Die Vermutungen des GWB [1 ed.] 9783428492862, 9783428092864

Obwohl gesetzliche widerlegbare Vermutungen im allgemeinen nur Beweislastnormen sind, werden die kartellrechtlichen Verm

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Die Vermutungen des GWB [1 ed.]
 9783428492862, 9783428092864

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Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 116

Die Vermutungen des GWB Von

Dirk Ittner

Duncker & Humblot · Berlin

DIRK ITTNER

Die Vermutungen des GWB

Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 116

Die Vermutungen des GWB

Von Dirk Ittner

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ittner, Dirk: Die Vermutungen des GWB / von Dirk Ittner. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Wirtschaftsrecht ; Bd. 116) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09286-4

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-026X ISBN 3-428-09286-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern und meiner Frau

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung

13

I.

Einführung in die Problematik

13

Π.

Thematische Beschränkungen und Gang der Untersuchung

15

Erster Teil Grundlagen § 2 Die Vermutungen des GWB I.

Π.

19

Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

19

1. Die Vermutungen des § 22 m GWB

19

2. Die Vermutungen des § 23a GWB

22

a) § 23a I GWB

23

b) § 23a Π GWB

24

3. Die Abhängigkeitsvermutung des § 26 Π 3 GWB

31

§ 26 V GWB

34

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

36

I.

Die zweite GWB-Novelle vom 5.8.1973

36

Π.

Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

39

1. Die Vermutungen des § 23a I GWB

42

2. § 23a Π GWB

45

3. §26 Π 3 GWB

47

ΠΙ.

Die fünfte GWB-Novelle vom 22.12.1989

49

IV.

Zwischenergebnis

50 Zweiter Teil

Die Vermutungen des GWB im Kartellverwaitungs- und KarteÜbeschwerdeverfahren § 4 Problemstellung und Streitstand.

53

8

Inhaltsverzeichnis I.

Der Streitstand im Schrifttum

55

1. Objektive Beweislast

55

2. Weitere materiellrechtliche Wirkung

59

3. Amtsermittlungspflicht, Mitwirkungspflicht, Behauptungs- und Beweisführungslast

60

a) §§ 22 m , 23a I und 26 Π 3 GWB

60

b) § 23a Π GWB

63

Π.

Die Sichtweise der Rechtsanwendungspraxis

65

ΙΠ.

Zwischenergebnis

67

§ S Die Wirkung der Vermutungen des GWB im Kartellverwaltungs- und Beschwerdeverfahren I.

Π.

ΙΠ.

68

Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

68

1. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit Verhandlungsmaxime

69

2. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit Untersuchungsmaxime

73

3. Zwischenergebnis

82

4. Abgrenzung zu benachbarten Rechtsfiguren

83

a) Tatsächliche Vermutungen und prima-facie-Beweis

83

b) Verwaltungsrechtliche Regelbeispiele und abstrakte Gefährdungstat-, bestände

86

Vermutung und Prognose

90

1. Problematik

90

2. Stellungnahme

93

Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

100

1. Objektive Beweislast und statistische Wahrscheinlichkeit

104

2. Zweck der Vermutungen des GWB

109

a) Gesetzgebungsgeschichte und Motive

110

b) Stellungnahme

113

3. Besonderheiten der Eingriffsverwaltung

118

4. Anforderungen an die Gestaltung der Vermutungsvoraussetzungen

119

IV.

Weitere materiellrechtliche Wirkung der Vermutungen..

119

V.

Prima-facie-Regeln

125

Inhaltsverzeichnis VI.

Aufgreiftatbestände

129

1. Objektive Beweislast

129

2. Doppelfunktion

132

VE. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten, Behauptungs- und Beweisführungslast

137

1. §§ 22 m, 23a 1,26 Π 3 GWB

142

2. § 23a Π GWB

148

3. Zwischenergebnis

152

Vm. Kritik an der BGH-Rechtsprechung

153

IX.

155

Ergebnis zu §5

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung durch die Vermutungen des GWB 157 I.

Π.

ΙΠ.

Einleitung

157

1. Ansatz aus dem Wesen der materiellen Beweislast

160

2. Der Gang der Untersuchung in § 6

163

Rechtsprechung und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast

163

1. Rechtsprechung

163

2. Schrifttum

180

Eigener Ansatz

183

1. Trennung der Determinanten für die Risikozuweisung von denen für die Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

IV.

183

2. Bezüge zu den Beweislasttheorien

189

3. Umfang der gesetzgeberischen Freiheit

199

Die Determinierung des materiellen Inhalts der Vermutungen des GWB durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

201

1. Art. 3 I G G

202

a) Waffengleichheit und faires Verfahren b) Sachlich-inhaltliche Ausprägungen, insbesondere Systemgerechtigkeit

202 204

2. Art. 19 I V GG

208

3. Weitere Aspekte des Rechtsstaatsprinzips

211

a) Verfassungsrechtliches Beweislastprinzip?

211

10

Inhaltsverzeichnis b) Besonderheiten der Eingriffsverwaltung 4. Freiheitsgrundrechte und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

214 217

a) Maßstab der verfassungsrechtlichen Prüfung/tangierte Grundrechte....

219

b) Grundrechte als materielle Vermutungsregeln?

224

c) Art. 12 I G G

226

aa) Schranken

226

bb) Schranken-Schranken (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz/Stufenlehre) ( 1 ) Legitimer Zweck

230

(3) Notwendigkeit

231

(4) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i.e.S.)

233 236

aa) Art. 9 Π GG und Grundrechtskollision

236

bb) Grundrechtskonkurrenz

238

Ergebnis zu §6

239

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

m, 23a I und 26 Π 3 GWB

I.

§§ 22

Π.

§ 23a Π GWB

ΙΠ.

227

(2) Geeignetheit

d) Art. 9 I G G

V.

226

241 241 242

1. Anknüpfung an bereits erzielte Ergebnisse/Problemstellung

242

2. Die Verfassunesmäßigkeit der durch § 23a Π 1, Halbs. 2 GWB bestimmten Aufklärungsverantwortung

243

a) Zugang zu den Widerlegungstatsachen

243

b) Den Grundrechtsschutz effektuierende Verfahrensgestaltung

245

aa) Waffengleichheit und faires Verfahren

246

bb) Effektiver (Grund-)Rechtsschutz, Art. 19IV GG

249

cc) Verhältnismäßigkeit

250

3. Folgerungen für den Tätigkeitsumfang des BkartA/ Kritik an der Rechtsprechung des Kammergerichts

251

Ergebnis zu § 7

253

Inhaltsverzeichnis

11

Dritter Teil Die Vermutungen des GWB im Zivilrechtsstreit § 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime I.

Π.

ΠΙ.

254

Anwendbarkeit der §§ 22 ΙΠ, 26 Π 3 GWB im Zivilprozeß - Meinungsstand

254

1. § 22 ΠΙ GWB

254

2. §26 Π 3 GWB

257

Stellungnahme

258

1. Materielle Beweislast

259

2. Aufklärungsverantwortung (Verhandlungsmaxime)

263

a) § 22 ΠΙ 1 Nr. 1 GWB

266

b) § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB

268

c) § 26 Π 3 GWB

269

Ergebnis zu §8

271

§ 9 Gesamtergebnis der Untersuchung

272

Literaturverzeichnis

277

Sachwortverzeichnis

286

Die Abkürzungen folgen der 4. Auflage des "Abkürzungsverzeichnisses der Rechtssprache" von Kirchner, Hildebert, Berlin, New York, 1993

§ 1 Einleitung I. Einführung in die Problematik "Nirgends herrscht eine solche Sprachverwilderung und Begriffsverwirrung wie in der Lehre von den Vermutungen." 1

Wer glaubt, dieses geflügelte Wort Leo Rosenbergs habe dank einer mittlerweile gefestigten Dogmatik zumindest im Bereich der widerlegbaren gesetzlichen Vermutungen manches von seiner Aktualität eingebüßt, wird bei näherer Beschäftigung mit Rechtsprechung und Schrifttum zu den Vermutungen des GWB 2 überrascht, wie verbreitet in diesem Bereich Fehlvorstellungen und Mißverständnisse über das Wesen und die Funktion gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen sind. Die herrschende Lehre im Zivil- und Verwaltungsrecht begreift gesetzliche widerlegbare Vermutungen als (voraussetzungsgebundene) Beweislastnormen ohne weitere spezifische Wirkungen. 3 Demgegenüber scheinen die Vermutungen des GWB eine Sonderstellung einzunehmen. In den - teils widersprüchlichen - Gesetzesmaterialien sowie in Rechtsprechung und Schrifttum werden sie unter anderem als "Aufgreiftatbestände", 4 "keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne",5 "prima-facie-Regeln" 6 und sogar als Beschränkungen der Amtsermittlungspflicht 7 verstanden. Darüberhinaus messen gewichtige Teile des kartellrechtlichen Schrifttums den Vermutungen unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien eine über die Beweislastverteilung hinausgehende materiellrechtliche Wirkung als "konkrete Auslegungshinweise", "verbindliche Interpretationshilfen", "Relevanzkriterien", "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen" 1 2

Rosenberg, Beweislast 5. Aufl. 1965, S. 199. Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen - im folgenden "GWB" abgekürzt.

3

Vgl. statt vieler nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 48 ff.; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286, Rzn. 104, 126; § 292 Rzn. 5, 21; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPO, 15. Aufl. 1993, § 117 Π 3; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rzn. 7 f ; Gottwald, Jura 1980, 225 (235); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 82 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365 ff.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 71 f. 4

Hierzu näher § 4 I. 1. und § 5 VI.

5

Hierzu näher § 5 IV.

6

Hierzu näher § 4 I. 1. und § 5 V.

7

Hierzu näher § 4 I. 3. und § 5 VD.

14

§ 1 Einleitung

oder "Gefährdungstatbestände" bei.8 Diese Qualifizierungen schüren Zweifel daran, ob sich die Vermutungen des GWB in das allgemeine System der materiellen Beweislast einordnen lassen. Zwar geht seit der Grundsatzentscheidung des BGH im Fall "Klöckner/Becorit" 9 aus dem Jahre 1980 eine ständige Rechtsanwendungspraxis vom Charakter dieser Vermutungen als Beweislastnormen aus, doch verwendet die Rechtsprechung noch heute verwirrende Charakterisierungen aus den Gesetzesmaterialien wie "keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" oder "Aufgreiftatbestände". 10 Soweit die kartellrechtlichen Vermutungen als Beweislastnormen verstanden werden, resultieren erhebliche Irritationen aus der Kritik, diese seien verfassungswidrig. Die Kritik basiert unter anderem auf der Vorstellung, die Voraussetzungenfreiheitsbelastender Verwaltungsakte müßten in der Eingriffsverwaltung vollständig vom Staat nachgewiesen werden 11; ferner auf der Vorstellung, belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung müßten sich zumindest innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten bzw. empirisch einwandfrei abgesichert sein.12 Weitere Unsicherheit herrscht noch immer trotz der Grundsatzentscheidung des BGH im Fall "Klöckner/Becorit" 13 zu der Frage, ob die kartellrechtlichen Vermutungen den betroffenen Unternehmen die Darlegungs- und Beweisfuhrungslast fur das Vermutungsgegenteil auferlegen und insoweit die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde beschränken.14 Soweit man dies zumindest fur die Vermutungen des § 23a II GWB bejaht, entsteht sogleich die verfassungsrechtliche Problematik, inwieweit die betroffenen Unternehmen trotz des hohen Maßes an Informationsmöglichkeiten und -rechten der Kartellbehörde mit einer Aufklärungsverantwortung fur solche Tatsachen belastet werden dürfen, die nicht ihrer Sphäre entstammen.15 Völlig ungeklärt ist in der Rechtsprechung schließlich, ob die Marktbeherrschungsvermutungen des § 22 III GWB nur im Kartellverwaltungsverfahren 8

Hierzu näher § 41. 2. und § 5 IV.

9

WuW/E BGH 1749 (1754).

10

Vgl. nur WuW/E BGH 2483 (2488 f.) "Sonderungsverfahren".

11

Hierzu näher § 4 I. 1. und § 6 I V .

12

Hierzu näher § 4 I. 1 , § 5 m. und § 6 IV.

13

WuW/E BGH 1749 (1754).

14

Nach Braun (Die Marktbeherrschungsvermutungen und die Amtsuntersuchungspflicht des Bundeskartellamtes, 1986) erfüllen die Vermutungen des GWB die Funktion einer "belastenden Unterstellung". Näher zum Umfang der Amtsermittlungspflicht § 4 I. 3. und §5 VE. 15

Hierzu näher § 4 I. 3. und § 7.

Π. Thematische Beschränkungen und Gang der Untersuchung

15

anwendbar sind oder ob sie auch im "normalen" Zivilprozeß nach § 35 GWB gelten.16 Die zahlreichen Fragen, welche sich im Zusammenhang mit den Vermutungen des GWB stellen, lassen sich nicht rechtsgebietsspezifisch aus der Sicht des Kartellrechts lösen. Sie verlangen nach grundsätzlicher Besinnung auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zivilrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Beweislastnormen. Auch die Erörterung der verfassungsrechtlichen Probleme fordert die Aufgabe einer spezifisch kartellrechtlichen Sichtweise. Die vorliegende Untersuchung verfolgt daher das Ziel, zur Lösung der auftretenden Fragen sowohl betreffend das Wesen und die Funktion gesetzlicher Vermutungen als auch betreffend die verfassungsrechtliche Determinierung der materiellen Beweislast einen rechtsgebietsübergreifenden Ansatz aus dem Wesen der materiellen Beweislast selbst zu entwickeln.

II. Thematische Beschränkungen und Gang der Untersuchung Der Verfasser nähert sich den kartellrechtlichen Fragestellungen aus der Sicht der zivil- und verwaltungsrechtlichen Beweislastdogmatik. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der Klärung Verfahrens- und verfassungsrechtlicher Probleme, nicht auf der Behandlung wettbewerblicher Zusammenhänge und kartellrechtlicher Spezifika. Zu Beginn der Untersuchung steht die Betrachtung der fraglichen Vermutungstatbestände und ihrer Wirkungsbereiche (§ 2), gefolgt von einem Überblick über deren Entstehungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien (§ 3). Die Erörterung der Vermutungen im Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren beginnt mit der Darstellung des breitgefächerten Meinungsstreites betreffend die rechtliche Wirkung der Vermutungen und ihre Verfassungsmäßigkeit (§ 4). Einen ersten Schwerpunkt der Untersuchung bildet sodann die Behandlung und Ausräumung zahlreicher MißVerständnisse und Fehlvorstellungen über die Verfahrens- und materiellrechtliche Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen, speziell derjenigen des GWB (§ 5). Untersucht werden hier unter anderem die schillernden Qualifizierungen der Vermutungen als "keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne", "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen", "Aufgreiftatbestände" etc. sowie ferner die Fragen, ob bei Prognosen ein prozessuales non liquet denkbar ist, ob gesetzliche Vermutungen in der Eingriffsverwaltung empirisch abgesichert sein müssen und ob die Vermutungen des GWB die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde einschränken. Einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit bildet in § 6 die Ent-

16

Hierzu näher § 8.

16

§ 1 Einleitung

wicklung eines allgemeinen Prüfungsmaßstabes zur verfassungsrechtlichen Kontrolle von Beweislastnormen unter Abgrenzung und Aussonderung solcher Verfassungsbestimmungen, die als Determinanten der Beweislastnormsetzung irrelevant sind. Anschließend erfolgt eine Überprüfung der Vermutungen des GWB anhand dieses Maßstabes, wobei der Schwerpunkt auf der Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit den Freiheitsgrundrechten der betroffenen Unternehmen liegt. Am Ende der Betrachtungen zum Kartellverwaltungs- und Beschwerdeverfahren beschäftigt sich § 7 mit der Fragestellung, ob die vom Gesetz vorgenommene Verteilung der (Sachverhalts-)Aufklärungsverantwortung fur die vermuteten Merkmale verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Im Mittelpunkt steht hier § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB, der den Unternehmen den Nachweis des Vermutungsgegenteils auferlegt. § 8 beendet die Untersuchung mit der Erörterung der Frage, ob die ursprünglich mit Blick auf das kartellbehördliche Verwaltungsverfahren konzipierten Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB auch in Zivilrechtsstreitigkeiten (§35 GWB) anwendbar sind. Nicht behandelt werden kann aus Gründen des Umfangs dieser Arbeit die weitgehend geklärte - Problematik, ob ein Bußgeldbescheid wegen einer Ordnungswidrigkeit i.S.v. § 38 GWB auch dann verhängt werden darf, wenn der Bejahung der Ordnungswidrigkeit die Anwendung einer kartellrechtlichen Vermutung zulasten des Bußgeldadressaten zugrundeliegt. Nach heute herrschender und richtiger Auffassung 17 ist zu differenzieren, ob ein Tatbestandsmerkmal eines Verbotstatbestandes vermutet wird, welcher unmittelbar bußgeldbewehrt ist (so der Verbotstatbestand des § 26 II GWB i.V.m. § 38 I Nr. 8 GWB) oder ob nur eine Tatbestandsvoraussetzung einer Ermächtigungsnorm fur eine verwaltungsbehördliche Verfugung vermutet wird und zunächst gegen diese Verfügung verstoßen werden muß, damit eine Ordnungswidrigkeit vorliegt (so die Verfügungen nach § 22 V GWB i.V.m. § 38 I Nrn. 2, 4 GWB und nach § 24 II 1, 4 GWB i.V.m. 38 I Nr. 8 GWB). Letztgenannte Verfügungen enthalten einen eigenen Normbefehl. Die tatbestandsmäßige Handlung besteht dort allein in dem Ungehorsam gegen den nicht vermuteten - behördlichen Befehl. 18 Hierauf gestützte Ordnungsverfügungen sind daher rechtsstaatlich unbedenklich.19 Demgegenüber nimmt die herrschende

17 Vgl. nur Ebel NJW 1981, 1763 (1765); Tiedemann in Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl. 1992, § 38 Rzn. 43,75,112 f. 18 19

Tiedemann in Immenga/Mestmäcker,

GWB,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 38 Rz. 43.

Heute ganz herrschende Meinung, vgl. nur Tiedemann in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 38 Rz. 75; Ebel NJW 1981, 1763 (1765); Braun, Marktbeherrschungsvermutungen, 1986, S. 95 f.;a.A. Meier ZHR 145 (1981), 393 (413, 430); ferner Autoren aus dem älteren kartellrechtlichen Schrifttum, die nicht zwischen der "di-

Π. Thematische Beschränkungen und Gang der Untersuchung

17

Lehre zurecht an, daß Ordnungsverfilgungen wegen eines Verstoßes gegen ein unmittelbar bußgeldbewehrtes Verbot aus rechtsstaatswidrig sind, wenn ein Merkmal des Verbotstatbestandes (hier: § 26 II GWB) vermutet wird. 20 Allerdings läßt sich in diesen Fällen eine dogmatisch saubere Begründung nicht einfach auf die strafrechtliche Formel "in dubio pro reo" stützen, wie dies im Schrifttum überwiegend getan wird. 21 Das Β VerfG hat schon 1959 in einer Entscheidung zur "Schuldvermutung" des § 23 WiStG 1949 klargestellt, daß Ordnungsverfügungen auch dann rechtsstaatlich zulässig sein können, wenn ein Merkmal des direkt bußgeldbewehrten Verbotstatbestandes zum Nachteil des Bürgers vermutet wird. 22 Nicht jede Form einer "Schuldvermutung" widerstreite rechtsstaatlichen Grundsätzen.23 Eine widerspruchsfreie Begründung für die Unzulässigkeit von Ordnungsverfügungen aufgrund vermuteten Verbotsverstoßes im GWB erschließt sich nur aus dem in § 6 dieser Untersuchung entwickelten Prüfungsmaßstab, daß der Einsatz gesetzlicher Vermutungen zulasten des Gewaltunterworfenen zulässig ist, solange hierin kein Grundrechtsverstoß, insbesondere kein Verstoß gegen das Übermaßverbot, liegt. 24 rekten" und "indirekten" Wirkung der Vermutungen differenzierten, etwa Leo WRP 1970, 197 (203); ders. WRP 1972,1 (13). 20

Tiedemann in Immenga/Kiestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 38 Rzn. 112 f.; ders., NJW 1979, 1849 (1851); Markert in Immenga/Kiestmäcker , GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rzn. 79, 140, 297; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 1993, § 22 Rz. 349; Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1980, § 26 Rz. 13; Ebel NJW 1981, 1763 (1765); a.A. Langen, Komm, zum KartellG, 6. Aufl. 1982, § 26 Rz. 62; SackGRUR 1975,511 (518). 21

Tiedemann in Immen ga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 38 Rz. 112; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 1993, § 22 Rz. 349; EbelNTW 1981, 1763 (1765). Nicht übeizeugend ist auch die vor allem vom älteren Schrifttum herangezogene Begründung aus Art. 103ÜGG(vgl. nur Leo WRP 1972,1 [13]; Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 97; Meier ZHR 145 [1981], 393 [430]). Der Tatbestand der Ordnungswidrigkeit ist gesetzlich bestimmt. Durch die Anweisung der Vermutung wird das unklare Merkmal als im Prozeß feststehend fingiert, so daß nicht ohne es oder abweichend vom Verbotstatbestand entschieden wird (hierzu näher m.w.N. § 5 I. 2.). 22

BVerfGE 9,167 ff. Nach § 23 WiStG 1949 mußte der Inhaber oder Leiter des Betriebes nachweisen, daß er die verkehrserforderliche Sorgfalt angewandt hatte, um eine Zuwiderhandlung gegen das WiStG zu verhüten. 23

BVerfGE 9,167 (169).

24

Vgl. insbesondere § 6 ΙΠ. und IV. Während im materiellen Strafrecht das Gewicht der Menschenwürde des Beschuldigten in jedem Falle das größere Gewicht im Rahmen der Güterabwägung genießt ("in dubio pro reo"), fällt die Güter- und Interessenabwägung bereits im Bereich des formellen Strafrechts nicht stets zugunsten des Beschuldigten aus. Vgl. zum Streit um die Zulässigkeit einer Beweislastverteilung "contra reum" im Strafverfahrensrecht Kleinknecht/Meyer-Großner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 261 Rzn. 26 ff., 33 ff.; ferner § 6 I V . 3. b); Prutting, Gegenwartsprobleme, 1981, S. 39 m.w.N.

2 Ittner

18

§ 1 Einleitung

So erkannte das Β VerfG im Fall des § 23 WiStG, die Norm belaste den Betriebsinhaber nicht unzumutbar oder unbillig. 25 Die Beweislastumkehr bewirke dagegen eine Erleichterung der behördlichen Aufsicht; sie sei aus praktischen Gründen geboten. 26 Während das Β VerfG hier also den Interessen des Gewerbetreibenden das geringere Gewicht beimaß und daher die Norm für verhältnismäßig hielt, ist das geschützte Interesse der beweisbelasteten Unternehmen im Bereich der "großen" Kartellordnungswidrigkeiten mit Bußgeldern von bis zu einer Million D M (ggfs. sogar höher, vgl. § 38 IV GWB) von solchem Gewicht, daß das Interesse an einer Sanktionierung von Diskriminierungen i.S.d. § 26 II GWB geringer wiegt. 27 Die Güterabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fällt hier zugunsten der beweisbelasteten Unternehmen aus mit der Folge, daß die Vermutungen der §§ 22 III und 26 II 3 GWB im Rahmen der §§ 38 I Nr. 8 i.V.m. 26 II GWB unanwendbar sind.28

25

BVerfGE 9,167 (170 f.).

26

BVerfGE 9,167(171 f.).

27

Ebenso Tiedemann in Immenga/Mestmäcker,

28

GWB, 2. Aufl. 1992, § 38 Rz. 112.

Anders fällt die Güterabwägung dagegen beim verwaltungsrechtlichen Verbotstatbestand des § 26 Π GWB selbst aus, in dessen Rahmen der Einsatz von Vermutungen (§§ 22 ΠΙ und 26 Π 3 GWB) verhältnismäßig ist, weil das durch das bloße Verbot beeinträchtigte Interesse der Unternehmen nur einen "marginalen Aspekt ihrer wirtschaftlichen Entfaltung" (so das KG WuW/E OLG2862 [2867 f.] "Rewe/Florimex" zu § 23a I Nr. la GWB) betrifft, vgl. § 6 IV. 4. c) bb) (4) m.w.N. und § 6 IV. 4. d) aa).

Erster Teil

Grundlagen § 2 Die Vermutungen des GWB Im folgenden werden zunächst die einschlägigen Vermutungstatbestände des GWB vorgestellt. Hierzu gehört auch ein Anriß des die Vermutungen umgebenden materiellen Rechts, soweit dies für das Verständnis der zu behandelnden Rechtsfragen notwendig ist.

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich Kristallisationspunkt der Vermutungen des GWB ist der unbestimmte Rechtsbegriff der "Marktbeherrschung". Unter bewußter Abkehr von alliierten Dekartellisierungsgesetzen verzichtet das GWB auf jede Entflechtungsregelung für marktbeherrschende Unternehmen.1 Lediglich die Neubildung von Marktmacht wird durch die Fusionskontrollvorschriften der §§ 23 ff. GWB bekämpft. Einmal bestehende Marktmacht nimmt das Gesetz hin und beschränkt sich darauf, besonders nachteilige Auswirkungen dieser Macht auf den Wettbewerb als mißbräuchlich zu bekämpfen. 2

1. Die Vermutungen des § 22 Π Ι GWB

Nach § 22 IV, V GWB kann die Kartellbehörde Unternehmen, die ihre marktbeherrschende Stellung auf dem Markt mißbräuchlich ausnutzen, das mißbräuchliche Verhalten untersagen und Verträge für unwirksam erklären. Der unbestimmte Rechtsbegriff der "Marktbeherrschung" wird in § 22 I und II GWB definiert, welcher verschiedene Formen der Marktbeherrschung unterscheidet. Auf diese Definitionen nehmen die Vorschriften der §§ 241 GWB (Fusionskontrolle) und 26 II 1

Vgl. zur Diskussion um die Einführung einer Entflechtungsregelung in das deutsche Recht de lege ferenda u.a.: Monopolkommission, Hauptgutachten ΙΠ, Tzn. 662 ff.; Bundesregierung, BT-Drs. 9/460, Tzn. 19 ff. (sehr zurückhaltend); Möschel, Entflechtungen im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1979; Scholz, Entflechtung und Verfassung, 1981; Selmer, Unternehmensentflechtung und Grundgesetz, 1981. 2

2*

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 232.

20

§ 2 Die Vermutungen des GWB

1 GWB (Diskriminierungsverbot) unmittelbar Bezug3. Dadurch erlangen die Marktbeherrschungsdefinitionen des § 221, II GWB eine zentrale Bedeutung für das gesamte Gesetz. Nach § 221 GWB ist ein Einzelunternehmen marktbeherrschend (sog. Monopol), wenn es "ohne Wettbewerber ist oder keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist" (Nr. 1)

oder wenn es "eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat; hierbei sind insbesondere sein Marktanteil, seine Finanzkraft, sein Zugang zu den Beschaffungs- oder Absatzmärkten, Verflechtungen mit anderen Unternehmen, rechtliche oder tatsächliche Schranken für den Marktzutritt anderer Unternehmen, die Fähigkeit, sein Angebot oder seine Nachfrage auf andere Waren oder gewerbliche Leistungen umzustellen, sowie die Möglichkeit der Marktgegenseite, auf andere Unternehmen auszuweichen, zu berücksichtigen" (Nr. 2).

Nach § 22 II GWB gelten zwei oder mehr Unternehmen als marktbeherrschend (sog. Oligopol), "soweit zwischen ihnen für eine bestimmte Art von Waren oder gewerblichen Leistungen allgemein oder auf bestimmten Märkten aus tatsächlichen Gründen ein wesentlicher Wettbewerb nicht besteht

und soweit sie in ihrer Gesamtheit die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllen."

Besonders problematisch ist dabei das Merkmal des Nichtbestehens wesentlichen Wettbewerbs zwischen den Unternehmen (sog. Binnenwettbewerb), da dieser Nachweis in aller Regel von den Kartellbehörden nicht erbracht werden kann.4 Um die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und die Fusionskontrolle zu effektivieren, enthält das Gesetz in § 22 III GWB eine Monopol- und zwei Oligopolvermutungen: Nach § 22 III 1 Nr. 1 GWB wird vermutet, daß ein Einzelunternehmen marktbeherrschend i.S.d. § 221 GWB ist, wenn es fur eine bestimmte Art von Waren oder gewerblichen Leistungen einen Marktanteil von mindestens 1/3 hat (sog. Monopolvermutung). Die Vermutung bezieht sich auf § 22 I GWB insgesamt, so daß zur Widerlegung zum einen das Bestehen wesentlichen Wettbewerbs i.S.v. § 22 I Nr. 1

3

Allgemeine Meinung, vgl. nur Möschel in Immenga/Mestmäcker, § 22 Rz. 17; Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 222. 4

Statt vieler Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 244.

GWB, 2. Aufl. 1992,

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

21

und zum anderen das Fehlen einer überragenden Marktstellung i.S.v. § 22 I Nr. 2 GWB festgestellt werden muß.5 Nach § 22 III 1 Nr. 2 GWB wird vermutet, daß ein marktbeherrschendes Oligopol i.S.v. § 22 II GWB vorliegt, wenn drei oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von mindestens 50 % haben oder wenn fünf oder weniger Unternehmen zusammen einen Marktanteil von mindestens 2/3 haben (sog. Oligopolvermutungen). Widerlegt werden diese auf § 22 II GWB bezogenen Vermutungen jeweils durch die Feststellung, daß das Gegenteil einer der Voraussetzungen des § 22 II GWB vorliegt, daß also entweder ein wesentlicher Binnenwettbewerb im Oligopol herrscht (§ 22 II Halbs. 1 GWB) oder daß im Außenverhältnis wesentlicher Wettbewerb und keine überragende Marktstellung besteht (§ 22 II Halbs. 2 i.V.m. § 22 I Nr. 1 und Nr. 2 GWB). 6 Treffen Monopol- und Oligopolvermutung zusammen, so schließen sich die Vermutungstatbestände nicht gegenseitig aus7; vielmehr ist darauf abzustellen, wo der Schwerpunkt des Sachverhalts liegt.8 Unter den Voraussetzungen des § 22 IV GWB kann die Kartellbehörde nach Absatz 5 marktbeherrschenden Unternehmen ein mißbräuchliches Verhalten untersagen und Verträge fur unwirksam erklären. Es handelt sich hierbei um ein Verwaltungsverfahren i.S.d. §§ 51 ff. GWB. 9 Die Kartellbehörde wird im Wege der Eingriffsverwaltung zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig. Aus § 54 I GWB, welcher für das Kartellverwaltungsverfahren die allgemeine Vorschrift des § 24 VwVfG ersetzt, ergibt sich, daß das Verwaltungsverfahren vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird. 10 Deshalb tragen die Beteiligten grundsätzlich keine Darlegungs- und Beweisfuhrungslast. Nach § 46 GWB stehen der Kartellbehörde 5

KGWuW/EOLG 1745 (1751) "Sachs"; BGH WuW/E 1501 (1504) "Kfz-Kupplungen" = "GKN/Sachs"; Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 90; Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 50. 6

Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 50; Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 387. 7

K G A G 1980, 228; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 256; offengelassen in BGH AG 1982,44 (45). 8

Trotz gleichzeitigen Vorliegens der Oligopolvermutung ist von der Monopolvermutung auszugehen, wenn nach der Marktstruktur dem hohen Marktanteil und dem großen Abstand des Unternehmens zu seinen Konkurrenten das entscheidende Gewicht zukommt, während die Oligopolvermutung zugrundezulegen ist, wenn mehrere der beteiligten Unternehmen, namentlich wegen personeller oder kapitalmäßiger Verflechtungen, gemeinsam am Markt auftreten CEmmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 256 f. m.w.N.). 9

Möschel in Immenga/Mestmäcker,

10

GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 187.

K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker,

GWB. 2. Aufl. 1992, § 54 Rz. 1.

22

§ 2 Die Vermutungen des GWB

umfassende Ermittlungsbefugnisse zu (Auskunftsrecht, Einsichts- und Prüfungsrecht sowie Durchsuchungsrecht). Ergänzend gilt das VwVfG. 11 Die von den Kartellbehörden im Verwaltungsverfahren erlassenen Verfugungen sind Verwaltungsakte. Als Rechtsbehelf gegen diese käme eigentlich eine verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage gem. § 40 I VwGO in Betracht. Der Gesetzgeber hat jedoch in §§ 62 ff. GWB ein besonderes Kartellbeschwerdeverfahren vorgesehen, dessen systematische Einordnung als Zivilprozeß, Verwaltungsprozeß oder Verfahren sui generis umstritten ist. 12 Danach ist gegen die Entscheidung der Kartellbehörde die Beschwerde zum Kartellsenat des für die erkennende Behörde zuständigen OLG möglich (§§ 62 ff, 92, 93 GWB), gegen die Entscheidung des OLG ist nach Maßgabe der §§ 73 ff, 95 GWB die Rechtsbeschwerde zum Kartellsenat des BGH gegeben. Für diese Untersuchung ist allein die Tatsache von Interesse, daß nach § 69 GWB das gesamte Beschwerdeverfahren vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird.

2. Die Vermutungen des § 23a GWB

Wie bereits angesprochen, kennt das GWB nur die präventive Konzentrationskontrolle (§§ 23 ff. GWB). Liegt ein Unternehmenszusammenschluß i.S.d. § 23 II, III GWB vor, der nicht unter die Toleranzklauseln des § 24 VIII GWB fällt, so muß das BKartA den Zusammenschluß nach § 24 I GWB untersagen, wenn zu erwarten ist, daß durch ihn eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, es sei denn, die beteiligten Unternehmen weisen nach, daß durch den Zusammenschluß auch Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen eintreten, welche die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen. § 241 GWB selbst stellt keinen Vermutungstatbestand dar. Durch die sprachliche Fassung der sog. Abwägungsklausel ("es sei denn,...") wollte der Gesetzgeber der 2. GWB-Novelle von 1973 klarstellen, daß die beteiligten Unternehmen diejenigen Tatsachen darzulegen und zu beweisen haben, welche die Feststellung gerechtfertigt erscheinen lassen, daß die Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen die Nachteile der Marktbeherrschung überwiegen. 13 Damit erlegt § 24 I Halbs. 2 GWB den Unternehmen die Darlegungs- und Beweislast nicht für die Widerlegung eines

11

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 492.

12

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 494; K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 62 Rz. 2 ff. m.w.N. 13 So ausdrücklich die Begründung zum Regierungsentwurf der 2. GWB-Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 7.

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

23

Merkmals des Eingriffstatbestandes auf (Erwartung des Entstehens oder der Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung), sondern für die Voraussetzungen eines Dispenses.14 Die Untersagungsverfiigung des BKartA nach § 24 I, II GWB, durchweg Beschluß genannt, ergeht im Verfahren der Fusionskontrolle, einem reinen Amtsverfahren i.S.d. §§ 51 ff. GWB,15 hinsichtlich dessen auf die zu § 22 IV, V GWB gemachten Ausführungen verwiesen werden kann.16 § 24 I GWB übernimmt den Begriff der Marktbeherrschung aus § 22 I - III GWB,17 so daß die Vermutungen des § 22 III GWB auch im Rahmen der Prognose von Zusammenschlußwirkungen gelten.18

a) § 23a I GWB

Speziell nur fur die Zusammenschlußkontrolle des § 24 I GWB wird nach § 23 a I GWB vermutet, daß durch den Zusammenschluß eine marktbeherrschende Stellung entstehen oder sich verstärken wird, - wenn sich ein doppelter Umsatzmilliardär mit einem anderen Unternehmen zusammenschließt, das auf einem Markt tätig ist, auf dem kleine und mittlere Unternehmen insgesamt einen Marktanteil von mindestens 2/3 besitzen, soweit die beteiligten Unternehmen insgesamt einen Marktanteil von mindestens 5 % haben (sog. "Eindringensvermutung", Nr. 1. a); - wenn sich ein doppelter Umsatzmilliardär mit einem anderen Unternehmen zusammenschließt, das auf einem oder mehreren Märkten marktbeherrschend ist, auf denen im letzten Jahr insgesamt 150 Mio. D M oder mehr umgesetzt wurden (sog. "Verstärkungsvermutung", Nr. 1. b); oder

14

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45.

15

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 432.

16

Siehe oben § 2 I. 1.

17

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. GWB-Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 28 f.; BGH WuW/E 1501 (1502) "Kfz-Kupplungen" = "GKN/Sachs"; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rz. 25 m.w.N. 18 Dies folgt schon aus dem Wortlaut des § 23a I GWB; vgl. statt vieler BKartA WuW/E 1561 (1564 f.) "o.b."; BGH WuW/E 1501 (1502) "Kfz-Kupplungen" = "GKN/Sachs"; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rz. 63 f. m.w.N.

24

§ 2 Die Vermutungen des GWB

- wenn die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen insgesamt Umsatzerlöse von mindestens 12 Mrd. D M haben und zwei der beteiligten Unternehmen Umsatzmilliardäre sind19 (sog. "Großfusionsvermutung", Nr. 2). Die Vermutungen des § 23 a I GWB werden jeweils durch die Feststellung widerlegt, daß die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung durch den Zusammenschluß nicht zu erwarten ist. Auf die aus dem Einsatz gesetzlicher Vermutungen im Rahmen einer Prognose folgenden Schwierigkeiten wird noch näher einzugehen sein.20

b)§ 23a II GWB

Nach § 23a II GWB gilt speziell für die Zusammenschlußkontrolle des § 24 I GWB auch eine Gesamtheit von Unternehmen als marktbeherrschend, - wenn sie aus drei oder weniger Unternehmen besteht, welche die höchsten Marktanteile und zusammen einen Marktanteil von 50 % erreichen ("Dreieroligopol", Nr. 1.) oder - wenn sie aus fünf oder weniger Unternehmen besteht, welche die höchsten Marktanteile oder zusammen einen Marktanteil von 2/3 erreichen ("Fünferoligopol", Nr. 2.), "es sei denn, die Unternehmen weisen nach, daß die Wettbewerbsbedingungen auch nach dem Zusammenschluß zwischen ihnen wesentlichen Wettbewerb erwarten lassen oder die Gesamtheit der Unternehmen im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung hat"21.§ 23a II GWB ähnelt stark den Oligopolvermutungen des § 22 III 1 Nr. 2 GWB. 22 Zwar sieht § 23a II 1, Halbs. 2 19 Bei Gemeinschaftsunternehmen gilt diese Vermutung nur, wenn sie auf Märkten tätig sind, auf denen mindestens 750 Mio. D M umgesetzt werden (§ 23a Nr. 2 Halbs. 2 GWB). 20

Siehe unten § 5 Π.

21

Die Vorschrift gilt nicht für Unternehmen mit Umsatzerlösen von weniger als 150 Mio. D M , sie ist außerdem nicht anwendbar, wenn der Marktanteil der beteiligten Unternehmen nicht insgesamt 15 % überschreitet, vgl. § 23a Π 2 GWB. 22

§ 23a Π GWB ist - abgesehen von der den Unternehmen auferlegten Nachweispflicht für die Widerlegungstatsachen - im Vergleich zu § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB dadurch "qualifiziert", daß die Umsatzschwelle für die erfaßten Unternehmen von 100 Mio. D M (in § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB) auf 150 Mio. D M (in § 23a Π 2 GWB) angehoben wurde und die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen in § 23a Π 2 GWB insgesamt einen Marktanteil von über 15 % erreichen müssen.

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

25

GWB im Unterschied zu § 22 III 1 Nr. 2, II GWB vor, daß die Unternehmen die für die Widerlegung erforderlichen Tatsachen "nachweisen" müssen, doch ähnelt der Inhalt dieses Gegenteilsbeweises demjenigen nach § 22 II GWB: Fortbestehen der Bedingungen für einen wesentlichen Binnenwettbewerb (ähnlich § 22 II Halbsatz 1 GWB) oder Fehlen einer überragenden Marktstellung im Außenverhältnis (ebenso § 22 II Halbs. 2 i.V.m. I Nr. 2 GWB). Unterschiede ergeben sich hier zum einen daraus, daß bei § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB eine Prognose über künftigen Binnenwettbewerb erforderlich ist und zum anderen daraus, daß § 23a II 1, Halbs. 2 GWB zur Widerlegung im Außenverhältnis nicht zusätzlich zum Fehlen einer überragenden Marktstellung die Feststellung wesentlichen Wettbewerbs verlangt (vgl. § 22 II Halbs. 2 i.V.m. I Nr. 1 GWB). 23 § 23a II GWB ist das Ergebnis eines gegen Ende der Gesetzesberatungen zur 4. GWB-Novelle unter großem Zeitdruck zustandegekommenen Kompromisses.24 Hieraus erklärt sich die ungewöhnlich unklare Formulierung der Vorschrift, welche den Gegenstand zahlreicher Meinungsverschiedenheiten bildet. Geklärt sein dürfte heute trotz der vereinzelt sehr verunsicherten Einordnung der Norm als "Kombination zwischen einer teilweise unwiderleglichen Vermutung und einer Beweislastregel" 25 oder als "Fiktion, aber mit der Möglichkeit der Widerlegung" 26, daß es sich bei § 23a II GWB um eine gesetzliche widerlegliche Vermutung handelt.27 Die Formulierung "gilt als" resultiert noch aus der Fassung des Regierungsentwurfs des § 23 a II GWB als unwiderlegliche Vermutung. 28 Diese Fassung wurde vom federführenden Wirtschaftsausschuß jedoch ausdrücklich durch eine "flexiblere Vermutung mit Beweislastumkehr" mit der Möglichkeit der "Vermutungswiderlegung"

23

Eine solche Erschwerung der Widerlegung der Vermutungen des § 23a Π GWB befürwortet indessen im Wege einer teleologischen extensiven Auslegung Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 313. 24

Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 407.

25

G. Meier, Verfassungsfragen der kartellrechtlichen Vermutungs- und Beweislastregeln, ZHR 145 (1981), 393(401). 26

Baur, Festschrift Bachof, 1984,285 (291).

27

Ganz herrschende Meinung, vgl. nur KG WuW/E OLG 3051 (3071) "Morris/Rothmans"; BKartA AG 1986, 377 "NUR/HS"; BKartA AG 1987, 253 "Hüls (VEBA)/Condea"; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 54; Bechtold, GWB, Komm., 1993, § 23a Rz. 17 f.; Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 55; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 410; Burrichter WuW 1982,661; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 88; Schultz WuW 1981,102 (107); Bernotat WuW 1980,713 (715). 28

Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 21 f.

26

§ 2 Die Vermutungen des GWB

ersetzt.29 Der Nachweis in § 23a II 1, Halbs. 2 GWB betrifft die Widerlegung der Voraussetzungen des Eingriffstatbestandes selbst.30 Demgegenüber sind die unwiderlegliche Vermutung und die Fiktion unwiderlegbar und keine auf den non liquet-Fall zugeschnittenen Rechtssätze31 Wegen der eindeutug gewollten Beweislastumkehr mit der Möglichkeit der Widerlegung wird somit durch § 23a II GWB für § 24 I GWB eine Oligopolmarktbeherrschung widerleglich vermutet. Hieran schließt sich unmittelbar die sehr umstrittene Frage an, welches Merkmal des § 241 GWB durch § 23a II GWB eigentlich vermutet wird. Während nach enger Auffassung nur das Merkmal der "marktbeherrschenden Stellung" in § 24 I GWB, nicht aber die Erwartung deren Entstehung oder Verstärkung vermutet wird, 32 sowohl der Entstehung als auch der Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung i.S.v. § 24 I GWB vermutet. 33 Demgegenüber wird nach vermittelnder Ansicht,34 die insbesondere das Kammergericht 35 und das BKartA teilen,36 zwar die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung vermutet, nicht aber deren Verstärkung. Mit dieser Problematik eng verknüpft ist der weitere Streit, ob die Bestimmung der für den Beweis des Gegenteils zugelassenen Tatsachen in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB dazu führt, daß es sich bei § 23 a II GWB um eine "beschränkt widerlegliche" Vermutung handelt.37 29

Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 6 f., 24,27; zur Entstehungsgeschichte des § 23a Π GWB näher unten § 3 Π. 2. 30

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45.

31

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 49, 132 m.w.N., ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rzn. 4, 8. Bei der unwiderlegbaren Vermutung wird durch die Normierung einer Vermutungsbasis neben der Vermutung lediglich ein zweiter Tatbestand für die konkrete Rechtsfolge aufgestellt, vgl. Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 4; ders., Gegenwartsprobleme, S. 49; Leipold, Beweislast, 1966, S. 104; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 82. 32 Bechthold, GWB, Komm., 1993, § 23a Rz. 17; Bernotat, WuW 1980, 713 (718); Niederleitinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 53; Markert, BB 1986, 1660(1665). 33 Wolf, WuW 1980,462 (473); Schultz, WuW 1981, 102 (112); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 50. 34

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 410; ders., AG 1986, 345 (357); Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 44a, 159; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 263 ff. 35

KG WuW/E OLG 3051 (3080) "Morris/Rothmans".

36

BKartA AG 1986, 377 (379) "NUR/ITS"; BKartA AG 1987, 253 "Hüls (VEBA)/Condea". 37 Eine "beschränkt widerlegliche Vermutung" nehmen an: Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 51,280; Fischer, Qualifizierte Oligopolvermu-

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

27

Die vorgenannten Streitfragen sind als Basis der daran anknüpfenden rechtlichen Beurteilung vorab zu klären. Auszugehen ist von der Frage, was genau § 23 a II GWB vermutet. Der Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle hatte § 23 a II GWB ursprünglich als unwiderlegliche Vermutung für das Bestehen eines marktbeherrschenden Oligopois konzipiert mit dem Zweck, den eigentlich erforderlichen Nachweis des fehlenden Binnenwettbewerbs im Oligopol als Untersagungsvoraussetzung (§§ 241 i.V.m. 22 Π Halbs. 1 GWB) zu vermeiden. 38 Es wäre aber voreilig, aus dieser ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzgebers in Verbindung mit dem von § 23a I GWB deutlich abweichenden Wortlaut "für die Zusammenschlußkontrolle gilt... als marktbeherrschend" den Schluß zu ziehen, die spätere Gesetzesfassung betreffe allein die aktuelle Marktbeherrschung. 39 Schon der Regierungsentwurf 10 hatte nämlich - ebenso wie der Bericht des Wirtschafsausschusses 41 - entscheidend auf die längerfristigen strukturellen Negativwirkungen von Zusammenschlüssen im Bereich enger, gewichtiger Oligopole abgestellt und hervorgehoben, auf aktuellen Binnenwettbewerb komme es gar nicht an, wenn längerfristig "das Entstehen oder die Verstärkung einer überragenden Marktstellung" angenommen werden könne.42 Bereits der Regierungsentwurf verstand also den Begriff der Marktbeherrschung für die Zusammenschlußkontrolle prognostisch bzw. zukunftsbezogen. Indessen wäre es ebenso vorschnell, aus der Begründung des Regierungsentwurfs, daß ein Fehlen von Außenseitern am Markt nach dem Zusammenschluß oder eine überragende Marktstellung der Gesamtheit der Oligopolunternehmen "das Entstehen oder die Verstärkung einer überragenden Marktstellung" erwarten lasse,43 den Schluß zu ziehen, diese Entwicklung werde durch die erst später formulierte Gesetzesfassung auch vermutet. Entscheidenden Aufschluß gibt erst der von § 23 a II 1, Halbs. 2 tung, 1988, S. 69, Knöpfte, NJW 1988, 1116 (1119 f.) für den Fall der Beschränkung der Widerlegung auf Marktstrukturkriterien sowie für den Fall, daß nicht schon Zweifel an der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung zur Widerlegung genügen; Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 55; gegen eine "Beschränktheit" der Widerlegung: Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 44a; Markert, BB 1986,1660(1666). 38

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle3T-Drs. 8/2136, S.

21 f. 39

So dennoch Bernotat, WuW 1980,713 (718).

40

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novellè, BT-Drs. 8/2136, S. 21 f.; auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 2. 41

Bericht des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 27; vgl. § 3 Π. 2. 42 43

Dies verkennt Schultz, WuW 1981,102 (111).

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 22; auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 2.

28

§ 2 Die Vermutungen des GWB

GWB bestimmte Inhalt des Beweises des Gegenteils. Neben dem Nachweis, daß die Gesamtheit der Unternehmen im Außenverhältnis keine überragende Marktstellung hat, steht zur Widerlegung alternativ der Nachweis, daß die Wettbewerbsbedingungen auch nach dem Zusammenschluß wesentlichen Binnenwettbewerb "erwarten" lassen. Da der Beweis des Gegenteils nur gegen ein Merkmal geführt werden kann, das auch vermutet wird, ist die "Erwartung" i.S.v. § 24 I GWB Gegenstand der Vermutung. Damit ist noch nicht beantwortet, ob § 23a II GWB nur die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung vermutet oder auch deren Verstärkung. Auch hier gibt der in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB festgelegte Inhalt des Gegenteilsbeweises deutliche Hinweise. § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB läßt zur Widerlegung der Vermutung nur die Nachweise künftigen Binnenwettbewerbs und des Fehlens einer überragenden Marktstellung zu, also Gründe, die nur gegen die Entstehung gemeinsamer Marktbeherrschung gerichtet sind. Dagegen wird nicht der Beweis zugelassen, daß die Verstärkung einer bereits bestehenden marktbeherrschenden Stellung nicht zu erwarten ist. 44 Der die endgültige Gesetzesfassung kreierende Wirtschaftsausschuß beschrieb zwar in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf den Inhalt des Gegenteilsbeweises dahin, daß die Gesamtheit keine überragende Marktstellung erlangen "oder verstärken" wird. Er formulierte jedoch den Gesetzeswortlaut nicht entsprechend und sprach insbesondere an anderer Stelle davon, das Gesetz gehe davon aus, daß die Gesamtheit marktbeherrschend "ist", wenn der Nachweis nicht erbracht werde, 45 was dagegen spricht, daß auch die Verstärkung von Marktbeherrschung vermutet wird. Angesichts der Tatsache, daß der Wirtschaflsausschuß ersichtlich eine uneingeschränkt widerlegbare Vermutung schaffen wollte, 46 jedoch der (Gegenteils-)Beweis, daß die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung nicht zu erwarten ist, nicht zugelassen ist, führt die Auslegung dazu, daß die Gesetzesfassung nur die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung vermutet. Hierfür spricht auch ein Vergleich mit einem Monopolisten, der die gesamte Marktstärke des Oligopois auf sich vereinigt: Während das BKartA in diesem Fall für eine Untersagung nach § 24 I GWB den vollen Nachweis der Erwartung einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung führen muß, wäre bei anderer Auslegung des § 23 a II GWB nicht nur die Beweislast 44 Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 261,264. 45 Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der vierten GWBNovelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 27; auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 2. 46

Die Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle geht eindeutig nur von einer "Umkehr der Beweislast", nicht aber von einer Einschränkung der Widerlegungsmöglichkeiten aus, vgl. BT-Drs. 8/3690, S. 27; auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 2.

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

29

gegen die Oligopolisten gerichtet, sondern auch der Beweis des Gegenteils beschränkt.47 Dies verstieße aber gegen das Gebot der Gleichbehandlung der geteilten, reaktionsverbundenen Marktmacht mit einer Monopolstellung,48 so daß auch eine verfassungskonforme Auslegung zum engeren Gesetzesverständnis führt. 49 Wird also durch § 23a II GWB nur die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung vermutet, so kann im Ergebnis nicht davon gesprochen werden, die Vermutung sei nur "beschränkt widerleglich". Von einer "Beschränkung" der Widerlegung kann nur gesprochen werden, wenn ein ansich geeigneter Gegenteilsbeweis durch das Gesetz ausgeschlossen wird. Die Erwartung der Verstärkung eines marktbeherrschenden Oligopois wird nicht vermutet, so daß die Nichtzulassung des Beweises ihres Gegenteils in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB keine Beschränkung darstellt. Auch der Ausschluß des Beweises aktuellen Binnenwettbewerbs zur Widerlegung der Erwartung des Entstehens von Marktbeherrschung bildet keine Beschränkung, da dieser Nachweis schon nach dem Tatbestand des § 24 I GWB irrelevant ist. 50 Der Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle hat deutlich herausgestellt, daß es entscheidend auf die längerfristige Entwicklung der Marktstruktur ankommt, nicht auf das aktuelle Wettbewerbsverhalten zwischen den Oligopolisten.51 Eine Beschränkung der Vermutungswiderlegung begründen Teile des Schrifttums jedoch wie folgt: Nach § 23a II 1, Halbs. 2 GWB sei zur Gegenteilsbeweisführung nur eine Berufung auf Wettbewerbsbedingungen - dies seien Marktstrukturkriterien 52 - zulässig, nicht dagegen auf das Marktverhalten der Oligopolisten oder auf sonstige ausnahmsweise für den Wettbewerbsgrad bedeutsame Umstände.53 In der Tat handelt es sich bei § 23a II GWB nicht wie bei § 23a I GWB um Ressourcenvermutungen, für deren Widerlegung es entscheidend auf eine Marktstrukturbe-

47 Der Gegenteilsbeweis, daß die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung nicht zu erwarten ist, ist nicht zugelassen. 48 Vgl. zum Gebot der Gleichbehandlung bei Entflechtungsregelungen Monopolkommission, Hauptgutachten ΠΙ, Tz. 752. 49

Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz.

264. 50

Ebenso Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a, Rz. 44a; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 88,281. 51

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 21 f.

52

Unter "Wettbewerbsbedingungen" werden gewöhnlich nur "Marktstrukturkriterien" verstanden, vgl. KG WuW/E OLG 3051 (3072); Markert, BB 1986, 1660 (1666); Knöpfte, NJW 1988,1116(1119). 53

Knöpfte, NJW 1988,1116 (1119 f.).

