Sachen. […]
inszenieren und die „Volksgemeinschaft“ unterstützen. Dafür verteilte
Jedes beschenkte Kind soll einen Dankbrief schreiben, der aber keine Se-
es Sachmittel an bedürftige Haushalte, vor allem an Mütter und Kinder.
rienarbeit sein, nur den Dank und die Freude über den Gegenstand kenn-
In einer Konferenz vom 12. Oktober 1933 wurden die LehrerInnen der
zeichnen soll. Kinder, die Geschenke erhalten sollen, werden von den
Schule zur praktischen Mitarbeit aufgefordert. Sie sollten sich in der Be-
Klassenlehrern ausgewählt.“7
zirksstelle des WHV an ihrem Wohnort melden.4 Im November 1933 initiierte dann der Schulverein der Jungenschule
Schließlich unterstreicht ein Protokoll vom 31. Januar 1935 nochmals die
ein Fest, dessen Erlös in die Frühstücksspeisung für die Schulkinder flie-
Wichtigkeit der Wohlfahrtspflege im Nationalsozialismus: „6. Es soll ein
ßen sollte, wie eine Kurznotiz aus einer Hamburger Tageszeitung belegt.
Zeichenwettbewerb veranstaltet werden, der geeignet ist, den Gedan-
Ob von den Spenden nur Schüler in der Volksschule Eduardstraße profi-
ken der Winterhilfe in der Jugend zu stärken und das Werk selbst zu för-
tierten oder auch die Mädchen der Eduardstraße bzw. weitere Schulen,
dern.“8 Ganz im Sinne der Volksgemeinschaft blieben „Fremdrassige“
lässt der Artikel leider offen.
und „Asoziale“ sowie andere Minderheiten von den Leistungen des Win-
In der Weihnachtszeit sollten die Kinder der Volksschule Eduard-
terhilfswerks ausgeschlossen.
straße im Rahmen eines Pappkurses Geschenke für Bedürftige herstellen, wie ein Eintrag des Konferenzbuches vom 2. November 1933 proto-
3 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949, S. 63. 4 Ebd., S. 28.
112 Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
5 Ebd., S. 33. 6 Ebd., S. 45 f. 7 Ebd., S. 55 f. 8 Ebd., S. 60 f.
Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
113
Eng in Verbindung mit der „Volksgemeinschaft“ stand die Inszenierung des Führerkultes um Adolf Hitler, denn die Beziehung zwischen „Führer und Gefolge“ strukturierte das Gesellschaftsmodell hierarchisch. Die Verehrung Hitlers als gottgleiche Person einerseits, die Unterordnung des eigenen Ichs und die versuchte Aufhebung von Individualität andererseits waren wesentliche Merkmale. Die Person Adolf Hitler wurde als Identifikationssymbol das Bindeglied zwischen „Führerstaat“ und „Volksgemeinschaft“.9 In den Quellen des Archivs der Volksschule Eduardstraße kann man vereinzelt erkennen, wie der Führerkult auch den dortigen Schulalltag prägte. Auf den ersten Seiten des Konferenzbuches steht für den 18. August 1933 geschrieben: „1. Einführung des Hitlergrußes Die Kinder haben sich in Zukunft beim Kommen u. Gehen des Hitlergrußes zu bedienen. Sie haben zu grüßen, wenn eine neue Lehrkraft die Klasse betritt, ebenso sollen fremde Personen, die sich im Schulgebäude befinden, durch Erheben des rechten Armes bis zur Kinnhöhe gegrüßt werden. Die Lehrkräfte sollen ebenfalls mit dem Hitlergruß danken.“ 10 Ein
→ Diktatheft,
welches vermutlich aus dem Jahr 1934 stammt, gibt
gleichermaßen darüber Aufschluss, wie stark der Führerkult auch an der Volksschule präsent gewesen sein muss. Gleich das erste Diktat ist Adolf
Deutsches Historisches Museum / A. Psille, Inv.-Nr.: 1988/666, Türschild mit der Aufforderung zum „Hitler-Gruß“ nach 1933, Eisen.
Hitler gewidmet: „Heute, den 20. April 1934, feiert unser Führer, Adolf Hitler, seinen 45. Geburtstag.“11 Auch die ehemaligen Schülerinnen der
parade stattgefunden haben soll, zu welcher die SchülerInnen auf der
Mädchenschule Ingrid Schwarz und Hannelore Prüssing (→ Zeitzeugin-
Straße vor dem Schulgebäude antraten
→ Feiern
und Feste. „Flagge –
nen) erinnerten sich in einem persönlichen Gespräch an das Flaggenhis-
heiß!“ soll das Kommando zum Hissen der Hakenkreuzfahne gelautet
sen, das Zeigen des Hitlergrußes oder „Geburtstagsständchen für den
haben. Während des Hissens der Fahne hoben LehrerInnen und Kinder
Führer“. Dem Jubiläumsheft zum 50-jährigen Bestehen der Volksschule
den rechten Arm und sangen Lieder.12
Eduardstraße kann man entnehmen, dass jeden Montag eine Flaggen
Neben der Schule waren Jugendorganisationen wie die
→ Hitler
jugend (HJ) und der Bund Deutscher Mädel (BDM) wichtige Instanzen, 9 Vgl. Nolzen, Armin: Der „Führer“ und seine Partei, in: Winfried Süß, Dietmar Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 70 – 74. 10 Konferenz-Protokoll Eduardstr., S. 20. 11 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Diktatheft, S. 1.
114 Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
um ein Gefühl der → Volksgemeinschaft hervorzurufen und nationalsozi 12 Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o. O., o. J. vermutlich Hamburg 1955, S. 27.
Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
115
alistisches Gedankengut zu indoktrinieren. Ebenfalls sollte das neu ein-
Daneben gab es einen „Bericht der Eltern für gesundheitliche und
geführte Unterrichtsfach Rassenkunde das Gefühl einer „Volksgemein-
fürsorgliche Zwecke“17. Dies war ein handschriftlich auszufüllender Be-
schaft“ verstärken, in der „minderwertige Rassen“ nicht dazugehörten
richt der Eltern über die körperlichen und geistigen Fähigkeiten ihres
→ Ideologie
im Schulalltag. Welche Dimensionen nahm nun die Ausgren-
Kindes, seine besonderen Talente oder den zukünftigen Beruf. Diesem
zung jüdischer SchülerInnen im Sinne der „Volksgemeinschaft“ in der
Bericht war eine Ahnentafel in Tabellenform angehängt. In der ersten
Volksschule Eduardstraße an?
Tabelle waren die Geschwister des Kindes einzutragen. In einer zweiten
In dem Lehrerkonferenzbuch werden jüdische SchülerInnen erst-
Tabelle mussten die Eltern Angaben über sich selbst sowie Angaben über
mals in einem Protokoll vom 14. September 1933 erwähnt. Jüdische Schü-
die Großeltern väterlicherseits und die Großeltern mütterlicherseits ma-
lerinnen, heißt es hier, seien während ihrer Herbstfeiertage vom Unter-
chen. Eine dritte Tabelle war für fernere Verwandte wie Onkel und Tan-
richt befreit.13 Zwei Jahre später kann man dem Protokoll vom 28. Sep-
ten oder Großonkel und Großtanten vorgesehen. Hier könnte es neben
tember 1935 entnehmen: „Zur Feststellung jüdischer Schülerinnen soll
der Feststellung der „Rasse“ auch um die Erfassung von vermeintlich erb-
ein Fragebogen angefertigt werden.“14 Am 3. Dezember 1937 steht auf der
kranken Kindern gegangen sein. Ihnen drohten die Überstellung in eine
Tagesordnung: „Herr B. erinnert an den arischen Nachweis.“15
Hilfsschule bzw. weitere Zwangsmaßnahmen wie eine Sterilisation.
Die vorliegenden Schülerbögen aus der Zeit zwischen 1937 und 1944
Ein Schülerbogen aus dem Jahr 1940 gibt darüber Aufschluss, dass bei
weisen darauf hin, dass die „Abstammung“ zwar abgefragt, die Beant-
dem Übergang auf eine der weiterführenden Schulen Oberbau, Mittel-
wortung aber von den Eltern eher nachlässig gehandhabt worden sein
schule oder höhere Schule ein sogenannter Fragebogen über die Abstam-
muss
und Schüler. In den Schülerbögen findet man ein
mung auszufüllen war. Frage acht lautete: „Ist der Schüler/ die Schüle-
Exemplar des Fragebogens zur Feststellung jüdischer Schüler. Im Auf-
→ Schülerinnen
rin deutschen oder artverwandten Blutes?“18 Daran schloss sich die Frage
trag der Landesunterrichtsbehörde sollten die Eltern des Kindes ange-
nach der Abstammung der Eltern und Großeltern väterlicher- und müt-
ben, ob Vater und Mutter, die Großeltern väterlicherseits und die Groß-
terlicherseits an, insbesondere die Frage danach, ob die Familienmitglie-
eltern mütterlicherseits jüdisch oder nicht jüdisch seien. Das Nichtzu-
der jüdisch seien. Einer Ergänzung des Fragebogens konnte man entneh-
treffende sei zu streichen. Galt das Kind nach rassenpolitischer Logik als
men, dass zur Überprüfung der Angaben die Geburtsurkunde des Kin-
jüdisch, sollte zudem angegeben werden, ob das Kind mosaischen, ka-
des, die Geburtsurkunden der Eltern sowie die Heiratsurkunde vorgelegt
tholischen oder evangelischen Glaubens sei, konnte ein jüdisches Kind
werden mussten.19 Allerdings war bereits am 15. November 1938 jüdischen
doch konvertiert sein. Denn der Übertritt zu einer anderen Kirche än-
Kindern der Besuch „deutscher“ Schulen verboten worden. Das Attentat
derte nichts daran, dass der Junge oder das Mädchen als „jüdisch“ galt.
des polnischen Juden Herschel Grynszpan, dessen Familie aus Deutsch-
Unterzeichnet wurde der Fragebogen von einer Person namens Johannes
land abgeschoben worden war, auf einen deutschen Diplomaten in Paris
Saas. Der Fragebogen wurde auf den 1. Oktober 1935 datiert, er muss folg-
und die sich anschließende Reichspogromnacht waren für die National-
lich kurz nach dem Eintrag im Konferenzbuch entstanden oder in Um-
sozialisten willkommener Anlass gewesen, ihre antijüdischen Maßnah-
lauf geraten sein.16
men zu verstärken und Juden immer weiter aus der „Volksgemeinschaft“ auszuschließen. In einem Schreiben des zuständigen Staatssekretärs im
13 Konferenz-Protokoll Eduardstr., S. 25. 14 Ebd., S. 68. 15 Ebd., S. 85. 16 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1940 – 1944, Nr. 41. 27.
116 Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
17 Abgänge 1940 – 1944, Nr. 40. 22. 18 Ebd., Nr. 40. 25. 19 Ebd.
Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
117
Reichserziehungsministerium hieß es, es könne „keinem deutschen Lehrer mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen.“ Auch verstehe es „sich von selbst, dass es für deutsche Schülerinnen und Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.“20 Zum „deutschen Volk“ zu gehören, war keine Frage von Nationa-
Willy Sprengpfeil und seine Mützenfabrik – ein Untermieter zieht ein
lität mehr, sondern von „Rasse“. Elisabeth Jena
In der Nacht auf den 25. Juli 1943 zerstörten schwere Luftangriffe das Gebäude der Volksschule Eduardstraße und machten es auf Jahre hinaus unbrauchbar für den Unterricht. Jedoch stand das Haus keineswegs völlig leer. Denn es fand sich eine Untermieterin, die zumindest Teile des Gebäudes nutzte: die Firma Willy Sprengfeil. Der Unternehmer Sprengpfeil mietete die Räume zum Jahresbeginn 1944 an.1 Zuvor hatte seine Mützenfabrik ihre Räumlichkeiten jahrelang in unmittelbarer Nähe zur Schule gehabt, nämlich in der Eduardstraße 46 – 48.2 Bereits 1911 wurde der Betrieb unter dem Namen Gebrüder Sprengpfeil gegründet, 1919 erfolgte der Eintrag ins Handelsregister. Willy Sprengpfeil wurde alleiniger Eigentümer, zog 1926 nach Eimsbüttel um und profitierte nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten von der militärischen Wiederaufrüstung. Die Firma stellte die gesamte Palette an Schirmmützen für alle Sparten des Militärs her. Außerdem kaufte sich Sprengpfeil, wie einer Werbeanzeige zu entnehmen ist, eine RZM-Lizenz der Reichszeugmeisterei und war damit berechtigt, entsprechend genauer Vorgaben Mützen für die NSDAP zu produzieren.
20 Zit. nach Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Band 1: Die Jahre der Verfolgung, München 1998, S. 307.
118 Volksgemeinschaft – zwischen Einschluss und Ausschluss
1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Personalienbuch 1944 – 1966, S. 3 – 4. 2 Hamburger Adressbuch 1926, Zweiter Abschnitt, Hamburg, 1926, II/993, URL: http://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/ view?did=c1:543296&sdid=c1:544324&hit=134 (eingesehen am 07.07.2018).
119
Im Personalienbuch der Schule, in dem eigentlich die Namen und Anschriften des LehrerInnenkollegiums dokumentiert wurden, finden sich gleich mehrere Notizen zur Mützenfabrik von Willy Sprengpfeil. Eine Liste informiert über das Inventar, das die Schule an die Fabrik ausgeliehen hatte. Zudem gibt es eine Aufstellung über Kosten, die der Schule durch ihren Untermieter entstanden waren. Diese verrät sowohl die Anzahl und Funktion der gemieteten Räume als auch den Zeitpunkt, von dem an diese Räume belegt wurden. Doch wofür genau mietete Willy Sprengpfeil die Räume der Eduardstraße 28 an? Ein Blick in die Liste des geliehenen Inventars gibt auch hierüber Aufschluss. In der Liste finden sich 3 Nähmaschinen, 3 Werktische und weiteres Inventar, das zur Fertigung von Mützen genutzt werden konnte. Des Weiteren finden sich im Hamburger Anzeiger zwei Annoncen, die von Sprengpfeil geschaltet wurden und mit der Eduardstraße 28 adressiert waren.4 Im Eintrag vom 15. April 1944 suchte Sprengpfeil nach „Heimnäherinnen“. Das Hamburger Adressbuch von 19475 bestätigt die Vermutung, dass die Mützenfabrik die Räume der Eduardstraße 28 seit dem 1. Januar 1944 nicht etwa als Lager, sondern für die Werbeanzeige aus der Fachzeitung Uniformen-Markt 5. Jg. vom 15.10.1938, S. 317, Foto: Hendrik Althoff.
In derselben Anzeige aus dem Jahr 1938 präsentiert sich die Fabrik außerdem als stolzes Mitglied der ADEFA, der Arbeitsgemeinschaft deutscher Fabrikanten der Bekleidungsindustrie. Der Verein hatte bereits vor 1933 bestanden, verschrieb sich jedoch schnell der nationalsozialistischen P olitik. Nach einer Umbenennung 1934 verstand sich die ADEFA als Zusammenschluss deutsch-arischer Fabrikanten. In den folgenden Jahren war der Verein ein wichtiges Werkzeug des NS-Regimes zur „Entjudung“ der Bekleidungsindustrie, in der jüdische Kaufleute und Fabrikanten traditionell stark vertreten waren. Wer der ADEFA beitrat, musste alle Geschäftsbeziehungen zu Juden und „jüdischen Firmen“ abbrechen, erhielt dafür aber günstige Darlehen und durfte ab 1938 – wie auch Sprengpfeil – mit dem Slogan „Ware aus arischer Hand“ werben.3 Hierzu gezwungen wurde das Unternehmen jedoch nicht. Heute sind die Mützen heiß begehrt: Für eine „echte Sprengpfeil“ zahlen Sammler mehrere Hundert Euro.
120 Willy Sprengpfeil und seine Mützenfabrik – ein Untermieter zieht ein
Produktion von Mützen nutzte, wahrscheinlich weil das alte Fabrik gebäude ebenfalls 1943 bei den Bombenangriffen zerstört worden war. 3 Schnaus, Julia: Kleidung zieht jeden an. Die deutsche Bekleidungsindustrie 1918 bis 1973 (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, Bd. 20), Berlin 2017, S. 112 – 116. 4 Hamburger Anzeiger, 15.04.1944, S. 8, URL: http://www. theeuropeanlibrary.org/tel4/newspapers/issue/3000094647206?hp =8&count=100&sortBy=dateasc&page=8&query=Volksschule+ Eduardstra%C3%9Fe+28&offset=200&y=5106.0&x=892.0 (eingesehen am 02.07.2018); ebenda 11.03.1944, S. 8. URL: http://www. theeuropeanlibrary.org/tel4/newspapers/issue/3000094647295?hp =8&count=100&sortBy=dateasc&page=8&query=Volksschule+Eduar dstra%C3%9Fe+28&offset=200&y=2548.0&x=868.0 (eingesehen am 02.07.2018). 5 Hamburger Adressbuch 1947 Namenteil Namen. Hamburg, 1947, II/371, URL: http://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/ view;jsessionid=F093C076992F81F1F6329CE200FEE723.agora11? did=c1:465592&sdid=c1:465965 (eingesehen am 02.07.2018). Hier wurde die Mützenfabrik ebenfalls noch unter der Adresse der Volksschule aufgeführt.
Willy Sprengpfeil und seine Mützenfabrik – ein Untermieter zieht ein
121
Bis in das Jahr 1949 wurde die Firma im Adressbuch unter der Eduardstraße 28 geführt, bevor sie dann in die Paulinenallee 32 umzog.6 Bereits im Juni 1946 zog das Kollegium der Mädchenschule wieder in das Ge-
Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes?
bäude der Eduardstraße ein und belegte es somit vorübergehend zeitgleich mit der Mützenfabrik. Da es aber weder Fenster noch Inventar gab, fiel in diesem Zeitraum der Unterricht des Öfteren aus, oder die Schülerinnen waren zu Gast an anderen Schulen, bis die Volksschule Eduardstraße nach einer notdürftigen Instandsetzung und mit notdürftigem Inventar 1947 wiedereröffnet wurde.7 Justin Retelsdorf Den LehrerInnen wurde in der Zeit des Nationalsozialismus eine besondere Rolle zugeordnet. Als Autoritätspersonen spielten sie im Alltag der SchülerInnen eine zentrale Rolle als Orientierungsfiguren und zu vielen Themen war der Unterricht damals für die Kinder die einzige Informationsquelle. Die Nationalsozialisten erkannten früh, dass LehrerInnen durch gezielten Unterricht sehr effektiv Einfluss auf politische Überzeugungen und moralische Haltungen der Kinder ausüben konnten. Während dies im heutigen Verständnis von Unterricht möglichst verhindert werden soll, galt in der Zeit des Nationalsozialismus die Lehre als Form der Indoktrination. Die Kinder sollten die nationalsozialistische
→ Ideo-
logie im Schulalltag möglichst früh und umfassend verinnerlichen. Die LehrerInnen waren die Vermittler, mit denen diese Indoktrination gelang – oder scheiterte. Ein/e gute/r LehrerIn war im Sinne des Regimes daher nur, wer sich zum Sprachrohr des Regimes machte. Das tatheft, das
→ Aufsatzheft
→ Dik-
und das Gedicht belegen aber, dass es durch-
aus auch ideologiefreien Unterricht gab – oder zumindest ideologiefreie Unterrichtsstunden.
