Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges [Reprint 2022 ed.]
 9783112681220

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. K a p i t e l . Der Weltkrieg und die Idee des Völkerrechts
2. Kapitel . Das Problem der Kriegsverhütung und die konkreten Konflikte des Völkerrechts
3. Kapitel. Das Scheitern des Vorschlags betreffend ein Schiedsgericht im Konflikte zwischen Österreich-Ungarn und Serbien
4. Kapitel. Das Scheitern der Vermittelungsaktion
5. Kapitel. Die Gesichtspunkte der Reform
Anhang Nr. 1. Die Note Österreich-Ungarns an Serbien
Anhang Nr. 2. Die Antwort der serbischen Regierung mit den Anmerkungen der k. und k. Regierung vom 25. Juli 1914 216

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Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges Von

Walfher Schütting P r o f e s s o r der Redite in M a r b u r g Associé de l'Institut de droit international Korrespondierendes Mitglied des amerik. Instituts für Völkerrecht

Leipzig

&

V e r l a g von Veit & Comp,

1917

Druck von Metzger & Wittig in Leipäg.

Jonkheer Dr. B. de Jong van Beek en Donk Ministerialrat im holländischen

Justizministerium

Generalsekretär der Zentralorganisation für einen dauernden Frieden in Freundschaft zugeeignet.

Vorwort. In der Flut der deutschen Kriegsliteratur gibt es zahlloser Schriften, die sich mit dem Ursprünge des Krieges und seinen politischen Lehren beschäftigen. Sie erheben meist Anklagen der schwersten A r t gegen einzelne Staatsmänner und ganze Völker und erwarten das Heil für die einer Vermehrung der Macht.

Sicherung des Friedens

von

Das nachfolgende Werk ist aus

einem anderen Geiste geboren und verfolgt a uns in den Berichten der belgischen Gesandten entgegentritt, völlig r e c h t zu geben. Vgl. dazu die P u b l i k a t i o n des Auswärtigen A m t e s : Belgische A k t e n s t ü c k e 1905—1914, Berichte der belgischen V e r t r e t e r in Berlin, London und Paris an den Minister des Äußeren in Brüssel, insbesondere daselbst Nr. 62, 66, 84, 96, 100, 101, 102, 103, 115, 118. 2

Nicht ganz u n b e g r ü n d e t ist in dieser Beziehung wohl das Urteil des italienischen Generalsekretärs im Auswärtigen A m t in bezug auf die Krisis, daß die Gefahr der Lage in der Uberzeugung der österreichischungarischen Regierung bestände, daß es unumgänglich notwendig sei, u m ihr Ansehen zu erhöhen, einen wirklichen Erfolg aufzuweisen, n a c h den vielen E n t t ä u s c h u n g e n , welche ihr die Ereignisse auf d e m B a l k a n bereitet h ä t t e n ; siehe die Depesche des Botschafters R o d d aus R o m an G r e y v o m 27. Juli, B l a u b u c h Nr. 38, S. 32.

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

101

u n m i t t e l b a r e Verbindung mit der Türkei genommen w a r . 1 In dieser S t i m m u n g und nach solchen E r f a h r u n g e n wollte man England und F r a n k r e i c h , und wahrscheinlich auch das als unzuverlässig angesehene Italien in die Regelung der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien nicht hereinreden lassen. Dazu aber kann die früher erwähnte T a t sache, daß man ü b e r h a u p t auf Seiten der Zentralmächte in der angebotenen Vermittlung eine verschleierte Intervention sah, wie sie bisher nur gegenüber Mächten zweiten und d r i t t e n Ranges geübt worden war. Und in der T a t war das Institut der Vermittlung so oft zu solchen Zwecken mißbraucht worden, daß es in einen gewissen Mißkredit gekommen war, wie vor dem Weltkrieg auch von gegnerischer Seite a n e r k a n n t worden ist. 2 Das Scheitern der Vermittelungsaktion durch eine Viererkonferenz f ü h r t e E u r o p a , wie oben gesagt, schon dicht an den Abgrund des Weltkrieges. Immerhin gab es noch die Möglichkeit einer direkten Verständigung zwischen Wien und Petersburg. Schon am 27. Juli war v o m russischen Minister des Auswärtigen ein direkter freundschaftlicher Meinungsaustausch zwischen Österreich-Ungarn und R u ß l a n d vorgeschlagen, 3 und dieser Vorschlag war in Berlin als ein aussichtsreiches Verfahren b e g r ü ß t worden, als m a n dort den Konferenzvorschlag 1

Nach einem Bericht des belgischen Gesandten Grafen L a l a i n g aus London vom 24. Februar 1913 (a. a. 0 . , Nr. 100) wird die Verschlechterung der politisch-militärischen Situation Deutschlands durch die Verschiebung der Machtverhältnisse auf dem Balkan sogar vom Foreign Office offen zugegeben und als ausreichender Grund für die deutsche Vermehrung der Armeekorps angesehen. 2

Vgl. z. B. die ausgezeichnete Abhandlung von P o l i t i s : „L'avenir de la médiation" in der Revue générale de droit international public, Bd. 17 von 1910, S. 136ff. 3 Depesche von B u c h a n a n an G r e y vom 27. Juli, Blaubuch Nr. 55, S. 48.

102

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermitlelungsaktion.

abgelehnt hatte. 1 Am gleichen Tage dringt der russische Botschafter in Wien in einer Unterredung mit dem Unterstaatssekretär v o n M a c h i o darauf, der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg solle ermächtigt werden, die Besprechungen mit dem russischen Minister des Äußern fortzusetzen, da der letztere geneigt sei, Serbien anzuraten, alles was man von ihm als unabhängigen Staat verlangen könne, zu gewähren. 2 G r e y verzichtet einstweilen auf die weitere Befürwortung der Konferenz 3 und hofft auf eine Entspannung der Lage, zumal der deutsche Reichskanzler am Abend des 28. Juli dem britischen Botschafter versichert, er tue sein Bestes, um zwischen Wien und Petersburg zu vermitteln und hege große Hoffnung auf solche Auseinandersetzung. 4 Aber am selben Tage findet ein Gespräch zwischen dem öster1

Depesche v o n G o s c h e n aus Berlin a n G r e y v o m 27. J u l i , B l a u buch Nr. 43, S. 38. 2 Depesche von B u n s e n aus W i e n a n G r e y v o m 27. Juli, B l a u buch Nr. 56, S. 49. 3 G r e y depeschiert am 28. J u l i an den B o t s c h a f t e r Goschen nach Berlin: „Solange Aussicht v o r h a n d e n ist, d a ß Ö s t e r r e i c h - U n g a r n u n d R u ß l a n d ihre Meinungen direkt austauschen, ziehe ich vor, keinen anderen Vorschlag zu m a c h e n , da dies mir die beste Gewähr f ü r den Erfolg zu sein scheint" (Blaubuch Nr. 67). „ S i r E d w a r d G r e y schloß sich also damals dem deutschen S t a n d p u n k t vollkommen an u n d stellte seinen Konferenzvorschlag au; drücklich z u r ü c k . " So der deutsche Reichskanzler in seiner Rede v o m 19. August 1915 im R e i c h s t a g . Auf diese Tatsache, d a ß der Konferenzgedanke von deutscher Seite nicht zurückgewiesen sei, ohne d a ß gleichzeitig ein anderer Vorschlag gcmacht sei, den G r e y selbst f ü r den besseren erklärt h a b e , ist von deutscher Seite immer besonderes Gewicht gelegt worden. Vgl. die A n t w o r t des Wölfischen T e l e g r a p h e n b u r e a u s v o m 15. J a n u a r 1917 „ v o n b e f u g t e r informierter Seite" auf die amtliche Auslassung des Reuterschen Bureaus über die deutsche Note an die N e u t r a l e n bei P i l o t v ; Das Friedensangebot der M i t t e l m ä c h t e . Tübingen 1917. S. 25 ff. 4

Depesche von G o s c h e n aus Berlin a n G r e y v o m 28.Juli, gelaufen am 29. Juli, B l a u b u c h Nr. 71, S. 57.

ein-

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

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reichisch-ungarischen Minister des Auswärtigen Grafen B e r c h t o l d und dem russischen Botschafter S c h e b e k o statt, worin Österreich-Ungarn es ablehnt, durch seinen Gesandten einen Gedankenaustausch über die serbische Antwortnote mit dem russischen Minister des Auswärtigen fortsetzen zu lassen und seinen Petersburger Botschafter zu diesem Zweck mit Instruktion zu versehen. 1 Diese verhängnisvolle Nachricht läuft in Petersburg erst a m 29. J u l i ein und verschärft natürlich abermals die Situation. Eine dennoch angesponnene Verhandlung zwischen dem österreichisch-ungarischen Botschafter S z ä p ä r y und dem russischen Minister des Auswärtigen S s a s a n o w vom gleichen Tage vermag in Petersburg die Brücke zwischen dem entgegengesetzten S t a n d p u n k t von Österreich-Ungarn und Rußland nicht zu schlagen. Denn der österreichische Botschafter versichert zwar, daß man im Falle der Lokalisierung des Konflikts w e d e r s e r b i s c h e s T e r r i t o r i u m a n n e k t i e r e n n o c h S e r b i e n s S o u v e r ä n i t ä t a n t a s t e n w o l l e , lehnt es aber ab, über die Notentexte und den Streit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien überhaupt zu diskutieren. Rußland besteht dagegen auf einer Diskussion der Note, weil die Aufzwingung der österreichischen Bedingungen für Serbien schon ein Vasallentum bedeute. 2 Damit ist der Versuch einer direkten Verständigung zwischen Rußland und Österreich-Ungarn zunächst auch gescheitert. Vielleicht bot sie von Anfang an wenig Aussichten. Denn wenn Österreich-Ungarn sich in bezug auf seine Beziehungen zu Serbien durchaus nicht von der Viererkonferenz der relativ neutralen Großmächte beraten lassen wollte, wie England vorgeschlagen hatte, weil man darin eine Demütigung sah, w a r es da nicht noch sehr viel schwerer für die DonauDepesche des Grafen B e r c h t o l d an den Botschafter S z ä p ä r y nach Petersburg vom 28. Juli, Rotbuch Nr. 40, S. 120. 2 Dcpesche des Grafen S z ä p ä r y aus Petersburg an B e r c h t o l d vom 29. Juli, Rotbuch Nr. 41, S. 127. 1

104

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

monarchie, dem russischen P a t r o n Serbiens und Balkanrivalert gegenüber in direkten Verhandlungen in bezug auf das Ultim a t u m nachzugeben ?

§ 2. Die Erneuerung des Vermittelungsversuchs. So steht a m 29. Juli die Situation schlecht, zumal R u ß l a n d als A n t w o r t auf die a m Tage vorher geschehene österreichische Kriegserklärung an Serbien schon die Militärbezirke von Kiew, Odessa, Moskau und Kasan mobilisiert. österreichische T r u p p e n bombardieren Belgrad. Trotzdem lassen die Großmächte die H o f f n u n g auf die E r h a l t u n g des W e l t friedens nicht sinken. Noch einmal kehren sowohl der Gedanke der Vermittelung wie der direkten österreichisch-russischen Verständigung wieder. R u ß l a n d erklärt immer wieder seine Bereitwilligkeit, die Viererkonferenz zu akzeptieren. 1 E s r ä t der Minister des Äußern, daß nach G r e y s Vorschlag eine Konferenz der vier B o t s c h a f t e r abgehalten oder wenigstens ein Meinungsaustausch zwischen G r e y und den drei f r a g lichen Botschaftern herbeigeführt werde, er h a t auch n i c h t s dagegen einzuwenden, wenn G r e y dazu den Vertreter Österreich-Ungarns heranziehen will, ihm ist jeder Ausweg r e c h t , der von Frankreich und England gutgeheißen wird, n u r dürfe keine Zeit verloren werden. 2 G r e y h a t a m Morgen des 29. Juli d a r ü b e r eine U n t e r r e d u n g m i t d e m deutschen Botschafter in London. Da nach dessen Informationen der Berliner Regierung die vorgeschlagene Art der Konferenz, der Beratung, oder der Verhandlung oder selbst der persönlichen U n t e r r e d u n g zwischen den Vertretern der vier Mächte in 1

Depesche des Ministers des Äußern in Petersburg v o m 29. Juli an den Geschäftsträger in Berlin im Orangebuch Nr. 49. 2 Depesche des Botschafters B u c h a n a n aus Petersburg an G r e y vom 29. Juli, Blaubuch Nr. 78, S. 62.

4. Kapitel.

Das Scheitern der Verinittelungsaktion.