30

§ 2 Die Vermutungen des GWB

trachtung ankommt.54 Demgemäß meinen einige Autoren, der Gegenteilsbeweis nach § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB sei beschränkt, wenn man den Begriff der "Wettbewerbsbedingungen" nicht extensiv dahin auslege, daß er alle für den Wettbewerb nach dem Zusammenschluß bedeutsamen Umstände erfasse. 55 Der Kern dieses (Schein-)Problems besteht in der unzulässigen Einengung des Begriffs "Wettbewerbsbedingungen" auf "Marktstrukturkriterien". Dies soll am Beispiel des Zusammenhangs zwischen "Wettbewerbsbedingungen" und dem Marktverhalten bei der anzustellenden Prognose der Zusammenschlußwirkungen verdeutlicht werden: Die Erwartung wesentlichen Binnenwettbewerbs als Zukunfisprognose ist an konkrete Umstände anzuknüpfen. 56 Dem vergangenen oder gegenwärtigen Marktverhalten ansich kommt nur die Bedeutung eines Indizes bei der Prognose zu. 57 Erst die Herausarbeitung bestimmter Faktoren, die zu diesem Verhalten ganz wesentlich beigetragen haben und die Erwartung, daß sich durch den Zusammenschluß an diesen Faktoren und ihrem Einflußpotential auf den Wettbewerbsablauf, insbesondere das zukünftige Marktverhalten, nichts wesentlich verändern wird, erlaubt die Berücksichtigung des Marktverhaltens im Rahmen der Prognose.58 Diese konstanten, den Wettbewerb wesentlich beeinflussenden Faktoren lassen sich direkt dem Wortsinn des Begriffs "Wettbewerbsbedingungen" unterordnen, ohne daß es notwendig wäre, hierunter das Marktverhalten selbst zu subsumieren oder "Wettbewerbsbedingungen" nur als "Marktstrukturkriterien" zu verstehen. Neben den Marktstrukturkriterien können auch sonstige den Wettbewerbsablauf wesentlich beeinflussende Faktoren die für die Prognose erforderliche Konstanz aufweisen. So hält das BKartA bei der Widerlegung des § 23a II GWB auch Markt-

54

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 20 f., auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 1.; Stellungnahme des Wirtschaftsaus-schusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, auszugsweise wiedergegeben in § 3 Π. 1.; der B G H hatte in der Fusionskontrolle für den Fall der Einzelmarktbeherrschung schon früh einen bestimmten Wirkungszusammenhang zwischen Marktstruktur und Marktverhalten vorausgesetzt und darin ein Argument für den Vorrang der Strukturbetrachtung in der Fusionskontrolle gesehen, vgl. BGH WuW/E 1501 (1510) "GKN/Sachs" = "Kfz-Kupplungen". 55 Knöpfte, NJW 1988, 1116(1120); ähnlich Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 68 f. 56

Allgemeine Meinung, vgl. nur Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 288. 57

KG WuW/E OLG 3051 (3072) "Morris/Rothmans"; BKartA AG 1986, 377 (381) "NUR/ITS"; BKartA AG 1987, 253 (254) "Hüls (VEBA)/Condea"; Huber in Frankfurter Komm, 21. Lfg. 1982, § 23a Rz. 161; Marken, BB 1986,1660 (1666); Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 411. 58 Wie hier Huber in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 162; Markert, BB 1986,1660 (1667).

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

31

Verhaltens- oder Unternehmensbesonderheiten für bedeutsam.59 Bei dieser Sichtweise liegt keine "Beschränkung" darin, daß der Gegenteilsbeweis beim Binnenwettbewerb nur auf "Wettbewerbsbedingungen" gestützt werden kann. Eine Beschränkung der Vermutungswiderlegung begründet schließlich Knöpfle 60 wie folgt: § 23a II 1, Halbs. 2 GWB verlange mit dem Nachweis, daß ein wesentlicher Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu erwarten ist, mehr, als fur die Widerlegung des § 24 I GWB erforderlich sei. Für die Widerlegung des § 24 I GWB genüge bereits der Nachweis, "daß Zweifel an dem Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung bestehen, die eine Wahrscheinlichkeit ausschließen". Diese Sichtweise beruht jedoch auf einer Verkennung des für die Entkräftung einer Vermutung erforderlichen Beweises. Die Entkräftung verlangt den vollen Beweis des NichtVorliegens der vermuteten Tatsache. Dieser Beweis ist Hauptbeweis, nicht Gegenbeweis. Für die Widerlegung reicht es also nicht aus, daß der Richter in seiner Oberzeugung unsicher geworden ist. Erst wenn er vom Gegenteil der vermuteten Tatsache voll überzeugt ist, ist die Vermutung widerlegt. 61 Da § 23a II GWB vermutet, daß die Verhältnisse keinen wesentlichen Binnenwettbewerb erwarten lassen,62 ist die Vermutung erst widerlegt, wenn feststeht, daß wesentlicher Binnenwettbewerb zu erwarten ist. 63 Eine "Beschränkung" oder Erschwerung der Vermutungswiderlegung liegt also auch insoweit nicht vor. Als Zwischenergebnis ist danach festzuhalten, daß es sich bei § 23 a II GWB um eine unbeschränkt widerlegliche Vermutung ftlr die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung durch einen Zusammenschluß handelt.

3. Die Abhängigkeitsvermutung des § 26 I I 3 GWB

Ebenso wie das allgemeine Mißbrauchsverbot des § 22 IV GWB bezweckt auch das speziellere Behinderungs- und Diskriminierungsverbot des § 26 II GWB in erster Linie den Schutz der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit aller Dritten im Einflußbereich marktmächtiger Unternehmen.64 Satz 1 des § 26 II GWB verbietet 59

BKartA AG 1986,377 (379) "NUR/ITS".

60

Knöpfle, Probleme der Vermutungen des § 23a GWB, NJW 1988,1116(1117-1119).

61

Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 18; Leipold in Stein/Jonas, 20. Aufl. 1987, §292 Rz. 15. 62

Huber in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 160.

63

Ähnlich die Widerlegung der einfachen Oligopolvermutungen nach §§ 22 ΠΙ 1 Nr. 2 i. V.m. 22 Π Halbs. 1 GWB für gegenwärtigen Binnenwettbewerb. 64 Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 288; Markert in Immenga/Mestmäcker, 6. Aufl. 1992, §26 Rz. 69.

GWB,

32

§ 2 Die Vermutungen des GWB

marktbeherrschenden und anderen marktmächtigen Unternehmen jede unbillige Behinderung oder ungerechtfertigt unterschiedliche Behandlung anderer Unternehmen in einem Geschäftsverkehr, der gleichartigen Unternehmen üblicherweise zugänglich ist. Satz 2 erweitert den Adressatenkreis dieses Verbots auf Unternehmen, von denen kleine oder mittlere Anbieter oder Nachfrager von Waren oder gewerblichen Leistungen derart abhängig sind, daß sie keine Möglichkeiten haben, auf andere Unternehmen auszuweichen (sog. relative Marktmacht oder vertikale Abhängigkeit65). Nach Satz 3 des § 26 II GWB wird sodann vermutet, daß ein Anbieter von einem Nachfrager abhängig i.S.v. Satz 2 ist, wenn dieser Nachfrager bei ihm zusätzlich zu den verkehrsüblichen Leistungsentgelten regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden. Widerlegt wird diese Abhängigkeitsvermutung durch die Feststellung, daß für den Anbieter ausreichende und zumutbare Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen.66 § 26 II GWB ist ein unmittelbar anwendbares verwaltungsrechtliches Verbot, dessen Verletzung Rechtsfolgen auf den Gebieten des Verwaltungsrechts, des Ordnungswidrigkeitenrechts 67 und des Zivilrechts hat. Im sog. objektiven Untersagungsverfahren nach § 37a II GWB können die Kartellbehörden ein gegen § 26 II GWB verstoßendes Verhalten auch dann durch Verwaltungsakt verbieten, wenn das handelnde Unternehmen kein Verschulden trifft. 68 Hierbei handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren i.S.d. §§ 51 ff GWB, hinsichtlich dessen auf die zu § 22 IV, V GWB gemachten Ausführungen verwiesen werden kann.69Da § 26 II GWB ein Schutzgesetz i.S.d. § 35 I 1 GWB ist, 70 können behinderte oder diskriminierte Unternehmen nach § 35 11 GWB vom verstoßenden Unternehmen Unterlassung und Schadensersatz verlangen. Hierbei handelt es sich um einen "normalen" Zivilrechtsstreit unter der Geltung der Verhandlungsmaxime,

65 Markert in Immenga/Mestmäcker, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 287.

GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 73; Emmerich,

66

Bechtold, GWB, Komm, 1993, § 26 Rz. 29.

67

S.o. § 1 Π.

68

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 329; Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 292. 69 70

Siehe oben §21. 1.

Ständige Rspr. des BGH, z.B. WuW/E BGH 442 (448) "Gummistrümpfe"; WuW/E BGH 886 (892) "Jägermeister"; WuW/E BGH 2341 (2342) "Taxizentrale Essen"; vgl. aus dem Schrifttum nur Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 299; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 330.

I. Die fraglichen Normen und ihr Wirkungsbereich

33

für den nach §§ 87, 96 I GWB in erster Instanz ausschließlich die Kammern für Handelssachen der Landgerichte zuständig sind. Während die Abhängigkeitsvermutung des § 26 II 3 GWB seit der 5. GWBNovelle von 1989 nicht nur im Verwaltungsverfahren nach § 37a GWB, sondern auch in Zivilrechtsstreitigkeiten nach §§ 26 II, 35 GWB anwendbar ist, 71 herrscht über den Anwendungsbereich der Marktbeherrschungsvermutungen des § 22 III GWB im Zivilprozeß Unklarheit. Umstritten ist zum einen, ob § 22 IV GWB als Schutzgesetz i.S.v. § 35 11 GWB anzusehen ist mit der Folge, daß Dritte sich selbst durch zivilrechtliche Schadensersatz- und Unterlassungsklagen gegen Mißbräuche wirtschaftlicher Macht durch marktbeherrschende Unternehmen wehren können. Die Rechtsanwendungspraxis72 und das überwiegende Schrifttum 73 hatten es bereits vor der 4. GWBNovelle von 1980 abgelehnt, § 22 IV GWB als Schutzgesetz anzuerkennen. Der Gesetzgeber der 4. GWB-Novelle hat sodann ausdrücklich davon Abstand genommen, § 22 IV GWB in ein Schutzgesetz umzuwandeln und sich statt dessen auf andere Maßnahmen zur Schließung der "Sanktionslücke" bei § 22 IV GWB beschränkt. 74 Angesichts dessen ist es heute nicht mehr vertretbar, § 22 IV GWB Schutzgesetzqualität beizumessen.75 Zum anderen ist umstritten, ob die Vermutungen des § 22 III GWB zur Feststellung von "Marktbeherrschung" i.S.v. § 26 II 1 GWB im Rahmen von Zivil71

So der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers der 5. GWB-Novelle, der die seit der 4. GWB-Novelle von 1980 bestehende Beschränkung des § 26 Π 3 GWB auf das Untersagungsverfahren nach § 37a Π GWB mit der Begründung aufhob, § 26 Π 3 GWB solle "auch im Zivilprozeß Vermutungswirkung entfalten", vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der 5. GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22. 72

WuW/E BGH 995 (998) "Taxiflug" = BGHZ 51, 61 (66 ff.); WuW/E BGH 1299 (1300) "Strombezugspreis"; OLG Frankfurt WuW/E OLG 1194 (1198) "Stromversorgung für US-Streitkräfte"; KG WuW/E OLG 1758 (1762) "Weichschaum Π"; WuW/E OLG 1813 (1815) "Medizinischer Badebetrieb"; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 1536 (1540) "Umstellung auf Erdgas". 73

Statt vieler K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, 1977, S. 130, 226, 269, 380 ff ; Göll, WuW 1976,291 (293 ff). 74

Insbesondere auf die Mehrerlösabschöpfung nach § 37b GWB sowie die Einfügung des neuen § 35 Π GWB, vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 15,25 sowie die Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 28. 75 Ebenso Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 201. A.A. dennoch Emmerich in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 35 Rz. 54, mit dem Argument, diese Vorstellung des Gesetzgebers habe keinen zwingenden Ausdruck im Wortlaut des § 35 Π GWB gefunden.

3 Ittner

34

§ 2 Die Vermutungen des GWB

rechtsstreitigkeiten nach §§ 26 II, 35 GWB anwendbar sind. Auf die hiermit zusammenhängenden Fragen wird in § 8 dieser Untersuchung ausführlich einzugehen sein.76 Anwendbar sind die Vermutungen des § 22 III GWB nach herrschender Meinung schließlich im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nach §§ 26 II, 37a II GWB zur Feststellung von "Marktbeherrschung" i.S.v. § 26 II 1 GWB. 77

II. § 26 V GWB Als gesetzliche Vermutung wird im Schrifttum 78 unzutreffenderweise auch die Vorschrift des § 26 V GWB eingeordnet. Dies verdeutlichen Entstehungsgeschichte und Zweck der Norm. Der Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle von 1989 hatte bei der Schaffung des Behinderungsverbots des § 26 IV GWB eine Beweislastregelung in einem Absatz 5 ausdrücklich abgelehnt und stattdessen auf die von der Rechtsprechung entwickelte Aufklärungspflicht des Beklagten im Prozeß sowie auf das Rechtsinstitut des Anscheinsbeweises hingewiesen.79 Zwar kam es im federführenden Wirtschaftsausschuß dennoch zu einer gesetzlichen Regelung in Absatz 5, doch herrschte Einigkeit darüber, daß in § 26 V GWB nur das geltende Richterrecht zum Anscheinsbeweis und zur Aufklärungspflicht des Beklagten kodifiziert werden sollte, ohne damit eine Änderung des geltenden (Richter-)Rechts oder eine Beweislastumkehr zu verbinden.80 Demgemäß besteht auch im Schrifttum Einigkeit darüber, daß die Norm nur eine deklaratorische Kodifizierung erstens des Anscheinsbeweises und zweitens der in der Rechtsprechung zu § 3 U WG entwickelten "Bärenfang-Doktrin" 81 darstellt, wonach im Einzelfall in Abweichung von der 76

Siehe unten § 8.

77

WuW/E BKartA 1817 (1819) "Fertigfutter"; WuW/E BKartA 1781 (1783) "Identteile"; Langen/Bunte, Komm, zum KartR, 7. Aufl. 1994, § 26, Rz. 62; Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 89; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 289 f.; Kouker GRUR 1986, 31 (34); Immenga, GRUR 1989, 146; Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 79; a.A. Benisch in Gemeinschaftskomm, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Π Rz. 13; Müller/Giessler/Scholz, GWB, 4. Aufl. 1981, § 26 Π Rz. 42. 78

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 326 und 327.

79

Begründung zum Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle, BT-Drs. 11 /4610,S. 11.

80

Vgl. hierzu insbesondere die Rede des Bundesministers für Wirtschaft anläßlich der dritten Lesung des Entwurfs im Bundestag am 7.12.1989, auszugsweise wiedergegeben bei Hucko, WuW 1990,618 (620 f.), sowie den Bericht des Wirtschaftsausschusses, BT-Drs. 11/ 5949, S. 21; ferner Hucko, WuW 1990,618 (619 ff.). 81

BGH GRUR 1963,270 (271) "Bärenfang"; BGH GRUR 1983,650 (651) "Kamera".

Π. § 26 V GWB

35

grundsätzlichen Beweislastverteilung eine Aufklärungspflicht des wegen Unrichtigkeit von Werbebehauptungen in Anspruch genommenen Beklagten anzunehmen ist, "wenn dem außerhalb des Geschehensablaufs stehenden Kläger eine genaue Kenntnis der rechtserheblichen Tatsachen fehlt, der Beklagte sie dagegen hat und leicht die erforderlichen Aufklärungen beibringen kann". 8 2 Die Institute des Anscheinsbeweises und des "qualifizierten Bestrebens" bzw. der "sekundären Behauptungslast" 8 3 haben jedoch mit der Regelung der objektiven Beweislast als dem Wesen gesetzlicher widerleglicher Vermutungen 84 nichts zu tun. Das qualifizierte Bestreiten und der Anscheinsbeweis gehören in den Bereich der Sachverhaltsaufklärung und Oberzeugungsbildung, 85 welcher von der Beweislast klar getrennt ist. 8 6 § 26 V G W B stellt somit keine gesetzlich widerlegbare Vermutung dar.

82

Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 389 f. spricht von einem deklaratorischen Hinweis auf bereits bestehende richterrechtliche Beweisgrundsätze; Hucko, WuW 1990, 618 (620 f.) meint, die Rechtsprechung werde der Beweisregelung am besten gerecht, wenn sie sie so anwende, als ob es sie gar nicht gebe. 83 Qualifiziertes Bestreiten kann aus Treu und Glauben erforderlich sein, wenn dem Darlegungspflichtigen ein substantiierter Vortrag nicht möglich oder unzumutbar ist, der Gegner hingegen die erforderlichen Informationen hat oder in der Lage ist, sich diese leicht zu verschaffen (BGH NJW 1981, 577; NJW 1985, 264; NJW 1986, 3194; NJW 1990, 3151; DB 1987, 1680; JZ 1987, 684 m.w.N.; Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rzn. 34,97,312; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 138 Rz. 10, Vor §284 Rz. 34). Vgl. hierzu auch § 8 Π. 84

Dies darf heute als geklärt bezeichnet werden, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 48 f.; ders. in MünchKomm. zur ΖΡΟ,Ι. Aufl. 1992, § 292 Rz. 21; Leipold\ Beweislastregeln, 1966, S. 85 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 71 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 11414; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 80 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 364 f. 85

Für den Anscheinsbeweis: Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 97 ff., 100 ff., 110; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 114 I 4; für das qualifizierte Bestreiten bzw. die sekundäre Behauptungslast: Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 34; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, Vor § 284 Rz. 34. 86 Ganz herrschende Meinung, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 17, 58 f.; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 62 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38.

3*

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien Ohne eine Befassung mit der Entstehungsgeschichte der Vermutungen und den Materialien zu den verschiedenen GWB-Novellen wird der Streit 1 um verfahrensund verfassungsrechtliche Aspekte der Normen nicht recht verständlich. Das historische und teleologische Verständnis der Normen ermöglicht über die Lösung der zu behandelnden Rechtsfragen hinaus auch die Aufklärung zahlreicher Mißverständnisse. Erschwert wird die Arbeit mit den Motiven dadurch, daß die an den verschiedenen Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe zur Wirkung der Vermutungen mißverständliche und widersprüchliche Stellungnahmen abgegeben haben.

L Die zweite GWB-Novelle vom 5.8.1973 Die ersten Vermutungstatbestände fügte der Gesetzgeber im Rahmen der zweiten GWB-Novelle von 1973 mit § 22 III GWB in das Gesetz ein. Sie waren Teil des legislativen Bemühens, die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen wirksamer auszugestalten,2 weil den Kartellbehörden die Quantifizierung der Wettbewerbsintensität und des Marktergebnisses im Hinblick auf den Begriff der "Marktbeherrschung" außerordentliche Schwierigkeiten bereitete und "in fast allen untersuchten Fällen" der Nachweis der Marktbeherrschung nicht gelang.3 Die große Verunsicherung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe beim Betreten dieses Neulandes im GWB schlug sich deutlich in einer mißverständlichen und widersprüchlichen Einordnung der Vermutungen nieder. So heißt es in der Begründung zum Entwurf der damaligen SPD/FDP-Regierung4: "Der neue § 22 Abs. 1 Satz 3 sieht eine widerlegliche Vermutung vor, welche die Anwendung der Sätze 1 und 2 erleichtem soll. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann bereits bei 1

Vgl. hierzu eingehend § 4.

2

So die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/76, S. 14.

3

Weitere Nachweise zu den Schwierigkeiten bei der Mißbrauchsaufsicht und den verschiedenen Referentenentwürfen vor der 2. GWB-Novelle bei Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 30-38. 4 Der in der 7. Wahlperiode vorgelegte Regierungsentwurf (BT-Drs. 7/76) entsprach vollinhaltlich dem von der Bundesregierung in der 6. Wahlperiode vorgelegten Entwurf (BT-Drs. VI/2520, Abschnitte I - ΙΠ), vgl. BT-Drs. 7/76, S. 17. Wegen der vorzeitigen Auflösung des 6. Deutschen Bundestages kam es damals nicht zu einer endgültigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes.

. Die

ete GWB-Novelle vom

..19

37

einem Marktanteil von 40 v.H. angenommen werden, daß Marktbeherrschung vorliegt, wenn das übrige Angebot oder die übrige Nachfrage zersplittert ist."5 "Die Vermutung des § 22 Abs. 2 Satz 2 ist widerleglich. Sie kehrt, wie die Vermutung in Absatz 1 Satz 3, lediglich die Beweislast in dem Sinne um, daß die Kartellbehörde sich darauf beschränken kann, die Voraussetzungen der Vermutung nachzuweisen. Auch wenn danach die Vermutung eingreift, ist der Gegenbeweis, daß nämlich die Voraussetzungen des § 22 Abs. 2 Satz 1 nicht gegeben sind, möglich. Die vorgeschlagenen Vermutungen legen die Anwendung des Absatzes 1 Sätze 1 und 2 sowie des Absatzes 2 nicht fest." 6 Die Tatsache, daß den betroffenen Unternehmen hier nicht nur die objektive Beweislast, sondern auch die Gegenteilsbeweisfuhrungslast infolge Beschränkung der Amtsermittlungspflicht zugedacht war, forderte i m Schrifttum 7 sowie i m Hearing des Wirtschaftsausschusses am 8./9. 12.1971 8 erhebliche verfassungsrechtliche Kritik heraus. Unter dem Eindruck dieser Bedenken lautete die Einschätzung der Vermutungswirkungen i m Bericht des federführenden Wirtschaftsausschusses 9 wesentlich zurückhaltender: "Der Ausschuß hat bei der Erörterung der Vermutungen festgestellt, daß es sich dabei nicht um Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne handelt. Die Vermutungen sind vielmehr ihrer Art nach eher "Aufgreiftatbestände", durch die die Kartellbehörde in diesen Fällen zur Einleitung des Verfahrens veranlaßt werden soll; denn es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß schon bei den in den Vermutungen genannten Marktanteilen eine marktbeherrschende Stellung besteht. Liegen die Vermutungs-Vorausset-

5

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. VI/ 2520, S. 23. Die entworfene Vermutung des § 22 13 GWB wurde im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Vorschlag des Wirtschaftsausschusses mit der entworfenen Vermutung des § 22 Π 2 GWB in § 22 ΠΙ GWB zusammengefaßt und der Marktanteil wurde auf Vorschlag des Ausschusses von 40 % auf 33 1/3 % gesenkt, vgl. BT-Drs. 7/765, S. 6. Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. VU 2520, S. 24. Die entworfene Vermutung des § 22 Π 2 GWB wurde im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens auf Vorschlag des Wirtschaftsausschusses mit der entworfenen Vermutung des § 2213 GWB in § 22 ΠΙ GWB zusammengefaßt und auf Vorschlag des Ausschusses wurden auch für das marktbeherrschende Oligopol auf den Marktanteil abstellende Vermutungen eingeführt, vgl. BT-Drs. 7/765, S. 6. 7

Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 94 ff.; Knöpfle, BB 1970,717 (722 f.); Leo, WRP 1970,197 (200 ff.); ders., WRP 1972, 1 (12 ff.). 8

Uhling, Protokolle VI/53, S. 57; Rittner, Protokolle VI/54, S. 32 f; Oeringer, Protokolle VI/54, S. 36; alle zitiert nach Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 65. 9

Bericht der Abgeordneten Dr. Frerichs und Dr. Jens, BT-Drs. 7/765 = WuW 1973, S. 581 ff.

38

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

zungen vor, so hat die Behörde aufgrund der in diesem Verfahren geltenden Offizialmaxime von Amts wegen allen von den Unternehmen substantiiert vorgebrachten Einwänden nachzugehen, daß sie trotz des die Vermutung begründenden Marktanteils wesentlichem Wettbewerb ausgesetzt sind und nicht über eine im Verhältnis zu ihren Mitbewerbern überragende Marktstellung verfugen. Lassen sich diese Gegengründe nicht feststellen, so ist davon auszugehen, daß Marktbeherrschung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Diese Auslegung entspricht auch der Auffassung des Rechtsausschusses, der eine andere Interpretation der Vermutungen auch flir rechtspolitisch bedenklich hält." 10

Tatsächlich entsprach diese Auslegung jedoch nicht der noch restriktiveren Auffassung des Rechtsausschusses, wie dessen Stellungnahme zum Regierungsentwurf zeigt: "Da es sich bei den Mißbrauchsverfahren nach § 22 GWB um förmliche Verwaltungsverfahren handelt, gelten für die Vermutungen nicht die Grundsätze über die Beweisführung im Zivilprozeß. Insbesondere bleibt die aus der Offizialmaxime folgende Ermittlungspflicht der Kartellbehörden, wie sie in den Vorschriften des GWB über das Verwaltungsverfahren (§§51 ff.) festgelegt ist, unberührt. Die Vermutungen haben nach Auffassung des Rechtsausschusses den Charakter von "Aufgreiftatbeständen" in dem Sinne, daß die Kartellbehörde bei Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen in die Prüfung der "Marktbeherrschung" eintreten muß. Bei dieser Prüfung hat die Behörde alle für die Marktbeherrschung nach § 22 Abs. 1 relevanten Tatsachen, die entweder der Behörde aufgrund ihrer Ermittlungen bekannt oder von den Unternehmen vorgetragen sind, zu berücksichtigen, um die Voraussetzungen der Marktbeherrschung nach § 22 Abs. 1 feststellen zu können. Eine Verfügung der Kartellbehörde kann nur ergehen, wenn diese Gesamtprüfung ergibt, daß dem Marktanteil in Höhe des Vermutungstatbestandes keine Umstände gegenüberstehen, aus denen das Vorliegen "wesentlichen Wettbewerbs" oder das Fehlen einer "überragenden Marktstellung" folgt. Nach Auffassung des Rechtsausschusses wäre es rechtspolitisch bedenklich, den Vermutungen eine andere Auslegung zu geben."11

Verdeutlicht werden die im Rechtsausschuß sehr kontrovers erörterten Bedenken gegen die Vermutungstatbestände12 durch die Rede des Berichterstatters des Rechtsausschusses, des Abgeordneten Alber (CDU/ CSU), im Bundestag am 14.6.1973: "Die schwerwiegendsten rechtlichen Bedenken bestehen jedoch gegenüber den Vermutungstatbeständen. Sie widersprechen nicht nur der im Gesetz verankerten Untersuchungsmaxime. (...) 10

Bericht des Wirtschaftsausschusses, BT-Drs. 7/765, S. 6; weitere Nachweise zu den Beratungen im Wirtschaftsausschuß bei Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 39 f., 44. 11 Stellungnahme des Rechtsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/765, S. 14; weitere Nachweise zu den Beratungen im Rechtsausschuß bei Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 40-43. 12

Zu den Kontroversen im einzelnen Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 40 ff.

Π. Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

39

Auch verfahrensmäßige Bedenken sind hier vorzubringen. Die Kartellbehörde ist ermittelnde und entscheidende Behörde. Ganz anders verhält es sich bei einer Vermutung im bürgerlichen Recht. Deijenige, zu dessen Gunsten die Vermutung spricht, kann nicht auch gleichzeitig über die Rechtsfolgen entscheiden. Außerdem können Vermutungen nur auf solche typischen Sachverhalte gestützt werden, bei denen die Schlußfolgerung im Regelfall auch tatsächlich zutrifft. Aus einem prozentual bestimmten Marktanteil allein kann jedoch, wie sich aus mehreren höchstrichterlichen Entscheidungen ergibt, in der Regel nicht auch auf eine Marktbeherrschung geschlossen werden. Es widerspricht auch generell dem Verwaltungsrecht, belastende Verwaltungsakte auf Vermutungen zu stützen. (...) Leider ist es nicht gelungen, im Gesetzestext selbst klarzustellen, daß die Vermutungen nur den Charakter von Aufgreiftatbeständen haben können und die Behörde nicht von einer Ermittlungspflicht befreien. Diese Auffassung war einheitliche Meinung des Rechtsausschusses."13 Rückblickend spricht die Bundesregierung in ihrer Begründung zur vierten G W B Novelle davon, die Vermutungen des § 22 I I I G W B hätten "die praktische Handhabung der Mißbrauchsaufsicht erleichtert". 14 Ahnlich formuliert der Wirtschaftsausschuß in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle: "Er [= der Ausschuß, Anm. d. Verf.] verkennt nicht, daß die Fusionskontrolle vor allem aufgrund der entscheidungserleichternden Vermutungen des § 22 Abs. 3 dazu beigetragen hat, im Bereich der horizontalen Unternehmenszusammenschlüsse die Konzentrationstendenzen zu verringern." 15

I I . Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980 Die Einführung der Vermutungen des § 23 a G W B geht auf einen Vorschlag der Monopolkommission zurück. 16 Die Fusionskontrolle hatte in den ersten Jahren nach

13 Rede des Abgeordneten A Iber im Bundestag am 14.6. 1973, auszugsweise abgedruckt in WuW 1973, 599 f. 14 Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 14; ebenso Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tzn. 911 ff; ähnlich die Stellungnahme der Bundesregierung zum Jahresbericht 1973 des BKartA, BT-Drs. 7/22, S. Π: "erheblich größere Zahl von Mißbrauchsverfahren gegen marktbeherrschende Unternehmen eingeleitet als bisher". 15 Stellungnahme des Ausschusses für Wirtschaft zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26. 16

Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tzn. 951 ff ; Hauptgutachten Π, Tzn. 463 ff ;

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§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

1973 bei anderen als horizontalen Zusammenschlüssen nur unzulänglich funktioniert. 17 Grund hierfür war, daß für die Untersagungsvoraussetzungen vertikaler und konglomerater Zusammenschlüsse keine Vermutungen zur Verfügung standen, da § 22 III GWB auf Marktanteile abstellt und durch vertikale und konglomerate Zusammenschlüsse kaum je die Marktanteile erhöht werden. Vielmehr kommt es in erster Linie auf die Finanzkraft des Übernehmers und auf deren Wettbewerbswirkungen im Markt des übernommenen Unternehmens an.18 Zudem hatte das GWB in wichtigen Bereichen bestimmte Arten der Konzentration nicht verhindert, sondern gefördert. Insbesondere der nach § 24 VIII GWB a.F. nicht kontrollpflichtige Erwerb von Unternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 50 Mio. D M hatte in mehreren Industriezweigen das Eindringen von Großunternehmen in Märkte mittelständischer Unternehmen begünstigt und zu kumulativen und sich beschleunigenden Konzentrationsprozessen geführt 19 (Fusionen der Wettbewerber als Kettenreaktion). Die erwerbenden Unternehmen dehnten durch die Zusammenschlüsse ihre Tätigkeit in der Regel auf vorgelagerte Märkte aus (sog. vertikale Integrationen), was bei den dortigen Wettbewerbern wegen der mit der Größe der erwerbenden Unternehmen verbundenen strukturellen Wettbewerbsvorteile zur unternehmerischen Risikoerhöhung und zu Einschüchterungs- und Entmutigungswirkungen führte, da die kleineren Wettbewerber die besondere Größe subjektiv mit Stärke und einer geringeren Konkursgefährdung gleichsetzten.20 Die Monopolkommission hatte empfohlen, dieser Entwicklung durch die Einführung von Vermutungstatbeständen entgegenzuwirken.21 Zwar ließen sich die aufgetretenen Schwierigkeiten bereits nach geltendem Recht bekämpfen, doch sollten die zugrundeliegenden Rechtsfragen durch Vermutungstatbestände "geklärt"

zustimmend die Stellungnahme der Bundesregierung zum ersten Hauptgutachten der Monopolkommission, BT-Drs. 8/702, Tzn. 50 ff. 17 Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tzn. 342 ff.; Hauptgutachten Π, Tzn. 342 ff.; Hauptgutachten ΙΠ, Tzn. 400 ff.; Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWBNovelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13; bis 1978 wurden von 2.119 angezeigten Zusammenschlüssen nur 3 untersagt, vgl. Nagel, DB 1979, 1021 (1022) mit entsprechender Statistik.

"Schütz, OB 1979,197; Herrmann, BB 1989,1213 (1214). 19

BKartA, Tätigkeitsbericht 1977, BT-Drs. 8/1925, S. 16 ff; Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tz. 855; Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13; Nagel, DB 1979,1021 (1022 f.). 20

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 20,Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 2 f.; Wolf, WuW 1980,462 (469). 21

Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tzn. 950 ff., zustimmend zum Fusionsteil des Regierungsentwurfes sodann Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 466 ff.

Π. Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

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werden. 22 Die Bundesregierung stimmte den Überlegungen der Monopolkommission im wesentlichen zu.23 Während des Gesetzgebungsverfahrens wurden verschiedene Alternativen zu den neuen Vermutungen erörtert. 24 Kritisiert wurde am Regierungsentwurf vor allem die Unzulänglichkeit des isolierten Marktmachtkonzepts bei vertikalen und konglomeraten Zusammenschlüssen. Die als rechtstechnisch empfundenen Vermutungen schafften zwar Beweiserleichterungen auf tatsächlicher Ebene, könnten aber materiellrechtliche Regelungslücken nicht ersetzen.25 Das BKartA schlug vor, bereits Fusionen zu untersagen, die geeignet waren, die Wettbewerbsbedingungen wesentlich zu verschlechtern (Stichwort: "Abkopplung der Fusionskontrolle von der Marktbeherrschung"). 26 Die Bundesregierung lehnte diesen Vorstoß unter Hinweis auf ordnungspolitische und verfassungsrechtliche Risiken einer zu weitgehenden Ausdehnung des kartellbehördlichen Beurteilungsspielraums ab. Zudem werde durch die Absenkung der Untersagungsschwelle der Machtbezug der Fusionskontrolle und damit ihre ordnungs- und gesellschaftspolitische Legitimationsbasis beeinträchtigt. 27 Als weitere Alternative zu den Vermutungstatbeständen hatte die Bundesregierung während der Beratungen im Wirtschaftsausschuß eine sog. "Potentiallösung" zur Diskussion gestellt. Danach sollte ein Zusammenschluß schon dann untersagt werden, wenn er geeignet war, das zusammengeschlossene Unternehmen "in die Lage zu versetzen, eine marktbeherrschende Stellung zu begründen oder zu verstärken". Der Wirtschaftsausschuß hielt jedoch aus Gründen der Rechtssicherheit an den im Regierungsentwurf enthaltenen Vermutungsregelungen fest. 28 Die bereits in den Materialien zur zweiten GWB-Novelle hervorgetretenen unterschiedlichen Auffassungen bei der Einordnung der Vermutungswirkungen setzten sich im Gesetzgebungsverfahren zur vierten Novelle fort. 22

Monopolkommission, Hauptgutachten I, Tzn. 951 ff.

23

Stellungnahme der Bundesregierung zum ersten Hauptgutachten der Monopolkommission, BT-Drs. 8/702, Tzn. 49 ff. 24

Näher zu den erörterten Alternativen Wolf, WuW 1980,462 (468); Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 10 ff. 25

Marken, BB 1978,678 (691, Anm. 46).

26

BKartA, Tätigkeitsbericht 1976, BT-Drs. 8/704, S. 20 ff.; kritisch dazu die Mehrheit der Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 475 ff. 27

Stellungnahme der Bundesregierung zum Tätigkeitsbericht des BKartA 1977, BT-Drs. 8/704, S. Π; ebenso das Mehrheitsvotum der Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 476 f. 28 Vgl. die Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 23; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 5; Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 12.

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§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien 1. Die Vermutungen des § 23a I GWB

In der Begründung zum Regierungsentwurf heißt es: "Vertikale und konglomerate Zusammenschlüsse sind zwar über das Merkmal der überragenden Marktstellung grundsätzlich faßbar. Der Nachweis der Untersagungsvoraussetzungen im konkreten Einzelfall bereitet jedoch erhebliche Schwierigkeiten und scheitert meist daran, daß für diese Fälle nicht wie bei horizontalen Zusammenschlüssen Vermutungen bestehen, die dem Bundeskartellamt und den Gerichten konkrete Anhaltspunkte bei der Entscheidungsfindung liefern." 29 "Der Entwurf sieht zur Beseitigung der entstandenen Schwierigkeiten drei beweiserleichternde Vermutungstatbestände für vertikale und konglomerate Zusammenschlüsse vor (§23a Abs. I)." 3 0 "Hinsichtlich der rechtlichen Bedeutung dieser Vermutungstatbestände gelten in vollem Umfang die Feststellungen, die der Wirtschaftsausschuß und der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages anläßlich der Einfuhrung der Marktbeherrschungsvermutungen in § 22 Abs. 3 getroffen haben (vgl. Drucksache 7/765, S. 6 und S. 14). 31 " "Die neuen Vermutungen des § 23a Abs. 1 sollen für die Anwendung der Fusionskontrolle nach § 24 bei vertikalen und konglomeraten Zusammenschlüssen die gleichen Beweiserleichterungen bewirken, die mit § 22 Abs. 3 bereits nach geltendem Recht bei horizontalen Zusammenschlüssen vorgesehen sind. Liegen die Vermutungsvoraussetzungen vor, so kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß durch den jeweiligen Zusammenschluß eine überragende Marktstellung entsteht oder verstärkt wird. Die vorgeschlagenen Vermutungen legen dabei die Anwendung des § 24 nicht fest." 32 "Absatz 1 Nr. la enthält eine Vermutung fur den Zusammenschluß von Großunternehmen mit anderen Unternehmen, die auf mittelständischen Märkten tätig sind. In solchen Fällen muß erfahrungsgemäß von der Entstehung oder Verstärkung einer überragenden Marktstellung ausgegangen werden, weil den übrigen kleinen und mittleren Wettbewerbern nach dem Zusammenschluß ein zumindest finanzstark erscheinendes, oft vertikal oder konglomerat verflochtenes Unternehmen gegenübertritt. (...) Als Untergrenze für den Marktanteil der am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen sieht Nr. la insgesamt 5 % vor. Unterhalb dieser Grenze führt ein Zusammenschluß mit einem Großunternehmen in der Regel nicht zur Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung gegenüber den übrigen mittelständischen Wettbewerbern." 33

29

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 13.

30

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 13.

31

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 13.

32

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 19.

33

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 20.

Π. Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

43

"Der neue § 23a Abs. 1 Nr. 1 gibt (...) jetzt konkrete Anhaltspunkte dafür, wann sich Zusammenschlüsse zwischen großen und kleinen und mittleren Unternehmen dem Untersagungsbereich nähern." 34 "Absatz 1 Nr. lb sieht eine Vermutung für die vertikale und konglomerate Verbindung von Unternehmensgröße und Marktbeherrschung vor. Wenn sich ein großes Unternehmen mit einem anderen Unternehmen zusammenschließt, das auf einem oder mehreren Märkten marktbeherrschend ist, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Verstärkung der bestehenden marktbeherrschenden Stellungen geschlossen werden." 35 "Absatz 1 Nr. 2 trägt der Erfahrung Rechnung, daß bei Zusammenschlüssen von einer Größenordnung ab 10 Milliarden Deutsche Mark Gesamtjahresumsatz angenommen werden kann, daß zumindest in Teilbereichen, auf denen die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen tätig sind, allein als Folge der Ressourcenkumulation überragende Marktstellungen entstehen oder verstärkt werden." 36

Demgegenüber wollte der Bundesrat § 23 a GWB aus dem Entwurf streichen. In seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf führt er aus: "Im Gegensatz zu den für horizontale Zusammenschlüsse geltenden Marktbeherrschungsvermutungen des § 22 Abs. 3 GWB, die auf die Marktanteile abstellen, damit markt- und wettbewerbsbezogen und widerlegbar sind, ist für die vier neuen Vermutungstatbestände der Umsatz und damit die Untemehmensgröße alleiniges Kriterium. Die vorgesehenen Vermutungen lassen sich kaum widerlegen; die Umsatzgröße wird damit zum Untersagungskriterium. Es handelt sich um materielle Rechtsänderungen, die grundsätzlich verhindern würden, daß große Unternehmen sich an Zusammenschlüssen beteiligen."37

Die Bundesregierung stimmte dem Streichungsvorschlag nicht zu. In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates führte sie aus: "In ihrer Begründung zum Gesetzentwurf hat die Bundesregierung darauf hingewiesen, daß die Wahl des Umsatzes und damit die Untemehmensgröße als ein wesentliches Vermutungskriterium gerechtfertigt ist, weil bereits die disproportionale, nach außen sichtbar werdende Untemehmensgröße an sich zu Risiken für den Wettbewerb führt. Damit wird jedoch der Markt- und Wettbewerbsbezug der Fusionskontrolle nicht aufgegeben. 38 (...) Bei den Marktverhältnissen setzen auch die Widerlegungsmöglichkeiten ein. Wird im Einzelfall nachgewiesen, daß die konkreten Marktverhältnisse gegen die Erwartung der 34

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 23.

35

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 21.

36

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 21.

37

Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 35; zustimmend K. Schmidt, ZRP 1979,38 (42). 38

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 37.

44

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

Entstehung oder Verstärkung einer überragenden Marktstellung durch den Zusammenschluß sprechen, so sind die Vermutungen widerlegt, auch wenn sämtliche ihrer Voraussetzungen erfüllt sind. (...) Vor diesem Hintergrund ist mit den neuen Vermutungen eine Unwiderlegbarkeit und damit eine im Ergebnis auf ein Fusionsverbot hinauslaufende materielle Rechtsänderung nicht verbunden." 39

Der federführende Wirtschaftsausschuß ordnete in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf 10 die Vermutungen des § 23a I GWB folgendermaßen ein: "Die einzelnen Vermutungen umschreiben konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen und geben auf diese Weise der Verwaltungspraxis und den Gerichten deutliche Orientierungshilfen. Der Ausschuß ist sich mit dem Rechtsausschuß einig, daß es sich bei den Tatbeständen des § 23a Abs. 1 - wie schon anläßlich der zweiten Kartellgesetznovelle zu § 22 Abs. 3 festgestellt - nicht um Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne, sondern ihrem Rechtscharakter nach "eher um Aufgreiftatbestände" handelt, deren Vorliegen im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Offizialmaxime das Entstehen oder die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung indiziert." 41

Sodann wiederholte der Ausschuß wörtlich seine anläßlich der zweiten GWBNovelle geäußerte Interpretation der Vermutungen des § 22 III GWB 42 und bekräftigte diese.43 Anschließend führte er weiter aus: "Die Bestimmung [= § 23a I GWB, Anm. d. Verf.] unterstreicht den bereits im geltenden Recht angelegten Gedanken der Gefahrenabwehr. Überragende Marktstellungen müssen wie schon § 22 Abs. 1 Nr. 2 ergibt - nicht mit hohen Marktanteilen verbunden sein (...). Diesen Grundsatz nehmen die neuen Ressourcenvermutungen auf, indem sie Zusammenschlüsse, die durch das Entstehen bzw. die Beteiligung von disproportionalen Untemehmensgrößen gekennzeichnet sind, als wettbewerbliche Risikolagen umschreiben, die zu Marktbeherrschung oder zu ihrer Verstärkung tendieren. Der Bundesgerichtshof hatte in seiner Entscheidung zum Zusammenschlußvorhaben SACHS/GKN 44 (...) ausgeführt, daß "jedenfalls bei Zusammenschlüssen mit einem besonders finanzstarken und weit diversifizierten Unternehmen die Gefahr einer wettbewerbsbeschränkenden Wirkung vor39

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 40

Bericht der Abgeordneten Dr. Waigel und Dr. Jens.

41

Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26. 42

Vgl. die Interpretation der Vermutungswirkungen des § 22 ΠΙ GWB im Bericht des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der zweiten GWB-Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6 = WuW 1973, 581 (588). 43

Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26. 44

102.

BGH, Urteil vom 21.2.1978, WuW/E BGH 1501 "Kfz-Kupplungen" = BGHZ 71,

Π. Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

45

handen" und - so an anderer Stelle - "schon der Zuwachs an Finanzkraft zumeist geeignet ist, neue Wettbewerber vom Markteintritt oder vorhandene Wettbewerber von einer aggressiven Preispolitik abzuschrecken." § 23a Abs. 1 entwickelt diesen Gedanken fort und unterstreicht die entscheidende Bedeutung struktureller Gesichtspunkte für die Beurteilung der überragenden Marktstellung, ohne den Markt- und Machtbezug der Fusionskontrolle aufzugeben." 45 Der Rechtsausschuß verwies zum Rechtscharakter der neuen Vermutungen auf seine anläßlich der zweiten Kartellnovelle zu § 22 I I I G W B abgegebene Stellungnahme. 46

2 . § 23a Π GWB Oligopole sind die "crux jeder Wettbewerbspolitik". 4 7 Die Kontrolle horizontaler Zusammenschlüsse auf Oligopolmärkten hatte sich von Anfang an als schwierig und unzulänglich erwiesen. 48 Als besonders hinderlich in der Fusionskontrolle erwies sich der erforderliche Nachweis des fehlenden Binnenwettbewerbs i m Oligopol als Untersagungsvoraussetzung (§§ 24 I i. V.m. 22 I I G W B ) . 4 9 U m die Fusionskontrolle vom aktuellen Wettbewerbsverhalten der Oligopolisten unabhängig zu machen, 50 sah der Regierungsentwurf zur vierten GWB-Novelle einen gesonderten Untersagungstatbestand für Zusammenschlüsse auf oligopolistischen Märkten vor, der das Fehlen von Binnenwettbewerb unwiderleglich vermutete: 51 45 Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26 f. 46

Stellungnahme des Rechtsausschusses zum Regierungsentwurf der vierten GWBNovelle, BT-Drs. 8/3690, S. 35 "zu § 23" - gemeint ist § 23a - mit Verweis auf BT-Drs. 7/765, S. 14. 47

Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 406.

^BKartA, Tätigkeitsbericht 1978,BT-Drs. 8/2980, S. 25; Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 419 - 436; Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 12. 49

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 409; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 45; K. Schmidt, ZRP 1979, 38 (41). Die Erforderlichkeit dieses Nachweises in der Fusionskontrolle bestätigen KG WuW/E OLG 2234 (2236) "Bleiund Silberhütte Braubach" (= AG 1980, S. 228) sowie BGH WuW/E 1824 "Tonolli/Bleiund Silberhütte Braubach" (= AG 1982, S. 44). 50

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 22; Burrichter, 661 (662). 51

WuW 1982,

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 21 f.; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 45; Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 406.

46

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

"Für die Zusammenschlußkontrolle gelten auch zwei oder drei Unternehmen als marktbeherrschend, wenn sie auf einem Markt die höchsten Marktanteile und zusammen einen Marktanteil von 50 % erreichen, es sei denn, die Unternehmen in ihrer Gesamtheit haben im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung." (Satz 2 legte für die Geltung der Norm Umsatz- und Marktanteilsgrenzen fest.) Die in der Begründung zum Regierungsentwurf angeführten Erwägungen, die auch fur die später Gesetz gewordene geänderte Fassung gelten, 52 lauteten: "Für den Bereich gewichtiger, sehr enger Oligopole muß es wegen der Risiken, die hier von jeder weiteren Marktverengung durch Zusammenschluß ausgehen können, entscheidend auf die längerfristigen strukturellen Negativwirkungen insbesondere gegenüber den Außenseitern ankommen, nicht aber auf das aktuelle Wettbewerbsverhalten zwischen den Oligopolisten. (...) Existieren nach dem Zusammenschluß überhaupt keine Außenseiter mehr am Markt oder verfügen die Unternehmen, die das Oligopol bilden, in ihrer Gesamtheit im Außenverhältnis über eine überragende Marktstellung, so ist zu erwarten, daß durch den Zusammenschluß die strukturellen Voraussetzungen für den zukünftigen Wettbewerb erheblich verschlechtert werden." 53 "Umgekehrt wird das Entstehen oder die Verstärkung einer überragenden Marktstellung nicht angenommen werden können, wenn (...). 54 " Der Wirtschaftsausschuß lehnte den gänzlichen Verzicht auf die Untersagungsvoraussetzung "fehlender Binnenwettbewerb" jedoch ab und ersetzte die Fassung des Regierungsentwurfs durch die Gesetz gewordene "flexiblere Vermutungsregelung", 55 die stark den Oligopolvermutungen des § 22 I I I 1 Nr. 2 G W B ähnelt. 56 E i n wesentlicher Unterschied zu diesen besteht darin, daß die beteiligten Unternehmen zur Widerlegung der Vermutung die Erwartung wesentlichen Binnenwettbewerbs auch nach dem Zusammenschluß oder das Fehlen einer überragenden Marktstellung i m Außenverhältnis "nachweisen" müssen. Zur verfahrensrechtlichen Einordnung

52 Ebenso Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, Markert, BB 1986,1660.

GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 47;

53

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 21 f.

54

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 22.

55

Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 24, 27; der Ausschuß trug damit u.a. dem Bedenken Rechnung, daß "Aufholfusionen" im Oligopol nicht stets unerwünscht sind. 56 Vgl. dazu bereits § 2 I. 2. Der nur für die Fusionskontrolle geltende Vermutungstatbestand des § 23a Π GWB ist im Vergleich zu dem des § 22 ΙΠ 1 Nr. 2 GWB dadurch "qualifiziert", daß die Umsatzschwelle für die erfaßten Unternehmen von 100 Mio. D M (in § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB) auf 150 Mio. D M (in § 23a Π 2 GWB) angehoben wurde und die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen in § 23a Π 2 GWB insgesamt einen Marktanteil von mehr als 15 % erreichen müssen.

Π. Die vierte GWB-Novelle vom 26.4.1980

47

der Gesetz gewordenen Vermutungsregelung heißt es in der Stellungnahme des Ausschusses: "Der Ausschuß hat sich dafür entschieden, den Oligopoltatbestand in § 23a Abs. 2 der Regierungsvorlage durch eine flexiblere Vermutungsregelung zu ersetzen. (...) Um weiteren Strukturverschlechterungen auf oligopolistischen Märkten besser als bisher entgegenwirken zu können, sieht die Vorschrift des § 23a Abs. 2 (neu) in Abweichung von § 22 Abs. 2 und 3 eine Umkehr der Beweislast vor. Danach müssen die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen (...) nachweisen, daß die Wettbewerbsbedingungen auch nach dem Zusammenschluß zwischen ihnen auch weiterhin wesentlichen Wettbewerb erwarten lassen oder das Oligopol in seiner Gesamtheit gegenüber außenstehenden Wettbewerbern keine überragende Marktstellung erlangen oder verstärken wird. Wird ein solcher Nachweis nicht erbracht, geht das Gesetz davon aus, daß die Gesamtheit der Oligopolunternehmen marktbeherrschend ist. Dies bedeutet, daß die beteiligten Unternehmen - wie der Bericht des Wirtschaftsausschusses zur entsprechenden Formulierung der Abwägungsklausel des § 24 Abs. 1 anläßlich der 2. Kartellgesetznovelle festgestellt hat (Drucksache 7/765 S. 7) - die ihnen günstig erscheinenden vermutungswiderlegenden Tatsachen darzulegen und ggf. zu beweisen haben."57

3. §26 Π 3 GWB Wie § 22 G W B richtet sich auch § 26 I I G W B gegen die Ausnutzung der v o m Wettbewerb nicht hinreichend kontrollierten Handlungsspielräume marktmächtiger Unternehmen zu Lasten Dritter und die damit verbundenen Störungen des Marktgeschehens. 58 Durch die zweite GWB-Novelle von 1973 erweiterte der Gesetzgeber den Kreis der Normadressaten des Diskriminierunsverbotes auf solche Unternehmen, von denen kleine und mittlere Anbieter oder Nachfrager derart abhängig sind, daß ausreichende und zumutbare Möglichkeiten, auf andere Unternehmen auszuweichen, nicht bestehen (§ 26 I I 2 G W B ) . 5 9 In der Folgezeit traten vor allem Schwierigkeiten bei der Anwendung des § 26 I I G W B auf Diskriminierungen durch die Nachfrageseite auf, da sich dort das Kriterium hoher Marktanteile als A n haltspunkt zur Ermittlung von Marktmacht nur beschränkt eignet. 60 Zur Beseitigung

57

Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 27. 58

Markert in Immenga/Mestmäcker, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 288.

GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 69; Emmerich,

59

Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der zweiten GWB-Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 34. 60 Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16 und 24.

48

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

dieser Schwierigkeiten fügte der Gesetzgeber durch die vierte GWB-Novelle die Anbieter-Abhängigkeitsvermutung des § 26 I I 3 G W B in das Gesetz ein, welche zunächst auf das objektive kartellbehördliche Untersagungsverfahren des § 37a I I G W B beschränkt wurde. In der Begründung zum Regierungsentwurf heißt es: "Durch einen neuen Vermutungstatbestand (§ 26 Abs. 2 Satz 3) wird den Kartellbehörden eine Hilfe für die Feststellung der Abhängigkeit eines Anbieters von einem Nachfrager im Sinne von § 26 Abs. 2 Satz 2 gegeben. Als Indiz für eine solche Abhängigkeit gilt die Tatsache, daß ein Nachfrager zusätzlich zu den verkehrsüblichen Preisnachlässen (...) regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartige Nachfrager nicht erhalten und die ersichtlich nicht auf besonderen Leistungen des bevorzugten Nachfragers zugunsten des Anbieters beruhen. Auch bei diesem Vermutungstatbestand handelt es sich entsprechend den Feststellungen, die der Wirtschafts- und der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages anläßlich der Einführung der Marktbeherrschungsvermutungen in § 22 Abs. 3 getroffen haben (vgl. Drucksache 7/765, S. 6 und S. 14), nicht um eine Vermutung im zivilrechtlichen Sinne, sondern vielmehr um einen "Aufgreiftatbestand", durch den die Kartellbehörde zur Überprüfung der "Abhängigkeit" im Sinne des § 26 Abs. 2 Satz 2 bei Vorliegen der "VermutungsVoraussetzungen" veranlaßt werden soll." 61 "Der neue § 26 Abs. 2 Satz 3 soll die Feststellung einer "relativen Marktmacht" eines Nachfragers gegenüber einem Anbieter durch Einführung einer Vermutung erleichtem (.»). Der neue § 26 Abs. 2 Satz 3 knüpft (...) an solche Sachverhalte an, in denen die regelmässige Erlangung besonderer Vergünstigungen (...) durch einen Nachfrager von einem Anbieter ein Indiz für dessen Abhängigkeit von diesem Nachfrager ist. Bei solchen Sachverhalten ist die Kartellbehörde verpflichtet, in die Prüfung darüber einzutreten, ob eine Abhängigkeit im Sinne des § 26 Abs. 2 Satz 2 tatsächlich vorliegt. Eine Umkehr der Beweislast wird durch diesen "Aufgreiftatbestand" nicht bewirkt. Vielmehr hat die Kartellbehörde von Amts wegen auf Grund der ihr bekannten relevanten Umstände zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Abhängigkeit auch tatsächlich vorliegen. (...) Aus der Natur der neuen Regelung als "Aufgreiftatbestand" folgt, daß sie allein für ein objektives Untersagungsverfahren nach § 37a gelten kann. 62 " In seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf regte der Bundesrat die Erstrekkung der als "Beweiserleichterung für die Feststellung von Abhängigkeit" bezeichneten Vermutung auf Zivilrechtsstreitigkeiten nach §§ 26 I I i.V.m. 35 G W B an, da die Frage der Beurteilung der Abhängigkeit in diesen Verfahren erhebliche tatsächliche Schwierigkeiten bereite. Eine Erstreckung der Vermutung auf bürgerlichrechtliche Schadensersatzprozesse bringe eine bedeutende Erleichterung des ge-

61

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 16.

62

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 24.