6 Hamburger Adressbuch 1949 Namenteil Namen, Hamburg, 1949, II/450, URL: http://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/view;jsessionid=F093 C076992F81F1F6329CE200FEE723.agora11?did=c1:309372&sdid=c1:309821 (eingesehen am 03.07.18). 7 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, H. Herzog, 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955. S. 30.
122 Willy Sprengpfeil und seine Mützenfabrik – ein Untermieter zieht ein
Die Gleichschaltung des Kollegiums nach 1933 Ein Aufruf an die Vorbildfunktion ist im Lehrerkonferenzbuch der Volksschule für Mädchen bereits im August 1933 zu finden. Der Direktor Friedrich Bödecker fordert darin: „Das Verhalten des Lehrkörpers muß
123
beispielgebend sein für Schüler und Elternschaft; die Lehrer sind in erster Linie dazu berufen, den neuen Staat zu festigen und auszubauen.“1 Im April 1934 folgt die Aufforderung, dass eine „eindeutige politische Haltung der Lehrerschaft“2 vorausgesetzt werde. Ein weiterer Eintrag im gleichen Jahr macht deutlich, dass der Direktor dies als äußerst wichtig ansah. „Herr Bödecker betont die bewußt politische Erziehung unserer Schuljugend zum Nationalsozialismus. Herr Bödecker fühlt sich für die Durchführung dieser Erziehung in unserer Schule verantwortlich.“3 Es war also die Pflicht der LehrerInnen, sich öffentlich zum National sozialismus zu bekennen und die SchülerInnen dementsprechend zu erziehen. Gleichzeitig könnte man diese Sätze aber auch so lesen, dass Bödecker eine nicht nur positive Haltung zur neuen NS-Regierung bei seinen KollegInnen vermutete und ihnen nicht zuletzt deshalb diese mahnenden, ja fast drohenden Worte ins Protokollbuch schreiben ließ. Für diese neuen Erziehungsziele musste auch neues Personal her. Bereits seit 1933 wurden „Säuberungen“ der Lehrerschaften vorgenommen. Dies geschah vor allem durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933
→ Zur
Einführung II:
Die Volksschule Eduardstraße im Nationalsozialismus. Das Phänomen von Massenentlassungen lässt sich für Hamburg aber nicht bestätigen, hier wurden von 7.191 Lehrerinnen und Lehrern 637 Lehrkräfte aus dem
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Lehrer und Lehrerinnen der Mädchenschule 1924. Frieda Happach (hinten 2. v. l.), Magdalena Sörmann (3. v. r.), Anna Stegemann (2. v. r.) und Ernst Brehling (vorne 3. v. r.) waren auch im Schuljahr 1932/33 noch Teil des Kollegiums.
Dienst vertrieben.4 Dabei wurden vor allem Schulleiter, die zum Beispiel Reformpädagogen waren, durch Parteifunktionäre oder systemtreue Schulleiter ersetzt.5 Andere LehrerInnen wurden zu Schulungen an soge-
die Volksschule Eduardstraße: Laut des Hamburger Lehrerverzeichnis-
nannte Lehrerbildungsanstalten geschickt. Auf diese Weise wurde sicher
ses gab es im Schuljahr 1932/33 insgesamt 24 LehrerInnen, von denen
gestellt, dass möglichst alle LehrerInnen die Ansichten des Regimes
14 weiblich und zehn männlich waren. Im Schuljahr 1934/35 bestand das
kannten und „passend“ in den Unterricht einbauten.6 Dies galt auch für
Kollegium noch aus 20 Personen, 11 Männern und 9 Frauen. Der Personalaustausch war dabei erheblich gewesen: 9 Lehrerinnen und 3 Lehrer
1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i.F.: Konferenzbuch), S. 20. 2 Ebd. S. 43. 3 Konferenzbuch, S. 49. 4 Lorent, Hans-Peter de: Täterprofile. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz, Hamburg 2016, S. 36. 5 Vgl. ebd., S. 35. 6 Bäumer-Schleinkofer, Änne: NS-Biologie und Schule, Frankfurt 1992, Vorwort.
124 Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ?
hatten die Schule verlassen (müssen). Insbesondere verheiratete Lehrerinnen wurden aus dem Beruf und besonders aus Führungspositionen entlassen. Damit wurde dem tradi tionellen Familienbild nachgegangen, nach dem Frauen der „Mutterrolle“ nachkommen und Männer das Geld für die Familie verdienen sollten. Angesichts der seit 1929 akuten schweren Wirtschaftskrise forcierte das NS-Regime diese Politik, „Doppelverdienerinnen“ zu entlassen, um
Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ? 125
damit arbeitslosen Männern mutmaßlich Jobs zu verschaffen. An der
eingeführt. Die Ausbildung sollte die LehrerInnen „in der nationalsozia
Volksschule Eduardstraße ist dies ebenfalls zu erkennen. Im Konferenz-
listischen Weltanschauung“ verwurzeln und eine ideologiekonforme
buch ist erwähnt: „Beamtenfrauen dürfen keine Berufstätigkeit ausfüh-
Erziehung der SchülerInnen an den Volksschulen garantieren. Es wurden
ren“7. So war beispielweise Frieda Happach im Jahr 1933 noch stellver-
Vorträge und Informationsveranstaltungen gehalten. Das Konferenz-
tretende Schulleiterin der Mädchenschule gewesen. Ab dem Jahr 1934 ist
buch verweist an einer Stelle auf Veranstaltungsreihen, die durch das In-
sie jedoch nur noch als einfache Lehrerin der Schule verzeichnet, ihre
stitut für Lehrerfortbildung organisiert wurden.10 Die Hochschulen wur-
Leitungsposition war durch einen männlichen Nachfolger ersetzt wor-
den 1941 zu Lehrerbildungsanstalten (LBA) umgewandelt. Dort konn-
den. Auch die Lehrerin Olga Stoffregen wurde als Ehefrau Ihres Mannes
ten nicht nur Abiturienten, sondern ebenfalls Abgänger von Volks- und
→ Friedrich
Stoffregen 1933 entlassen.8 Weiter ist zu erkennen, dass 1935
Mittelschulen zu Lehrern ausgebildet werden. Denn im Krieg herrschte
nur noch eine Lehrerin, und zwar an der Jungenschule, lehrte. Alle an-
durch die Einberufungen Lehrermangel, welcher so vermindert werden
deren Lehrerinnen wurden zwischen 1934 und 1935 entlassen und durch
sollte.11 Damit stiegen die Chancen von Frauen wieder, den Lehrerinnen-
männliche Lehrer ersetzt. Zwei der zwangsgekündigten Frauen wurden
beruf ergreifen zu können. An die Volksschule Eduardstraße kamen aus-
1938 jedoch wieder eingestellt. Insgesamt sank die Zahl der weiblichen
weislich einer Liste in der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen mindes-
Lehrkräfte von 14 im Schuljahr 1932/33 auf 8 im Schuljahr 1938/39. Die
tens 5 Lehrerinnen während des Krieges neu ins Kollegium. Die Angaben
Zahl der Lehrer ging kurzfristig auch zurück, von 10 auf 7 Pädagogen im
in der Übersicht sind aber nicht immer zuverlässig, weil unvollständig.
Schuljahr 1935/36. 1938/39 lehrten aber wieder 10 Männer. Mit dem in
Es ist davon auszugehen, dass es trotz der Entlassungen und der Um-
der Regel vermutlich unfreiwilligen Personalwechsel verjüngte sich das
gestaltung der LehrerInnenausbildung noch viele LehrerInnen gab, die
Kollegium. Das Durchschnittsalter sank bei den Lehrern von 43 auf 39
dem Regime zumindest zeitweise oder in Teilen kritisch gegenüberstan-
Jahre, bei den Lehrerinnen von 43 auf 38 Jahre. Vor Kriegsbeginn lag es
den. Die Lehrerschaft scheint das breite politische Spektrum, welches im
aber wieder bei den Werten von 1933.9
Stadtteil Eimsbüttel herrschte, widerzuspiegeln. So war dieser Stadtteil bereits vor 1933 als „Roter Stadtteil“ bekannt, da dort viele Arbeiter und
Reform der Ausbildung von VolksschullehrerInnen
SPD- bzw. KPD- Anhänger lebten
→ Zur
Einführung I: Die Volksschule
Eduardstraße vor 1933.12 Es gab jedoch vor 1933 bereits eine aktive NS- Bewegung in Eimsbüttel.13 Bei den letzten freien Reichstagswahlen im
Die Ausbildung der VolksschullehrerInnen wurde direkt nach der Macht-
November 1932 war die NSDAP hier auf 28,0 Prozent der abgegebenen
übernahme reformiert. Ab 1933 wurden Hochschulen für Lehrerbildung gegründet, in denen die LehrerInnen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ausgebildet werden sollten. Es wurden neue Lehrfelder wie Volkskunde, Wehrgeographie, Grenzlandkunde und Rassenkunde 7 Konferenzbuch, S. 33. 8 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 10497. 9 Hamburgisches Lehrerverzeichnis für das gesamte Stadt- und Landgebiet, drei Bände Schuljahr 1932 / 1933 bis 1938 / 39, Hamburg 1933 – 1939.
126 Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ?
10 Konferenzbuch, S. 46. 11 Link, Jörg-Werner: „Erziehungsstätte des deutschen Volkes“ – Die Volksschule im Nationalsozialismus, in: ders., Horn, Klaus- Peter (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus, Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 91. 12 Lohmeyer, Susanne: Stadtteile Eimsbüttel und Hoheluft-West in der NS-Zeit, in: Landeszentrale für politische Bildung, 2012 URL: http://www.hamburg.de/clp/dabeigewesene-dokumente/ clp1/ns-dabeigewesene/onepage.php?BIOID=781 (eingesehen am 22.08.2018). 13 Ebd.
Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ? 127
Wählerstimmen gekommen, während sie in Hamburg insgesamt bei
Resümierend lässt sich festhalten: Das Berufsbild des Lehrers hatte
lediglich 26,6 Prozent gelegen hatte. Besonders gut hatte die Partei in
sich im Dritten Reich erheblich verändert. Die Stellung des Lehrers
den Gebieten abgeschnitten, die kleinbürgerlich geprägt waren und in
wurde vor allem instrumentalisiert, um die politischen Überzeugungen
denen Handwerker und kleine Gewerbetreibende lebten. So hatte sie
des Regimes an die nächsten Generationen weiterzugeben. Um die schul-
in den beiden Wahlbezirken um den Eimsbütteler Marktplatz, der den
politischen Erlasse und Gebote ist auch die Volksschule Eduardstraße
Schulbezirk der Volksschule Eduardstraße ausmachte, 42,2 % und 45,4 %
nicht herumgekommen. Jedoch gab es auch in der NS-Diktatur noch
der Stimmen erhalten.
Handlungsräume und Entscheidungsmöglichkeiten. Die meisten pass-
Für eher links ausgerichtete LehrerInnen, die im Beruf bleiben durf-
ten sich an, wenngleich mitunter murrend, offener Dissens war höchst
ten, wurde der Machtantritt der Nationalsozialisten zum Problem. Ihre
selten, stillschweigendes Umgehen gab es vermutlich öfter → Diktatheft.
demokratische Überzeugung wollte nicht jede/r LehrerIn aufgeben. Sie
Überzeugte Nationalsozialisten, die die Kollegen auf den „rechten Weg“
konnten jedoch ihre eigentliche Meinung nicht äußern bzw. nur schwer
führen wollten, abweichendes Verhalten denunzierten oder anderwei-
im Unterricht durchscheinen lassen. Wenn LehrerInnen durch nonkon-
tig für ein Klima von Einschüchterung und existenzieller Angst sorgten,
formes Verhalten auf sich aufmerksam machten, konnte dies gravierende
scheint es aber in der Volksschule Eduardstraße, so zumindest nach heu-
Folgen für ihre berufliche Laufbahn haben. Dies galt z. B. für
tigem Kenntnisstand, nicht gegeben zu haben.
→ Otto
Wommelsdorf, der seit 1928 Lehrer an der Volksschule Eduardstraße war. Der bekannte Pädagoge war trotz seiner Mitgliedschaft in der Sozial
Janina Eggers
demokratischen Partei (SPD) noch im Jahre 1934 zum stellvertretenden Direktor der Jungenschule ernannt worden. Auf Grund von „Uneinigkeit mit Parteianweisungen“14 wurde er 1939 jedoch aus dem Schuldienst entlassen. Vermutlich stand dies im Zusammenhang mit seiner reformpädagogischen Arbeit in Hamburg und seiner politischen Einstellung.15 Ein Beispiel dafür, dass es jedoch auch LehrerInnen gab, die Angst vor den Auswirkungen von Nonkonformität hatten, ist
→ Werner
Walter
Melchior, welcher 1938 Lehrer an der Volksschule Eduardstraße gewesen ist. Er war Mitglied der NSDAP, im NSV und im NS Lehrerbund. Von 1937 bis 1942 war er als NS-Blockleiter tätig und somit im Korps der politischen Leiter, allerdings auf der untersten Ebene. In seiner Entnazifizierungsakte ist jedoch vermerkt, dass es sich bei allen Mitgliedschaften und Funktionen, in denen Melchior tätig war, nur um Entscheidungen handelt, welche er auf Druck von außen getätigt hatte. Er habe sich auch als Blockwalter nicht selbst politisch betätigt.16 14 StAHH, 361-3 Personalakte, Nr. 1326, Bl. 2, Otto Wommelsdorf. 15 Lorent, Hans-Peter de: Täterprofile, S. 420. 16 StAHH, 221-11 Entnazifizierungsakte, Nr.9442, Bl.1, Werner Melchior.
128 Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ?
Lehrerinnen und Lehrer – Sprachrohr des NS-Regimes ? 129
Hermann Hoffmann – SS-Mitgliedschaft als Episode
die Dauer seiner Mitgliedschaft nicht bekannt. Ungewöhnlicher für diese frühe Phase des Regimes ist, dass Hoffmann bereits im selben Jahr der Schutzstaffel der NSDAP beitrat. Die Schutzstaffel, kurz SS, hatte die NSDAP im Jahr 1925 als Organisation zum Schutz Hitlers gegründet. Im Januar 1929 ernannte H itler Heinrich Himmler zum Reichsführer SS, der innerhalb und mithilfe des Verbandes eine Elite der NSDAP formen sollte.3 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelang es Himmler, die Beitrittsvoraussetzungen für neue Bewerber entscheidend zu verschärfen. Neben einer ärztlichen Musterung mussten SS-Bewerber ein Führungszeugnis, einen sogenannten „Erbgesundheitsbogen“ und einen großen Abstammungs-
Dieser Eintrag soll beispielhaft die Biografie eines jüngeren Lehrers der
nachweis vorlegen. Letzterer sollte belegen, dass kein Vorfahre bis in das
Volksschule Eduardstraße in den Blick nehmen. Grundlage der folgenden
Jahr 1800 „Jude“ gewesen war. Gleichzeitig war ab 1934 eine sogenannte
Ausführungen ist die Entnazifizierungsakte von Hermann Hoffmann im
„Rassemusterung“ für neue Bewerber Pflicht. Diese Begutachtung sollte
Hamburger Staatsarchiv. Hoffmann wollte 1950 wieder als Lehrer arbei-
Aufschluss über die äußerliche Erscheinung und körperliche Verfassung
ten und musste sich hierfür „entnazifizieren“ lassen. Konkret hieß das für
eines Bewerbers geben.4 Je mehr Körper und Aussehen dem Idealbild der
ihn einen fünfseitigen Fragebogen auszufüllen, anhand dessen eine Kam-
Nationalsozialisten entsprachen, desto besser war die Bewertung in e iner
mer aus Hamburger Juristen und Laien darüber entschied, in welche der
solchen Musterung. Himmler kündigte zudem an, dass auch Mitglieder,
fünf Kategorien – Haupttäter, belastet, minderbelastet, Mitläufer oder
deren Eintritt in die SS vor Oktober 1934 stattfand, erneut gemustert
unbelastet – Hoffmann einzustufen wäre.1
werden müssten, um die SS „rassisch“ weiter zu heben.5 Auf Dauer er-
Hoffmann, geboren am 14. Oktober 1907 in Altona, hatte im Jahr 1931
wies sich dieses umfangreiche Verfahren jedoch nicht als praktikabel und
sein Studium an der Universität Hamburg mit dem Staatsexamen abge-
nach einigen Klagen in Bezug auf die oberflächliche Musterung wurde
schlossen und war zunächst Hauptschullehrer geworden. Zwei Jahre spä-
das Aufnahmeverfahren zunehmend vereinfacht.6
ter, direkt nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, trat
nderen Ob sein Austritt der beschriebenen Nachmusterung oder a
Hoffmann dem Nationalsozialistischen Lehrerbund bei. Er wurde auch
Beweggründen geschuldet war, geht aus seiner Entnazifizierungsakte
Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt2 (NSV), jedoch ist
nicht hervor: Hermann Hoffmann jedenfalls verließ die SS bereits nach einem Jahr wieder.7 Eine Personalakte zu ihm gibt es im Hamburger
1 Vgl. Strupp, Christoph: Entnazifizierung, URL: https://geschichtsbuch. hamburg.de/epochen/nachkriegszeit/entnazifizierung/ (30.07.2018); Lorent, Hans-Peter de, Täterprofile: Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz, Band 1 und 2, Hamburg 2016 – 2017. Leider enthält die Akte kein Foto von Hoffmann. 2 Die NSV wurde 1932 gegründet und war ein an die NSDAP angeschlossener Verband, dessen Aufgabe die Betreuung und Unterstützung von hilfsbedürftigen Familien sowie einzelnen Erwachsenen und Jugendlichen war. Vgl. Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1998, S. 443.
130
Staatsarchiv nicht, daher bleibt vieles im Unklaren, was seinen beruflichen Werdegang als Lehrer betrifft. 3 Ebd., S. 590. 4 Hein, Bastian: Die SS. Geschichte und Verbrechen, München 2015, S. 30 – 32. 5 Ebd., S. 33. 6 Ebd., S. 34 f. 7 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 221-11_73069 Hermann Hoffmann.