10S

London „ v i e l z u f ö r m l i c h " ist, drängt G r e y darauf, die* deutsche Regierung solle irgend einen Vorschlag machen, w o n a c h der gemeinsame Einfluß der vier Mächte dazu b e n u t z t würde,, u m einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und R u ß l a n d vorzubeugen. Sowohl Frankreich als Italien seien d a m i t einverstanden. Deutschland möge irgend eine Methode ausarbeiten, u m das vorgeschlagene Vermittelungsverfahren, das sogleich angewendet werden könne, einzuleiten, wenn die von ihm bea n t r a g t e A u s f ü h r u n g der deutschen Regierung nicht angemessen scheine, d e n n j e d e r a u f d i e s e n Z w e c k g e r i c h t e t e Vorschlag würde sofort praktische Verwertung finden. Deutschland dürfe n u r im Interesse des Friedens das Zeichen hierzu geben. 1 Bei dieser U n t e r r e d u n g überreicht G r e y dem d e u t schen Botschafter auch ein Telegramm des englischen Botschafters R o d d aus R o m m i t den Vorschlägen des dortigen Ministers d i S a n G i u l i a n o , daß Serbien nachträglich noch die ganze Note im A u f t r a g e der G r o ß m ä c h t e annehmen solle,, u n d erklärt, der M a r q u i s d i S a n G i u l i a n o h ä t t e d a m i t den Weg gewiesen, der, wenn es den Mächten erlaubt sei, ein W o r t mitzusprechen, Österreich-Ungarn eine völlige Genugt u u n g gewähren würde, wenn das letztere den Mächten eben n u r eine Gelegenheit dazu biete. Solange die Donaumonarchie sich aber weigere, U n t e r h a n d l u n g e n mit den Mächten über die serbische Streitfrage zu f ü h r e n , könne er, G r e y , keinen Vorschlag in diesem Sinne machen. G r e y gibt dem d e u t schen B o t s c h a f t e r auch eine Abschrift der von ihm nach R o m erteilten A n t w o r t , in der er den italienischen Minister des Äußern b i t t e t , seine Stimme in Berlin und Wien v e r n e h m e n zu lassen und seiner Freude f ü r den Fall Ausdruck gibt, d a ß irgend einer seiner Vorschläge dort günstig aufgenommen 1

S. 66.

Depesche von G r e y an G o s c h e n vom 29. Juli, Blaubuch. Nr. 84>

106

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

würde.1

A m Nachmittage des 29. J u l i h a t Sir E d w a r d

Grey

eine U n t e r r e d u n g m i t dem deutschen B o t s c h a f t e r F ü r s t e n noch Lichnowsky.2

W e n n der Reichskanzler m i t seinem B e m ü h e n

einer direkten Y e r m i t t e l u n g

zwischen

Wien

und

St.

b u r g Erfolg habe, sei alles g u t 3 , a n d e r n f a l l s sei es als

je,

Greys,

daß

der

Reichskanzler

selbst

entsprechend

Peterswichtiger seinem,

Vorschlag v o n gleichem Tage den v i e r Mächten

W e g weise, wie sie sich u m die E r h a l t u n g des Friedens v e r d i e n t m a c h e n k ö n n t e n .

Rußland

den

europäischen verlange

jetzt

freilich f ü r eine V e r m i t t e l u n g die gleichzeitige Einstellung der 1 Siehe .über jene wichtige Unterredung zu der vorerwähnten Depesche den Nachtrag in Gestalt der Depesche von G r e y an G o s c h e n vom 29. J u l i (Blaubuch Nr. 90, S. 72) und das Original von G r e y s Antwort nach Rom vom gleichen Tage (Blaubuch Nr. 81, S. 65). 2 Depesche von G r e y an G o s c h e n nach Berlin vom 29. J u l i , Blaubuch Nr. 88, S. 70. 3 Vgl. dazu auch die Depesche von G r e y an G o s c h e n nach Berlin vom gleichen Tage (Blaubuch Nr. 77, S. 62) über die Bemühungen des Reichskanzlers. Immerhin ist doch nach dieser Depesche vom 29. Juli noch in Petersburg direkt zwischen S s a s a n o w und S z ä p a r y verhandelt worden, wenn auch ohne Resultat. Am Tage vorher hatte freilich S s a s a n o w schon an den russischen Botschafter Graf B e n c k e n d o r f f in London ein Telegramm gerichtet: T h e a u s t r i a n d e c l a r a t i o n of w a r c l e a r y p u t s a n e n d t o t h e i d e a of d i r e c t c o m m u n i c a t i o n s b e t w e e n A u s t r i a a n d R u s s i a . Action by London Cabinet in order to set on foot mediation with a view to suspension of milit a r y operations of Austria against Servia is now most urgent. Unless military operations are stopped, mediation would only allow matters to drag on and give Austria time to cruch Servia. Dieses Telegramm ist erst am 29. J u l i G r e y überreicht; vgl. Blaubuch Nr. 70 unter II. Das Regenbogenbuch (a. a. 0 . S. 208) macht darauf aufmerksam, daß das fragliche Telegramm im Orangebuch Nr. 48 eine ganz andere Fassung bekommen hat, indem dort der wichtige Satz weggelassen ist, daß nach S s a s a n o w s eigener Meinung durch den Kriegsausbruch zwischen Österreich und Serbien die direkten Verhandlungen zwischen Wien und Petersburg gescheitert sind. Durch diese Weglassung soll augenscheinlich die volle Verantwortung auf Österreich-Ungarn abgewälzt werden, dessen Ablehnung damals S s a s a n o w noch nicht bekannt war.

Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktiön.

IQJ

militärischen M a ß n a h m e n . 1 Es sei nun freilich zu spät, jedes militärische Vorgehen gegen Serbien einzustellen, da v e r m u t lich binnen kurzer Frist die österreichisch-ungarischen T r u p p e n in Belgrad einziehen und einen Teil serbischen Gebiets besetzen würden. Aber sogar d a n n wäre es noch möglich, irgend eine Vermittelung ausfindig zu machen, wenn Österreich-Ungarn das von ihm bereits besetzte Gebiet behalte, bis es von Serbien vollständig befriedigt sei und erkläre, daß es nicht weiter vorrücken würde, bis die Mächte einen Versuch gemacht h ä t t e n , zwichsen ihm und Rußland zu vermitteln. Frankreich ist darüber von seinem Botschafter informiert worden, daß Rußland nach wie vor an der Konferenzidee festhält, keinen Wert auf den offiziellen Titel dieser Beratungen legt und sich allen englischen Bemühungen zugunsten des Friedens anschließen wird. 2 In diesem Sinne m a c h t d a n n der französische B o t s c h a f t e r C a m b o n bei seiner erneuten Vorstellung zugunsten einer Konferenz den Vorschlag, nach Serbien eine internationale Kommission zu schicken. 3 Wir sehen, noch h ä t t e eine Vermittelungsaktion, die a m 29. Juli beschlossen wäre, die Lage r e t t e n können. Allein die Z e n t r a l m ä c h t e vermögen sich mit der erneut vorgeschlagenen Idee der Viererkonferenz noch immer nicht zu b e f r e u n d e n . 4 Der deutsche B o t s c h a f t e r in Petersburg bezeichnet an 1

Vgl. die Depesche, die in diesem Sinne an den russischen Vertreter in London ergangen und von diesem G r e y mitgeteilt ist im Blaubuch Nr. 70', II. 2 Vgl. im Gelbbuch Nr. 86 und 91 die Depeschen des französischen. Botschafters P a l e o l o g u e an den stellvertretenden Minister des Auswärtigen in Paris vom 29. Juli. 3 Depesche des Botschafters C a m b o n aus Berlin nach Paris v o m 29. Juli, Gelbbuch Nr. 92. 4 Über das energische Eintreten Deutschlands für den letzten Vermittlungsvorschlag von G r e y , betreffend die bloße Besetzung von Belgrad, siehe weiter unten.

;

108

4. Kapitel.

Das Scheitern der Verihittelungsaklion.

diesem Tage den Vorschlag als Eingriff in die S o u v e r ä n i t ä t s r e c h t e Österreich-Ungarns. Dieses L a n d h a b e versprochen, d u r c h E r k l ä r u n g seines territorialen Desinteressements R ü c k sicht auf russische Interessen zu nehmen, ein großes Zugeständnis eines k r i e g f ü h r e n d e n Staates. Man sollte deshalb die Doppelmonarchie ihre Angelegenheit mit Serbien allein regeln lassen. Es werde beim Friedensschluß i m m e r noch Zeit sein, auf Schonung der serbischen Souveränität zurückzukommen.1 Z u m Zwecke der Garantie f ü r das zukünftige Wohlverhalten, die m a n seitens Österreichs m i t Gewalt in Serbien durchsetzen will, h o f f t m a n auf dieser Seite doch wohl die f r ü h e r besessene Vormachtstellung im Savekönigreich z u r ü c k gewinnen zu können, denn auf die Vorstellung G r e y s vom 29. J u l i gegenüber dem österreichisch-ungarischen B o t s c h a f t e r , welche E i n w i r k u n g Österreichs Vorgehen auf die Balkanstellung R u ß l a n d s h a b e n könnte, erwidert der Botschafter, d a ß S e r b i e n i m m e r als der ö s t e r r e i c h i s c h - u n g a r i s c h e n E i n f l u ß s p h ä r e z u g e h ö r e n d b e t r a c h t e t s e i . 2 Auf die Anregung G r e y s i n Berlin, wenn die Viererkonferenz in London nicht genehm sei,, irgend einen andern Vorschlag zu m a c h e n , d a m i t sofort ein Vermittelungsverfahren der vier Mächte einem Kriege zwischen Österreich-Ungarn und R u ß l a n d vorbeuge, geht m a n in Berlin zunächst nicht ein. 3 S t a t t dessen b e f r a g t a m Abend des 29. J u l i der deutsche Reichskanzler den englischen B o t s c h a f t e r , ob 1

Deutsches Weißbuch,' Denkschrift, Depesche des Grafen P o u r t a l e s aus St. Petersburg an den Reichskanzler vom 29. Juli. 2 Depesche von G r e y an den Botschafter B u n s e n v o m 29. Juli, Blaubuch Nr. 91, S. 73. 3 Am Abend des 29. Juli erhält der englische Botschafter die Antwort, daß man noch keine Zeit gefunden habe, auf die Aufforderung, einen Vorschlag zu machen, welcher es den vier Mächten ermöglichen würde, zwischen Rußland und Österreich-Ungarn zu vermitteln, die Antwort zu erteilen. Siehe die Depesche von G o s c h e n aii G r e y vom folgenden Tage (Nr. 107 des Blaubüches).

^i. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

109

E n g l a n d im Falle eines Krieges, in den Deutschland durch einen russischen Angriff auf Österreich-Ungarn m i t R u ß l a n d und Frankreich verwickelt werden könne, neutral bleiben würde. 1 O f f e n b a r sind also die H o f f n u n g e n f ü r die A u f r e c h t e r h a l t u n g des Friedens hier nur noch gering. Das abermalige Scheitern des Konferenzvorschlags ist u m •so bedauerlicher, als England, wie wir hörten, inzwischen sich auf den Boden des Vorschlags von G i u l i a n o gestellt hat,, wonach durch Yermittelung der Großmächte Serbien genötigt werden soll, nachträglich noch die ganze Note anzunehmenDenn d a m i t waren alle Voraussetzungen für eine Lösung gef u n d e n , - die o b j e k t i v Österreich-Ungarn h ä t t e befriedigen müssen, es sei denn, daß es die Note n u r so scharf formuliert h ä t t e , d a m i t sie abgelehnt werden solle und m a n dann durch A n w e n d u n g von Gewalt noch weitergehende Zugeständnisse von Serbien h ä t t e durchsetzen können. Wäre die Viererkonferenz zustande gekommen, so wäre sie wahrscheinlich auf dieser Basis gleich einig geworden. Denn Italien u n d England s t i m m t e n darin überein. Ein weiteres Maß von Zugeständnissen k o n n t e auch Deutschland nicht verlangen, wenn es sich ü b e r h a u p t zur Beteiligung an der Konferenz entschloß,, und auch der Anschluß Frankreichs war wohl nicht zweifelhaft, das z w a r einerseits bedingungslos R u ß l a n d die E r f ü l l u n g seiner Bündnispflichten zugesagt h a t t e , andererseits aber gerade deshalb sich redlich u m ein Z u s t a n d e k o m m e n der Vermittelungsaktion b e m ü h t . 2 Auch R u ß l a n d war über den fraglichen Ausweg, den der italienische S t a a t s m a n n S. G i u l i a n o 1

Depesche des Botschafters G o s c h e n an G r e y vom 29. Juli, Blaubuch Nr. 83, S. 67. 2 Vgl. z. B. die Depesche des Ministerpräsidenten R e n é V i v i a n i •an den französischen Botschafter C a m b o n in London v o m 29. Juli, betreffend Erneuerung von Grey.s Konferenzvorschlag im Gelbbuch Nr. 97.

010

1. Kapitel.

Das Schcitcm t k r Yeiniiltehingsaklion.

vorgeschlagen hatte, schon befragt worden. Der englische Gesandte B u c h a n a n h a t darüber am 29. Juli mit S s a s o n o w verhandelt. Dieser h a t erwidert, daß alles, was die vier Mächte beschlössen und was Serbien genehm sei, auch seinen Beifall finden würde, da er keinen Grund habe, serbischer als Serbien selbst zu sein,_ indessen m ü ß t e n noch Erläuterungen •unterbreitet werden, u m die Schroffheit des U l t i m a t u m s zu mildern. 1 Nun kann m a n diese A n t w o r t verschieden ausJegen. Daß Österreich-Ungarn die bisher abgelehnten P u n k t e seines U l t i m a t u m s den Mächten gegenüber noch näher präzisieren sollte, war ja von A n f a n g an von Italien selbst vorgeschlagen, würde also keine E i n s c h r ä n k u n g der russischen Zus t i m m u n g bedeuten. 2 E h e r köiinte m a n diese schon aus dem Zusatz e n t n e h m e n , daß R u ß l a n d das genehm sei, was Serbien a n n e h m e n würde. Denn diese Klausel läßt R u ß l a n d scheinbar die Möglichkeit offen, sich immer noch hinter Serbien zu stecken, d a m i t Serbien selbst dann eine derartige Lösung als unmöglich bezeichnen und R u ß l a n d sie so indirekt zu Falle bringen könne. Indessen scheint G r e y solche Bef ü r c h t u n g e n in bezug auf R u ß l a n d doch nicht gehabt zu haben, sonst h ä t t e er doch nicht ohne neue Schwierigkeiten heraufz u f ü h r e n , dem deutschen Botschafter diese Lösung empfehlen können. 3 Zum mindesten wäre es doch für die E r h a l t u n g des 1

Depesche v o n B u c h a n a n an G r e y vom 29. Juli, Blaubuch Nr. 78, S. 62. 2 Wie oben schon gesagt ist, hatte inzwischen die österreichischungarische Regierung solche Erläuterungen auch schon gegeben, indem sie in den von ihr publizierten Anmerkungen zur serbischen Antwort auf ihr Ultimatum ausgeführt, daß sie nur bei den polizeilichen Recherchen und nicht bei der Aburteilung der Verbrecher beteiligt sein "wollte, und die Überwachungsbehörde nur ein geheimes Comité de sûreté sein solle, das mit den serbischen Behörden zusammenarbeiten solle. 3 Als G r e y die fragliche Unterredung mit dem deutschen Botschafter hatte, muß ihm nämlich jene russische Antwort schon be-

4. Kapitel. Weltfriedens

von

Das Scheitern der Vermittelungsaktion. unermeßlichem

nächst einmal Deutschland

Vorteil

gewesen,

Denn

eben

wenn

und England sich auf die

der K r i s i s geeinigt h ä t t e n , die v o n S. G i u l i a n o war.