ΠΙ. Die fünfte GWB-Noevelle vom 22.12.1989

49

richtlichen Verfahrens mit sich. 63 Die Bundesregierung lehnte diesen Vorschlag in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates mit folgenden Erwägungen ab: "Durch eine zivilprozessual wirksame Vermutung würde die Beweislast - anders als im Verwaltungsverfahren nach § 37a GWB, in dem die Vermutung lediglich den Charakter eines Aufgreiftatbestandes hat - in jedem Falle zu Lasten des nachfragenden Unternehmens umgekehrt, ohne daß ihm zur Aufklärung der relevanten Umstände die den Kartellbehörden im Rahmen des Amtsermittlungsverfahrens eingeräumten Befugnisse zur Verfügung stünden. Dies könnte zu rechts- und wettbewerbspolitisch nicht vertretbaren Ergebnissen führen." 64

Π Ι . Die fünfte GWB-Novelle vom 22.12.1989 Durch die fünfte Kartellnovelle hob der Gesetzgeber dann doch die Beschränkung der Abhängigkeitsvermutung des § 26 I I 3 G W B auf das verwaltungsrechtliche Untersagungsverfahren auf. Die Erstreckung der Vermutung auch auf Zivilrechtsstreitigkeiten nach §§ 26 I I i. V.m. 35 G W B und deren Wirkung wurde i m Regierungsentwurf wie folgt begründet: "Die Beweissituation des Klägers bei wettbewerbsschädlichem Verhalten im Vertikalverhältnis wird dadurch verbessert, daß die Abhängigkeitsvermutung des § 26 Abs. 2 Satz 3 (...) in Zukunft auch im Zivilprozeß wirkt. Diese Gesetzesänderung dient der Erleichterung des zivilrechtlichen Vorgehens (...). 65 " "Durch die Streichung der Worte "Für das Untersagungsverfahren nach § 37a Abs. 2" in § 26 Abs. 2 Satz 3 wird die Beschränkung der Vermutungsregelung auf das kartellbehördliche Verfahren aufgehoben und die Bestimmung allgemein gefaßt. Wie sich aus der Regierungsbegründung (BT-Drucksache 8/2136) 66 ergibt, verfolgt die Regelung den Zweck, die Feststellung der Abhängigkeit eines Anbieters und damit der "relativen Markt-macht" eines Nachfragers zu erleichtem. (...) Nach den der vierten GWB-Novelle zugrundeliegenden Vorstellungen sollte § 26 Abs. 2 Satz 3 aber nur einen "Aufgreiftatbestand" darstellen, der die Kartellbehörde zur Prüfung im Rahmen der Amtsermittlung veranlaßt, aber keine Umkehr der Beweislast bewirkt. Aus dieser Natur als Aufgreiftat-bestand wurde gefolgert, daß die Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 3 allein für ein objektives Untersagungsverfahren nach 63

Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BTDrs. 8/2136, S. 35. 64

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38 f. 65

Begründung zum Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S.

11. 66

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle.

4 Ittner

50

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

§ 37a gelten könne. Wie im Fall des § 22 Abs. 3 wird dieser Vermutung jedoch im Rahmen des Untersagungsverfahrens schon nach geltendem Recht dann bindende Wirkung zuzuschreiben sein, wenn das Gericht nach Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses das Tatbestandsmerkmal weder auszuschließen noch zu bejahen vermag (WuW/E BGH 174967). Darüber hinaus haben die Marktbeherrschungsvermutungen des § 22 Abs. 3 nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes mittelbar jedenfalls insoweit eine Auswirkung auf Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 26 Abs. 2, als das in Anspruch genommene Unternehmen sich nicht auf ein unsubstantiiertes Bestreiten zurückziehen kann, sondern substantiiert darlegen muß, warum es trotz der Erfüllung der Vermutungstatbestände nicht marktbeherrschend ist (WuW/E BGH 2483 68 ). Die Frage, ob § 22 Abs. 3 im Rahmen des Diskriminierungsverbots nach § 26 Abs. 2 echte Vermutungs-wirkung entfaltet, hat der Bundesgerichtshof jedoch offengelassen. Mit der Gesetzesänderung soll erreicht werden, daß die Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 3 auch im Zivilprozeß Vermutungswirkung entfaltet und damit die Beweissituation des Klägers in Verfahren nach § 26 Abs. 2 und 3 hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Abhängigkeit verbessert." 69

I V . Zwischenergebnis Die widersprüchlichen und mißverständlichen Aussagen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe bilden die Ursache für die zur zweiten und vierten GWB-Novelle i m Schrifttum besonders kontrvers geführte Diskussion um die Wirkungen der Vermutungen. 70 Während Bundesregierung, Wirtschaftsausschuß und Rechtsausschuß in ihren Äußerungen zu §§ 22 I I I und 23a G W B anläßlich der zweiten und vierten GWB-Novelle von einer objektiven Beweislast der betroffenen Unternehmen auszugehen schienen, 71 äußerte die Bundesregierung i m Rahmen der vierten GWB-Novelle zu § 26 I I 3 G W B , wegen des Charakters als "Aufgreiftatbestand" werde eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkt. 7 2 Der Charakter von "Aufgreiftatbeständen" war jedoch zuvor auch den Vermutungen der § § 2 2 I I I und 23 a

67

"Klöckner/Becorit" = BGHZ 79,62.

68

"Sonderungsverfahren".

69

Begründung zum Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle,BT-Drs. 11/4610, S. 22.

70

Vgl. hierzu näher § 41.

71

Bundesregierung: BT-Drs. VI/2520, S. 24 (zweite GWB-Novelle) und BT-Drs. 8/2136, S. 13 (vierte GWB-Novelle); Wirtschaftsausschuß: BT-Drs. 7/765, S. 6 (zweite GWBNovelle) und BT-Drs. 8/3690, S. 26 (vierte GWB-Novelle); Rechtsausschuß: BT-Drs. 7/765, S. 14 (zweite GWB-Novelle) und BT-Drs. 8/3690, S. 35 (vierte Novelle). 72

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 24 und Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 38.

IV. Zwischenergebnis

51

GWB beigemessen worden. 73 Demgegenüber heißt es im Regierungsentwurf zur fünften GWB-Novelle, der Vermutung des § 26 II 3 sei "schon nach geltendem Recht" im non liquet-Fall "bindende Wirkung" zuzuschreiben.74 Zum Umfang der Amtsermittlungspflicht im Anwendungsbereich der Vermutungen hat der seine Einigkeit mit dem Rechtsausschuß behauptende Wirtschaftsausschuß anläßlich der zweiten und vierten GWB-Novelle ausgeführt, beim Vorliegen der Vermutungsvoraus-setzungen müsse die Behörde nur den von den Unternehmen substantiiert vorgebrachten Einwänden nachgehen.75 Der Rechtsausschuß vertrat jedoch die abweichende Ansicht, die Behörde bleibe zur vollen eigenen Amtsermittlung hinsichtlich des vermuteten Merkmals verpflichtet. 76 Demgegenüber war die Bundesregierung zunächst anläßlich der zweiten Kartellnovelle der Auffassung, die Behörde könne sich auf den Nachweis der Vermutungsvoraussetzungen beschränken,77 verwies jedoch im Rahmen der vierten Novelle zu § 23a GWB auf die widersprüchlichen Auffassungen von Wirtschaftsausschuß und Rechtsausschuß zu § 22 ΠΙ GWB. 78 In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates sprach sie dann davon, die Verhältnisse zur Widerlegung der Vermutungen des § 23a I GWB müßten "nachgewiesen" werden 79. Zu § 26 II 3 GWB verwies die Bundesregierung anläßlich der vierten Novelle zunächst auf die Feststellungen von Wirtschafts- und Rechtsausschuß zu § 22 III GWB, 80 sprach dann jedoch davon, die Behörde sei verpflichtet, in die Prüfung darüber einzutreten, ob das vermutete Merkmal tatsächlich vorliege. 81 Auch in ihrer Begründung zum Entwurf

73 Wirtschaftsausschuß: BT-Drs. 7/765, S. 6 (zweite GWB-Novelle) und BT-Drs. 8/3690, S. 26 (vierte GWB-Novelle); Rechtsausschuß: BT-Drs. 7/765, S. 14 (zweite GWB-Novelle und BT-Drs. 8/3690, S. 35 (vierte Novelle). 74

Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 11/ 4610, S. 22.

75

BT-Drs. 7/767, S. 6 (zweite GWB-Novelle zu § 22 m GWB) und BT-Drs. 8/3690, S. 26 (vierte GWB-Novelle zu § 23a GWB). 76

BT-Drs. 7/765, S. 14 (zweite GWB-Novelle zu § 22 m GWB) und BT-Drs. 8/3690, S. 35 mit Verweis auf BT-Drs. 7/765 (vierte GWB-Novelle zu § 23a GWB). Infolgedessen spricht Wirz, WuW 1975,611 (614) von einem "Dissens des Gesetzgebers". 77

Begründung zum Regierungsentwurf der zweiten GWB-Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24. 78

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13.

79

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 80

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S.

16. 81

24.

*

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S.

52

§ 3 Entstehungsgeschichte und Gesetzesmaterialien

der fünften Kartellnovelle nahm die Regierung durch die Bezugnahme auf die Entscheidung "Klöckner-Becorit" 82 die Position des Rechtsausschusses ein.83 Nicht eindeutig beantwortet ist schließlich die Frage, welche Wirkung der Gesetzgeber den Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB in Zivilrechtsstreitigkeiten nach §§ 26 II i.V.m. 35 GWB beimessen wollte. In der Begründung zum Regierungsentwurf der fünften Novelle verwies er auf die sehr zurückhaltende Entscheidung des BGH zur Wirkung des § 22 III GWB im Fall "Sonderungsverfahren",84 nach der sich das verklagte Unternehmen "jedenfalls nicht auf ein unsubstantiiertes Bestreiten zurückziehen kann" und betonte, der BGH habe die Frage, ob § 22 III "echte Vermutungswirkung" entfalte, offengelassen. Mit der Gesetzesänderung solle § 26 II 3 GWB "auch im Zivilprozeß Vermutungswirkung entfalten und damit die Beweissituation des Klägers verbessern". 85 Unklar bleibt, ob der Gesetzgeber nur für § 26 II 3 GWB von einer "echte Vermutungswirkung" im Zivilprozeß ausging, oder auch für § 22 III GWB.

82

WuW/E BGH 1749 = BGHZ 79,62.

83

Begründung zum Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S.

22. 84

WuW/E BGH 2483.

85

Begründung zum Regierungsentwurf der fünften GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S.

22.

Zweiter Teil

Die Vermutungen des GWB im Kartellverwaltungs- und Kartellbeschwerdeverfahren In diesem "Zweiten Teil" der Untersuchung soll geklärt werden, welche Wirkung die Vermutungen im Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren haben und ob diese vom Gesetzgeber gewollte Wirkung verfassungsgemäß ist. Im folgenden werden zunächst alle diskutierten Streitfragen im Zusammenhang dargestellt (§ 4). Daran schließt sich die Erörterung der Frage an, welche Verfahrens· und materiellrechtlichen Wirkungen die Vermutungen entfalten (§5). Abschließend wird die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen untersucht (§ 6).

§ 4 Problemstellung und Streitstand Die Verwendung gesetzlicher widerleglicher Vermutungen in der Eingriffsverwaltung (Gefahrenabwehr) zum Nachteil der gewaltunterworfenen Unternehmen ist nicht nur beim Gesetzgeber, sondern auch im kartellrechtlichen Schrifttum auf erhebliche Irritationen über die Wirkungsweise derartiger Vermutungen und über die hier geltenden Veifassungsgrenzen gestoßen. Die Verunsicherungen resultieren vor allem aus dem Umstand, daß im Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, in Verbindung mit der pauschalen Vorstellung, in der Eingriffsverwaltung müßten die Voraussetzungenfreiheitsbeschränkender Verwaltungsakte aus rechtsstaatlichen Gründen vollständig vom Staat nachgewiesen werden.1 Auch der Gesetzgeber ist an den Verunsicherungen nicht schuldlos. Zwar finden sich in den Gesetzesmaterialien Äußerungen, die deutlich auf ein Verständnis als Beweislastnormen bezogen sind, wie "Beweislastumkehr",2 "lassen sich diese Gegengründe nicht feststellen, so ist von Marktbeherrschung auszugehen",3 "Wi1 Vgl. nur die Rede des Berichterstatters des Rechtsausschusses, des Abgeordneten A Iber, im Bundestag am 14.6.1973, WuW 1973, 599 f. (oben § 3 I.), ferner Leo, WRP 1970,197, 200 f. (zu § 22 Π 2 RegE); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142,1147 (zu § 22 ΠΙ); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574,576 (zu §§ 22 ffl, 23a Π); Wirz, WuW 1975,611,613 f. (zu § 22 ΠΙ); Knöpfle, NJW 1988,1116,1118 (zu § 23a). 2 3

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24.

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; ähnlich die Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14.

54

§ 4 Problemstellung und Streitstand

derlegungsmöglichkeiten", 4 oder "bindende Wirkung, wenn das Gericht das T a t b e standsmerkmal weder auszuschließen noch zu bejahen vermag". 5 Daneben spricht der Gesetzgeber im Zusammenhang mit den Vermutungen aber auch von "Gegenbeweis", 6 "Anwendungs-", "Ent scheidungs-", "Feststellungs-" oder "Beweiserleichterungen", 7 "keine Vermutungen i m zivilrechtlichen Sinne", 8 "eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkender Aufgreiftatbestand", 9 "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen", "deutliche Orientierungshilfen", 10 "konkrete Anhaltspunkte" 1 1 oder "Indizien" 1 2 . Diese Bezeichnungen werden i m Schrifttum - teils in Verbindung mit Verfahrens- oder verfassungsrechtlichen Bedenken - als Begründung für unterschiedlichste Charakterisierungen herangezogen.

4

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 5

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22.

6

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24. Der "Gegenbeweis" ist bereits gefuhrt, wenn der Richter in seiner Überzeugung unsicher geworden ist, während der gegen eine gesetzliche widerlegliche Vermutung zu führende "Beweis des Gegenteils" die volle Überzeugung des Richters vom Gegenteil der vermuteten Tatsache verlangt; vgl. Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 18. 7 Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23; der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13, 14, 19,24; der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 11,S. 22; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26. Die Funktion der Beweislast besteht nicht in einer Überwindung von Beweisschwierigkeiten oder von Beweisnot, sondern lediglich in einer Risikozuweisung im Falle endgültig gescheiterter Aufklärung, vgl. Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 98, 206, 354; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast. 1989, S. 38. 8 Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 9 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. Nur vom Charakter als "Aufgreiftatbestände" sprechen der Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16; zur 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22. 10

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26.

11

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 23.

12

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16,24; Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26.

I. Der Streitstand im Schrifttum

55

I. Der Streitstand im Schrifttum Umstritten ist von der Wirkung der Vermutungen bis hin zu ihrer Verfassungsmäßigkeit praktisch alles. Zu trennen sind - grob gesehen - vier gedankliche Bereiche: - Wirken die Vermutungen des GWB als Beweislastnormen und welche Besonderheiten weisen Vermutungen in der Eingriffsverwaltung auf? - Haben die Vermutungen des GWB eine über die Beweislastzuweisung hinausgehende materiellrechtliche Wirkung? - Beschränken die Vermutungen die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde und begründen sie eine (Gegenteils-)Behauptungs- und Beweisfuhrungslast der Unternehmen im zivilrechtlichen Sinne? - Sind die vom Gesetzgeber gewollten Vermutungswirkungen verfassungsgemäß? Bei der Darstellung des Streitstandes werden die verfassungsrechtlichen Einwände im jeweiligen Sachzusammenhang wiedergegeben.

1. Objektive Beweislast

Nach herrschender Meinung im Schrifttum stellen die Vermutungen des GWB Regelungen der objektiven Beweislast dar mit der Folge, daß die Unternehmen im non liquet-Falle das Feststellungsrisiko für das vermutete Tatbestandsmerkmal tragen.13 13

J. Baur, BB 1973,915,918 (zu § 22 ΠΙ); Rohling, DB 1973,1585,1589 (zu § 22 ΙΠ); Kaiser, WuW 1978, 344,359; Κ Schmidt, ZRP 1979,38,42 (zu § 23a RegE); Schütz, DB 1979,197,198 (zu §§ 22 DI, 23a RegE); Nagel DB 1979, 1021,1023 f. (zu § 23a I); Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 51 (zu § 22 DI), 54 f. (zu § 23a); Wolf, WuW 1980, 462,473 (zu § 23a); Bemotat, WuW 1980, 713,715 (zu § 23a II); Axster/Weber, GRUR 1981, 369, 370 (zu § 22 ΠΙ); Ebel, NJW 1981, 1763, 1765 (zu § 22 III), 1767 (zu § 23a); Schultz, WuW 1981, 102,115 (zu § 23a Π); Meier, ZHR 145 (1981), 393,399 (zu § 22 ΠΙ), 400 (zu § 23a I), 402 (zu § 23a Π), 404 (zu § 26 Π 3); Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 94 f. (zu § 22 I 3, Π 2 RegE); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 30, 48, 51, 61, 65 ff.; Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 51 (zu § 26 Π 3); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rzn. 534, 866 (zu § 22 ΙΠ); Steindorff, Wettbewerbliche Einheit, 1982, S. 25 (zu §§ 22 ΙΠ, 23a); Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 339 (zu § 22 ΙΠ); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 67; Kleinmann/Bechtold, Komm, zur Fusionskontrolle, 2. Aufl. 1989, § 22 Rzn. 222 ff. (zu § 22 m); Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 256 (zu § 22 ΙΠ), 301 (zu § 26 Π 3), 406 (zu § 23a I), 410 (zu § 23a H); Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992,

56

§ 4 Problemstellung und Streitstand

Gegen eine solche Qualifizierung als Beweislastnormen werden Einwände verschiedenster Art erhoben: Im Amtsverfahren könne es kein non liquet geben, da die Behörde solange ermitteln müsse, bis volle Klarheit gewonnen sei.14 Die Vermutungen erweiterten den Adressatenkreis der Unternehmen, die der Verbotsnorm unterfielen, 15 die Gleichbehandlung marktbeherrschender und nicht marktbeherrschender Unternehmen verstoße gegen Art. 3 I GG. 16 Die Vermutungen seien unverhältnismäßig, da sie zur Zweckerreichung nicht geeignet seien.17 Sie verstießen gegen das Gebot der Waffengleichheit bzw. gegen das Rechtsstaatsprinzip, da die begünstigte Behörde zugleich die entscheidende Behörde sei.18 Die Vermutungen verstießen gegen die aus Art. 2 1, 12 1 GG folgende materielle Freiheitsvermutung zugunsten der Unternehmen19 bzw. gegen das Rechtsstaatsprinzip, da die Voraussetzungen freiheitsbelastender Verwaltungsakte in der Eingriffsverwaltung vom Staat vollständig nachgewiesen werden müßten.20 Die grundrechtliche Freiheitsvermutung könne der Gesetzgeber nicht durch eine gegenteilige gesetzliche Vermutung ersetzen.21 Vermutungsregeln seien im Rahmen der der Amtsermittlungspflicht unterliegenden Eingriffsverwaltung allenfalls insoweit zulässig, wie der Beweisgegenstand in der Unternehmenssphäre begründet liege.22

§ 22 Rz. 91 f. (zu § 22 ΠΙ), § 26 Rz. 139 f. (zu § 26 Π 3); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 7 (zu § 23a I); Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 45 (zu § 22 ΠΙ), § 23a Rz. 4 (zu § 23a I), § 26 Rz. 28 (zu § 26 Π 3);ferner aus dem nicht speziell kartellrechtlichen Schrifttum Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 13; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 366 f. (zu §§ 22 ΠΙ, 23a); Baur, FS Bachof 1984, S. 285,290 f. (zu § 22 ΙΠ). 14

Wirz, WuW 1975, 611 (613 f.).

15

Meier, ZHR 145 (1981),393,399 f.(zu § 22 ΠΙ) 401 f.(zu § 23a)und 404 f. (zu § 26 Π 3).

16

Leo, WRP 1970, 197,202 f. (zu § 22 Π 2 RegE).

17

Kaiser, WuW 1978, 344, 363 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978).

18

Leo, WRP 1970, 197, 202 (zu § 22 Π 2 RegE); deutlicher ders., WRP 1972, 1, 13 f. (zu § 22 13 RegE). 19

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (418 ff., 422 f.).

20

Leo, WRP 1970, 197, 200 f. (zu § 22 Π 2 RegE); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΙΠ), Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 576 (zu §§ 22 ΙΠ, 23a H); Wirz, WuW 1975,611, 613 f. (zu § 22 ΙΠ); Knöpfle, NJW 1988,1116,1118 (zu § 23a); vgl. femer die Rede des Berichterstatters des Rechtsausschusses, des Abgeordneten Alber, im Bundestag am 14.6.1973, WuW 1973, 599 f. (oben § 3 I.). 21

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (420).

22

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f.; G. Meier ZHR 145 (1981), 393 (428 f.).

I. Der Streitstand im Schrifttum

57

Den wichtigsten Angriffspunkt gegen die Vermutungen des GWB bildet die Vorstellung, belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung müßten sich innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder empirisch einwandfrei abgesichert seien. Die Vermutungen des GWB entsprächen jedoch nicht einmal annähernd der Lebenserfahrung und verlören damit jede Berechtigung als Erleichterung von Eingriffsakten. 23 An den Vorwurf mangelnder empirischer Absicherung knüpfen sich Folgerungen wie: die Vermutungen seien rechtssystematisch verfehlt, 24 sie verstießen gegen die Verfassungsprinzipien derenSystemgerechtigkeit, 25der Rechtsstaatlichkeit26 oder der Verhältnismäßigkeit.27 Der Gesetzgeber sei im Falle von Fehlprognosen nach den Grundsätzen des Entwicklungsspielraums gehalten, die falsifizierte Norm wieder aufzuheben. 28 Die Vermutungen des § 23 a I GWB seien faktisch unwiderlegbar, da der Umsatz und damit die Untemehmensgröße alleiniges Untersagungskriterium sei.29 An diesen Vorwurf knüpfen sich Folgerungen wie: die Vermutungen bildeten in Wahrheit 23 Knöpfle, BB 1970,717,720 ff, 723 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., NJW 1988,1116 f. (zu 3 a); Leo, WRP 1970,197,201 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972,1,13 f., 17 (zu § 22 I 3 RegE); Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 95 f. (zu § 22 Π 2 RegE); ders., Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Gleiss/Bechtold, BB 1973,1142,1147 (zu § 22 ΠΙ 1 Nr. 2); Wirz, WuW 1975, 611, 614 (zu § 22 ΠΙ); Kaiser, WuW 1978, 344, 352 f., 362 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Bernotat, WuW 1980, 713, 716 (zu § 23a Π); Axster/Weber, GRUR 1981, 369, 372 (zu § 23a); Meier, ZHR 145 (1981), 393, 429; Köhler, DB 1982,313,314 (zu § 26 Π 3); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 576 ff, 579 (für den Fall des gleichzeitigen Eingreifens mehrerer Vermutungen); Markert, AG 1986, 173, 177 f. (zu § 23a I), 178 f. (zu § 23a Π); ders., BB 1986, 1660, 1665 (zu § 23a I); ders. in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 138 (zu § 26 Π 3); a.A.: Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 91; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 19; Kouker, GRUR 1986,31,32 (zu §26 Π 3). 24

Köhler, DB 1982,313,314 (zu § 26 Π 3).

25

Knöpfle, BB 1970, 717, 723 (zu § 22 Π 2 RegE).

26

Leo, WRP 1970, 197,201 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972,1,13 f. (zu § 22 13 RegE); Meier, ZHR 145 (1981), 429 f.; Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 579 (für den Fall des gleichzeitigen Eingreifens mehrerer Vermutungen). 27

Köhler, DB 1982, 313, 314 (zu § 26 Π 3); Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f. (de lege ferenda). 28

Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 95 f. (zu § 22 Π 2 RegE); ders., Entflechtung, 1981, S. 235 f. (de lege ferenda); Kaiser, WuW 1978, 344, 362 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978). 29

Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 35; zustimmend K. Schmidt, ZRP 1979, 38,42 (zu § 23a RegE); ferner Kaiser, WuW

58

§ 4 Problemstellung und Streitstand

materielle Rechtsänderungen,30 sie stellten einen verfassungswidrigen Formenmißbrauch des Gesetzgebers dar 31 oder sie verstießen gegen die Verfassungsprinzipien der Systemgerechtigkeit32 bzw. der Verhältnismäßigkeit. 33 Angesichts der massiven Einwände gegen die Vermutungen des GWB werden diese teilweise nicht als Vermutungen im Rechtssinne (Beweislastnormen) angesehen. Die abweichenden Auffassungen berufen sich insbesondere auf die gesetzgeberische Qualifizierung der Normen als "keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne",34 Aufgreiftatbestände" 35 oder "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen".36 So werden die Vermutungen teils als prima-facie-Regeln eingeordnet.37 Seien die Vermutungsvoraussetzungen festgestellt und hätten die Ermittlungen keine weiteren Indizien für oder gegen das vermutete Merkmal ergeben (sog. "schlichtes non liquet"), so entscheide die Vermutung. Erst recht sei das vermutete Merkmal anzunehmen, wenn die Ermittlungen zwar keinen vollen Beweis erbracht hätten, aber doch Indizien zutage gefördert hätten, die die Vermutung unterstützten. Hätten dagegen die Ermittlungen Indizien zutage gefördert, die gegen das vermutete Merkmal sprächen, die aber nach Ausschöpfung aller Beweise zu einer vollen Über1978, 344, 361 ff. (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Schütz, DB 1979, 197,198 f (zu § 23a RegE). 30 Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 35; zustimmend Κ Schmidt, ZRP 1979,38,42 (zu § 23a RegE). 31

Kaiser, WuW 1978,344,362 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978).

32

Kaiser, WuW 1978, 344, 361 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Schütz, DB 1979,197,198 (zu § 23a RegE). 33

Kaiser, WuW 1978,344,363 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978).

34

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 35

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16; zur 5. Novelle, BTDrs. 11/4610, S. 22. Von einem "eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkenden Aufgreiftatbestand" sprechen im Zusammenhang mit § 26 Π 3 GWB a. F. die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24, sowie die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 36 37

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26.

Huber in Frankfurter Kommentar, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 3 8 ^ 0 (zu §§ 23a, 22 ΠΓ); Huber/Börner, Gemeinschaftsunternehmen, 1978, S. 138 f. Fn. 8; Ramrath, Überragende Marktstellung, 1978, S. 80 f. (zu § 22 ΠΙ), 115 (zu § 23a); Emrich, Die Problematik der Fusionskontrolle bei Konglomeraten, 1978, S. 93 f. (zu § 22 ΠΙ); a.A. mit ausdrücklicher Kritik Köhler, DB 1982, 313, 315 (zu § 26 Π 3); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 62,70.

I. Der Streitstand im Schrifttum

59

zeugungsbildung nicht ausreichten, so sei die Vermutung widerlegt, wenn sich aus den Gegenindizien die "ernstliche Möglichkeit eines vom Gewöhnlichen abweichenden Verlaufs" ergebe.38 Demgegenüber haben die Vermutungen nach anderer Auffassung den Charakter von "bloßen Aufgreiftatbeständen für eine Verfahrensinitiative" ohne jede Beweisoder Beweislastwirkung. Bei Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen sei zwingend ein behördliches Verfahren einzuleiten, ohne daß aber die volle Amtsermittlungspflicht und Beweislast der Behörde geändert sei.39

2. Weitere materiellrechtliche Wirkung

Eine im Vordringen befindliche starke Literaturmeinung will vor allem den Vermutungen des § 23a I und 23a II GWB eine über eine Beweislastregelung hinausgehende materiellrechtliche Bedeutung beimessen. Das Spektrum der Stellungnahmen hinsichtlich des Umfangs einer weitergehenden materiellrechtlichen Wirkung ist abgestuft. Neben eher zurückhaltenden Äußerungen wie die Vermutungen stellten "konkrete Hinweise für die Auslegung des § 24 I GWB" dar 40, finden sich Einordnungen als "verbindliche Interpretationshilfe der Eingriffsvoraussetzungen des § 24 I GWB" ("Auslegungsanweisung"),41 "Normierung und Typisierung rechtlich relevanter Kausalzusammenhänge" ("Relevanzkriterien", "Gefährdungstatbestände"), 42 "gesetzgeberische Konkretisierung des Marktbeherrschungsbegriffs" 43 oder

38 Huber in Frankf. Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 38-40 (zu §§ 23a, 22 ΠΙ); Huber/Börner, Gemeinschaftsuntern., 1978, S. 138 f. Fn. 8. 39 Bechtold, DB 1974, 1945 und 1948 (zu § 22 ΠΙ); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΠΙ); Wirz, WuW 1975, 611, 617 ff. (zu § 22 ΠΙ); Axster/ Weber, GRUR 1981, 369, 372 (zu § 23a, allerdings einschränkend hinsichtlich des Umfangs der Amtsermittlungspflicht); Κ Schmidt, ZRP 1979, 38, 44 (zu § 26 Π 3 RegE); Ebel, DB 1980, 1110 (zu § 26 Π 3); Köhler, DB 1982, 313, 314 (zu § 26 Π 3, allerdings Ermessen statt Pflicht zur Verfahrenseinleitung); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 575 (zu §§ 22 ΠΙ, 23a II); a.A. mit ausdrücklicher Kritik insbesondere Kaiser, WuW 1978, 344, 359; Meier, ZHR 145 (1981), 393, 410,431; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 332 (zu § 22 ΠΙ); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 63,65 ff. 40

Schultz, WuW 1981,102, 105 f. (zu § 23a I), sinngemäß auch S. 108, 115 (zu § 23a Π); ähnlich Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867 (zu § 23a I). 41 Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 54 f. (zu § 23a I); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 71 (zu § 23a Π). 42

Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 6, 8-10 (zu § 23a I); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867.

60

§ 4 Problemstellung und Streitstand

"materielle Neuformulierung des Marktbeherrschungstatbestandes" 44 bis hin zur Kritik, die Fusionskontrolle werde "vom Marktmachtkonzept abgekoppelt".45 Am weitesten geht die Auffassung, § 23a I Nr. 1 GWB sei bei Marktverkettungsfusionen gefährdungstatbestandlich dergestalt auszulegen, daß § 24 I GWB schon dann anzuwenden sei, wenn die Voraussetzungen des § 23 a I Nr. 1 GWB weitgehend, aber nicht vollständig erfüllt seien und andere Gefahren der Marktmachtbegründung oder -Verstärkung hinzukämen.46 Demgegenüber lehnt eine starke Gegenmeinung im Schrifttum eine über die Beweislastregelung hinausgehende materiellrechtliche Bedeutung der Vermutungstatbestände ab.47

3. Amtsermittlungspflicht, Mitwirkungspflicht, Behauptungs- und Beweisführungslast

Innerhalb der herrschenden Meinung, welche die Vermutungen des GWB als Beweislastnormen versteht, ist umstritten, ob die Vermutungen eine Mitwirkungspflicht der Unternehmen bei der Sachverhaltsaufklärung begründen oder ob sie die Amtsermittlungspflicht einschränken und den Unternehmen insoweit eine Darlegungs- und Beweisführungslast im zivilrechtlichen Sinne auferlegen. Dabei unterscheidet sich die Vermutung des § 23 a II GWB von den übrigen Vermutungen durch die ausdrückliche Bestimmung, daß die Unternehmen die Widerlegungstatsachen "nachweisen" müssen. Es verwundert daher nicht, daß sich der um § 23 a II GWB geführte Streit von demjenigen um die übrigen Vermutungen unterscheidet.

a) §§ 22 III

23a I und 26 II 3 GWB

Zu den Vermutungen der §§22 III, 23 a I und 26 II 3 GWB ist mit Blick auf den vom Gesetzgeber genannten Vermutungszweck, die Feststellung bzw. den Beweis 43 Wolf, WuW 1980,462,470 (zu § 23a I); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 8. 44

K. Schmidt, ZRP 1979,38,42 (zu § 23a RegE).

45

Schütz, DB 1979,197,198 (zu § 23a I RegE).

GWB,

46

Dabei sei die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde auf strukturelle Marktbeherrschungsgefahren beschränkt, vgl. Herrmann, RIW 1986, 253 (263 ff.); ders., BB 1989, 1213 (1214 f.). 47

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl.,3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 75 ff. 87, 94 f. (mit verfassungsrechtlichen Bedenken); Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl.,Stand 36. Lfg. 1995, § 23aRzn. 18,35,4Y,Markert, BB 1986,1660(1665 ff); ders., AG 1986,173 (178 f.); Knöpfte, NJW 1988,1116(Fn. 5)ßechtold,GWB Komm, 1993,§ 23a Rz. 1; ähnlich zu § 22 DI GWB Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 343.

I. Der Streitstand im Schrifttum

61

des vermuteten Merkmals "zu erleichtern", 48 anläßlich der zweiten und vierten GWB-Novelle die Meinung vertreten worden, die Kartellbehörde könne sich auf die Ermittlung der Vermutungsbasis beschränken; die Darlegung und Beweisführung hinsichtlich der Widerlegungstatsachen sei Sache der Unternehmen.49 An diese Annahme wurden sogleich verfassungsrechtliche Bedenken geknüpft: Die Beschränkung der Amtsermittlungspflicht auf die Vermutungsbasis sei mit dem Prinzip der Untersuchungsmaxime nicht vereinbar. 50 Die Belastung der Unternehmen mit der Beweisführung verletze deren Grundrechte aus Art. 2 I bzw. 12 IGG 5 1 , da der Gesetzgeber die grundrechtliche Freiheitsvermutung nicht durch die Regelung einer gegenteiligen Darlegungs- und Beweisführungslast ersetzen dürfe; Eingriffsvoraussetzungen müßten vom Staat vollständig nachgewiesen werden. 52 Es verstoße gegen das Gebot der Waffengleichheit, daß das mit der Beweisführung belastete Unternehmen davon abhängig sei, ob die Behörde den Versuch der Widerlegung als erfolgreich ansehe oder nicht.53 Die Vermutungen seien rechtsstaatswidrig unbestimmt, da die Frage, ob ein Unternehmen Adressat der Norm sei, von außerhalb der Bestimmungen der Eingriffsnorm und der Tätigkeit der Behörde liegenden Faktoren abhänge, nämlich vom Willen und dem Vermögen des betroffenen Unternehmens, die Vermutung zu widerlegen. 54 Die Beweisführungslast sei unverhältnismäßig, da den Unternehmen eine Widerlegung der Vermutungen durch das Fehlen von Auskunfts-, Einsichts- und Durchsuchungsrechten erschwert sei55 bzw. da die Last nicht auf die Darlegung und den 48 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13, 16, 19, 24; der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26 ("Entscheidungserleichterung"); Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37 ("Entscheidungserleichterung"). 49

Knöpfle, BB 1970,717,722 f. (zu § 22 Π 2 RegE); Leo, WRP 1970,197,200 (zu § 22 Π2 RegE); ders., WRP 1972,1,12,15 f. (zu § 22 13 RegE); Nagel, DB 1979,1021,1023 f. (zu § 23a I RegE); Emmerich, Kartellrecht, 3. Aufl. 1979, S. 180 (zu § 22 my, Meier, ZHR 145 (1981), S. 399 (zu § 22 ΠΙ), 400 (zu § 23a I); 404 (zu § 26 Π 3), 409; a.A. mit ausdrücklicher Kritik Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 62 f., 71 ff., Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 335 (zu § 22 ΠΙ). 50

Leo, WRP 1972,1,12 (zu § 22 13 RegE).

51

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (418 f. 422 f.); Knöpfle, BB 1970, 717, 723 (zu § 22 Π 2 RegE). 52

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (420,418 f.).

53

Leo, WRP 1972,1,13,16 (zu § 22 13 RegE).

54

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (426 ff).

62

§ 4 Problemstellung und Streitstand

Beweis von Verhältnissen aus der eigenen Unternehmenssphäre beschränkt sei.56 Vermutungsregeln seien im Rahmen der Eingriffsverwaltung nur insoweit zulässig, wie der Beweisgegenstand in der Sphäre der Unternehmen begründet liege.57 Eng mit diesem Gedanken hängt die Ansicht zusammen, die Vermutungen seien faktisch kaum widerlegbar, da die zur Widerlegung benötigten Fakten teilweise außerhalb der Erkenntnismöglichkeiten der Unternehmen lägen.58 Sie verstießen deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip.59 Demgegenüber geht die ganz herrschende Meinung im kartellrechtlichen Schrifttum von einer (nur) objektiven Beweislast der Unternehmen ohne Darlegungs- oder Beweisfuhrungslast im zivilrechtlichen Sinne bei voller Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde aus.60 Diese Ansicht wird teilweise dahingehend eingeschränkt, der Untersuchungsgrundsatz schließe zwar eine formelle Darlegungs- und Beweislast

55

Knöpf Je BB 1970,717,723 (zu § 22 Π 2 RegE).

56

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (428 f.); de lege ferenda Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f. 57

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Meier, ZHR 145 (1981), 393 (428 f.).

58

Leo, WRP 1970, 197, 201 f. (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972, 1, 16 (zu § 22 I 3 RegE); Bechtold, DB 1974,1945 (zu § 22 ΠΙ 1 Nr. 2). 59

Leo, WRP 1970, 197, 202 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972, 1, 16 (zu § 22 I 3 RegE). 60

Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 94 (zu § 22 13, Π 2 RegE); ders., Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Wirz, WuW 1975,611,613 (zu § 22 ΠΙ); J. Baur, BB 1973,915,917 (zu § 22 ΠΙ); Kaiser, WuW 1978,344, 358 f f ; Κ Schmidt, ZRP 1979,38,42 (zu § 23a RegE), 44 (zu § 26 Π 3 RegE); Wolf, WuW 1980,462,473 (zu § 23a I); Axster/Weber, GRUR 1981, 369, 370 (zu § 22 ΠΙ), 372 (zu § 23a); Ebel, NJW 1981, 1763, 1765 (zu § 22 ΠΙ), 1767 (zu § 23a I); Schultz, WuW 1981, 102, 103 (zu § 23a I); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 61, 92; Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 51 (zu § 26 Π 3); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rzn. 534, 866 f.; Steindorff, Wettbewerbliche Einheit, 1982, S. 25 (zu §§ 22 m, 23a I); Köhler, DB 1982,313,315 (zu § 26 Π 3); Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 334 (zu § 22ΙΠ), 336 (zu §§ 23a 1,26 Π 3); Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 28 (zu § 22 ΠΙ), 33 (zu § 23aI), 33a ff.; Herrmann, RIW 1986,253,265,268 (zu § 23a I Nr. la); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 67 (zu § 22 ΠΙ 1 Nr. 2); Knöpfte, NJW 1988,1116, 1117 (zu §§ 22ΙΠ, 23a); Kleinmann/Bechtold, Komm, zur Fusionskontrolle, 2. Aufl. 1989, § 22 Rzn. 222 ff. (zu § 22 IE); Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 45 (zu § 22 ΠΙ), § 23a Rz. 4 (zu § 23a I), § 26 Rz. 28 (zu § 26 Π 3); Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 256 (zu § 22 ΙΠ), 301 (zu § 26 Π 3), 406 (zu § 23a I); Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 91 f. (zu § 22 ΠΙ), § 26 Rz. 139 f. (zu § 26 Π 3); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 7 (zu § 23a I).

I. Der Streitstand im Schrifttum

63

aus, die Vermutungen verschärften aber die verfahrensrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten der Beteiligten, welche ihrerseits die behördliche Ermittlungspflicht begrenzten. 61 Nach einer vermittelnden Auffassung soll sich die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde auf die Vermutungsbasis sowie auf die von den Unternehmen zur Widerlegung der Vermutung vorgetragenen Tatsachen, aber auch nur auf diese, erstrekken. 6 2

b) § 23a II GWB Anders stellt sich der Streitstand zum Umfang der Amtsermittlungspflicht bei § 23a I I G W B dar. Die ganz herrschende Meinung bejaht eine echte Darlegungsund Beweisführungslast der Unternehmen hinsichtlich der zur Widerlegung vorgeschriebenen Nachweise unter entsprechender Einschränkung der Amtsuntersuchungspflicht. 63 Innerhalb dieser herrschenden Meinung w i r d allerdings von zahlreichen Autoren die Einschränkung vertreten, das Bundeskartellamt bleibe auch insoweit zur Amtsermittlung verpflichtet, als es um Widerlegungstatsachen gehe, die 61

K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, Rz. 7.

GWB, 2. Aufl. 1992, § 54 Rzn. 2, 9 und § 69

62 Gleiss/Bechtold, BB 1973,1142,1147 (zu § 22 ΙΠ); Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 54 (zu §§ 22ΙΠ, 23a); Meinhold, Diversifikation, 1977, S. 108 zu § 22 ΠΙ); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 1. Aufl. 1981, § 23a Rz. 7 (zu §§ 22 III, 23a I); Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 1. Aufl. 1981, § 22 Rz. 91; Emmerich, Kartellrecht, 3. Aufl. 1979, S. 247 (zu § 23a I); Westrick/Loewenheim, GWB, Kommentar, 4. Aufl., 12. Lfg. 1991, § 22 Rz. 37. In diesem Sinne auch Braun, Marktbeherrschungsvermutungen, 1986, S. 5, 8 f., 190,202 ff: die Vermutungen des GWB hätten die Funktion einer "belastenden Unterstellung" mit der Konsequenz, daß die Behörde nach Feststellung der Vermutungsbasis nur die von den Unternehmen behaupteten Widerlegungstatsachen ermitteln müsse, es sei denn, den Unternehmen sei eine Sachverhaltsaufklärung nicht möglich oder sie könnten typischerweise zu einzelnen Merkmalen keine Angaben machen (in diesem Falle unbeschränkte Amtsermittlungspflicht). A.A. mit Kritik Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 72 ff. (zu § 23a); Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 338 (zu § 22 ΠΙ). 63

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 410; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 336; Markert, AG 1986, 173 (178); ders., BB 1986, 1660 (1666); Wolf, WuW 1980,462 (472 f.); Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81,S. 55;Ebel, NJW 1981, 1763 (\161)\Meier, ZHR 145 (1981), 393 (402);Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 44a; Bernotat, WuW 1980, 713 (716); ferner die in den nachstehenden Fußnoten zitierten Autoren, die eine einschränkende oder vermittelnde Auffassung vertreten.

64

§ 4 Problemstellung und Streitstand

nicht zur Unternehmenssphäre gehörten64 bzw. die den Unternehmen nicht zugänglich seien.65 Demgegenüber wird von anderen Autoren die vermittelnde Ansicht vertreten, die Unternehmen trügen eine Darlegungs- und Beweisfuhrungslast im zivilrechtlichen Sinne nur bezüglich des Widerlegungsmerkmals der Erwartung künftigen Binnenwettbewerbes, während hinsichtlich des Fehlens einer überragenden Marktstellung des Oligopois die Amtsermittlungspflicht des Bundeskartellamts uneingeschränkt fortbestehe. 66 Schließlich wird die Ansicht vertreten, § 23a II GWB erlege den Unternehmen zwar die Darlegungs- und Beweisfuhrungslast für die Widerlegungstatsachen auf. Durch diese "öffentlich-rechtliche Beweislastumkehr" werde die volle Amtsermittlungspflicht von Behörde und Gericht aber nicht modifiziert. 67 Gegen die Annahme, § 23 a II GWB erlege den Unternehmen hinsichtlich der Widerlegungstatsachen eine Darlegungs- und Beweisfuhrungslast unter entsprechender Einschränkung der Amtsermittlungspflicht auf, werden - wie schon zur entsprechenden Ansicht bei §§ 22 III, 23a I, 26 II 3 GWB - verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. Das Unternehmen besitze nicht wie das BKartA das Ausmaß an Informationen, das zur Gegenteilsbeweisführung notwendig sei, es sei rechts staatswidrig, denjenigen Beteiligten, der allein zur erforderlichen Sachaufklärung in der Lage sei, hiervon zu entbinden.68 Die Beweisfuhrungslast der Unternehmen sei unverhältnismäßig, da eine Widerlegung nicht auf die Darlegung von Verhältnissen aus der eigenen Unternehmenssphäre beschränkt sei.69 Die Belastung der Unternehmen mit der Gegenteilsbeweisfuhrung verletze deren Grundrechte aus Art. 2 I bzw. 12 I GG, da der Gesetzgeber die grundrechtliche Freiheitsvermutung nicht durch die Regelung einer gegenteiligen Darlegungs- und Beweisfuhrungslast ersetzen dürfe; die Eingriffsvoraussetzungen müßten vom Staat vollständig nachgewiesen werden. 70 64

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235; Steindorff, Wettbewerbliche Einheit, 1982, S. 26 f.; Gäbelein, ZHR 147 (1983), S. 574 (575); Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 18. 65 Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 68 f., 79; Burrichter, WuW 1982, 661 (663, 671); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 54 f. 66 Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 285, 311 f.; zustimmend Knöpfte, NJW 1988,1116 (1118 Fn. 18). 67

Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 43,28.

68

Axster/Weber,

69

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (424,428 f.).

70

Meier, ZHR 145 (1981), 393 (424,420,418 f.).

GRUR 1981,369 (372).

Π. Die Sichtweise der Rechtsanwendungspraxis

65

Π . Die Sichtweise der Rechtsanwendungspraxis D i e Rechtsanwendungspraxis versteht die Vermutungen des G W B als Beweislastnormen. Nach der zweiten GWB-Novelle stand sie zu § 22 I I I G W B anfänglich mit einigen Unscharfen auf dem Standpunkt, der Untersuchungsgrundsatz verpflichte die Kartellbehörde nur zur Ermittlung der Vermutungsbasis und der von den Unternehmen konkret vorgetragenen Hinweise zur Widerlegung der Vermutung. 7 1 Schon vorsichtiger urteilte der B G H 1978 i m Fall "GKN/Sachs" (= "Kfz-Kupplungen"): die Vermutung müsse "auch aufgrund der der Kartellbehörde von Amts wegen obliegenden Untersuchung aller wettbewerbsrelevanten Umstände i m Sinn einer Gesamtüberprüfung unwiderlegt geblieben sein." 72 Endgültige Klarheit hat dann die Grundsatzentscheidung des B G H i m Fall "Klöckner/Becorit" v o m 2.12.1980 gebracht: "Diese Vermutung [= § 22 ΠΙ 1 Nr. 1 GWB, Anm. d. Verf.] ist dadurch gekennzeichnet, daß der Marktanteil des betroffenen Unternehmens Vermutungsvoraussetzung ist, gleichzeitig aber neben anderen die Struktur eines Markts kennzeichnenden Merkmalen nur ein Kriterium zur Beurteilung der Frage ist, ob die Vermutungsfolge vorliegt, nämlich eine marktbeherrschende Stellung des betroffenen Unternehmens. Im Rahmen des vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahrens (§ 69 GWB) kann dies nur bedeuten, daß die gesetzliche Vermutung im Gegensatz zur Wirkung zivilrechtlicher Vermutungen - deren Voraussetzung ein tatbestandsfremder, jedoch den Beweis des gesetzlichen Tatbestands erleichternder Umstand ist - 7 3 das Gericht nicht von der ihm obliegenden Würdigung des Marktanteils im Zusammenhang mit allen anderen Merkmalen und ihrer wechselseitigen Beeinflussung im Rahmen der Gesamtbetrachtung entbindet (vgl. Rosenberg, Die Beweislast, 5. Aufl. S. 201, 203, 220). Hat das Gericht aber die genannte Vermutungsvoraussetzung, nämlich einen Marktanteil des betroffenen Unternehmens von mindestens einem Drittel, schon im sachlichen Zusammenhang mit anderen Umständen im Rahmen des Gesamtergebnisses des Verfahrens selbst frei zu würdigen, so kann es zwar einen der Vermutung unter den festgestellten Umständen entsprechenden Erfahrungssatz erkennen und anwenden; die gesetzliche Vermutung kann ihre bindende Wirkung aber erst entfalten, wenn das Gericht nach der ihm obliegenden freien Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses eine marktbeherrschende Stellung des Unternehmens weder auszuschließen noch zu bejahen vermag." 74

71 KG WuW/E OLG 1745 (1751) "Sachs"; WuW/E BKartA 1561 (1564 f.) "o.b."; KG WuW/E OLG 1767 (1770) "Kombinationstarif. 72 BGHZ71,102 (108) = WuW/E 1501 (1502,1504); dem BGH folgt KG WuW/E OLG 2234 (2235) "Blei- und Silberhütte Braubach". 73 Der Kursivsatz stammt vom Verfasser zum Zwecke der Hervorhebung für spätere Kritik (in § 5 Vm.). 74

BGH WuW/E 1749 (1754) "Klöckner/Becorit".

5 Ittner

66

§ 4 Problemstellung und Streitstand

Seit diesen Ausführungen des BGH, die unten75 noch zu kritisieren sein werden, geht eine ständige Entscheidungspraxis zu den Vermutungen des GWB davon aus, daß die Kartellbehörde von Amts wegen alle für und gegen das vermutete Merkmal sprechenden Umstände vollständig zu ermitteln hat und die Vermutung nur im non liquet-Falle objektive Beweislastwirkung entfaltet. 76 1986 hat der BGH im Fall "Metro/Kaufhof zu § 23a I Nr. 2 GWB dieses Verständnis bestätigt: Die Vermutung könne - im Unterschied zur zivilrechtlichen Vermutung - ihre Wirkung erst dann entfalten, wenn das Gericht nach der ihm obliegenden Würdigung des Verfahrensergebnisses nicht ausschließen könne, daß eine überragende Marktstellung entstehen oder sich verstärken werde. Da der Untersagungstatbestand beim gegenwärtigen Prozeßstand nicht als unaufklärbar angesehen werden könne, könnten die Vermutungswirkungen des § 23a I Nr. 2 GWB (noch) nicht eingreifen. 77 Soweit ersichtlich hat sich allein das Kammergericht 1983 im Fall "Rewe/Florimex" mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vermutungen beschäftigt und ausgeführt, § 23a I Nr. la GWB verstoße nicht gegen das Grundrecht der unternehmerischen Wirtschaftsfreiheit aus Art. 2 I GG. Die unternehmerische Wirtschaftsfreiheit finde ihre Schranken in der verfassungsmäßigen Ordnung, so daß Eingriffe aus Gründen des Gemeinwohls grundsätzlich zulässig seien. Berücksichtige man, daß dem Gesetzgeber im Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der Handlungsfreiheit und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung eine weite Gestaltungsfreiheit zukomme, daß die Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge generalisierende Regelungen notwendig mache und daß die Vermutung nur einen marginalen Aspekt wirtschaftlicher Entfaltung betreffe, so sei §23a I Nr. la GWB aus Verfassungsgründen nicht zu beanstanden. Nachteilige Auswirkungen für die Unternehmen im non liquet-Falle seien daher von diesen hinzunehmen.78 Die Vermutung des § 23 a II GWB nimmt auch in der Rechtsanwendungspraxis eine Sonderstellung ein. Der BGH hat im Fall "Klöckner/Becorit" in einem obiter dictum von einem "dem Unternehmen auferlegten Gegenbeweis" gesprochen.79 Deutlicher hat das Kammergericht 1983 im Fall "Morris/Rothmans" ausgeführt: 75

§ 5 vm.

76

KG WuW/E OLG 2539 (2541) "Braun/Almo" (zu § 22 m Nr. 1); KG WuW/E OLG 2862 (2867) "Rewe/Florimex" (zu § 23a I Nr. la); KG WuW/E OLG 3051 (3071) "Morris/Rothmans" (obiter dictum zu §§ 22 ΠΙ 1 Nr. 1 und 23a I Nr. la); KG WuW/E OLG 3759 (3765) "Pillsbury/ Sonnen-Bassermann"; BKartA AG 1987, 255 (258) "Springer/Schlei" (zu § 23a I Nr. la); BKartA AG 1990,308 "Unilever/Braun". 77

WuW/E BGH 2231 (2237 f.).

78

KG WuW/E OLG 2862 (2867 f.) "Rewe/Florimex".

79

BGH WuW/E 1749 (1755).

ΠΙ. Zwischenergebnis

67

"Die Umkehr der Beweislast, von der die Gesetzesmaterialien sprechen (vgl. Bericht des Wirtschaftsausschusses, Bundestagsdrucksache 8/3690 S. 27) wird auch in der Literatur als solche in formeller und materieller Hinsicht verstanden (...), so daß der Vermutung nicht nur die Eigenschaft eines Aufgreifkriteriums beizumessen ist, das die Amtsermittlungspflicht des BKartA unberührt läßt und eine Bedeutung als Beweislastregel für die betroffenen Unternehmen nur hat, wenn die Frage, ob der Vermutungstatbestand vorliegt oder nicht, nach Abschluß der Ermittlungen im Amts- und Beschwerdeverfahren offenbleibt (...). Allerdings fuhrt die Umkehr der Beweislast nicht dazu, daß das BKartA völlig von einer Aufklärungsund Ermittlungspflicht befreit wird. Die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen haben zwar alle zur Widerlegung geeigneten Tatsachen vorzutragen, jedoch nur, soweit sie ihnen zugänglich sind. Bei erheblichen Umständen, von denen sie keine genaue Kenntnis haben können, wie zum Beispiel von Marktanteilen einzelner Außenwettbewerber, setzt die Aufklärungsverpflichtung des BKartA ein, das auch dem anderen Tatsachenvortrag der beteiligten Unternehmen nachgehen muß, aber auch im übrigen Ermittlungen anzustellen hat, die sich ihm aufgrund seiner sonstigen Kenntnisse vom Sachverhalt aufdrängen (...)·80 I m Klartext bedeuten diese zahlreichen Einschränkungen, daß nach Ansicht des Kammergerichts nur insoweit keine Amtsermittlungspflicht besteht, als es sich u m einen dem Unternehmen zugänglichen Bereich handelt, hinsichtlich dessen das Unternehmen nichts vorgetragen hat und sich dem BKartA auch keine Ermittlungen aufdrängen. Hierzu w i r d unten näher Stellung zu nehmen sein. 81

Π Ι . Zwischenergebnis Während die Rechtsanwendungspraxis eine einheitliche Linie bei der Einordnung der kartellrechtlichen Vermutungen gefunden hat, bestehen i m Schrifttum erhebliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Wirkungen und verfassungsrechtlichen Grenzen gesetzlicher widerleglicher Vermutungen in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz. V o n den eingangs dieses § 4 zitierten widersprüchlichen Qualifizierungen der Vermutungen durch den Gesetzgeber hat zweifellos die Einordnung "keine Vermutungen i m zivilrechtlichen Sinne, sonderen eher Aufgreiftatbestände" 82 die größte Verwirrung ausgelöst.

80

KG WuW/E OLG 3051 (3071) "Morris/Rothmans".

81

Vgl. insbesondere § 5 Vn. 2. und § 7 Π. 4.

82

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16.

5*

§ 5 Die Wirkung der Vermutungen des GWB imKartellverwaltungs- und Beschwerdeverfahren Bevor die Vermutungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden können, muß Klarheit über den Prüfungsgegenstand, d.h. über die genaue Verfahrens- und materiellrechtliche Wirkung der Vermutungen, bestehen. Es geht daher in § 5 zunächst darum, zahlreiche Irrtümer und Mißverständnisse über die Figur der gesetzlichen widerleglichen Vermutung in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz auszuräumen. Zunächst wird untersucht, wie gesetzliche widerlegliche Vermutungen außerhalb des Kartellrechts in Verfahren mit Verhandlungsmaxime und mit Untersuchungsmaxime wirken (I.). Sodann wird erörtert, ob die Vermutungen des GWB überhaupt die Beweislast regeln und welche Besonderheiten bei Vermutungen in der Eingriffsverwaltung zu beachten sind. Aufmerksamkeit verdient hier zunächst die Problematik des Einsatzes gesetzlicher Vermutungen im Rahmen einer Prognose (II.). Nach der Klärung der Frage, ob Vermutungen in der Eingriffsverwaltung aus nicht-verfassungsrechtlichen Gründen empirisch abgesichert sein müssen (III.) und der - wegen des Sachzusammenhangs hier erfolgenden - Erörterung, ob die Vermutungen des GWB neben der Risikozuweisung weitere materiellrechtliche Wirkungen entfalten (IV.), schließt sich eine Auseinandersetzung mit den Meinungen an, welche die Vermutungen des GWB als prima-facie-Regeln (V.) oder als bloße Aufgreiftatbestände (VI.) einordnen. Anschließend wird zu erörtern sein, ob die Vermutungen den Unternehmen eine besondere prozessuale Mitwirkungspflicht auferlegen oder ob sie die Amtsermittlungspflicht von Behörde und Gericht einschränken (VII.). Den Schluß bildet eine kritische Würdigung der BGH-Rechtsprechung (VIII.).