Hermann Hoffmann – SS-Mitgliedschaft als Episode
131
Einige biographische Aspekte sind aber in seiner Entnazifizierungs-
politisch harmloser Mann ist, obwohl der zeitweilig der SS angehört hat.
akte dokumentiert. Durch eine Prüfung im Jahr 1934 erlangte er die Be-
Der Beratende Ausschuß hat keine Bedenken gegen eine Wiederverwen-
fähigung für eine feste Anstellung an öffentlichen Volksschulen. Es ist
dung Hoffmanns als Lehrer.“9 Dieses Schreiben ist auf den 16. und 24.
wiederum unklar, an welchen Schulen er arbeitete, bevor er an die Volks-
Januar 1950 datiert. Trotz ausgedehnterer Recherche ist über Hoffmanns
schule Eduardstraße wechselte. Im Jahr 1938 nahm er seinen Dienst in
weiteren Verbleib nichts bekannt.
der Eduardstraße 30, der Knabenschule, auf. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen dort gab Hoffmann an, der NSDAP im Jahr 1937 beige-
Helena Strotmann
treten zu sein. Hierzu geht aus der Entnazifizierungsakte von Hermann Herzog, Lehrer und später stellvertretender Schulleiter an der Eduardstraße 30, hervor, dass die meisten Lehrer, „durch ein Rundschreiben des Oberschulrats Mansfeld an die Lehrerschaft, daß es künftig untragbar erscheinen würde, wenn ein Beamter nicht Mitglied der Partei sei,“8 1937 vermutlich eher widerstrebend in die Partei eingetreten seien. Hoffmann musste seine Lehrtätigkeit an der Knabenschule zu Beginn des Krieges wieder aufgeben, weil er zur Wehrmacht einberufen wurde. Dafür wurde er bereits im Jahr 1938 in der Flakkaserne Osdorf in zwei Monaten zum Kanonier ausgebildet, bevor er dann während des gesamten Zweiten Weltkrieges in der Wehrmacht diente. Als höchstes Amt gibt er dabei das Kürzel „San. Ofw.“ für Sanitäts-Oberfeldwebel an. Hoffmann bekleidete dieses Amt ab 1943. Interessant ist, dass er seine Aufenthaltsorte während des Krieges genau auf dem Entnazifizierungsbogen dokumentierte. So war er ab 1940 in Frankreich, Dänemark, Griechenland und 1944 schließlich in der Tschechoslowakei im Einsatz bzw. stationiert. Hoffmann geriet 1945 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1949 zurückkehrte. Auf dem Entnazifizierungsbogen gab er hier auch eine Nummer an, vielleicht war dies seine Gefangenennummer. Neben dem Entnazifizierungsbogen befindet sich in der Akte auch noch das sogenannte „Fragebogen Action Sheet“, auf dem der Fachausschuss XI a 2 Hoffmann in die Belastungs-Kategorie V, also Entlastete, einstufte und ihn als Volksschullehrer bestätigte. Obwohl er der SS und der NSDAP angehörte, kam der Beratende Ausschuss zu der Empfehlung: „Eine Umfrage bei Kollegen, die Hoffmann kennen, ergibt, daß H. ein 8 Ebd., 221-11_Ed. 1683 Hermann Herzog. 9 Ebd., 221-11_73069 Hermann Hoffmann.
132 Hermann Hoffmann – SS-Mitgliedschaft als Episode
Hermann Hoffmann – SS-Mitgliedschaft als Episode 133
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
Einer der prägendsten Köpfe der Volksschule Eduardstraße war der stellvertretende Schulleiter Otto Wommelsdorff. Otto Paul Hans Jacob Wom-
Hamburger Lehrerzeitung 19 (1966) Nr. 10, Beilage 1, S. 1, mit freundlicher Genehmigung von Hans-Peter de Lorent.
melsdorff, geboren am 18. September 1886 in Hamburg, war Hilfslehrer, Lehrer, stellvertretender Schulleiter, Schulleiter und nach dem Ende des Dritten Reiches Schulrat in der Hansestadt.1 An der Eduardstraße 30 war Wommelsdorff der zuständige Lehrer für den Zeichenunterricht.2 Außerdem war er Fachberater für Kunsterziehung, Zeichnen und Laienspiel.3 Sein langjähriger Kollege Hermann Herzog, nach dem Krieg Schulleiter
Wommelsdorff besuchte ab dem 1. April 1905 das Lehrerseminar in
der Eduardstraße 30, beschrieb ihn in der Chronik zum 50-jährigen Be-
Hamburg in der Binderstraße 24, wo er am 28. Februar 1908 die Semi-
stehen der Schule als „hervorragende[n] geistige[n] Führer der Hambur-
nar-Abgangsprüfung bestand.5 Das zweite Lehrerexamen absolvierte er
ger Lehrerschaft“, als „wahren Meister der Schule und des Unterrichts“.
am 20. Mai 1911.6 Um diese Zeit gab es einen neuen Lehrplan, und der
Männer wie er hätten „schlichte Volksschullehrer bleiben müssen“, ob-
junge Lehrer führte eine neue Form des Zeichenunterrichts ein, welcher
gleich „ihre überragenden Fähigkeiten der Behörde sehr wohl bekannt“4
durch Freiheit, Gruppenarbeit und Variation an zeichnerischen bzw. ma-
gewesen seien. Wommelsdorff gehörte wohl nicht nur nach Herzogs Ein-
lerischen Utensilien geprägt war
druck zu den prägendsten Köpfen der hamburgischen Lehrerschaft, die
Eduardstraße vor 1933.7 Dies war zum damaligen Zeitpunkt ungewöhn-
den Unterricht reformierten und modernisierten.
lich an deutschen Schulen, da die methodische Konzeption des Zeichen-
→ Zur
Einführung I: Die Volksschule
unterrichts bis dato auf den strengen Vorgaben der LehrerInnen basierte 1 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Nr. 31943, Bl. 1 – 2, Wommelsdorffs Personalbogen von der Schulbehörde. 2 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949, S. 1. 3 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 126, Oberschulrat Köhne an Senator Landahl am 2. Mai 1946., S. 1 – 2. 4 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o. O., o. J. vermutlich Hamburg 1955, S. 17.
134
und sich im Nachzeichnen erschöpfte. Wommelsdorff hatte den Eindruck, weniger strikte Vorgaben würden die Kreativität der SchülerInnen
5 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 1, Wommelsdorffs Personalbogen von der Schulbehörde. 6 Ebd., S. 3. a. 7 Herzog, 50 Jahre Volksschule Eduardstrasse 30, S. 11.
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge 135
fördern. Wommelsdorff schrieb später, so Herzog in seinem kleinen Por-
fortschrittliche deutsche Volksschulpädagogik übernahm.13 Sein Ziel war
trait, dass die Gruppenarbeit ursprünglich nicht vorgesehen gewesen sei,
es, die deutsch-internationalen Beziehungen im pädagogischen Felde
sondern sich während des freien Zeichenprozesses gebildet habe:
auszuweiten.14 1931 publizierte er seine Ansätze und Erfahrungen in den Eimsbütteler Kunstklassen.15
„Ich sah, wie sie beim Zeichnen und Malen ihrer Bilder zusam-
Angeregt durch seine pädagogisch-didaktische Reform des Zeichen-
men arbeiteten. Sie legten ganz selbstverständlich ihre Zeichenblät-
unterrichts fing das Kollegium ebenfalls an, an seinen Unterrichtskon-
ter aneinander und schufen sich einen Bildstreifen über die ganze
zepten zu arbeiten, sodass z. B. im Fachgebiet der Naturwissenschaft ein
Schulbank; sie taten im Unterricht, was sie auf dem Hof in der
fahrbarer Experimentiertisch angeschafft wurde.16 Während dieses ge-
Pause immer getan hatten, sie spielten und arbeiteten gemeinsam.“ 8
samten Reformprozesses rückten im Unterricht vor allem die Schülerinnen in den Mittelpunkt. Die didaktisch „neu“ gestalteten Unterrichts-
Seit 1925 war Wommelsdorff an der Eduardstraße 30, der Knabenschule,
formen zeichneten sich durch selbstbestimmteres und experimentelle-
als Lehrer tätig. Hier baute er zusammen mit dem damaligen Hausmeis-
res Lernen aus. Hierbei bestand das zentrale Element in der Hervorhe-
ter Bemicke eine zusätzliche Wandtafel in den Klassenraum ein, auf der
bung der SchülerInnen als Subjekte und der Abwendung von der bisheri-
die SchülerInnen mit Kreide malen durften, was zum damaligen Zeit-
gen fremdbestimmten Unterrichtsstruktur. Herzog schreibt, dass Eltern
punkt nicht zur standardisierten Klassenraumausstattung gehörte.9
und Lehrer sich erfreut über den frischen Wind gezeigt hätten, der in den
Wommelsdorffs Unterrichtskonzept beeinflusste nicht nur seinen eige-
1920ern durch die Klassenzimmer wehte:
nen Zeichenunterricht, sondern wirkte sich ebenfalls auf andere Unterrichtsgebiete aus. Es entstanden Gemeinschaftsprojekte wie „Ver-
„Zusammenfassend sei gesagt, daß nach Einführung der Selbstver-
kehr in alter und neuer Zeit“, das Wommelsdorff mit seinem Kollegen
waltung sich das Gesicht der Schule völlig gewandelt hatte. Wie oft
Willy Hintmann leitete.10 Bei diesem Projekt handelte es sich unter an-
hörten wir von Eltern, welche noch die alte Schule durchlaufen hat-
derem um Kinderzeichnungen aus dem Unterricht, die zeigten, wie man
ten, erstaunte und erfreute Äußerungen über diesen Wandel!“ 17
sich im damaligen Straßenverkehr zu verhalten habe, damit man Gefahren entging.11 Dieses Projekt war nicht nur lokal verankert, sondern er-
Interessanterweise standen Wommelsdorffs reformerische Pädagogik
reichte internationale Resonanz. Im Rahmen des Weltbundes für Erneu-
und seine SPD-Mitgliedschaft offenbar zunächst nicht im Wider
erung der Erziehung, stellte Wommelsdorff während eines Kongresses
spruch zur neuen Landesunterrichtsbehörde. Denn diese ernannte ihn
in Helsingör, Dänemark, 1929 das in der Volksschule Eduardstraße ent-
am 23. Juni 1933 zum stellvertretenden Schulleiter der Jungenschule
standene Gemeinschaftsprojekt zur Verkehrserziehung vor.12 Im damali-
Eduardstraße 30. Mit der Überführung der Lehrerverbände in den NS-
gen Auftrage des reformorientierten „Weltbundes für Erneuerung der Erziehung“, vertrat Wommelsdorff 1932 Deutschland auf der internationalen Konferenz in Nizza, bei der er die Leitung der Vortragsgruppe über 8 Ebd., S. 11 – 12. 9 Ebd., S. 12. 10 Ebd., S. 25. 11 Ebd., S. 26. 12 Ebd., S. 12.
136 Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
13 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 126, Oberschulrat Köhne an Senator Landahl; Ebd., Bl. 132, Bericht des Fachaus schußes Nr. 6b über Wommelsdorffs politische Unbedenklichkeit vom 12. Oktober 1946. 14 Ebd., S. 126; Ebd.; S. 132. 15 Wommelsdorff, Otto: Die Gemeinschaftsarbeit einer Hamburger Grundschulklasse, Düsseldorf 1931. 16 Herzog, 50 Jahre Volksschule Eduardstrasse 30, S. 13. 17 Ebd., S. 26.
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge 137
Lehrerbund wurde Wommelsdorff 1933 automatisch Mitglied im NSLB.18
ber 1935 abberufen23 und auf Grund von „Uneinigkeit mit Parteianwei-
Jedoch sei er gezwungen gewesen, so zumindest die Angabe im Zuge sei-
sungen“24 1939 aus dem Schuldienst entlassen.
ner Entnazifizierung aus dem Jahre 1946,19 seine vorherigen Tätigkeiten im
Aus seiner Entnazifizierungsakte geht hervor, dass Wommelsdorff
pädagogisch-internationalen Felde einzustellen. Diese Tatsache habe ihn
nach seiner Abberufung als stellvertretender Schulleiter der Jungenschule
allerdings nicht davon abgehalten, seine demokratisch geprägte Pädagogik
Eduardstraße 30 weiterhin bis 1938 als Dozent am Institut für Lehrerfort
öffentlich weiterhin zu propagieren. Als Dozent am damaligen Institut für
bildung in Hamburg tätig war.25 1939 wurde Wommelsdorff zur Wehr-
Lehrerfortbildung in Hamburg habe er versucht, eine „ demokratische“
macht einberufen, allerdings im Heimateinsatz, schließlich als Komman-
Erziehungsarbeit an jüngere KollegInnen zu vermitteln.20 Außerdem habe
deur des Wehrmeldeamtes in Pinneberg, dessen Aufgabe die Aushebung
Wommelsdorff politischen Gegnern des Nationalsozialismus geholfen. So
und Musterung neuer Soldaten war. Während seiner Dienstzeit half Wom-
habe er sich an illegalen Sammlungen für hilfsbedürftige KollegInnen be-
melsdorff dem Kaufmann und Sozialdemokraten Erich Arp, nach dem
teiligt, die nach der Machtübernahme der N ationalsozialisten aus ihren
Ende des Zweiten Weltkrieges u. a. Minister für Ernährung, Landwirt-
Lehrerpositionen suspendiert wurden.21 Aus dem vorliegenden Bericht
schaft und Forsten in Schleswig-Holstein.26 Am 6. September 1946 ließ
des für seine Entnazifizierung zuständigen Fachausschusses 6b von 1946
Arp dem Lehrer ein Schreiben zukommen, das Wommelsdorff ebenfalls
→ Friedrich
als Beweisstück zu seiner politischen Entlastung bzw. Entnazifizierung
Stoffregen ist allerdings nicht zu entnehmen, ob es sich um
Geld oder andere materielle Sammlungen handelte.
diente. Arp bedankte sich bei Wommelsdorff für seine Unterstützung:
Nun weisen Wommelsdorffs Akten im Staatsarchiv einige Ungereimtheiten auf, wie etwa die Bestellung zum stellvertretenden Schul-
„Ich verdanke Ihnen also, wie mancher andere Gegner des Nati
leiter, die in den „Persilscheinen“ nicht erwähnt wird. Auch organisierte
ieser onalsozialismus im Kreise Pinneberg, meine Rettung vor d
er 1934 einen Theaterauftritt mit Schülern der Volksschule Eduardstraße
Naziverfolgung und kann eine ähnliche Rettungsaktion Ihrerseits
für die Weihnachtsfeier der Hamburger Wasserwerke im nunmehr ehe-
für den langjährigen Konzentrationär Hans Langhein, Elmshorn
maligen Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof, das die NSDAP mit ih-
bestätigen, der von Ihnen in gleicher Weise auf Grund seiner ge-
rer „Betriebszellenorganisation“ besetzt und übernommen hatte.22 Den-
sundheitlichen Begründung gegen den Willen der NSDAP von der
noch blieb er vermutlich seiner oppositionellen Haltung zum NS-Regime
Einberufung befreit wurde.“ 27
treu. Jedenfalls wurde er als stellvertretender Schulleiter zum 18. NovemDer Beginn des Zitates lässt erkennen, dass Wommelsdorff anscheinend 18 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 221-11/ Ed. 3177 Wommelsdorff Otto, Bl. 2, Fragebogen der Mil. Reg. in Deutschland vom 1. Februar 1945. 19 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 132, Bericht des Fachausschußes Nr. 6b über Wommelsdorffs politische Unbedenklichkeit vom 12. Oktober 1946. 20 Ebd., S. 132. 21 Ebd. 22 Hamburger Nachrichten vom 20.12.1934, Abendausgabe, Erste Beilage, S. 11. Vgl auch Templin, David, Wasser für die Volksgemeinschaft: Wasserwerke und Stadtentwässerung in Hamburg im „Dritten Reich“, München / Hamburg 2015.
138 Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
weiteren gefährdeten Personen half. Die Personal- und die Entnazifizierungsakte enthalten allerdings keine Belege hierfür. 23 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 2, Wommelsdorffs Personalbogen von der Schulbehörde. 24 Ebd. 25 StAHH, 221-11/Ed. 3177 Wommelsdorff Otto, Bl. 2, Fragebogen der Mil. Reg. in Deutschland vom 1. Februar 1945. 26 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 132, Bericht des Fachausschußes Nr. 6b über Wommelsdorffs politische Unbedenklichkeit vom 12. Oktober 1946. 27 Ebd., Bl. 133, Arp Erich an Wommelsdorff am 6. September 1946.
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge 139
Nach dem Ende des Nationalsozialismus musste sich Wommelsdorff,
Schon seit Mitte Juli 1945 war Wommelsdorff als Schulleiter der
um in seinen alten Beruf als Lehrer zurückzukehren, einem Entnazifizie-
Gorch-Fock-Schule in Blankenese eingesetzt.32 Danach übergab ihm der
rungsverfahren unterziehen, da er laut seiner Personalakte 1937, gemäß
Hamburger Senat am 5. November 1946 das Amt des Schulrats in der
Entnazifizierungsakte 1938, Mitglied der NSDAP geworden war.28 Aus
Verwaltung des hamburgischen Schuldienstes.33 Der Antrag auf die Stelle
dem bereits vorher zitierten politischen Entlastungsschreiben des Fach-
des Schulrats musste jedoch zweimal gestellt werden. Der erste Antrag
ausschusses 6b, das vom damaligen Oberschulrat Köhne am 13. O ktober
war durch den Hamburger Senat am 23. September 1946 abgelehnt wor-
1946 unterzeichnet wurde, geht hervor, dass der Beitritt zur Partei aus-
den.34 Der Grund war gewesen, dass nunmehr für Leitungsfunktionen
schließlich der „Tarnung“ für seine antifaschistische Arbeit während der
demokratische Überzeugungen unabdingbar waren – und an ihnen zwei-
NS-Herrschaft gedient habe.
felte der Ausschuss:
„Die enge Verknüpfung mit seiner pädagogischen Arbeit veranlaßte
„Die Kommission zur Prüfung der Beamtenernennung hat sich […]
Wommelsdorff, 1937 der NSDAP. beizutreten. Er hoffte, dadurch
nicht in der Lage gesehen […] Wommelsdorf [sic!] dem Senat vorzu-
in seiner Arbeit besser gedeckt zu sein, die er besonders als Dozent
schlagen. In allen vorstehenden Fällen bedarf es […] näherer Darle-
am Institut für Lehrerfortbildung benutzte, um die demokratische
gungen über die Gründe, die eine Ernennung trotz der Zugehörig-
Erziehungsarbeit […] an die jüngeren Kollegen weiterzugeben. Diese
keit der NSDAP […] zulassen.“ 35
Arbeit leistete er im bewußten Gegensatz zu den Ansichten des NS.-Lehrerbundes und der NSDAP.“ 29
Beim zweiten Antrag wurde unter anderem das vorher zitierte politische Entlastungsschreiben Arps mit eingereicht, was letztlich zu Wommels-
Außerdem habe sich Wommelsdorff ohnehin als Demokrat verstanden,
dorffs Ernennung zum Hamburger Schulrat beitrug.36 Während seiner
da er bis 1933 Mitglied der SPD und Befürworter einer demokratischen
Tätigkeit als Schulrat meldete Wommelsdorff am 12. Juni 1951 seine Ne-
Erziehung gewesen sei:
benbeschäftigung als Herausgeber der pädagogischen Zeitschrift „Westermanns Pädagogische Beiträge“ an, welche sechs Tage später von der
„Es ist in der hamburgischen Lehrerschaft allgemein bekannt, daß
Schulbehörde genehmigt wurde.37 Die Position des Schulrates bekleidete
Herr Wommelsdorf [sic!], der vor 1933 der SPD. angehört hat, […]
Wommelsdorff bis 1952. Seine rechtmäßige Versetzung in den Ruhestand
bestrebt war, ein demokratisch geführtes Schul- und Volksleben aufzubauen.“ 30 Entsprechend stufte die britische Militärregierung Wommelsdorff im Oktober 1945 in die Kategorie V ein, also als entlastet.31 28 Ebd., Bl. 132, Bericht des Fachausschußes Nr. 6b über Wommelsdorffs politische Unbedenklichkeit vom 12. Oktober 1946; StAHH, 221-11/Ed. 3177 Wommelsdorff Otto, Bl. 2, Fragebogen der Mil. Reg. in Deutschland vom 1. Februar 1945. 29 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 123, Schulrat Köhne an Wommelsdorff am 19. Juli 1945. 30 Ebd.