111

diese h a t t e

sich

Grey

zu-

Lösung

vorgeschlagen

zu eigen

gemacht.

A u c h lagen wiederholte ausdrückliche Versicherungen v o r ,

daß

R u ß l a n d sich m i t allen M a ß n a h m e n einverstanden erkläre, die Frankreich schlagen

und

würden.1

England

zur

Bewahrung

des Friedens

vor-

A u c h h ä t t e Deutschland ja seine Beteiligung

an der V i e r e r k o n f e r e n z feierlich d a v o n abhängig machen können, kannt gewesen sein. Denn die bezügliche Depesche aus Petersburg trägt iin Blaubuche die Nr. 78, während die entsprechende Weisung nach Berlin „Depesche an G o s c h e n " , mit Nr. 81 überschrieben ist. 1 Es kommen dafür folgende Zeugnisse in Betracht: 1. Die Depesche von B u c h a n a n a n G r e y vom 29. Juli aus Petersburg (Nr. 78 des Blaubuches). Darin meldet der englische Botschafter von S s a s a n o w : „Irgend ein Ausweg, den Frankreich und England guthießen, würde auch ihm genel.m sein und ebenso jedwede Verhandlungsart. Zeit dürfe jetzt keine verloren gehen, und das einzige Mittel, den Krieg zu verhindern, sei für Sie ( G r e y ) , im Gespräch mit jedem einzelnen Botschafter oder durch gleichzeitige Verhandlung mit allen diplomatischen Vertretern zusammen, eine Lösung zu finden und dieselbe dann Österreich-Ungarn zur Annahme zu empfehlen. Die ganze Zeit über h ä t t e sich die russische Regierung der größten Offenheit und Versöhnlichkeit beflissen und alles, was in ihrer Macht gelegen, getan, um den Frieden zu erhalten. Wenn ihre Bemühungen in letzterer Hinsicht keinen Erfolg gehabt hätten, so hoffte er doch, daß das englische Volk von der Schuldlosigkeit Rußlands an diesem Mißlingen überzeugt sei". 2. Die Depesche des französischen Botschafters P a l e o l o g u e an den stellvertretenden Minister des Auswärtigen B i e n v e n a - M a r t i n vom 29. J u l i : „Ich bin nunmehr in der L a g e , Ew. Exzellenz versichern zu können, daß die russische Regierung sich mit allen Maßnahmen einverstanden erklärt, die Frankreich und England ihr zur Bewahrung des Friedens vorschlagen werden. Mein englischer Kollege telegraphierte in demselben Sinne nach London". 3. Übereinstimmend damit die Depesche v o n S s a s a n o w an den österreichischen Botschafter Graf B e n c k e n d o r ff nach London vom 29. J u l i , in der es heißt: „ J e t z t bleibt nichts mehr übrig, als uns zugleich auf die Großbritannische Regierung und die von ihr gutgeheißenen Schritte zu verlassen.""

112

Kapitel.

Das Scheitern der Vermitlelungsaklion.

d a ß die Konferenz sich von vornherein auf den Boden des fraglichen ihm sowohl von London wie von Rom aus b e k a n n t gewordenen Vorschlags von S. G i u l i a n o stellen würde. Oder die Reichsregierung h ä t t e die Viererkonferenz unter der Bedingung annehmen können, daß sie sich auf die P l a t t f o r m •des Vorschlags stellen würde, den a m gleichen Tage C a m b o n in Berlin betreffend eine internationale Kommission für Serbien gemacht h a t t e . Jedenfalls lagen die Dinge jetzt so, daß, wenn nach der oben von uns ausgesprochenen V e r m u t u n g bei der ersten Ablehnung des Konferenzvorschlags ein gewisses Mißtrauen gegen das Resultat einer solchen Konferenz obgewaltet haben mag, nach dieser R i c h t u n g hin jetzt von den E n t e n t e l ä n d e r n England und Frankreich wie von Italien schon soviel Entgegenk o m m e n gezeigt war, daß dieser Grund in Wegfall kommen mußte. Folglich kann n u r die Rücksicht auf das Prestige und d e r formale E h r e n p u n k t , zunächst keine Konferenz der 'Großmächte in den Streit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien hereinreden lassen zu wollen, den Ausschlag gegeben haben. Andrerseits erklärt d a s Verhalten Deutschlands sich z u m Teil aus der immer noch vorhandenen Hoffnung, auf anderem Wege als d u r c h die Viererkonferenz schneller zum Ziele zu kommen. W ä h r e n d m a n dem Grundsatze t r e u bleibt, d a ß auf den österreichisch-serbischen Konflikt keine Vermittelungsaktion einwirken dürfe, b e m ü h t m a n sich fortgesetzt von Berlin aus zwischen Wien und St. P e t e r s b u r g zu vermitteln. Am 29. Juli teilt die Berliner Regierung durch ihren Pariser Bots c h a f t e r mit, m a n hoffe, von Österreich das Ziel und die Ausd e h n u n g der Garantien in Serbien in E r f a h r u n g zu bringen und Angaben zu erhalten, die geeignet sein würden, R u ß l a n d zufrieden zu stellen. Diese B e m ü h u n g e n seien in keiner Weise d u r c h die inzwischen eingetretene Kriegserklärung unterbrochen

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Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

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worden und man werde in Petersburg darüber eine entsprechende Mitteilung machen. 1 Weiter bemüht sich der deutsche Reichskanzler auf das redlichste, um den direkten Meinungsaustausch zwischen Petersburg und Wien wieder in Gang zu bringen. Er geht dabei „bis an das Äußerste dessen, was mit unserem Bundesverhältnis noch vereinbar war". 2 Am 29. abends hat er seitens des kaiserlichen Botschafters in Petersburg die Nachricht empfangen, nach Mitteilung des dortigen Ministers habe das Wiener Kabinett auf den von Rußland geäußerten Wunsch, in direkte Besprechungen einzutreten, mit einer kategorischen Ablehnung geantwortet, und es bleibe nach dessen Meinung somit nichts anderes übrig, als auf den Vorschlag Sir E d w a r d G r e y s , einer Konversation zu Vieren, zurückzukommen. Inzwischen hat sich indessen schon die Wiener Regierung zu einem direkten Meinungsaustausch mit Petersburg bereit erklärt, und es hat in Petersburg, wie wir gehört haben, auch schon wieder eine freilich ergebnislose Aussprache zwischen dem Botschafter Österreich-Ungarns und Ssasanow stattgefunden. Trotzdem ihm das Irrtümliche der direkten Petersburger Nachricht bekannt ist, depeschiert der Reichskanzler sofort an den deutschen Botschafter in Wien in folgender Weise: „Die Meldung des Grafen P o u r t a l e s steht nicht im Einklang mit der Darstellung, die Eure Exzellenz von der Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung gegeben haben. Anscheinend liegt ein Mißverständnis vor, das ich Sie aufzuklären bitte. Wir können ÖsterreichUngarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jedes Meinungsaustausches mit St. Petersburg würde aber ein 1

Depesche des stellvertretenden Ministers des Auswärtigen aus Paris für die beteiligten Botschafter vom 29. Juli im Gelbbuch Nr. 94. 2 So wörtlich der Reichskanzler in seiner Reichstagsrede vorn 19. August 1915. Schücking, Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges.

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schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Österreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen W e l t b r a n d hineinziehen zu lassen. Eure Exzellenz wollen sich gegen Grafen B e r c h t o l d sofort m i t allein Nachdruck und großem E r n s t in diesem Sinne aussprechen." 1 Zwei F a k t o r e n wirken augenscheinlich darauf ein, d a ß die deutsche Regierung diese direkte Vermittelung zwischen Wien und Petersburg m i t ganz besonderem Eifer betreibt. Einmal die inständige Bitte des Zaren v o m 29. Juli a n Kaiser Wilhelm II., alles mögliche zu t u n , u m seinen Bundesgenossen zu beeinflussen, nicht zu weit zu gehen, d a m i t einem europäischen Krieg vorgebeugt werde, die von Wilhelm II. m i t der Mitteilung erwidert wird, daß er die Stellung als Vermittler bereitwillig a n g e n o m m e n habe und eine seines Erachtens mögliche und wünschenswerte direkte Verständigung zwischen der zarischen Regierung und Wien herbeizuführen suche. 2 Weiter h a t aber die Vermittelungstätigkeit der d e u t schen Regierung offensichtlich einen Ansporn d a d u r c h erhalten, d a ß spät in der N a c h t v o m 29. auf den 30. Juli ein T e l e g r a m m des deutschen Botschafters Fürsten L i c h n o w s k y aus London eingelaufen ist, laut dessen ihm der englische Minister G r e y aufrichtig und freimütig erklärt h a t , daß, wenn es zu einem europäischen Kriege käme, Deutschland m i t der Möglichkeit der englischen Beteiligung an diesem Kriege rechnen müsse. 3 Unter diesem E i n d r ü c k beschränkt sich die Reichsregierung 1

Der Wortlaut dieser Depesche ist in der vorgenannten Rede mitgeteilt. Die Instruktion ist datiert vom 30. Juli, aber offenbar spätestens am Morgen dieses Tages abgegangen. 2 Siehe den Depeschenwechsel im Deutschen Weißbuch, Anlagen 21 und 22. 3 Vgl. über diese Unterredung die Depesche von G r e y an G o s c h e n nach Berlin vom 29. Juli im Blaubuch Nr. 89, S. 71.

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Das Scheitern der Vermittelungsaktiön.

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nicht darauf in Wien anzufragen, welches Ziel man in Serbien verfolge, sie beschränkt sich weiter, wie oben gesagt, nicht auf das energische Verlangen, daß Österreich-Ungarn den direkten Meinungsaustausch mit Rußland fortsetzen soll, sondern sie macht noch in der Nacht vom 29. auf den 30. J u l i bei der österrcichisch-ungarischen Regierung die Anfrage, ob sie eine Yermittelung unter der Bedingung annehmen wolle, d a ß ihre Truppen Belgrad oder irgend einen andern P u n k t besetzten und daß sie dann ihre Forderungen veröffentlichte. 1 Offenbar ist das eine Anlehnung an G r e y s Vorschlag vom 29., der zwischen dem russischen Verlangen nach völliger Einstellung der Feindseligkeiten gegen Serbien und dem österreichischen Willen zu einer sofortigen Aktion diesen staatsmännischen Ausweg vorgeschlagen hatte, der Österreich wenigstens doch ein Pfand in die Hand gegeben hätte. Denn die österreichischungarischen Truppen sollten das serbische Gebiet erst wieder räumen, wenn die Donaumonarchie volle Befriedigung erlangt h ä t t e . 2 Sollte sich Österreich-Ungarn nach seiner Besetzung von Belgrad und dem benachbarten serbischen Gebiet bereit erklären, im Interesse des europäischen Friedens sein Vorrücken einzustellen und über die Mittel, wie ein vollständiges Übereinkommen zu erreichen wäre, zu verhandeln, so sollen die Mächte prüfen, inwiefern Österreich-Ungarn durch Serbien befriedigt werden könnte, ohne das dabei das letztere seiner Souveränitätsrechte und seiner Unabhängigkeit beraubt würde. G r e y propagandiert diesen Vorschlag auch in Petersburg und in P a r i s . 3 „Es ist dies nur ein dünner Faden, an Depesche von G o s c h e n an G r e y nach London vom 30. Juli über eine Unterredung mit dem deutschen Staatssekretär im Blaubuch Nr. 98, S.79. 2 Depesche von G r e y an B u c h a n a n nach Petersburg vom 30. Juli im Blaubuch Nr. 103, S. 83. 3 Für Petersburg siehe die letztgenannte Depesche und für Paris das Telegramm G r e y s an den dortigen Gesandten B e r t i e im Blau1

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Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

dem der Frieden noch h ä n g t , aber der einzige, der, wenn der russische Minister des Äußern sich mit Berlin nicht verständigen kann, mir in den H ä n d e n geblieben i s t . " Wie gesagt sucht G r e y m i t diesem Vorschlag zwischen dem russischen und dem deutsch-österreichischen S t a n d p u n k t zu vermitteln und hält an diesem Vorschlag fest, obwohl Rußland, e r b i t t e r t durch die mangelnde Nachgiebigkeit Österreich-Ungarns, zusehends schroffer wird. Denn u m 2 Uhr in der F r ü h e des 30. Juli h a t der russische Minister S s a s o n o w als einzige Möglichkeit f ü r die A u f r e c h t e r h a l t u n g des Friedens dem deutschen Botschafter die Formel d i k t i e r t : „ W e n n Österreich-Ungarn einwilligt, in B e t r a c h t dessen, daß sein Konflikt m i t Serbien eine Frage europäischer Interessen geworden ist, sich bereit zu erklären, in seinem U l t i m a t u m jene Forderungen zu streichen, welche dem Prinzip der Souveränität Serbiens zuwiderlaufen, verpflicht e t sich R u ß l a n d , m i t seinen militärischen Vorbereitungen innezuhalten."1 Diese Basis war natürlich f ü r die Zentralmächte unmöglich, denn die Verpflichtung, gewisse Forderungen fallen zu lassen, h ä t t e Österreich-Ungarn n u r übernehmen können, wenn ihm gleichzeitig zugesichert worden wäre, daß in anderer Weise sein berechtigtes Verlangen nach Garantien gegenüber Serbien erfüllt werden würde. Davon ist hier aber gar nicht die Rede, buch Nr. 104, darin auch die Bitte, der französische Minister des Äußern möge weiterhin, wie Grey wohl bekannt, in Petersburg dahin wirken, daß Rußland die Krise nicht beschleunige. G r e y spricht wörtlich von den in Petersburg „dringend gemachten Vorstellungen" Frankreichs. 1 Depesche von B u c h a n a n an G r e y vom 30. Juli im Blaubuch Nr. 97, S. 78. Über die fragliche Unterredung zwischen S s a s a n o w und dem deutschen Botschafter, bei der letzterer im Namen der Reichsregierung Bürgschaft für die Aufrechterhaltung der Integrität Serbiens angeboten hat, vgl. auch die Zirkulardepesche S s a s a n o w s an die diplomatischen Vertreter Rußlands vom 30. Juli im Orangebuch Nr. 60.