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB Wenn im folgenden zur Verdeutlichung der Vermutungswirkungen an das Gegensatzpaar Verhandlungsmaxime/Untersuchungsmaxime angeknüpft wird, so wird dabei nicht verkannt, daß die Maximen im Zivil- und Verwaltungsprozeß nicht mehr in Reinkultur vorkommen,1 weshalb die Sachverhaltsaufklärung nach be-

1

Prutting, NJW 1980,361 (362); Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 271.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

69

strittener Auffassung als "Gemeinschaftsaufgabe" des Gerichts und der Parteien angesehen wird. 2 Insbesondere besteht nach heute herrschender Ansicht die Möglichkeit einer "Grundtypenvermischung", wonach etwa in öffentlich-rechtlichen Verfahrensgesetzen die Geltung der Untersuchungsmaxime durch eine punktuelle Geltung der Verhandlungsmaxime mit Behauptungs- und Beweisfilhrungslasten durchbrochen werden kann.3 In dem hier interessierenden Zusammenhang kommt es allein darauf an, bei wem im konkreten Fall die Last bzw. Pflicht zur Aufklärung eines einzelnen Tatbestandsmerkmals einer Norm liegt, so daß das Begriffspaar Verhandlungsmaxime/Untersuchungsmaxime rein polarisierend verwendet wird. Nach einer kurzen Darstellung der Wirkungsweise gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit Verhandlungsgrundsatz (1.) ist auf die allgemeine Dogmatik zur Wirkung gesetzlicher Vermutungen in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz außerhalb des GWB einzugehen (2.). Im Anschluß an ein Zwischenergebnis (3.) werden die gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen zu benachbarten Rechtsfiguren abgegrenzt (4.).

1. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit Verhandlungsmaxime

Stellt das Gesetz für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung auf, so ist der Beweis des Gegenteils zulässig, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt, § 292 S. 1 ZPO. Es ist heute unbestritten, daß die gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen hinsichtlich des vermuteten Merkmals eine Umkehr der Beweislast bewirken, also echte Beweislastnormen darstellen.4 Von gewöhnlichen Beweislastnormen unterscheiden sich die Vermutungen dadurch, daß ihre Anwendung den Nachweis einer Vermutungsbasis voraussetzt ("voraussetzungsgebundene Beweislastregeln", "Zweiteilung der non liquet-Fälle").5 Die Vermutungsbasis ist im Prozeß 2

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 270 f. m.w.N.; Bettermann, ZZP 91 (1978), 389 ff. ("Kooperationsmaxime"); Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 79 ff, 109 ("Arbeitsgemeinschaft", "Kooperationsmaxime"); ablehnend gegenüber einer derartigen "Verwischung der einzelnen Aufgaben von Gericht und Parteien" Prutting, NJW 1980, 361 (363); Leipold, ZZP 93 (1980), 237 (263). 3

J. Baur, BB 1973, 915, 917 (zu § 3 ΙΠ 2 Nr. 1 GWB); Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 25 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 274. 4

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 48 ff; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, §286, Rzn. 104,126; § 292 Rzn. 5,21 ·, Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPO, 15. Aufl. 1993, § 114 14; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 85 ff ; ders. in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rzn. 7 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 71 ff ; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 216 f.; Gottwald, Jura 1980,225 (235). 5

Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rz. 8; ders., Beweislastregeln, 1966,

70

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

zu behandeln wie jede sonstige Tatbestandsvoraussetzung eines materiellen Rechtssatzes auch. Die Wirkung einer gesetzlichen Vermutung kann auf zweierlei Weise verhindert werden. Zum einen kann der Gegenbeweis gegen die Vermutungsbasis geführt werden. Hierfür genügt, daß die Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen der Vermutungsbasis erschüttert wird. Zum anderen kann der Beweis des Gegenteils des vermuteten Merkmals geführt werden. Dieser Hauptbeweis ist erst geführt, wenn der Richter vom Gegenteil des vermuteten Merkmals voll überzeugt ist.6 Der durch die Vermutung Begünstigte muß das vermutete Merkmal weder behaupten noch unter Beweis stellen, sondern nur die Vermutungsvoraussetzungen. 7 In diesem Zusammenhang wird oft formuliert, die Vermutung "verschiebe" das Beweisthema; anstelle des Beweises des vermuteten Merkmals trete der Beweis der Vermutungsbasis.8 Dies ist jedoch mißverständlich und ungenau. Die spezifische Wirkung widerlegbarer Vermutungen liegt in der Regelung der objektiven Beweislast für das vermutete Merkmal, d.h. in einer eigenständigen Risikozuweisung9 für den Fall, daß die Überzeugungsbildung des Gerichts hinsichtlich des vermuteten Merkmals zu einem non liquet führt. Dagegen ist es keine Folge der Beweislastregelung, daß der Begünstigte die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Vermutung darlegen und beweisen muß. Letzteres ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß der Begünstigte nach der allgemeinen Grundregel der Beweislastverteilung 10 die Beweislast für die Vermutungsvoraussetzungen trägt. Das spezifische Wesen der gesetzlichen Vermutung liegt aber auch nicht darin, daß der Begünstigte für das vermutete Merkmal keine Behauptungs- und Beweisführungslast trägt bzw. daß den Belasteten die Behauptungs- und Beweisführungslast für das Gegenteil des Merkmals trifft. Gedanklich zu trennen sind die Bereiche der Sachverhaltsaufklärung, der Überzeugungsbildung und der Rechtsanwendung. Die materielle Beweislast regelt den Fall, daß die Überzeugungsbildung vom vermuteten Merkmal gescheitert ist S. 92; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 203 ff.; Gottwald, Jura 1980, 225 (235); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 72, 75; Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 130 ("Zweiteilung der non liquet-Fälle"). 6

Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rzn. 15, 18; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rzn. 12,15; Gottwald, Jura 1980,225 (235). 7

Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rzn. 15 f., Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rzn. 12-14. 8 Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rz. 8; Gottwald, Jura 1980, 225 (235). 9 Hierin liegt das Wesen der objektiven Beweislast, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 206,354. 10

Hierzu eingehend § 6 ΠΙ. 2. a).

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

71

(non liquet) und gehört damit in den Bereich der Rechtsanwendung.11 Demgegenüber gehören die Lasten der Darlegung und Beweisführung in den Bereich der Sachverhaltsaufklärung. Die Einzelheiten dieses Bereiches werden von den Verfahrensmaximen bestimmt (wer trägt die Tatsachen vor und veranlaßt die Beweiserhebung?; welche Tatsachen sind beweisbedürftig bzw. können im Urteil verwertet werden? 12). Akzeptiert man, daß die (materielle) Beweislast ohne Einfluß auf die Sachverhaltsaufklärung ist und mit den Verfahrensmaximen nichts zu tun hat,13 so kann die Verteilung der Behauptungs- und Beweisführungslast keine spezifische Vermutungswirkung sein. Wenn dennoch der Vermutung die Behauptungs- und Beweisführungslast folgen, so ist dies nur eine "Vorwirkung" der Beweislast aufgrund der im Prozeß geltenden Verhandlungsmaxime.14 Als Beweislastnormen haben die gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen die gleichen "Vorwirkungen" wie voraussetzungslose Beweislastregeln: Die beweisbelastete Partei versucht, durch eigene prozessuale Aulklärungstätigkeit ein ihr ungünstiges Beweislasturteil zu vermeiden.15 Dieses Eigeninteresse der beweisbelasteten Partei, zur Vermeidung eines non liquet im Prozeß aktiv zu werden, wird wegen der alleinigen Parteienverantwortung für die Sachverhaltsaufklärung unter der Verhandlungsmaxime anders als in Verfahren, in denen die Behörde oder das Gericht für die Aufklärung aller für die Rechtsanwendung relevanten Tatsachen verantwortlich ist, zu einer echten prozessualen Last (Behauptungs- und Beweisführungslast). 16 Die "Vorwirkungen" der Vermutun-

11

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 58.

12

Diese vier verschiedenen Aspekte der Verfahrensmaximen unterscheidet Prutting, NJW 1980,361 (363). 13

Einhellige Auffassung, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 177 f., 259; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208, 258; Berg Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f.: Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 46 f.; Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 115, 152; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 38. 14 Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 38,69. 15

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 19, 43; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rzn. 89,96 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 245 f. 16

Priitting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 43. Eine echte Behauptungs- und Beweisführungslast gibt es nach ganz herrschender Auffassung nur unter der Verhandlungsmaxime, nicht aber unter der Untersuchungsmaxime, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 24 ff., 47; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 169; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 16, 24; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aull. 1993, § 117 IV: Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 37Pesta lozza, FS Boorberg-Verlag. 1977, 185 (197); K. Schmidt in ImmengaMestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992. § 54 Rz. 2.

72

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

gen sind demnach nicht Ausdruck einer Rechtswirkung dieser Normen, sondern die Folge der geltenden Verfahrensmaxime. Daß die eigentliche, spezifische Wirkung einer widerlegbaren Vermutung im Zivilrecht ausschließlich in der Regelung der objektiven Beweislast besteht, läßt sich am Beispiel der gesetzlichen Vaterschaftsvermutung nach § 1600ο II BGB verdeutlichen. Zur Feststellung des wirklichen Vaters muß das Gericht wegen des nach §§6161, 640 ZPO geltenden Untersuchungsgrundsatzes von Amts wegen alle für die Rechtsanwendung relevanten Umstände ermitteln, und zwar unabhängig von etwaigen Behauptungen oder Beweisantritten der Parteien.17 Erst wenn das Gericht sich aufgrund der zusammengestellten Informationsbasis (ggfs. nach Beweisaufnahme) keine Überzeugung darüber bilden kann, ob der Beklagte der Vater des klagenden Kindes ist oder nicht, entfaltet die Vermutung des § 1600ο II BGB ihre Wirkung. 18 § 292 S. 1 ZPO ist somit "maximenneutral".19 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß die gesetzliche widerlegbare Vermutung im Zivilrecht unter der Verhandlungsmaxime wie auch unter der Untersuchungsmaxime ihre spezifische Wirkung erst dann entfaltet, wenn weder eine positive noch eine negative Überzeugung vom vermuteten Merkmals möglich ist 20 (eigenständige Risikozuweisung nur für den den non liquet-Fall21). Spezifische Vermutungswirkungen im Vorfeld des non liquet existieren nicht. Insbesondere sind die gesetzlichen Vermutungen keine "Beweisregeln".22 Durch sie wird keine Tatsache "festgestellt", denn eine beweisschaffende Wirkung würde gerade das Bestehen eines non liquet und damit die Beweislastqualität der Vermutung ausschalten.23 Fingiert wird nicht die Übereinstimmung von Vermutung und objektiver Wahrheit, sondern fingiert wird ein nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehendes Merkmal als im Prozeß feststehend. 24

17

BGHZ 61. 165 (168); BGH NJW 1974,1428.

18

BGH NJW 1975, 2246, BGH NJW 1978, 1684; Mutschier in MünchKomm. zum BGB. 3. Aufl. 1992, § 1600o Rz. 2; Palandt-Diederichsen, 55. Aufl. 1996, § 1600o Rz. 9; Gottwald, Jura 1980,225 (235). 19

In diesem Sinne schon Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 53 f.

20

Gottwald, Jura 1980.225 (235); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 62.

21

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 98, 206, 354; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38. 22 Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 21; ders., Gegenwartsprobleme,1983,S. 49 f.; Gottwald, Jura 1980,225(235), Leipold,Beweislastregeln, 966, S. 79 ff. 23 Prutting Gegenwartsprobleme, 1983. S. 49 f.; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, §292Rz. 7 (Fn. 11). 24

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

73

Im zivilrechtlichen Schrifttum ist anerkannt, daß widerlegbare Vermutungen nicht der Lebenswirklichkeit entsprechen müssen - man denke nur an die vielzitierte Kommortiertenvermutung des § 11 VerschG -. 25 Mit dieser Feststellung ist die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Beweislast angesprochen, worauf noch näher einzugehen sein wird. 26

2. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit Untersuchungsmaxime

Aufzuzeigen ist zunächst nur die allgemeine dogmatische Einordnung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen im öffentlichen Recht. Die kartellrechtliche Diskussion wird ausdrücklich ausgeklammert. Gesetzliche widerlegbare Vermutungen zugunsten der Verwaltung gibt es sowohl in der Eingriffs- als auch in der Leistungsverwaltung. Zu nennen sind etwa die §§ 161 AO, 27 II, 27 III AsylVfG, 71 II 2 AuslG (Eingriffsverwaltung) oder die §§ 79 I, 180 I BEG, 19 I 2 Nr. 1 BeamtVG, 16 BSHG, 4 III 3 WoGG (Leistungsverwaltung). Es darf heute als gesicherte Erkenntnis in Rechtsprechung27 und Schrifttum 28 bezeichnet werden, daß es auch in Verfahren mit Untersuchungsmaxime das non liquet und damit die objektive Beweislast gibt. Während diese Frage in der älteren Rechtsprechung29 und Literatur 30 teils anders gesehen wurde, hat sich heute die 25 Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 49 (Fn. 7), 203; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 359 ff. mit zahlreichen weiteren Beispielen, z.B. § 1362 I BGB, S. 363). 26

Vgl. insbesondere § 5 ΠΙ. 1.

27

Ständige Rspr. seit BVerwGE 3,245, z.B. BVerwGE 37, 192 (198 f.); 52,255 (260); 55, 288 (297 f.): 56, 79 (84); 70, 143 ff ; 78, 367 ff ; BVerwG DÖV 1979,602; DVB1. 1981, 455 (459); NJW 1986,2523 f. 28

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 6 f.; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 90; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 24 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 31 f.; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 127; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 251; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980. S. 169 ff, 164 ff. m.w.N.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 14; Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 11 m.w.N. aus dem älteren Schrifttum; Baur, FS Bachof 1984, 285; Bettermann\ Referat 46. DJT, 1966, S. E 27. 29 BVerfGE 1, 299, 316 ("Das verfassungsgerichtliche Verfahren kennt keine Regeln über die Beweislast, es wird nach der Ofììzialmaxime durchgeführt."); BVerwGE 19, 87, 94; BGHZ 53, 245, 250 ("Anastasia", der BGH verkennt hier die erforderliche Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Beweislast). 30

Schultzenstein, JW 1917, 433 (435 f.); weitere Nachweise bei Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 7 (Fn. 16, 17) und Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980. S. 164 (Fn. 1).

74

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

Einsicht durchgesetzt, daß es keine Form der Sachverhaltsaufklärung gibt, welche die eindeutige Feststellung eines streitigen Sachverhalts erzwingen kann.31 Speziell im Hinblick auf das verwaltungsbehördliche Verfahren ist geklärt, daß Beweislastnormen des materiellen Rechts nicht "prozeßexklusiv" sind, sondern ihre Wirkung überall dort entfalten, wo trotz ergebnisloser Überzeugungsbildung ein Zwang zur verbindlichen Entscheidung besteht.32 Dies folgt aus der Natur der Beweislastnormen als Ergänzungsnormen des unklar gebliebenen Rechtssatzes, die dem Recht der jeweiligen Materie zuzuordnen sind.33 Ferner besteht in der modernen Beweislastdogmatik Einigkeit darüber, daß im Amtsermittlungsverfahren ein Beweislasturteil erst ergehen darf, wenn erstens der Amtsermittler seinen Untersuchungspflichten in vollem Umfange genügt hat und zweitens der Rechtsanwender sich keine positive oder negative Überzeugung bilden kann (non liquet).34 Dabei ist auch hier die Maxime der Sachverhaltsaufklärung für die objektive Beweislast ohne jede Bedeutung.35 Der Bereich der Stoffsammlung, welcher durch die Verfahrensmaximen geregelt wird, 36 ist zu trennen von den Bereichen der Überzeugungsbildung und Rechtsanwendung, in denen der Rechtsanwender sich (auf der Basis des von wem auch immer zusammengetragenen Sachverhalts) eine Überzeugung vom kompletten einschlägigen Normenprogramm bil31

Dies verkennt die zu § 22 ΠΙ GWB von Wirz geäußerte Ansicht, im Amtsverfahren könne es kein non liquet geben, da die Behörde solange ermitteln müsse, bis volle Klarheit gewonnen sei (Wirz, WuW 1975,611,613 f.). 32

Deppe, Beweislast, 1961, S. 104, 109 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 278-280; Νagier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 63-66; für das Verwaltungsverfahren Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 24 Rz. 37. 33 Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 178; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 132; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 210-214. 34

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 257; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 36. 35

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 177 f., 259; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 93 f.; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 46 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208; Harms in Gemeinschaflskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 41, Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f. 36

Nach Prutting, NJW 1980, 361 (363), betreffen die Verfahrensmaximen vier verschiedene Aspekte: (1 ) Wer trägt die Tatsachen vor? (2) Welche Tatsachen können im Urteil verwertet werden? (3) Welche Tatsachen sind beweisbedürftig? (4) Wer veranlaßt die Beweiserhebung?

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

75

den und dieses anwenden muß.37 Die Untersuchungsmaxime hat lediglich Einfluß auf die prozessuale "Vorwirkung" der Beweislast: Trägt der Bürger die Beweislast, so folgt ihr wegen der Amtsermittlungspflicht keine Behauptungs- und Beweisführungslast.38 Bedenkt man, daß § 292 S. 1 ZPO auch in den verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen Anwendung findet (§§ 173 VwGO, 202 SGG, 155 FGO), 39 so sollte nach diesen Vorüberlegungen zur Beweislast im öffentlichen Recht eigentlich kein Zweifel daran bestehen, daß die spezifische Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen im öffentlichen Recht nicht anders sein kann als im Zivilrecht (d.h. nur Regelung der objektiven Beweislast). Indessen bestehen im öffentlich-rechtlichen Schrifttum erhebliche Abweichungen bei der Beschreibung der Wirkungsweise gesetzlicher widerleglicher Vermutungen in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz. Zwar herrscht Einigkeit über die Funktion der Vermutungen als Beweislastnormen,40 doch bestehen Unterschiede bei der Beurteilung weitergehender Vermutungswirkungen und der Abgrenzung zu "zivilrechtlichen Vermutungen". So trifft man insbesondere im älteren Schrifttum auf die Aussage, nicht das vermutete Merkmal bedürfe der Feststellung, sondern lediglich die Vermutungsbasis.41 Teils wird formuliert, die Amtsermittlungspflicht sei grundsätzlich auf die Vermutungsbasis beschränkt.42 Damit wird den Vermutungen eine beschränkende Wirkung hinsichtlich des Umfangs der Amtsermittlungspflicht beigemessen. Inwieweit diese Sichtweise auf einer unreflektierten Übertragung der "prozessualen Vorwirkungen"

37

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 105.

38

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 25 f., 47; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 172. Eine echte Behauptungs- und Beweisführungslast gibt es nach ganz herrschender Auffassung nur unter der Verhandlungsmaxime, nicht aber unter der Untersuchungsmaxime, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 24 ff., 47; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 169; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 16,24; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 I V 1; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 371, Pestalozza, FS Boorberg-Verlag, 1977,185 (197); K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 54 Rz. 2. 39 Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 53 f.; Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 168; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 41. 40

Dies ist unstreitig, vgl. nur Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 84; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365; Peschau, Beweislast, 1983, S. 51; Ν agier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 70; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 91; Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 53. 41 Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 53; Dubischar, JuS 1971, 385 (387); Weiss, RzW 1966,338. 42

Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 182.

76

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

von Vermutungen unter der Verhandlungsmaxime43 auf das öffentliche Recht beruht, bleibt unklar. Demgegenüber besteht im modernen Schrifttum nicht zuletzt dank der grundlegenden Untersuchungen von Berg 44 und Nierhaus 45 zur Beweislast im Verwaltungsprozeß Einigkeit darüber, daß "öffentlich-rechtliche Vermutungen" die Pflicht zur vollständigen Amtsermittlung des vermuteten Merkmals unangetastet lassen.46 Besonders sorgfältig beschreibt Berg unter Zustimmung aus dem neueren Schrifttum die verwaltungsrechtlichen Vermutungen wie folgt: Die Vermutungsbasis gehöre zum materiellen Recht und sei im Prozeß zu behandeln wie jedes sonstige Tatbestandsmerkmal eines materiellen Rechtssatzes. Das materielle Recht werde durch die Vermutung nicht ergänzt; materiellrechtlich sei allein das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Grundnorm maßgeblich.47 Die Anwendung der Vermutung setze voraus, daß der Rechtsanwender sich keine Gewißheit über das (vermutete) Merkmal der Grundnorm verschaffen könne, weshalb Vermutungen keine Beweisregeln seien.48 Damit setze die Anwendung der Vermutungen aber vor- aus, daß alle Versuche der Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung erfolglos geblieben seien; das non liquet sei Voraussetzung für das Eingreifen der Vermutung. 49 Die Vermutungen hätten nicht die Funktion, das Entstehen tatsächlicher Ungewißheit zu verhindern. Sie seien Regeln für den Fall der Überzeugungslosigkeit.50 43

Vgl. §5 1.1.

44

Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980.

45

Beweismaß und Beweislast, Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989. 46

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 82 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365 ff., Ν agier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 71 f.; im Ergebnis wohl auch J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 92, wenn sie davon spricht, die Vermutung greife, wenn das Gegenteil der Vermutung nicht von der Behörde oder dem Gericht festgestellt werde. Hiervon geht auch überwiegend die Rechtsprechung zum besonderen Verwaltungsrecht aus: RFH RStBl. 1935,1529,1530 und BFH HFR 1977, Teil 1,288 f. (zu § 196 RAO bzw. § 161 AO); BVerwGE 15,306,315; BVerwG VerwRspr. 17, 631, 632; BVerwG NJW 1978, 388 f. und BVerwG DÖV 1963, 617,618 (zu §§ 16,122 BSHG); BayVGHDDB 1981,184 unter Berufung auf BVerwGE 34,149,153 (zu § 19 IBeamtVG). 47

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 80 f.

48

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 82; ferner Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 186. 49

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 82 f.; ferner Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365 ff.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 71 f. 50

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 84; ferner Nierhaus, Beweis-

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

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Versteht man mit dem modernen Schrifttum die spezifische Wirkung der verwaltungsrechtlichen Vermutungen ausschließlich in dieser non liquet-Funktion, so stellt sich die Frage, worin eigentlich der Unterschied zu den zivilrechtlichen Vermutungen bestehen soll. Dazu ist zu klären, ob die verwaltungsrechtlichen Vermutungen eine Begrenzung der Amtsermittlungspflicht auf die Vermutungsbasis bewirken, wie dies insbesondere im älteren Schrifttum vertreten wird. Auf die Frage der Wirkung widerlegbarer Vermutungen auf den Umfang der Amtsermittlungspflicht wird in § 5 VII noch näher einzugehen sein. Hier sollen bereits einige allgemeine Gedanken angeführt werden. Die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an das Gesetz durch Art. 20 III GG stellt einen Rechtsvollzugsauftrag dar, welcher die Behörde/den Richter zwingt, das einschlägige Normenprogramm komplett anzuwenden - auch das vermutete Merkmal -. 51 Dies bedeutet, daß der Rechtsanwender sich eine Überzeugung von allen Tatbestandsmerkmalen der Grundnorm - auch vom vermuteten verschaffen muß. Dieser Bereich der Überzeugungsbildung und Rechtsanwendung ist zwar gedanklich zu trennen von der Ebene der Stoffsammlung. Das Gesetzmässigkeitsprinzip des Art. 20 III GG verlangt aber auch, daß der für die Überzeugungsbildung relevante Sachverhalt zusammengetragen werden muß 52 ; die Frage ist nur, wer hierfür verantwortlich ist. Dies legt der Gesetzgeber durch die Bestimmung des Aufklärungsmodells fest. 53 Gilt die Untersuchungsmaxime, so ist die Behörde/der Richter zugleich verpflichtet, den für die Überzeugungsbildung vom vermuteten Merkmal (und von dessen Gegenteil) erforderlichen Sachverhalt umfassend zu ermitteln. Diese für einfache Beweislastnormen selbstverständliche Einsicht54 wird teilweise nicht konsequent auf voraussetzungsgebundene Beweislastnormen übertragen, weil in offensichtlicher Anlehnung an die Umschreibung zivilrechtlicher Vermutungen die irrige Vorstellung herrscht, Vermutungen sollten "das Beweisthema ändern" bzw. "verschieben"55 oder sie sollten die Behauptungs- und Beweisführungslast (hier: die Amtsermittlungspflicht) "auf die Vermutungsbasis verkürzen".56 Eine solche Sichtweise verkennt jedoch die klare Abgrenzung der Bereimaß und Beweislast, 1989, S. 365; Peschau, Beweislast, 1983, S. 51; Ν agier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 70; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 91. 51

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 105.

52

Vgl. nur Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 90 m.w.N. und unten § 5 VII. 1.

53

Siehe hierzu im einzelnen § 5 VE. 1.

54

Vgl. nur Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 36,41; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 257. 55

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365; Peschau, Beweislast, 1983, S. 51; Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 91.

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§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

che der Sachverhaltsaufklärung (welcher durch die Verfahrensmaximen bestimmt wild) und der Rechtsanwendung (Beweislast). Die materielle Beweislast hat mit der Sachverhaltsaufklärung und mit den Verfahrensmaximen nichts zu tun. 57 Ihre Funktion besteht allein in einer Risikozuweisung fur den Fall endgültig gescheiterter Überzeugungsbildung (Rechtsfrage). 58 Die objektive Beweislast entfaltet unter der Untersuchungsmaxime lediglich andere "Vorwirkungen" als unter der Verhandlungsmaxime: Ist es aufgrund der Verhandlungsmaxime eine "Vorwirkung" der Beweislast, daß der Begünstigte die vermutete Tatsache weder behaupten noch beweisen muß,59 so muß die durch die Vermutung begünstigte Behörde unter der Untersuchungsmaxime alle für das vermutete Merkmal relevanten Tatsachen vollständig ermitteln, weshalb den beweisbelasteten Bürger anders als unter der Verhandlungsmaxime keine Behauptungsund Beweisführungslast für das Gegenteil des vermuteten Merkmals trifft. Die Behörde ermittelt also den Sachverhalt zur Überzeugungsbildung vom vermuteten Merkmal und von dessen Gegenteil60 uno actu.61 Würde der Rechtsanwender den Vermutungssatz anwenden, ohne zuvor Ermittlungen zu den Voraussetzungen der Grundnorm angestellt zu haben, so würde er die gesetzliche Vermutung einer Beweisregel gleichstellen, denn dann ließe er die Möglichkeit ungeprüft, ob eine Überzeugung aufgrund freier Beweiswürdigung erzielbar wäre. 62 Beweisregeln fuhren zur prozessualen Tatsachenfeststellung ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung, sofern nur die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen das Gesetz die Feststellungswirkung abhängig macht. Soweit Beweisregeln eingreifen, wird die

56

So insbesondere Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 182 ff.: Vermutungen im Verwaltungsrecht hätten im Gegensatz zu reinen Beweislastnormen die Funktion einer "belastenden Unterstellung". 57

Einhellige Autfassung, vgl. nur Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 177 f., 259; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208, 258; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f.; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 46 f.; Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 115,152; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 38. 58

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 58, 206, 354; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38. 59

Vgl. §5 1.1.

60

Zurecht kritisiert Berg den Begriff "Beweis des Gegenteils", an dem hier zu deskriptiven Zwecken festgehalten werden soll, als verwirrend und mißverständlich, da die "Widerlegungstatsachen" unter der Untersuchungsmaxime von vornherein mitermittelt werden müssen, vgl. Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 86,105 f. 61

Ähnlich Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 86, 88.

62

Ebenso Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 82 f.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

79

Frage nach der Beweislast nicht mehr aktuell, da eben Klarheit in der Tatfrage herrscht. 63 Die verwaltungsrechtlichen Vermutungen können also nicht die Funktion von Beweislastnormen und Beweisregeln zugleich haben. Aus der Wirkung der Vermutungen als Beweislastnormen läßt sich eine Beschränkung der Amtsermittlungspflicht auf die Vermutungsbasis also nicht herleiten. Die Vermutungen müßten eine zusätzliche Wirkung haben, die den Untersuchungsgrundsatz einschränkt. Gegen eine solche zusätzliche Wirkung spricht jedoch ein argumentum e contrario zu solchen gesetzlichen Vermutungen des Verwaltungsrechts, die eine Beschränkung der Amtsermittlungspflicht materiellrechtlich besonders zum Ausdruck bringen, etwa durch die Anordnung solcher "Nachweispflichten", die den Nachweis durch einen Beteiligten zum materiellrechtlichen Tatbestandsmerkmal erheben64 oder durch eine ausdrückliche Bestimmung, wie in § 17 III ZollG geschehen: "Soweit die Vermutungen reichen, beschränkt sich die Ermittlungspflicht nach §§ 88, 89 der Abgabenordnung auf die Beweiserhebung durch diejenigen Beweismittel, die zur Widerlegung der Vermutung angeboten werden."

Danach ist festzuhalten, daß gesetzliche Vermutungen im Verwaltungsrecht die Amtsermittlungspflicht mangels besonderer gesetzlicher Anordnung nicht einschränken. Eine Entscheidung nach Feststellungslast verstößt daher gegen die §§86 1,1081 VwGO, wenn das Gericht keine umfassenden Ermittlungen hinsichtlich des vermuteten Merkmals und seines Gegenteils anstellt.65 Nicht zugestimmt werden kann nach den vorstehenden Überlegungen insbesondere Nierhaus66, der folgenden Unterschied zwischen der Wirkung von Vermutungen im Verwaltungsrecht und "zivilrechtlichen Vermutungen" herausstellt: "Der entscheidende Unterschied zur zivilrechtlichen Vermutung" liege darin, daß die gesetzliche Vermutung im Verwaltungsrecht und damit die Beweislastrechtsfolge erst dann eingreifen könne, wenn das Gericht nach amtswegiger Ermittlung und Würdigung des Verfahrensergebnisses zu einem non liquet gelange. Zu betonen sei,

63

Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 80.

64

Vgl. zur spezialgesetzlichen Durchbrechung des Untersuchungsgrundsatzes durch Normen, die den Nachweis durch den Beteiligten zum Tatbestandsmerkmal und damit zum Gegenstand der Ermittlung erheben mit Beispielen Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 250 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 ff.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 120 ff., 127 ff.; Harms in Gemeinschafiskomm. zum GWB, 4. Aufl.. 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45 f. Hierzu näher und speziell zu § 23a Π GWB § 5 Vn. 65

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 259.

66

Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 367.

80

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

daß zunächst alle Aufklärungsmöglichkeiten auszuschöpfen seien.67 Damit erweckt Nierhaus den Eindruck, als entfalteten "zivilrechtliche Vermutungen" ihre Wirkung bereits vor dem non liquet-Fall. Diese Unterscheidung ist jedoch mißverständlich. Die gesetzliche Vermutung entfaltet auch im Zivilrecht ihre charakteristische Wirkung erst dann, wenn dem Gericht weder eine positive noch eine negative Feststellung des vermuteten Merkmals möglich ist. 68 Daß im Zivilrecht der materiellen Beweislast auch die Behauptungs- und Beweisführungslast folgt, ist keine spezifische Vermutungswirkung, sondern eine "Vorwirkung" der materiellen Beweislast aufgrund der Verhandlungsmaxime. Alle bei der Anwendung gesetzlicher Vermutungen im Zivilrecht und im öffentlichen Recht auftretenden Unterschiede sind auf die Unterschiede zwischen den Verfahrensmaximen zurückzuführen, nicht auf unterschiedliche Vermutungswirkungen. Nach alledem kann kein Unterschied zwischen der spezifischen Wirkung von Vermutungen im öffentlichen Recht und im Zivilrecht festgestellt werden. Ebenso wie "zivilrechtliche" Vermutungen können Vermutungen im Verwaltungsrecht die objektive Beweislast für eine Tatsache differenziert aufteilen, da die Anwendbarkeit der Vermutung durch die Ausgestaltung der Vermutungsbasis "gesteuert" werden kann ("Zweiteilung der non liquet-Fälle").69 Auch insoweit muß betont werden, daß diese differenzierende Aufteilung der Beweislast keine spezielle Vermutungswirkung darstellt, sondern allein daraus resultiert, daß die Anwendbarkeit der Beweislastnorm vom Vorliegen zusätzlicher Tatbestandsmerkmale abhängt. Ebenso wie im Zivilrecht wird im öffentlichen Recht der Rechtsanwender durch die Vermutung angewiesen, von dem unaufgeklärten Merkmal auszugehen; es wird positiv fingiert. 70 Aus diesem Grunde kann bereits hier die von G. Meier vertretene Ansicht, die Vermutungen des GWB erweiterten den Adressatenkreis der der Verbotsnorm unterfallenden Unternehmen,71 als rechtsirrig abgelehnt werden. Durch die Anweisung der Vermutung wird das unklare Merkmal als im Prozeß feststehend fingiert, so daß nicht ohne es oder abweichend von der Verbotsnorm entschieden wird. Auf diese Weise harmonisieren gesetzliche Vermutungen zwi-

67

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 367.

68

Gottwald, Jura 1980,225 (235); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 62.

69

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 84; Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 130; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 366. 70

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 92. 71

G. Meier, ZHR 145 (1981), 393, 399 f. (zu § 22 ΠΙ), 401 f. (zu § 23a) und 404 f. (zu §26 Π 3).

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

81

sehen dem Rechtsverweigerungsverbot des Art. 19 IV GG 72 und dem Gesetz- und Tatbestandsmäßigkeitspostulat des Art. 20 III GG. 73 Einigkeit besteht im allgemeinen öffentlich-rechtlichen Schrifttum schließlich darüber, daß die Vermutung im Verwaltungsrecht ebensowenig wie im Zivilrecht auf die Existenz lebensmäßiger Wahrscheinlichkeit zurückgeführt werden muß.74 Als Beispiel zu nennen ist § 180 I BEG, der vermutet, daß ein Verfolgter, dessen Aufenthalt seit dem 8. Mai 1945 unbekannt ist, gerade an diesem Tage verstorben ist. Inwieweit für die Vermutungen des GWB Gegenteiliges zu fordern ist, wird unten75 näher behandelt. Auch wenn der mit dem Feststellungsrisiko belastete Bürger wegen der vollständigen Aufklärungspflicht der Behörde keine echte prozessuale Last in dem Sinne verspürt, daß seine Untätigkeit bei der Sachverhaltsaufklärung zwingend zum Prozeßverlust fuhrt, so kann dennoch nicht geleugnet werden, daß die Vermutungen auch unter der Untersuchungsmaxime einen erheblichen Druck auf den Bürger ausüben, durch eine eigene prozessuale Aufklärungs- und Beweistätigkeit das für ihn nachteilige non liquet zu vermeiden.76 Diese "faktische Vorwirkung" der Beweislast unter der Untersuchungsmaxime resultiert zum einen daraus, daß die Aufklärungspflicht der Verwaltung ihre natürlichen Grenzen in dem menschlichen Erkenntnisvermögen und in der Prozeßökonomie findet, so daß der Bürger ein starkes Eigeninteresse daran haben muß, die Verwaltung durch zusätzliche Darlegungen und Beweisangebote in die Lage zu versetzen, weitere Aufklärung zu betreiben und sich vom NichtVorliegen des vermuteten Merkmals zu überzeugen.77 Zum anderen resultiert der Druck auf den Bürger aus der rechtstatsächlichen Gefahr

72 Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 43, 124 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 35. 73

Ähnlich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989,S. 184,f. einfache Beweislastnormen.

74

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 80, 87; Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 184 f.; Deppe, Beweislast, 1961, S. 83. 75

§ 5 m . 1., 3. und §6 VI. 3. b).

76

Dies betont Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 43 .A.A. Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 116 f. mit der Behauptung,, das non liquet gewährleiste keine ausreichende Motivation der Beteiligten", da die Beteiligten zwangsläufig dazu verleitet würden, zunächst die Ergebnisse der amtswegigen Ermittlungen abzuwarten, bevor sie eigene Aufklärungsbeiträge liefern. Dagegen legt Braun auf S. 158-162 unter Hinweis auf BVerwGE 44, 265ßVerwG BayVBl.1979, 504 und BVerwGE 52,255 ausführlich dar, das Verwaltungsrecht aktiviere die Betroffenen durch eine ungünstige Verteilung der objektiven Beweislast zur Aufklärung des Sachverhalts; nur so werde der geeignete Wissensträger aktiviert. Er widerlegt sich damit selbst. 77

Ähnlich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 278 f.

6 Ittner

82

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Besch werde verfahren

einer faktischen Handhabung der Vermutungen wie Beweiswürdigungsregeln: Die Behörde beschränkt sich vielfach zunächst auf die Feststellung der Vermutungsbasis und prüft dasjenige, was die Grundnorm an tatsächlichen Feststellungen voraussetzt, erst in einer "Widerlegungsstation", wobei hier rein faktisch wegen der günstigen Beweislast kein großes Interesse mehr an aufwendigen Ermittlungen besteht. Damit verschafft sich der Rechtsanwender seine Überzeugung insbesondere in Fällen, in denen die Vermutung einem Lebenserfahrungssatz nachgebildet worden ist, unbewußt nicht durch eine freie Würdigung von Aufklärungsergebnissen zum Tatbestand der Grundnorm, sondern ohne eigene Ermittlungen aufgrund der gesetzlichen Vermutung.78 Daß eine Praxis, den Vermutungssatz derart vorschnell anzuwenden, gegen die Pflichten zur vollständigen Amtsermittlung und zur freien Überzeugungsbildung verstößt, bedarf keiner näheren Ausführung. Es handelt sich hier um eine faktische Gefahr der Behördenpraxis, durch die das Eigeninteresse des Bürgers, die Gegenteilsbeweisfuhrung durch eigene Behauptungen und Beweisangebote zu unterstützen, zusätzlich aktiviert wird. 79

3. Zwischenergebnis

Außerhalb des Kartellrechts haben sich gesetzliche widerlegbare Vermutungen sowohl in Verfahren mit Verhandlungsmaxime als auch in Verfahren mit Untersuchungsmaxime als voraussetzungsabhängige Risikozuweisungsnormen für den non liquet-Fall erwiesen. Mag die "Vorwirkung" der Beweislastnormen aufgrund unterschiedlicher Sachverhalts-Aufklärungsmodelle auch variieren, so ist doch deutlich geworden, daß die spezifische, charakteristische Wirkung gesetzlicher Vermutungen ausschließlich in einer Regelung der objektiven Beweislast besteht. Diese spezifische Wirkung weist keinerlei Unterschiede zur Wirkung einfacher (voraussetzungsloser) Beweislastnormen auf, sieht man einmal davon ab, daß die Vermutungen eine klare Anweisung an den Rechtsanwender enthalten, wie er methodisch vorzugehen hat.80 Die unterschiedlichen "Vorwirkungen" der Vermutungen entstehen ausschließlich als Folge der Unterschiede zwischen den Verfah-

78

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 86 f.

79

Auch das BKartA pflegt in seiner Entscheidungspraxis zu § 22 ΠΙ GWB zunächst von den Vermutungen auszugehen, um dann festzustellen, ob diese durch unternehmerisches Gegenvorbringen und eigene Ermittlungen widerlegt oder bestätigt worden sind. Vgl. nur WuW/E BKartA 1799 (1800 ff.) "Blei- und Silberhütte Braubach"; WuW/E BKartA 1561 (1564 ff.) "o b."; WuW/E; BKartA 1526 (1527 ff.) "Valium/Librium"; WuW/E BKartA 2421 (2425) "Unilever/Braun"; weitere Nachweise aus der Kartellamtspraxis bei Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 92. 80

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

83

rensmaximen. Danach ist für die dogmatische Einordnung außerhalb des Kartellrechts festzuhalten: Es gibt "verwaltungsrechtliche Vermutungen" oder "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" ebensowenig, wie es eine "verwaltungsrechtliche Beweislast" oder eine "Beweislast im zivilrechtlichen Sinne" gibt. Es existiert nur ein einheitliches Rechtsinstitut der gesetzlichen widerlegbaren Vermutung, das in allen Verfahrensordnungen dieselbe spezifische Wirkung entfaltet. Die Abgrenzung "Vermutung im zivilrechlichen Sinne" muß daher allein auf die unterschiedlichen "Vorwirkungen" der materiellen Beweislast als Folge der jeweiligen Verfahrensmaxime bezogen werden. Soweit demgegenüber der kartellrechtliche Gesetzgeber81 und der Kartellsenat des BGH 82 Unterschiede zwischen den Vermutungen des GWB und "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" herausstellen, wird nachfolgend unter II. - VII. zu untersuchen sein, ob Besonderheiten des Kartellrechts eine solche Differenzierung rechtfertigen.

4. Abgrenzung zu benachbarten Rechtsfiguren

Zur Eckdatenbestimmung für die nachfolgende Auseinandersetzung mit der kartellrechtlichen Diskussion sind die gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen gegenüber tatsächlichen Vermutungen und dem prima-facie-Beweis [a)] sowie gegenüber verwaltungsrechtlichen Regelbeispielen und abstrakten Gefährdungstatbeständen [b)] abzugrenzen.

a) Tatsächliche Vermutungen und prima-facie-Beweis Der Anscheinsbeweis und die tatsächlichen Vermutungen gehören trotz zahlreicher Untersuchungen dieser Phänomene83 zu den problematischen Figuren des Be81 Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 82

BGH WuW/E 1749 (1754) "Klöckner/Becorit", auszugsweise wiedergegeben unter § 4 Π.; BGH WuW/E 2231 (2237 f.) "Metro/Kaufhof. 83

Vgl. aus dem jüngeren Schrifttum nur Prutting, Gegenwartsprobleme, S. 50 ff., 94 ff.; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rzn. 47 ff., § 292 Rzn. 22 f., Musielak/Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, 1984, Rz. 159 f.; Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, 1985, S. 11 ff.; Rommé, Anscheinsbeweis, 1988; Baumgärtel, FS Schwab, 1990, S. 43 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 96 ff.; Michael, Verteilung der objektiven Beweislast, 1976, S. 113 ff.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 52 ff., Nachweise aus dem umfangreichen älteren Schrifttum bei Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50 ff., 94 ff. und Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 96 ff.

6*

84

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

weisrechts. Das Wesen des prima-facie-Beweises wird u.a. gedeutet als Form der Beweislastumkehr, als Teil der Beweiswürdigung, als Möglichkeit der Beweismaßreduzierung oder als stillschweigende richterliche Abänderung des materiellen Rechts.84 Hinzu kommt eine verwirrende Rechtsprechung, die dem Anscheinsbeweis völlig verschiedenartige "tatsächliche Vermutungen" unterlegt, die nicht mehr systematisierbar sind.85 Noch diffuser ist das Bild bei den sog. tatsächlichen Vermutungen. Diese werden in Rechtsprechung und Schrifttum teils als richterrechtliche Entwicklung neuer Vermutungen i.S.v. § 292 ZPO angesehen oder sonstwie zur Abänderung der gesetzlichen Beweislastverteilung verwandt, teils dem Anscheinsbeweis gleichgesetzt oder zur Erleichterung der Beweisführung als Erfahrungssätze minderen Ranges bzw. als normale Indizien eingestuft. 86 Es ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung, die Problematik des Anscheinsbeweises und tatsächlicher Vermutungen wissenschaftlich aufzuarbeiten. Dies haben insbesondere Prütting 87 und Berg 88 bereits überzeugend getan. Mit der heute wohl herrschenden Meinung lassen sich diese Rechtsfiguren wie folgt einordnen: Anscheinsbeweis bedeutet die Anwendung bestimmter Sätze der Lebenserfahrung im Rahmen der Beweiswürdigung. Der Anscheinsbeweis ist geführt, wenn ein durch die Lebenserfahrung bestätigter gleichförmiger Vorgang (sog. typischer Geschehensablauf) vorliegt, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens festzustellen ("irgendwie-Beweis"). Zu seiner Entkräftung genügt eine Erschütterung der richterlichen Überzeugung von der Typizität des Geschehensablaufs (Gegenbeweis).89 In Verfahren mit Untersuchungsmaxime ist der Begriff "Gegenbeweis" ebenso ver-

84

Vgl. im einzelnen Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 95 ff. m.w.N.

85

Vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50 ff., 94 und Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 98 ff., 112 ff.; ferner BVerwGE 67, 270 (272); 70, 34 (36 ff.); BVerwG NVwZ 1983,738 (739); NVwZ 1984, 510 (511); DVB1. 1985,966 (968); NJW 1986,674 (675 f.). 86 Vgl. die umfassenden Nachweise aus dem Schrifttum sowie der zivilgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bei Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50-56; dems. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rzn. 22; ferner bei Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 96 f f ; bei Peschau, Beweislast, S. 52 ff. und bei Baumgärtel, FS Schwab, 1990, S. 43 ff. 87

Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 50 ff. und 94 ff.

88

Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 96 ff.

89 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 95; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 86 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 101, 103 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 53 f.; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl. 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 37, 57.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

85

wirrend und mißverständlich wie der Begriff "Beweis des Gegenteils" bei den gesetzlichen Vermutungen, da der Rechtsanwender auch die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Verlaufs aufklären und berücksichtigen muß, bevor er vom "ersten" Anschein überzeugt sein kann.90 Der Anscheinsbeweis räumt Unklarheiten des Sachverhalts aus. Er ermöglicht eine richterliche Sachverhaltsfeststellung und schließt damit die objektive Beweislast logisch aus, deren Funktion gerade das endgültige Scheitern der Überzeugungsbildung (non liquet) vorausetzt.91 Der Anscheinsbeweis weist seinem Wesen nach keine fundamentalen Unterschiede zum Indizienbeweis auf, da es ausschließlich eine Frage des Grades der Wahrscheinlichkeit ist, wann ein Erfahrungssatz einen so hohen Bestätigungsgrad aufweist, daß er in der Lage ist, die vollerichterliche Überzeugung zu begründen.92 Damit gehört der Anscheinsbeweis zurfreien richterlichen Beweiswürdigung. 93 Der Unterschied zum Vollbeweis liegt weder in einem herabgesetzten Beweismaß94 noch in der Berücksichtigung von Erfahrungssätzen -diese sind Bestandteile jeder Beweiswürdigung 95-, sondern allein in dem Verzicht auf eine konkrete Sachverhaltsfeststellung, weil jede denkbare Variante zu demselben Ergebnis führt ("irgendwie-Beweis"). 96 "Tatsächliche Vermutungen" (praesumtiones facti) sind wie der Anscheinsbeweis Erfahrungssätze und damit reine Wahrscheinlichkeitsaussagen.97 Sie fallen nicht unter § 292 ZPO und regeln nicht die objektive Beweislast, da auch hier die Lebenserfahrung gerade zur Bildung einer richterlichen Überzeugung, d.h. zur Vermeidung eines non liquet herangezogen wird. Sie gehören ebenfalls in den

90

So zurecht Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 105 f., 109.

91

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 97 f; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 103 f., 106; Ν agier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 74. 92

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 102 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 100 f., 107 ff. 93

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 110; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 84; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 106 ff.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 74. 94

Ausnahmen gelten im Bereich der Kausalität und des Verschuldens als Folge einer Auslegung des materiellen Rechts, vgl. Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983,108 ff. m.w.N., Leipold, Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 16. 95

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 111; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 97 f., 107. 96

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 110 f., ähnlich Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 103 f. 97

Prutting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 3; ders., Gegenwartsprobleme, 1983, S. 57; Peschau, Beweislast, 1983, S. 52.

86

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

Bereich der freien Beweiswürdigung. 98 Dort können sie entweder dem Anscheinsbeweis unterlegt werden (bei entsprechend hohem Bestätigungsgrad) oder unter Heranziehung weiterer Indizien die richterliche Überzeugung begründen.99 Damit sind tatsächliche Vermutungen als eigene Rechtsfigur streng genommen überflüssig. Entweder ist die tatsächliche Vermutung so stark, daß ein auf ihr gründender Erfahrungssatz zur Führung eines Anscheinsbeweises ausreicht oder sie gehört zu den isoliert nicht überzeugenden Indizien.

b) Verwaltungsrechtliche Regelbeispiele und abstrakte Gefährdungstatbestände Da die Vermutungen des GWB nicht nur als "prima-facie-Regeln" oder als "Indizien" eingeordnet werden, sondern u.a. auch als "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen", "verbindliche Interpretationshilfen", "Auslegungsanweisungen", "gesetzgeberische Konkretisierungen des Marktbeherrschungsbegriffs" oder als "Gefährdungstatbestände" qualifiziert werden, 100 bedarf es auch der Klarheit über verwaltungsrechtliche Regelbeispiele und abstrakte Gefährdungstatbestände. aa) Die Regelbeispielsmethode wird vom Gesetzgeber zur Konkretisierung besonders unbestimmter Rechtsbegriffe verwandt. So präzisiert das Gesetz durch Regelbeispiele etwa die unbestimmten Rechtsbegriffe "besondere Härte", 101 "erforderliche Zuverlässigkeit", 102 "ungeordnete Vermögensverhältnisse", 103 "angemessene Wohnungsgröße", 104 "Besorgnis der Beeinträchtigung dienstlicher Interessen"105 "Beeinträchtigung oder Gefährdung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland" 106 oder "besonders schwerer Fall". 107 Im Vergleich zu einer starren Kasuistik 98

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 55; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, Rzn. 7, 22 f.; Leipold in Stein/Jonas, 20. Aufl. 1987, § 292 Rz. 6; Baumgärtel, FS Schwab, 1990, S. 43 (51); Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 13; Peschau, Beweislast, 1983, S. 54 f. 99

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 57; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 23; Leipold in Stein/Jonas, 20. Aufl. 1987, § 292 Rz. 6; Baumgärtel, FS Schwab, 1990, S. 43 (51); Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 13; ähnlich Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 100 f. 100

Vgl. §4 vorl. und I.

101

§ 12 IV WPflG, § 11IV 2 ZDG.

102

§§ 33c Π 2,34b IV 1 Nr. 1,34c Π Nr. 1 GewO, § 5 Π WaffG, § 17IV BJagdG.

103

§§ 34b IV 1 Nr. 2,34c Π Nr. 2 GewO.

104

§ 5 Π 2 WoBindG.

105

§ 42 Π 3 BRRG, § 65 Π 3 BBG.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

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bergen Regelbeispiele den Vorteil größerer Elastizität, da sie den unbestimmten Rechtsbegriff weder zwingend noch abschließend ausfüllen: Die Merkmale eines Regelbeispiels decken sich mit der generellen gesetzgeberischen Bewertung des unbestimmten Rechtsbegriffs, so daß dieser bei Verwirklichung des Regelbeispiels grundsätzlich zu bejahen ist (sog. "Regelwirkung", "intendierte Entscheidung").108 Der Rechtsanwender hat kein Ermessen; er muß nur prüfen, ob besondere Umstände des konkreten Sachverhalts qualitativ so wesentlich vom Leitbild des Regelbeispiels abweichen, daß dessen "indizielle" Wirkung entfällt. Ist dies nicht der Fall, so bedarf die Bejahung des unbestimmten Rechtsbegriffs keiner zusätzlichen Begründung, das Regelbeispiel ist dann verbindlich ein casus des unbestimmten Rechtsbegriffs. 109 Umgekehrt ist der Rechtsanwender nicht daran gehindert, den unbestimmten Rechtsbegriff auch dann zu bejahen, wenn ein sonstiger, von den Regelbeispielen nicht erfaßter Sachverhalt vorliegt, der dem Leitbild der Regelbeispiele qualitativ entspricht. 110 Damit erweisen sich gesetzliche Regeltatbestände als Rechtsanwendungsvorgaben. Der Gesetzgeber gibt dem Rechtsanwender einen verbindlichen materiellrechtlichen Interpretations- bzw. Auslegungsmaßstab für den unbestimmten Rechtsbegriff an die Hand und sieht für den Normalfall eine bestimmte Entscheidung vor (Rechtsfrage). 111 Vom Anscheinsbeweis unterscheiden sich Regelbeispiele dadurch, daß sie die Sachverhaltsfeststellung nicht erleichtern (Tatfrage), sondern diese gerade als Basis der nun erfolgenden Rechtsanwendung voraussetzen. Von den gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen unterscheiden sich Regelbeispiele dadurch, daß sie keine Anwendung eines Tatbestandsmerkmals im non liquet-Fall ermöglichen, sondern einen feststehenden (ggfs. durch Beweislastnormen fingierten) Sachverhalt voraussetzen, der unter einen unbestimmten Rechtsbegriff zu subsumieren ist. Demgemäß beruht es auf einer völligen Verkennung der unterschiedlichen Funktion von gesetzlichen Vermutungen und Regelbeispielen, wenn Peschau112 ausführt, Regelbeispiele seien in ihrer Wirkung den gesetzlichen Vermutungen verwandt. Regelbeispiele sind weder besondere Beweislastnormen 113 noch ermöglichen 106

§ 7 Π AuslG und (unausgesprochen) § 47 Π und ΠΙ 1 AuslG.

107

§ 243 12 StGB, § 29 m 2 BtMG.

108

Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 40 Rz. 1 la m.w.N.

109

BVerwG NJW 1986, 738 und 1564; Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 40 Rz. 1 la, § 39 Rz. 7a. l:10

Peschau, Beweislast, 1983, S. 124.

111

Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 40 Rz. 1 la; in diesem Sinne auch Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 60. 112

Die Beweislast im Verwaltungsrecht, 1983, S. 124.

113

Es ist nicht Inhalt der Regelbeispiele, die Beweislast für atypische Einzelfallumstände

88

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

sie die Rechtsanwendung, sondern sie konkretisieren das materielle Recht (Entscheidungsmaßstab). Es ist auch mißverständlich, wenn Harms 114 im Zusammenhang mit Regelbeispielen von einer "Absicherung durch praktische Erfahrungen" oder von "Regelwahrscheinlichkeit" spricht. Empirik und Wahrscheinlichkeit gehören in den Bereich der Beweiswürdigung, 115 während Regelbeispiele den Inhalt des materiellen Rechts verdeutlichen. bb) Der Begriff "Gefährdungstatbestand" ist dem Recht der Gefahrenabwehr als "terminus technicus" unbekannt. Für eine "Gefährdung" der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung wird vielmehr der Begriff der "abstrakten Gefahr" verwandt. 116 Gefahr ist eine Sachlage, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung führen würde. 117 Zur Bejahung einer Gefahr ist somit eine Prognose anzustellen.118 Die abstrakte Gefahr ist diejenige Gefahr, die Voraussetzung für den Erlaß von Gefahrentatbeständen ist. 119 Während bei der individuellen polizeilichen Verfügung im konkreten Fall eine Gefahr bestehen muß (konkrete Gefahr), wirkt der gesetzliche Gefahrentatbestand bestimmten Arten von Handlungen oder Zuständen entgegen, aus denen typischerweise mit statistischer Gesetzmäßigkeit Schäden zu entstehen pflegen (abstrakte Gefahren). 120 Die Norm legt diese Handlungen oder Zustände rechtsverbindlich als gefährlich fest, so daß dem Normadressaten nicht der Einwand zusteht, daß die abstrakt vorausgesetzte Gefahr in seinem speziellen Falle tatsächlich gar nicht bestehe. Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung wird "unwiderleglich vermutet". 121 Damit kann ein Eingriff aufgrund abstrakter Gefährlichkeit ergehen, ohne daß eine konkrete Gefahr bestehen muß. Die abstrakte Gefahr verlangt aber (wie die konkrete Gefahr) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des oder für den unbestimmten Rechtsbegriff zu regeln. Diese folgt vielmehr den allgemeinen Regeln, was Peschau aaO. verkennt. 114

Harms in Gemeinschafiskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 62.