140 Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
31 StAHH, 221-11/Ed. 3177 Wommelsdorff Otto, Bescheinigung der Mil. Reg. über Wommelsdorffs politische Einstufung vom 27. Oktober 1945. 32 StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, Bl. 123, Schulrat Köhne an Wommelsdorff am 19. Juli 1945. 33 Ebd., Bl. 136, Abschrift von Wommelsdorffs Ernennungsurkunde zum Schulrat vom 5. November 1946. 34 Ebd., Bl. 130, Senat der Hansestadt Hamburg an die Schulverwaltung am 23. September 1946. 35 Ebd. 36 Ebd., Bl. 136, Abschrift von Wommelsdorffs Ernennungsurkunde zum Schulrat vom 5. November 1946. 37 Ebd., Bl. 158, Schulbehörde an Wommelsdorff am 18. Juni 1951.
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
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sollte ursprünglich am 18. September 1951 erfolgen, wurde jedoch durch die Schulbehörde auf den 31. März 1952 hinausgeschoben.38 Über seine Tätigkeiten während seines Ruhestands ist aus den vorliegenden Quellen nichts zu entnehmen. Der Pädagoge betätigte sich wahrscheinlich intensiv als Herausgeber der von ihm angemeldeten Zeitschrift. Am 18. März 1974 verstarb Otto Wommelsdorff im Alter von 87 Jahren. Abschließend kann zu Wommelsdorff gesagt werden, dass er mit seinem Zeichenunterricht die bis dato auf Fremdbestimmung basierenden Unterrichtsstrukturen an der Jungenschule Eduardstraße 30 auflöste und den Schülern ein autonomeres und freieres Lernen bot. Trotz seiner Mitgliedschaft bei der NSDAP bestehen keine Zweifel an seiner oppositionellen Haltung gegenüber dem NS-Regime. Dass es Wommelsdorff nicht an Mut fehlte, macht sich insbesondere durch seine antifaschistischen Tätigkeiten während des Nationalsozialismus bemerkbar, wie etwa bei der Verbreitung demokratischer Erziehung am Institut für Lehrerfortbildung oder bei der Unterstützung entlassener KollegenInnen im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Seine Bedeutung für den hamburgischen Verwaltungs- und Schuldienst reichte bis in sein hohes Alter. In einem Schreiben, dessen Verfasser und Ursprungsdatum nicht angegeben sind, findet man folgende Äußerung über Wommelsdorff: „Als ich in diesen Tagen an Sie dachte und mir ins Gedächtnis rief, was Sie für Schule und Lehrerschaft getan haben, fragte ich mich: Ist Otto Wommelsdorff schon ein Stück Geschichte geworden? Und ich gab mir selbst die Antwort: Ja, aber nicht im Sinne des Musealen, sondern im Sinne einer Tradition, die fortwirkt und auch der gegenwärtigen Hamburger Schule Anregung und Auftrieb geben kann.“ 39 Matthäus Schiefke 38 Ebd., Bl. 154, Landesschulrat Matthewes an den Betriebsrat der Schulbehörde am 27.04.1951; Ebd., Bl. 155, Schulbehörde an Wommelsdorffs am 07.06.1951. 39 Ebd., keine Angabe zur Blattzahl, Arbeitskollege an Wommelsdorff anlässlich seines 80. Geburtstages.
142 Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge
StAHH, 361-3/A 1326 Wommelsdorff Otto, keine Angabe zur Blattzahl, Arbeitskollege an Wommelsdorff anlässlich seines 80. Geburtstages. Das zuletzt zitierte Schreiben ohne Verfasser und Datum.
Otto Wommelsdorff – der Reformpädagoge 143
Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart
ebenfalls B lockleiter, legte jedoch den Posten des NSV-Blockleiters nieder.5 Ein Blockleiter war einer der rangniedrigsten Funktionärsposten innerhalb der nationalsozialistischen Organisationsstruktur.6 Die Aufgabengebiete erstreckten sich von rein technischen Aufgaben wie Beitragseinzug, Vertrieb von Broschüren und Ähnlichem bis hin zu Betreuungsund Überwachungstätigkeiten.7 Blockleiter waren für 40 bis 60 Haushalte in ihrer Nachbarschaft zuständig und unterstanden den Zellenleitern. Bevor man feierlich zum Blockleiter ernannt wurde, musste man zunächst eine mehrmonatige Probezeit absolvieren und einen Nachweis erbringen, dass die Abstammungslinie bis ins Jahr 1800 „arisch“ war.8 1935 gab es mehr als 200.000 Blockleiter, welche alle ehrenamtlich tätig wa-
Werner Walter Melchior wurde am 20. April 1938 dem Kollegium an der
ren. Sie sollten im Allgemeinen für eine regimefreundliche Stimmung
Mädchenschule der Volksschule Eduardstraße als Lehrer vorgestellt.1
sorgen, das hieß, vor allem Sozialkontrolle betreiben. Die NSDAP ver-
Melchior wird hier exemplarisch als Lehrer ausgewählt, da er ein gutes
stand die Blockleiter demgegenüber als „Wecker des Verständnisses für
Beispiel dafür ist, wie sich ein Einrichten im Nationalsozialismus und
den Nationalsozialismus.“9 Der größte Teil dieser Funktionäre erfüllte je-
eine christliche, das Dritte Reich eigentlich ablehnende Haltung vertru-
doch seine Aufgaben nicht in dem Maße, wie es von der Partei gewünscht
gen. Zudem sind von ihm noch Akten erhalten.
war. So schrieb beispielsweise ein Kreisleiter in einer Großstadt 1939:
Werner Walter Melchior übernahm 1938 mit Dienstantritt die
„Nun wissen wir, daß mindestens 90% aller Blockleiter noch weit davon
5. Klasse. Größtenteils war der damals 27-jährige als Religionslehrer tä-
entfernt sind, das zu sein, was die Partei sich unter einem Blockleiter als
tig,2 meldete sich jedoch auch freiwillig für einige der nunmehr vom
Hoheitsträger vorstellt.“10
NS-Regime abgeforderten Tätigkeiten in der Schule. So war er beispiels-
Vermutlich bis Ende 1941 war Melchior Lehrer an der Volksschule
weise Organisator der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Haus
Eduardstraße bzw. auch während der seit 1940 einsetzten Kinderland-
musik, er wählte auch die Musik für eine „deutsch-völkische Weih-
verschickung
→ Zeitzeuginnen.
Am 15. Januar 1942 wurde er dann zur
nachtsfeier“ aus.3 Aus seiner Entnazifizierungsakte geht hervor, dass er seit dem 1. Mai 1937 Mitglied in der NSDAP war. Ebenso wurde er Mitglied im NS-Lehrerbund sowie in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Er füllte in diesen NS-Organisationen das Amt des Blockwalters beziehungsweise des Blockleiters aus.4 Melchior wurde in der NSDAP 1 Vgl. Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932 – 1949 (i.F.: Konferenzbuch), S. 92. 2 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Gutachten Happach. Leider existiert kein Foto von Melchior. 3 Konferenzbuch, S. 94. 4 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 1, Fragebogen, S. 1 f.
144
5 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 7, Gesuch um Aufhebung, S. 1. 6 Vgl. Wegehaupt, Phillip: Funktionäre und Funktionselite der NSDAP. Vom Blockleiter zum Gauleiter, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, 2009 Frankfurt am Main, S. 39 – 59, hier: S. 41. 7 Vgl. Ebd.; Widmann, Peter: Willkür und Gehorsam. Strukturen der NSDAP, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, 2009 Frankfurt am Main, S. 110 – 122, hier: S. 119. 8 Vgl. Wegehaupt, Funktionäre, S. 42. 9 Reichsorganisationsleiter (Hg.): Das Gesicht der Partei, München 1942, S. 7. 10 Zitiert nach Wegehaupt, Funktionäre, S. 43.
Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart 145
Wehrmacht einberufen.11 Über seine genauen Stationierungen gibt es lei-
Mitglied bei den „Deutschen Christen“ gewesen, den NSDAP-Anhän-
der keine weiteren Daten. Weder Ort noch Zeitraum sind bekannt. 1945
gern unter den Protestanten. Seine christliche Haltung habe auch dazu
kehrte er schwer kriegsversehrt nach Hamburg Bergedorf zurück.12 Er ar-
geführt, dass er in den Lagern der Kinderlandverschickung Schwierigkei-
beitete dann in einer Schule der gemeinnützigen Siedlungs- und Wirt-
ten mit Führern der HJ bekommen habe. Auch habe er sich trotz seiner
schaftsgenossenschaft für Kriegsbeschädigte, Kriegshinterbliebene und
Mitgliedschaft in der NSDAP nicht von seiner „freundlichen Haltung ge-
Kriegsteilnehmer in Nettelnburg. Dieses Arbeitsverhältnis sollte jedoch
genüber Juden und Halbjuden abbringen lassen.“14 Melchior schrieb wei-
nur von kurzer Dauer sein. Denn im Februar 1946 wurde Werner Mel-
ter, dass er noch nach 1933 an Veranstaltungen der Christlich-Westeilbe-
chior das Unterrichten aufgrund seiner ehemaligen Mitgliedschaft in der
ker Gemeindejugend teilgenommen habe. Der Lehrer bemühte sich mit-
NSDAP untersagt. Die Parteizugehörigkeit war für die britischen Besat-
hin nach Kräften, das Berufsverbot aufheben zu lassen, denn gerade für
zungsbehörden zunächst das primäre Kennzeichen, NS-belastete Beamte
ihn als Oberschenkelamputierten waren die Aussichten auf dem Arbeits-
zu identifizieren und aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen.13 Mel-
markt schlecht.
chior widersprach seiner Entlassung aus dem Schuldienst. Am 8. Juli 1946
Seine Argumentationen stützten die von ihm beigebrachten bzw. vom
verfasste er ein Schreiben zu seiner Verteidigung mit der Bitte, den Aus-
Schulrat eingeholten Leumundszeugnisse. Eine Erklärung eines Mit-
schluss aus dem Lehramt aufzuheben. In diesem Schreiben erläuterte er
gliedes der Gemeinde, selbst „Mischling“, führte aus, Melchior habe die
seine Haltung zum NS-Regime und seine Bewegründe für den Eintritt in
freundschaftlichen Beziehungen zu den in der Gemeinde tätigen Juden
die NSDAP. Er sei 1933 in den NS-Lehrerbund eingetreten und habe erst
auch nach 1933 aufrecht erhalten, er selbst sei „verschiedene Male in sei-
nach wiederholter Aufforderung seines damaligen Schulleiters die Auf-
nem Haus eingeladen“15 gewesen. Weiterhin beschrieb der Linguist Joa-
gabe des Blockleiters übernommen. Ebenso sei er 1936 in die NSV einge-
chim Stave, dass Melchior bis 1932 bei der jüdischen Pianistin Edith Weiss-
treten und auch dort Blockleiter geworden. 1937 sei er dann aufgrund der
Mann Klavierunterricht genommen habe. Auch nach 1932 habe Melchior
Befürchtung, er könne andernfalls keine feste Anstellung mehr erhalten,
ihr regelmäßig Besuche abgestattet.16 Auch die 1938 in die USA geflüchtete
in die NSDAP eingetreten.
Weiss-Mann selbst stellte Melchior ein positives Gutachten aus.17
Melchior legte in seinem Schreiben einen Schwerpunkt auf seinen
Eine ehemalige Kollegin aus der Schule Lutterothstraße 80 beschei-
christlichen Glauben. Aus einer protestantischen Familie stammend, sein
nigte Melchior trotz „der von der Partei [NSDAP] ausgehenden anti-
Vater war Diakon, sein Bruder Pastor gewesen, habe er „den Krieg nie
christlichen Strömungen“ einen „entschieden kirchlich christlichen
verherrlicht, sondern immer als ein Übel angesehen.“ Ebenso sei er nie
Glauben“18. Der Pastor Heinrich Tamm, der erst 1943 an die Bergedorfer
11 Vgl. Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 17, Gutachten über Melchior von Frieda Happach vom 18.02.1946.; Ebd. Bl. 37, Fragebogen Melchior, vom 19.03.1946; Konferenzbuch, S. 92. 12 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 7, Gesuch um Aufhebung der Entlassung aus dem Lehramt, S. 2; ebd. Staatskommissar, Bl. 37, Fragebogen, S. 2. 13 Vgl. Joachim Szodrzynski, Entnazifizierung – am Beispiel Hamburgs, URL: https://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/4433186/ entnazifizierung-hamburg/ (zuletzt eingesehen am 01.08.2018).
14 StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 7, Gesuch um Aufhebung der Entlassung aus dem Lehramt, S. 2. 15 StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 27, Gutachten Petersen. 16 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 35, Gutachten Stave. 17 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Gutachten Weiss-Mann. 18 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Gutachten Kneissner.
146 Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart
Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart 147
Kirche gekommen war und bei dem unsicher ist, ob er Melchior über-
Berufungsausschuss trotz seiner formellen Belastung der Berufung
haupt vor 1945 kannte, statuierte geradezu apodiktisch, dass Melchior
im vollen Umfange stattgegeben und Melchior in die Gruppe V ein-
die Weltanschauung der NSDAP „immer scharf“ abgelehnt habe und nur
gestuft.“22
in die Partei eingetreten sei, „um in seinem Beruf bleiben zu können“19. Gerade dieses Argument brachte auch der Schulrat Franz Jürgens in sei-
Gruppe V bedeutete, entlastet zu sein. Hier endet auch schon das Wissen
ner Stellungnahme vom 16. August 1946 vor. Hier heißt es über Werner
über Werner Walther Melchior. Leider gibt es keine Aufzeichnungen über
Melchior: „Er hat sich im Jahre 1937 zwar der NSDAP angeschlossen,
seinen weiteren Werdegang nach seiner Wiederaufnahme in den Lehrer-
weil er als junger Lehrer sonst eine berufliche Schädigung befürchten
beruf. Melchior könnte man als klassischen Mitläufer einstufen. Er hatte
musste, ist aber innerlich kein Nationalsozialist gewesen.“20 In der Tat
sich angepasst und dem Druck gebeugt – wie so viele. Deutlich wird aber
hatte jahrelang eine Aufnahmesperre den Beitritt zur NSDAP verhindert.
auch, dass er nach 1945 – ebenfalls wie so viele – alle Hinweise auf sein
Die Sperre wurde seit April 1937 gelockert. Insofern bot sich hier für viele
Mitmachen kleinredete und eines ganz sicher nicht gewesen sein wollte:
die Gelegenheit, dem Druck, der auf Lehrern lastete, nachzugeben und
ein Nazi.
in die NSDAP einzutreten. Denn die Hamburger Schulaufsicht in Gestalt ihres Chefs, Landesschulrat Wilhelm Schulz, forderte, wie es im Konfe-
Jonas Kaphingst
renzbuch der Volksschule Eduardstraße heißt, eine „politische Haltung der Lehrerschaft“21. Ähnlich war es auch bei → Friedrich
→ Hermann
Hoffmann und
Stoffregen gewesen, anderen Lehrern der Volksschule Eduard-
straße. Schlussendlich scheint die Sichtweise, in Melchior ein „kleines Licht“ und vor allem ein Kriegsopfer zu sehen, erfolgreich für ihn gesprochen zu haben. Denn die Urteilsbegründung des Berufungsausschusses für die Ausschaltung von Nationalsozialisten nannte nicht zuletzt die Kriegsbeschädigung als Begründung für die Wiedereinstellung: „Nach den beigebrachten Leumundszeugnissen ist es als e rwiesen anzusehen, dass Melchior 1937 lediglich unter Druck als Junglehrer der NSDAP beigetreten ist und dass er sich als Blockleiter bzw. als Blockwalter nicht politisch aktiv betätigt hat. Mit Rücksicht auf diese Haltung und die Schwerkriegsbeschädigung hat der
19 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Gutachten Tamm. 20 VStAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 38, Gutachten Schulrat. 21 Konferenzbuch vom 13.04.1934, S. 42.
148 Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart
22 Vgl. StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 9442, Bl. 4, Berufungsausschuß. Vgl. Königseder, Angelika: Das Ende der NSDAP. Die E ntnazifizierung, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, 2009 Frankfurt am Main, S. 151 – 166, hier: S. 153.
Werner Walter Melchior – Christ und Blockwart 149
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
Friedrich Martin Paul Stoffregen wurde am 1. Juni 1898 in Hamburg geboren. Seine Ausbildung absolvierte er an dem Lehrerseminar in der Binderstraße in Hamburg. 1920 wurde er nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg und Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft als Lehrer an der Mädchenvolksschule Eduardstraße 28 angestellt, an der er bisOstern 1939 tätig war.1 Vom 8. November 1935 bis zum 31. März 1939 war er zudem stellvertretender Schulleiter. Stoffregen war wie vermutlich die meisten seiner Kollegen Mitglied im Hamburger Zusammenschluss „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“, einem traditionsreichen Lehrerverein, der 1933 im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) „gleichgeschaltet“ wurde.2
Archiv Hamburger Schulmuseum, Herkunft: Karen Kunde; HSM IV LG 2.1, Lehrer kollegium der Mädchenschule Eduardstraße 28, 1921, mit Friedrich Stoffregen (hintere Reihe, zweiter von rechts) und Olga Schlee (vordere Reihe, erste von rechts), seiner späteren Frau.
An der Schule in der Volksschule Eduardstraße lernte er Olga Schlee (geboren 12. Mai 1897) kennen, die hier ebenfalls unterrichtete. Nach-
tätig sein sollten.4 Auf diese Weise sollte das Angebot auf dem Arbeits-
dem sie geheiratet hatten, wohnten sie in der Schillstraße 17 in Poppen-
markt künstlich verkleinert und die Arbeitslosigkeit eingedämmt wer-
büttel.3 Olga Stoffregen musste ihre Arbeit jedoch im August 1933 auf-
den; gleichzeitig konnten familienpolitische Vorstellungen verwirklicht
geben. Die Nationalsozialisten behinderten die weibliche Erwerbstätig-
werden, die Frauen vor allem als Hausfrauen und Mütter definierten.
keit durch die Vorgabe, dass nicht beide Ehepartner gleichzeitig berufs-
Denn von den Maßnahmen gegen das sog. „Doppelverdienertum“ waren fast ausschließlich Frauen betroffen, die 1933/34 in großer Zahl aus dem
1 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. X 2956, Bl. 16f., Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten im November 1947. 2 Ebd., Fragebogen Military Government of Germany. 3 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. Ed. 10497.
150
öffentlichen Dienst entlassen wurden
→ Zur
Einführung II: Die Volks-
schule Eduardstraße im Nationalsozialismus.
4 Vgl. Buggeln, Marc; Wildt, Michael: Arbeit im Nationalsozialismus (Einleitung), in: Dies.: Arbeit im Nationalsozialismus, München 2014, S. I–XXXVII, hier S. XI.