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Um so b e d e u t s a m e r ist es, daß G r e y , weil es i h m ehrlich u m Vermittelung zu t u n ist, auch gegenüber R u ß l a n d einen für Österreich-Ungarn günstigeren S t a n d p u n k t e i n n i m m t . 1 Der von R u ß l a n d ausgegangene Vorschlag wird denn auch in Berlin in einer U n t e r r e d u n g zwischen dem russischen B o t s c h a f t e r und dem deutschen Staatssekretär als f ü r Österreich - Ungarn u n a n n e h m b a r zurückgewiesen. 2 Angesichts der gesamten Situation wäre es n u r im Interesse der A u f r e c h t e r h a l t u n g des Weltfriedens dringend wünschenswert gewesen, wenn die Berliner Regierung im Laufe des 30. Juli irgend etwas über den Erfolg ihrer Bemühungen in Wien E n g l a n d , als der die Vermittelungsaktion immer von n e u e m a u f n e h m e n d e n Macht, h ä t t e mitteilen können. Das war aber zunächst leider nicht der Fall. Weder ist im Laufe des 30. Juli in Berlin eine A n t w o r t auf die Anfrage eingelaufen, wie weit m a n die Garantien in Serbien auszudehnen beabsichtige und welches Ziel man, d a m i t verfolge, noch ist die Anfrage b e a n t w o r t e t , ob m a n im Sinne G r e y s eine Vermittel u n g u n t e r der Bedingung a n n e h m e n wollte, daß m a n sich auf die Besetzung Belgrads beschränke und von dort aus seine 1 Bedeutsamerweise hält G r e y in seiner Depesche an B u c h a n a n vom 30. Juli (Blaubuch Nr. 103) an s e i n e m Vermittlungsvorschlag im Gegensatz zu dem r u s s i s c h e n fest, obgleich in einer Unterredung zwischen dem russischen Botschafter Graf B e n c k e n d o r f f und G r e y Rußland sein Versprechen, alle englischen Vermittlungsvorschläge anzunehmen, sozusagen zurückgenommen hat, und zwar wegen veränderter Umstände, weil durch den Protest des deutschen Botschafters in Petersburg gegen die russische Mobilmachung gegenüber Osterreich die Beziehungen zu Deutschland kompromittiert seien; siehe über diese Unterredung die Depesche von B e n c k e n d o r f f an S s a s a n o w v o m 30. Juli, Orangebuch Nr. 64. 2 Depesche von S w e r b e j e w in Berlin an S s a s a n o w vom 30. Juli im Orangebuch Nr. 63. Die Depesche spricht irrtümlich von einem russischen Vorschlag vom 29. Juli. Es kann aber nur der vom 30. in der Frühe um 2 Ubr gemeint sein, das beweist das Gelbbuch Nr. 107.

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4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion,

Forderungen formuliere. Noch ungünstiger wirkt es, daß auf die wiederholte Anfrage des englischen Botschafters G o s c h e n und des französischen Botschafters C a m b o n in Berlin, wie man sich zu G r e y s Anregung stelle, selbst eine Formel f ü r die Intervention der nicht interessierten Mächte aufzustellen, von dem Staatssekretär v. J a g o w eine ablehnende Antwort erteilt wird. 1 Man habe sich, u m Zeit zu gewinnen, zu einem direkten Vorgehen entschlossen und habe Österreich gebeten zu sagen, auf welcher Grundlage m a n mit ihm verhandeln, könne. Aber da, wie gesagt, aus Österreich keine Antworten vorliegen, so sehen England und Frankreich die Situation immer trister an und holen zur Vorbereitung eines militärischen Zusammenwirkens die Briefe hervor, die im J a h r e 1912 zwischen G r e y und P a u l C a m b o n gewechselt sind, und eine Art pactum de contrahendo der beiden Regierungen über bewaffnete Hilfe darstellen. 2 Freilich befand sich G r e y dabei in Kenntnis der Tatsache, daß von deutscher Seite auf Österreich-Ungarn eingewirkt wurde, seine letzte Vermittlungsformel, betreffend die bloße Besetzung Belgrads und Umgebung usw., anzunehmen. 3 Aber da die Antwort ausbleibt, so zweifelt er Depesche von G o s c h e n an G r e y v o m 30. Juli, Blaubuch Nr. 107, S. 88, und von C a m b o n aus Berlin an den Ministerpräsidenten V i v i a n i vom gleichen Tage, Gelbbuch Nr. 109. 2 Depesche von G r e y an B e r t i e nach Paris mit Anlagen, Blaubuch Nr. 105, S. 84 ff. 3 G r e y war darüber informiert sowohl durch eine Depesche des englischen Botschafters in Berlin wie durch die Mitteilungen des deutschen Botschafters in London. Nach ersterer hatte der deutsche Staatssekretär gesagt, daß wenn G r e y Rußland bewegen könnte, auf Grund des fraglichen Vorschlags eine Verständigung zu finden und es mittlerweile davon abhielte, Schritte, die als aggressiv gegen Österreich-Ungarn ausgelegt werden könnten, zu unternehmen, er noch Hoffnung auf Erhaltung des europäischen Friedens hege. Vgl. die Depesche von G o s c h e n an G r e y vom 30. Juli im Blaubuch Nr. 98. Lag schon in dieser Mitteilung des deutschen Staatssekretärs ein Sich-zu-eigen-Machen des 1

4. Kapitel. anscheinend dem

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

an der A u f r i c h t i g k e i t dieser Mitteilung

E r f o l g der

deutschen

Bemühung.

Erst

recht

119 oder

an

schlimm

w i r k t n a t ü r l i c h das a m 30. J u l i m i t t a g s in Berlin ausgegebene Extrablatt

des

Lokalanzeigers1,

allgemeine

Mobilmachung

nach

angeordnet

Mitteilung als irrig kurze Zeit darauf schlagnahmt

dem habe,

der

Kaiser

obgleich

v o n der Regierung

die diese be-

wird.2

fraglichen Vorschlags, so war der deutsche Botschafter in London noch viel deutlicher geworden, indem er mitgeteilt hatte, daß die Reichsregierung sich bemühen w ü r d e (would endeavour), Österreich-Ungarn dahin zu beeinflussen, nachdem es Belgrad eingenommen und serbisches Grenzgebiet besetzt haben würde, ein Versprechen abzugeben, nicht weiter vorzudringen. Das teilt G r e y selbst dem englischen Botschafter am 30. J u l i nach Petersburg mit. Vgl. die Depesche vom 30. J u l i im Blaubuch Nr. 103. Wie stark die Einwirkung von Berlin auf Wien gewesen ist, davon wird weiter unten nosh zu sprechen sein. Iiier muß nur konstatiert werden, daß sie leider anscheinend z u n ä c h s t resultatlos blieb. Wenn wie oben gesagt, war der fragliche Vorschlag noch in der Nacht vom 29. auf den 30. J u l i von Berlin nach Wien weitergegeben; es gelangt aber im Laufe des 30. Juli weder von Berlin noch von Wien eine Antwort nach London darüber, ob G r e y s Vorschlag von Österreich-Ungarn angenommen wird. 1 Vgl. darüber die Depesche des Botschafters C a m b o n aus Berlin vom 30. J u l i im Gelbbuch Nr. 105 und di» Depeschen des russischen Botschafters aus Berlin vom gleichen Tage (Nr. Gl u. 62 des Orangebuches) an den Minister des Äußern. Welche vernichtende Wirkung die fragliche Nachricht in Wien auf den Glauben an eine Verständigungsmöglichkeit ausgelöst hat, sieht man aus der Depesche des dorLigen französischen Botschafters D e m a i n e an V i v i a n i vom 30. .Juli, Nr. 104 des Gelbbuches. 2 Wie es möglich gewesen ist, daß der als offiziös geltende „Lokalanzeiger" das fragliche Extrablatt mit der falschen Nachricht verbreiten konnte, liegt noch im Dunkel. Ein bloßer Irrtum erscheint unwahrscheinlich. Interessant ist eine bezügliche Mitteilung auf S. 12 der anonymen Flugschrift: Deutsche Reichspolitik seit dem 14. J u l i 1909, die gegen den Reichskanzler v o n B e t h m a n n - I I o l l w e g gerichtet ist. Dort heißt es: „Umsonst drängten Generalstabschef, Kriegsminister und die maßgebenden Marinestellen auf Befehl zur Mobilmachung. Es gelang ihnen zwar, den Kaiser am Donnerstag, den 30. Juli, von der

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4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

§ 3. Die militärischen Vorbereitungen der Mächte. Wir müssen in diesem Z u s a m m e n h a n g einen Augenblick H a l t machen, u m zu konstatieren, wie es u m diese Zeit m i t den militärischen Vorbereitungen der verschiedenen S t a a t e n steht, die die auf Verständigung gerichtete Arbeit der Diplomatie durchkreuzen und schließlich die K a t a s t r o p h e herbeiführen. Wie f r ü h e r e r w ä h n t w u r d e , h a t t e als erster S t a a t Serbien schon einige Stunden vor der Überreichung seinerA n t w o r t auf das U l t i m a t u m mobil gemacht, also a m 25. Juli.. Da m a n weiß, daß das U l t i m a t u m nicht vollständig angenommen werden wird und deshalb einen Krieg zwischen Österreich u n d Serbien b e f ü r c h t e t , bei dem R u ß l a n d die Serben nicht im Stiche lassen will, t r ä g t m a n sich schon a m 27. Juli mit Mobilmachungsideen in R u ß l a n d . Schon an diesem Tage teilt n ä m lich der dortige Minister des Äußern S s a s a n o w dem englischen Botschafter m i t , daß sowieso die russische Mobilmachung angeordnet werden müsse; ein Ministerrat würde d a r ü b e r zu erwägen haben, während der endgültige Beschluß wahrscheinlich andern Tages u n t e r Vorsitz des Kaisers gefaßt werden würde. S s a s a n o w rechnet nämlich von A n f a n g an d a m i t , daß „ d i e allgemeine e u r o p ä i s c h e F r a g e , deren e i n e n Teil die serbische Frage selbst bilde, nun a n g e s c h n i t t e n w ü r d e . " 1 Damit ist offenbar die große K r a f t p r o b e in E u r o p a gemeint. unabweisbaren ( ? ) Notwendigkeit dieser Maßregel halb und halb zu überzeugen, so daß am Nachmittage Berliner Polizeiorgane und der „Lokalanzeiger" die Mobilmachung bereits bekannt gaben; aber d e m Eingreifen Herrn v o n B e t h m a n n s gelang es, den entscheidenden und erlösenden Befehl zu vereiteln." Demnach scheint doch zwischen der betreffenden militärischen Aktion beim Kaiser und jener Publikation ein Zusammenhang bestanden zu haben. 1 Über die betreffende Unterredung siehe die Depesche des Botschafters B u c h a n a n an G r e v vom 24. Juli, Blaubuch Nr. 6, S. 11.

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England ist sichtlich erschrocken und sein Botschafter bittet am 25. Juli den russischen Minister, den Krieg nicht zu überstürzen und mit der Mobilmachung zu warten, bis England im Interesse des Friedens eingegriffen hätte. Der Botschafter tut nach seinem Bericht alles was er kann, um den Minister zur Vorsicht zu mahnen und ihn zu warnen; im Falle einer russischen Mobilisation würde Deutschland dazu keine Zeit lassen und sich selbst nicht mit der eigenen Mobilisation zufriedenstellen, sondern wahrscheinlich sogleich den Krieg erklären. 1 Trotzdem scheint schon am gleichen Tage in Rußland eine teilweise Mobilmachung gegenüber Österreich beschlossen worden zu sein, wenn auch ihre Ausführung noch hinausgeschoben sein wird. Denn als der Kaiser Wilhelm II. sich am 30. Juli über die Mobilisation gegenüber Österreich beschwert, die die ihm übertragene Vermittelung gefährde, wenn nicht unmöglich mache, antwortet der Zar, daß die fragliche Maßnahme schon vor fünf Tagen beschlossen sei, und zwar aus Gründen der Verteidigung gegen die Vorbereitungen Österreichs. 2 Am 26. Juli läßt der deutsche Reichskanzler durch den Botschafter Fürsten L i c h n o w s k y in England mitteilen, daß, wenn es richtig sei, daß in Rußland mehrere Reservistenjahrgänge einberufen werden sollten, das einer Mobilisierung gegen Deutschland gleich käme, die zu Gegenmaßregeln zwingen würde; ähnliche Mitteilungen werden in Paris und Petersburg gemacht. 3 Am 27. Juli sagt der Staatssekretär in Berlin zu dem englischen Botschafter, daß Österreich-Ungarn bisher nur 1

Depesche von B u c h a n a n an G r e y vom 25. Juli, Blaaibuch Nr. 17, S. 20. 2 Siehe den Depeschenwechsel im deutschen Weißbuch, Anlagen 23 und 23a. 3 Depesche des Reichskanzlers an den deutschen Botschafter in London vom 26. Juli, Weißbuch Anlage 10, daselbst auch die Depeschen des Reichskanzlers nach Paris und Petersburg vom gleichen Tage, Anlagen 10 a und 10 b.