115

Dazu näher § 5 m.

116

Vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens,

117

Statt vieler Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rz. 115.

Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27,4. (S. 496).

118

Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rzn. 132 f f ; Darnstädt, Gefahrenabwehr, 1983, S. 22 ff., 99 f f ; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 138. 119

Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rzn. 120, 467; Darnstädt, Gefahrenabwehr, 1983, S. 99. 120

Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27, 4. (S. 495); Darnstädt, Gefahrenabwehr, 1983, S. 100 ff. 121 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27,4. (S. 496); Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rz. 467; Gusy, Polizeirecht, 1993, Rz. 325.

I. Die Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen außerhalb des GWB

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Schadenseintritts. Mindestvoraussetzung für die Kodifizierung von Gefahrentatbeständen ist daher eine generelle, statistische Schadenswahrscheinlichkeit.122 Dabei ist das Maß der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht konstant, sondern abhängig von materiell-wertenden Überlegungen zur Schwere der drohenden Schäden (umgekehrte Proportionalität von Schadensausmaß und Schadenswahrscheinlichkeit).123 Von gesetzlichen widerlegbaren Vermutungen unterscheiden sich abstrakte Gefahrentatbestände nicht nur dadurch, daß sie empirisch fündiert sein müssen und daß sie unwiderlegbar sind. Sie stellen überhaupt keine Beweislastregeln dar, sondern materiellrechtliche Eingriffsermächtigungen. Beispiel eines abstrakten Gefahrentatbestandes ist § 24 I GWB: Begründen Umstände die Erwartung, daß durch einen Zusammenschluß eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird, so liegt hierin eine abstrakte Gefahr ("Gefährdung") für den freien Wettbewerb 124 unabhängig davon, ob diese Gefährdung im konkreten Einzelfall tatsächlich zu einem Schaden für den Wettbewerb führt oder nicht. 125 Die Besonderheit des § 24 I GWB besteht darin, daß er eine doppelte Prognose zum Gegenstand hat: Zum einen hat der Gesetzgeber bei der Normbildung die Prognose abgegeben, daß bei Vorliegen der kodifizierten Tatbestandsmerkmale typischerweise Schäden für den Wettbewerb entstehen werden. Zum anderen setzt aber - und dies ist die Besonderheit - die Bejahung des Tatbestandes zusätzlich eine Prognose des Rechtsanwenders voraus, 126 nämlich die Erwartung, daß durch den Zusammenschluß eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird. Damit liegt eine "Prognosekette" vor: Der Gesetzgeber gibt eine (abstrakte) Schadensprognose für den Fall ab, daß der Rechtsanwender im konkreten Fall eine bestimmte Entwicklung prognostiziert. Mit dem Begriff "Prognose" ist bereits das erste Stichwort für die nun folgende Diskussion angeblicher Besonderheiten der Vermutungen des GWB gefallen.

122

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 139 (Fn. 208) m.w.N.; Drews/ Wache/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27, 4. (S. 496) m.w.N.; Gusy, Polizeirecht, 1993, Rz. 324 f.; Darnstädt, Gefahrenabwehr, 1983, S. 100 ff. 123 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27,4. (S. 496); Schink, DVB1. 1989,1182 (USI); Darnstädt, Gefahrenabwehr, 1983, S. 112 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 137; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 57 m.w.N. 124

Natürlich vorbehaltlich des Ergebnisses der Abwägungsklausel des § 24 I Halbs. 2 GWB, die in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden kann. 125 BGHZ 79, 62 (67) "Klöckner/Becorit"; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 343 m.w.N. 126

Vgl. statt vieler Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rzn. 32 ff.; Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 34; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 383 ff.

90

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u. Beschwerdeverfahren

II. Vermutung und Prognose 1. Problematik

Soeben wurde erörtert, daß die Bejahung des Tatbestandes des § 24 I GWB vom Rechtsanwender eine Prognose verlangt: Die Erwartung, daß durch einen Zusammenschluß eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird. § 23 a I GWB, an dessen Beispiel die Problematik erörtert werden soll, vermutet eben diese Erwartung. Geht man vorbehaltlich einer Bestätigung durch die nachfolgenden Betrachtungen (III.) davon aus, daß auch die Vermutungen des GWB Beweislastnormen sind und vergegenwärtigt man sich, daß gesetzliche Vermutungen grundsätzlich nur als Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bekannt sind, 127 so stellt sich die Frage, ob Vermutungen auch eine künftige Entwicklung zum Gegenstand haben können, genauer: gibt es bei der Prognose selbst ein non liquet und damit eine objektive Beweislast? Ausgelöst wurde die Diskussion um die Existenz der Beweislast bei Prognosen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Gewähr der Verfassungstreue bei Beamtenbewerbern. Nach §§ 4 I Nr. 2 BRRG, 7 I Nr. 2 BBG bzw. den landesrechtlichen Beamtengesetzen128 darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit fur die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. Das Β VerfG hat 1975 in seinem grundlegenden Beschluß ausgeführt, "Gewähr bieten" bedeute, daß keine Umstände vorliegen dürften, die nach der Überzeugung der Ernennungsbehörde die künftige Erfüllung der Pflicht zur Verfassungstreue zweifelhaft erscheinen ließen.129 Bei dieser Entscheidung gebe es keine Beweislast. "Zweifel an der Verfassungstreue" bedeute, daß der Entscheidende nicht überzeugt sei, daß der Bewerber die geforderte Gewähr biete. Dieser Überzeugung liege ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Bewerbers zugrunde. 130 Das BVerwG hat diese Rechtsprechung 1980 dahingehend präzisiert, die Auffassung des Β VerfG, es gebe keine Beweislast, betreffe nicht die tatsächlichen Grundlagen der dem Dienstherrn vorbehaltenen Per-

127

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 48; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292, Rzn. 5,12; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1987, § 292 Rzn. 7,16 ff ; ders., Beweislastregeln, S. 76, 93 ff; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 60 ff; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 114 14; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980 S. 80 ff, 85; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 364; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 91. 128

In Nordrhein-Westfalen: § 6 1 Nr. 2 LBG.

129

BVerfGE 39,334 (350 ff); ebenso BVerwGE 61,176 (180).

130

BVerfGE 39,334 (353); ebenso BVerwGE 61,176 (180,185,189).

Π. Vermutung und Prognose

91

sönlichkeitsprognose, sondern diese selbst. Für die Tatsachen, welche die Zweifel des Dienstherrn rechtfertigten, trage dieser die materielle Beweislast.131 Gibt es damit bei Prognosen selbst keine Beweislast? Dieses Ergebnis scheinen in der Tat Teile des Schrifttums zu vertreten. So hat Nierhaus zu dem vorgenannten Beschluß des BVerfG bemerkt, ein subjektives, wertendes Prognoseurteil sei im Gegensatz zu der faktisch belegbaren Prognosebasis der Sache nach "nicht beweis(last)fkhig", da es sich in der Form der Einschätzung auf eine prinzipiell ungewisse zukünftige Entwicklung beziehe.132 Da die Zukunft prinzipiell nicht Gegenstand rationaler Erfahrung sein könne (unbeobachtbar sei), enthalte jede Prognose infolge zukunftsbedingter Entwicklungsunsicherheit wesensnotwendig ein non liquet.133 Peschau fuhrt aus, "beweisen" bedeute, dem Gericht die Überzeugung von der Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung zu verschaffen. Tatsachen fänden sich in der Gegenwart und in der Vergangenheit, nicht aber in der Zukunft, sei ein bestimmter Sachverhalt auch mit noch so großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Bei der eigentlichen Zukunftseinschätzung könne daher von Beweis und Beweislast im strengen Sinne nicht die Rede sein, hier könne allenfalls von einem "Prognoserisiko" gesprochen werden. 134 In diesem Sinne vertritt auch Mahlmann die These, bei Prognosen handele es sich um subjektive Bewertungen und nicht um die durch Beweis verifizierbare Feststellung von Tatsachen.135 Besonders deutlich hat sich jüngst J. Dürig 136 am Beispiel des Gefahrenbegriffs gegen die Existenz eines non liquet bei Prognosen gewandt. Die zur Bejahung einer Gefahr anzustellende Prognose 137 stelle ein subjektives, abwägendes Wahrscheinlichkeitsurteil dar, das für einen prozeßoder verfahrensrechtlich abweichenden Wahrscheinlichkeitsgrad keinen Raum mehr lasse. Die Situation des non liquet sei nicht mehr denkbar, wenn wie beim Gefahrenbegriff die Ungewißheit bereits Element des materiellen Tatbestandsmerkmals sei. Dann seien nur noch zwei Bereiche möglich: der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad sei erreicht oder nicht. Der Rechtsbegriff selbst verlange ein subjektives Wahrscheinlichkeitsurteil, so daß die vom Begriff des non liquet vorausgesetzte Trennung von materiell-rechtlicher Tatbestandserfüllung und prozessualer Ungewißheit nicht mehr möglich sei. Zweifel würden schon über die "zwischen Scha131

BVerwGE 61,176 (189).

132

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22, Fn. 50).

133

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22).

134

Peschau, Beweislast, 1983, S. 132 f. und S. 137 f. (auf S. 137 f. Zustimmung zur vorstehend zitierten Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG). 135

Mahlmann, Ermessen, Beurteilungsspielraum und Beweislastverteilung, in: Lukes , 1. Dt. Atomrechtssymposium, 1973, S. 269 (280 ff.). 136

Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 85 ff.

137

Vgl. zum Gefahrenbegriff § 5 I. 4. b).

92

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

densausmaß und Schadenswahrscheinlichkeit abwägende Auslegung des Rechtsbegriffs" gelöst.138 In der Konsequenz ist für J. Dürig ein non liquet nur bei der Feststellung der tatsächlichen Prognosebasis denkbar. 139 Überträgt man die vorgenannten Literaturmeinungen auf die Prognose i.S.v. § 24 I GWB, so wäre diesbezüglich keine Beweislast denkbar. Eine objektive Beweislast wäre nur hinsichtlich derjenigen Tatsachen denkbar, welche die Erwartung (Prognose) i.S.d. § 241 GWB rechtfertigen. Die Vermutungen des § 23a I GWB müßten als Beweislastregeln nicht für die Prognose selbst verstanden werden, sondern als Beweislastregeln fur die (unklaren) Tatsachen, welche die Prognose rechtfertigen. Die Vermutungen würden nicht eingreifen, wenn alle prognoserelevanten Tatsachen sicher feststünden, aber die Erwartung selbst zweifelhaft bliebe. Indessen ging der kartellrechtliche Gesetzgeber zu §§ 23a, 24 I GWB davon aus, daß die Prognose selbst Gegenstand der Vermutungen ist. Nicht nur der Wortlaut des § 23 a I GWB bezieht sich auf die Prognose selbst, sondern auch in den Materialien herrscht die Vorstellung, die Vermutungen seien auf die Erwartung als solche gerichtet: "Liegen die Vermutungsvoraussetzungen vor, so kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß durch den jeweiligen Zusammenschluß eine überragende Marktstellung entsteht oder verstärkt wird"; 140 "muß erfahrungsgemäß von der Entstehung oder Verstärkung einer überragenden Marktstellung ausgegangen werden" , 1 4 1 "kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Verstärkung der bestehenden marktbeherrschenden Stellung geschlossen werden" 142. Derartige Aussagen in den Motiven sind zahlreich. 143 Bei der inhaltlichen Festlegung der Vermutungsvoraussetzungen hat der Gesetzgeber auf die Auswahl solcher Sachverhalte geachtet, die nach seiner Auffassung zur künftigen Entwicklung selbst tendieren. 144 Auch die Rechtsanwendungspraxis145 und das kartellrechtliche Schrifttum 146 zu den 138

J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 85.

139

J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 86.

140

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 19.

141

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 20.

142

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 21.

143

Insoweit wird auf die Lektüre der in § 3 Π. 1. wiedergegebenen Textstellen verwiesen; vgl. nur die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 19,20, 21; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 38; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26. 144

Vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 20, und 21; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26; die entsprechenden Textstellen sind in § 3 Π. 1. wörtlich wiedergegeben. 145

Vgl. nur KG WuW/E OLG 2862 (2867) "Rewe/Florimex"; BGH WuW/E 2231 (2237)

Π. Vermutung und Prognose

93

§§ 23a, 241 GWB gehen wie selbstverständlich davon aus, daß § 23a I GWB nicht das Bestehen der prognoserechtfertigenden Tatsachen, sondern die Erwartung der zukünftigen Entwicklung selbst vermutet.

2. Stellungnahme

Die Klärung der Frage, ob es bei Prognosen ein non liquet und eine objektive Beweislast gibt, muß bei der Rechtsprechung zur Gewähr der Verfassungstreue von Beamtenbewerbern ansetzen. Das materielle Recht enthält verschiedenste Ausdrucksformen dafür, die Ungewißheit bereits zum Element des materiellen Rechts zu machen mit der Folge, daß das non liquet direkt subsumiert werden kann. 147 Hierher gehören insbesondere Regelungen, die das unzweifelhafte Feststehen oder die sichere Annahme eines Tatbestandsmerkmals verlangen ( z.B. "Nachweis", "sichergestellt", "feststeht", "erwiesen" oder "keine Zweifel"). 148 Einen solchen Zweck verfolgt das Gesetz auch, wenn es bei der beamtenrechtlichen Verfassungstreueprognose mit dem Begriff "Gewährleistung" arbeitet. "Gewährleisten" bedeutet "Negation des Zweifels" und ist damit ein Beweislastverteilungsbegriff. 149 Das BVerfG hat dies ausdrücklich bestätigt, indem es "Gewähr bieten" dahingehend definiert hat, daß keine Umstände vorliegen dürften, welche die Erfüllung der Verfassungstreuepflicht zweifelhaft erscheinen ließen, wobei "Zweifel" bedeute, daß der Entscheidende nicht überzeugt sei. 150 Allein aus diesem Grund, daß die Beamtengesetze die "Gewährleistung" des jederzeitigen Eintretens für die freiheitliche demokratische Grundordnung verlangen, gibt es also bei der Verfassungstreueprognose selbst kein non liquet und keine Beweislast. Damit ist die Rechtsprechung zur Prognose der Verfassungstreue aber unergiebig für die allgemeine Frage, ob es bei Prognosen grundsätzlich ein non liquet gibt. "Metro/Kaufhof , BKartA AG 1987,255 (258) "Springer/Schlei"; KG WuW/E OLG 3137 (3146) "Rheinmetall/WMF". 146 Dies ist allgemeine Auffassung, vgl. statt WÜST Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 405 ff ; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 8,9,20, 29,35; Huber in Frankfurter Komm, 21. Lfg. 1982, § 23a Rzn. 35,38,42; Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 3. 147

Vgl. die Beispiele bei Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 134 ff.

148

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 135 f. mit Beispielen; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 359 ff. m.w.N. und Beispielen. 149 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 360. Der Begriff "Gewährleistung" findet sich z.B auch in § 10 I Nr. 3 GüKG oder in §§ 4 Π Nr. 5; 6 Π Nr. 4; 7 Π Nr. 2 und Nr. 5; 9 Π Nr. 2 und 5 AtomG. 150

BVerfGE 39,334 (350 ff, 353).

94

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

Zur Lösung der Problematik "Prognose und Beweislast" ist zunächst ein Blick auf das Wesen der Prognose erforderlich. Prognose ist die Vorhersage einer zukünftigen Entwicklung, sie hat zukünftige, hypothetische Tatsachen zum Gegenstand. Da die Entwicklung der Zukunft prinzipiell unsicher ist, enthält jede Prognose wesensnotwendig Unsicherheit. 151 Diese Unsicherheit resultiert aus einem doppelten Umstand. Zu den subjektiven Grenzen menschlicher Erkenntnis treten die objektiven Divergenzspannen der Zukunft hinzu. Vergrößert wird die Unsicherheit noch durch die Tatsache, daß in weiten Bereichen der empirischen Wissenschaften allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten oder Erfahrungswerte nicht zuverlässig ermittelt sind. 152 Dies gilt insbesondere auch fur die Prognose nach § 24 I GWB. 153 Worin unterscheidet sich nun die Überzeugungsbildung bei Prognosen von der Überzeugungsbildung über gegenwärtige oder vergangene Tatsachen? Was rechtfertigt es, der zukunftsbedingten Entwicklungsunsicherheit eine derart abweichende Qualität beizumessen, daß diese nicht auch mit dem "klassischen" Mittel der Beweislast zu bewältigen wäre? Die angeblich abweichende Qualität der Überzeugungsbildung bei Prognosen wird nachfolgend unter vier Gesichtspunkten geprüft: a) Notwendige Unsicherheit als Wesensmerkmal der Prognose, b) Subjektivität der Zukunftsbewertung, c) Unbeweisbarkeit der Zukunft und d) Verdrängung der Überzeugungslosigkeit durch das materielle Recht, bevor unter e) ein Fazit für die Vermutungen des GWB und den Begriff der "Tatsachenvermutung" gezogen wird. Zu a): Eine abweichende Qualität der Überzeugungsbildung bei Prognosen rechtfertigt sich zunächst nicht daraus, daß notwendige Unsicherheit eine Überzeugung ausschließen würde. Nahezu jede richterliche Überzeugung nach einer Beweisaufnahme über gegenwärtige oder vergangene Tatsachen enthält wesensnotwendig ein Minimum an (Rest-)Unsicherheit, sieht man einmal von der unmittelbaren Überzeugungsbildung durch richterlichen Augenschein ab. Diesem Befund tragen Rechtsprechung und Literatur zu §§ 286 I ZPO, 108 VwGO dadurch Rechnung, daß sie als Regelbeweismaß für die richterliche Überzeugung einen "vernünftige Zweifel ausschließenden Grad von Wahrscheinlichkeit" genügen lassen; "eine von allen

151

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22).

152

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22).

153

Vgl. nur Emmerich, Kartellrecht, 6. Aufl. 1991, S. 384 und 7. Aufl. 1994, S. 385, der darauf hinweist, daß im Rahmen des § 24 I GWB die prognostischen Erfahrunssätze (und auch die Vermutungsvoraussetzungen des § 23a GWB) nur stark umstrittene Plausibilitätserwägungen darstellen.

Π. Vermutung und Prognose

95

Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz nicht voraus". 154 Fast jede richterliche Überzeugung wird also trotz (typischer) minimaler Unsicherheit gefaßt. Bei Prognosen trägt das materielle Recht dem Befund größerer prinzipieller Unsicherheit (wegen der zukunftsbedingten Entwicklungsunsicherheit) dadurch Rechnung, daß immer nur das "wahrscheinlich richtige" Prognoseurteil verlangt wird, das Maß der richterlichen Überzeugung also materiellrechtlich gesenkt ist. 155 So genügt etwa für die nach § 241 GWB anzustellende Prognose, daß die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung "zu erwarten" ist, was bedeutet, daß eine "(hohe) Wahrscheinlichkeit" ausreichend ist. 156 Danach ist festzuhalten, daß Prognosen zwar prinzipiell eine größere, aber keine qualitativ abweichende Unsicherheit beinhalten, als sonstige Tatsachenfeststellungen. Es ist nur eine Frage des verlangten Überzeugungs-Maßes, wann bei Tatsachen oder Prognosen trotz verbleibender Unsicherheiten eine Überzeugung möglich ist. Notwendige Unsicherheit hindert Überzeugung also nicht. Zu b): Eine abweichende Qualität der Überzeugungsbildung bei Prognosen rechtfertigt sich femer nicht aus der Subjektivität des verlangten Wahrscheinlichkeitsurteils. Auch der Inhalt der (richterlichen) Überzeugung von gegenwärtigen oder vergangenen Tatsachen ist subjektiv, und zwar nach herrschender Meinung ein mit Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetzen übereinstimmendes subjektives Für-WahrHalten. 157 Diese Überzeugung unterscheidet sich qualitativ nicht von der auf Gesetzmäßigkeiten, Erfahrungsregeln und wissenschaftlich anerkannten Prognosemodellen ("Neutralisierungsmechanismen") beruhenden subjektiven Annahme einer zukünftigen Entwicklung. 158 Die Subjektivität der Zukunftseinschätzung schließt eine Überzeugungslosigkeit des Rechtsanwenders weder aus, noch macht sie die 154

Vgl. aus der ständigen Rechtsprechung nur BGHZ 53, 245 (255 f.) "Ananstasia"; BVerwGE 173, 177 (178); BGHSt 10, 245 ff.; aus dem Schrifttum statt vieler Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 84, 86 m.w.N.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 50 ff. m.w.N, 61 ff. Besonders plastisch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 74: § 108 VwGO bewirke in Grenzbereichen die "Asorption von Unsicherheit". 155 Dies zeigt eine nähere Analyse von Prognosevorschriften, vgl. Nierhaus, DVB1. 1977, 19(22). 156 KG WuW/E OLG 1745 (1753 f.) "Sachs" ("hohe Warscheinlichkeit"); BGH WuW/E 1501 (1507) "GKN/Sachs" = "Kfz-Kupplungen" ("wahrscheinlich"); BGH WuW/E 1749 (1755) "Klöckner/Becorit" ("wahrscheinlich"); KG WuW/E OLG 3051 (3079) "Morris/Rothmans" ("wahrscheinlich"); Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 385 ("hohe Wahrscheinlichkeit"); Huber in Frankfurter Komm, 21. Lfg. 1982, § 23a Rz. 96 ("wahrscheinlich"). 157 Hierzu ausführlich Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 64 f. m.w.N.; ders., JA 1985,313(315). 158

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22).

96

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

vom Begriff des non liquet vorausgesetzte Trennung von materiellrechtlicher Tatbestandserfüllung und prozessualer Ungewißheit unmöglich. Dies gilt in jedem Falle für die sog. "einfachen Prognoseentscheidungen"159, die - wie die Begriffe "Gefahr" oder "Erwartung" - nur ein faktisch-diagnostisches Wahrscheinlichkeitsurteil ohne wertende Elemente erfordern. 160 Zurecht hält daher Berg die These Mahlmanns, bei Prognosen handele es sich aufgrund des Umstandes, daß mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen gearbeitet werden müsse, um subjektive Bewertungen und nicht um beweisbare Tatsachenfeststellungen, 161 für unhaltbar. In Wirklichkeit stelle sich nahezu jeder Beweis als ein Wahrscheinlichkeitsurteil dar, welches vom Richter mit dem Ziel der Überzeugungsbildung verwertet werden müsse. Es sei unerfindlich, wieso der Richter in Prognosefällen weniger fähig sein solle, sich eine Überzeugung zu bilden, als die Behörde. 162 Zu c): Allerdings klingt in der These Mahlmanns, Prognosen seien keine durch Beweis verifizierbaren Tatsachen,163 in der Aussage Peschaus, die Zukunft sei nicht beweisbar, 164 und in der Meinung von Nierhaus, Prognosen seien nicht faktisch belegbar und damit nicht "beweis(last)fähig", 165 die Annahme eines weiteren Unterschiedes an: Die Zukunft sei nicht (durch Zeugen, Augenschein, Parteivernehmung etc.) beweisbar, also könne es auch keine Beweislast geben. Eine solche Konklusion erscheint jedoch voreilig. Ziel der richterlichen Überzeugungsbildung ist stets die Überwindung von Ungewißheit. Zur Überwindung dieser Ungewißheit stehen dem Richter bei der Tatsachenfeststellung neben den Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetzen die Beweismittel ("Überzeugungsmittel") Augenschein, Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Parteivernehmung zur Verfügung. Bei Prognosen verfügt der Richter zur Überwindung der Ungewißheit neben Erfahrungsgesetzen, Statistiken und wissenschaftlichen Prognosemodellen allenfalls über den Sachver-

159 Zu den einfachen Prognosebegriffen gehören z.B. die Wendungen "Erwartung" (§ 24 I GWB), "Gefahr" (§ 8 PolG NW, § 14 OBG NW); "Erschließungssicherung" (§ 30 I BauGB); "Befürchtung" (§ 261 BImSchG); vgl. hierzu Nierhaus, DVB1. 1977,19 (24, Fn. 89). 160

Nierhaus, DVB1. 1977, 19 (24 f.); ders., Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 31. Eingehend zur gerichtlichen Kontrolle von "einfachen" und "komplexen" Prognosebegriffen Nierhaus, DVB1. 1977,19 (23 ff). 161

Mahlmann, Ermessen, Beurteilungsspielraum und Beweislastverteilung, in: Lukes , 1. Dt. Atomrechtssymposium, 1973, S. 269 (280 ff). 162

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 73.

163

Mahlmann, Ermessen, Beurteilungsspielraum und Beweislastverteilung, in: Lukes , 1. Dt. Atomrechtssymposium, 1973, S. 269 (280 ff). 164

Peschau, Beweislast, 1983, S. 132.

165

Nierhaus, DVB1. 1977,19 (22, Fn. 50).

Π. Vermutung und Prognose

97

ständigen als "Überzeugungsmittel". Selbst wenn der Richter bei Prognosen nicht einmal auf Sachverständige zur Überwindung von Ungewißheit zurückgreifen könnte, so bliebe sein Ziel dennoch immer die Erlangung von Überzeugung, er verfugt hierzu lediglich über weniger "Überzeugungs/w/Yte/". Diejenigen Stimmen, die nun aus der fehlenden Beweisbarkeit der Zukunft durch Zeugen, Augenschein etc. auf die Nichtexistenz der Beweislast schließen wollen, verkennen deren Wesen. Die objektive Beweislast setzt lediglich das endgültige Scheitern der Überzeugungsbildung voraus ("non liquet"). Sie verlangt also weder die Möglichkeit einer rationalen Erfahrung noch einer faktischen Belegung des Beweisgegenstandes. Sie setzt allein voraus, daß überhaupt die Möglichkeit einer Überzeugungsbildung besteht. Daher wird in der Beweislastdogmatik auch immer wieder auf die Mißverständlichkeit des Begriffs "objektive Beweislast" hingewiesen:166 Die Beweislast hat mit "beweisen" nichts zu tun, denn ihr Anwendungsbereich ist von der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung (Stationen der Überzeugungsbildung) streng getrennt. Sie ist lediglich eine gesetzliche Risikoverteilung für den Fall gescheiterter Überzeugungsbildung.167 Eine Überzeugungsbildung ist aber auch dort möglich, wo der Gesetzgeber Rechtsfolgen an Prognosen knüpft, 168 so daß es auch dort die objektive Beweislast gibt. Zu d): Abschließend ist im Hinblick auf die oben 169 wiedergegebene Auffassung J. Dürigs noch die Frage zu beantworten, ob der Gefahrenbegriff zu denjenigen Ausnahmefallen gehört, in denen das non liquet bei Prognosen durch Besonderheiten des materiellen Rechts verdrängt wird. J. Dürig ist der Ansicht, der Gefahrenbegriff gestalte materiellrechtlich die geforderte Prognose derart, daß ein subjektives, abwägendes Wahrscheinlichkeitsurteil gefordert sei, bei dem nur ein "überzeugt /nicht überzeugt" denkbar sei; ein non liquet scheide aus.170 Diese Annahe beruht auf einem doppelten Irrtum. Zum einen konnte zu c) gezeigt werden, daß die Subjektivität der Prognose als solche eine Überzeugungslosigkeit nicht ausschließt. Zum anderen ist es zwar richtig, daß dem Gefahrenbegriff eine "unsicherheitsreduzierende Funktion" immanent ist, weil das Maß der erforderlichen Wahrschein-

166

Vgl. nur Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 17; im Ansatz auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 245. 167 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 17. Ebenso schief ist übrigens der oft zu lesende Satz, die objektive Beweislast sei "der Nachteil, den eine Partei infolge der Beweislosigkeit erleide" (z.B. bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 242). Die objektive Beweislast knüpft nicht an Beweislosigkeit an, sondern die fehlende Überzeugung des Rechtsanwenders. 168

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 73.

169

§ 5 Π. 1.

170

J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 85.

7 Ittner

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§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerde verfahren

lichkeit abhängig von materiell-wertenden Überlegungen zur Schwere der drohenden Schäden ist (umgekehrte Proportionalität von Schadensausmaß und Schadenswahrscheinlichkeit). 171 Damit ist jedoch nur der Grad der im konkreten Fall erforderlichen Wahrscheinlichkeitmateriellrechtlich reguliert. Keineswegs ist damit aber generell die Situation der Überzeugungslosigkeit völlig ausgeschlossen.172 Die Ansicht von J. Dürig wird letztlich auf die These Neils gestützt, nach der die Entscheidung unter Ungewißheit in der Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts aufgehen soll. Schon die materiellrechtlichen Tatbestandsmerkmale verlangten Wahrscheinlichkeitsurteile, so daß fur die Beweislast- und Beweismaßfrage nichts mehr zu entscheiden übrig bleibe. 173 Damit gehört Neil zur Gruppe derjenigen Autoren, die die Beweislast durch das Beweismaß ersetzen wollen, sei es durch eine generelle Reduzierung desBeweismaßes (Überwiegensprinzip), 174 durch die Annahme eines Beweislastpunktes175 oder wie Neil durch eine "wahrscheinlichkeitsgewichtende Abwägung" 176. Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion aufzunehmen. Prütting 177 (für das Zivil- und Arbeitsrecht) und Nierhaus 178 (für den Verwaltungsprozeß) haben überzeugend nachgewiesen, daß selbst dann, wenn ein Beweismaß überwiegender Wahrscheinlichkeit gelten würde oder das Beweismaß materiellrechtlich modifiziert wäre, letztlich doch immer ein non liquet denkbar bliebe. Die Befrachtung von Beweismaß und Beweislast als identische Phänomene ist nicht möglich. 179 Dementsprechend ist allen abweichenden Meinungen gemeinsam, daß sie den Bereich des non liquet stillschweigend dem Bereich "widerlegt" oder "erwiesen" zuordnen. 180 Das non liquet kann zwar dergestalt zum Gegenstand des materiellen Rechts gemacht werden, daß es rechtlich irrelevant wird oder direkt subsu-

171

Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 27, 4. (S. 496); Schink, DVB1. 1989,1182 ( 1187); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 137; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 57 m.w.N. 172

So ausdrücklich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 57 f.

173

Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 209 f ,

215 ff. 174

Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983, S. 34 f.; ders. in Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 334 ff. (338). 175

Ekelöf, ZZP 75,289 ff. (298).

176

Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 93 f f ,

209 ff. 177

Gegenwartsprobleme, 1983, S. 67 ff.; ders, JA 1985, 313 (316 f.).

178

Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 56 ff.

179

Dies weist Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 72 f , nach.

180

Dies erkennt auch J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 89 f , so daß ihre abweichende Auffassung für die Gefahrenprognose unverständlich ist.

Π. Vermutung und Prognose

99

miert werden kann. 181 Für eine derartige dreigliedrige Disjunktion ergeben sich jedoch unter keinem Auslegungsgesichtspunkt Anhaltspunkte. Die Auffassung J. Dürigs ist daher abzulehnen. Zu e): Als Fazit kann festgehalten werden, daß es bei Prognosen ebenso das non liquet und die objektive Beweislast gibt, wie bei der Feststellung gegenwärtiger oder vergangener Tatsachen. Die Auffassung der kartellrechtlichen Rechtsanwendungspraxis und Literatur, die Vermutungen des § 23 a GWB bezögen sich auf die "Erwartung" i.S.v. § 24 I GWB selbst,182 ist zutreffend. Gibt es damit neben den Tatsachen- und Rechtsvermutungen eine dritte Kategorie der "Prognosevermutungen"? Diese Konsequenz läßt sich vermeiden, indem man die Prognose als Unterfall der Tatsachenfeststellung versteht. Hierfür hat sich zuletzt Nierhaus für den Verwaltungsprozeß ausgesprochen. Für die Einbeziehung zukünftiger Gegebenheiten in den Bereich gerichtlicher Tatsachenfeststellung spreche schon das Wesen der Prognose, die von dem "Zeitboden des Gestern oder Heute" (Prognosebasis) in die Zukunft übergreife, wobei der Übergang von der Klärung gegenwärtiger oder vergangener Sachverhalte zur Prognose fließend sei. 183 Betrachtet vom Standpunkt des vorstehend unter a) - d) gewonnenen Ergebnisses, daß Tatsachenfeststellungen und Prognosen sich qualitativ nicht unterscheiden, ist dem zuzustimmen. Die Vermutungen des § 23 a GWB sind als Tatsachenvermutungen einzustufen. Angesichts des Befundes, daß Tatsachenvermutungen und "Prognosevermutungen" sich qualitativ nicht unterscheiden, können sich diejenigen Stimmen, die eine Übereinstimmung der Vermutungen des § 23 a GWB mit der Lebenserfahrung verlangen, zur Begründung nicht darauf berufen, daß durch § 23 a GWB eine zukünftige Entwicklung vermutet wird. Damit ist das Stichwort geliefert für die Untersuchung, ob Vermutungen in der Eingriffsverwaltung müßten sich innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder zumindest der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen müssen.184

181

Ausführlich hierzu Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 132 f f ; ferner Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 359 ff.

7*

182

Vgl. §5 Π. 1.

183

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 31.

184

Vgl. die Nachweise in § 4 I. 1.

100

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

I I I . Vermutungen und statistische Lebenserfahrung Mit der These, die Vermutungen des GWB müßten sich innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen,185 ist in erster Linie die Verfassungsmäßigkeit belastender Vermutungen in der Eingriffsverwaltung angesprochen, die nicht der Lebenserfahrung entsprechen, darüber hinaus aber auch das nicht-verfassungsrechtliche Verständnis gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen. Die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für den "erforderlichen Funktionszusammenhang zwischen Vermutungsvoraussetzung und vermuteter Rechtsfolge" 186 der Vermutungen des GWB ist hier als Vorfrage einer verfassungsrechtlichen Kontrolle zu klären. Die Forderung, die Vermutungen des GWB müßten der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen, stützt sich unter anderem darauf, daß der Gesetzgeber in den Materialien die konkrete Fassung der einzelnen Vermutungsvoraussetzungen mit der Einschätzung begründet hat, bei Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen liege in der Regel auch das vermutete Merkmal vor. Seien die Vermutungsvoraussetzungen gegeben, so spreche für das Vorliegen des vermuteten Merkmals eine "hohe Wahrscheinlichkeit" (zu § 22 I 3 des Regierungsentwurfs, 187 zu § 22 III GWB, 1 8 8 zu § 23a I GWB insgesamt,189 zu § 23a I Nr. l b 1 9 0 ) bzw. müsse "erfahrungsgemäß" oder "in der Regel" vom Vorliegen des vermuteten Merkmals ausgegangen werden (zu § 23a I Nr. la GWB 191 ) bzw. werde "der Erfahrung Rechnung getragen", daß das vermutete Merkmal vorliege (zu § 23a I Nr. 2 GWB 192 ) bzw. sei dieses "zu erwarten" (zu § 23a II GWB 193 ). Von einer "regelmäßigen Trefferquote" ist der Gesetzgeber auch ausgegangen, als er die Vermutungen eingeordnet hat als

185

Vgl. die Nachweise in § 4 I. 1.

186

Markert in Immenga/Mestmäcker,

187

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23.

GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 139.

188 Bericht des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6. Laut Wirz, WuW 1975, 611 (615) und Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 21. Lfg. 1982, § 22 Rz. 342, ist die Formulierung offensichtlich aus den Begründungen zum Referentenentwurf v. 28.10.1970 und zum Regierungsentwurf von 1970 abgeschrieben worden, bei denen die verlangten Marktanteile jedoch wesentlich höher lagen. 189

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 19.

190

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 21.

191

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 20.

192

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 21.

193

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 22.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

101

"konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen", deutliche Orientierungshilfen", 194 "Indizien" 195 oder "konkrete Anhaltspunkte dafür, wann sich Zusammenschlüsse (...) dem Untersagungsbereich nähern" 196. Um es vorwegzunehmen: Für diese Untersuchung muß mit der herrschenden Auffassung im Schrifttum davon ausgegangen werden, daß keine einzige Vermutung des GWB der regelmäßigen Lebenserfahrung entspricht. 197 Zwar hat das BKartA bisher keine exakten statistischen Erhebungen darüber durchgeführt, in wievielen Fällen, in denen die jeweiligen Vermutungsvoraussetzungen erfüllt waren, das Amt dennoch zu dem Ergebnis kam, daß das vermutete Merkmal nicht vorlag. Auch die Monopolkommission hat die Frage bisher nicht systematisch untersucht. 198 Jedoch hat sich das Schrifttum - allen voran Markert - näher mit der Frage einer Fundierung der Vermutungen durch die Wahrscheinlichkeit beschäftigt. 1986 hat Markert in den Tätigkeitsberichten des BKartA die Falldarstellungen betreffend § 23a II GWB ausgewertet. Daraus errechnet er für das Verhältnis der "Aufgreiffälle" (Vermutungsbasis erfüllt) zu den "Eingreiffällen" (Erwartung, daß eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird) eine "Trefferquote" zwischen weniger als 10 % und knapp unter 20 %, je nachdem, wie hoch man die Zahl der "Vorfeldfälle" ansetze.199 Bei Berücksichtigung aller Unsicherheiten komme eine "Trefferquote" von ca. 5 % der Realität am nächsten.200 Auch im Tätigkeits-

194

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26.

195

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16,24. 196

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 23.

197

Dies ist die ganz überwiegende Meinung im Schrifttum, vgl. Knöpfte, BB 1970,717, 720 ff., 723 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., NJW 1988, 1116 f. (zu § 23a); Leo, WRP 1970, 197, 201 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972, 1, 13 f., 17 (zu § 22 I 3 RegE); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΠΙ 1 Nr. 2); Wirz, WuW 1975, 611, 614 f. (zu § 22 ΠΙ); Kaiser, WuW 1978, 344, 352 f., 362 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Bernotat, WuW 1980, 713, 716 (zu § 23a Π); Axster/Weber, GRUR 1981, 369, 372 (zu § 23a Π); Köhler, DB 1982, 313, 314 (zu § 26 Π 3); Markert, AG 1986, 173, 177 f. (zu § 23a I), 178 f. (zu § 23a Π); ders., BB 1986, 1660, 1665 (zu § 23a I); ders. inImmengaMestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 138 (zu § 26 Π 3); Emmerich, AG 1989,369, 378 f. (zu § 23a). 198 Vgl. Markert, AG 1986, 173 (177, dort auch Fn. 39) zu den Vermutungen des § 23a I GWB; ders., BB 1986,1660 (1663) zu § 23a Π GWB. 199 200

Markert, BB 1986,1660 (1664).

Markert, BB 1986, 1660 (1665). Schon in seinem 1986 auf dem Kieler Symposium zu Fragen des Konzern- und Fusionskontrollrechts gehaltenen Vortrag hatte Markert zu § 23a Π GWB ausgeführt, die "Trefferquote" reiche nicht aus, um von einem Regeltatbestand

102

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

bericht des Amtes für 1983/84 findet sich die Aussage, die Vermutung des § 23a II GWB sei "in der Mehrzahl der Fälle" widerlegt worden. 201 Aus der Kartellamtspraxis berichtet Emmerich, die Widerlegung der Vermutung des § 23a II GWB gelinge den Unternehmen "in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle". 202 Das BKartA tritt diesen Zahlen nicht als unrealistisch entgegen. Vergegenwärtigt man sich, daß die qualifizierte Oligopolvermutung des § 23 a II GWB stark der Oligopolvermutung des § 22 III 1 Nr. 2 GWB (i. V.m. § 22 II GWB) ähnelt,203 so dürfte sich auch für § 22 III 1 Nr. 2 GWB keine wesentlich höhere "Trefferquote" ergeben. Zu den Vermutungen des § 23a I GWB hat Markert unwidersprochen ausgeführt, die bei der Anwendung des § 23 a I GWB durchgeführten Marktanalysen in hunderten von Zusammenschlußfällen, in denen die Vermutungsvoraussetzungen vorgelegen hätten, hätten in aller Regel zu einem negativen Ergebnis (Entstehung oder Verstärkung von Marktbeherrschung nicht zu erwarten) geführt. Die vermutete Wirkung trete nicht einmal in einer signifikanten Minderheit von Fällen ein. 204 Emmerich referiert aus der Kartellamtspraxis, die Vermutungen des § 23 a I GWB würden "eigentlich immer" 205 bzw. "in der Mehrzahl der Fälle" 206 widerlegt. Auch zu § 26 II 3 GWB legt Markert unwidersprochen dar, der "funktionelle Zusammenhang" zwischen der Vermutungsvoraussetzung (Gewährung von Sondervergünstigungen) und der vermuteten Rechtsfolge (nachfragebedingte Abhängigkeit) könne nicht als durch die Realität des Marktgeschehens belegbar angesehen werden. Die seit der Einführung der Vermutung gewonnenen empirischen Erkenntnisse aus

oder von einer hohen Indizwirkung sprechen zu können. Selbst in den Musterfällen der Oligopoltherapie ergebe die empirische Marktanalyse im Rahmen der Fusionskontrolle häufig das Gegenteil eines nichtwettbewerblichen Oligopois; vgl .Markert, AG 1986,173 (178). 201

BKartA, Tätigkeitsbericht 1983/84, BT-Drs. 10/ 3550, S. 15.

202

Emmerich, AG 1989, 369 (379); ders., AG 1991, 420; ders., AG 1993, 536; ders., Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 409. 203

Die Oligopolvermutung des § 23a Π GWB ist im Vergleich zu der des § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB dadurch "qualifiziert", daß die Umsatzschwelle für die erfaßten Unternehmen von 100 Mio. D M (in § 22 ΠΙ 1 Nr. 2 GWB) auf 150 Mio. D M (in § 23a Π GWB) angehoben wurde und die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen in § 23a Π GWB insgesamt einen Marktanteil von mehr als 15 % erreichen müssen. 204

Markert, AG 1986,173 (177 mit Fn. 39). LmtMarkert aaO. beruht diese Einschätzung auf einer Befassung mit ca. 600 Fusionskontrollfällen seit dem Inkrafttreten der 4. GWBNovelle. 205

Emmerich, AG 1989,369 (378).

206

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 405.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

103

eingehenderen Untersuchungen über die Einkaufskonditionen im Lebensmittelhandel im Rahmen von kartellrechtlichen Verwaltungsverfahren 207 hätten im Gegenteil die Prämisse einer Indizwirkung von Sondervergünstigungen für das Bestehen von Nachfragemacht erschüttert; der Erfahrungssatz sei nicht fundiert. 208 Nach alledem wird mit dem überwiegenden Schrifttum auch für die Marktbeherrschungsvermutung des § 22 III 1 Nr. 1 GWB die vom BKartA nicht als unzutreffend gerügte Meinung zu teilen sein, daß auch hier bei Verwirklichung der Vermutungsvoraussetzung regelmäßig keine Marktbeherrschung gegeben ist. 209 An die Erkenntnis, daß keine der Vermutungen des GWB der regelmäßigen Lebenserfahrung entspricht, sind Folgerungen zu knüpfen. Zunächst ist die Befürchtung, speziell die Vermutungen des § 23a I GWB seien faktisch unwiderlegbar, da die Untemehmensgröße alleiniges Untersagungskriterium sei, 210 durch die Rechtswirklichkeit überholt worden, so daß die daran geknüpften Folgerungen (Formenmißbrauch bzw. Verstoß gegen die Verfassungsprinzipien der Systemgerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit oder Verhältnismäßigkeit 211) bereits hier als grundlos abgelehnt werden können. Wie Markert aufgezeigt hat, werden diese Vermutungen in der ganz überwiegenden Zahl aller "Aufgreiffälle" widerlegt. Unter Zurückstellung der Frage nach verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Inhalt belastender Vermutungen in der Eingriffsverwaltung interessiert vor allem die Frage nach der Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für den "erforderlichen Funktionszusammenhang zwischen Vermutungsvoraussetzung und vermuteter Rechtsfolge" 212. Im folgenden wird zu zeigen sein, daß fehlende Wahrscheinlichkeit für diesen "funktionellen Zusammenhang" irrelevant ist. Die Ansicht, die Vermutungen des GWB müßten der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen, beruht vor allem auf Mißverständnissen über die allgemeine Funktion und Wirkungsweise gesetzlicher Vermutungen, welche nachfolgend unter vier Gesichtspunkten zu diskutieren sind:

207 Insbesondere KG WuW/E OLG 3917 (3927 ff.) "Coop/ Wandmaker"; BKartA, Tätigkeitsbericht 1985/86, BT-Drs. 11/554, S. 21 f , 82 "Massa". 208

Markert in Immenga/Mestmäcker,

209

Vgl. die Schrifttumsnachweise eingangs dieses Absatzes.

2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 138.

210

Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 35; zustimmend Κ Schmidt, ZRP 1979, 38,42 (zu § 23a RegE); ferner Kaiser, WuW 1978, 344, 361 ff. (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Schütz, DB 1979, 197,198 f. (zu § 23a RegE). 211

Hierzu näher § 4 I.

212

Markert in Immenga/Mestmäcker,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 139.

104

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

1. Objektive Beweislast und statistische Wahrscheinlichkeit; 2. Zweck der Vermutungen des GWB; 3. Besonderheiten der Eingriffsverwaltung und 4. Anforderungen an die Gestaltung der Vermutungsvoraussetzungen.

1. Objektive Beweislast und statistische Wahrscheinlichkeit

Wichtigste Ursache für das Fehlverständnis der Vermutungen des GWB ist bei zahlreichen Autoren schon eine unrichtige Vorstellung über die Funktion und Wirkung gesetzlicher Vermutungen (allgemein). So wird im kartellrechtlichen Schrifttum immer wieder geäußert, gesetzliche Vermutungen (allgemein) seien stets Wahrscheinlichkeitsaussagen;213 Vermutungen (allgemein) seien "Beweishilfen" 214 bzw. "Beweisregeln" 215 im Falle typischer Geschehensabläufe bzw. "Hilfsnormen zurrichtigenRechtsanwendung".216 Selbst der kartellrechtliche Gesetzgeber spricht von "Anwendungs-", "Entscheidungs-", Feststellungs- bzw. "Beweiserleichterungen".217 Den hieraus gezogenen Schlußfolgerungen, die Vermutungen des GWB müßten der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen, ist gemeinsam, daß sie nicht mit kartellrechtlichen Spezialitäten begründet werden, sondern allein auf einer falschen bzw. ungenauen Vorstellung über die allgemeine Funktion und Wirkungsweise gesetzlicher Vermutungen beruhen. Auch der kartellrechtliche Gesetzgeber hat zur Begründung seines Verständnisses der Vermutungen stets nicht auf kartellrechtliche Besonderheiten, sondern nur auf den Untersuchungsgrundsatz und die Lebenswahrscheinlichkeit abgestellt218 - die Qualifizierungen als "konkretisiert typi-

213 So ausdrücklich Wirz, WuW 1975, 611 (614); ferner Kaiser, WuW 1978,344 (362), Bernotat, WuW 1980, 713 (716); Wolf, WuW 1980, 462; Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Köhler, DB 1982, 313 (314). 214

Wirz,

WuW 1975, 611 (614); in diesem Sinne wohl auch Köhler, DB 1982, 313

(314). 215

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 236.

216

Knöpfle, BB 1970,717 (723).

217

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23; der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13, 14,19,24; der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 11, S. 22; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26. 218

Vgl. insoweit: Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22; Gegenäußerung

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

105

sehe wettbewerbliche Gefährdungslagen", deutliche Orientierungshilfen", "Indizien" oder "konkrete Anhaltspunkte" beziehen sich auf die irrtümlich angenommene Wahrscheinlichkeit, nicht auf eine kartellrechtliche Wirkung "sui generis" 219 Wie in § 5 I gezeigt wurde, sind gesetzliche widerlegbare Vermutungen (allgemein) sowohl unter der Untersuchungsmaxime als auch unter der Verhandlungsmaxime ausschließlich Regelungen der objektiven Beweislast. Welche Bedeutung hat nun die statistische Wahrscheinlichkeit für die objektive Beweislast? Für die herrschende Beweislastlehre ist die Antwort eindeutig: Der Maß stab der Wahrscheinlichkeit, speziell der abstrakte Erfahrungssatz, hat seine Berechtigung im Rahmen von Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung, nicht aber im Falle der endgültig gescheiterten Überzeugungsbildung. 220 Die Berücksichtigung statistischer Wahrscheinlichkeitssätze ist die Situation des Anscheinsbeweises,221 also der Beweiswürdigung. Wenn ein Erfahrungssatz zur Bildung der vollenrichterlichen Überzeugung (Regelbeweismaß) nicht ausreicht, weil ernstliche Zweifel an der Typizität dieses Satzes bestehen, so haben diese Erwägungen statistischer Art nicht nur keinen Erkenntnis-, sondern auch keinen Gerechtigkeitswert mehr. 222 Würde der Gesetzgeber die Beweislast aufgrund eines Erfahrungssatzes verteilen, der zugleich für die Feststellung des vermuteten Merkmals von Bedeutung ist (- die Vermutungen des GWB wären als typisierte Erfahrungssätze durchweg nicht tatbestandsfremd -), so läge hierin nicht nur eine normative Ausdehnung des Anscheinsbeweises auf den Bereich der objektiven Beweislast,223 sondern außerdem eine (nachträgliche) normative Ersetzung der nicht erreichten richterlichen Überzeugung - ein Widerspruch in sich, da der Gesetzgeber das geforderte Beweismaß und dierichterliche Überzeugungspflicht auf Umwegen aufgeben würde. 224 Ein Erfahrungssatz, der für die richterliche Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung

der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38 f. 219

Hierzu näher § 5 m. 2.

220

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 205 ff.; Schwab, FS Bruns, 1978, S. 505 (513); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 490 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 417; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S 216 f. 221

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217. Vgl. zum Anscheinsbeweis allgemein § 5 I. 4. a). 222

BGH NJW 1978, 2023 (2033); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217 m.w.N. 223

Ähnlich Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217.

224

In diesem Sinn e Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217.

106

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

einschlägig ist, würde vom Gesetzgeber als Begründung dafür genommen, dem Richter eine Entscheidung für den Fall vorzugeben, daß diesem der Satz nicht zur Überzeugungsbildung ausgereicht hat. Da der Gesetzgeber die Beweislastverteilung nicht aufgrund materialer Risikoerwägungen, sondern aufgrund einer Bewertung von abstrakter Wahrscheinlichkeit vornehmen würde, läge hier die normative Festlegung des Überzeugungswertes eines abstrakten Erfahrungssatzes vor. Damit würde der Gesetzgeber aber die Notwendigkeit einer Beweislastregel überhaupt leugnen, denn durch die Bewertung des Überzeugungswertes des Erfahrungssatzes wäre eine Überzeugung normativ vorgebildet; in der Sache würde das vermutete Merkmal gesetzlich doch festgestellt. 225 Am Beispiel des § 22 III 1 Nr. 1 GWB betrachtet würde dies bedeuten, daß ein Unternehmen mit einem Marktanteil von 1/3, dessen Marktbeherrschung trotz dieses Marktanteils vom Richter nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden konnte, normativ als marktbeherrschend behandelt würde, weil bei einem Marktanteil von 1/3 hierfür ein abstrakter Erfahrungssatz spräche. Obwohl dieser abstrakte Wahrscheinlichkeitssatz vom Richter bei der Überzeugungsbildung zu berücksichtigen wäre, dem Richter wegen Zweifeln an der Typizität aber nicht zur Bildung seiner Überzeugung ausgereicht hätte, würde der Gesetzgeber dem Richter eine Entscheidung eben aufgrund dieses Erfahrungssatzes vorgeben - eine methodisch unzulässige Doppelberücksichtigung dieses Gesichtspunkts bei zwei sich dem Inhalt nach ausschließenden Bereichen.226 Die Norm würde - da am Sachgrund der Wahrscheinlichkeit ausgerichtet trotz der Überzeugungslosigkeit dem abstrakt wahrscheinlicheren Sachverhalt doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Der Sache nach läge hier eine Beweisregel, ein "normierter Anscheinsbeweis" vor; die Bezeichnung als Beweislastnorm wäre nur ein "Etikettenschwinel".227 Beim Eingreifen von beweiserzeugenden Regeln wird die Frage nach dem Risiko echter Überzeugungslosigkeit nicht mehr aktuell, da eben eine Überzeugung in der Tatfrage vorgegeben wird. 228 Die objektive Beweislast hat jedoch nicht die Funktion, dem Rechtsanwender doch noch zu einer Überzeugung zu verhelfen oder dessen Überzeugung durch eine

225 In diesem Sinne Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217; Prütting, FS LG Saarbrücken, 1985,257 (270). 226

In diesem Sinne bereits Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 205; ders., JA 1985, 313 (319); ders., FS LG Saarbrücken, 1985,257 (269). 227

Prütting spricht in anderem Zusammenhang von einer "Weiterführung der Beweiswürdigung unter anderem Namen", vgl. Gegenwartsprobleme, 1983, S. 212. 228

In diesem Sinne schon Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217: In der Konsequenz werde die Notwendigkeit von Beweislastregeln überhaupt geleugnet; äh nlich Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 206.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

107

abweichende normative Wertung zu ersetzen.229 Sie regelt allein die Folgen echter Überzeugungslosigkeit.230 Die Bereiche von Überzeugungsbildung und Beweislast sind strikt getrennt; das Fehlen von Überzeugung ist Bedingung für die Anwendung der Beweislastnormen.231 Das Wesen der objektiven Beweislast liegt in einer eigenständigen Risikoentscheidung232 für den Fall endgültig fehlender Überzeugung, es ist nicht ihr Bestreben, der im Prozeß unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten nicht feststellbaren Tatsachenlage nunmehr doch noch mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zum Sieg zu verhelfen. 233 Sofern man also das gesetzliche Überzeugungsgebot ernst nimmt und die Grenze zu typisierten Beweisregeln nicht verwischen will, muß man Wahrscheinlichkeitserwägungen als tragenden Sachgrund der Beweislastverteilung ablehnen. Beweislastregeln können zwar im Einzelfall auch auf Wahrscheinlichkeitserwägungen beruhen. In derartigen Fällen stellt die Wahrscheinlichkeit aber lediglich eine zusätzliche Begründung zu autarken materialen Risikoerwägungen dar. 234 Demgemäß ist es einhellige Meinung in der allgemeinen Beweislastdogmatik, daß der funktionelle Zusammenhang zwischen Vermutungsbasis und vermutetem Merkmal nicht in einem Wahrscheinlichkeitssatz bestehen muß. 235 Etwas Gegenteiliges ließe sich für Vermutungen, deren Voraussetzungen zugleich für die Feststellung des vermuteten Merkmals bedeutsam sind, nur vertreten, wenn 129 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 59,98,206,354; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38. 230 Speziell zu gesetzlichen Vermutungen Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 84; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 365; Peschau, Beweislast, 1983, S. 51; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 70; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 91. 231

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 58 f.; ders., JA 1985, 313 (317); Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38,417. 232

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 206,354; ders., JA 1985,313 (317X Peschau, Beweislast, 1983, S. 49. 233

Prütting, JA 1985, 313 (317); ders., Gegenwartsprobleme, 1983, S. 59; Λ?™., FS LG Saarbrücken, 1985,257 (269 f.); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 217. 234

Peschau, Beweislast, 1983, S. 49; Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978, S. 13 f.; in diesem Sinne wohl auch Gottwald, Jura 1980,225 (230). Vgl. ausfuhrlich zu den verschiedenen Sachgründen materialer Risikozuweisung Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 257 f f , 260 ff. 235 Vgl. nur Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 49 (Fn. 7); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 359 ff. mit Bsp, etwa § 13621 BGB (S. 363); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980,S. 80, 87; Brau«, Amtsuntersuchungspflicht, 1986,S. 184 f.; Deppe, Beweislast, 1961, S. 83.