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
151
Engagierter Lehrer in der Eduardstraße 28 Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens nach Friedrich Stoffregen gefragt, erinnerte sich seine ehemalige Kollegin Frieda Happach an einen begeisterten Lehrer, der viele Nachmittags- und Abendstunden sowie Sonntagvormittage bereitwillig der Schule und ihren Belangen gewidmet habe. Er sei Mitglied des Elternrates und des Vorstandes des Schulvereins gewesen. Auf seine Initiative sei in Zusammenarbeit mit Eltern eine Schulbühne entstanden, die im Zeichensaal und in der Turnhalle aufgebaut wurde. Die Bühne wurde mit Kulissen, Vorhang und Rampenlicht mit verschiedenen Schaltungen ausgestattet. Stoffregen habe nicht nur die Ideen gehabt, sondern auch tatkräftig am Bau der Bühne mitgearbeitet. Aufgeführt wurden Märchenspiele wie „Die Regentrude“ von Theodor Storm, die der Lehrer zum Teil selbst bearbeitet hatte. In der Weihnachtszeit hätten Krippenspiele die Schulgemeinde erfreut.5 Das Konferenzbuch der Eduardstraße 28 gibt über weitere Aktivitäten des Lehrers an der Schule Auskunft. Im März 1934 übernahm er das Amt des Schulfilmwarts, einen Monat später wurde er zum Schulturn-
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, 1937 Lehrer: H. Stoffregen (ganz hinten in der Mitte).
wart ernannt.6 Darüber hinaus gab er Kurse im Zeichnen und in der Plakatschrift. Happach zufolge galt Stoffregens ganzes Interesse der Förderung der Jugend und zwar besonders auf den Gebieten des Zeichnens
war in Fraktur gehalten, einer damals schon seit Jahren umstrittenen, von
und Schreibens sowie des Sports.7 In der Tat war Stoffregen von 1934 bis
den Nationalsozialisten aber eine Zeitlang favorisierten Schrift.
zu seiner Einberufung in die Wehrmacht 1939 im „Ausschuss für Schrift
Zum 1. April 1939 wurde Stoffregen als Schulleiter an die Mädchen-
und Schreiben“ der Hamburger Schulverwaltung tätig, in dem er sich mit
volksschule Eppendorfer Weg 65b berufen. Am 1. August erfolgte seine
methodischen Fragen des Schreibunterrichts beschäftigte. Dabei entwi-
Ernennung zum dortigen Rektor. Seine Amtszeit war jedoch nur von kur-
ckelte er gemeinsam mit den Lehrern Hans Franck und Wilhelm Thies
zer Dauer, denn bereits im November wurde er zur Wehrmacht einberu-
eine Grundschrift für Schulanfänger, die sogenannte Salmi-Schrift.8 Sie
fen. Als Oberleutnant war Stoffregen zunächst auf dem Truppenübungsplatz Munster in der Lüneburger Heide stationiert. Im Februar 1943 kam
5 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und K ategorisierung, Nr. X 2956, Bl. 6, Frieda Happach an Otto Wommelsdorff am 20.05.47. 6 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Konferenz-Protokoll der Schule Eduardstr. 28, 1932–1949, S. 40 u. 43. 7 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und K ategorisierung, Nr. X 2956, Bl. 6, Frieda Happach an Otto Wommelsdorff am 20.05.47. 8 Ebd., Bl. 16f., Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten im November 1947.
152 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
er nach Italien, wo er im Juli 1944 bei Ancona verwundet wurde und in englische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Afrika konnte er 1947 nach Hamburg zurückkehren.9
9 Ebd., Bl. 17, Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten im November 1947 u. Bl. 30, Stoffregen ans Staatskommissariat für Entnazifizierungsfragen am 18.01.49.
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene 153
Zurückstufung zum Volksschullehrer im Entnazifizierungsverfahren
Mädchenschule Eppendorfer Weg, hatte Stoffregen zwar nicht als Nationalsozialisten erlebt, wusste ansonsten aber wenig Positives über ihren ehemaligen Vorgesetzten zu berichten:
Die Schulbehörde beschäftigte Stoffregen nach seiner Rückkehr wegen der geltenden Entnazifizierungsbestimmungen zunächst im Verwal
„In der kurzen Zeit, da Herr Stoffregen am Eppendorferweg
tungsdienst. Nach sechs Monaten kam sein Fall dann vor dem Fach-
Schulleiter war, hielten wir alle ihn für eine ziemliche Null. Ich
ausschuss 6b zur Verhandlung.10 Von der Entnazifizierung waren alle im
glaube, daß ich das auch von ihm in politischer Hinsicht sagen
Schulwesen tätigen Lehrkräfte betroffen. Die britische Militärregierung
darf. Ich weiß mich nicht zu erinnern, daß Herr Stoffregen sich
etablierte ab November 1945 schulformbezogene deutsche Entnazifizie-
bei uns irgendwie als Nazi gezeigt oder geäußert hat; er war völlig
rungsausschüsse, die aus jeweils drei Personen bestehenden Fachaus-
indifferent.“ 15
schüsse. Die Lehrkräfte mussten auf Fragebögen ihre Zugehörigkeit zur NSDAP und ihren Gliederungen sowie sonstige nationalsozialistische
Frieda Happach charakterisierte ihren langjährigen Kollegen aus der
Aktivitäten angeben. Der Fachausschuss ordnete die Betroffenen dann
Volksschule Eduardstraße dagegen als engagierten Pädagogen. Happach,
nach erfolgten Anhörungen unterschiedlichen Belastungskategorien zu
die vor 1933 der SPD angehört hatte, gab an, dass sie und Stoffregen in
→ Otto
Wommelsdorff.11 Stoffregen war als Mitglied der „Gesellschaft der
politischen Fragen größtenteils übereingestimmt hätten. Stoffregens Be-
Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“ seit 1933 im
rufung zum Rektor 1939 war ihrer Ansicht nach nicht auf seine politische
NSLB, zudem trat er 1934 der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt
Einstellung zurückzuführen. Vielmehr sei die Schulverwaltung durch
bei. Im Herbst 1937 wurde er Mitglied in der NSDAP.12 Dazu gab Stoff-
Stoffregens intensive Arbeit im Ausschuss „Schrift und Schreiben“ und in
regen an, seine Betätigung in der Partei habe sich auf die gelegentliche
der Lehrerfortbildung auf ihn aufmerksam geworden. Ohne seine Zuge-
Vertretung des Blockleiters beim Einkassieren der Monatsbeiträge be-
rnannt hörigkeit zur NSDAP wäre er aber vermutlich nicht zum Rektor e
schränkt.13 Außerdem war er, vermutlich im Jahr 1939, dem Reichskolo-
worden.16 Wommelsdorff selbst erlebte Stoffregen bei kollegialen Ge
nialbund beigetreten.14
sprächen während seiner Tätigkeit an der Nachbarschule nur als interes-
Wommelsdorff, der als Lehrer an der Knabenschule
sierten Pädagogen, „nie als Politiker“. Er habe auch nach 1933 keine Nei-
Eduardstraße 30 tätig gewesen war, erstellte für den Beratenden Aus-
Schulrat
→ Otto
gung zum Nationalsozialismus bei seinem Kollegen beobachten können.
schuss ein Gutachten über Stoffregen. Dazu holte er auch Einschät-
Wommelsdorff schloss sein Gutachten mit der Empfehlung: „An seiner
zungen von ehemaligen Kolleginnen ein. Wilma Apetz, Lehrerin der
neuen Schule scheint er sich sehr vorsichtig gehalten zu haben, sodaß Fräulein Apetz ihn als eine Null bezeichnet, was er als Lehrer offenbar nicht ist. Ich trage keine Bedenken, ihn in seiner Stellung zu belassen.“17
10 Ebd., Bl. 30, Stoffregen ans Staatskommissariat für Entnazifizierungsfragen am 18.01.49. 11 Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Bd. 1, Hamburg 2010, S. 723 – 727. 12 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. X 2956, Fragebogen Military Government of Germany. 13 Ebd., Bl. 4, Bemerkung von Stoffregen. 14 Ebd., Fragebogen Military Government of Germany.
154 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
15 Ebd., Bl. 5, Wilma Apetz an Otto Wommelsdorff am 25.04.47. 16 Ebd., Bl. 6, Frieda Happach an Otto Wommelsdorff am 20.05.47. 17 Ebd., Bl. 7, Gutachten Otto Wommelsdorff über den Rektor Stoffregen an den Beratenden Ausschuss vom 23.05.47.
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene 155
Der Beratende Ausschuss äußerte allerdings Bedenken gegen Stoffre-
Regime begründete Stoffregen damit, dass er die befohlene wöchentliche
gens Wiedereinstellung als Rektor. Nach den Bestimmungen kämen als
Flaggenparade nur in der kürzesten Form durchgeführt habe. Den Versu-
Schulleiter in erster Linie nur solche Personen in Frage, die nicht Mit-
chen der Hitlerjugend, Einfluss auf das Schulleben zu nehmen, sei er auf
glied in der NSDAP waren. Schulleiter, die wie Stoffregen 1937 in die Par-
das Energischste entgegengetreten. Die Erziehungsgrundsätze der Na-
tei eingetreten waren, müssten ferner ihre eindeutige innere Opposition
tionalsozialisten habe er stets bekämpft.21 Einige Lehrkräfte der Schule
zum Nationalsozialismus nachweisen. In der NS-Zeit vorgenommene
Eppendorfer Weg, darunter auch Wilma Apetz, stützten Stoffregens Ar-
Beförderungen sollten zudem rückgängig gemacht werden. Aus seiner
gumentation. In einem gemeinsamen Schreiben gaben sie an, dass Stoff-
Beförderung zum Schulleiter nach 1933 schloss der Ausschuss, Stoffre-
regen während seiner kurzen Verweildauer an dieser Schule sogar über-
gen habe das besondere Vertrauen der Schulverwaltung genossen. Da er
haupt keine Flaggenparade durchgeführt und dass er in seinen Äußerun-
zudem den Blockleiter der Partei gelegentlich vertreten und damit in der
gen die Erziehungsideale der Hitlerjugend abgelehnt habe. Sein Amt als
NSDAP gearbeitet habe, könne von einer Opposition zum Nationalsozi-
Schulleiter habe er in gemeinsamer Zusammenarbeit mit dem Kollegium
alismus keine Rede sein.18 Der Fachausschuss schloss sich der Empfeh-
geführt, ohne seine Macht autoritär zu entfalten.22 Helmut Hecht, ehe-
lung des Beratenden Ausschusses an, stufte Stoffregen in Kategorie IV
maliges Elternratsmitglied der Volksschule Eduardstraße und Vorsitzen-
(Mitläufer) ein und bestätigte ihn lediglich als Volksschullehrer.19 In der
der des Schulvereins, berichtete u. a. von einem Schulfest, bei dem Mit-
Begründung an Stoffregen heißt es,
glieder der Schulgemeinde darauf bestanden hätten, zum Abschluss das Horst-Wessel-Lied spielen und singen zu lassen. Stoffregen habe dies
„dass Ihre Zurückstufung vom Rektor zum Volksschullehrer wegen
jedoch verhindert. Anstelle des SA-Liedes sei dann „nur“ das Deutsch-
ihrer gezeigten positiven Einstellung zum Nationalsozialismus er-
land-Lied gesungen worden. Nach dem Schulfest sei Stoffregen heftigen
folgen mußte. Als Schulleiter ist heute nur tragbar, wer während
Angriffen seitens eines Teils des Lehrkörpers ausgesetzt gewesen.23
der Herrschaft des Nazismus seine Gegnerschaft zu ihm zu erkennen gegeben hat. Das ist bei Ihnen nicht der Fall.“20
Stoffregen gab darüber hinaus an, als Lehrer in der Volksschule Eduardstraße seine „halbjüdischen“ Schülerinnen, Inge Klee und die Cousinen Ursula und → Gisela Nelki geschützt zu haben:
Ablehnung nationalsozialistischer Erziehungsideale
„Ich habe mich ihrer ganz besonders angenommen, indem ich sie nicht nur gegen etwaige Angriffe schützte, sondern die Klasse da-
Gegen diesen Bescheid legte Stoffregen im November 1947 Berufung ein.
hin beeinflußte, in ihnen gleichwertige und zu achtende Glieder der
Er bat den Berufungsausschuss, seinen Fall zu prüfen, ihn als Rektor zu
Klassengemeinschaft zu sehen und nicht etwa zu verabscheuende
bestätigen und in Kategorie V (Entlastete) einzustufen. Er sei 1937 nur un-
Angehörige einer minderwertigen Rasse.“ 24
ter Zwang in die NSDAP eingetreten und habe trotz mehrfacher Aufforderung keine Ämter übernommen. Seine kritische Haltung gegenüber dem 18 Ebd., Bl. 8, Bericht Beratender Ausschuss vom 03.06.1946. 19 Ebd., Bl. 13, Bescheinigung Fachausschuss 6 b für die Aus schaltung von Nationalsozialisten vom 12.09.1947. 20 Ebd., Bl. 15, Fachausschuss 6b an Friedrich Stoffregen am 23.09.1947.
156 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
21 Ebd., Bl. 16 f., Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten im November 1947. 22 Ebd., Bl. 23, Leumundszeugnis Lehrkräfte der Mädchenvolksschule Eppendorfer Weg 65b vom 12.11.1947. 23 Ebd., Bl. 18 – 20, Leumundszeugnis Helmuth Hecht vom 03.11.1947. 24 Ebd. Bl. 16 f., Friedrich Stoffregen an den Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten im November 1947.
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene 157
Inge Klee war von 1935 bis 1937 Schülerin von Stoffregen gewesen. Ihr
die nicht der NSDAP oder ihren Gliederungen angehörten. Oberschul-
leiblicher Vater war Jude, was die Eltern gegenüber den Behörden
rat Albert Mansfeld hatte im Mai/Juni 1937 alle Lehrkräfte „in aller Ein-
allerdings verheimlichten. Der Stiefvater, der Schauspieler Charlo Klee
dringlichkeit“ dazu aufgefordert, der NSDAP beizutreten. Es sei „eine
und Schüler, vertraute lediglich Stoffregen die jüdische
Selbstverständlichkeit, dass sich jeder hamburgische Erzieher und jede
Abstammung seiner Stieftochter an, was dieser für sich behielt. Charlo
Erzieherin um die Aufnahme in die NSDAP bewirbt“28. Schmidt zufolge
Klee schrieb:
habe es nur wenige Lehrkräfte gegeben, die dem auf sie ausgeübten Druck
→ Schülerinnen
standhielten, und nicht in die NSDAP eintraten. Diese waren dann aber „Herr Stoffregen genoß nicht nur Inges Vertrauen, sondern das Ver-
zum Teil auch auf besonderen Schutz angewiesen, um nicht ihre Stelle zu
trauen der ganzen Klasse. Im Hause sprach das Kind oft von ihm
verlieren
und zeichnete das Bild eines fähigen Lehrers. [...] Aus den Erzäh-
nalsozialismus.29
lungen unserer Tochter konnte ich weiterhin entnehmen, daß Herr
→ Zur
Einführung II: Die Volksschule Eduardstraße im Natio-
Der Fachausschuss schloss sich der Ansicht des Beratenden Aus-
Stoffregen im Unterricht nie gegen Juden gehetzt hat, daß er aber
schusses an. Stoffregen habe nicht den Nachweis erbringen können, dass
offenbar im Gegensatz zu den Erziehungsgrundsätzen der Nazis
er sich durch seine Art der Amtsführung als Schulleiter bemüht habe, den
stand; denn er hat sich, wie ich den Schilderungen unserer Toch-
Einflüssen des Nationalsozialismus auf Schule und Erziehung nach Kräf-
ter entnehmen durfte, des öfteren in ironischer und abfälliger Weise
ten entgegenzuwirken.30 Bei seinem Urteil vom Januar 1948 berief sich
über die HJ und den BDM geäußert.“ 25
der Fachausschuss insbesondere auf die Aussagen des Kollegiums der Schule Eppendorfer Weg, an der Stoffregen allerdings lediglich 8 Monate
In ähnlicher Weise äußerten sich auch Gisela bzw. ihr Vater Walther
tätig gewesen war: Stoffregen
Nelki. Stoffregen habe niemals in hetzender Weise über die Judenfrage unterrichtet und die Schülerinnen auch nicht im nationalsozialistischen
„mag ein brauchbarer Lehrer sein und der Fachausschuß hat nie-
Geist erzogen.26
mals die Absicht gehabt, seine Bestätigung für den Lehrerberuf in
Der Beratende Ausschuss blieb jedoch bei seiner ablehnenden Hal-
Frage zu stellen. Er kann aber eine politisch so völlig farblose und
tung. Er bemerkte, dass ein Teil der Leumundszeugnisse von ehemali-
unentschlossene Persönlichkeit wie St. [Stoffregen] nicht als geeig-
gen Nationalsozialisten stammten und daher belanglos sei. Hecht aller-
net ansehen, in den gegenwärtigen Krisenzeiten einen Lehrkörper
dings war SPD-Mitglied gewesen. Zudem war der Ausschuss der Ansicht,
politisch zielbewußt zu führen. […] Da Stoffregen lediglich die Be-
Stoffregens Angabe, er sei 1937 zum Eintritt in die NSDAP gezwungen
förderung genommen ist, die er von den Nazis erfahren hat, er aber
worden, halte einer Prüfung nicht stand. Gerade in dieser Angelegenheit
im vollen Besitz der Rechte verbleibt, die ihm vor dieser Beförde-
hätte Stoffregen die Gelegenheit gehabt, seine nazifeindliche Einstellung
rung zustanden, kann von einer beamtenrechtlichen Schädigung
zu beweisen.27 Eine Verweigerung hätte für Stoffregen allerdings auch
nicht die Rede sein. Der Berufungsantrag ist daher abzulehnen.“ 31
den Verlust seiner Arbeit zur Folge haben können. Nach Uwe Schmidt e schäftigte, gab es ab 1937 im Hamburger Schuldienst nur noch wenige B
25 Ebd., Bl. 22, Leumundszeugnis Charlo Klee vom 10.10.1947. 26 Ebd., Bl. 21, Schreiben Walter Nelki vom 01.10.1947. 27 Ebd., Bl. 27, Schreiben Beratender Ausschuss vom 10.01.1948.
158 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
28 Schmidt, Hamburger Schulen, 345 f. 29 Ebd., S. 348. 30 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. X 2956, Bl. 28, Schreiben Fachausschuss 6b vom 31.01.1948. 31 Ebd.
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene 159
Vorwurf der Willfährigkeit durch die Mitarbeit an der „Salmi-Schrift“
ses, die „Salmi-Schrift“ sei für die Kinder „ein Quälkram“ gewesen. Seine Arbeit im Schreibausschuss habe er nie als politische Arbeit empfunden. Sinn und Ziel seiner Tätigkeit hätten nur auf unterrichtsmethodischem
Stoffregen wollte sich mit der Entscheidung nicht zufrieden geben und
Gebiet gelegen.36
wandte sich ein Jahr später an das Staatskommissariat für Entnazifizie-
Der Fachausschuss sah Stoffregen jedoch als politisch belastet an
rungsfragen.32 Bei einer erneuten Verhandlung im Juni 1949 wurde vom
und wiederholte den Vorwurf der Willfährigkeit.37 Weiter heißt es in der
Fachausschuss dann allerdings ein neuer Vorwurf vorgebracht: Stoffre-
Begründung:
gen habe sich durch seine Mitarbeit an der „Salmi-Schrift“ als willfähriges Werkzeug der NSDAP zur Verfügung gestellt.33 Stoffregen legte in
„Die Schöpfer dieser, den Anfangsunterricht damals so schwer be-
einem Schreiben ausführlich seine Tätigkeit im „Ausschuss Schrift und
lastenden Schrift sind die Herren Franck, Stoffregen und Thies.
Schreiben“ und seine Arbeit an der Druckschrift für Schreibanfänger dar.