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Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

teilweise mobilisiert habe, daß aber, wenn Rußland gegen Deutschland mobil mache, das letztere mit derselben Maßnahme antworten müsse. Auf die Frage des Botschafters, was mit einer Mobilmachung „gegen Deutschland" gemeint sei, antwortet der Staatssekretär, daß, wenn Rußland nur im Süden mobilisiere, Deutschland untätig bleiben würde, sollte die russische Mobilisation sich aber auch auf den Norden erstrecken, so wäre Deutschland gezwungen, ebenfalls zu den Waffen zu greifen. 1 Am gleichen Tage warnt der englische Botschafter in Petersburg den dortigen Minister abermals, nichts zu unternehmen, was den Konflikt beschleunige, und spricht seine Hoffnung aus, daß die russische Regierung den Mobilisationsukas so lange als möglich hinausschiebe und die Truppen selbst nach seiner Erteilung die Grenzen nicht überschreiten würden. 2 Auf Veranlassung des Ministers S s a s o n o w war schon a m 26. Juli der deutsche Militärattache in Petersburg durch den dortigen Kriegsminister über die militärische Situation aufgeklärt. Der Kriegsminister gibt ihm sein Ehrenwort, daß noch keine Mobilmachungsordre ergangen sei. 3 E s würden lediglich vorläufige Vorbereitungsmaßnahmen getroffen; aber es sei kein Reservist eingezogen und kein Pferd ausgehoben. Wenn Österreich die serbische Grenze überschreiten sollte, so würden diejenigen Militärbezirke, die auf Österreich gerichtet wären, Kiew, Odessa, Moskau, K a s a n mobilisiert werden. Diejenigen an der deutschen Front unter keinen Umständen. Der Militärattache sagt dem Kriegsminister darauf, 1

S. 38.

Depesche von G o s c h e n an G r e y vom 27. Juli, Blaubuch Nr. 43,

2 Depesche von B u c h a n a n an G r e y aus Petersburg vom 23. Juli, Blaubuch Nr. 44, S. 39. 3 Offenbar ist hier zu unterscheiden zwischen der noch nicht ergangenen Publikation und dem Beschluß selbst, welch letzterer schon am 25. J u l i ergangen war. Daß ein fester Beschluß schon vorliegt, ergibt sich aus der weiteren Mitteilung des Kriegsministers.

4. Kapilel.

Das Scheitern der Verinittelungsaktion.

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daß auch die allein gegen Österreich gerichtete Mobilmachung in Deutschland sehr bedrohlich angesehen werden würde. 1 In Frankreich wird schon am 26. Juli gemeldet, daß die ganze deutsche Flotte in Norwegen Befehl zur unmittelbaren Heimreise erhalten h a t 2 ; aus Diedenhofen wird nach P a r i s mitgeteilt, daß die vier letzten Urlaubsklassen Befehl erhalten hätten, sich für jeden Zeitpunkt zur Verfügung der Komm a n d a n t u r zu h a l t e n 3 ; aus Basel wird unter dem 27. J u l i nach Paris berichtet, die deutschen Offiziere hätten schon vor vier Tagen Befehl erhalten, ihre Ferien zu unterbrechen und nach Deutschland zurückzukehren, auch seien die Eigent ü m e r von Kraftfahrzeugen in Baden angewiesen, ihre Wagen für die Militärbehörde bereit zu halten. 4 So trifft man a n scheinend auch in Deutschland militärische Vorbereitungen, die freilich durchaus nicht den Charakter einer Mobilmachung haben. Am 27. J u l i gibt England bekannt, daß es die zu Mannöverzwecken versammelte Flotte einstweilen nicht demobilisieren werde, eine Maßregel, die im Geheimen von C h u r c h i l l , dem Lord der Admiralität schon a m 24. J u l i getroffen war. 5 Am 28. J u l i erfolgt die österreichische Kriegserklärung 1 Weißbuch Anlage 11. Das Weißbuch und die zugehörige Denkschrift datieren die fragliche Unterredung vom 27. Juli, sie hat aber a m 26. spät abends stattgefunden, was sich aus einem Telegramm des Grafen S z a p a r y vom 26. ergibt. Rotbuch Nr. 28. 2 Depesche des Gesandten aus Christiania v o m 26. Juli, Gelbbuch Nr. 58. 3 Depesche des Geschäftsträgers aus Luxemburg vom 26. J u l i , Gelbbuch Nr. 59. Danach soll in Diedenhofen auch allen Reservisten verboten sein, sich von ihrem W o h n o r t zu entfernen. 4 Depesche des französischen Generalkonsuls in Basel vom 27. J u l i im Gelbbuch Nr. 60. 5 Depesche des Geschäftsträgers in London nach Paris vom 27. J u l i , im Gelbbuch Nr. 66. Genauer haben sich die Dinge folgendermaßen zugetragen: A m 25. Juli lag die große britische Flotte, aus 65 Schlachtschiffen bestehend, auf der Reede von Portland, wo ein Manöver und

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4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion-

an Serbien. Deutschland fährt mit seinen militärischen Vorbereitungen fort. Im Laufe des 28. Juli und in der Nacht auf den 29. finden beträchtliche Truppenbewegungen statt, denn wie aus F r a n k f u r t gemeldet wird, sind dort mehrere feldmarschmäßig ausgerüstete Regimenter angekommen. 1 Die großen Mühlen von Iiikirch in Elsaß-Lothringen werden aufgefordert, ihre Produktion zurückzuhalten f ü r die Armee, von Straßburg werden Transporte von Automobilkarawanen eine Besichtigung durch den König stattgefunden hatte. Sie zerfiel in drei Teile. Die erste und zweite Flotte war auch im Frieden vollbemannt und von keiner Einziehung von Reserven abhängig. Die erste Flotte hatte stets alle Mannschaften an Bord, die zweite nur die Hälfte, aber die andere Hälfte war am Land in Schulen und Kasernen untergebracht. Für die Erreichung der Hafenstationen und die Heranziehung der anderen Mannschaftshälfte waren zwei bis drei Tage erforderlich. Die dritte Flotte, 16 Schlachtschiffe stark, war im Frieden nur mit einem Kern von Seeleuten bemannt; erst die Einberufung der Reserve ermöglichte ihre Mobilmachung. Am 26. Juli erließ der erste Seelord, Prinz Louis von Battenberg, die Ordre, daß die für den 27. Juli dem Personal der ersten Flotte in umfassendem Maße bewilligten Beurlaubungen zurückgenommen seien. Der zweiten Flotte wurde befohlen, die Hafenstationen anzulaufen, um jeden Augenblick ihre Restbesatzung an Bord zu nehmen. Bei der dritten Flotte war gerade am 24. Juli während obschwebenden Ultimatums, die elftägige Übungsperiode zu Ende gewesen. Die Reservisten wurden zwar entlassen, aber Maßregeln getroffen, daß man ihrer jeden Tag wieder Herr werden konnte. Am 26. Juli erging für die erste u n d zweite Flotte der Befehl des Prinzen Battenberg: ,,to stand fast", der dem europäischen Frieden auch nicht gedient hat, wie H e l f f e r i c h : Die Entstehung des Weltkriegs, S. 30, mit "Recht bemerkt. Am 30. Juli befahlen der Marineminister C h u r c h i l l und Prinz B a t t e n b e r g als erster Seelord, ohne Befragung des Kabinetts, dessen Spaltungen sie fürchteten, daß die große Flotte ihre Kriegsstellung in der Nordsee beziehen soll. Diese genaueren Nachrichten entstam'men einer englischen Quelle, nämlich dem Buche von M a c c a l l u m S c o t t : „Winston Churchill in peace and war", London 1916, und sind zitiert nach einem Aufsatze von D a n i e l s in den Preuß. Jahrbüchern, Bd. 166, Heft 3, S. 450. Depesche des Generalkonsuls aus Frankfurt nach Paris vom 28. Juli, Gelbbuch Nr. 88. 1

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

125

gemeldet. Die Metzer Infanterie ruft die Ernteurlauber aus Bayern zurück. 1 Andererseits laufen in Berlin so viele Nachrichten über französische Kriegsvorbereitungen ein, daß der deutsche Reichskanzler am 29. Juli in Paris durch seinen Botschafter erklären läßt, daß derartige Maßnahmen zu Schutzmaßregeln zwingen würden und daß eventuell der Zustand der Kriegsgefahr in Deutschland proklamiert werden müsse, was zwar noch keine Einberufungen und Mobilisierung bedeute, aber die internationale Spannung erhöhen müsse. 2 Sind schon diese Maßnahmen militärischer Vorbereitung, die sich die Staaten wechselseitig mit eigentümlicher Naivität zum Vorwurf machen, nur geeignet, den Stand der diplomatischen Verhandlungen schädigend zu beeinflussen, so gilt das natürlich erst recht von der in Rußland trotz aller Warnungen eintretenden Teilmobilisierung gegen Österreich-Ungarn. In Österreich hatte man sich zunächst beschränkt auf die Mobilisierung von acht Armeekorps gegen Serbien. Die Meldung des russischen Botschafters aus Wien vom 28. Juli, dort sei der Befehl für die allgemeine Mobilmachung unterzeichnet 3 , ist entweder irrig oder doch nur von relativer Bedeutung, solange der Befehl nicht publiziert wurde. Wenn wirklich vorbereitende Maßregeln für eine a l l g e m e i n e Mobilmachung getroffen worden sein sollten, erklärt sich das zur Genüge daraus, daß Rußland seinerseits mit Mobilmachung gedroht hatte, für den Fall, daß die serbische Grenze überschritten werden sollte. Und diese Teilmobilisierung gegen ÖsterreichUngarn kommt nun zur Ausführung. Schon am 28. Juli hatte Rußland in Berlin als Folge der österreichischen Kriegserklärung seine Teilmobilisation für den 29. ankündigen 1

Depesche des französischen Gesandten in München vom 29. Juli, i m Gelbbuch Nr. 89. 2 Weißbuch Anlage 17. 3 Orangebuch Nr. 58.

126

Kapitel.

Das Seheitern der Yermittelungsaktion.

lassen. 1 Auf die am gleichen Tage von Berlin nach Petersburg gerichtete Vorstellung, daß durch das weitere Fortschreiten der russischen Mobilisierungsmaßnahmen Deutschland veranlaßt werden könnte, auch seinerseits zu mobilisieren 2 , erfolgt im Auftrage des Kriegsministers durch den Generalstabschef gegenüber dem deutschen Militärattache die feierliche Versicherung, es sei alles so geblieben, wie der Minister v o r z w e i T a g e n mitgeteilt habe. Er, der Generalstabschef, bietet eine schriftliche Bestätigung d a f ü r an und • gibt sein E h r e n w o r t in feierlichster Form, daß nirgends eine Mobilmachung, d. h. eine Einziehung eines einzigen Mannes oder Pferdes bis zur Stunde, d. h. 3 Uhr n a c h m i t t a g s erfolgt sei. E r könne sich d a f ü r f ü r die Z u k u n f t nicht verbürgen, aber wohl nachdrücklichst bestätigen, daß an den deutschen Grenzen von Sr. Majestät keine Mobilisierung gewünscht werde. Auf die Vorhaltung, daß ihm aber aus verschiedenen Teilen des Reiches, wie aus Warschau und Wilna vielfache Nachrichten über die Einziehung von Reservisten zugegangen seien, die die amtlichen Nachrichten zu einem Rätsel m a c h t e n , erwidert der Chef des Generalstabes auf „Offiziersparole", daß solche Nachrichten unrichtig seien und es sich hier u m falschen L ä r m handeln müsse. Der deutsche Militärattache gibt diese Versicherung n u r m i t dem Vorbehalt nach Deutschland weiter, d a ß das Gespräch als ein Versuch anzusehen sei, über den wahren U m f a n g der bisherigen Maßnahmen irre zu f ü h r e n . 3 Jedenfalls gaben die Tatsachen Anlaß, in be^ug auf die russische Mobilmachung sehr vorsichtig zu sein. W e n n der russische Generalstabschef a m 29. u m 3 Uhr gesagt h a t t e , 1

Blaubuch Nr. 70, I. Depesche des österreichisch-ungarischen Botschafters aus Berlin an den Grafen B e r c h t o l d vom 29. Juli, Rotbuch Nr. 46, S. 127. 3 Depesche des deutschen Militärattaches in Petersburg an den Reichskanzler vom 29. Julij im Weißbuch, Denkschrift. 2

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

d a ß er s i c h i n b o z u g a u f e i n e T e i l m o b i l i s a t i o n g e g e n

127 Österreich

„ f ü r die Z u k u n f t " n i c h t v e r b ü r g e n könne, so l a g diese Z u k u n f t doch sehr nahe, denn noch a m selben T a g e erfährt die

Wiener

Regierung

Odessa,

Moskau

die

und

Österreich

Mobilisation Kasan

jetzt

als

auch

an

vom

russischen

Militärbezirke

Faktum.1

der

allgemeinen Mobilmachung hören,

der

ein

galizischen

des französischen

30. Juli oder a m fügt

werden,

dadurch jeder Eindruck

4. A u g u s t

Drohung

gemacht

Teilmobilisation

3

28.