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§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

der Gesetzgeber bei der Aufstellung von Beweislastnormen an ein sachlich-inhaltliches Prinzip der Wahrscheinlichkeit gebunden wäre. 236 Die jüngere Beweislastdogmatik (insbesondere Prütting, 237 Berg 238 und Nierhaus, 239 aber auch Peschau,240 Sonntag,241 Nagler 242 und J. Dürig 243 ) hat sich vor allem auf die Frage konzentriert, wie die Verteilung der Beweislast zu ermitteln ist, wenn ausdrückliche Beweislastnormen fehlen. Darüber hinaus ist aber auch überzeugend die Idee widerlegt worden, den Beweislastnormen liege als verbindliches Prinzip der Beweislastverteilung die Wahrscheinlichkeit zugrunde.244 Wenn der Gesetzgeber bei der Aufstellung ausdrücklicher Beweislastnormen an ein Prinzip der Wahrscheinlichkeit gebunden wäre, seine Gesetzgebungsfreiheit also durch ein derartiges Prinzip eingeschränkt wäre, so müßte dieses Prinzip verfassungsrechtlich verankert sein, da der Gesetzgeber nach Art. 20 III GG nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist. 245 Die Verankerung der Wahrscheinlichkeit als Beweislastverteilungsprinzip in der Verfassung wird jedoch weder behauptet, noch ist sie dieser durch Auslegung zu ermitteln. 246 Wäre das Prinzip der Wahrscheinlichkeit verbindlicher Maßstab jeder Beweislastnormierung, so wäre kein Raum mehr fur gerade jene autarken gesetzgeberischen Wertungen, die das Wesen einer echten Risikoentscheidung bestimmen. 247 Die gesetzgeberische Regelung der Beweislast kann (und muß) je nach

236

Die These, daß auch der Gesetzgeber die Beweislast zwingend nach abstrakter Wahrscheinlichkeit verteilen müßte, wird so explizit nirgends vertreten. Allerdings hat vor allem Reinecke für das Zivil- und Arbeitsrecht behauptet, gesetzgeberisches Motiv für die gesetzliche Beweislastverteilung sei in erster Linie die abstrakte Wahrscheinlichkeit, aufgrund derer der Richter auch contra legem entscheiden könne (Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 40 ff., 51 ff., 88,96). 237

Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983.

238

Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980.

239

Beweismaß und Beweislast, Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989. 240

Die Beweislast im Verwaltungsrecht, 1983.

241

Die Beweislast bei Drittbetroffenenklagen, 1986.

242

Dogmatische Strukturen der Beweislast im öffentlichen Recht, 1989.

243

Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990.

244

Vgl. nur Prütting, 313(319).

Gegenwartsprobleme, 1983, S. 199 ff. und 257 ff.; ders., JA 1985,

245

Hierzu näher §61. 1.

246

Hierzu näher § 6 IV. 3. b) und 4. c) bb) (2).

247

Ebenso Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 206,264; ders., JA 1985,313 (319).

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

109

Normzweck auf den verschiedensten Sachgründen beruhen. 248 Aus dem umfangreichen Katalog gesetzgeberischer Sachgründe seien hier nur genannt: Beweisnähe, Beweisnot, Unzumutbarkeit, Angreiferstellung, besondere Gefährlichkeit, wirtschaftliche Tragbarkeit oder verfassungsrechtliche Positionen, aber auch die Schaffung und Sicherung von Beweismitteln, der Anreiz zu einem bestimmten erwünschten Verhalten oder die Effektivierung behördlicher Aufklärung. 249 Als Zwischenergebnis ist nach alledem festzuhalten, daß das Fehlen von Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des funktionellen Zusammenhangs zwischen den Voraussetzungen und Folgen der Vermutungen des GWB irrelevant ist, sofern der Gesetzgeber hier "echte" Beweislastnormen schaffen wollte. Verfolgte der Gesetzgeber demgegenüber den Zweck, den Fall richterlicher Überzeugungslosigkeit aus dem Sachgrund typischer Erfahrungswahrscheinlichkeit zu entscheiden, so müßten die Normen sachlich wie Beweisregeln behandelt werden.

2. Zweck der Vermutungen des GWB

Der kartellrechtliche Gesetzgeber hat bei der Festlegung der Vermutungsvoraussetzungen die Einschätzung abgegeben, bei ihrem Vorliegen spreche für die Verwirklichung des vermuteten Merkmals eine "hohe Wahrscheinlichkeit" bzw. müsse "erfahrungsgemäß" oder "in der Regel" von seinem Vorliegen ausgegeangen werden. 250 Ist daraus nun die Schlußfolgerung zu ziehen, daß das gesetzgeberische Motiv (Sachgrund) der Beweislastverteilung die statistische Wahrscheinlichkeit war? In der Tat finden sich im kartellrechtlichen Schrifttum entsprechende Deutungen des Normzwecks: Die Vorschrift solle die Frage beantworten helfen, wann das vermutete Merkmal vorliege. 251 Hierher gehören auch diejenigen Autoren, welche die Vermutungen des § 23 a GWB als "verbindliche Interpretationshilfe der Eingriffsvoraussetzungen" ("Auslegungsanweisung"),252 "Typisierung rechtlich relevanter Kausalzusammenhänge" ("Gefährdungstatbestand"), 253 oder als "gesetzgeberi-

248

Vgl. vor allem Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 257 ff, 260 ff; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 112.; femer Baur, FS Bachof, 1984,285 (290 ff). 249

Vgl. zu diesen und anderen Zwecken als legitimen Sachgründen der Beweislastverteilung Prütting Gegenwartsprobleme, 1983, S. 257 ff, 260 ff. und 337 ( zu § 61 la BGB). 250

Vgl. hierzu ausführlich die Nachweise eingangs des Abschnitts § 5 ΠΙ.

251

Köhler, DB 1982,313 (zu § 26 Π 3 GWB).

252 Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 54 f. (zu § 23a I); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 71 (zu § 23a Π). 253

Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 6, 8-10 (zu § 23a I); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867.

110

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

sehe Konkretisierung" des Tatbestandsmerkmals verstehen. 254 Allen voran ist Mestmäcker zu nennen, der ausführt: "Vermutungen haben den Zweck, diesen Prozeß der Rechtsbildung [= ob ein Sachverhalt tatbestandsmäßig ist, Anm. d. Verf.] zu erleichtem, indem sie rechtserhebliche Kausalzusammenhänge normieren und typisieren." 255 "Die einzelnen Vermutungen umschreiben "konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen" und sollen der Verwaltungspraxis und den Gerichten deutliche Orientierungshilfen geben (Bericht 1980, S. 26). Die von bestimmten Zusammenschlüssen ausgehenden Abschreckungs- und Entmutigungswirkungen werden als Gefährdungstatbestände normiert. Der Anwendungsbereich der Fusionskontrolle wird insofern auch materiellrechtlich erweitert." 256

Diesem Zweckverständnis der kartellrechtlichen Vermutungen kann nicht zugestimmt werden. Die vorgenannten Autoren interpretieren an der Entstehungsgeschichte und den Motiven vorbei einen Zweck in die Vermutungen hinein, den der Gesetzgeber eindeutig nicht verfolgt hat. Gründe, die der Gesetzgeber in den Motiven als Zweck (Sachgrund) der Vermutungen angegeben hat, werden unzulässig mit solchen Einschätzungen vermischt, die der Gesetzgeber zur Rechtfertigung der konkreten Ausgestaltung der Vermutungsvoraussetzungen abgegeben hat. Zudem darf man den spezifischen Zweck einer Beweislastnorm nicht mit dem Zweck des Eingriffstatbestandes vermischen, dessen Merkmal vermutet wird.

a) Gesetzgebungsgeschichte und Motive Mit der zweiten GWB-Novelle ging es dem Gesetzgeber darum, die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen wirksamer auszugestalten,257 weil den Kartellbehörden die Quantifizierung der Wettbewerbsintensität und des Marktergebnisses im Hinblick auf den Begriff der Marktbeherrschung außerordentliche Schwierigkeiten bereitete. 258 Zweck der "widerleglichen Vermutungen" des § 22 III GWB, die "lediglich die Beweislast umkehrten", 259 war es, "die praktische Handhabung der Mißbrauchsaufsicht zu erleichtern" und dadurch die "Mißbrauchskontrolle 254 Wolf WuW 1980,462,470 (zu § 23a I); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl. 1992, § 23a, Rz. 8. 255

Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 6.

256

Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 10.

257

So die Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 7/76, S. 14.

GWB,

258 Weitere Nachweise zu den Schwierigkeiten bei der Mißbrauchsaufsicht bei Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 30 ff 259

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

111

deutlich zu aktivieren". 260 Dabei betonte der Gesetzgeber ausdrücklich, die Vermutungen legten die Anwendung des materiellen Rechts nicht fest. 261 Zur Zielsetzung des § 23a I GWB führte der Gesetzgeber anläßlich der 4. GWBNovelle aus, der Nachweis der Untersagungsvoraussetzungen bereite im konkreten Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten und scheitere meist daran, daß nicht wie bei horizontalen Zusammenschlüssen Vermutungen bestünden, die konkrete Anhaltspunkte bei der Entscheidungsfindung lieferten. 262 Zur Beseitigung der entstandenen Schwierigkeiten dienten die "beweiserleichternden" bzw. "entscheidungserleichtemden" bzw. "kontrollerleichternden" Vermutungstatbestände" in § 23a I GWB. 263 Die Vermutungen sollten klarstellen, daß die Ressourcenbetrachtung als gleichwertiges Beurteilungskonzept neben die Marktanteilsbetrachtung getreten sei und diese in den Fällen vertikaler und konglomerater Zusammenschlüsse auch ersetzen könne. 264 Die Vermutungskriterien seien gerechtfertigt, weil diese zu Risiken für den Wettbewerb führten, womit der konkrete Markt- und Machtbezug der Fusionskontrolle aber nicht aufgegeben werde. 265 Eine isolierende, die konkreten Marktverhältnisse ignorierende Verabsolutierung der Umsatzgröße sei mit den Vermutungen nicht verbunden.266 Diese seien durch die konkreten Marktverhältnisse widerlegbar, auch wenn sämtliche ihrer Voraussetzungen erfüllt seien.267 Der Gesetzgeber betonte ausdrücklich, die Vermutungen legten die Anwendung des materiellen Rechts 260

Begründung zum Regierungsentwurf der der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 14; der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23. 261

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24.

262

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37. 263

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13, 19; Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 35; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drs. 8/2136, S. 37. 264 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 19; Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 26: § 23a I GWB unterstreiche die entscheidende Bedeutung struktureller Gesichtspunkte für die Beurteilung der überragenden Marktstellung. 265

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37 f.; Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26 f. 266

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37 f. 267

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38.

112

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

(§ 24 GWB) nicht fest. 268 Sie seien keine materiellen Rechtsänderungen.269 Die Vermutungen gäben nur konkrete Anhaltspunkte dafür, wann sich die Zusammenschlüsse dem Untersagungsbereich näherten 270 Sie umschrieben konkretisiert typische wettbewerbliche Gefährdungslagen im Sinne wettbewerblicher Risikolagen, die zu Marktbeherrschung oder zu ihrer Verstärkung tendierten und gäben so der Praxis deutliche Orientierungshilfen. 271 Dieser Wille des Gesetzgebers, den konkreten Markt- und Machtbezug der Fusionskontrolle nicht aufzugeben, sondern nur Anhaltspunkte zu liefern, "ab wo es kritisch wird", muß insbesondere vor dem Hintergrund der im Gesetzgebungsverfahren abgelehnten Alternativkonzepte zu den Vermutungen gesehen werden. 272 An den Vermutungen war kritisiert worden, diese schafften zwar "Beweiserleichterungen", könnten aber materiellrechtliche Regelungslücken nicht ersetzen.273 Deshalb machte das Bundeskartellamt den Vorschlag, bereits Fusionen zu untersagen, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen wesentlich zu verschlechtern. 274 Dieser Vorschlag wurde jedoch ebenso verworfen 275 wie die sog. "Potentiallösung", wonach ein Zusammenschluß schon dann untersagt werden sollte, wenn er geeignet war, das zusammengeschlossene Unternehmen in die Lage zu versetzen, eine marktbeherrschende Stellung zu begründen oder zu verstärken. 276 Zum Zweck des § 23a II GWB führte der Gesetzgeber anläßlich der 4. Novelle aus, die Fusionskontrolle im Bereich enger Oligopole habe sich als unzureichend erwiesen, da Konzentrationsvorgänge auf oligopolistischen Märkten nur unter erschwerten Bedingungen untersagt werden könnten. Hintergrund war, daß der Nachweis der Untersagungsvoraussetzung des fehlenden Binnenwettbewerbs (§§ 24 I

268

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 19.

269

Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37 f. 270

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 23.

271

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26.

272

Vgl. hierzu ausführlicher § 3 Π. vor 1.

273

Markert, BB 1978,678 (691, Anm. 46).

274

BKartA, Tätigkeitsbericht 1976, BT-Drs. 8/704, S. 20 ff.; kritisch hierzu die Mehrheit der Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 475 ff. 275 Vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung zum Tätigkeitsbericht des BKartA 1977, BT-Drs. 8/704, S. Π; ebenso das Mehrheitsvotum der Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 476 f. 276

Vgl. den Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 23; ferner Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 5; Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 12.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

113

i.V.m. 22 II GWB) besonders schwierig war. 277 Die Vorschrift sehe eine Umkehr der Beweislast vor, um weiteren Strukturverschlechterungen auf oligopolistischen Märkten "besser als bisher entgegenwirken" zu können.278 Zum Zweck des § 26 II 3 GWB erläuterte der Gesetzgeber anläßlich der vierten und fünften GWB-Novelle, die Vermutung solle den Kartellbehörden die Feststellung von Abhängigkeit erleichtern. 279 Sie stelle klar, daß die von der Nachfrageseite veranlaßte Diskriminierung unter das Diskriminierungsverbot falle. 280 Ausdrücklich korrigierte der Gesetzgeber anläßlich der 5. Novelle seine zur 4. GWB-Novelle geäußerte Vorstellung, § 26 II 3 GWB stelle nur einen Aufgreiftatbestand dar, der die Kartellbehörde zur Prüfung im Rahmen der Amtsermittlung veranlasse, aber keine Umkehr der Beweislast bewirke. 281 Der Vermutung sei wie im Falle des § 22 III GWB dann bindende Wirkung zuzuschreiben, "wenn das Gericht nach Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses das Tatbestandsmerkmal weder auszuschließen noch zu bejahen vermag (WuW/E BGH 1749 282 )". 283

b) Stellungnahme Spätestens seitdem der Gesetzgeber anläßlich der 5. GWB-Novelle ausdrücklich den Standpunkt des BGH im Fall "Klöckner/ Becorit" 284 eingenommen hat, ist eindeutig, daß er "echte" Beweislastnormen schaffen wollte. Hierfür sprechen klare Äußerungen wie "Beweislastumkehr",285 "lassen sich diese Gegengründe nicht feststellen, so ist von Marktbeherrschung auszugehen",286 "Widerlegungsmöglichkei-

277

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 409, Mestmäcker m Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 45; K. Schmidt, ZRP 1979,38 (41). 278

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 27.

279

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; der 5. Novelle. BT-Drs. 11/4610, S. 22. 280

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 25.

281

So noch die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24. 282

"Klöckner/Becorit" = BGHZ 79,62.

283

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22.

284

WuW/E BGH 1749 (1754), auszugsweise wiedergegeben in § 4 Π.

285

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24.

286

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; ähnlich die Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14.

8 Ittner

114

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

ten",287 oder "bindende Wirkung, wenn das Gericht das Tatbestandsmerkmal weder auszuschließen noch zu bejahen vermag". 288 Des weiteren ist eindeutig, daß der Gesetzgeber mit den Vermutungen die Beweislast nicht aus dem Sachgrund der Wahrscheinlichkeit verteilen wollte. Die insbesondere zu § 23a I GWB abgegebene Einschätzung, wie häufig beim Vorliegen der Vermutungsbasis das vermutete Merkmal verwirklicht sei, diente lediglich dazu, die konkrete Ausgestaltung der Vermutungsvoraussetzungen zu rechtfertigen. Mit den Vermutungsvoraussetzungen wollte der Gesetzgeber zum einen für die Rechtsanwendungspraxis klarstellen, daß strukturelle Gesichtspunkte nicht tatbestandsfremd, sondern von Relevanz für die rechtliche Beurteilung des vermuteten Merkmals sind. Zum anderen wollte er umschreiben, welche Ressourcenkombinationen zum Untersagungsbereich tendieren ("Risikolagen", "kritischer Bereich"), ohne aber das Vorliegen der in § 24 I GWB kodifizierten abstrakten Gefahr verbindlich festlegen zu wollen. Es sollten lediglich "Anhaltspunkte" ("Orientierungshilfen") für die Rechtsanwendungspraxis entstehen. Der "kritische Bereich" im Sinne des Gesetzgebers ist erreicht, wenn beim Vorliegen einer bestimmten Sachverhaltskonstellation das Risiko bzw. die Tendenz besteht, daß zugleich das vermutete Merkmal verwirklicht ist. Seine Einschätzung dieses Risikos hat der Gesetzgeber mit Wahrscheinlichkeitserwägungen begründet. Zwar trifft es zu, daß bei Vermutungen durch die Gestaltung der Vermutungsvoraussetzungen die Beweislast verteilt wird. 289 Damit ist aber nur gesagt, daß der Gesetzgeber die Beweislastumkehr beim Vorliegen bestimmter Risikolagen (also im "kritischen Grenzbereich" zur abstrakten Gefahr) wollte, nicht jedoch, aus welchem Grund. Der Gesetzgeber wollte mit seinen Wahrscheinlichkeitsaussagen weder das vermutete Merkmal definieren noch verbindliche Regeltatbestände für die Rechtsanwendung begründen noch erweiternd abstrakte Gefahren für den Wettbewerb normieren, sondern nur den "kritischen Bereich" für das vermutete (Gefahren-) Merkmal einschätzen.290 Wer die Wahrscheinlichkeitsaussagen des Gesetzgebers anders einordnet, insbesondere meint, die Vermutungsvoraussetzungen hätten den Zweck von verbindlichen Interpretationshilfen, Auslegungsanweisungen, Gefähr287

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23, 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 288

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22.

289

Vgl. § 5 I. 2.

290

Ebenso Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rzn. 342 f. ("keine Signalwirkung für die Auslegung der materiellen Marktbeherrschungstatbestände", "kein Vorrang des Marktanteils bei der Gesamtwürdigung"), Harms, in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 75 f. ("keine materielle Neuinterpretation").

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

115

dungstatbeständen oder Konkretisierungen der Eingriffsvoraussetzungen, 291 verkennt nicht nur, daß das Abstecken des "kritischen Bereichs" als Grenze der Beweislast noch nichts über den Grund der Beweislastumkehr besagt, sondern muß sich auch den Vorwurf des Revisionismus gefallen lassen, nämlich den Vorwurf, den in den Gesetzesberatungen ausdrücklich verworfenen Alternativkonzepten 292 "auf Umwegen" doch noch zum Durchbruch verhelfen zu wollen. 293 Der wahre Sachgrund dafür, den Unternehmen die Beweislast schon im "kritischen Bereich", also bei Sachverhalten, die zum vermuteten Merkmal nur tendieren, aufzuerlegen, liegt darin, daß der Gesetzgeber die Unternehmen gerade in diesem für den Rechtsanwender schwierigen Grenzbereich mit der objektiven Beweislast unter Druck setzen will, freiwillig und aktiv an einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Auf diese Weise wird zwar nicht die behördliche Amtsermittlungpflicht verringert oder erleichtert, jedoch soll für die Kartellbehörde als "marktferne Institution"294 eine größere und zuverlässigere Informationsbasis geschaffen werden.295 Die Aufsichtstätigkeit der Kartellbehörde soll durch zusätzliche Informationen effektiviert bzw. überhaupt erst ermöglicht werden; die Behörde soll derart in die Lage versetzt werden, eine realitätsgerechte Rechtsanwendung vorzunehmen. 296 Auch wenn das mit dem Feststellungsrisiko belastete Unternehmen wegen der vollständigen Aufklärungspflicht der Kartellbehörde keine echte prozessuale Last in dem Sinne verspürt, daß seine Untätigkeit bei der Sachverhaltsaufklärung zwingend zum Prozeßverlust führt, so üben die Vermutungen doch einen erhebli291

Vgl. die Nachweise in § 5 ΠΙ. 2. vor a).

292

Vgl. hierzu § 3 Π. v o r l .

293

Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz.

77. 294

Niederleithinger

in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 54.

295

Die Vermutungen bewirken keine "Erleichterung" der behördlichen Aufsicht. Die aufgrund des "faktischen Aufklärungsdrucks" beigebrachten Informationen der Unternehmen vergrößern zwar die Informationssammlung der Behörde, nicht aber verkleinem oder erleichtern sie deren Amtsermittlungspflicht. Die Kartellbehörde darf die von den Unternehmen vorgetragenen Umstände nicht ungeprüft hinnehmen, sondern muß sie verifizieren und weitere weitere Ermittlungen anstellen, wenn solche sich aufgrund der neuen Informationen aufdrängen. Die Aufklärungsbeiträge der Unternehmen erweitem also vielmehr die Amtsermittlungspflicht; sie haben eine "dienende" bzw. "effektivierende Funktion" unter dem "Dach" der behördlichen Pflicht zur umfassenden Aufklärung (vgl. zur ähnlichen Situation bei den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten § 5 VH vor 1.). 296

In diesem Sinne auch Kaiser, WuW 1978, 344, 358 ("Anhalten zur Mitwirkung bei der Aufhellung des Sachverhalts durch das Risiko des Prozeßverlusts"); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 59, 92 ("erwünschte Mitwirkung liegt im Interesse der Unternehmen selbst").

8*

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§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

chen Druck auf die Unternehmen aus, der Behörde durch eine eigene verstärkte Aufklärungs- und Beweistätigkeit umfassende Informationen an die Hand zu geben, um das fur sie nachteilige non liquet zu vermeiden. 297 Dieses Eigeninteresse wird dadurch verstärkt, daß der Aufklärungspflicht der Kartellbehörde Grenzen durch das menschliche Erkenntnisvermögen und der Umgang mit den Vermutungen in der Praxis zudem die Gefahr birgt, den Vermutungssatz bereits mangels Widerlegung als erwiesen anzunehmen.298 Berücksichtigt man, daß die Mißbrauchs- und Fusionskontrolle die wettbewerblichen Handlungsspielräume der Mitwettbewerber und damit deren Grundrechte auf freie wirtschaftliche Entfaltung (unternehmerische Betätigungsfreiheit) 299 schützen soll, 300 so verfolgen die Vermutungen mit dem Zweck, die behördliche Aufsichtstätigkeit zu effektivieren, der Sache nach den Zweck, den (mit dem materiellen Recht verfolgten) behördlichen Schutz der Grundrechte der Wettbewerber zu effektivieren. 301 Der Zweck der Vermutungen kann daher auf die griffige Formel "Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck" gebracht werden. 302 Wenn nach alledem der kartellrechtliche Gesetzgeber trotz des Befundes, daß die Funktion der objektiven Beweislast nicht in einer Überwindung von Beweis-, Feststellungs- oder Überzeugungsschwierigkeiten liegt, sondern allein in einer eigenständigen Risikozuweisung für den Fall gescheiterter Überzeugungsbildung besteht, davon spricht, die Vermutung verfolge den Zweck, die Feststellung bzw. den Be297

In diesem Sinne Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 43; speziell zu den Vermutungen des GWB Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 51, 92; vgl. ausführlich zur "faktischen Vorwirkung" der objektiven Beweislast in Verfahren mit Untersuchungsmaxime § 5 I. 2. 298

Vgl. hierzu bereits ausführlich § 5 I. 2.

299

Vgl. zum Grundrecht der unternehmerischen Betätigungsfreiheit Scholz in Maunz/Dürig, GG, Band 1,31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 136 f. 300

Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 232 m.w.N. in Fn. 9 (zu § 22), S. 288 (zu § 26), S. 342 m.w.N. in Fn. 18 (zu § 24); Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 384 f. ("freiheitsfördernde Zielsetzung", "Förderung eines insgesamt möglichst freiheitlichen Wettbewerbssystems [Grundrechtsoptimierung]", "Lösung von Grundrechtskollisionen zwischen den [gleichen] Wettbewerbsfreiheiten"). 301 Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob die Eingriffsnormen der §§ 22 V, 24 I und 37a Π GWB zugleich individual-drittschützenden Charakter haben. Vgl. zum Anspruch einzelner Dritter auf das Eingreifen der Kartellbehörde K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51 Rzn. 7 ff. m.w.N 302

In diesem Sinne auch Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12, Rzn. 385, 388: Die Aufsichtsmaßnahmen stellten sich inhaltlich als grundrechtliche Kollisionslösungen dar. Durch Vermutungsregelungen würden Beweiserleichterungen zugunsten der im kollisionslösenden Sinne tätigen Aufsicht geschaffen.

ΠΙ. Vermutungen und statistische Lebenserfahrung

117

weis des vermuteten Merkmals zu erleichtern, 303 die Beweissituation zu verbessern304 oder die praktische Handhabung des materiellen Rechts zu erleichtern, 305 so kann nicht davon ausgegangen werden, daß er "Vermutungen sui generis" mit eigenständiger Wirkung schaffen wollte. Abgesehen von sprachlichen Ungenauigkeiten hat der Gesetzgeber hier die "faktischen Vorwirkungen" der objektiven Beweislast unter der Untersuchungsmaxime angesprochen, welche er gezielt zur Erreichung seiner Zwecke instrumentalisiert hat. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß man den Zweck der Vermutungen und die rechtsstaatliche Rechtfertigung der konkreten Bildung der Vermutungsvoraussetzungen nicht verwechseln darf. Zweck der Vermutungen des GWB ist es, die Unternehmen "im kritischen Bereich" durch eine nachteilige Beweislast "aus der Reserve zu locken" und unter Druck zu setzen, aktiv an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, um so die behördliche Aufsichtstätigkeit (Mißbrauchs- bzw. Fusionskontrolle), welche ihrerseits dem Schutz der Wettbewerbsfreiheit konkurrierender Unternehmen dient, deutlich zu effektivieren ("Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck"). Die Beweislastverteilung aus dem Sachgrund der Effektivierung der Aufsichtstätigkeit hielt der Gesetzgeber bei solchen Konstellationen für angebracht, die zum vermuteten Merkmal tendieren ("kritischer Bereich"). Nur zur Einschätzung dieses "kritischen Bereichs" stellte er auf statistische Wahrscheinlichkeitserwägungen ab. Damit dienten die Wahrscheinlichkeitserwägungen aber weder der verbindlichen Konkretisierung des vermuteten Merkmals noch einer Erweiterung des materiellen Rechts. Die durch die Wahl der Vermutungsvoraussetzungen beabsichtigte Klarstellung, daß die dort normierten Gestaltungen für die Rechtsanwendung relevant sind, ist nichts anderes als ein normales "Abfallprodukt" jeder gesetzlichen Vermutung, deren Voraussetzungen für die Beurteilung des vermuteten Merkmals erheblich sind. Der Gesetzgeber verfolgte mit den Vermutungen somit nicht den Zweck, den Fall der Überzeugungslosigkeit des Rechtsanwenders aus dem Sachgrund typischer Wahrscheinlichkeit zu entscheiden. Die Vermutungen des GWB sind keine verdeckten Beweis(würdigungs)regeln, sondern echte Beweislastnormen.

303 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13, 16, 19, 24; der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26 ("Entscheidungserleichterung"); Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 37 ("Entscheidungserleichterung"). 304 305

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 11,22.

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23; der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 14.

118

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

Im folgenden werden aus den vorstehend gewonnenen Ergebnissen eine Reihe von Schlußfolgerungen zu ziehen sein. Diese Folgerungen beginnen mit der Verweisung aller Konsequenzen daraus, daß die Vermutungen nicht der Lebenserfahrung entsprechen, in den Bereich der Verfassungsmäßigkeit (3. und 4.), setzen sich mit einer Ablehnung derjenigen Ansichten fort, die den Vermutungen abweichende oder weitergehende Wirkungen als die einer Beweislastregelung zubilligen wollen (IV.VII.) und enden mit einer kritischen Würdigung der BGH-Rechtsprechung (VIII.).

3. Besonderheiten der Eingriffsverwaltung

Müssen nicht wenigstens Vermutungen, welche die Beweislast für die Voraussetzungen hoheitlicher Eingriffe dem Bürger auferlegen, durch statistische Wahrscheinlichkeitssätze fundiert sein? In der Tat vertreten zahlreiche Autoren im kartellrechtlichen Schrifttum die Meinung, das Recht der staatlichen Eingriffsverwaltung kenne eine Beweislastumkehr nur in Fällen, in denen zuvor ein Regelsachverhalt festgestellt worden sei.306 Diese Forderung nach einer empirischen Absicherung zielt jedoch nicht auf ein abweichendes funktionelles oder materiellrechtliches Verständnis von Vermutungen in der Eingriffsverwaltung ab, sondern auf deren verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit. Gerügt werden angebliche Verstöße gegen eine materielle Freiheitsvermutung, die Verfassungsprinzipien der Systemgerechtigkeit, der Rechtsstaatlichkeit, der Verhältnismäßigkeit und die Grundsätze des Entwicklungsspielraums bei Fehlprognosen 307). Die Verortung aller Überlegungen zu Konsequenzen aus einer fehlenden Lebenswahrscheinlichkeit gesetzlicher Vermutungen in der Eingriffsverwaltung in den Bereich der Verfassungsmäßigkeit ist zuzustimmen. Die Besonderheiten der Eingriffsverwaltung (Tangierung von Grundrechten, Vorbehalt des Gesetzes, kognitive und instrumentale Übermacht des Staates etc.) berühren allein Fragen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Beweislastverteilung. 308 Für das funktionelle und materiellrechtliche Verständnis von Vermutungen ist das Fehlen von Wahrscheinlichkeit auch in der Eingriffsverwaltung irrelevant, denn ihr charakteristisches Wesen besteht auch dort nur in einer autarken Risikozuweisung auf der Ebene der Rechtsanwendung.

306

So wörtlich Axster/Weber, Anmerkung zu BGH GRUR 1981, 365, in: GRUR 1981, 369 (372); vgl. femer nur Knöpfle, BB 1970, 717 (723); Leo, WRP 1970, 197 (201) und WRP 1972,1 (13 f.); Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 sowie die Rede des Abgeordneten Alber im Bundestag am 14.6.1973, WuW 1973, 599 f. (auszugsweise wiedergegeben in § 3 I.). 307

Näher zum Meinungsstand § 41. 1.

308

Diese werden geprüft in § 6.

IV. Weitere materiell-rechtliche Wirkung der Vermutungen

119

4. Anforderungen an die Gestaltung der Vermutungsvoraussetzungen

Aus der Erkenntnis, daß das Fehlen von Wahrscheinlichkeit für das funktionelle und materiellrechtliche Verständnis der Vermutungen des GWB irrelevant ist, folgt nicht, daß an die konkrete Ausgestaltung der Vermutungsvoraussetzungen durch den Gesetzgeber keine Anforderungen zu stellen wären. Vergegenwärtigt man sich die Funktion der Vermutungsvoraussetzungen, die Anwendbarkeit der Vermutungen zu steuern und damit die Beweislast aufzuteilen, 309 so müssen an die konkrete Fassung der Vermutungsvoraussetzungen eben diejenigen Anforderungen gestellt werden, die an die Verteilung der Beweislast selbst zu richten sind. Da der Gesetzgeber bei der (Beweislast-)Normsetzung nach Art. 20 III GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist, wird zu prüfen sein 310 , ob es verfassungsrechtlich zu beanstanden ist, daß der Gesetzgeber erstens die Beweislastumkehr durch die Vermutungen des GWB im "kritischen Bereich" für angebracht hielt und sich zweitens bei seinen Wahrscheinlichkeitserwägungen zur Einschätzung des "kritischen Bereichs" geirrt hat. Entgegen seiner Einschätzung erstreckt sich der Anwendungsbereich der Vermutungen auf Konstellationen, in denen die Verwirklichung des vermuteten Merkmals zwar oftmals der Fall, aber nicht die Regel ist. 311 Sowohl die Beweislastumkehr im "kritischen Bereich" als auch die Festlegung dieses Bereichs mit unzutreffenden Wahrscheinlichkeitserwägungen betreffen jedoch nur die Verfassungsmäßigkeit der konkreten Beweislastaufteilung, insbesondere die Frage, ob das gewählte Mittel (Beweislastumkehr im als "kritisch" eingestuften, nicht empirisch fundierten Bereich) zur Erreichung des verfolgten Zwecks (Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht) angemessen ist. 312

IV. Weitere materiellrechtliche Wirkung der Vermutungen Noch nicht abschließend erörtert wurde die Frage, ob den Vermutungen des GWB über ihre materiellrechtliche Bedeutung als Beweislastnormen hinaus eine weitergehende materiellrechtliche Bedeutung beizumessen ist. Diese von einer starken Fraktion im kartellrechtlichen Schrifttum für die Vermutungen des § 23 a I GWB bejahte313 Frage war bereits beim Zweck der Vermutungen anzusprechen, weil sie unlösbar mit dem teleologischen Verständnis der Vermutungen verknüpft ist. Neben

309

Vgl. §51. 1. und 2.

310

Diese Prüfung erfolgt in § 6 I V 4. c) bb).

311

Vgl. hierzu näher § 5 m. vor 1.

312

Vgl. zur Verhältnismäßigkeit der Vermutungen des GWB § 6 I V . 4. c) bb).

313

Vgl. § 5 m . 2 . v o r a ) .

120

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

eher zurückhaltenden Äußerungen wie die Vermutungen stellten "konkrete Hinweise für die Auslegung des § 241 GWB" dar 314 finden sich Einordnungen wie "verbindliche Interpretationshilfe der Eingriffsvoraussetzungen des § 24 I GWB" ("Auslegungsanweisung")315, "Typisierung rechtlich relevanter Kausalzusammenhänge", "Gefährdungstatbestände", 316 "gesetzgeberische Konkretisierung des Marktbeherrschungsbegriffs" 317 oder "materielle Neuformulierung des Marktbeherrschungstatbestandes"318. Am weitesten geht die Auffassung, § 23a I Nr. la und l b GWB sei bei Marktverkettungsfusionen "gefährdungstatbestandlich" dergestalt auszulegen, daß § 24 I GWB schon dann anzuwenden sei, wenn die Voraussetzungen des § 23 a I Nr. 1 GWB weitgehend, aber nicht vollständig erfüllt seien und andere Gefahren der Marktmachtbegründung oder -Verstärkung hinzukämen.319 Allen vorgenannten Meinungen ist gemeinsam, daß sie die Annahme weiterer materiellrechtlicher Vermutungswirkungen nicht mit kartellrechtlichen Besonderheiten begründen, sondern sich zur Begründung auf die Entstehungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien berufen. Im Rahmen dieser abschließenden Erörterung des Problems geht es nur noch darum, die zu den Punkten "Zweck der Vermutungen" 320, "Beweislast und Wahrscheinlichkeit"321 sowie "Regelbeispiele und abstrakte Gefährdungstatbestände" 322 gewonnenen Erkenntnisse konsequent umzusetzen. Dies führt zu einer Ablehnung jeder Interpretation, die den Vermutungen des GWB eine über die Risikozuweisung im non liquet-Fall hinausgehende materielle Wirkung zubilligen will. Der Gesetzgeber wollte mit den Vermutungsvoraussetzungen lediglich klarstellen, daß strukturelle Gesichtspunkte für die Rechtsanwendung relevant (also nicht tatbe-

314 Schultz, WuW 1981, 102,105 f. (zu § 23a I), sinngemäß auch S. 108, 115 (zu § 23a Π); ähnlich Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867 (zu § 23a I). 315 Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 54 f. (zu § 23a I); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 71 (zu § 23a Π). 316

Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 6, 8-10 (zu § 23a I); Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867.

317

Wolf, WuW 1980,462,470 (zu § 23a I); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl. 1992, § 23a Rz. 8 (zu § 23a I). 318

GWB,

K. Schmidt, ZRP 1979,38,42 (zu § 23a RegE).

319

Dabei sei die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde auf strukturelle Marktbeherrschungsgefahren beschränkt, vgl. Herrmann, BB 1989, 1213 (1214 f.); ders, RIW 1986, 253 (263 ff.). 320

§ 5 m. 2.

321

§ 5ΠΙ. 1.

322

§ 5 I. 4. b).

IV. Weitere materiellrechtliche Wirkung der Vermutungen

121

standsfremd) sind und ferner einschätzen, welche Konstellationen zum vermuteten Merkmal tendieren ("kritischer Bereich"), worin er zugleich "Anhaltspunkte" ('Orientierungshilfen") für die Rechtsanwendungspraxis sah.323 Diejenigen Stimmen, die die Vermutungen darüber hinaus als "verbindliche Auslegungsanweisungen", "Gefährdungstatbestände", "Konkretisierungen des Marktbeherrschungsbegriffs" etc. interpretieren, verkennen nicht nur den Willen des Gesetzgebers,324 sondern auch die Unterschiede zwischen widerlegbaren Vermutungen und abstrakten "Gefährdungstatbeständen" sowie gesetzlichen Regelbeispielen. Diese in § 514 b) behandelten Unterschiede sind schnell resümiert: Im Gegensatz zu abstrakten Gefahrentatbeständen, die selbst eine abstrakte Gefahr rechtsverbindlich festlegen (materiellrechtliche Eingriffstatbestände), daher unwiderleglich sind und - proportional zum drohenden Schaden - empirisch abgesichert sein müssen,325 müssen widerlegbare Vermutungen weder empirisch fundiert sein noch ergänzen sie das materielle Recht; materiellrechtlich ist allein das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Grundnorm maßgeblich.326 Im Gegensatz zu gesetzlichen Regelbeispielen, die einen festgestellten Sachverhalt voraussetzen, dem Rechtsanwender ein Leitbild für die Interpretation eines unbestimmten Rechtsbegriffs vorgeben und das Regelbeispiel im "Normalfall" (d.h. bei fehlender qualitativer Abweichung des konkreten Sachverhalts vom Leitbild des Regelbeispiels) verbindlich als casus des unbestimmten Rechtsbegriffes festlegen ("Regelwirkung") 327, fingieren Vermutungen einen unklares Merkmal als feststehend, legen die anschliessende Rechtsanwendung aber nicht fest. Während Vermutungen das Feststellungsrisiko für das unklare Merkmal regeln, verteilen Regelbeispiele weder die Beweislast für den unbestimmten Rechtsbegriff noch für atypische Einzelfallumstände 328; sie konkretisieren lediglich das materielle Recht. Würden nun die Vermutungsvoraussetzungen des § 23a GWB eine über die Risikozuweisung im non liquet-Fall hinausgehende materielle Wirkung hinsichtlich des vermuteten Gefahrentatbestandes (§ 24 I GWB) 3 2 9 entfalten, so würden die Grenzen zu den vorgenannten Rechtsfiguren dergestalt durchbrochen, daß vom spezifischen Wesen der Rechtsfigur "gesetzliche Vermutung" nichts mehr übrig bliebe. 323

Vgl. § 5 m . I.und2.

324

Dazu sogleich und ausführlich § 5 ΙΠ. 2.

325

Ausführlich zu abstrakten Gefahrentatbeständen § 5 I. 4. b) bb).

326

Vgl. nur Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 80 f., näher § 5

1.2. 327

Vgl. ausführlich zur Wirkung gesetzlicher Regelbeispiele § 5 I. 4. b) aa).

328

Diese folgt vielmehr den allgemeinen Regeln, vgl. bereits § 5 I. 4. b) aa).

329

Zum Verständnis des § 24 I GWB als abstraktem Gefahrentatbestand § 5 I. 4. b) bb).

122

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

Dies soll eine Auseinandersetzung mit den drei denkbaren Sichtweisen einer solchen materiellen Vermutungswirkung [nachfolgend a) bis c)] verdeutlichen. a) Versteht man die Befürworter einer solchen materiellen Vermutungswirkung dahingehend, daß die Vermutungsbasis bindend, d.h. ohne Abweichungsmöglichkeit des Rechtsanwenders im Einzelfall, einen Anwendungsfall des Gefahrentatbestandes konkretisieren soll, so wäre die Vermutungsbasis selbst ein (konkretisierter) abstrakter Gefahrentatbestand bzw. eine bindende Beweisregel. In diesem Falle wäre bezüglich des vermuteten Merkmals ein non liquet und die spezifische Beweislastwirkung ausgeschlossen.330 Die Verwendung einer gesetzlichen Vermutung wäre reiner "Etikettenschwindel", da bei Feststehen der Vermutungsvoraussetzungen keine objektive Beweislast mehr denkbar wäre. Wegen der Verbindlichkeit der Vermutungsbasis für den Rechtsanwender wäre nicht nur die richterliche Überzeugungspflicht vom vermuteten Merkmal, sondern auch die Widerlegbarkeit der Vermutung völlig aufgegeben; konkrete Widerlegungstatsachen wären unbeachtlich. Die Vermutungsvoraussetzungen würden als Eingriffstatbestand fungieren, was angesichts des rechtstatsächlichen Befundes, daß keine der Vermutungen des GWB auch nur annähernd der Lebenserfahrung entspricht, 331 bedeuten würde, daß Untersagungsverfügungen schon bei Sachlagen ergehen könnten, die in der Regel keine abstrakte Gefahr i.S.v. § 24 I GWB bilden. Dadurch würde der Untersagungsbereich der Fusionskontrolle nicht nur erheblich ausgedehnt, sondern entgegen der gesetzgeberischen Absicht 332 auch vom Marktmachtkonzept abgekoppelt, wodurch das die Grundrechte der betroffenen Unternehmen schützende Übermaßverbot verletzt wäre. 333 b) Oder man versteht die Befürworter einer über die Beweislast hinausgehenden materiellen Vermutungswirkung dahingehend, daß die Vermutungsvoraussetzungen dem Rechtsanwender einen verbindlichen Interpretationsmaßstab für das vermutete Merkmal des Inhalts an die Hand geben, daß dieser bei Vorliegen der Vermutungsbasis das vermutete Merkmal bejahen muß, wenn nicht ausnahmsweise besondere Umstände wesentlich vom Leitbild der "Regelvermutung" abweichen. Eine solche den Regelbeispielen vergleichbare materielle Wirkung der Vermutungen würde bedeuten, daß der Gesetzgeber die Vermutungsbasis für den Regelfall verbindlich als casus des "vermuteten" Merkmals festgelegt hätte, obwohl das vermutete Merk330

Vgl. zum Ausschluß des non liquet und damit der objektiven Beweislast durch Beweis(würdigungs)regeln § 5 ΠΙ. 1. 331

Hierzu ausführlich § 5 ΠΙ. vor 1.

332

Vgl. § 5 m. 2.

333

Ähnlich (Verstoß gegen das Übermaßverbot durch eine Interpretation der Vermutungen als Regelbeispiele) Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 94,87 a.E.

IV. Weitere materiellrechtliche Wirkung der Vermutungen

123

mal in der Regel gerade nicht verwirklicht ist. Entgegen der gesetzgeberischen Absicht 334 würde auch hier der Untersagungsbereich der Fusionskontrolle über das Marktmachtkonzept hinaus materiellrechtlich erheblich erweitert. 335 Im Regelfall wäre ein non liquet ausgeschlossen und damit eine Vermutung sinnlos. Die Vermutungsvoraussetzung wäre in den Regelfällen ein verbindlicher Anwendungsfall des vermuteten Merkmals, so daß in diesen Fällen die vorstehend gegen das Verständnis der Vermutungen als ausnahmslos verbindliche Konkretisierungen erhobenen Bedenken (Aufgabe der richterlichen Überzeugungspflicht und der Widerlegbarkeit der Vermutung) entsprechend gelten müssen. Ein non liquet bezüglich des vermuteten Merkmals und damit eine Widerlegung der Vermutung wäre nur in dem seltenen Fall denkbar, daß eine qualitative Ausnahme vom "Leitbild" der Vermutungsvoraussetzung festgestellt würde und dennoch Überzeugungslosigkeit vom vermuteten Merkmal vorläge. Die Sachverhaltsaufklärung wäre nicht mehr marktmachtbezogen auf die konkrete wettbewerbliche Ungefährlichkeit des Zusammenschlusses gerichtet, sondern grundsätzlich nur noch auf die Aufklärung qualitativer Ausnahmen vom " Vermutungs-Regelleitbild". 336 Auch insoweit würden die Vermutungen also den Bezug auf das Marktmachtkonzept verlieren. 337 Schließlich ist einer Interpretation der Vermutungen als Regelbeispiele entgegenzuhalten, daß sich der Gesetzgeber zweifellos der ihm aus § 22 IV 2 GWB bekannten, bewußt zu § 22 III GWB abgegrenzten Form bedient hätte, wenn er in § 23 a GWB Regelbeispiele hätte kodifizieren wollen. c) Oder man versteht die Befürworter einer weiteren materiellen Vermutungswirkung dahingehend, daß die Vermutungsvoraussetzungen das vermutete Merkmal zwar nicht bindend konkretisieren sollen, daß sie den Rechtsanwender aber verbindlich dazu anhalten, dem Vermutungssatz im Zweifel das ausschlaggebende Gewicht bei der Beweiswürdigung hinsichtlich des vermuteten Merkmals einzuräumen. Mit einem solchen Verständnis als "abgeschwächte" Beweiswürdigungsregeln würde letztlich wieder abgezielt auf die Vermeidung der richterlichen Überzeugungslosigkeit, denn wegen des ausschlaggebenden Gewichts des Vermutungssatzes gelänge der zweifelnde Rechtsanwender letztlich doch nicht zum non liquet. Damit wäre die

334 335

5 m. 2.

Vgl. § Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz.

94. 336

Weil dadurch zahlreiche für den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht irrelevante Zusammenhänge unwiderleglich blieben, hält Harms eine materielle Neuinterpretation der Untersagungsvoraussetzungen mit Hilfe der Vermutungen wegen Verstoßes gegen das Übermaßverbot für verfassungswidrig, vgl. Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 87 a.E. 337

93.

Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz.

124

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

gesetzliche Vermutung überflüssig. Insoweit kann auf die im Zusammenhang "Vermutungen und typisierte Erfahrungssätze" gemachten Ausführungen zur Alternativität von Beweis- und Beweislastregeln verwiesen werden. 338 d) Die Ablehnung aller drei vorstehend erörterten Sichtweisen durch den Gesetzgeber ist eindeutig. Dieser wollte durch die Vermutungen des GWB "echte" Beweislastnormen schaffen. 339 Insbesondere die Vermutungen des § 23a GWB sollen weder den abstrakten Gefahrentatbestand des § 24 I GWB 3 4 0 bindend konkretisieren, noch sollen sie Regeltatbestände oder zusätzliche "Spezial"-Gefahrentatbestände bilden oder einen Vorrang bei der Beweiswürdigung begründen. Das Gewicht der Entstehungsgeschichte des § 23a GWB kann in diesem Zusammenhang nicht überbetont werden: Wenn der Gesetzgeber nach jahrelanger intensiver Gesetzesberatung, die eine Reihe alternativer Konzepte miteinbezog341, die Rechtsfigur der gesetzlichen Vermutung wählt, die Ablehnung der Alternativkonzepte in den Materialien nochmals bestätigt342 und sich dort mehrfach ausdrücklich zum Marktmachtkonzept bekennt343, so muß den Motiven und der konkreten Rechtsformwahl besonderes Gewicht beigemessen werden. 344 Die Behauptung abweichender materieller Vermutungswirkungen wird vor diesem Hintergrund als Versuch entlarvt, unter Verstoß gegen die Grenzen zulässiger Auslegung und Rechtsfortbildung 345 den in den Gesetzesberatungen zur vierten GWB-Novelle gescheiterten rechtspoli338

Vgl. § 5 m. ι.

339

Vgl. hierzu ausführlich § 5 m. 2.

340

Vgl. § 5 I. 4. b) bb).

341

Verbotsprinzip anstelle von Vermutungen, Absenken der Untersagungsschwelle, Abkoppelung vom Marktbeherrschungsbegriff, "Potentiallösung", z.T. in Kombination mit den Vermutungen, sowie Zwischenformen wie "Teilabkoppelung" u.ä, vgl. Wolf, WuW 1980, 462 (468); Herrmann, RIW 1986, 253 (263 f.); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 4 f.; Huber in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 19 ff.; femer § 3 Π. vor 1 , § 5 m. 2. a). 342

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 23.

343

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24; der 4, Novelle, BT-Drs. 8/ 2136, S. 19; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 37 f; Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 27. 344

Ebenso Wolf WuW 1980, 462 (468); Huber in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 18. 345

In diesem Sinne mit scharfer Kritik auch Huber in Frankfurter K o m m , 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 18: § 23a wirke, solange das Gesetz nicht abermals geändert werde, als Sperre gegenüber rechtspolitischen Bestrebungen, die auf eine offene oder apokryphe Abkoppelung der Fusionskontrolle von der Marktbeherrschung abzielten; femer Fischer, ZGR 1978, 235 (237 f.): Die Rechtsanwendungspraxis dürfe in Bereichen, in denen der

V. Prima-facie-Regeln

125

tischen Wünschen doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Diese Bestrebungen laufen parallel zu Forderungen de lege ferenda, die Fusionskontrolle von der Definition der Marktbeherrschung durch § 22 I - III GWB abzukoppeln.346 Nach alledem kann die Bedeutung der Vermutungsvoraussetzungen neben ihrer "Beweislaststeuerungsfünktion" nur darin gesehen werden, daß der Gesetzgeber klarstellen wollte, daß bestimmte strukturelle Konstellationen für die Gesamtwürdigung des vermuteten Merkmals erheblich sind, ohne aber einen Vorrang gegenüber anderen erheblichen Umständen zu besitzen.347 Hierin liegt jedoch keine besondere, zusätzliche Wirkung der Vermutungen des GWB, denn § 22 I Nr. 2 GWB hat bereits materiellrechtlich festgelegt, daß die Vermutungsvoraussetzungen der §§22 III, 23a und 26 II 3 GWB keine tatbestandsfremden Kriterien für die Beurteilung von Marktmacht sind. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß die Vermutungen des GWB eine materiellrechtliche Wirkung nur als Beweislastnormen entfalten. 348

V. Prima-facie-Regeln Auch die Auffassung, welche die Vermutungen des GWB als prima-facie-Regeln einordnet, muß bei konsequenter Umsetzung der in § 5 III gewonnenen Erkenntnisse abgelehnt werden. Ihre Anhänger meinen, die Vermutungen bezeichneten typische Erfahrungssätze, die das "vermutete" Merkmal indizierten und zu deren Entkräftung eine Erschütterung durch atypische Umstände genüge.349 Zur BegrünGesetzgeber rechtspolitische Erwägungen anstelle, nicht ihrerseits versuchen, durch rechtsfortbildende Entscheidungen vollendete Tatsachen zu schaffen. 346 So eingehend Monopolkommission, 6. Hauptgutachten, BT-Drs. 10/5860, Tzn. 436, 471,507 ff; femerMestmäcker, AG 1986,181;Möschel und/. Schmidt, WuW 1986,189 und 196. 347

Ebenso BGH WuW/E 1749 (1754) "Klöckner/Becorit" ("nur ein Kriterium zur Beurteilung der Frage, ob die Vermutungsfolge vorliegt"), vgl. die zitierte Passage in § 4 Π.; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rzn. 342 f.; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 75 f. ^Ebenso Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 75 ff., 87, 94 f. (mit verfassungsrechtlichen Bedenken); Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 18,35,41; J. Baur, ZGR 1982,324 (332); Markert, BB 1986, 1660 (1665, 1666 f.); ders., AG 1986, 173 (178 i.\Knöpfle, NJW 1988,1116 (Fn. 5); Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 1; ähnlich zu § 22 ΠΙ GWB Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 343. 349

Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rzn. 38-40 (zu §§ 23a, 22 ΠΙ); Huber/Börner, Gemeinschaftsunternehmen, 1978, S. 138 f. Fn. 8; Ramrath,

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§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- u

Beschwerdeverfahren

dung wird vor allem angeführt, die Gesetzesmaterialien hätten "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" ausdrücklich abgelehnt und hervorgehoben, es handele sich vielmehr eher um "Aufgreiftatbestände", bei deren Vorliegen von "typischen wettbewerblichen Gefährdungslagen" bzw. "mit hoher Wahrscheinlichkeit" vom vermuteten Merkmal auszugehen sei. 350 Die vorgenannten Argumente sind nicht erst seit der 5. GWB-Novelle vom 22.12.1989 unhaltbar. Dort hat sich der Gesetzgeber allerdings ausdrücklich auf den Standpunkt des BGH im Fall "Klöckner/Becorit" 351 gestellt und hervorgehoben, trotz der Natur als Aufgreiftatbestände entfalteten die Vermutungen (§§ 22 III und 26 II 3 GWB) im non liquet-Fall bindende Wirkung. 352 In diesem Zusammenhang ist erneut die Entstehungsgeschichte der Vermutungen hervorzuheben. Wenn der Gesetzgeber sich nach intensiven Gesetzesberatungen unter Verwerfung von Altemativkonzepten in Kenntnis abweichender Literaturmeinungen für die Rechtsfigur der widerlegbaren Vermutung entscheidet, so hat diese Rechtsfigurwahl besonderes Gewicht.353 In § 26 V GWB hat der Gesetzgeber gezeigt, daß er den Anscheinsbeweis beim Namen nennt, wenn er ihn meint. 354 Er wollte mit den Vermutungen "echte" Beweislastnormen schaffen. 355 Hieran ändert die Ablehnung von "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" nichts. Wie bereits gezeigt worden ist, existiert kein Unterschied zwischen "verwaltungsrechtlichen" und "zivilrechtlichen" Vermutungen, sondern es existiert nur ein einheitliches Rechtsinstitut der "gesetzlichen widerlegbaren Vermutung", das in allen Verfahrensordnungen nur Beweislastwirkung entfaltet. 356 Soweit der kartellrechtliche Gesetzgeber dennoch vom Unterschied zu "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" spricht, ist der Bezug auf die unterschiedlichen "Vorwirkungen" der objektiven Beweislast in Verfahren mit

Überragende Marktstellung, 1978, S. 80 f. (zu § 22 ΠΙ) und 115 (zu § 23a); Emrich, Die Problematik der Fusionskontrolle bei Konglomeraten, 1978, S. 93 f. (zu § 22ΙΠ). 350 Vgl. insoweit die in § 3 wörtlich wiedergegebenen Textstellen aus den Materialien, insbesondere den Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Bericht des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BTDrs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16, 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38 f. 351

WuW/E BGH 1749 (1754), auszugsweise wiedergegeben in § 4 Π.

352

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22.

353

Vgl. hierzu bereits § 5 IV.

354

Vgl. zur Bedeutung des § 26 V GWB bereits § 2 Π.

355

Vgl. hierzu näher § 5 m. 2. b).

356

Hierzu eingehend § 5 I. 1. - 3.