Sie haben in den Augen der nicht nationalsozialistisch befangenen
Schulrat Wilhelm Lühning sei 1933 an den Volksschullehrer Hans Franck
Lehrerschaft aller pädagogischen Erfahrung und psychologischen
mit der Frage herangetreten, ob er Interesse habe, „die Schreibfrage in
Vernunft zuwidergehandelt und, aus welchem Motiv auch immer,
Hamburg zu ventilieren“. Lühning war in das Amt aufgerückt, weil er ei-
sich zu willigen Werkzeugen der Nazis gemacht, indem sie auf ihre
ner der wenigen Volksschullehrer in Hamburg war, die schon vor 1933
Art den damals aufwallenden nationalsozialistischen Gefühlsre-
zugleich Mitglieder der NSDAP und im Nationalsozialistischen Lehrer-
gungen neuen Auftrieb und neue Impulse gaben. Sie haben damit in
bund geworden waren. Franck habe, so Stoffregen weiter, ihn daraufhin
einer politischen Krisenzeit einen Mangel an Haltung und politi-
gebeten, in einem Arbeitskreis mitzuarbeiten, der sich mit methodischen
schem Rückgrat bewiesen, der sie ungeeignet macht, heute eine lei-
Fragen des Schreibunterrichts befassen sollte. Die beiden Lehrer sahen
tende und in höherem Maße verantwortliche Stelle im Schulwesen
sich dabei als Beauftragte der Landesunterrichtsbehörde (LUB). Später
einzunehmen.“ 38
sei der Arbeitskreis ohne vorherige Absprache als „Ausschuss für Schrift und Schreiben im NS-Lehrerbund“ bezeichnet worden.34 Hintergrund
Nun war der 1933 aus dem Schuldienst entlassene Zeidler ein erbitterter
der ganzen Geschichte war der seit spätestens 1911 virulente Streit un-
Gegner des Nationalsozialismus gewesen und konnte in seinen zu beur-
ter Philologen zwischen der lateinischen Antiqua- und der „deutschen“
teilenden Kollegen häufig nur Persönlichkeiten „fragwürdiger Qualität“39
Frakturschrift.35 Der Ausschuss und damit Stoffregen hatte sich, wie an-
ausmachen. Jedes Mitläufertum war ihm zuwider. Ambivalenzen, selbst
geführt, für die Frakturschrift ausgesprochen. Nun wehrte er sich gegen
wenn sie wie im Falle Stoffregens vermutlich nur wenig ausgeprägt gewe-
den Vorwurf von Schulrat Zeidler, dem Beisitzenden des Fachausschus-
sen waren, hatten in diesem Bild keinen Platz. Der Berufungsausschuss
32 Ebd., Bl. 30, Stoffregen an Staatskommissariat für Entnazifizierungsfragen am 18.01.1949. 33 Ebd., Bl. 32, Schreiben Berufungsausschuss für die Ausschaltung von Nationalsozialisten vom 15.06.1949. 34 Ebd., Bl. 34 – 40, Stoffregen an den Berufungsausschuss am 27.06.1949. 35 Hartmann, Silvia: Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941, Frankfurt 1998, S. 137 f. u. 166 – 174.
36 StAHH, 221-11, Staatskommissar für die Entnazifizierung und Kategorisierung, Nr. X 2956, Bl. 34 – 40, Stoffregen an den Berufungsausschuss am 27.06.1949. 37 Ebd., Bl. 70, Fachausschuss 6a an Berufungsausschuss 17 für die Ausschaltung von Nationalsozialisten am 02.07.1949. 38 Ebd. 39 Zit. nach http://www.hamburg.de/clp/dabeigewesene-suche/clp1/ ns-dabeigewesene/onepage.php?BIOID=166&bezirke=1, hier Willi Schulz, (zuletzt eingesehen am 20.10.2018).
160 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
161
bestätigte jedenfalls das Urteil des Fachausschusses und erhielt Stoffre-
sich allerdings nicht erfüllt zu haben. Im März 1958 arbeitete Stoffre-
gens Zurückstufung zum Volksschullehrer aufrecht. In seinem Urteil vom
gen als Lehrer an der Volksschule Schwenckestraße 91/93, wie aus einem
August 1949 begründete er, dass die Entwicklung der „Salmi-Schrift“
Schreiben der Wiedergutmachungsakte von Gisela Figowy hervorgeht.43
eine Verbeugung auf dem Gebiet der nationalsozialistischen Neuerun-
Auch fehlt ein Eintrag zu ihm in der 1955 erschienenen Festschrift des da-
gen im Schulwesen dargestellt hätte und dass in diesem Zusammenhang
maligen Schulleiters Hermann Herzog.44 Friedrich Stoffregen starb am
auch Stoffregens Beförderung zum Rektor gesehen werden müsse. Eine
9. Juli 1981, er wurde auf dem Friedhof in Ohlsdorf beerdigt.45
Aufrechterhaltung der Beförderung wäre nicht angemessen gewesen. Gegen Stoffregens Überführung in Kategorie V (Entlastete) bestünden aller-
Marlen Sundermann
dings keine Bedenken.40 Stoffregen bat im Oktober 1950 erneut um Wiederaufnahme seines Falls und verwies auf die „oberflächliche Behandlung“ und die durch den Entscheid des Berufungsausschusses „hervorgerufene Härte“.41 Im März 1951 wandte er sich letztmalig an den Staatskommissar für Entnazifizierung und Kategorisierung. Er verwies auf den Fall des Lehrers Wilhelm Thies, der im Oktober 1950 zum Leiter der Schule Schottmüllerstraße ernannt worden war, obwohl er ebenfalls an der Schrift mitgearbeitet hatte. Stoffregen argumentierte: „Wenn der Vertreter der Schulbehörde im Berufungsausschuß meine Tätigkeit hinsichtlich des Schreibunterrichtes als so stark belastend ansah, daß er mich in der Stellung eines Schulleiters nicht mehr für tragbar hielt, so ist die Schulbehörde jetzt offensichtlich anderer Auffassung, denn sonst wäre die Ernennung des Kollegen Thieß nicht zu verstehen, da man nicht annehmen kann, daß mit zweierlei Maß gemessen wird. Ich darf also mit Recht erwarten, daß ein Wiederaufnahmeverfahren zu meiner völligen Rehabilitierung führen wird.“ 42 Der weitere Verlauf des Falls geht aus der Entnazifizierungsakte nicht hervor. Die Hoffnungen des Lehrers auf volle Rehabilitierung scheinen 40 Ebd., Bl. 72, Beschluss des Berufungsausschusses vom 27.08.1949. 41 Ebd., Bl. 75 – 77, Stoffregen an den Staatskommissar für Ent nazifizierung und Kategorisierung am 03.10.1950. 42 Ebd., Bl. 78, Stoffregen an den Staatskommissar für Entnazifizierung und Kategorisierung am 28.03.1951.
162 Friedrich Stoffregen – der Umstrittene
43 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 11, Bescheinigung Friedrich Stoffregen vom 10.03.1958. 44 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Herzog, Hermann: 50 Jahre Volksschule Eduardstraße 30, 1905 – 1955, o. O., o. J. vermutlich Hamburg 1955, 45 Grafsteen Friedhof Hamburg-Ohlsdorf 0073, in: Genealogie.net, URL: http://grabsteine.genealogy.net/tomb.php?cem=3982&tomb =996&b=S&lang=nl (eingesehen am 23.08.2018).
Friedrich Stoffregen – der Umstrittene 163
Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
Die Schülerbögen Ein Schülerbogen informiert in erster Linie über Name, Herkunft und schulische Laufbahn eines Kindes. So ist zum Beispiel über Evelyn N. zu lernen, dass diese viermal umgeschult wurde und mehrfach innerhalb Hamburgs umgezogen ist, bevor sie auf die Volksschule Eduardstraße ging und am 29. März 1941 nach erfüllter Schulpflicht entlassen wurde.2 Weiterhin sind Zeugnisnoten, Entwicklungsberichte und „blaue Briefe“ zu finden. Die Eltern der Schülerin Jutta H. bekamen am 14. Januar 1938 einen solchen Brief von dem Klassenlehrer → Friedrich Stoffregen, in dem dieser feststellte, dass es „nach dem bisherigen Stand der Leistungen“3 in
Die Volksschule Eduardstraße war in eine Mädchen- und eine Knaben-
den Fächern Deutsch, Geschichte und Erdkunde fraglich sei, ob Jutta in
schule geteilt, die jeweils verschiedene LehrerInnen und Schulleiter hat-
die zweite Klasse versetzt werden könne. Jutta musste die dritte Klasse
ten. Die SchülerInnen wurden in die Klasse acht eingeschult und schlos-
letztlich aber doch nicht wiederholen und konnte am 16. März 1940 nach
sen ihre Volksschullaufbahn mit der ersten Klasse ab. Danach gab es ent-
Regelschulzeit aus der Schule entlassen werden.
weder die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen oder den Oberbau e iner Volksschule oder eine andere weiterführende Schule zu besuchen. Auf-
Bei wenigen Bögen vorhandene Gesundheitsscheine, ärztliche Anord-
grund der gefundenen Fotos und einer erhaltenen Klassenliste lässt
nungen, Entschuldigungen und Berichte der
sich annehmen, dass es in der Regel pro Jahrgang nur eine Klasse mit
geben Auskunft über Gesundheitszustand und auch über häusliche Ver-
ca. 30 – 40 Kindern gab (→ Volksschulen im Nationalsozialismus).
hältnisse einzelner Schülerinnen. So schrieb die Lehrerin Martha Triebel
→ Lehrerinnen
und Lehrer
Was lässt sich nun über die SchülerInnen der Eduardstraße heraus-
im Februar 1936 einen ausführlichen Bericht über die Entwicklung der
finden? Und wie? Wo und in welchen Verhältnissen wohnten sie, wel-
halbseitig gelähmten Schülerin Edith V. Triebel notierte, dass diese sich
che Berufe übten ihre Eltern aus? Antworten auf diese und andere Fra-
nach der Einschulung 1934 nur „sehr schwer und langsam in die Gemein-
gen sind in Form von Schüler- und Personalbögen in dem Kellerarchiv
schaft“ der Schülerinnen eingelebt habe, sich die Schulkameraden aber
der heutigen Grundschule Eduardstraße zu finden. Die Schülerbögen bis
„liebevoll und hilfsbereit“ verhalten hätten, sodass sich Edith am Ende
1943 sind jedoch ausschließlich von Schülerinnen der Mädchenschule
des Schuljahres 1936 „aufgeschlossener und mitteilsamer“ sowie „fröh-
überliefert, deshalb ist anzunehmen, dass die entsprechenden B ögen der
lich und frei im Spiel mit den Kindern“ zeigen konnte. Offenbar lag hier,
Knabenschule verloren gegangen sind.1
zumindest aus der Sicht der Lehrerin, ein Beispiel gelungener Integration vor. Triebel suchte auch den Kontakt zu den Eltern. Denn über die häuslichen Verhältnisse verfasste sie ebenfalls eine Darstellung. Dieser kurze Bericht steht auf dem zitierten Bogen unter der Überschrift „Häusliche Verhältnisse“, zwei Blätter vor dem „zusammenfassenden Bericht
1 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1936 – 1939 und 1940 – 1944.
164
2 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1940 – 1944, Nr. S.41.37. 3 Ebd., Nr. S.40.8.
Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen 165
über die Entwicklung“, und so ist zu lesen, dass Ediths Eltern wohl „alle nur erschwinglichen Mittel“4 aufwandten, um ihrer Tochter zu helfen.
Aus den Schülerbögen kann man aber nicht nur etwas über die einzelnen Geschichten der SchülerInnen erfahren, sondern auch über wirt-
Einen besonderen Schülerbogen gibt es auch von Grace K., der Toch-
schaftliche, soziale und sogar religiöse Hintergründe. Zunächst ist fest-
ter eines Heizers, deren Mutter zwei Anträge „auf Teilnahme an der Mit-
stellbar, wo die meisten SchülerInnen der Volksschule Eduardstraße
tagsspeisung durch den wohltätigen Schulverein“ stellte. Grace war auf-
wohnten. Im Jahr 1941 hatten die SchülerInnen der ersten Klasse einen
grund einer „Bauchdrüsenschwellung“ in ärztlicher Behandlung und der
mittleren Schulweg von ca. 380 m und fast alle SchülerInnen der Volks-
Antrag ihrer Mutter wurde sowohl aus wirtschaftlicher als auch aus kör-
schule Eduardstraße mussten weniger als einen Kilometer laufen.8 Es ist
perlicher Bedürftigkeit „dringend empfohlen“5 und genehmigt.
also anzunehmen, dass der Großteil der Kinder direkt in dem damaligen
Die Schülerbögen aus dem Abgangsjahr 1944 stammen ausschließ-
Handwerker- und Arbeiterviertel Eimsbüttel wohnte. Ihre Väter waren
lich von den Schülern der Knabenschule Rellinger Straße 15. Es lässt sich
größtenteils Arbeiter oder im handwerklichen Bereich tätig. Ausnahmen
nicht nachweisen, wie sie in das Archiv der Volksschule Eduardstraße ge-
bildeten einige wenige Beamte, Friseure sowie der Schauspieler Charlo
langten.6 Auf diesen Bögen ist vermerkt, welchen Beruf die Schüler nach
Klee9, der u. a. 1963 in der ARD-Serie „Hafenpolizei“ mitspielte10. Auch
Abschluss der Volksschule erlernen wollten. Interessant ist hierbei, dass
dies bestätigt die Vermutung, dass die Volksschule Eduardstraße größten-
offenbar nur Jungen danach gefragt wurden, wie sie sich ihren weiteren
teils Arbeiter- und Handwerkerkinder unterrichtete.
Lebensweg vorstellten, denn der Berufswunsch der Schülerinnen wird
Über die Religionszugehörigkeit geben die Schülerbögen unter dem
auf keinem Bogen der Mädchenschule erwähnt. Diese Einseitigkeit ent-
Punkt „Bekenntnis“ ebenfalls Auskunft. Viele Eltern der SchülerInnen
sprach traditionellen Geschlechtervorstellungen, war aber auch im Drit-
waren Mitglieder der Evangelisch-Lutherischen Kirche, wenige gehör-
ten Reich wirklichkeitsfremd. Denn die meisten Schulabgängerinnen
ten der Römisch-Katholischen Kirche an. Aber auffallend häufig blieb
waren zumindest berufstätig, solange sie nicht verheiratet waren, viele
das entsprechende Feld unausgefüllt, vermutlich weil die Eltern keiner
gerade aus den Unter- und Mittelschichten arbeiteten aber auch nach
Kirche angehörten. Was bedeutet das nun für den auch im antikirchlich
ihrer Hochzeit.
eingestellten Nationalsozialismus weiterhin existenten Religionsunter-
Fast alle Jungen aus dem Jahr 1944 strebten Handwerker- und Arbei-
richt? In einem Personalbogen aus dem Jahr 1939 ist eine Mitteilung der
terberufe an. So war zum Beispiel der „erwählte Beruf“ von Gerd J. Fern-
Landesschulbehörde an alle Erziehungsberechtigten zu finden, aus der
meldemonteur. Günther K. hingegen wollte in den Angestelltenbereich
hervorgeht, dass „der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den
und Verkäufer werden, und Erik B. hatte vor, die Handelsschule zu besu-
Grundsätzen der betreffenden Religionsgemeinschaft erteilt“11 werden
chen.7 Inwiefern diese Wünsche allerdings Wirklichkeit wurden, ist frag-
solle. Das Schreiben sah neben dem evangelischen Religionsunterricht
lich, da die Schüler ihren Abschluss am 25. März 1944 machten. Sie wur-
auch Unterricht anderer Konfessionen vor, sollten sich genügend Schü-
den in ein zerstörtes Deutschland entlassen, teilweise waren sie auch alt
lerInnen einer solchen finden. Wer nicht wollte, dass sein Kind am Reli-
genug, um im Zuge des sog. „Volkssturms“, der Einberufung aller Männer
gionsunterricht teilnahm, sollte dies der Schule schriftlich mitteilen. Auf
zwischen 16 und 60 Jahren, noch eingezogen zu werden.
4 Ebd., Nr. S.43.1. 5 Ebd., Nr. S.41.27. 6 Ebd., Nr. S.44 ff. 7 Ebd., Nr. S.44.7; S.44.9; S.44.10.
166 Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
8 Ebd., Nr. S.41 ff. 9 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1936 – 39, Nr. S. 37.5. 10 Internet Movie Database, Charlo Klee, in: IMDb, https://www. imdb.com/name/nm3157335/?ref_=fn_al_nm_1 (eingesehen am 12.05.2018). 11 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1936 – 39, Nr. P.39.3.
Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen 167
der Rückseite des gefundenen Schreibens zumindest forderte die Mutter der Schülerin Hertha B. diesen ausdrücklich ein: „Hertha soll Religion haben.“12 Auf einem anderen Bogen desselben Jahrganges findet sich eine Muster-Erklärung, die Auskunft gibt, ob ein/eine SchülerIn am Religionsunterricht, am Lebenskundeunterricht oder an einem ganz anderen Fach teilnehmen sollte.13 Es ist zu vermuten, dass eine solche Erklärung an jedes Schulkind ausgeteilt wurde. Der Lebenskundeunterricht wurde als nationalsozialistisches Wertefach verstanden. Er sollte den „Einklang der nationalsozialistischen Lebens- und Volksauffassung mit den Gesetzmäßigkeiten des organischen Lebens“ aufzeigen und die Notwendigkeit der Erhaltung und Pflege der „rassischen Werte“14 eindringlich und verpflichtend herausstellen. Wie viele Mädchen an dieser nationalsozialistischen Konkurrenzveranstaltung zum Religionsunterricht teilnahmen, lässt sich leider nicht ermitteln.
Rassenpolitische Vermerke in den Schülerbögen? Die bürokratische Erfassung von „jüdischen“ Kindern intensivierte sich
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Fragebogen o. Verfasser.
nach den Nürnberger Gesetzen aus dem September 1935. Sie hatten u. a. Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse erklärt. Geplant war zudem, jüdische Kinder in eigene Schulen abzuschieben. Der abgebildete Fragebo-
erbracht“ bzw. „Nachweis fehlt“
gen, den wir im Kellerarchiv der Volksschule Eduardstraße fanden, be-
bögen wurde interessanterweise das entsprechende Feld in den meisten
legt zwar mangels Briefkopf nicht unbedingt, dass die Schulleitung der
Fällen gar nicht, nur mit „arisch“ oder mit „arisch – Nachweis fehlt“ bzw.
Volksschule Eduardstraße ihn entworfen hatte. Denn es befinden sich
“arisch – Nachweis nicht erbracht“ ausgefüllt, wie der folgende abgebil-
auch Materialien anderer Eimsbütteler Schulen im Keller. Er zeigt aber
dete Bogen unter dem Punkt „Abstammung“ dokumentiert.
immerhin, wie Hamburger Volksschulen bereitwillig die Vorgaben der Ministerien aus Berlin umsetzten.
→ Volksgemeinschaft.