Am

vollzogen

von

die,

schon

einer

wie

ein

Gerücht,

mit

der

es solle

am

Mobilmachung

versolle

in

es

Petersburg

29. J u l i , a l s in R u ß l a n d teilt

Be-

Erklärung,

und vielleicht ist,

wir

gemeldet

V i e l m e h r e r w ä h n t ein

die allgemeine

begegnet

werden.

schon

am

Botschafters

bezeichnenderweise

mobilisiert

Grenze2,

in Ö s t e r r e i c h - U n g a r n ,

Botschafter

war, ist a b e r noch nicht die R e d e . richt

Kiew,

Natürlich

der

deutsche

die Bot-

Depesche des Grafen B e r c h t o l d an den B o t s c h a f t e r in Berlin v o m 29. J u l i , R o t b u c h Nr. 48, S. 129. Die Nachricht ist dreifach begründet. Der T e i n p s - K o r r e s p o n d e n t aus Petersburg drahtet a m 29. J u l i : „ D i e Mobilisierung schreitet in Kiew, Odessa, Wilna, W a r s c h a u und Petersburg fort . . . . T r u p p e n z ü g e passieren W a r s c h a u alle Viertels t u n d e n " . D a s B u r e a u R e u t e r drahtet a m 29. J u l i : „ E s besteht jedes Anzeichen d a f ü r , daß die ganze umfangreiche militärische Maschinerie bald in B e w e g u n g gesetzt werden w i r d . " 1

2 Depesche des französischen B o t s c h a f t e r s in Wien v o m 29. J u l i , im Gelbbuch Nr. 90. Die' fraglichen Maßregeln Österreichs an der galizischen Grenze sind offenbar nur die B e a n t w o r t u n g der russischen Teilmobilisierung. Sollten sie dieser aber auch v o r a u s g e g a n g e n sein, so handelt es sich dabei doch offensichtlich nur u m eine Verteidigung angesichts der russischen Drohungen. Denn Österreich-Ungarn kann in aller Welt keinen Grund haben, während seines Krieges mit Serbien von sich a u s R u ß l a n d anzugreifen. S e l t s a m ist deshalb die Mitteilung des französischen B o t s c h a f t e r s P a l e o l o g u e a u s Petersburg nach Paris vom 29. J u l i , daß nach F e s t s t e l l u n g des russischen Generalstabes Österreich seine militärischen Vorbereitungen gegen Rußland überstürzt und seine Mobilmachung d u r c h f ü h r e , die a n der galizischen Grenze begonnen habe. Gelbbuch Nr. 91. 3

Vgl. die in der vorigen N o t e zu A n f a n g erwähnte Depesche.

128

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

schafter in Petersburg den Entschluß seiner Regierung m i t , selbst zu mobilisieren, wenn R u ß l a n d nicht seine militärischen Vorbereitungen einstelle, ohne d a m i t etwas zu erreichen, vielm e h r beschließt S s a s a n o w als A n t w o r t auf solche Vorstellungen eine Beschleunigung der russischen Mobilmachung: „ D a wir d e m Wunsche Deutschlands nicht Folge geben k ö n n e n " , heißt es in seiner Depesche an den russischen B o t s c h a f t e r in Paris, I s w o l s k y , „bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere eigenen R ü s t u n g e n zu beschleunigen u n d m i t der wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen. Verständigen Sie die französische Regierung davon und d a n k e n Sie ihr gleichzeitig f ü r die Erklärung, die der französische Botschafter in ihrem N a m e n abgab, daß wir nämlich vollständig auf die U n t e r s t ü t z u n g unseres Verbündeten in Frankreich rechnen können. U n t e r den gegenwärtigen U m s t ä n d e n ist u n s diese E r k l ä r u n g besonders w e r t v o l l " . 1 Wir sehen, die allgemeine Mobilmachung r ü c k t in R u ß l a n d i m m e r näher, weil S s a s a n o w i m m e r m e h r mit der Möglichkeit rechnet, d a ß «ben der Moment f ü r die große K r a f t p r o b e der zwei Bündnissysteme gekommen i s t , von der er schon a m 24. J u l i m i t d e m englischen Botschafter B u c h a n a n als von der „ E u r o päischen F r a g e " gesprochen h a t , daß m a n in jRußland dicht vor einer allgemeinen Mobilmachung s t e h t , leuchtet auch d u r c h in dem ersten Z a r e n t e l e g r a m m , in dem N i k o l a u s den deutschen Kaiser u m seine Vermittelung b i t t e t , wo es h e i ß t : 2 „ I c h sehe voraus, d a ß ich sehr bald dem Druck, der auf mich ausgeübt wird, nicht m e h r werde widerstehen können und gezwungen sein werde, Maßregeln zu ergreifen, die z u m Kriege f ü h r e n w e r d e n " 1 2

Orangebuch Nr. 58. Weißbuch Anlage 21.

Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

129

In seiner A n t w o r t sagt Kaiser Wilhelm I I . : 1 „ N a t ü r l i c h würden militärische M a ß n a h m e n Rußlands, welche Österreich-Ungarn als Drohung auffassen könnte, ein Unglück beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, und würden auch meine Stellung als Vermitteler, die ich auf Deinen Appell an meine Freundschaft und Hilfe bereitwillig a n g e n o m m e n habe, u n t e r g r a b e n . " Trotz dieser wiederholten W a r n u n g e n von Berlin schreitet Mobilmachung in R u ß l a n d weiter fort. Als ein offizielles C o m m u n i q u é am Morgen des 30. J u l i in den russischen Zeit u n g e n mitteilt, d a ß die Reservisten in einer bestimmten Anzahl von G o u v e r n e m e n t s zu den F a h n e n gerufen worden seien, berichtet der belgische Geschäftsträger d e l ' E s c a i l l e an seine heimische R e g i e r u n g : ,,Wer die Z u r ü c k h a l t u n g der russischen offiziellen Communiqués kennt, k a n n ruhig behaupten, daß überall mobil gemacht w i r d . " 2 Der französische Botschafter meldet a m 30. Juli nach Paris, der Ton, in dem a m Abend v o r h e r der deutsche Botschafter von R u ß l a n d die Einstellung der militärischen Vorbereitungen verlangt habe, habe die russische Regierung b e s t i m m t , noch in der Nacht die Mobil1

W e i ß b u c h Anlage 22. Siehe den aufgefangenen Brief des belgischen Geschäftsträgers d e l ' E s c a i l l e v o m 30. Juli an den Minister D a v i g n o n in der Neuausgabe des Weißbuchs, Abschnitt 4. Die fragliche teilweise Mobilmachung, die am 30. Juli in den russischen Zeitungen angekündigt wurde, rief schon zwei Drittel der Gefechtsstärke des europäischen Rußlands und die Hälfte des gesamten Reiches zu den Waffen, ging aber, wie der belgische Diplomat vermutet, tatsächlich wohl noch weiter. Denn auch Harald Williams, Korrespondent des Daily Chronicle, drahtet am 30. Juli aus Petersburg: „Der Befehl für partielle Mobilisierung ist als Antwort auf die österreichische Kriegserklärung gedacht, tatsächlich ist sie absolut und allgemein. Die Reservisten in den nördlichen Distrikten sind ebenfalls zu den Fahnen gerufen". Vgl. P r i c e , T h e Diplomatie History of the War. London, Allen & Unwin. II. Ausg a b e 1915. S. 1 5 6 - 1 5 9 . 2

S c i ü c k i n ß , Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges.

9

130

4. Kapitel.

Das Schultern der V e r m i t l e l u n g s a k t i o n .

machung der 13 Armeekorps, die gegen Österreich operieren sollten, anzuordnen. 1 Offenbar gestützt auf die Fortschritte in seiner Mobilmachung nimmt Rußland jetzt gegenüber Österreich-Ungarn eine immer schroffere Haltung ein und in jener früher erwähnten Unterredung zwischen S s a s a n o w und dem deutschen Botschafter Grafen P o u r t a l e s , die sich a m 30. J u l i um zwei Uhr in der Frühe in Petersburg zugetragen hat und bei der Deutschland nach den Bedingungen anfragt, unter denen Rußland bereit wäre, seine militärischen Rüstungen einzustellen, diktiert S s a s a n o w dann jene Formel, daß Österreich anerkennen solle, daß die österreichisch-serbische Frage den Charakter einer europäischen Frage angenommen habe, und daß es sich bereit erklären solle, aus seinem U l t i m a t u m diejenigen Punkte zu entfernen, die die souveränen Rechte Serbiens a n t a s t e t e n . 2 W i r haben schon an anderer Stelle gesagt, daß diese Formel für Österreich-Ungarn unannehmbar war, weil die Donaumonarchie doch nicht einfach gewisse Forderungen aus ihrem Ultimatum streichen konnte, ohne daß ihr wenigstens gleichzeitig die Erreichung ihrer legitimen Ziele nach Garantien gegenüber Serbien anderweitig sicher gestellt wurde. Diese Formel bedeutete einfach eine völlige Unterwerfung unter den russischen Standpunkt, und zwar unter dem Druck der russischen Waffen, so daß man es verstehen kann, wenn, wie oben gesagt, die Berliner Regierung diese Regelung sofort zurückweist. Der englische Botschafter berichtet aber gleich nach London, daß, wenn Österreich-Ungarn diese Formel S s a s a n o w s nicht annehme, Rußland mit seinen Maßnahmen für Depesche des B o t s c h a f t e r s P a l e o l o g u e nach Paris v o m 3 0 . J u l i , Gelbbuch Nr. 1 0 0 . 2 Zirkulardepesche des Ministers S s a s a n o w an die B o t s c h a f t e r v o m 30. J u l i , im Orangebuch Nr. 60, und Depesche des englischen B o t schafters in Petersburg an G r e v v o m gleichen Tage, B l a u b u c h Nr. 9 7 , S. 78. 1

4. Kapitel.

Das Scheitern der Verrriittelungsaktion.

131

eine allgemeine Mobilisation fortfahren und ein europäischer Krieg die unausbleibliche Folge davon sein werde. Da Rußland wisse, daß auch Deutschland rüste, könne es aus strategischen G r ü n d e n k a u m vermeiden, die teilweise Mobilisierung in eine allgemeine zu verwandeln. 1 Die unheilvolle W i r k u n g der russischen Mobilisierung gegen Österreich-Ungarn t r i t t auch darin zutage, daß daraus der unmittelbare Konflikt zwischen R u ß l a n d und dem Deutschen Reiche erwächst, der schließlich die letzte Ursache zum Weltkriege werden sollte. Denn die E r k l ä r u n g des deutschen Botschafters in Petersburg, daß R u ß l a n d seine R ü s t u n g e n einstellen oder gewärtig sein müsse, daß auch das Deutsche Reich mobilisiere, wird in Petersburg als schwere K r ä n k u n g empfunden, und während R u ß l a n d f r ü h e r England i m m e r versichert hat, alle seine Vorschläge zur E r h a l t u n g des Friedens annehmen zu wollen, wofern n u r Österreich nicht aus diesem Aufschub Nutzen ziehe, m a c h t jetzt der russische B o t s c h a f t e r bei G r e y geltend, d a ß durch die deutsche Aktion in Petersburg die Beziehungen sich geändert h ä t t e n , die russische A n t w o r t sei diejenige, die einer G r o ß m a c h t würdig sei und G r e y müsse desh a l b die neue durch Deutschlands Fehler geschaffene Lage in B e t r a c h t ziehen. 2 G r e y f ä h r t freilich, wie wir oben sahen, nichts destoweniger in seinen B e m ü h u n g e n fort, eine bessere Formel zu suchen; gleichwohl wird es R u ß l a n d in seiner schroffen H a l t u n g e r m u t i g t haben, daß gegenüber dem russischen Botschafter G r e y versichert, er verstünde seinen S t a n d p u n k t und w ü r d e seinen A r g u m e n t e n R e c h n u n g tragen. Die Tatsache, daß die russische Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn einen friedlichen Ausgleich ungemein erschwert 1

Blaubuch Depesche London a n den im Orangebuch 2

Nr. 97, a m E n d e . des russischen B o t s c h a f t e r s Graf B e n c k e n d o r f f in Minister des Äußern nach P e t e r s b u r g vóm 30. Juli, Nr. 64. 9*

132

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

habe, wird auch am 30. Juli von dem deutschen S t a a t s s e k r e t ä r b e t o n t 1 , wie auch der Reichskanzler noch am Morgen des 31. gegenüber dem englischen Botschafter versichert, d a ß seine Bemühungen in Wien f ü r den Frieden und Mäßigung zu wirken, durch die russische Mobilisation stark beeinträchtigt worden sei. 2 In der T a t , wenn schon an sich die direkte Einigung zwischen Rußland und Österreich-Ungarn, wie wir früher dargelegt haben, schwierig war, weil Österreich-Ungarn, das schon eine Demütigung darin sah, sich in bezug auf sein Verhältnis zu Serbien von der Viererkonferenz der relativ neutralen Staaten beraten zu lassen, auch deshalb nicht sonderlich geneigt sein konnte, dem russischen Balkanrivalen wesentliche Zugeständnisse o '

in unmittelbaren Verhandlungen zu machen, so waren solche Zugeständnisse für Österreich-Ungarn erst recht erschwert, wenn sie infolge der russischen Mobilmachung weniger als eine sachliche Konzession wie als Ausdruck der F u r c h t vor den russischen Waffen erscheinen m u ß t e . In diesem Sinne telegraphiert Kaiser Wilhelm II. a m 30. Juli an den Kaiser von R u ß l a n d : „Mein Botschafter ist angewiesen, Deine Regierung auf die Gefahren und schweren Konsequenzen einer Mobilisation hinzuweisen, das gleiche habe ich Dir in meinem letzten Telegramm gesagt. Österreich-Ungarn hat nur gegen Serbien mobilisiert und zwar nur einen Teil seiner Armee. Wenn Rußland, wie es jetzt nach Deiner und Deiner Regierung Mitteilung der Fall ist, gegen Österreich-Ungarn mobil macht, so wird die Vermittlerrolle, mit der Du mich in freundschaftlicher Weise betrautest und die ich auf Deine ausdrückliche Bitte angenommen habe, gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht. Die ganze Schwere der Entscheidung ruht jetzt auf Deinen Schultern, sie haben die Verantwortung für Krieg und Frieden zu tragen." 3

1

Depesche von G o s c h e n an G r e y vom 30. Juli, Blaubuch Nr. 98,

S. 79. 2

Depesche von G o s c h e n an G r e y vom 31. Juli, Blaubuch Nr. 188,

S. 88. 3

Weißbuch Anlage 23.

4. Kapitel.

Das Scheitern der VermittelungsakLion.