V. Prima-facie-Regeln

127

Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime357 unverkennbar. Dies folgt daraus, daß der Gesetzgeber den angesprochenen "Unterschied" ausschließlich mit den Wirkungen des Amtsermittlungsgrundsatzes begründet hat. 358 Darüber hinaus bestehen gegen eine Deutung der Vermutungen als prima-facieRegeln weitere Bedenken: Der prima-facie-Beweis muß ebenso das Regelbeweismaß erreichen wie jeder andere Indizienbeweis auch.359 Wie oben gezeigt worden ist, wollte der kartellrechtliche Gesetzgeber mit den Wahrscheinlichkeitsaussagen zu den Vermutungsvoraussetzungen jedoch lediglich seine Einschätzung des "kritischen Bereichs" begründen, ohne zugleich zum Ausdruck bringen zu wollen, für den Schluß von der Vermutungsvoraussetzung auf die Vermutungsfolge spreche ein "vernünftige Zweifel ausschließender Grad von Wahrscheinlichkeit" (Regelbeweismaß).360 Rechtstatsächlich ist erneut daraufhinzuweisen, daß keine der Vermutungen des GWB einen typischen Erfahrungssatz widergibt, da das jeweils vermutete Merkmal regelmäßig gerade nicht verwirklicht ist. 361 Als prima-facie-Sätze wären die Vermutungen ihrer Rechtfertigung durch die Lebenserfahrung beraubt und für den Rechtsanwender ohne Wert, da jeder "Erfahrungssatz" mangels Typizität automatisch erschüttert wäre. Der Rechtsanwender müßte sich seine Überzeugung daher ohnehin ohne den Vermutungssatz bilden. Gegen eine Deutung als prima-facie-Regeln spricht ferner der von § 23 a II 1 Halbs. 2 GWB zur Entkräftung der Vermutung verlangte Beweises. Mit dem Nachweis, daß weiterhin wesentlicher Binnenwettbewerb zu erwarten ist oder daß eine überragende Marktstellung im Außenverhältnis fehlt, verlangt § 23 a II 1 Halbs. 2 GWB zur Entkräftung der Vermutung, daß die Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung des Oligopois zu erwarten ist, nicht bloß die gegenbeweisliche Erschütterung, sondern den Vollbeweis (Hauptbeweis) ihres Gegenteils.362 Wieso aber sollte der Gesetzgeber zur Entkräftung einer prima-facie-Regel den Gegenteilsbeweis verlangen?

357

Vgl. hierzu ebenfalls § 5 I. 1. - 3.

358

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16 und 24. 359

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 110.

360

Vgl. hierzu ausführlich § 5 ΙΠ. 2. a) und b).

361

Vgl. hierzu § 5ΠΙ. v o r l .

362

Vgl. hierzu bereits ausführlich § 2 I. 2. b).

128

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Weitere Kritik fordert schließlich die Auffassung U. Hubers 363 heraus. Huber ist der Ansicht, die Vermutung entscheide dann, wenn die Vermutungsvoraussetzungen festgestellt seien und die Ermittlungen keine weiteren Indizien für oder gegen das vermutete Merkmal ergeben hätten (sog. "schlichtes non liquet"). Erst recht sei das vermutete Merkmal anzunehmen, wenn die Ermittlungen zwar keinen vollen Beweis erbracht hätten, aber doch Indizien ergeben hätten, die die Vermutung unterstützten. Hätten dagegen die Ermittlungen Indizien zutage gefördert, die gegen das vermutete Merkmal sprächen, die aber nach Ausschöpfung aller Beweise zu einer vollen Oberzeugungsbildung nicht ausreichten, so sei die Vermutung widerlegt, wenn sich aus den Gegenindizien die ernstliche Möglichkeit eines vom Gewöhnlichen abweichenden Verlaufs ergebe. 364 Diese Sichtweise ist widersprüchlich. Einerseits soll das vermutete Merkmal anzunehmen sein, wenn kein voller Beweis erbracht ist, sondern nur Indizien vorliegen, die die Vermutung stützen. Da für den prima-facieBeweis das volle Beweismaß erreicht werden muß, 365 kann nur gemeint sein, daß Huber dieses non liquet mit Hilfe der Vermutung als Beweislastnorm lösen will. Auch bei völliger Unergiebigkeit der Ermittlungen will er das ("schlichte") non liquet mit Hilfe der Vermutung als Beweislastnorm lösen. Andererseits soll zur Widerlegung der Vermutung schon eine gegenbeweisliche Erschütterung genügen, da die Vermutung nur einen prima-facie-Beweis begründe. Eine Norm kann jedoch nicht gleichzeitig prima-facie-Regel und Beweislastnorm sein. Im Gegensatz zu prima-facie-Regeln, die eine richterliche Sachverhaltsfeststellung "irgendwie" ermöglichen und dadurch das non liquet verhindern, setzen Beweislastnormen das non liquet gerade voraus. 366 Der prima-facie-Beweis erhält seine Rechtfertigung allein aus der die volle Überzeugung begründenden Wahrscheinlichkeit des Erfahrungssatzes. Wie bereits dargelegt worden ist, scheidet die statistische Wahrscheinlichkeit jedoch als entscheidender Sachgrund der Beweislastverteilung aus.367 Wenn Huber die Vermutungen des GWB also als Regeln über die materielle Beweislast verstehen will, 368 ist für ihre Widerlegung der Vollbeweis des Gegenteils zu verlangen; will er sie als prima-facie-Regeln verstehen, 369 so kann der Fall des non liquet nicht

363

Bezug genommen wird hier auf die Kommentierung Hubers im Frankfurter Kommentar, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995. Die Kommentierung Hubers datiert aus der 21. Lfg. 1982. 364

Huber a.a.O., § 23a Rzn. 37-40.

365

Vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 110.

366

Näher zur Figur des Anscheinsbeweises § 5 I. 4. a).

367 Vgl. zur Problematik "statistische Wahrscheinlichkeit und objektive Beweislast" ausführlich § 5 m. 1. 368

So Huber aaO., § 23a, Rz. 37.

369

So Huber aaO., § 23a Rz. 40.

VI. Aufgreiftatbestände

129

mehr mit Hilfe der Vermutungen, sondern nur mit allgemeinen Beweislastgrundsätzen gelöst werden. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß eine Interpretation der Vermutungen des GWB als prima-facie-Regeln abzulehnen ist. 370 Eine Doppelfunktion der Normen als prima-facie-Regeln und Beweislastnormen ist weder möglich, noch vom Gesetzgeber gewollt.

V I . Aufgreiftatbestände Vor allem im älteren Schrifttum wird die Meinung vertreten, die Vermutungen des GWB seien als bloße Aufgreiftatbestände für eine Verfahrensinitiative ohne jede Beweis- oder Beweislastwirkung einzuordnen. Beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen sei zwingend ein behördliches Verfahren einzuleiten, ohne daß die volle Amtsermittlungspflicht und Beweislast der Behörde geändert sei. 371 Zwei Fragestellungen müssen hier auseinandergehalten werden. Zunächst ist zu begründen, daß die Vermutungen trotz der gesetzgeberischen Qualifizierung als "Aufgreiftatbestände" echte Beweislastnormen sind (1.). Sodann ist zu untersuchen, ob den Vermutungen abweichend von "normalen" Vermutungen eine "Doppelfunktion" dergestalt beizumessen ist, daß sie zusätzlich zur Beweislastregelung konstitutiv die Pflicht der Kartellbehörde begründen, beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen ein Untersagungsverfahren einzuleiten (2.).

1. Objektive Beweislast

Die Ansicht, die Vermutungen des GWB seien keine Beweislastnormen, wird insbesondere auf Äußerungen des Gesetzgebers gestützt, es handele sich "nicht um Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne", "sondern ihrer Art nach eher um Aufgreiftatbestände", durch die die Kartellbehörde zur Einleitung des Verfahrens veran-

370 Ebenso ausdrücklich Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 62,70; Köhler, DB 1982,313,315 (zu § 26 Π 3). 371 Bechtold, DB 1974, 1945 und 1948 (zu § 22 ΠΙ); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΠΙ); Wirz, WuW 1975, 611, 617 ff. (zu § 22 ΙΠ); Axster/ Weber, GRUR 1981, 369, 372 (zu § 23a, allerdings einschränkend hinsichtlich des Umfangs der Amtsermittlungspflicht); Κ Schmidt, ZRP 1979, 38, 44 (zu § 26 Π 3 RegE); Ebel, DB 1980, 1110 (zu § 26 Π 3); Köhler, DB 1982, 313, 314 (zu § 26 Π 3, allerdings Ermessen statt Pflicht zur Verfahrenseinleitung); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 575 (zu §§ 22 ΠΙ, 23a Π).

9 Ittner

130

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerde verfahren

laßt werden solle.372 Anläßlich der vierten GWB-Novelle hatte die Bundesregierung zu § 26 II 3 GWB sogar ausgeführt, wegen des Charakters als Aufgreiftatbestand werde eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkt. 373 Diese Argumentation mit den Gesetzesmaterialien ist schnell entkräftet. Wie bereits dargelegt worden ist, hat der Gesetzgeber mit seiner Ablehnung von "Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" die unterschiedliche "Vorwirkung" von Vermutungen in Verfahren mit Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime im Auge gehabt, insbesondere das Fortbestehen der vollen Amtsermittlungspflicht hinsichtlich des vermuteten Merkmals. 374 Es erscheint vorschnell, aus der auf das Einsetzen der Amtsermittlung bezogenen Einordnung als "Aufgreiftatbestand" Folgerungen für die Frage zu ziehen, ob eine Beweislastregelung vorliegt. Die Maximen der Sachverhaltsaufklärung sind für die Notwendigkeit und für den Inhalt der objektiven Beweislast ohne jede Bedeutung.375 Daß die Aussage der Bundesregierung anläßlich der vierten GWB-Novelle, wegen des Charakters als Aufgreiftatbestand werde eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkt, rechtsirrig war, hat der Gesetzgeber anläßlich der fünften GWB-Novelle selbst eingeräumt: Den Vermutungen der §§22 III, 26 II 3 GWB sei "schon nach geltendem Recht dann bindende Wirkung zuzuschreiben (. . .), wenn das Gericht nach Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses das Tatbestandsmerkmal weder auszuschließen noch zu bejahen vermag (WuW/E BGH 1749)". 376 Damit hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Interpretation des BGH im Fall "Klöckner/Becorit" 377 (Vermutungen als Beweislastnormen) bestätigt. Aber auch schon vor der fünften GWB-Novelle ließ der Gesetzgeber - von den später zurückgenommenen Äußerungen zu § 26 II 3 GWB abgesehen - nie ernsthafte Zweifel daran aufkommen, daß er mit allen Vermutungen des GWB Beweislastnor-

372

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16; ähnlich die Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14. 373 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38 f. 374

Vgl. hierzu § 5 V.

375

Vgl. hierzu bereits ausführlich § 5 I. 2.; ferner Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 177 f , 259; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f. 376

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22.

377

WuW/E BGH 1749 (1754).

VI. Aufgreiftatbestände

131

men schaffen wollte. 378 Äußerungen wie "Beweislastumkehr", 379 "Widerlegungsmöglichkeiten"380 oder "bindende Wirkung, wenn das Gericht das Tatbestandsmerkmal weder auszuschließen, noch zu bejahen vermag" 381 sind eindeutig. Auf das besondere Gewicht der Entstehungsgeschichte der Vermutungen, insbesondere der bewußten Rechtsformwahl, wurde bereits hingewiesen.382 Die Kartellbehörden hatten Schwierigkeiten nicht beim Aufgreifen, sondern bei der effektiven Verhinderung der Entstehung, der Verstärkung und des Mißbrauchs von Marktmacht. 383 Die Theorie von den Vermutungen als bloßen Aufgreiftatbeständen ist auch deshalb nicht schlüssig, weil diese nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im Prozeß Wirkung entfalten sollen,384 welcher keine Aufgreiftatbestände benötigt.385 Soweit zur Begründung der Ansicht, die Vermutungen seien ausschließlich Aufgreiftatbestände, verfassungsrechtliche Erwägungen ins Feld geführt werden (insbesondere: keine Beweislastumkehr in der Eingriffsverwaltung wegen Verstoßes gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit bzw. Verhältnismäßigkeit 386), ist an dieser Stelle nur der eindeutige Wille des Gesetzgebers festzuhalten. Ob die Vermutungen als Beweislastnormen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten, wird in § 6 zu untersuchen sein.

378

Zurecht hebt Wolf, WuW 1980,462 (469) hervor, daß sich bereits der Wirtschaftsausschuß anläßlich der 2. Novelle zur Wirkung der Vermutungen im non liquet-Fall geäußert hatte (BT-Drs. 7/765, S. 6); ebenso Niederleithinger in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 51. 379

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 24.

380

Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23, 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 381

Begründung zum RegE der 5. Novelle, BT-Drs. 11/ 4610, S. 22.

382

Vgl. hierzu § 5 IV. und V.

383

So zutreffend Niederleithinger

in Schwerpunkte des Kartellrechts 1980/81, S. 51.

384

Die Ausrichtung der Vermutungen auf das gerichtliche Verfahren betonen u.a. die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 13; Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 11,22. 385

Dies betonen zurecht Kaiser, WuW 1978, 344 (359); Meier, ZHR 145 (1981), 393

(410). 386 Vgl. nur Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΠΙ); Axster/Weber, GRUR 1981, 369,372 (zu § 23a); Köhler, DB 1982,313,314 (zu § 26 Π 3); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 575 (zu §§ 22 ΙΠ, 23a Π).

9*

132

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren 2. Doppelfunktion

Denkbar bleibt freilich die Möglichkeit, daß die Vermutungen eine "Doppelfunktion" dergestalt haben sollen, daß sie neben der Beweislastregelung konstitutiv auch die Pflicht begründen, beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen ein kartellbehördliches Verfahren einzuleiten.387 Immerhin hat der Gesetzgeber in den Materialien ausgeführt, die Vermutungen seien ihrer Art nach " Aufgreiftatbestände", durch die die Kartellbehörde zur Einleitung des Verfahrens bzw. zur Überprüfung des vermuteten Merkmals veranlaßt werden solle. 388 Der Begriff "Aufgreifkriterien" stammt aus dem Bereich der Fusionskontrolle, wo er den "Eingreifkriterien" (= Untersagungsvoraussetzungen des § 24 I GWB) gegenübersteht. Anzeigepflicht (§ 23 GWB) und Fusionskontrolle (§§ 24, 24a GWB) hängen davon ab, daß es sich um einen Zusammenschluß von Unternehmen i.S.d. § 23 II und III GWB handelt. Weitere Voraussetzung speziell der Fusionskontrolle ist, daß die beteiligten Unternehmen nicht unter die Toleranzklauseln des § 24 VIII und IX GWB fallen. Nur bei Erfüllung der vorgenannten "Aufgreifkriterien" macht eine Überprüfung der Unternehmensverbindung durch die Kartellbehörde überhaupt erst Sinn. Diese Kriterien grenzen den Bereich der Zusammenschlußkontrolle ab, sie gehören zum Gesamteingriffstatbestand der Fusionskontrolle. 389 Ein vergleichbares Verständnis der Vermutungen des GWB ergäbe keinen Sinn. Im Bereich der Fusionskontrolle sind mit den §§23 II, III und 24 Vili, IX GWB bereits Aufgreifkriterien vorhanden. Im Gegensatz zu diesen gehören die Vermutungsvoraussetzungen des § 23 a GWB nicht einmal zum Gesamteingriffstatbestand der Fusionskontrolle, denn die Kartellbehörde muß beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 241 GWB einen Zusammenschluß auch dann untersagen, wenn keine der Vermutungsvoraussetzungen des § 23a GWB erfüllt ist. 390 Auch beim Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 22 V oder 37a II GWB kann die Kartellbehörde ein mißbräuchliches Verhalten untersagen bzw. für unwirksam erklären, wenn keine der Vermutungen der §§ 22 III oder 26 II 3 GWB verwirklicht ist. 391 Dort kommt noch

387 In diesem Sinne Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 31; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 90 f., 103. 388

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 389

Vgl. nur Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 356.

390

Dies betont die Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle ausdrücklich (BT-Drs. 8/2136, S. 19). 391

Bereits die Begründung zum Regierungsentwurf der 2. Novelle (BT-Drs. VI/2520, S. 24) hat betont, die Vermutungskriterien schlössen andere Konstellationen der Marktbeherr-

VI. Aufgreiftatbestände

133

hinzu, daß es unsinnig wäre, schon eine der Vermutungsvoraussetzungen als solche zum Anlaß für eine Verfahrenseinleitung zu nehmen. Ein kartellbehördliches Mißbrauchsverfahren nach § 22 V oder § 37a II GWB setzt über einen Anfangsverdacht von Marktbeherrschung oder Abhängigkeit hinaus auch einen Mißbrauchsverdacht voraus, 392 für den die Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB gar nichts hergeben. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die meisten Vermutungsvoraussetzungen, insbesondere die Höhe der Marktanteile, einen nicht unerheblichen Ermittlungsaufwand erfordern, so daß über ihr Vorliegen erst entschieden werden kann, wenn die Kartellbehörde den Fall bereits "aufgegriffen" und ein Verfahren eingeleitet hat. 393 Tatsächlich wollte der Gesetzgeber mit den Vermutungen des GWB weder den Bereich der Mißbrauchs- bzw. Fusionskontrolle abgrenzen, noch der Kartellbehörde verbindlich vorschreiben, wann sie ein Verfahren einzuleiten hat: In den Eingreiffällen der §§ 22 V, 24 I und 37a II GWB gilt das Offizialprinzip, d.h. die Kartellbehörde leitet das Verfahren von Amts wegen ein (§511 GWB). 394 Im Rahmen des Offizialprinzips ist zu differenzieren, ob die Kartellbehörde ein Verfahren einleiten muß, wenn der Verdacht besteht, daß die Voraussetzungen eines Eingriffstatbestandes vorliegen (Legalitätsprinzip) oder ob die Behörde über die Durchführung des Amtsverfahrens nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet (Opportunitätsprinzip, § 22 VwVfG). 395 Die kartellrechtlichen Amtsverfahren werden nach herrschender Meinung 396 grundsätzlich vom Opportunitätsprinzip beherrscht. 397 Während insoweit für § 24 I, II 1 GWB eine Ausnahme gilt, weil die Behörde von Amts wegen tätig werden muß ("so untersagt das BKartA den Zusamschung nicht aus. In diesem Sinne auch Kersten in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, §22 Rz. 332. 392

Vgl. nur Kersten in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 332.

393

Ebenso Kersten in Frankfurter Komm, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 332.

394

Amts verfahren sind alle Verwaltungs verfahren nach dem GWB, die nicht Antragsverfahren sind. Im GWB herrscht ein numerus clausus der Antragsverfahren: Dies sind alle im Gesetz so bezeichneten Verfahren. Vgl. Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB. 2. Aufl. 1992, §51 Rzn. 3, 5. 395

Vgl. hierzu Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51, Rz. 7; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 247. 396

Vgl. nur BGH WuW/E 995 (998) "Taxiflug"; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 1171 (1172); Junge in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 51 Rz. 9; Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51 Rz. 7. 397

Bei den Antragsverfahren entnimmt die h.M. dem Antragsrecht dagegen eine allgemeine Pflicht zur Einleitung des Verfahrens, vgl. Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51, Rz. 7.

134

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

menschluß", § 24 II 1 i.V.m. § 22 S. 2 Nr. 1 VwVfG), 398 liegt die Einleitung der Verfahren nach §§ 22 V und 37a II GWB im Ermessen der Behörde. 399 Dieses Entschließungsermessen ist erforderlich zur optimalen Erfüllung der Gefahrenabwehraufgabe; insbesondere soll die Behörde beim Vorliegen zureichender Gründe des öffentlichen Interesses die Möglichkeit erhalten, das Wichtigere vor dem weniger Wichtigen zu tun. 400 Grundlose Untätigkeit ist ermessensfehlerhaft; ermessensreduzierend sind vor allem erhebliche Gefahren für den Wettbewerb zu berücksichtigen. 401 Verfahrenseröffiiungsschwelle außerhalb der über Aufgreifkriterien verfügenden Fusionskontrolle ist die auf Tatsachen gegründete Möglichkeit, daß die Voraussetzungen des Eingriffstatbestandes vorliegen (Anfangsverdacht). 402 In den Materialien findet sich kein Anhaltspunkt dafür, der Gesetzgeber habe durch die Vermutungen diese Rechtslage ändern wollen, insbesondere eine objektivrechtliche Behördenpflicht zum Tätigwerden (Abweichung vom Opportunitätsprinzip in den Fällen der §§ 22 V und 37 a II GWB) oder eine Abweichung von der allgemeinen Verfahrenseröffiiungsschwelle bzw. den Aufgreifkriterien der Fusionskontrolle konstituieren wollen. Die Begründungen der verschiedenen GWBNovellen sind weder auf den Sachbereich "Legalitäts-/Opportunitätsprinzip" noch auf den Sachbereich "Anfangsverdacht" ausgerichtet. Vielmehr wollte der Gesetzgeber mit seiner Äußerung, die Behörde "solle" bzw. "müsse" beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen in die Prüfung des vermuteten Merkmals eintreten, 403 zwei Punkte herausstellen. In erster Linie ging es ihm um die Klarstellung, daß die Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde durch die Vermutungen nicht beschränkt 398 Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rz. 215; Huber in Frankfurter Komm., 3. Aufl. Stand 36. Lfg. 1995, § 23a Rz. 31; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 63. 399 Emmerich in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 37a Rz. 14; Köhler, DB 1982, 313, 315 ( z u § 37a Π); Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 188 m.w.N. (zu § 22 V); einschränkend Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51 Rz. 7, 9: das Opportunitätsprinzip sei insoweit abzulehnen, wie der privatrechtliche Schutz Dritter vom Eingreifen der Kartellbehörde abhänge. 400 Vgl. allgemein zur Notwendigkeit eines Entschliessungsermessens der Gefahrenabwehrbehörden Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rz. 267; zur Bedeutung für die Tätigkeit der Kartellbehörden Κ Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 51, Rz. 7. 401

Allgemein zur "Ermessensreduzierung auf Null" bei schweren Gefahren für bedeutsame Rechtsgüter Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 1991, Rzn. 269 f. m.w.N. 402 Vgl. zu § 22 IV, V GWB Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, §22 Rz. 332. 403 Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16 und 24.

VI. Aufgreiftatbestände

135

wird 404 ("keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne" bzw. "die aus der OfFizialmaxime405 folgende Ermittlungspflicht bleibt unberührt" 406). Nur zur Betonung des Umstandes, daß die Amtsermittlung sich nicht mit der Feststellung der Vermutungsbasis begnügen kann, sondern bis zur vollständigen Aufklärung des vermuteten Merkmals weitergehen muß, diente die Äußerung, die Vermutungen seien "ihrer Art nach eher Aufgreiftatbestände" bzw. hätten deren "Charaker". 407 Die Aussage, beim Vorhegen der Vermutungsvoraussetzungen "solle" bzw. "müsse" die Behörde in die Prüfung des vermuteten Merkmals eintreten, 408 bezieht sich auf die Pflicht zur Fortsetzung der Amtsermittlung hinsichtlich des vermuteten Merkmals selbst, nicht jedoch auf eine Pflicht zur Verfahrenseinleitung. Vor diesem Hintergrund wird auch die später revidierte Aussage des Gesetzgebers verständlich, § 26 II 3 GWB könne wegen seiner Natur als Aufgreiftatbestand allein für ein objektives Untersagungsverfahren gelten,409 denn nur dort gilt -im Gegensatz zum kartellrechtlichen Zivilverfahren - der Untersuchungsgrundsatz. Zum zweiten wollte der Gesetzgeber betonen, daß er mit den Vermutungsvoraussetzungen solche Sachverhalte umschrieben habe, bei deren Vorliegen die Verdachtsschwelle für das vermutete Merkmal eindeutig überschritten sei ("Einleitung des Verfahrens, denn es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß eine marktbeherrschende Stellung besteht",410 "Indizierung" des vermuteten Merkmals 411). Dahinter steht der Wille des Gesetzgebers, mit den Vermutungsvoraussetzungen Sachlagen zu umschreiben, die zum vermuteten Merkmal

404 In diesem Sinne insbesondere die Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16,24; zur 5. Novelle; BT-Drs. 11/4610, S. 22. 405

Gemeint ist der Untersuchungsgrundsatz.

406

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14. ^Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. 408

Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16 und 24. 409 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24 und Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zu diesem Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/2136, S. 38 f. 410 411

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6.

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24.

136

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

tendieren ("kritischer Bereich"). 412 Die Tatsache, daß mit dem Bestreben, "kritische Bereiche" zu umschreiben, zugleich Sachlagen kodifiziert wurden, die einen Anfangsverdacht hinsichtlich des vermuteten Merkmals begründen, ist ein "Nebenprodukt", das der Gesetzgeber erkannt und (deklaratorisch) betont hat. Dafür, daß der Wirtschaftsausschuß seine vereinzelt gebliebene Aussage, die Behörde solle durch die Vermutungen zur Einleitung des Verfahrens veranlaßt werden, 413 nicht im deklaratorischen Sinne verstanden wissen wollte, sondern von einer eigenständigen Vermutungsfunktion ausging, ergeben die Materialien keinen Anhaltspunkt.414 Eine solche Rechtsänderung hätte mit Blick auf das in den Fällen der §§ 22 V und 37a II GWB geltende Opportunitätsprinzip ohnehin der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedurft, daß die Behörde tätig werden muß, wie aus § 22 S. 2 Nr. 1 VwVfG folgt. Abschließend ist zu bedenken, daß die Vermutungsvoraussetzungen zur konstitutiven Festlegung einer Verfahrenseröflhungspflicht schon deshalb nicht zur Verfugung stünden, weil sie funktionell bereits anderweitig besetzt sind. Sie erfüllen mit ihrer Funktion, die Anwendbarkeit der Vermutungen zu steuern, d.h. die Beweislast aufzuteilen, 415 die Aufgabe, rechtsstaatliche Anforderungen an die Verteilung der objektiven Beweislast zu befriedigen. 416 Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß die Vermutungen des GWB Beweislastnormen darstellen und nicht konstitutiv die Pflicht der Kartellbehörde begründen, beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen ein Verfahren einzuleiten.417 Mit der Einordnung als "Aufgreifkriterien" wollte der Gesetzgeber weder vom Opportunitätsprinzip abweichen noch eine besondere Verfahrenseröffiiungspflicht begründen. Er wollte nur verdeutlichen, daß beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen die behördliche Amtsermittlung hinsichtlich des vermuteten Merkmals weitergehen muß. Diese Einordnung ist aber ohne eigenständige Bedeutung, so daß der Gesetzgeber zukünftig darauf verzichten sollte.

412

Vgl. insbes. § 5 m. 2. b).

413

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6.

414

Vielmehr spricht alles dafür, daß der Wirtschaftsausschuß insoweit den Sinn der vom Rechtsausschuß geprägten Formulierung "Aufgreiftatbestand" unzutreffend wiedergegeben hat. 415

Vgl. §51. 1. und 2.

416

Vgl. hierzu bereits § 5 m. 4.

417

Ebenso Kleinmann/Bechtold, Komm, zur Fusionskontrolle, 2. Aufl. 1989, § 22 Rz. 222; Kaiser, WuW 1978, 344, 359; Kersten in Frankfurter Komm., 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, §22 Rz. 332.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

137

V I I . Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten, Behauptungs- und Beweisführungslast Nachdem bisher alle Meinungen abgelehnt wurden, die den Vermutungen des GWB über die Risikozuweisung im non liquet-Fall hinaus weitere Wirkungen beimessen wollen, bleibt die Frage zu klären, ob die Vermutungen nicht zusätzlich zur Beweislastverteilung eine Beschränkung der Amtsermittlungspflicht bewirken oder ob sie den betroffenen Unternehmen eine besondere Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsaufklärung auferlegen. Bevor die entsprechende kartellrechtliche Diskussion418 aufgenommen werden kann, sind aus Gründen der Eckdatenbestimmung und klaren Begrifflichkeit kurz die Interdependenzen zwischen Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflicht und Behauptungs-/Beweisführungslast aufzuzeigen. Kaum ein anderer Bereich des öffentlich-rechtlichen Verfahrens- und Prozeßrechts wird in Rechtsprechung und Schrifttum derartig kontrovers und begriffsunscharf diskutiert, wie der Bereich der Beteihgtenmitwirkung.419 Die wissenschaftliche Aufarbeitung der zahlreichen Streitfragen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Im übrigen füllt sie bereits Bände.420 Insbesondere Nierhaus 421 hat jüngst die Problematik so grundlegend und überzeugend aufgearbeitet, daß Kopp 422 schon von einem dem Werk Rosenbergs vergleichbaren Werk für das Verwaltungsprozeßrecht spricht, dem zumindest in den Grundfragen schwerlich Besseres und Überzeugenderes entgegengesetzt werden könne.423 Diese Untersuchung muß sich darauf beschränken, auf der Basis eines möglichst breiten Konsenses in Rechtsprechung und Schrifttum die moderne Sichtweise der Wechselbezüge zwischen Untersuchungsgrundsatz und Beteiligten418

Vgl. zum Streitstand § 4 I. 3.

419

Vgl. nur die Darstellung der zahlreichen Problemstellungen und Streitstände bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989,4. Kapitel (S. 258 - 352). 420

Vgl. nm Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989,4. Kapitel (S. 258 ff.); Schromek, Die Mitwirkungspflichten der am Verwaltungsverfahren Beteiligten - eine Grenze des Untersuchungsgrundsatzes?, 1989; Pfeifer, Der Untersuchungsprundsatz und die Offizialmaxime im Verwaltungs verfahren, 1980; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz und anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozeß, 1981; J. Martens, Verwaltungsvorschriften zur Beschränkung der Sachverhaltsermittlung, 1980; ders., StuW 1981,322 ff.; Leykam, Die Mitwirkung der Beteiligten im Sozialprozeß, 1981; Mar*, Die Notwendigkeit und Tragweite der Untersuchungsmaxime in den Verwaltungsprozeßgesetzen, 1985; Berg, Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 36 f f , 245 ff. 421

Beweismaß und Beweislast, Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989,4. Kapitel (S. 258 ff.). 422

AöR 1990,669 ff.

423

Kopp, AöR 115 (1990), 669 (671,674).

138

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

mitwirkung darzustellen und darauf aufbauend die Wirkung der Vermutungen des GWB zu erörtern. Problematisch ist zunächst nicht zuletzt wegen des unglücklichen und mißverständlichen "Anfang-Ende-Satzes" des BVerwG 424 das Verhältnis zwischen den Mitwirkungspflichten 425 der Beteiligten und der behördlichen bzw. gerichtlichen Amtsermittlungspflicht. Nach einer in Rechtsprechung426 und Schrifttum 427 verbreiteten Mindermeinung beschränken die materiell- und verwaltungsverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten die Amtsermittlungspflicht und begründen insoweit eine echte Beweisfuhrungslast der Beteiligten. Dem ist in dieser pauschalen Form weder für das allgemeine Verfahren nach VwVfG und VwGO, noch für das Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren zuzustimmen. Gedanklich anzusetzen ist bei der Grundsatzentscheidung, die das GWB - ebenso wie das VwVfG und die VwGO - für die gegenseitige Zuordnung von Beteiligtenmitwirkung und behördlicher/gerichtlicher Aufklärungspflicht getroffen hat. Mit der Bestimmung, daß Kartellbehörde und Beschwerdegericht den Sachverhalt von Amts wegen erforschen und daß sie "zur Erfüllung dieser Aufgabe" die Beteiligten zur Mitwirkung heranziehen können, haben die §§ 46, 54 und 69 GWB - ebenso wie die §§ 24, 26 VwVfG, 86 VwGO - die Mitwirkungspflichten der Unternehmen 428 nicht in einem Bereich vorgeformter Parteipflichten angesiedelt, sondern diese innerhalb der amtswegigen Aufklärungspflicht verortet. Die Mitwirkungspflicht ist ein Aufklärungsm/'/te/, dessen sich Kartellbehörde und Beschwerdegericht bedienen, um ihre Untersuchungspflicht zu erfüllen. Das mitwirkungspflichtige Unternehmen ist ein "Erforschungsgehilfe" der hoheitlichen Sachverhaltsaufklärung. Die Mitwirkungspflicht steht nicht 424 Das BVerwG spricht in ständiger Rechtsprechung davon, daß die Verpflichtung des Gerichts zur Erforschung des Sachverhalts dort ende, wo die Partei ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkomme, vgl. nur BVerwGE 16,241 (245); 19, 87 (94); 26,30; NJW 1964,786; D Ö V 1983,207; NVwZ 1987,404 (405); diese Formel des BVerwG wird abgelehnt u.a. von Berg, Verwaltungsgerichtliche Entscheidung, 1980, S. 51 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 336 f.; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 40; Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, S. E 30 ff.; Tietgen, Gutachten zum 46. DJT 1966, Bd. I, S. 29 f.; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz 1981, S. 39 ff. 425 Vgl. zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Mitwirkungspflichten Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 294 ff. 426

BVerwGE 74,222 (225); BSG SozR S GG § 128 Da 22 Nr. 56.

421

Lang, VerwArch. 52 (1961), \93\Menger, Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 149 f f ; wohl auch Redeker/v. Oertzen, VwGO, 11. Aufl. 1994, § 86 Rzn. 11,11c. 428 Im GWB finden sich verfahrensrechtliche Mitwirkungspflichten der Unternehmen u.a. in §§ 46, 65, 69, 75 V GWB; materiellrechtliche Mitwirkungspflichten folgen u.a. aus §§ 3 Π, 3 ΠΙ Nr. 1 und 3, 5a Π, 5b Π, 23a Π, 241 Halbs. 2,37b I V 1,103 V 2 Nr. 2 GWB.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

139

im Gegensatz zum Untersuchungsgrundsatz, sondern sie hat eine "dienende Funktion". Sie ist unter das "Dach" der behördlichen/gerichtlichen Aufklärungsverantwortung einzuordnen. 429 Damit ist in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung430 und Schriftum 431 klargestellt, daß Mitwirkungspflichten die Amtsermittlungspflicht nicht einschränken. Abweichend vom "Anfang-EndeSatz" ist trotz mangelhafter Beteiligtenmitwirkung auch dann von Amts wegen zu ermitteln, wenn sich der Behörde bzw. dem Gericht aufgrund anderer Umstände eine weitere Aufklärung des Sachverhalts aufdrängen muß und die Ermittlungsgrenzen der Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit noch nicht erreicht sind. Mitwirkungspflichten begründen keine Behauptungs- oder Beweisführungslast im zivilrechtlichen Sinne.432 Im Gegenteil erweitern die Aufklärungsbeiträge der Beteiligten die Pflicht zur Amtsermittlung sogar. Während die Amtsermittlung bei Passivität der Parteien und fehlenden Anhaltspunkten für eine bestimmte Erforschung des Sachverhalts auf die natürlichen Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und der Prozeßökonomie stößt (insbesondere bei Umständen aus der Sphäre der Beteiligten), wird der Rechtsanwender bei zusätzlichen Behauptungen und Beweisantritten der Beteiligten durch den Untersuchungsgrundsatz verpflichtet, diesen neuenErkenntnisquellen nachzugehen, sofern sie ausreichenden Erkenntniswert besitzen.433

429 In diesem Sinne allgemein zum Verwaltungsprozeß Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 277 ff.; femer Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 26 Rz. 41; Tipke/Kruse, Komm, zur AO und FGO, 15. Aufl., 73. Lfg. 1994, § 88 AO Rz. 1; § 90 AO Rz. 2, § 76 FGORz. 5; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Aufl. 1987, § 26 Π, S. 134; Tietgen, Gutachten zum 46. DJT 1966, Bd. I, S. 31 f., Eder, DStZ A 1975, 357; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 34,64; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 264. 430 BFH BStBl. Π 1977, 310; BVerwG, Beschl. v. 29.7.1980,Buchholz 445.4 § 8 WHG Nr. 9, S. 4 unter Berufung auf weitere Entscheidungen; BVerwGE 21,208 (212); BVerwG NJW 1975,1135 (1137); DVB1. 1982, 841 (842); DÖV 1982, 816 (819). 431 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 280,336 ff.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 183 ff.; Wittmann, StuW 1987, 35 (39); Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 IV Rz. 221; Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 124; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 24 Rz. 36; Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, S. E 43 f.; Tietgen, Gutachten zum 46. DJT, 1966, S. 28 f f , 35; Eder, DStZ A 1975,358; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 53 f f , 248,261 f.; Tipke/Kruse, Komm, zur AO und FGO, § 88 AO Rz. 1, § 90 AO Rz. 5; Zapf, Beweislast, 1976, S. 51. 432 So ausdrücklich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 334; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 40; Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, S. E 43 f.; vgl. ferner die soeben zitierte h.M. 433

Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, S. E 35 f , E 43; Harms in Gemein-

140

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Die Anforderungen an eine sorgfältige Amtsermittlung grenzen deren Umfang ab, nicht die Mitwirkungspflichten der Beteiligten. 4 3 4 Folge der Verletzung von Mitwirkungspflichten ist grundsätzlich weder eine Beschränkung der Amtsermittlungspflicht 435 noch eine Beweismaßreduzierung 436 oder eine nachteilige Beweislast, 4 3 7 sondern nach herrschender Meinung in Literatur 4 3 8 und Rechtsprechung 439 die Berücksichtigung der Nichtmitwirkung i m Rahmen der Beweiswürdigung. V o n diesem Grundsatz abweichende Sanktionen bringt das materielle Recht entweder deutlich zum Ausdruck, wie z.B. i n den §§ 87b I I I V w G O , 66 SGB-I, 15 I I 2 A t o m V f V , 159 I 1 A O , 56 BayBG, 33 AsylVfG, 7 K D V N G , 4 4 0 oder die besondere Sanktion w i r d anderweitig durch das streitbefangene materielle Recht vermittelt bzw. aus diesem entwickelt. 4 4 1 Wegen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes begründen die Mitwirkungspflichten in VwVfG, V w G O und G W B keine Last in dem Sinne, daß die Untätigkeit schaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 40; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 278. 434

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 40.

435

Vgl. die vorstehend zitierte herrschende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, insbesondere Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 336 ff. m.w.N., 371 (Verstoß gegen § 86 VwGO und den Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit); a.A. BVerwGE 11,274 (275); 19, 87 (94); BFHNJW 1959,550 (551); BSGE 11,102 (115 f.). 436

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 335, 371 f., 4 8 - 1 1 5 (gesetzliches Regelbeweismaß der Überzeugungsgewißheit);a.A. J. Martens, Verwaltungsvorschriften, 1980, S. 97 ff.; ders., StuW 1981,326 ff. 437 BVerwG Buchholz 232.5 § 35 BeamtVG Nr. 2; BayVBl. 1984, 87; DöD 1984,179 (180); Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 118 f.; Leykam, Mitwirkung, 1981, S. 115 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 372 f. (Mitwirkungspflichten und objektive Beweislast haben nichts miteinander zu tun). 438

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 372,344 ff. mit umfangreichen Nachweisen auch aus dem älteren Schrifttum; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 52, 249; Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 56 ff.; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 62 f f ; Leykam, Mitwirkung, 1981, m.w.N. 439

Vgl. nur BVerwGE 34,248 (250); 71,8 ff; DöD 1984,179 (180); BayVBl. 1984,87; DVB1. 1982, 841 (842); DVB1. 1984, 832 (833); DVB1. 1985, 855 (856); NJW 1985, 1179 f.; NVwZ 1985,490 f.; NVwZ 1986,37 f; BFH BStBl. Π 1987,675 f.; VGH Kassel N V w Z 1982, 136 (138 f.); umfassende Nachweise auch aus der älteren Rechtsprechung bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 345. 440

Vgl. hierzu insbesondere Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 373 ff., 384; zu § 66 SGB-I eingehend Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 170 ff. 441

Vgl. hierzu eingehend mit Rechtsprechungsbeispielen Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 377 ff., 386.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

141

des Beteiligten zwingend zum Prozeßverlust führt. Hierin liegt der Unterschied zur Behauptungs- und Beweisführungslast, die es nach ganz herrschender Meinung unter der Geltung der Untersuchungsmaxime nicht gibt, sondern nur unter der Geltung der Verhandlungsmaxime.442 Ausnahmen hiervon gelten nur scheinbar. Wenn sich im öffentlichen Recht die Pflicht zur Amtsermittlung nicht auf bestimmte, vom Beteiligten darzulegende Umstände erstreckt und insoweit eine echte Behauptungsund Beweisführungslast bejaht wird, ist die Amtsuntersuchungspflicht materiellrechtlich durchbrochen 443 Die scheinbar durchgängige Geltung des Untersuchungsgrundsatzes ist zugunsten einer partiellen Geltung der Verhandlungsmaxime abgeändert444 (Zulässigkeit der "Grundtypenvermischung" durch den Gesetzgeber445). Als Beispiel seien neben ausdrücklichen Beschränkungen der Amtsermittlungspflicht wie in § 17 III ZollG 446 nur diejenigen "Nachweisnormen" genannt, die einen Nachweis gerade durch den Beteiligten zum materiellrechtlichen Tatbestandsmerkmal erheben und damit zum Gegenstand der Untersuchung machen (Veränderung des Ermittlungsgegenstandes).447 In derartigen Fällen muß und darf keine weitergehende Amtsermittlung stattfinden. 448

442

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 24 f f , 47; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 169; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 16, 24; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 IV 1; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 31\,Pestalozza, FS Boorberg-Verlag, 1977,185 (197); K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 54 Rz. 2; J. Baur, BB 1973, 915 (917); Rupp, AöR 85 (1960), 149 (191); a.A. F. Baur, FS Bachof, 1984, 285 (287 f.); Tietgen, Gutachten zum 46. DJT, 1966, Bd. I, S. 35; Menger, Rechtsschutz im Sozialrecht, S. 145 ff.; Braun, Amtsuntersuchungspflicht, 1986, S. 123 ff. 443 Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 250 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 ff. 339. 444

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 25 f , 47; zustimmend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 315. 445

J. Baur, BB 1973,915 (917); Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 25 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 274. 446

Der Wortlaut ist in § 5 I. 2. zitiert.

447

Normen, die den Nachweis durch den Beteiligten zum Tatbestandsmerkmal und damit zum Gegenstand der Ermittlung erheben, sind z.B. die §§ 36 11 GewO, 8 1 1 HandwO, 17 1 Nr. 4 BJagdG, 15a Π ZDG, 3 ΠΙ2 BAföG, 16b 19 BversorgungsG; aus dem GWB: § § 3 m 2 Nr. 3, 24 I Halbs. 2, 103 V 2 Nr. 2 GWB. Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 250 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 ff.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 120 f f , 127 ff.; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45 f. 448

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 132; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 f.

142

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Basierend auf der vorstehend skizzierten Sichtweise der Wechselbezüge zwischen Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflicht und Behauptungs-/Beweisführungslast ist nun der Frage nachzugehen, ob die Vermutungen des GWB eine Beschränkung der Amtsermittlungspflicht bewirken oder ob sie den betroffenen Unternehmen besondere Mitwiikungspflichten bei der Sachverhaltsaufklärung auferlegen.

1. §§ 22

m, 23a I und 26 Π 3 GWB

Umstritten ist, ob die Vermutungen der §§ 22 III, 23a I und 26 II 3 GWB die Amtsermittlungspflicht von Kartellbehörde und Beschwerdegericht auf die Vermutungsbasis beschränken und ob sie besondere Mitwirkungspflichten der Unternehmen begründen. Insoweit wird auf die Darstellung des differenzierten Streitstandes in § 4 I 3 a) und II Bezug genommen. Im folgenden wird mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur 449 zu zeigen sein, daß diese Vermutungen weder die Amtsermittlungspflicht beschränken (so daß die Unternehmen keine Behauptungs· und Beweisführungslast für die Widerlegungstatsachen trifft) noch eine besondere, über die allgemeinen Mitwirkungspflichten des GWB hinausgehende Mitwirkungspflicht einführen. Zur Begründung ist bei der verfassungsrechtlichen Verankerung des Untersuchungsgrundsatzes anzusetzen. Art. 20 III GG bindet die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung bei ihren Entscheidungen an Gesetz und Recht. Diese Ebene der Rechtsanwendung ist zwar gedanklich zu trennen von der Ebene der Sachverhaltsaufklärung, welche Gegenstand der Verfahrensmaximen ist. Nach allgemeiner Ansicht hat jedoch die gesetzeskonforme Entscheidung auch die Feststellung des wahren Sachverhaltes zur notwendigen Voraussetzung.450 Art. 20 III GG verpflichtet daher den Gesetzgeber, das Verfahren so auszugestalten, daß der Rechtsanwender seiner Rechtsanwendung den möglichst zutreffenden Sachverhalt zugrundelegen kann 451 ; dies gilt auch für die Entscheidung bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten.452 Damit legt Art. 20 III GG den Gesetzgeber aber nicht auf eine Einführung

449

Vgl. die Nachweise in § 41. 3. a) und Π.

450

Vgl. nur Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 90, 94; Berg, Die Verw. 1976, 161 (165); Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 53 f.; Michael, Beweislast, 1976, S. 39; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 24 Rz. 2; Ule, VerwArch 62 (1971), 114 (127); Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Aufl. 1986, S. 5. 451

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 91; Ule, VerwArch 62 (1971), 114 (127); Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 1986, S. 5. 452

S. 94.

Sehr deutlich BVerfGE 52, 131 (153/154); Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989,

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,...

143

des Untersuchungsgrundsatzes in allen Verfahrensordnungen oder zumindest in allen öffentlich-rechtlichen Verfahrensgesetzen fest. 453 Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime sind nur verschiedene Organisationsformen des Gesetzgebers, u m seinen Verfassungsauftrag aus Art. 20 I I I GG (Einführung des Aufklärungsmodells, das eine optimale Sachverhaltsaufklärung verspricht) umzusetzen. 454 Damit sind die Verfahrensmaximen zwar objektiver Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips ("verfahrensrechtliche Seite des Verfassungsgrundsatzes der Gesetzmäßigkeit"), 455 die Entscheidung zwischen ihnen bzw. ihre Kombination 4 5 6 vollzieht der Gesetzgeber jedoch durch einfach-gesetzliche Entscheiung 457 (u.a. Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, 458 Praktikabilität, 459 Verfahrensökonomie, Stimulanz der Beteiligten, 4 6 0 Verhinderung von Parteiwillkür, 4 6 1 öffentliches Interesse 462 ). Auch i m öffentlichen 453

Schromek Mitwirkungspflichten, 1989, S. 95,117.

454

In diesem Sinne BVerfGE 52,131 (153/154); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 38; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 95 f.; Rosen-berg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl. 1986, § 7815;Lang, VerwArch 52 (1961), 60 (69). 455 Die ganz herrschende Meinung leitet die Untersuchungsmaxime aus Art. 20 ΠΙ GG ab, vgl. nur Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 259,343 (in Kombination mit Art. 19 IV GG); Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 40 ("Zwang zur materiellen Gesetzmäßigkeit"); Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 108; Ule, VerwArch 62 (1971), 114 (127); Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 1986, S. 5; Schmidt-Aßmann inMaunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz. 219; a.A. (Verpflichtung auf die Untersuchungsmaxime durch Art. 19IV GG) Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 49 ff.; Stelkens, NVwZ 1982, 81 (83). 456 Einer optimalen Wahrheitsfindung dient es, wenn die Verfahrensordnungen bzw. das materielle Recht je nach geregelter Materie Elemente der "lupenreinen" Verfahrensmaximen wechselseitig miteinander kombinieren, vgl. insoweit Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 39; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 96 f; Lang, VerwArch 52(1961), 175(193). 457

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 I V Rz.

219. 458

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 I V Rz.

219. 459

Zu Bereichen des Verwaltungsrechts, in denen der Verhandlungsgrundsatz zur Informationsbeschaffung untauglich ist, Schromek Mitwirkungspflichten, 1989, S. 101 f. 460

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 39.

461

Zur Verhinderung von Parteiwillkür als Grund für die Entscheidung zugunsten der Untersuchungsmaxime Berg, Die Verw. 1976,161 (165); Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 4. Aufl. 1993, § 24 Rz. 2. 462 Hierin sieht BVerfGE 9,256 (257) den Zweck der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes in Kindschaftssachen; vgl. femer zum Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an der zutreffenden Tatsachenfeststellung Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980,

144

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Recht kann eine punktuelle Behauptungs- und Beweisfuhrungslast des Bürgers besser geeignet sein, den zutreffenden Sachverhalt zutage zu fördern, als die Amtsermittlung - man denke nur an Nachweispflichten, die den Ermittlungsgegenstand verändern. 463 Bei seiner freien, 464 nur durch den Auftrag des Art. 20 I I I G G 4 6 5 geprägten Entscheidung muß der Gesetzgeber als Entscheidungsgrenze aber die verfassungsmäßige Ordnung beachten, insbesondere die Grundrechte der Beteiligten 4 6 6 , zu schützende Grundrechte Dritter, verfassungsrechtlich geschützte Allgemeinbelange sowie die Gebote der Verhältnismäßigkeit, 467 des fairen Verfahrens, der Waffengleichheit 4 6 8 und des effektiven Rechtsschutzes, welche die Freiheit des Gesetzgebers auf die Pflicht zum Vorschreiben amtlicher Ermittlungen reduzieren können. 4 6 9 Hat der Gesetzgeber durch einfachgesetzliche Entscheidung eine bestimmte Verfahrensmaxime angeordnet (z.B. durch die §§ 24 V w V f G und 86 W w G O oder die § 54 und 69 G W B den Untersuchungsgrundsatz), so bedarf es einer speziellen

S. 40; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 91 f f ; kritisch Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S. 95 f. (Ungeeignetheit des öffentlichen Interesses zur Begründung des Untersuchungsgrundsatzes). 463

Schromek schlägt vor, man solle in Verwaltungsverfahren, in denen der Behörde nur ein Beteiligter gegenüberstehe, wegen der fehlenden Kontradiktion statt vom Verhandlungsgrundsatz vom "Nachweisgrundsatz" sprechen, vgl. Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989,S. 99 f. 464

Ebenso Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 118.

465

Einfuhrung des Aufklärungsmodells, das die möglichst zutreffende Sachverhaltsaufklärung verspricht. 466 Die materiellen Grundrechte gebieten aber lediglich elementare und rechtsstaatlich unverzichtbare Mindeststandards fur die Verfahrensorganisation, bei der der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum hat, vgl. BVerfGE 60, 253 (295 ff); 69, 1 (53). Vgl. zum Einfluß der Grundrechte auf die Gestaltung des Verfahrens, speziell auf die Wahl des Aufklärungsmodells Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 113 - 116; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 260; Speziell zum Einfluß des Art. 16 Π 2 GG a.F. auf die Ermittlungspflicht von Gerichten und Behörden BVerfGE 52,391 (406 ff); 56,216 (236); 64,46 (65); 71,143(161 ff.). 467 Zur Unzumutbarkeit der Belastung des Beteiligten mit einer Behauptungs- und Beweisführungslast im Verwaltungsverfahren Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 102 ff., 105 ff. 468 Zum Einfluß der Gebote des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit auf die Wahl des Aufklärungsmodells näher §§ 6 und 7; vgl. auch BVerfGE 52, 131 ff.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 109 - 113 m.w.N.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 260 f. ("Fürsorgepflicht", "Ausgleich von Disparitäten"), 344. 469

In diesem Sinne auch Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 107, 112 f., 115 ff., 130; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 261.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

145

materiellrechtlichen Anordnung, wenn statt ihrer punktuell ein anderes Aufklärungsmodell gelten soll (lex specialis).470 In Zweifelsfällen ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob dem materiellen Recht partiell ein Wechsel des Aufklärungsmodells zu entnehmen ist. Die Prüfung der Frage, ob die Vermutungen der §§22 III, 23 a I und 26 II 3 die Amtsuntersuchungspflicht einschränken, muß sich demzufolge in zwei gedanklichen Schritten vollziehen: a) Ist es allgemein die Wirkung von voraussetzungsgebundenen Beweislastregeln, das geltende Aufklärungsmodell spezialgesetzlich zu ändern? b) Weisen die kartellrechtlichen Vermutungen materiellrechtliche Besonderheiten auf, die eine Auslegung als spezialgesetzliche Durchbrechung des Untersuchungsgrundsatzes rechtfertigen? Zu a): Oben 471 wurde bereits begründet, warum voraussetzungsgebundene Beweislastnormen (Vermutungen) im öffentlichen Recht die Pflicht zur vollständigen Amtsermittlung unangetastet lassen. Die Verpflichtung von Rechtsprechung und Verwaltung aus Art. 20 III GG zu gesetzmäßigem Handeln stellt einen Rechtsvollzugsauftrag dar, welcher den Rechtsanwender zwingt, das einschlägige Normenprogramm komplett anzuwenden.472 Ebenso wie er sich bei einfachen Beweislastnormen eine Überzeugung vom Tatbestandsmerkmal selbst verschaffen muß, muß er sich bei voraussetzungsgebundenen Beweislastnormen eine Überzeugung vom (vermuteten) Merkmal der Grundnorm bilden. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip impliziert, daß der für diese Überzeugungsbildung relevante Sachverhalt zusammengetragen werden muß. Die Verfahrensmaximen regeln nur, wer hierfür verantwortlich ist. Gilt die Untersuchungsmaxime, so ist die rechtsanwendende Behörde selbst verpflichtet, den für die Überzeugungsbildung vom vermuteten Merkmal erforderlichen Sachverhalt umfassend zu ermitteln. Gesetzliche Vermutungen stellen keine spezialgesetzliche Einschränkung dieser Aufklärungspflicht dar. Die materielle Beweislast gehört zum Bereich der Rechtsanwendung, ist also ohne Einfluß auf die Sachverhaltsaufklärung und hat mit den Verfahrensmaximen nichts zu tun. 473 Ebenso wie einfache Beweislastnormen regeln

470

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 133; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 312. 471

§ 5 I. 2.

472

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 105.

473

In diesem Sinne Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 177 f , 259; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208,258; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f.; Leipold,

10 Ittner

146

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

auch gesetzliche Vermutungen nur die objektive Beweislast. Die Vermutungsvoraussetzungen könnten die ihnen unterstellte zusätzliche Aufgabe eines "Ermittlungsprogramms" bzw. einer "Ermittlungsgrenze" gar nicht erfüllen, weil sie funktionell bereits anderweitig besetzt sind. Wie gezeigt worden ist, erfüllen sie mit ihrer Funktion, die Anwendbarkeit der Vermutung zu steuern, d.h. die Beweislast aufzuteilen,474 die Aufgabe, verfassungsrechtliche (rechtsstaatliche) Anforderungen an die Beweislastverteilung zu befriedigen. 475 Diese verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Aufteilung der Beweislast476 bestehen in völlig anderen Regelungszielen und Sachgründen, als die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahl des Aulklärungsmodells.477 Die Vermutungsvoraussetzungen können nur Ausdruck der Befriedigung des einen oder des anderen "verfassungsrechtlichen Anforderungspakets" sein, nicht aber beider gleichzeitig. Daß die Figur der gesetzlichen Vermutung als solche nicht als spezialgesetzlicher partieller Wechsel des Aufklärungsmodells ausgelegt werden kann, folgt auch aus einem argumentum e contrario zu zu solchen gesetzlichen Vermutungen des Verwaltungsrechts, die eine Beschränkung der Ermittlungspflicht materiellrechtlich besonders zum Ausdruck bringen. Als Beispiele mögen nur die §§ 17 III ZollG 478 und 23a II GWB (dazu sogleich 2.) dienen. Mangels spezialgesetzlicher Veränderung des Aufklärungsmodells verstößt somit eine Entscheidung nach Feststellungslast ohne Aufklärung des (vermuteten) Merkmals gegen die §§ 24 VwVfG, 86 I, 108 I VwGO 4 7 9 bzw. gegen die entsprechenden Normen spezieller Verfahrensgesetze. Die Figur der gesetzlichen Vermutung als solche begründet auch keine besondere Mitwirkungspflicht des Beteiligten bei der Widerlegung der Vermutung. Will der Gesetzgeber einem Beteiligten eine über die allgemeinen Mitwirkungspflichten hinausgehende besondere Mitwirkungspflicht auferlegen, so bedarf dies schon wegen

Beweislastregeln, 1966, S. 46 f.; Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, 1980, S. 115, 152; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz, 1981, S. 38. Näher hierzu § 5.1. 474

Vgl. §51. 1. und 2.