In den Schüler-
Bei den Abgängen des Jahrgangs 1944 war sogar kein einziges dieser Felder ausgefüllt.15 Nur in einem der Bögen steht „arisch – Nachweis er-
Im folgenden Jahr gingen die Diskriminierungen weiter. Die Schü-
bracht“.16 Dies lässt vermuten, dass die LehrerInnen und Schulleiter der
lerbögen, die ab 1936 Zugänge festhielten, verlangten nun einen Ein-
Volksschule Eduardstraße keinen großen Wert darauf legten, dass ihre
trag zur Abstammung: „arisch“, „nicht-arisch“ mit Zusatz „Nachweis
SchülerInnen ihre Abstammung lückenlos nachweisen konnten.
12 Ebd. 13 Ebd., Nr. P.39.1. 14 Fricke-Finkelnburg, Renate (Hg.): Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933 – 1945, Opladen 1989, S. 43.
15 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1940 – 44, Nr. S. 44 ff. 16 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1936 – 39, Nr. S. 37.4.
168 Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen 169
Zu finden ist auch ein Abstammungsbogen der Schülerin Ursula H. vom 28. Januar 1938, die in den Oberbau einer Volksschule wechselte und deshalb einen solchen Bogen ausfüllen musste. Hier wurde nachgefragt, ob die Schülerin „deutschen oder artverwandten Blutes“ sei und ob ihr Vater im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft habe.17 Diese Frage bezog sich darauf, dass für Kinder, deren jüdischer Vater Soldat gewesen war, noch Ausnahmegenehmigungen existierten. Allen anderen jüdischen Kindern war schon seit April 1933 der Besuch Höherer Schulen verboten. Es liegen außerdem zwei „an alle Eltern unserer Schule“18 auszuteilende Formulare aus dem Oktober 1935 vor, auf denen angegeben werden sollte, ob Eltern oder Großeltern jüdisch seien und ebenfalls nach dem Militärdienst des Vaters während der Kriegszeit gefragt wurde. Diese beiden Formulare wurden im Auftrag der Landesunterrichtsbehörde ausgeteilt, stammen allerdings aus anderen Schulen. Im Sportunterricht der Volksschule Eduardstraße wurden außerdem Kampfspiele gespielt, die mit Note auch im Zeugnis vermerkt wurden. Aus den Monaten Februar und März 1937 ist außerdem ein Briefwechsel zwischen dem Vater von Dagmar B. und dem stellvertretenden Schulleiter Friedrich Stoffregen erhalten, in denen der Vater mit „Heil-Hitler“ unterschrieb. Auf den Antworten Stoffregens ist dieser Gruß allerdings bezeichnenderweise nicht zu finden.19 Marie Seifert, Luka Sommerfeld
Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Schülerbogen von Dagmar Buschdorf; „Abstammung: Arisch, Nachweis nicht erbracht“.
170 Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
17 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1940 – 44, Nr. S.40.25, Vermerk vom 18.01.1938 bzw. 29.01.1938. 18 Ebd., Nr. S.41.27; S.43.8. 19 Schule Eduardstraße, Kellerarchiv, Abgänge 1936 – 39, Nr. S.38.1.
Schülerinnen und Schüler – Daten, Fakten und Vermutungen
171
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
1925 waren an einigen Hamburger Volksschulen Oberbauklassen eingerichtet worden, die sich an die 7. bzw. ab 1937 auch schon an die 6. Jahrgangsstufe anschlossen und in drei Jahren zur mittleren Reife führten. Nach Uwe Schmidt waren Leistungswille und Begabung die ausschlaggebenden Kriterien für die Aufnahme in den Oberbau, wobei die Leistungen in Deutsch, Englisch und Mathematik besonders relevant waren.4
Diskriminierung und Ausgrenzung in der Schule Lutterothstraße 80 Gisela Figowy ist die einzige Schülerin der Volksschule Eduardstraße, von
Nach erfolgreich absolvierter Prüfung wechselte Gisela Nelki Ostern 1936
der wir sicher wissen, dass sie als sogenannte „Halbjüdin“ von Diskri-
auf den Oberbau der Volksschule in der Lutterothstraße 80. Als Halb
minierung betroffen war. Ihre vergleichsweise normale Schulzeit in der
jüdin sei sie dort „dann durch die damalige politische Einstellung ver-
Eduardstraße, ihre negativen Erfahrungen an der Schule Lutterothstraße
schiedener Lehrkräfte der Willkür dieser ausgesetzt“5 gewesen, schrieb
80 und ihre spätere Verfolgungsgeschichte konnten mit Hilfe i hrer Wie-
sie im September 1954 an das Amt für Wiedergutmachung in Hamburg.
dergutmachungsakte recherchiert werden.
Schulleiter Brandes habe die Klasse im Fach Geschichte unterrichtet, das
Gisela Figowy wurde am 9. Juni 1922 als einziges Kind des jüdischen
ihr besonders lag. In der Volksschule Eduardstraße wäre sie auf diesem
Deutschen Walter Nelki und seiner evangelischen Ehefrau Johanna
Gebiet die beste Schülerin gewesen, in der Lutterothstraße jedoch sei
(Henny), geborene Lüttmann, in Hamburg geboren. Die Familie war, wie
ihre Leistung nicht anerkannt worden: Wenn
schon die Eheschließung zeigte, vollkommen assimiliert. Walter Nelki war als Vertreter für Wirtschafts- und Haushaltsartikel für verschiedene
„der Lehrer eine Frage stellte, die von den Schülerinnen nicht ver-
Firmen tätig. Als Soldat war er im Ersten Weltkrieg am Oberschenkel
standen wurde, ich sie jedoch hätte beantworten können, was ich
verwundet worden. Familie Nelki lebte in ihrer 4-Zimmer-Eigentums-
durch Heben des Fingers kundtat, wurde die Frage anders formu-
wohnung in der Eduardstraße 13 in Eimsbüttel.1
liert und ich völlig übersehen.“ 6
Ostern 1929 wurde Gisela in die Schule Rellinger Str. 13 eingeschult, die sie bis Ostern 1934 besuchte.2 Anschließend wechselte sie an die
Im Sportunterricht habe sie zwar an den Spielen teilnehmen dürfen, die
Volksschule für Mädchen in der Eduardstraße 28. Dort machte sie 1936
innerhalb der Klasse stattfanden, nicht aber an Sportveranstaltungen, bei
die Aufnahmeprüfung für den Oberbau in der Lutterothstraße 80.3 Ab
denen auch andere Schulen beteiligt waren. Anlässlich eines Handballspiels zwischen ihrer und einer anderen Schulklasse habe die Klassen-
1 Wille, Ingo: Alice Nelki *1886, in: Stolpersteine Hamburg, Februar 2014, URL: http://stolpersteine-hamburg.de/index.php?MAIN_ID=7&BIO_ID=3072 (eingesehen am 20.07.2018). 2 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 24, Bescheinigung von Friedrich Stoffregen vom 10.03.1958. 3 Ebd., Bl. 11, Gisela Figowy ans Amt für Wiedergutmachung am 08.09.1954.
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4 Schmidt, Uwe: Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Bd. 1, Hamburg 2010, S. 298 f. 5 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 11, Gisela Figowy ans Amt für Wiedergutmachung am 08.09.1954. 6 Ebd.
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“ 173
lehrerin Fräulein Heydorn gegenüber Nelkis Mutter erklärt, dass sie als
beschrieb Figowy weitestgehend nur ihre Erfahrungen in der Lutteroth-
„Halbjüdin“ unwürdig sei und daher nicht teilnehmen dürfe.7
straße. Ihren Schulalltag in der Volksschule Eduardstraße schilderte sie
Nelki fühlte sich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft auch von ihren
dagegen kaum. Offenbar stellte ihre jüdische Herkunft in dieser Schule
Mitschülerinnen ausgegrenzt. In ihrer Klasse waren ungefähr 18 Schüle-
kein Problem dar. Ihre Lehrer in der Eduardstraße, insbesondere Fried-
rinnen, die alle Mitglied im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM)
→ Hitlerju-
rich Stoffregen, scheinen im Gegensatz zu Heydorn und Brandes in der
gend gewesen seien. Sonnabends seien sie wie vorgeschrieben in Uniform
Lutterothstraße keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden
in der Schule erschienen. Der Umstand, dass sie als Einzige keine Uni-
gemacht zu haben. In diesem Sinne äußerte sich auch Walter Nelki als
form trug, habe dazu beigetragen, dass sich die anderen Schülerinnen von
Leumundszeuge im Entnazifizierungsverfahren von Stoffregen im Okto-
ihr distanzierten.8 Als „jüdischem Mischling“ war es Nelki grundsätzlich
ber 1947:
erlaubt, ebenfalls Mitglied im BDM zu werden. Die ab dem 1. Dezember 1936 einsetzende Jugendverbandspflicht betraf „Mischlinge“ sogar in glei-
„Meine Tochter war von 1935 – 37 Schülerin des Herrn Stoffregen,
cher Weise wie die „arischen“ Schüler.9 Vermutlich wollte Nelki jedoch
ich möchte betonen, daß sich Herr St. immer gerecht und zuvor-
als Tochter eines Juden nicht Teil eines Jugendverbands sein, der rassis-
kommend gegen meine Tochter gezeigt hat. Ausserdem kann ich sa-
tische und antisemitische Ideale vertrat und vermittelte. Resümierend
gen, soweit es mir durch meine Tochter erzählt wurde, daß Herr
stellt F igowy über ihre Schulzeit in der Lutterothstraße fest: „Alle diese
Stoffregen niemals in hetzender Weise über die Judenfrage unter-
Zustände machten für mich den Besuch der Schule zur Qual, besonders
richtete und überhaupt die Schülerinnen nicht in dem sogenannten
haben dazu der Schulleiter und meine Klassenlehrerin beigetragen.“10
‚Nationalsozialistischen Geist‘ erzogen hat.“ 12 Am 12. März 1937 beendete Nelki die Schule in der Volksschule Edu-
Rückschulung in die Eduardstraße 28
ardstraße. Ihre Familie wollte aufgrund des zunehmenden Verfolgungsdrucks emigrieren, doch die Auswanderungsvorbereitungen verzögerten
Bereits nach sieben Monaten verließ Nelki den Oberbau in der Lutte-
sich.13 Bis zur Emigration im Sommer 1938 absolvierte Gisela Nelki einen
rothstraße. Ab dem 2. November 1936 besuchte sie erneut die Mädchen-
einjährigen Lehrgang an der Groneschen Handelsschule, um sich auf
schule in der Eduardstraße. Ihr Klassenlehrer wurde
Stoffre-
den kaufmännischen Beruf vorzubereiten. Eine andere Berufsausbildung
gen, der sie bereits bei ihrem ersten Besuch in der Eduardstraße unter-
hielten ihre Eltern aufgrund der äußeren Umstände nun für aussichts-
richtet hatte. Über ihren Lehrer schrieb Figowy 1954: Auch „diesem Leh-
los.14 Nach der Emigration nach Belgien im Sommer 1938 konnte Walter
rer war es damals unverständlich warum ich zu ihm in die Klasse kam, je-
Nelki seiner Tochter keine weitere Schulbildung mehr finanzieren.15
→ Friedrich
doch konnte er sich damals aus naheliegenden Gründen in keiner Weise dazu äussern.“11 In ihren Berichten an das Amt für Wiedergutmachung 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Schmidt, Hamburger Schulen, S. 425 f. 10 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 11, Gisela Figowy ans Amt für Wiedergutmachung am 08.09.1954. 11 Ebd.
174 Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
12 StAHH, 221-11 Staatskommissar für die Entnazifizierung und Katego risierung, Nr. X 2956, Bl. 21, Schreiben Walter Nelki vom 01.10.1947. 13 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 26, Rechtsanwalt Friedrich Rosenhaft ans Amt für Wiedergutmachung am 18.03.1958. 14 Ebd., Bl. 11, Gisela Figowy ans Amt für Wiedergutmachung am 08.09.1954. 15 Ebd., Bl. 26, Eidesstattliche Versicherung von Walter Nelki vom 17.03.1958.
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“ 175
Wiedergutmachung wegen Schadens in der Ausbildung
Die Schulbehörde wies darauf hin, dass Juden erst mit Erlass vom 15. November 1938 der Besuch deutscher Schulen verweigert worden war und
Nelkis Wunsch war es gewesen, Abitur zu machen und zu studieren.
jüdische „Mischlinge 1. Grades“ – als solche zählten Personen mit zwei
Dazu hätte sie nach erfolgreicher Absolvierung des Oberbaus eine Auf-
jüdischen Großelternteilen – erst mit Erlass vom 2. Juli 1942 nicht mehr
bauschule besuchen wollen.16 Wegen der erlittenen Diskriminierung in
in eine weiterführende Schule hatten aufgenommen werden dürfen. An-
der Lutterothstraße hatte sie diesen Wunsch jedoch nicht verwirklichen
gesichts dessen hielt sie es für unglaubwürdig, dass Figowys Umschu-
können. Im September 1954 beantragte sie daher Entschädigung für den
lung aus „rassischen Gründen“ erfolgt war. Nachweise konnten aller-
erlittenen Ausbildungsschaden. Das Amt für Wiedergutmachung ging
dings keine mehr erbracht werden.19
der Frage nach, ob Nelki, nunmehr verheiratete Figowy, die Schule in
Auch wenn entsprechende Erlasse erst später in Kraft traten, wa-
der Lutterothstraße aufgrund ihrer jüdischen Herkunft hatte verlassen
ren „halbjüdische“ Schülerinnen und Schüler bereits ab April 1933 von
müssen, und holte dazu Stellungnahmen von beteiligten Personen und
einschränkenden Maßnahmen in Schule und Hochschule betroffen, wie
Behörden ein. Friedrich Stoffregen hatte zum Schulwechsel seiner ehe-
Beate Meyer in ihrer umfassenden Studie zu „jüdischen Mischlingen“
maligen Schülerin eine klare Meinung:
festgestellt hat. Für viele von ihnen war der Schulalltag bereits frühzeitig von antisemitischen Diskriminierungen geprägt. Einige der von Meyer
„Da sie stets eine gewissenhafte, fleißige und begabte Schülerin war
angeführten Fälle weisen dabei auch Parallelen zu den Schilderungen von
und da eine Rückschulung aus dem Oberbau an die Eduardstraße
Gisela Figowy auf. Der andauernde Prozess der sukzessiven Ausgrenzung
auf Wunsch der Eltern nicht beantragt worden war, das Mädchen
von „Halbjuden“ ist nach Meyer nicht gradlinig verlaufen und hing ne-
aber den Anforderungen dieser weiterführenden Schule nach päd-
ben der offiziellen Schulpolitik von vielen Variablen ab, und zwar nicht
agogischem Ermessen ohne weiteres hätte genügen müssen, konnte
zuletzt vom Handeln der Verantwortlichen vor Ort, eben der Schulleiter,
die Umschulung nur aus ‚rassischen Gründen‘ erfolgt sein. Schrift-
LehrerInnen und Eltern.20
liche Angaben über diesen letzten Punkt sind nicht vorhanden.“ 17
Der als Sachbearbeiter beim Amt für Wiedergutmachung zuständige Dr. Dehns zog zwar in Betracht, dass Figowy in der Lutterothstraße Dis-
Studienrätin Heydorn gab hingegen an, sich kaum mehr an ihre Schüle-
kriminierungen erfahren hatte. Ein möglicherweise aus diesem Grund
rin in der Lutterothstraße erinnern zu können:
erfolgter „freiwilliger“ Schulwechsel stellte für ihn allerdings keine ausreichende Begründung für eine Entschädigung dar:
„An den Namen Gisela Nelki kann ich mich schwach erinnern. Aber von der Person, ihren Fähigkeiten und ihrer Arbeitshaltung
„Sollte die A’in [Antragstellerin] dort wegen ihrer Abstammung
habe ich keinerlei Vorstellung und kann daher auch keine Aussagen
etwa Schwierigkeiten gehabt und deswegen die Schule wieder
machen, die Schlüsse zuließen, ob sie den Oberbau der Lutteroth-
verlassen haben, so ist das kein nach dem BEG [Bundesentschädi-
straße besucht hat und wenn, warum sie nach einem halben Jahr
gungsgesetz] zu entschädigender Verfolgungsvorgang.“ 21
wieder abgegangen ist.“ 18
16 Ebd., Eidesstattliche Erklärung von Gisela Figowy vom 17.03.1958. 17 Ebd., Bl. 24, Bescheinigung Friedrich Stoffregen vom 10.03.1958. 18 Ebd., Bl. 30, Schulbehörde ans Amt für Wiedergutmachung vom 07.05.1958.
176 Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
19 Ebd. 20 Meyer, Beate: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933 – 1945, 1. Aufl., Hamburg 1999, S. 192 – 199. 21 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 32, Beurteilung Dr. Dehn vom 20.5.58.
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“ 177
Dehns schloss sich der Beurteilung der Schulbehörde an und stellte in
Mit der einmaligen Zahlung von 5.000 DM war dann vier Jahre nach Be-
seinem abschließenden Bericht fest: „Das Vorbringen der A’in erscheint
antragung der Wiedergutmachung die Entschädigungsangelegenheit zu
nicht glaubhaft.“ Er bezweifelte, dass Figowy jemals vorgehabt habe,
einem Abschluss gekommen.26
eine höhere Lehranstalt zu besuchen. Denn dafür hätte sie Dehns Ansicht nach bereits 1932 oder 1933 von der Grundschule in eine höhere Schule überwechseln müssen.22 Bei dieser Einschätzung wurde allerdings vollkommen die Tatsache ignoriert, dass Figowy nach ihrem Wechsel in
Nationalsozialistische Verfolgung in Belgien und das Leben nach der Befreiung
den Oberbau eine höhere Schullaufbahn offen gestanden hatte. Der von Figowy gewählte Weg war zu dieser Zeit durchaus nicht unüblich. So
Für Gisela Nelki waren die Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfah-
kommt Uwe Schmidt zu dem Ergebnis, dass die wirtschaftliche und poli-
rungen in der Lutterothstraße erst der Anfang der nationalsozialistischen
tische Krise der Weimarer Republik ab 1929 auch die Hamburger Schulen
Verfolgung gewesen. Da die Lebensbedingungen für die Juden und Jüdin-
erfasst hatte. Da die Schulgeldfreiheit nicht durchgesetzt werden konnte,
nen in Deutschland immer schwieriger wurden, emigrierte Familie Nelki
seien Eltern in zunehmendem Maße gezwungen gewesen, ihre Kinder
im August 1938 nach Belgien.27 Die Eigentumswohnung in der Eduard-
statt auf die höhere Schule zunächst auf den schulgeldfreien Oberbau
straße musste aufgegeben, die gesamte Wohnungseinrichtung und das
der Volksschule zu schicken. Erst 1934 wurde auch für den Oberbau die
Auto zurückgelassen werden.28 Da Walter Nelki in Belgien keine Arbeits
Schulgeldpflicht eingeführt. Der zu leistende Betrag betrug allerdings nur
erlaubnis erhielt, war die Familie auf Unterstützung angewiesen.29 In
die Hälfte des Satzes, der für den Besuch der höheren Schule aufzubrin-
Folge der Emigration wurde ihnen Ende Oktober 1938 die deutsche
gen war.23 Möglicherweise entwickelte sich der Wunsch nach einer höhe-
Staatsbürgerschaft entzogen.30 Bis ins Jahr 1940 konnten sie noch rela-
ren Schulbildung bei Figowy auch erst nach der 5. Volksschulklasse.
tiv unbehelligt vom nationalsozialistischen Terror leben. Mit Einmarsch
Entgegen der Empfehlung des Sacharbeiters, den Antrag auf Ent-
der deutschen Truppen am 10. Mai 1940 wurde Walter Nelki dann aller-
schädigung abzulehnen,24 erkannte das Amt für Wiedergutmachung je-
dings als deutscher Emigrant von der belgischen Polizei verhaftet und in
doch Figowys NS-Verfolgung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft sowie
das südfranzösische Lager St. Cyprien deportiert.31
ihren Anspruch auf Entschädigung wegen Schadens in der Ausbildung
Am 25. November 1940 konnte Walter Nelki zu Frau und Toch-
an. Es unterbreitete ihr einen Vergleichsvorschlag. In der Begründung
ter nach Antwerpen zurückkehren. Auf Veranlassung der deutschen
heißt es:
Feldkommandantur wurde er kurz darauf jedoch erneut verhaftet. Am 25. Januar 1941 wurde Familie Nelki zusammen mit anderen Juden in das
„Das Amt geht bei dem Vergleichsvorschlage davon aus, daß Ihnen insofern ein Schaden in der Ausbildung entstanden ist, als sie aus Gründen der Rasse ihre Absicht, die höhere Schule bis zum Abitur zu besuchen, nicht verwirklichen konnten.“ 25 22 Ebd. 23 Schmidt, Hamburger Schulen, S. 30 u. 299. 24 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 45171, Bl. 32, Beurteilung Dr. Dehn vom 20.05.1958. 25 Ebd., Bl. 34, Amt für Wiedergutmachung an Gisela Figowy am 28.05.1958.