133

Der Zar antwortet darauf, daß die jetzt in Kraft tretenden militärischen Maßnahmen schon vor fünf Tagen beschlossen seien, und zwar aus Gründen der Verteidigung gegen die Vorbereitungen Österreichs; er hoffe aber von ganzem Herzen, daß diese Vorbereitungen in keiner Weise Wilhelms II. Stellung als Vermittler beeinflußten, die er sehr hoch anschlage. 1 Diese Antwort klingt so, als seien in Österreich-Ungarn t a t sächlich militärische Vorbereitungen gegen Rußland getroffen worden, während die Donaumonarchie doch nur das einzige Interesse hatte, ihren Konflikt mit Serbien zu lokalisieren. A b e r das i s t das C h a r a k t e r i s t i k u m j e d e r M o b i l m a c h u n g , d a ß sie i m m e r n u r zu V e r t e i d i g u n g s z w e c k e n e r f o l g t . Inzwischen sieht sich natürlich Österreich-Ungarn auch genötigt, seine Mobilmachung zu erweitern. 2 Auch Prinz Heinrich von Preußen, der offenbar im Auftrag seines kaiserlichen Bruders nach England gekommen, spricht in seinem Schreiben an den König G e o r g von den militärischen Maßnahmen in Rußland, die die Ausführung der B i t t e des Kaisers N i k o l a u s an W i l h e l m II. zu vermitteln, durchkreuzen; er fügt hinzu, daß Frankreich auch militärische Vorbereitungen treffe, während in Deutschland keinerlei militärische Maßnahmen verfügt seien. Aber die militärischen Vorbereitungen der Nachbarn könnten Deutschland jeden Moment zwingen, für die Sicherheit seines eigenen Landes, das sonst wehrlos bleiben würde, ihrem Beispiel zu folgen, was dann einen europäischen Krieg bedeuten Weißbuch Anlage 2 3 a . Das teilt Graf B e r c h t o l d in Wien dem dortigen russischen Botschafter in seiner Unterredung vom 30. Juli m i t ; vgl. B e r c h t o l d s Depesche darüber an den Grafen S z a p a r y nach Petersburg, im Rotbuch Nr. 50, S. 131. Sollte schon am 29. Juli Österreich militärische Maßnahmen in Galizien getroffen haben, wie solche nach Paris gemeldet sind, so können sie nach der Natur der Dinge jedoch nur einen defensiven Charakter gehabt haben; vgl. darüber das S. 127 in Note 2 Gesagte. 1

2

4. Kapitel.

134 würde.1

In

Das Scheitern der VermitLelungsaktion.

der A n t w o r t

versichert

der K ö n i g ,

er t u e

Möglichstes, u m Rußland und Frankreich nahezulegen, militärische Vorbereitungen Die reichs

hier

erwähnten

haben

ja,

wie

aufzuschieben.

militärischen

wir

früher

andererseits

sind

die

Vorbereitungen

hörten,

in

Paris

einzelnen

a u c h in R u ß l a n d

30. Juli

dem

englischen

gemeldet Botschafter

schon

daß

am

Botschafters militäri-

Frankreich3,

und S s a s a n o w mit,

Frank-

Maßregeln

scher V o r b e r e i t u n g aus D e u t s c h l a n d n i c h t nur in sondern

weitere

2

29. J u l i z u a m t l i c h e n V o r s t e l l u n g e n d e s d e u t s c h e n geführt,

sein

teilt

die

am

russische

R e g i e r u n g i m B e s i t z e u n w i d e r l e g l i c h e r B e w e i s e sei, d a ß D e u t s c h land

gegen

der

Rußland

Richtung

gegen

zu

Lande

den

Vorbereitungen treffe.

4

gesetzt,

dabei

hat

es

sich

und

Finnischen

zu Wasser, Meerbusen,

besonders

in

militärische

Die R i c h t i g k e i t dieser A n g a b e n v o r a u s doch

keineswegs

um

eine

Mobil-

1

Neuausgabe des W e i ß b u c h s , A b s c h n i t t 5 I. Dife B e h a u p t u n g des Prinzen Heinrich, d a ß in D e u t s c h l a n d noch gar keine m i l i t ä r i s c h e n Maßregeln getroffen seien, ist irrtümlich. Siehe weiter u n t e n . 2 Neuausgabe des W e i ß b u c h s , A b s c h n i t t 5 II. 3 Vgl. oben S. 123 u n d 124. U b e r weitere bedrohliche militärische Vorbereitungen von D e u t s c h l a n d berichtet ein Schreiben des Ministerpräsidenten V i v i a n i an den Londoner B o t s c h a f t e r C a m b o n , das als D o k u m e n t dem B l a u b u c h Nr. 105, S. 84ff., beigefügt u n d angeblich am 30. Juli ü b e r m i t t e l t ist. In seinem I n h a l t s t i m m t es überein m i t einer im Gelbbuch u n t e r Nr. 106 e n t h a l t e n e n Depesche V i v i a n i s a n C a m b o n , die ebenfalls v o m 30. J u l i d a t i e r t ist. Nach d e m Inhalt haben damals bereits die deutschen T r u p p e n h a r t a n der französischen Grenze gestanden, ja zweimal deutsche Patrouillen diese Grenze überschritten. Es ist in Deutschland aber von verschiedenen Seiten kons t a t i e r t worden, d a ß diese U n t e r r e d u n g gar nicht v o m 30. Juli d a t i e r e n k a n n . Denn im ersten Druck des B l a u b u c h s hieß es in der Mitteilung: „hier v e n d r e d i " . N u n ergibt sich a b e r aus d e m Kalender, d a ß d a n a c h die Note erst a m 1. A u g u s t überreicht sein u n d die fragliche Grenzüberschreitung erst a m 31. Juli s t a t t g e f u n d e n h a b e n k a n n ; siehe d a r ü b e r das Regenbogenbuch, S. 281. 4

Depesche von B u c h a n a n an G r e y aus P e t e r s b u r g v o m 30. J u l i , Blaubuch Nr. 97, S. 78.

Kapitel.

Das S c h e i t e r n der V e r m i t l e l u n g s a k t i o n .

135

machung gehandelt, ebensowenig wie eine solche in Frankreich geschehen war. Es wird vielmehr von diesen militärischen Anordnungen Deutschlands dasselbe zu gelten haben, was G r e y am 30. J u l i ganz offen in London dem deutschen Botschafter auf dessen Befragen über die militärischen Vorbereitungen Englands sagt, daß sie keinerlei offensiven Char a k t e r hätten, daß es aber bei dem gegenwärtigen Stand der Angelegenheit auf dem Festland erklärlich sei, einige Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, daß man aber in England wie in Frankreich die Erhaltung des Friedens wünsche und daß, wenn man in England wie in Frankreich Dcfensivmaßregeln ins Auge fasse, das nicht zum Zwecke einer Vorbereitung einer Aggressive geschehe. 1

§ 4. Der Fortgang der diplomatischen Verhandlungen und G r e y s „grand dessin". Unzweifelhaft sind die in verschiedenem Maße hier wie dort ergriffenen Maßregeln militärischer Art, die Wirkung, aber leider gleichzeitig auch wieder die Ursache der stündlich schlimmer werdenden Situation. Wegen der letzteren verhängnisvollen Eigenschaft aller militärischen Vorbereitungen, das wechselseitige Mißtrauen zu erhöhen und die Temperatur für die diplomatischen Verhandlungen zu verschlechtern, muß man sich als Deutscher freuen, daß der Wille der militärischen Instanzen nach einer allgemeinen Mobilmachung hier am 30. J u l i nicht durchgedrungen und die leider irrtümlich in die Welt gegangene Nachricht einer deutschen Mobilmachung sofort widerrufen ist. Denn wenn wir nunmehr zum Stande der diplomatischen Unterhandlungen vom Abend des 30. J u l i zurückkehren, so scheinen sie gerade jetzt mehr Aussicht, auf D e p e s c h e des B o t s c h a f t e r s im G e l b b u c h Nr. 1 0 8 . 1

Cambon

aus

London

nach

Paris,

4. Kapitel.

136

Das Scheitern der Vermitlelungsaktion.

die Erhaltung des Weltfriedens zu bieten als vorher. Diese Aussicht gründet sich auf zwei Tatsachen. Einmal steht u n t e r den Mächten noch der oben erwähnte Vermittelungsvorschlag von G r e y zur Diskussion, daß die Donaumonarchie sich bei ihrer militärischen Operation gegen Serbien auf die Besetzung von Belgrad und Umgegend beschränken soll, d a m i t d a n n die Mächte Österreich-Ungarn eine vollständige Befriedigung verschaffen, ehe es das serbische Territorium wieder r ä u m t . Dieser Vorschlag ist von Berlin aus, wie wir wissen, in Wien empfehlen 1 , und da die Antwort ausbleibt oder unbefriedigend ausfällt, wird von Berlin aus i m m e r schärfer auf Wien eingewirkt. Der deutsche Reichskanzler schickt zu diesem Zweck folgende Depesche nach W i e n : „Falls die Österreich-ungarische Regierung jede Vermittlung ablehnt, stehen wir vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und R u m ä n i e n allen Anzeichen nach nicht m i t uns gehen würden, so daß wir m i t Österreich-Ungarn drei Großmächten gegenüber stünden. Deutschland würde infolge der Gegnerschaft Englands das H a u p t gewicht des Kampfes zufallen. Das politische Prestige Österreich-Ungarns, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten Ansprüche gegen Serbien können durch die Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. W i r müssen daher dem Wiener K a b i n e t t dringend und nachdrücklich zur E r w ä g u n g geben, die V e r m i t t l u n g zu den angebotenen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung f ü r die sonst eintretenden Folgen wäre für österreich-Urgarn und uns eine ungemein schwere." 2 1

Vgl. oben S. 115. Die fragliche Depesche ist vom Reichskanzler erst am 9. November 1916 im Hauptausschuß des Reichstags bekanntgegeben, beweist aber, wie aufrichtig seine Mitteilung an den englischen Botschafter vom 31. Juli (Blaubueh Nr. 108), er hätte in Wien sein Bestes getan, vielleicht sogar 2

4. Kapitel.

Das rieheitern der Vermittelungsaktion.

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Leider erlangt der Reichskanzler auch jetzt noch keine Zusage, aber bekommt wenigstens die Antwort, daß der Minister des Äußern daiüber am 31. früh die Wünsche des Kaisers Franz Joseph einholen wolle. 1 Zum andern hat sich die deutsche Regierung fortgesetzt bemüht, in Wien für eine Wiederaufnahme direkter Verhandlungen zwischen ÜsterreichUr osarn und Rußland zu wirken. Und dieses Bemühen ist schon am 30. in Wien erfolgreich gewesen. 2 Es hat an diesem Tage in Wien eine Unterredung zwischen dem Minister des Äußern Grafen B e r c h t o l d und dem russischen Botschafter S c h e b e k o stattgefunden und esist auch der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg von Wien aus angewiesen worden, mit dem russischen Minister des Äußern dort wieder in Verhandlungen einzutreten.^ Die Berichte über diese Verhandlungen zwischen Wien und m e h r , als a m Ballplatz e r w ü n s c h t " . Wahrscheinlich ist diese energische Depesche erst a m Abend des 30. von Berlin nach Wien gesandt worden denn wie der Reichskanzler a m folgenden Tage G o s c h e n mitteilt, hat er a m Abend des 30. Juli Österreich-Ungarn gebeten, auf G r e y s letzten Vorschlag eine A n t w o r t zu geben. 1 Mitteilungen des Reichskanzlers an G o s c h e n , siehe dessen Depesche an G r e y vom 31. Juli, Blaubuch Nr. 112, S. 91. Der in der Arbeit unermüdliche alte Kaiser von Österreich pflegte um J / 2 4 Uhr aufzustehen, aber auch sehr früh schlafen zu gehen. Man kann deshalbverstehen, daß mit Rücksicht auf sein Ruhebedürfnis seine Entscheidung erst am andern Morgen eingeholt wird. Aber da die ursprüngliche A n frage schon in der Nacht vom 29. auf den 30. nach W i e n weitergegebenist, so war immerhin hier ein höchst bedauerlicher Zeitverlust e n t standen, der sich wohl nur aus einem Widerstand in der Sache selbst erklären läßt. 2 Mitteilung des deutschen Botschafters in London an G r e y , siehe dessen Depesche an B u c h a n a n nach Petersburg v o m 31. Juli, i m Blaubuch Nr. 110, S. 89. 3 Depeschen des Grafen B e r c h t o l d an den Grafen S z ä p ä r y nach Petersburg vom 31. Juli, im Rotbuch Nr. 49 und 50, S. 130ff. Beachte auch den Bericht des französischen Botschafters D u m a i n e aus Wieni vom 30. Juli, Gelbbuch Nr. 104.