178 Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
26 Ebd., Bl. 35, Rechtsanwalt Friedrich Rosenhaft ans Amt für Wiedergutmachung vom 29.05.1958. 27 Ebd., Bl. 19, Lebenslauf von Gisela Figowy. 28 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 12446, Bl. 3, Schreiben Wilhelm Kruse vom 27.06.1946. 29 Ebd., Nr. 45171, Bl. 26, Eidesstattliche Erklärung von Walter Nelki vom 17.03.1958. 30 Ebd., Nr. 12446, Bl. 6, Schreiben Auswärtiges Amt in Brüssel vom 30.09.1941. 31 Ebd., Nr. 45171, Bl. 19, Lebenslauf von Gisela Figowy.
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“ 179
Bereits im September 1945 kehrte Gisela Nelki mit ihren Eltern nach Hamburg zurück, wo sie zusammen in einer 4-Zimmer-Wohnung in der Andreasstraße 22 lebten. Der Familie ging es finanziell schlecht, insbesondere nachdem Walter Nelki Anfang 1950 einen Schlaganfall erlitten hatte. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung war Gisela Nelki auf Fürsorgeunterstützung angewiesen. Beim Arbeitsamt machte sie einen Kurs, um sich zur Stenotypistin ausbilden zu lassen.34 1954 heiratete sie den am 10. Mai 1907 in Warschau geborenen Abram Figowy, der als Jude ebenfalls von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffen gewesen war: Von 1940 bis 1943 hatte er im Warschauer Ghetto leben müssen; von Mai 1943 bis April 1945 war er in den Konzentrationslagern Majdanek, Rakow, Buchenwald, Flossenburg und Skarzysko inhaftiert gewesen. Seine erste Ehefrau und die fünfjährige Tochter waren im August 1942 deportiert und ermordet worden. Die KZ-Haft und die in fünf Jahren geleistete Zwangsarbeit hatten für Abram Figowy schwere gesundheitliche Stolpersteine für Elisabeth und Alice Nelki in der Schellingstraße 12 (Wandsbek, Eilbek), Foto: Hendrik Althoff.
Probleme zur Folge. Dennoch gelang es ihm, sich in Hamburg eine neue Existenz aufzubauen. 1947 eröffnete er ein Kleidergeschäft in der Bornstraße, 1956 erfolgte der Umzug in die Grindelallee. Ab 1960 arbeitete er
belgische Dorf Lummen gebracht. Nach Beurteilung des Amts für Wie-
als Lehrlingsprüfer bei der Handelskammer. Gisela und Abram Figowy
dergutmachung handelte es sich hierbei um einen zwangsweisen Ghet-
lebten weiterhin in der Andreasstraße 22. Ihr Sohn Nicolo wurde 1959
to-Aufenthalt: Die Familie durfte den ihr zugewiesenen Ort nicht verlas-
geboren.35 Gisela Figowy starb am 4. November 2008 in Hamburg und
sen, Walter Nelki musste Zwangsarbeit leisten und sich zweimal täglich
wurde neben ihrem Ehemann (gest. am 17. November 1981) auf dem jüdi-
bei der Polizei melden.32 Am 30. April 1941 war die Aktion beendet und
schen Friedhof in Ohlsdorf beerdigt.36
die Familie durfte nach Brüssel gehen. Dort erlebte sie am 3. September 1944 die Befreiung durch die britische Armee. Den Deportationen war
Marlen Sundermann
sie durch die Hilfe aus der Bevölkerung und der belgischen Behörden entgangen.33 Hingegen wurden mindestens zwei Verwandte der großen und weitverzweigten Hamburger Familie getötet, eine Großtante und eine Tante von Gisela Nelki.
32 Ebd., Nr. 12446, Bl. 80, Beschluss des Amts für Wiedergutmachung vom 24.08.1950. 33 Ebd., Nr. 45171, Bl. 19, Lebenslauf von Gisela Figowy.
180 Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
34 Ebd., Nr. 12446, Bl. 90, Protokoll vom 20.11.1950. 35 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, Nr. 32146 u. 32147. 36 Liste jüdischer Friedhof Ohlsdorf, 07.07.2010, URL: http://www. jüdischer-friedhof-altona.de/img/Datenbanken/ilandkoppel_grabregister.pdf (eingesehen am 20.07.2018).
Gisela Nelki, spätere Figowy – Schülerin und „Halbjüdin“
181
Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich
Hannelore Prüssing, geb. Bratfisch Hannelore Prüssing wurde 1934 geboren und besuchte die Volksschule
Frau Hannelore Prüssing, Aufnahme: Andrea Janke.
Eduardstraße von 1941 bis 1950. Sie wohnte zusammen mit ihren Eltern in Eimsbüttel. Auf ihre Zeit in der Volksschule Eduardstraße blickt Frau Prüssing gerne zurück. Sie erinnert sich beispielsweise an den Gesangs-
rinnen aller Schulen zu gewährleisten, wurde dieser in Schichten (vormit-
unterricht bei „Fräulein Fischer“, den Sportunterricht vor dem Schulge-
tags/nachmittags) organisiert. Frau Prüssing erinnert sich zudem an eine
bäude, in dem die Schülerinnen Staffellauf übten, oder den Mathema-
Suppenküche, die in der Volksschule Eduardstraße eingerichtet wurde.
tikunterricht, denn das Rechnen lag Frau Prüssing besonders. Entspre-
Hier gab es gelegentlich Schokoladensuppe und etwas zu trinken aus der
chend deutlich ist ihr deshalb eine Zeugnisausgabe in Erinnerung geblie-
Dose. Bombenangriffe hat Frau Prüssing zwar während der Zeit an der
ben, bei der sie in diesem Fach plötzlich die Note „fünf“ verpasst be-
Schule nicht miterlebt, doch zuhause stand immer ein gepackter Koffer
kommen hatte. Die Mathematiklehrerin, so Prüssing, habe sie vermut-
griffbereit neben ihrem Bett. Wenn der Alarm losging, rannte sie zusam-
lich einfach nicht leiden können, da sie ihr zum Geburtstag nur gratu-
men mit ihrer Familie und dem Koffer unter dem Arm in einen nahegele-
liert und kein Geschenk mitgebracht hatte. Ihr Vater sprach daraufhin
genen Bunker. Hier konnte man nichts anderes tun als abzuwarten.
mit der Lehrerin. Die Note wurde durchgestrichen und durch eine bes-
Während der Bombenangriffe in den Sommerferien 1943, durch wel-
sere ersetzt. Zeugnisse waren jedoch keine Selbstverständlichkeit in der
che auch die Volksschule Eduardstraße teilweise zerstört wurde, war Frau
Kriegszeit. So bekam Frau Prüssing 1943 kein Zeugnis ausgestellt, son-
Prüssing nicht in Hamburg. Sie war im Zuge der Kinderlandverschickung
dern nur eine handschriftliche Versetzungsbestätigung. Die Zeugnisvor-
nach Kellinghusen in Schleswig-Holstein in Sicherheit gebracht worden.
drucke waren bei Bombenangriffen verbrannt → Luftschutz.
Von dort konnte sie die Bombenangriffe auf Hamburg jedoch noch in der
Die Auswirkungen des Krieges waren auch an anderen Stellen spür-
Ferne erkennen. Diese Zeit war für Frau Prüssing sehr schwer, denn sie
bar. Zwischen 1941 und 1945 fand der Unterricht für Frau Prüssing, so wie
wusste zunächst nicht, ob ihre Eltern die Angriffe überlebt hatten. Umso
auch für alle anderen Schülerinnen, immer wieder an anderen Schulen
glücklicher war sie, als ihr Vater sie abholte. Der hamburgische Stadt-
statt. Sie wurden u. a. auf die Volksschulen Lutterothstraße, Schwencke-
teil Eimsbüttel war fast komplett zerstört. Nur wenige Gebäude standen
straße und Rellinger Straße verteilt. Um einen Unterricht für die Schüle-
noch und konnten wieder hergerichtet werden, so auch das Wohnhaus ihrer Familie.
182
Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich 183
Ingrid Schwarz, geb. Kowitz Ingrid Schwarz, geboren 1932, besuchte die Volksschule Eduardstraße von 1939 bis 1943. Sie wohnte zusammen mit ihren Eltern sowie ihrem Bruder und ihrer Schwester, die auf derselben Schule waren, in Eimsbüttel. Auch wenn der Unterricht stark vom Krieg geprägt war und nur unregelmäßig stattfand, erinnert sich Frau Schwarz gerne an ihre Schulzeit zurück. Ihr sind, wie auch Hannelore Prüssing, vor allem die schönen Ereignisse in Erinnerung geblieben. Spaß hatte auch sie im Unterricht ihres Lieblingsfaches Mathematik. Der Schulalltag in der Eduardstraße war für sie ein Stück Normalität in den Zeiten des Krieges. Sie erlebte glücklicherweise nie einen Bombenangriff während des Unterrichts, doch nach Schulschluss war der Luftkrieg wieder präsent. Zu Hause angekommen zog sie ihre Kleidung nicht mehr aus, sondern war immer bereit, den von der Wohnung fünf Minuten entfernten Luftschutzbunker in der Eimsbütteler Straße aufzusuchen. Vor den Sommerferien 1943 beendete Frau Schwarz die vierte Klasse.
Schulklasse von Frau Prüssing (2. Reihe von hinten, rechts außen), Lehrerin Fräulein Mangels, aus Privatbesitz.
Ihre Schulklasse wurde aufgelöst und manche Mädchen auf weiterführende Schulformen aufgeteilt. Einige Mitschülerinnen sollten nach den
Neben dem vom Krieg geprägten Alltag erinnert sich Frau Prüssing
Sommerferien das Gymnasium, andere den Oberbau besuchen. Doch
immer wieder an kindstypische und kriegsunabhängige Erlebnisse und
während der Sommerferien 1943 wurde das Schulgebäude in der Edu-
Wahrnehmungen. Es gab zum Beispiel ein Versteck auf dem Dachboden
ardstraße durch Bombentreffer so stark beschädigt, dass dort für die Ver-
der Volksschule Eduardstraße, wo sich die Jungen und Mädchen der ge-
bliebenen kein Unterricht mehr stattfinden konnte. Frau Schwarz nahm
trennten Schulen heimlich trafen.
fortan Unterricht bei einer Privatlehrerin, eine Möglichkeit, die nur we-
Hannelore Prüssing erinnert sich auch an den Ausflug mit ihrer Klas→ Ausflüge.
nigen SchülerInnen offenstand. Viele mussten in dieser Zeit gänzlich
Thies sei nicht
auf eine schulische Förderung verzichten. Im Gedächtnis geblieben ist
gewandert, sondern vielmehr marschiert, und die Schülerinnen hatten
Frau Schwarz aber ein typisch kindliches Bekümmernis, nämlich dass
Schwierigkeiten, ihr zu folgen. Ansonsten hat Frau Prüssing aber vorwie-
ihr größter Wunsch, ein Fahrrad, lange unerfüllt blieb. Unerfüllt blieb
gend gute Erinnerungen an ihre LehrerInnen. Mit einer ehemaligen Leh-
auch ein anderer Traum: Mitglied im „Bund Deutscher Mädel“ (BDM)
rerin steht sie unter anderem immer noch telefonisch in Kontakt.
zu werden, in den die Kinder erst ab 14 Jahren eintreten konnten. Sie
senlehrerin „Fräulein“ Thies zur Alsterquelle
Nach der Volksschule besuchte Prüssing eine Hauswirtschafts-
hatte die älteren Mädchen stets um ihre schicken Uniformen beneidet.
schule, dann eine Handelsschule und arbeitete als Buchhalterin. Sie hei-
Frau Schwarz musste sich mit der verpflichtenden Mitgliedschaft bei den
ratete und bekam zwei Kinder. Heute lebt sie in Henstedt-Ulzburg.1
Jungmädeln begnügen. Aber hier spielte man Räuber und Gendarm, was ihr auch gefallen habe.
1 Interview mit Hannelore Prüssing am 05.07.2018, in eigenem Besitz.
184 Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich
Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich 185
In der Nachkriegszeit besuchte Frau Schwarz die Höhere Handelsschule, arbeitete zunächst bei einer Versicherung, dann bei einem Amtsgericht, heiratete und bekam zwei Töchter. Heute lebt sie weiterhin in Hamburg.2 Es war nicht die nationalsozialistische Ideologie, so Frau Schwarz und Frau Prüssing, die ihren Alltag geprägt und diesen bestimmt habe. In Erinnerung blieb ihnen vielmehr der Krieg, der Leid, Hunger und Perspektivlosigkeit mit sich brachte. Insgesamt schilderten Frau Schwarz und Frau Prüssing mehrere Stunden lang, was sie erlebten, welche Ereignisse sie formten und welche Ängste sie hatten. Mit der Zeit würde vieles verblassen, das Gespräch mit anderen Betroffenen helfe aber dabei, sich zu erinnern. So trifft sich der ehemalige Jahrgang von Frau Prüssing auf ihre Initiative jedes Jahr im April zu einem Klassentreffen. Frau Ingrid Schwarz, Aufnahme Andrea Janke.
Andrea Janke, Elisabeth Jena Als die Kriegsauswirkungen 1944 den Alltag immer stärker belasteten, nahm auch Ingrid Schwarz an der Kinderlandverschickung teil. Sie erinnert sich an einen streng reglementierten Aufenthalt im Böhmerwald und in Bamberg, der sich sehr lang angefühlt habe und – trotz der relativen Sicherheit – nicht mit der schönen Zeit an der Volksschule zu vergleichen gewesen sei. Sie beschreibt diesen Aufenthalt ähnlich dem in einem Internat, in welchem eine ideologische Umerziehung der Kinder stattfand. So habe sie beispielsweise erst nach ihrer Rückkehr aus der Kinderlandverschickung ihre Mutter kritisiert, weil diese feindliche Radiosender hörte. Eingeprägt hat sich Frau Schwarz zudem der papierlose Unterricht während der Kinderlandverschickung. Die Kinder mussten versuchen, das vom Lehrer Vorgesprochene direkt auswendig zu lernen, was sich als sehr schwierig erwies. Beim Singen des Liedes „Rio de Janeiro, ahoi!“ habe sie z. B. immer „Rio Reschenero“ gesungen und erst später diesen Fehler bemerkt. Eine schöne Erinnerung für Frau Schwarz ist daher der Urlaub von der Kinderlandverschickung. Im Januar 1945 fuhr sie alleine mit dem Zug zurück nach Hamburg-Altona und wurde dort von der Bahnhofsmission zu einer Freundin ihrer Eltern gebracht, die sie freudig in die Arme schloss.
186 Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich
2 Interview mit Frau Ingrid Schwarz am 04.07.2018, in eigenem Besitz.
Hannelore Prüssing und Ingrid Schwarz – Zeitzeuginnen erinnern sich 187
Claudia Bade, Detlef Garbe, Magnus Koch (Hg.) unter Mitarbeit von Lars Skowronski
Hans-Peter de Lorent
Rücksichten auf den Einzelnen haben zurückzutreten. Hamburg und die Wehrmachtjustiz im Zweiten Weltkrieg
Täterprofile. 2. Band. Die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen unterm Hakenkreuz und in der Zeit nach 1945
Hamburg 2018
Hamburg 2017
Elf Gerichte und weitere Dienststellen der Wehrmachtjustiz führten
Mit den 51 von Dr. Hans-Peter de Lorent recherchierten und ver-
während des Zweiten Weltkrieges Zehntausende von Kriegsgerichts
fassten Biographien wird ein tiefer Einblick in die Zeit des Hamburger
verfahren in Hamburg durch und waren für Hunderte Todesurteile
Bildungswesens unterm Hakenkreuz gegeben. Der Alltag in den Schu
verantwortlich. Jahrzehntelang wurde eine gesellschaftliche und wis
len, der Ausbildung und der Schulverwaltung sowie im Nationalsozia
senschaftliche Auseinandersetzung mit dem Wehrmachtsstandort Ham
listischen Lehrerbund wird ebenso anschaulich wie die Bedeutung der
burg und insbesondere den Folgen der hier praktizierten Militärgerichts
Geschichte der unvollendeten Entnazifizierung in Hamburg und den per
barkeit vernachlässigt. Pläne des öffentlichen Gedenkens an die Opfer
sonellen Kontinuitäten in der Zeit nach 1945.
der NS-Militärjustiz stießen lange auf Ablehnung in Öffentlichkeit und Politik. Der Sammelband zieht einen Bogen von der Radikalisierung der Militärjustiz in der NS-Zeit über die damit verbundene Spruchpraxis und Fallgeschichten ihrer Opfer bis hin zu Kontinuitäten in der Nach kriegszeit sowie (aktuellen) Diskussionen über die geforderte Wiederein führung einer gesonderten „Wehrstrafgerichtsbarkeit“. Zudem werden Vorgeschichte und Realisierung des Hamburger Deserteursdenkmals dargestellt.
Birthe Kundrus ist Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg. Hendrik Althoff ist Masterstudent der Geschichtswissenschaften an der Universität Hamburg. Die Einträge konzipierten und schrieben Studierende der Geschichte, der Anglistik, der Soziologie, der Erziehungs-, Musik- und Medienwissenschaften; einige sind im Master, die meisten studieren auf Lehramt.
Impressum © Landeszentrale für politische Bildung Hamburg 2019 Herausgeber: Birthe Kundrus und Hendrik Althoff Gestaltung und Satz: Lichten, www.lichten.com Auflage: 800 Druck: Dräger+Wullenwever print+media Lübeck GmbH & Co. KG Bildnachweis: Umschlag (Klappe hinten): Grundschule Eduardstraße, Michael Eden ISBN 978-3-946246-32-9
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Die Volksschule Eduardstraße gibt es seit 1905. Sie ist heute eine Ganzt agsGrundschule mit einer Vorschulklasse und hat ca. 200 Schülerinnen und Schüler in jeweils zwei Parallelklassen.