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Kapilel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

Petersburg, die unter Umständen noch in letzter Stunde einen friedlichen Ausgleich hätten schaffen können, weichen freilich in ihrem Inhalte voneinander ab, wobei es sehr seltsam ist, daß in dem xmssischen Parlamentsbuch ein Bericht über diese auf deutsches Betreiben von Österreich-Ungarn gegenüber Rußland versuchte Annäherung, die dicht vor der allgemeinen russischen Mobilmachung geschah, überhaupt nicht zu finden ist. Wäre der Bericht des französischen Botschafters richtig, so hätte am 30. Juli der Graf B e r c h t o l d dem russischen Botschafter in Wien die weitestgehenden Zugeständnisse ge; macht. Nach dessen Angaben ist nämlich zwischen beiden verabredet worden, der österreichische Botschafter in Petersburg solle zwar nicht bevollmächtigt werden, bei seinen Unterhandlungen mit dem dortigen Minister des Auswärtigen die Sätze des Ultimatums abzuändern, aber er solle doch in Petersburg diskutieren, welche Abänderungen mit deren Würde und deren Prestige vereinbar wären. Demnach hätten die Verhandlungen zwar einen präparatorischen Charakter gehabt, sich aber doch auf materielle Änderungen des Ultimatums bezogen, und es wäre durch diese Beratungen dasjenige geleistet worden, was G r e y schon nach seinem ersten Vorschlag der Viererkonferenz zugedacht hatte. 1 Der französische Botschafter berichtet deshalb auch, daß der englische Gesandte in Wien sofort das Einverständnis des Foreign Office in London mit solchem Verfahren bekundet hätte. Der russische Gesandte h ä t t e versichert, daß seine Regierung in weit höherem Maße als man annehme, den Bedürfnissen der österreichischen Monarchie Rechnung tragen wolle, und die Unterhaltung sei in einem freundschaftlichen Tone geführt. Wenn die Dinge sich wirklich so abgespielt hätten, so wäre 1

Darauf wird von dem französischen Botschafter D u m a i n e drücklich hingewiesen.

aus-

4. Kapitel. Das Scheitern der Yeriiiittelungsaktion.

1.39

eigentlich schon ein günstiger Ausgang solcher Verhandlungen gesichert gewesen. Indessen ergibt eine N a c h p r ü f u n g des Vorgangs an der Hand der österreichischen Quellen, d a ß materiell das Einverständnis zwischen Österreich-Ungarn und R u ß land längst noch nicht so weit fortgeschritten war. In seinerAnweisung an seinen Botschafter in Petersburg vom 30. J u l i 1 teilt der Graf B e r c h t o l d diesem mit, daß er bezüglich der Note Herrn S s a s a n o w die gewünschten Erläuterungen geben solle; aber das geschieht einmal mit dem bedenklichen Zusatz,, d a ß die Note durch den Kriegsausbruch überholt erscheine -— was darauf deutet, daß Österreich-Ungarn jetzt gegen Serbien u n t e r U m s t ü n d e n noch weitergehende Forderungen stellen wird — und zum zweiten wird ausdrücklich gesagt, die f r a g lichen Erläuterungen könnten sich n u r im R a h m e n nachträglicher Aufklärungen bewegen, da es niemals in der Absicht Österreich-Ungarns gelegen habe, sich von den P u n k t e n seiner Note etwas abhandeln zu lassen. Offensichtlich ist dieses, wirkliche Zugeständnis von Östcrreich-Ungarn etwas m a g e r ; u m es nach etwas m e h r aussehen zu lassen, wird dem hinzugefügt, daß der B o t s c h a f t e r ermächtigt sein soll, die speziellen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn u n d R u ß l a n d im allgemeinen freundschaftlich zu besprechen. 2 Immerhin, durch die W i e d e r a u f n a h m e der direkten h a n d l u n g e n zwischen Österreich-Ungarn und Rußland 1

Verwar

Rotbuch Nr. 50, S. 131. Daß nach dieser Note B e r c h t o l d s an S z ä p ä r y der französische Bericht über B e r c h t o l d s Verhandlungen mit Rußland korrigiert werden muß, ergibt sich aus anderen Quellen, so aus der Darstellung der betreffenden Verhandlungen, die der deutsche Botschafter dem englischen Minister in London gibt; vgl. darüber G r e y s Depesche an B u c h a n a n vom 31. Juli, Blaubuch Nr. 110, S. 89, und den Bericht des Grafen S z ä p a r y vom 1. August über den tatsächlichen Verlauf seiner Gespräche mit S s a s a n o w in Petersburg vom 1. August, im Rotbuch. Nr. 56, S. 135. 2

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Kapitel.

Das Scheitern der Y e n m U e k m g s a k t i u n .

w e n i g s t e n s e t w a s erreicht, u n d n i c h t ohne G r u n d s p r i c h t G r e y auf die K u n d e d a v o n seine „ g r o ß e G e n u g t u u n g " m i t d e r H o f f n u n g aus, d a ß der Minister des Ä u ß e r e n diese V e r h a n d lungen möglichst f ö r d e r n m ö g e 1 . Solange ein u n m i t t e l b a r e r M e i n u n g s a u s t a u s c h zwischen den beiden wegen Serbien in K o n f l i k t g e r a t e n e n G r o ß m ä c h t e n s t a t t f i n d e t , ist w e n i g s t e n s doch ein w e n i g H o f f n u n g auf die E r h a l t u n g des W e l t f r i e d e n s . Es k o m m t h i n z u , d a ß sich die U n t e r h a l t u n g dos österreichischen S t a a t s m a n n e s m i t d e m r u s s i s c h e n B o t s c h a f t e r in W i e n v o m 30. J u l i o f f e n b a r in sehr a n g e n e h m e r F o r m b e w e g t h a t u n d d a ß der leitende Minister Graf B e r e h t o l d n o c h e i n m a l feierlich e r k l ä r t h a t , d a ß m a n keine E r o b e r u n g s p o l i t i k in Serbien treiben, d e s s e n S o u v e r ä n i t ä t a u c h n i c h t a n t a s t e n , s o n d e r n n u r einen Z u s t a n d s c h a f f e n wolle, der S i c h e r h e i t e n b ö t e gegen k ü n f t i g e B e u n r u h i g u n g e n Serbiens. A u c h ü b e r die M o b i l m a c h u n g e n h a t m a n sich o f f e n a u s g e s p r o c h e n . Rußland h a t v e r s i c h e r t , d a m i t solle n u r ,,die A b s i c h t sowie d a s R e c h t des Zaren g e k e n n z e i c h n e t w e r d e n , seine S t i m m e bei der Regel u n g der serbischen F r a g e z u r G e l t u n g zu b r i n g e n " u n d die ö s t e r r e i c h i s c h e n M o b i l m a c h u n g s m a ß n a h m e n sollen n a t ü r l i c h a u c h k e i n e aggressive B e d e u t u n g h a b e n u n d b e z w e c k e n lediglich, ,,die S i t u a t i o n auf d e m s e l b e n F u ß zu h a l t e n " . Beide Seiten wollen Sorge t r a g e n , d a ß ihre M a ß n a h m e n n i c h t als Zeichen d e r F e i n d s e l i g k e i t a u f g e f a ß t w e r d e n u n d die österreichische R e g i e r u n g u n t e r d r ü c k t sogar zu diesem Z w e c k e in der W i e n e r P r e s s e die N a c h r i c h t e n ü b e r die teilweise M o b i l m a c h u n g R u ß lands. Alles das b e r i c h t e t w e n i g s t e n s d e r f r a n z ö s i s c h e B o t schafter von Wien an den Ministerpräsidenten V i v i a n i . 2 1

Depesche v o n G r e y an B u c h a n a n v o m 31. Juli, Blaubuch Nr. 110, S. 89. 2 Dieser Bericht ist freilich mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen, weil er, wie oben dargelegt, in bezug auf das Maß der Zugeständnisse, die Österreich-Ungarn machen wollte, unrichtige Mit-

4. Kapitel.

Das Scheitern der Vermittelungsaktion.

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Trotz dieser verheißungsvollen Ansätze sollte der folgende T a g , der 31. J u l i , die katastrophale Wendung bringen. Als der englische Botschafter zum deutschen Reichskanzler k o m m t , klagt ihm dieser, er wisse jetzt sicher, daß Rußland auch m i l i tärische Vorbereitungen gegen Deutschland richte, gegen die sich Deutschland nicht u n t ä t i g verhalten könne. Die N a c h richten über militärische Vorbereitungen an der russisch-deutschen Grenze seien gerade eingetroffen, als der Kaiser im B e griff gestanden, entsprechend dem Ansuchen des Zaren in W i e n zu vermitteln, jetzt müsse er zu einer Audienz beim Kaiser gehen, weil möglicherweise die Reichsregicrung schon heute einen ernsten Schritt unternehmen w e r d e . 1 Die v e r heerende W i r k u n g jener Nachrichten über Rußlands m i l i t ä r i sche Vorbereitungen gegen Deutschland zeigt sich dann darin, daß bei einer weiteren Audienz des englischen B o t s c h a f t e r s 2 der Reichskanzler mit dieser bedrohlichen Kunde aus dem Osten so beschäftigt ist, daß er gar nicht auf die Darlegungen des Botschafters eingehen kann, sondern sich eine Abschrift der betreffenden Note ausbittet. Bei dieser am V o r m i t t a g des 31. J u l i in Berlin überreichten Note von Sir E d w a r d G r e y handelt es sich um ein Dokument, das weit über die Entstehungsgeschichte des gegenwärtigen Krieges hinaus in der Geschichte der Diplomatie einen dauernden höchst ehrenvollen P l a t z haben wird. 3 teilungen enthält, vielleicht um durch die am Schluß des Berichtes •enthaltene irrtümliche Nachricht von der deutschen Mobilmachung Deutschland als den Störer des beinahe gesicherten Friedens hinstellen zu können. 1 Depesche von G o s c h e n an G r e y vom 31. Juli, im Blaubuch Nr. 108, S. 88. 2 Siehe über diese Audienz die Depesche von G o s c h e n an Grey vom 31. Juli, im Blaubuch Nr. 109, S. 89. 3 Die Note ist enthalten in der Depesche von G r e y an Goschen v o m 30. Juli, Blaubuch Nr. 101, S. 81.

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i. Kapitel.

Das Soli» ilcrn tk-r VirmiLlelungsaklion.

Nachdem G r e y in dieser Note zunächst die früher erwähnte Anfrage des Reichskanzlers, ob E n g l a n d mit dem deutschen Rcich ein N e u t r a l i t ä t s a b k o m m e n schließen wolle, abgelehnt hat, um sich freie H a n d für einen etwaigen K r i e g vorzubehalten, betont er, daß der beste Weg, u m die guten Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland aufrecht zu erhalten, die weitere g e m e i n s a m e Arbeit zur Bewahrung des europäischen Friedens sei. D a n n fährt die Note f o r t : ,, Ich will dann noch das Folgende beifügen. Sollte der Frieden gewahrt und die gegenwärtige Krise überstanden worden sein, dann werde ich es mir angelegen sein lassen, ein unter T e i l n a h m e Deutschlands getroffenes Ubereinkommen z u fördern, welches ihm die Sicherheit gewähren würde, daß Frankreich, Rußland und wir selbst — einzeln oder zus a m m e n — weder gegen das Reich noch seine Verbündeten eine feindliche Politik verfolgten. Das war bisher mein Wunsch, den ich, so viel in meinen K r ä f t e n lag, während der letzten B a l k a n k r i s e zur praktischen A u s f ü h r u n g brachte, und da Deutschland von demselben Wunsche beseelt ist, verbesserten sich unsere Beziehungen zu Deutschland. Die Idee war bis j e t z t eine zu utopische, u m den G e g e n s t a n d bestimmter Vorschläge zu bilden, aber wenn die jetzige Krise — die schwerste, welche E u r o p a seit vielen Menschenaltern durchzumachen h a t -— überstanden sein wird, hoffe ich, daß die darauf folgende Erleichterung und der d a r a u s entstehende R ü c k s c h l a g eine innigere Verständigung zwischen den Mächten als bisher ermöglichen w e r d e . " E s ist eine reizvolle A u f g a b e für den Historiker, den tieferen Gründen nachzugehen, weshalb G r e y an diesem entscheidenden T a g e mitten zwischen den Verhandlungen über eine konkrete Angelegenheit d e r höheren Politik, die E u r o p a an den äußersten R a n d des Abgrundes des Weltkrieges geführt h a t , einen Vorschlag in die D e b a t t e wirft, der, so u n b e s t i m m t er ist,

Kapitel.

Das Scheitern der Verniittelungsafition.

doch einen radikal pazifistischen Charakter trägt. 1 Deutschland soll durch ein internationales Abkommen eine Sicherheit erhalten, daß die Entente nicht gegen das Reich und seine Bundesgenossen eine feindliche Politik führt. Das isl doch nur so denkbar, daß die großen Bündnissysteme Europas m i t einander verschmolzen und sozusagen ein europäischer Staatenbund aufgerichtet wird, in dessen Schöße die internationale Angelegenheiten nach Möglichkeit im internationalen Geiste erledigt werden, nach dem Gesetz, das in ihnen selbst durch die Natur der Dinge enthalten und nicht nach dem Gesichtsp u n k t des Sondervorteils, den die eine oder die andere B ü n d nisgruppe glaubt, für sich bei dieser Gelegenheit herausschlagen zu können. Ähnlich wie S s a s a n o w in seiner ersten Unterredung mit dem englischen Botschafter B u c h a n a n 2 berührt jetzt auch G r e y aus Anlaß des Konfliktes "zwischen Österreich-Ungarn und Serbien die „europäische Frage". Aber während S s a s a n o w vom ersten Tage an damit rechnete, daß die europäische Frage durch einen Weltkrieg gelöst werden müsse und während er sich diese Lösung offenbar so denkt, daß die Entente ihre militärische Überlegenheit erweist, will G r e y diesen europäischen Krieg vermeiden durch ein Programm des organisatorischen Pazifismus. Und indem G r e y verspricht, das Seinige zu tun, um die hohe Politik Europas f ü r die Zukunft auf eine ganz neue Plattform zu stellen, will er gleichzeitig den Boden bereiten f ü r eine friedliche Lösung des gegenwärtigen konkieten Konfliktes. Auch das ist ein echt staatsmännischer Gedanke. G r e y weiß aber offenbar auch sehr wohl, in welchem Maße 1

Aus diesem Grunde haben wir ihn oben im Anschluß an das angebliche Projekt Heinrichs IV. von Navarra G r e y s „grand dessin" genannt. 2 Depesche B u c h a n a n s an G r e y aus Petersburg vom 24. Juli, im Blaubuch Nr. 6, S. I i :

V Kapitel.

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Das Scheitern der V e r n i i l t e l u n g s u k t i o n .

man in Berlin unter dieser politischen Konstellation der zwei Bündnissysteme gelitten h a t 1 , nicht nur weil dieses Gegeneinander statt eines Miteinander die Lösung jeder Frage der •auswärtigen Politik wesentlich erschweren mußte, sondern weil schon die Lockerung des Dreibundes durch den sich vorbereitenden Abfall Italiens bewirkte, daß das Deutsche Reich immer auf der diplomatisch schwächeren Seite war und im Rate der Völker deshalb nicht die Stimme führen konnte,