475

Vgl. hierzu bereits § 5 ΠΙ. 4. und VI. 2.

476

Vgl. hierzu insbesondere § 6 IV.

477

Vgl. hierzu bereits § 5 VD. 1., femer § 61. 1., m. 1. und § 7.

478

Der Wortlaut ist in § 5 I. 2. zitiert.

479 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 259.Die Auffassung, daß das vermutete Merkmal unter der Untersuchungsmaxime von Amts wegen umfassend zu ermitteln ist, ist heute ganz h.M. im allgemeinen Schrifttum und in der Rechtsprechung, vgl. die Nachweise in § 5 I. 2.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

147

der im Verletzungsfalle drohenden Sanktion einer nachteiligen Beweiswürdigung 480 der besonderen gesetzlichen Anordnung.481 Besondere Mitwirkungspflichten werden daher stets durch das materielle Recht angeordnet, vermittelt bzw. aus diesem entwickelt. 482 Gesetzliche Vermutungen leisten diese materiellrechtliche Vermittlung jedoch nicht, da sie ohne Ergänzung des materiellen Rechts483 nur die objektive Beweislast regeln, welche ohne jede Wirkung auf die Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung ist (reine Risikozuweisung). Zusätzlich ist auch hier die "funktionelle Vorbelastung" der Vermutungsvoraussetzungen zu beachten: Die gesetzliche Einführung von Mitwirkungspflichten unterliegt verfassungsrechtlichen Begrenzungen u.a. aus den Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wie der verallgemeinerungsfähige Rechtsgedanke des § 65 SBG-I zeigt. 484 Im Falle der Anordnung einer besonderen Mitwirkungspflicht bei der Widerlegung der Vermutung käme den Vermutungsvoraussetzungen die Aufgabe zu, durch die (negative) Abgrenzung des besonderen Mitwirkungsbereichs diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Die Vermutungsvoraussetzungen können jedoch nicht zugleich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Aufteilung der Beweislast und die Anforderungen an die Einführung von Mitwirkungspflichten befriedigen, da die jeweiligen Regelungszwecke und die zu beachtenden Sachfragen völlig unterschiedlich gelagert sind. Zu b): Die Vermutungen der §§22 III, 23 a I und 26 II 3 GWB weisen keine materiellrechtlichen Besonderheiten auf, welche die Annahme einer beschränkten kartellbehördlichen Ermittlungspflicht oder einer besonderen Mitwirkungspflicht der Unternehmen rechtfertigen würden. Folgerichtig werden die abweichenden Auffassungen485 auch nicht mit Besonderheiten des Vermutungswortlauts oder des materiellen Kartellrechts begründet, sondern allein mit dem Willen des Gesetzgebers und dem Zweck der Vermutungen, die behördliche Aufsichtstätigkeit zu effektivieren.

480

Hierzu § 5 VE. v o r l .

481

Diesen Gedanken spricht auch Nierhaus an, wenn er auf die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Rezeption der materiell- und verfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten durch die Prozeßgesetze hinweist, vgl. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast 1989, S. 312 f f , 327 f f , 333. 482

Vgl. nur den normativen Befund besonderer Mitwirkungspflichten der VwGO oder der Nachweispflichten des besonderen Verwaltungsrechts bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 277 f f , 299 ff. 483

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 81.

484

Zu § 65 SGB-I und allgemein zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Einführung von Mitwirkungspflichten Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 346 f. 329 ff.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 171 ff. 485

10*

Vgl. die Nachweise in § 4 I. 3. a).

148

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Der Wille des kartellrechtlichen Gesetzgebers ist jedoch eindeutig. In § 5 V I 2 ist dargelegt worden, daß dieser mit der Einordnung der Vermutungen als "Aufgreiftatbestände" hervorheben wollte, daß beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen die Amtsermittlung hinsichtlich des vermuteten Merkmals gerade weitergehen muß. In den Materialien wird mehrfach ausdrücklich betont, hinsichtlich des vermuteten Merkmals seien zunächst alle Aufklärungsanstrengungen zu unternehmen, bevor ein non liquet entstehen könne.486 E contrario §§ 3 II, 3 III 2 Nr. 1, Nr. 3, 5a II, 5b II, 23a II 1 Halbs. 2, 24 I Halbs. 2, 37b IV 1, 2, 103 V 2 Nr. 2 GWB bzw. §§ 46, 69 II, III GWB darf die sichere Annahme gefolgert werden, daß der Gesetzgeber einen etwaigen Willen zur Einschränkung der Ermittlungspflicht oder zur Begründung einer besonderen Mitwirkungspflicht in gewohnter Form materiellrechtlich deutlich vermittelt hätte. Zum Zweck der Vermutungen ist in § 5 III 2 b) aufgezeigt worden, daß der Gesetzgeber die Unternehmen unter Druck setzen will, im "kritischen Bereich" freiwillig und aktiv an einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Hierzu bedarf es weder einer Behauptungs-/Beweisfiihrungslast der Unternehmen, noch einer besonderen Mitwirkungspflicht, da diese Wirkung bereits durch die "faktischen Vorwirkungen" der Beweislast unter der Untersuchungsmaxime erzielt wird, welche der Gesetzgeber bewußt zur Erreichung seiner Zwecke instrumentalisiert hat. 487

2. § 23a Π GWB

Umstritten ist, ob und in welchem Umfang § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB durch die Anordnung, daß die Unternehmen die zur Widerlegung der Vermutung vorgeschriebenen Tatsachen "nachzuweisen" haben, die Amtsermittlungspflicht begrenzt, so daß die Unternehmen eine echte Behauptungs- und Beweisführungslast trifft. Auf die Darstellung des Meinungsstandes in § 4 I 3 b) und II wird Bezug genommen. Der von den §§ 22 III, 23a I und 26 II 3 GWB abweichende Wortlaut des § 23a II ("es sei denn, die Unternehmen weisen nach, daß ...") weist eindeutig daraufhin, daß der Gesetzgeber hier eine abweichende Rolle der Unternehmen bei der Sachverhaltsaufklärung vorsehen wollte (argumentum e contrario). Unklar ist nur die spezielle Auswirkung der Nachweispflicht auf das Sachverhalts-Aufklärungsmodell. Nach moderner Auffassung im verwaltungsrechtlichen Schrifttum 488 muß hinsicht486

Besonders deutlich: Stellungnahme des Rechtsausschusses zum Regierungsentwurf der 2. Novelle, BT-Drs. 77765, S. 14; Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BTDrs. 8/2136, S. 16 und 24; Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22. 487

Vgl. hierzu ausführlich § 5 m. 2. b).

488

Vgl. insbesondere: Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 250 ff.,

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

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lieh der Wirkung verwaltungsgesetzhcher "Nachweisvorschriften" differenziert werden. Entweder soll die Nachweispflicht den Beteiligten zu einer bestimmten Mitwirkung im Rahmen der Amtsermittlung des Sachverhalts aktivieren; der Nachweis hat dann lediglich eine "dienende", unterstützende Aufklärungs- oder Beweismittelfunktion unter dem "Dach" der uneingeschränkten Pflicht zur Amtsermittlung 489 (Mitwirkungspflicht mit der möglichen Verletzungsfolge einer nachteiligen Beweiswürdigung 490 ). Oder die Norm erhebt den bestimmten Nachweis als solchen zum eigenständigen Tatbestandsmerkmal und verändert damit den Ermittlungsgegenstand ("formbestimmte Nachweispflicht mit eigenständiger Tatbestandsfunktion"). 491 Dann muß bzw. darf bezüglich der nachzuweisenden Tatsachen keine weitergehende Amtsermittlung stattfinden. 492 Mit Blick auf § 23 a II GWB ist zu klären, nach welchen Kriterien die vorgenannte Differenzierung vorzunehmen ist. Ob die Orientierung an einem "Indizienkatalog", wie Berg 493 ihn vorschlägt, sinnvoll ist, erscheint angesichts der damit einhergehenden Gefahr einer vorschnellen Einordnung unter Außerachtlassung erheblicher, nicht katalogisierter Faktoren des jeweiligen Einzelfalls zweifelhaft. Im Ergebnis muß ohnehin die (grammatische, systematische, historische und teleologische) Auslegung der Norm entscheiden:494

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 299 ff; Schromek, Mitwirkungspflichten, S. 119-134. Im Ansatz schon Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, E 44. 489

Vgl. mit Beispielen Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 299-302; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 252 f.; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 126 ff. Nachweisnormen, die dem Beteiligten lediglich eine besondere Mitwirkungspflicht unter dem Dach der Amtsermittlung auferlegen, sind z.B. die §§ 30 I Nr. 3 WaffG, 10 12 BImSchG, 12 Π ZDG, 22 m Nr. 2 LadSchlG, 4 Π 2 und 8 Π StVZO. 490 Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 130. Ausführlich zum Verhältnis von Mitwirkungspflichten und Amtsermittlung sowie zu den Folgen pflichtwidrig unterlassener Mitwirkung § 5 VE. vor 1. 491

Normen, die den Nachweis durch den Beteiligten zum Tatbestandsmerkmal und damit zum Gegenstand der Ermittlung erheben sind z.B. die §§ 36 11 GewO, 8 I 1 HandwO, 17 I Nr. 4 BJagdG, 15a Π ZDG, 3 m 2 BAfoG, 16b I 9 BversorgungsG; aus dem GWB: §§ 3 III 2 Nr. 3, 24 I Halbs. 2, 103 V 2 Nr. 2 GWB. Vgl. hierzu mit weiteren Beispielen Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 250 ff ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 ff ; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 120 ff, 127 ff ; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45 f. 492

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 132; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 303 f. 493

Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 254; zustimmend Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 307 f. ("Auslegungshilfen").

150

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Der Wortlaut der Norm kann die Tatbestandsfunktion des Nachweises durch bestimmte Wendungen erkennen lassen, etwa durch die ausdrückliche Bestimmung, daß ein Umstand gerade vom Beteiligten nachgewiesen werden muß in Verbindung mit der Anordnung einer Rechtsfolge fur den Fall, daß speziell dieser Nachweis nicht geführt wird. 495 In diesem Sinne muß man § 23a II GWB verstehen, wenn er (nach Amtsermittlung der übrigen Merkmale) die Vermutungsfolge vorsieht, "es sei denn, die Unternehmen weisen nach", daß das Gegenteil des vermuteten Merkmals vorliegt. Der Regelungszusammenhang des § 23 a II GWB legt ebenfalls die Annahme einer Veränderung des Ermittlungsgegenstandes nahe. § 23a II 1, Halbs. 2 GWB verwendet denselben Wortlaut wie die Abwägungsklausel des § 24 I Halbs. 2 GWB ("es sei denn, die [beteiligten] Unternehmen weisen nach, daß ..."). Für diesen Dispens war es schon vor der Einfuhrung des § 23a II GWB durch die 4. GWB-Novelle einhellige Auffassung in Gesetzgebung,496 Rechtsprechung497 und Schrifttum, 498 daß die beteiligten Unternehmen insoweit eine echte Behauptungs- und Beweisfuhrungslast trifft. Auch die Entstehungsgeschichte und der Normzweck des § 23a II GWB sprechen fur eine echte Behauptungs- und Beweisfuhrungslast der Unternehmen. Zur Beseitigung der behördlichen Schwierigkeiten beim Nachweis des Wettbewerbsausschlusses im Oligopol-Innenverhältnis wollte der Regierungsentwurf zur 4. GWBNovelle sogar ganz auf das Merkmal des Binnenwettbewerbs im Oligopol verzichten. 499 Zwar entschied sich der Wirtschaftsausschuß dann doch für eine "flexiblere" Vermutungsregelung, jedoch betonte er ausdrücklich, die Nachweispflicht bedeute, "daß die beteiligten Unternehmen - wie der Bericht des Wirtschaftsausschusses zur entsprechenden Formulierung der Abwägungsklausel des § 24 Abs. 1 anläßlich der 2. Kartellgesetznovelle festgestellt hat (Drucksache 7/765 S. 7) - die ihnen günstig erscheinenden vermutungswiderlegenden Tatsachen darzulegen und ggf zu beweisen haben."500

494

Ebenso Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 128; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 254. 495

In diesem Sinne Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 304.

496

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. GWB-Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 7.

497

BGHZ 73,65 (81); KG AG 1979,17 (19).

498 Vgl. nur Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, m.w.N. 499

GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rz. 194

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 22; vgl. hierzu näher § 3 Π. 2.

ΥΠ. Untersuchungsgrundsatz, Mitwirkungspflichten,

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Die Feststellung in BT-Drs. 7/765 lautete: "Die Neufassung der sogenannten Abwägungsklausel in § 24 Abs. 1 stellt klar, daß die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen die Tatsachen dar[zu]legen und gegebenenfalls zu beweisen haben, die nach ihrer Ansicht und zu ihren Gunsten die Feststellung gerechtfertigt erscheinen lassen, die Verbesserungen der Wettbewerbsbedingungen überwögen die Nachteile der Marktbeherrschung." 501

Inwieweit dem Wirtschaftsausschuß bei seinem Bericht zur 4. GWB-Novelle bewußt war, daß der Nachweis in § 24 I Halbs. 2 GWB die Voraussetzungen eines Dispenses, der Nachweis in § 23a II 1, Halbs. 2 GWB dagegen die Widerlegung der Voraussetzungen des Eingriffstatbestandes selbst betrifft, 502 bleibt unklar. In jedem Falle besteht kein Zweifel daran, daß er den Unternehmen eine echte Darlegungsund Beweisführungslast für die Widerlegungstatsachen auferlegen wollte, "um weiteren Strukturverschlechterungen auf oligopolistischen Märkten besser als bisher entgegenwirken zu können"503. Ob diese vom Gesetzgeber gewollte Einschränkung der Amtsermittlungspflicht aus Verfassungsgründen zu beanstanden und ggfs. zu korrigieren ist, wie dies im kartellrechtlichen Schrifttum vertreten wird (z.B.: die Amtsermittlungspflicht bleibe insoweit bestehen, wie die notwendigen Informationen den Unternehmen nicht zugänglich seien504), ist eine von dieser gewollten Wirkung zu trennende Frage, der erst in § 7 II nachzugehen ist. Wie gezeigt worden ist, wird die Freiheit des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung durch die verfassungsmäßige Ordnung begrenzt. 505 Welche Konsequenz hat - vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Korrekturen - der Wille des Gesetzgebers, die Amtsermittlungspflicht hinsichtlich der zur Widerlegung der Vermutung vorgeschriebenen Tatsachen abzuschaffen, für den Umfang der behördlichen und gerichtlichen Tätigkeit? Zum einen bedeutet der partielle Wechsel des Aufklärungsmodells durch § 23a II 1, Halbs. 2 GWB keinesfalls, daß sich die Amtsermittlung nur auf die Vermutungsbasis beschränken darf. § 23a II 1, Halbs. 2 GWB belastet die Unternehmen nur mit der Behauptungs- und Beweisführungslast für das Gegenteil des vermuteten Merkmals. Im übrigen bleibt es bei der uneingeschränkten Geltung der Untersuchungs500

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 27.

501

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 7.

502

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 45.

503

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 27.

504

Vgl. die Nachweise in § 41. 3. b).

505

Vgl. § 5 VA. 1.

152

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

maxime, was insbesondere bedeutet, daß das BKartA verpflichtet ist, den für die positive Feststellung des vermuteten Merkmals relevanten Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Nur die Aufklärungsarbeit zur Ermittlung des Sachverhalts, der für die Feststellung des Gegenteils des vermuteten Merkmals erheblich ist, muß das Amt nicht leisten. Zum anderen ist zu beachten, daß Kartellbehörde und Gericht nicht nur zur Aufklärung des Sachverhalts "herangezogen" werden, sondern daß sie gleichzeitig auch Rechtsanwender sind. Die auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 III GG zurückzuführende Pflicht des Rechtsanwenders, auf der Basis des (von wem auch immer) zusammengetragenen Sachverhalts alle Schritte der Überzeugungsbildung und Rechtsanwendung vorzunehmen, bleibt von den Verfahrensmaximen selbstverständlich unberührt. Der Wirkungsbereich der Maximen (wer trägt die Tatsachen vor und veranlaßt die Beweiserhebung?; welche Tatsachen sind beweisbedürftig bzw. können im Urteil verwertet werden? 506) muß strikt unterschieden werden von der bei jedem Aufklärungsmodell bestehenden Pflicht des Rechtsanwenders zur Überzeugungsbildung vom kompletten Normenprogramm. BKartA und Beschwerdegericht sind (ebenso wie der Zivilrichter) bei gesetzlichen Vermutungen aus Art. 20 III GG dazu verpflichtet, sich eine Überzeugung auch vom Gegenteil des vermuteten Merkmals zu bilden, wozu insbesondere auch die Erhebung der von den Unternehmen angebotenen Beweise und die Berücksichtigung aller von diesen vorgetragenen Tatsachen zum Zwecke der Feststellung der in § 23a II 1, Halbs. 2 GWB normierten Widerlegungsmerkmale gehört. Allerdings müssen und dürfen Behörde und Gericht sich diese Überzeugung vom Gegenteil nur auf der Basis des Sachverhaltsmaterials bilden, das die Unternehmen dargelegt und unter Beweis gestellt haben.

3. Zwischenergebnis

Die Vermutungen der §§22 III, 23 a I und 26 II 3 GWB schränken den Untersuchungsgrundsatz nicht ein. Sie begründen weder eine Behauptungs- und Beweisführungslast noch eine besondere Mitwirkungspflicht der Unternehmen. Demgegenüber hat der Gesetzgeber für die in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB normierten Widerlegungstatsachen eine echte Behauptungs- und Beweisführungslast der Unternehmen angeordnet. Soweit gegen diesen partiellen Wechsel des Aufklärungsmodells im Schrifttum verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden, wird in § 7 II zu prüfen sein, ob eine verfassungskonforme Korrektur der Aufklärungszuweisung geboten ist. 506

Diese vier verschiedenen Aspekte der Verfahrensmaximen unterscheidet Prütting, NJW 1980,361 (363).

v m . Kritik an der BGH-Rechtsprechung

153

V I I I . Kritik an der BGH-Rechtsprechung Nachdem die Wirkung der Vermutungen des GWB im Kartellverwaltungsverfahren abschließend geklärt ist, soll an dieser Stelle507 die bis heute gültige Grundsatzentscheidung des BGH im Fall Klöckner/Becorit 508 gewürdigt werden. Auf das in § 4 II wiedergegebene Zitat der Entscheidungsgründe wird Bezug genommen. Diese Ausführungen des BGH verdienen grundsätzlich Zustimmung. Dies gilt insbesondere für die Erkenntnis, daß die Vermutungsvoraussetzung nur ein Kriterium neben weiteren von Amts wegen zu ermittelnden Kriterien ist, welche das Gericht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zur Überzeugungsbildung vom vermuteten Merkmal zu würdigen hat, bevor ein non liquet entstehen und die Vermutung ihre bindende Wirkung entfalten kann. 509 Nicht zuzustimmen ist jedoch der im Zitat kursiv gesetzten Passage,510 die der BGH zur Begründung dafür anführt, daß die Kartellbehörde zunächst versuchen muß, sich durch umfassende Amtsermittlung und Gesamtwürdigung des Verfahrensergebnisses eine Überzeugung vom vermuteten Merkmal zu bilden: Im Rahmen des Amtsermittlungsverfahrens bedeute der Umstand, daß die Vermutungsvoraussetzung nur ein Kriterium zur Beurteilung der Vermutungsfolge sei, daß die Vermutung im Gegensatz zur Wirkung zivilrechtlicher Vermutungen, deren Voraussetzung ein tatbestandsfremder, jedoch den Beweis des gesetzlichen Tatbestands erleichternder Umstand sei, das Gericht nicht von der ihm obliegenden Würdigung der Voraussetzung im Zusammenhang mit allen anderen Merkmalen im Rahmen der Gesamtbetrachtung entbinde. Diese Begründung ist gleich in vierfacher Hinsicht ungenau. Zum ersten ist bereits mehrfach dargelegt worden, daß es keinen Unterschied zwischen der Wirkung von "zivilrechtlichen" Vermutungen und Vermutungen unter dem Untersuchungsgrundsatz gibt. Die spezifische Wirkung gesetzlicher Vermutungen ist in allen Verfahrensordnungen identisch; sie besteht in der Regelung der objektiven Beweislast (Ebene der Rechtsanwendung). Die unterschiedlichen "Vorwirkungen" der Beweislast unter den verschiedenen Verfahrensmaximen sind nicht Ausdruck unterschiedlicher Rechtswirkungen der Vermutungen, sondern die Folge unterschiedlicher Sachverhaltsaufklärungsmodelle. 511

507

Weitere Kritik der kartellrechtlichen Rechtsprechung erfolgt in § 7 Π. 2. c).

508

WuW/E BGH 1749 (1754).

509

Vgl. zur Pflicht der Behörde, sich zunächst durch umfassende Amtsermittlung eine eigene Überzeugung vom vermuteten Merkmal zu bilden, § 5 I. 2. 510

Vgl. das Zitat in § 4 Π.

511

Vgl. hierzu ausführlich § 5 I. 1. - 3.

154

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Zum zweiten erweckt der BGH den Eindruck, als könne die gesetzliche Vermutung ihre Wirkung unter der Untersuchungsmaxime erst entfalten, wenn das Gericht sich nach der Gesamtwürdigung des Verfahrensergebnisses keine Überzeugung bilden könne, während der Zivilrichter von der Gesamtwürdigung einer tatbestandsrelevanten Vermutungsvoraussetzung mit anderen (unstreitigen oder bewiesenen) Merkmalen entbunden sei. Wie gezeigt worden ist, 512 dürfen sowohl der Zivilrichter als auch der Verwaltungsrichter die Vermutung erst anwenden, wenn die Beweisaufnahme und anschließende Würdigung des gesamten Verfahrensergebnisses nicht zu einer Uberzeugung vom vermuteten Merkmal bzw. von dessen Gegenteil geführt haben. Der Unterschied ist lediglich, daß der Zivilrichter diese Tätigkeit nur auf der Grundlage des Materials entfaltet, welches die Parteien dargelegt und unter Beweis gestellt haben, während der Verwaltungsrichter die Informationsbasis selbst zusammenstellt. Unzutreffend ist daher auch die Aussage des BGH im Beschluß "Metro/Kaufhof, die gesetzliche Vermutung könne unter dem Untersuchungsgrundsatz "im Unterschied zur zivilrechtlichen Vermutung ihre Wirkung erst dann entfalten", wenn das Gericht nach der ihm obliegenden Würdigung des Verfahrensergebnisses nicht ausschließen könne, daß das vermutete Merkmal vorliege.513 Auch unter der Verhandlungsmaxime entfaltet die gesetzliche Vermutung ihre Wirkung erst dann, wenn sich der Richter aufgrund einer Gesamtwürdigung des Verfahrensergebnisses keine Überzeugung bilden kann. 514 Zum dritten trifft es nicht zu, daß Voraussetzung "zivilrechtlicher" Vermutungen nicht auch solche Kriterien wären, die gleichzeitig für die Beurteilung des vermuteten Merkmals von Bedeutung sind. Als Beispiel sei nur § 1253 II 1 BGB genannt: Der Besitz des Verpfänders oder Eigentümers, an den das Gesetz die Vermutung der Rückgabe des Pfandes durch den Pfandgläubiger knüpft, ist zugleich ein Kriterium zur Subsumtion des vermuteten Merkmals "Rückgabe", denn eine solche setzt im Falle der Pfandrechtsbestellung nach § 1205 BGB voraus, daß der Pfandgläubiger dem Verpfänder oder Eigentümer seinen Besitz einräumt. 515 Zum vierten trifft es nicht zu, daß Voraussetzung "zivilrechtlicher" Vermutungen ein den Beweis des gesetzlichen Tatbestandes erleichternder Umstand sein soll. Diese Sichtweise ist seit der Ablehnung der Einordnung gesetzlicher Vermutungen als Beweisregeln und ihrer Qualifizierung als Beweislastnormen 516 überwunden. Die 512

Vgl. insbesondere § 51. und VII. 2.

513

WuW/E BGH 2231 (2237/2238).

514

Vgl. hierzu bereits § 51. 1.; ferner Gottwald, Jura 1980,225 (235); Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 62. 515 516

Palandt-Bassenge, BGB, 55. Aufl. 1996, § 1253 Rz. 2.

Vgl. nur Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 64 ff., 71 f.; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 79 ff., 85 ff.

IX. Ergebnis zu § 5

155

Vermutungsvoraussetzungen sollen nicht den Beweis des vermuteten Merkmals erleichtern, sondern die Anwendbarkeit der Vermutung steuern und so die objektive Beweislast fur das vermutete Merkmal aufteilen ("voraussetzungsgebundene Beweislastregeln"). 517 Würden die Vermutungsvoraussetzungen den Beweis des vermuteten Merkmals erleichtern, so würde die Situation echter Überzeugungslosigkeit gerade vermieden. Das Fehlen von Überzeugung ist aber Bedingung für die Anwendung der Beweislastnormen.518 Mit seiner Aussage vom "beweiserleichternden Umstand" hat der BGH daher möglicherweise auch nur die Tatsache im Auge gehabt, daß der durch die Vermutung Begünstigte sich im Zivilrecht darauf beschränken kann, nur die Vermutungsvoraussetzung darzulegen und unter Beweis zu stellen. Zivilrechtliche Vermutungen bewirken jedoch keine "Verschiebung" des Beweisthemas.519 Die zutreffende Begründung dafür, daß Kartellbehörde und Gericht zunächst versuchen müssen, sich durch umfassende Amtsermittlung und Gesamtwürdigung des Verfahrensergebnisses eine Überzeugung vom vermuteten Merkmal zu bilden, bevor die kartellrechtliche Vermutung angewendet werden kann, ist die aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 III GG folgenden Pflicht, sich eine (positive oder negative) Überzeugung vom vermuteten Merkmal zu bilden, in Verbindung mit der Geltung der Untersuchungsmaxime. Die Entscheidungsgründe im Fall Klöckner/Becorit wären überzeugender, wenn der BGH auf die im Zitat unterstrichene Passage 520 ersatzlos verzichtet hätte.

IX. Ergebnis zu § 5 Es existiert kein Unterschied zwischen "zivilrechtlichen" und "verwaltungsrechtlichen" Vermutungen, sondern nur eine einheitliche Figur der gesetzlichen widerlegbaren Vermutung, welche ihre spezifische Wirkung (Risikozuweisung auf der Ebene der Rechtsanwendung) in allen Verfahrensordnungen erst im non liquet-Fall entfaltet. Unterschiedliche "Vorwirkungen" der objektiven Beweislast unter den verschiedenen Verfahrensmaximen sind nicht Ausdruck unterschiedlicher Vermutungswirkungenen, sondern die Folge unterschiedlicher Sachverhaltsaufklärungsmodelle.

517

Vgl. §51. 1. und 2.

518

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 58 f.; ders, JA 1985, 313 (317); Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 38,417. 519

Vgl. hierzu §51. 1.

520

Vgl. die hervorgehobene Passage in den in § 4 Π. zitierten Entscheidungsgründen.

156

§ 5 Wirkung der Vermutungen im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren

Die kartellrechtlichen Vermutungen weisen keinerlei Besonderheiten gegenüber der Wirkung gesetzlicher Vermutungen im allgemeinen auf. Die nach § 24 I GWB anzustellende Prognose als solche kann Gegenstand der Vermutungen des § 23 a GWB sein, da auch bei Prognosen ein non liquet möglich ist. Aus funktionellen Gründen müssen die Vermutungen des GWB ebensowenig wie andere Vermutungen der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen; sie tun dies auch nicht. Mit den Wahrscheinlichkeitsaussagen in den Motiven wollte der Gesetzgeber nur begründen, welche Sachverhaltskonstellationen zum vermuteten Merkmal tendieren ("kritischer Bereich"). Zweck der Vermutungen ist es, die Unternehmen im "kritischen Bereich" durch die nachteilige Beweislast "aus der Reserve zu locken" und unter Druck zu setzen, aktiv an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, um so die kartellbehördliche Aufsichtstätigkeit, welche ihrerseits dem Schutz der Wettbewerbsfreiheit konkurrierender Wettbewerber dient, deutlich zu effektivieren ("Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck"). Die Vermutungen des GWB sind weder Beweis(würdigungs)regeln noch haben sie eine über die Beweislastregelung hinausgehende materiellrechtliche Wirkung. Sie stellen keine "prima-facie-Regeln" dar und begründen auch keine Pflicht der Kartellbehörde, beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen ein Aufsichtsverfahren einzuleiten. Ihre Bezeichnung als "Aufgreiftatbestände" ist ohne eigenständige Bedeutung. Die kartellrechtlichen Vermutungen greifen nicht in die durch die Verfahrensmaximen bestimmten Verantwortlichkeiten für die Aufklärung der vermuteten Merkmale und ihrer Gegenteile ein und begründen keine besonderen Mitwirkungspflichten der Unternehmen bei der Vermutungswiderlegung. Eine Ausnahme gilt nur für § 23a II 1 GWB, der hinsichtlich der in Halbs. 2 vorgeschriebenen Widerlegungstatsachen einen partiellen Wechsel von der Untersuchungs- zur Verhandlungsmaxime anordnen soll (punktuelle Behauptungs- und Beweisführungslast der Unternehmen; vgl. zur Frage einer verfassungsrechtlichen Korrektur § 7 II). Die Vermutungen des GWB regeln die Beweislast (und z.T. ein abweichendes Aufklärungsmodell) für die Voraussetzungen hoheitlicher Gefahrenabwehreingriffe zum Nachteil der betroffenen Unternehmen in Fällen, die mehr oder weniger deutlich zum vermuteten Merkmal tendieren (keine Erfahrungssätze), wobei zahlreiche Fakten zur Beurteilung des vermuteten Merkmals nicht zur Sphäre der Unternehmen gehören. Im folgenden wird zu prüfen sein, welche verfassungsrechtlichen Anforderungen der Gesetzgeber in einem solchen Bereich bei der Beweislastnormgebung (§ 6) und bei der Gestaltung des Aufklärungsmodells (§ 7) zu berücksichtigen hat und ob er ihnen genügt hat.

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung durch die Vermutungen des GWB I. Einleitung Die Eckdaten für die Prüfüng der Frage, ob die Beweislastverteilung durch die Vermutungen des GWB verfassungsgemäß ist, sind abgesteckt. Die Beweislast wird in der Eingriffsverwaltung für Konstellationen zum Nachteil der Unternehmen geregelt, in denen das vermutete Merkmal in der Regel nicht verwirklicht ist, wobei zahlreiche Fakten zur Widerlegung der Vermutungen nicht zur Sphäre der betroffenen Unternehmen gehören.1 Das materielle Recht dient der Abwehr von Gefahren für die Grundrechtsverwirklichung Dritter. 2 Demgegenüber herrscht hinsichtlich der Anforderungen und Grenzen, welche die Verfassung für die Beweislastverteilung in derartigen Fällen aufstellt, im kartellrechtlichen Schrifttum große Verunsicherung, wie das in § 4 I 1 zusammengefaßte Meinungsspektrum belegt. Dies verwundert nicht, da die um 1970 im Vorfeld der 2. GWB-Novelle einsetzende kartellrechtliche Diskussion um die verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast-Normsetzung nicht auf ein gesichertes allgemein-dogmatisches Fundament zur Problematik "Grenzen der Verfassung für eine Beweislastverteilung durch den Gesetzgeber" zurückgreifen konnte. Allein Tietgen hatte dem Thema "verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislastverteilung" in seinem Gutachten für den 46. Deutschen Juristentag 1966 nähere Beachtung geschenkt.3 In jüngerer Zeit hat sich insbesondere die Beweislastdogmatik des öffentlichen Rechts bemüht, das Thema unter einzelnen Gesichtspunkten zu erschließen (Art. 19 IV GG4, Fairneß- und Waffengleichheitsgebot der Beweisnähe [Sphärentheorie]5, Grundrechte6, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 7, Rechtsstaatsprin-

1

Man denke nur an das Fehlen einer überragenden Marktstellung der Gesamtheit der Oligopolmitglieder im Außenverhältnis gem. § 23a Π 1 Halbs. 2 GWB oder an die Widerlegungsvoraussetzungen gem. § 22 Π Halbs. 2 i.V.m. I Nr. 1 und 2 GWB. 2

Vgl. §5111.2 .).

3

Tietgen, Gutachten zum 46. DJT, 1966, Bd. I, S. 40-49.

4

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 I V Rzn. 227 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 448 f , 450 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 95 f.; Nagler, Dogmatische Strukturen, 1989, S. 16 ff. 5

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 449 ff, 470 ff, 484; zum fairen rechtsstaatlichen Verfahren ferner Peschau, Beweislast, 1983, S. 98 ff.

158

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

zip8). Vieles ist jedoch nur Stückwerk geblieben. Über die Erörterung der Ergiebigkeit einzelner Verfassungsgewährleistungen für die Verteilung der Beweislast ist die Diskussion bisher nicht hinausgekommen. Die vorliegende Untersuchung verfolgt erstmals das Ziel, aus dem Wesen der Beweislast selbst heraus einen von Einzelfragen und -normen gelösten, übergreifenden Ansatz zu entwickeln, um auf diese Weise der anschließenden Verfassungskontrolle der kartellrechtlichen Vermutungen eine "teleologische Korsettstange" einzuziehen. Die Verteilung der materiellen Beweislast bildet seit Jahren einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Diskussion des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts. Allein seit 1980 haben die Habilitationsschriften von Prütting, 9 Berg 10 und Nierhaus, 11 aber auch die Dissertationen von Peschau,12 Sonntag,13 Nagler 14 und J. Dürig 15 Grundsatzfragen der Beweislastverteilung behandelt. Dabei hat sich die Diskussion neben der Theorie der Beweislastentscheidung vor allem der Frage angenommen, wie die Beweislast verteilt ist, wenn ausdrückliche Beweislastnormen fehlen. Diese Situation des Richters, der im non liquet-Fall keinen eindeutigen gesetzlichen Hinweis auf die Beweislast vorfindet, ist jedoch streng zu unterscheiden von der Situation des Gesetzgebers, der sich beim Erlaß einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, welche Grenzen der Normsetzung er zu beachten hat. Mit letzterer Frage, um die es hier geht, haben sich nur wenige Autoren näher beschäftigt. 16 Gerade bei den Vermutungen des GWB ist die Versuchung groß, die verfassungsrechtliche Dimension der Beweislast-Normsetzung mit der Überlegung auszuschalten, der Gesetzgeber könne im Rahmen seiner Gesetzgebungsfreiheit doch auch ebensogut die Vermutungsvoraussetzungen in einen materiellrechtlichen Eingriffstatbestand, in eine unwiderlegliche Vermutung oder in eine Fiktion umwandeln, 6

Peschau, Beweislast, 1983, S. 85 ff.

7

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 235 ff.

8

Nagler, Dogmatische Strukturen, 1989, S. 21 ff.

9

Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983.

10

Die verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980.

11

Beweismaß und Beweislast, Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989. 12

Die Beweislast im Verwaltungsrecht, 1983.

13

Die Beweislast bei Drittbetroffenenklagen, 1986.

14

Dogmatische Strukturen der Beweislast im öffentlichen Recht, 1989.

15

Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990.

16

Aus öffentlich-rechtlicher Sicht vor allem Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 446 ff. und Peschau, Beweislast, 1983, S. 82 f f ; aus zivilrechtlicher Sicht Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 248 f. und 264.

I. Einleitung

159

dann müsse es erst recht verfassungsrechtlich unbedenklich sein, als "minus" nur ein nachteiliges Feststellungsrisiko zu normieren. 17 Der Trugschluß dieser Überlegung liegt freilich in der vorschnellen Prämisse, der Gesetzgeber könne die Rechtsfolgen auch einfach an die Vermutungsvoraussetzungen anknüpfen. Denn auch eine solche Regelung müßte verfassungsgemäß sein. So hatte die Bundesregierung im Vorfeld der 4. GWB-Novelle eine "Abkopplung der Fusionskontrolle von der Marktbeherrschung" gerade aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken abgelehnt.18 Der Bundesrat hielt die Vermutungen des § 23 a I GWB (irrtümlich) für materielle Rechtsänderungen und lehnte sie deshalb als zu weitgehend ab.19 Auch im kartellrechtlichen Schrifttum herrscht die Meinung vor, daß sich eine Umwandlung der Vermutungsvoraussetzungen in Eingriffstatbestände, unwiderlegliche Vermutungen oder Fiktionen als unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Unternehmen darstellen würde. 20 Hierher gehören auch die verfassungsrechtlichen Einwände derjenigen Autoren, welche die Vermutungen des GWB für "faktisch unwiderlegbar" hielten: die Vermutungen stellten einen verfassungswidrigen Formenmißbrauch des Gesetzgebers dar 21 bzw. verstießen gegen die Verfassungsprinzipien der Systemgerechtigkeit22 oder Verhältnismäßigkeit. 23 Im Rahmen dieser Untersuchung ist eine hypothetische Verfassungsprüfung, ob eine Umwandlung der Vermutungen in materiellrechtliche Eingriffstatbestände, unwiderlegliche Vermutungen oder Fiktionen verfassungsgemäß wäre, nicht geboten. Diese Prüfung würde die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung nicht erübrigen, sondern nur durch einen erst-recht-Schluß vereinfachen. Zwar würde eine solche Prüfung die Klärung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Beweislast-Normsetzung umgehen. Sie wäre aber im Falle des Ergebnisses der (hypothetischen) Verfassungswidrigkeit ohne Aussagekraft für die (minder-

17

Diesen Gedanken erörtern u.a. Meier, ZHR 145 (1981), 393 (419/420); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79. 18

Stellungnahme der Bundesregierung zum Tätigkeitsbericht des BKartA 1977, BT-Drs. 8/704, S. Π; ebenso das Mehrheitsvotum der Monopolkommission, Hauptgutachten Π, Tzn. 476 f. 19

Stellungnahme des Bundesrats zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 35; zustimmend Κ Schmidt, ZRP 1979,38 (42). 20

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 87: "Verstoß gegen das Obermaßverbot" (zu §§ 22 ΙΠ, 23a); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79 (zu § 23a Π). 21

Kaiser, WuW 1978,344, 362 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978).

22

Kaiser, WuW 1978, 344, 361 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978); Schütz, DB 1979,197,198 (zu § 23a RegE). 23

Kaiser, WuW 1978,344,363 (zu § 23a des Referentenentwurfs vom 21.4.1978).

160

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

schwere) Beweislastregelung und würde zudem andere, neue Problembereiche eröffnen. So hätte sie sich unter anderem im Schrankenbereich des Grundrechts auf freie wirtschaftliche Entfaltung 24 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich eine materiellrechtliche Abkopplung vom Marktmachtkonzept (durch ein Anknüpfen von Rechtsfolgen an die Vermutungsvoraussetzungen) als Eingriff in den grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich der betroffenen Unternehmen darstellen würde, der noch durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt wäre. 25 Diese Prüfung würde in den Bereich komplexer volkswirtschaftlicher und wettbewerbspolitischer Erwägungen fuhren. Sie wäre nicht weniger aufwendig als eine direkte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Beweislastnormen. Im folgenden wird daher das eigentliche Problem erörtert, zumal auf diese Weise in jedem Falle ein konkretes Ergebnis zur Verfassungsmäßigkeit der Beweislastnormen gewonnen wird.

1. Ansatz aus dem Wesen der materiellen Beweislast

An dieser Stelle werden bereits zwei wesentliche Eckpfeiler der Verfassungsprüfung von Beweislastnormen hervorgehoben, die zunächst nur im Ansatz vorgestellt und erst nach einem Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum näher vertieft werden.26 Zum ersten unterliegt die gesetzliche Risikozuweisung für den non liquet-Fall als "ganz normaler" Akt gesetzgeberischer Entscheidung27 der Gesetzgebungsfreiheit. Gemäß Art. 20 III GG muß der Gesetzgeber bei der Normsetzung (nur) die Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung beachten.28 Zum zweiten bestehen nach den bisherigen Erkenntnissen zum Wesen der materiellen Beweislast erhebliche Zweifel daran, ob verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien, etwa Art. 19 IV GG oder die Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens, prinzipiell die inhaltliche Verteilung der materiellen Beweislast determinieren können. Es war ein Anliegen der bisherigen Untersuchung, deutlich zu machen, daß die materielle Beweislast mit prozessualen Gesichtspunkten im Vor24

Hierzu näher § 6 I V . 4.

25

Zur Dreistufentheorie des Β VerfG bei Art. 12 I GG näher § 6 IV. 4.

26

§ 6 m . 1. und 2.

27

Prütting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 102.

28

Ebenso Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 220: "Der Gesetzgeber ist bei der Beweislast-Gestaltung in derselben Weise an die Verfassung gebunden wie bei der Gestaltung sonstiger Normen. Im übrigen liegen Inhalt und Ausformung dieser Regeln in seinem Ermessen."

I. Einleitung

161

feld der Rechtsanwendung, insbesondere dem jeweiligen Sachverhalts-Aufklärungsmodell, nichts zu tun hat. Der Charakter der objektiven Beweislast besteht in einer bloßen Risikoverteilung fur den non liquet-Fall (Rechtsfrage), 29 die auf autarken, materialen Wertungen des Gesetzgebers beruht. 30 Eine Beweislastnorm des materiellen Rechts gehört selbst zum materiellen Recht31, als eigenständige Risikoentscheidung schafft sie materielles Recht (für den non liquet-Fall) vergleichbar einer besonderen materiellrechtlichen Anspruchsnorm. 32 Die Beweislastnorm ermöglicht dem Rechtsanwender eine Entscheidung unabhängig von jeglichem Parteiverhalten. Die Parteien können durch ihr Verhalten nicht die materielle Beweislast abwenden, sondern nur das prozessuale non liquet. Aus diesem Grunde stellt die Beweislast auch keine Last im technischen Sinne dar, denn der Begriff der Last setzt stets ein Handeln voraus, dessen Fehlen Nachteile mit sich bringt. 33 Treffender wäre der Begriff des "Feststellungsrisikos".34 Aus diesem Charakter der Beweislast als einer nicht vom prozessualen Verhalten der Parteien abhängigen, materiellrechtlichen Risikoverteilung folgt, daß nicht nur die Verfahrensmaximen für die Verteilung der Beweislast ohne Bedeutung sind,35 sondern konsequenterweise auch die an andere prozessuale Gesichtspunkte wie das Verhalten im Prozeß, die Nähe zu den Beweismitteln, bessere Aufklärungsmöglichkeiten oder Beweisnot anknüpfenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien für die Determinierung der materiellen Risikozuweisung irrelevant sein müssen. Aus derartigen Problemen prozessualer Aufklärung können keine Folgerungen für den Inhalt der materiellen Risikozuweisung abgeleitet werden, wenn die Parteien die Risikozuweisung ohnehin nicht verhindern können, sondern nur das prozessuale non liquet. Ebenso wie der Gesetzgeber bei der Schaffung sonstigen materiellen Rechts inhaltlich nicht durch verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien (z.B. Art.

29 Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 20; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 355,463. 30

Prütting Gegenwartsprobleme, 1983, S. 86,206,264; ders, JA 1985,313 (317,319); ders., FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (269); vgl. hierzu bereits § 5 m. 1. 31

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 178; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 20 ff. 32

Prütting,Gegenwartsprobleme,!983,S. 86; ders., YS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (269).

33

Prütting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 95; ders., Gegenwartsprobleme, 1983, S. 30 f f , 34 f. 34

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 35.

35

Prütting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; ders., Gegenwartsprobleme, 1983, S. 20,259; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 208; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 41; Tietgen, Gutachten zum 46. DJT, 1966, Bd. I, S. 11.

11 Ittner

162

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

19IV GG, Waffengleichheit, faires Verfahren) determiniert ist, weil diese Garantien allenfalls verfahrensbezogene Ausprägungen der Grundrechte sind, selbst jedoch keine zusätzlichen materiell-inhaltlichen Interessenbewertungen enthalten, kann er es bei der materiellrechtlichen Risikozuweisung sein. Vorgezeichneter Darlegungs-, Beweis- oder Ermittlungsnot muß der Gesetzgeber durch die geeignete Gestaltung eines optimale Aufklärung versprechenden Sachverhalts-Aufklärungsmodells oder durch besondere Verfahrensnormen Rechnung tragen. Müßte der Gesetzgeber bei der inhaltlichen Verteilung der Beweislast prozessuale Aufklärungsschwierigkeiten berücksichtigen, so wäre kein Raum mehr für diejenigen materiellen Gerechtigkeitserwägungen, die gerade das Wesen der Beweislast ausmachen. Wie sollte eine Kollision zu lösen sein, wenn z.B. Grundrechte eine bestimmte Beweislastverteilung gebieten, sich aber typische Aufklärungsnot abzeichnet? Dies bedeutet freilich nicht, daß der Gesetzgeber prozessuale Gesichtspunkte nicht aufgrund freier Entscheidung zum Sachgrund der Risikozuweisung machen könnte, soweit materiellrechtliche Determinanten ihm einen entsprechenden Freiraum belassen.36 Akzeptiert man, daß materiellrechtliche Beweislastnormen auf einer Stufe mit dem materiellen Recht stehen, so müssen fur ihren Inhalt dieselben verfassungsrechtlichen Determinanten gelten wie fur den Inhalt anderer materiellrechtlicher Regelungen. Aus dieser Gleichbehandlung mit sonstigem materiellen Recht folgt, daß es eine "sedes materiae der Beweislast" in einer einzelnen Verfassungsnorm ebensowenig geben kann wie eine "sedes materiae des materiellen Rechts". Damit ist keineswegs gesagt, daß prozessuale Gesichtspunkte wie Aufklärungsschwierigkeiten verfassungsrechtlich nicht zu berücksichtigen wären. Die hieran anknüpfenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien determinieren die Gestaltung der Sachverhalts-Aufklärung. Sie müssen dort vom Gesetzgeber (abstraktgenerell) oder (im Einzelfall) durch den Richter berücksichtigt werden. 37 Als Ergebnis dieser thesenartigen Ansatzbildung, welche in § 6 III zu vertiefen sein wird, ist festzuhalten, daß erhebliche Zweifel an einer inhaltlichen Determinierung der materiellen Beweislast durch verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien (z.B. Art. 19 IV GG, Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens) bestehen. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die materielle Beweislastverteilung sind von den Anforderungen an die Gestaltung der prozessualen Aufklärungsverantwortung zu trennen.

36

In diesem Sinne Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 224,212 f.

37

Vgl. hierzu näher § 6 Π. 1. a), § 7 Π. 2. und § 8 Π. 2.

Π. Rechtspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

163

2. Der Gang der Untersuchung in § 6

Nach einem Blick auf Rechtsprechung und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast (II.) soll zunächst der vorstehend aus dem Wesen der Beweislast entwickelte Ansatz gerechtfertigt und vertieft werden, wobei auch zu untersuchen sein wird, ob sich den für das Fehlen ausdrücklicher Beweislastnormen entwickelten Beweislasttheorien Denkanstöße für die verfassungsrechtliche Determinierung des Gesetzgebers entnehmen lassen (III.). Abschließend ist die Vereinbarkeit der Vermutungen des GWB mit einzelnen Verfassungsnormen und Verfassungsprinzipien zu erörtern, wobei der Schwerpunkt auf der Prüfung der Vereinbarkeit mit den Freiheitsgrundrechten der betroffenen Unternehmen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz liegt (IV.).

II· Rechtsprechung und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast 1. Rechtsprechung

Der Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislastverteilung wird die Materien a) Arzthaftung, b) Wehrdienstverweigerung, c) Versammlungsrecht, d) Prüfungsrecht und e) Streit um Personenidentität streifen, bevor unter f) ein Zwischenergebnis festgehalten wird. Zu a): Keine Untersuchung zum Thema "verfassungsrechtliche Anforderungen an die Beweislastverteilung" kommt an dem vielbeachteten Beschluß des BVerfG zu Verfassungsfragen im Arzthaftungsprozeß 38 vorbei. Aber auch keine andere Grundsatzentscheidung zum Recht der Beweislast wird derart kontrovers als Beleg für die jeweils vertretene wissenschaftliche Aussage herangezogen.39 Der Beschwerdeführer, der nach einer operativen Entfernung eines Tumors einen Arm nur noch eingeschränkt bewegen konnte, war in den Instanzen mit seinen Ansprüchen gegen Arzt und Krankenhaus gescheitert, weil er nicht beweisen konnte, daß sein Schaden auf einem Kunstfehler beruhte. Mit seiner Verfassungsbeschwer38 39

BVerfGE 52,131 vom 25.7.1979.

Vgl. nur die Würdigungen bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 456 ff. und Peschau, Beweislast, 1983, S. 99 ff.

1

164

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

de rügte er unter anderem eine Verletzung des Art. 3 I GG sowie des Rechtsstaatsprinzips mit der Begründung, angesichts des Vorliegens der "typischen" Bedingungen (Indikation) eines Kunstfehlers hätte das Oberlandesgericht dem Arzt die Beweislast fur den atypischen Umstand auferlegen müssen, daß die Schadensfolge auch bei sachgerechtem Vorgehen des Arztes entstanden sein könne.40 Das Β VerfG konnte eine verfassungswidrige "Handhabung des Beweisrechts" durch das Oberlandesgericht wegen Stimmengleichheit nicht feststellen. aa) Diejenigen Richter, deren Meinung die Entscheidung nicht trug, bejahten einen Verstoß des OLG gegen Art. 3 I GG sowie gegen Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip. Grundsätzliche Waffengleichheit im Prozeß und die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang seien verfassungsrechtlich gebotene Erfordernisse des Gleichheitssatzes wie auch des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip enthalte eine materielle Komponente, die auf Erlangung und Erhaltung materieller Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflußbaren Bereich ziele, so daß der Richter auch im Zivilverfahren durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung den materiellen Inhalten der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, Geltung verschaffen müsse. Im Rahmen dieser Verpflichtung habe er für ein gehöriges, faires Verfahren Sorge zu tragen, wozu auch eine grundsätzlich faire Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln gehöre, die als Entscheidungsnormen im Schnittpunkt von sachlichem und Verfahrensrecht stünden.41 Im Arzthaftungsprozeß sehe sich der Patient wegen der tatsächlichen Gegebenheiten einer Heilbehandlung üblicherweise erheblichen Schwierigkeiten in seiner Beweisführung ausgesetzt, so daß es verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, die Beweislast generell einer Seite aufzubürden, die von der typischen Art der Fallkonstellation her regelmäßig nicht in der Lage sein könne, den erforderlichen Beweis zu erbringen. Diese im Hinblick auf die Beweisführungsmöglichkeiten typische Situation der Parteien im Arzthaftungsprozeß habe die Rechtsprechung im Bereich des haftungsbegründenden Ursachenzusammenhangs durch "Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr" auszugleichen versucht und damit "in beweisrechtlicher Hinsicht" ein faires Verfahren, eine gerechte Interessenabwägung ermöglicht. 42 Die Gerichte hätten sich im jeweiligen Einzelfall die typische beweisrechtliche Stellung der Parteien bewußt zu machen und im konkreten Fall für eine faire, zumutbare Handhabung des Beweisrechts Sorge zu tragen. "Dies will nicht besagen, daß Beweislastnormen nicht generell im voraus bestimmt, sondern in jeder Prozeßlage erst neu zu erstellen wären; wohl aber bedeutet es, daß auch die

40

BVerfGE 52,131 (141).

41

BVerfGE 52,131 (144 f.).

42

BVerfG a.a.O., S. 146 unter Bezugnahme auf RGZ 171, 168 (171) und BGH NJW 1959,1583 (1584).

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

165

Auswirkungen beweisrechtlicher Teilerkenntnisse (...) auf die Gesamtentscheidung zu berücksichtigen sind; es muß von Mal zu Mal geprüft werden, ob dem Patienten "nach alledem die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf (BGH, NJW 1971, S.241)." 43

Diese Verpflichtung ergebe sich unmittelbar aus dem Erfordernis eines gehörigen, fairen Verfahrens, insbesondere aus dem Gebot der Waffengleichheit im Prozeß und dem Erfordernis der Rechtsanwendungsgleichheit.44 Das Oberlandesgericht habe diese verfassungsrechtliche Verpflichtung nicht hinreichend berücksichtigt, als es den dem Patienten obliegenden Nachweis, sein Schaden beruhe auf einem Kunstfehler, so lange als nicht geführt angesehen habe, als - auch nur bei Annahme ungewöhnlicher Umstände - nicht auszuschließen gewesen sei, daß der Schaden auch bei sachgerechtem Vorgehen eingetreten sein könne. Damit habe es vom Patienten etwas gefordert, das dieser grundsätzlich und typischerweise nicht zu leisten vermöge. Der Patient sei in der Regel imstande, den Nachweis zu führen, eine bestimmte Schadensfolge beruhe unter den typischen Bedingungen des betreffenden Eingriffs auf einem Kunstfehler. Der positive Nachweis, es hätten atypische Umstände vorgelegen, falle dem Arzt viel leichter. Das Oberlandesgericht habe jedoch nicht einmal ernsthafte Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Verlaufs gefordert. 45 Auch in Fällen mangelhafter Dokumentation des Arztes gehe die Rechtsprechung zunehmend dazu über, "Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr" vorzusehen, wenn dem Patienten die Beweisführung für einen Arztfehler angesichts eines vom Arzt verschuldeten Aufklärungshindernisses billigerweise nicht mehr zugemutet werden könne.46 Festzuhalten ist zu der vorstehenden, die Entscheidung nicht tragenden Meinung, daß erstens die Ausführungen auf die Pflicht des Richters bezogen sind, im konkreten Einzelfall für ein faires Verfahren Sorge zu tragen. Zweitens werden verfassungsrechtliche Anforderungen an eine faire Verfahrensgestaitxmg bei Beweisyw/zn/Hgsschwierigkeiten behandelt. Drittens wird nicht deutlich ausgesprochen, ob mit der vorgeschlagenen Therapie "Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr"47 nur die prozessuale (subjektive) Beweislast oder auch die materielle (objektive) Beweislast gemeint ist. Zwar gehen die abstrakte subjektive und objektive 43

BVerfG a.a.O., S. 147.

44

BVerfG a.a.O., S. 147.

45

BVerfG a.a.O., S. 147/148.

46

BVerfG a.a.O., S. 149 unter Bezugnahme auf BGH NJW 1978,2337.

47

Kritisch gegenüber dieser Formel Prütting, FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (261,265 f.): Es sei nicht möglich, eine rechtssatzmäßig geregelte Beweislastverteilung dadurch abzuändern, daß im konkreten Einzelfall ein bestimmtes tatsächliches Geschehen festgestellt werde. Kritisch femer ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 124: Die

166

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

Beweislast unter der Verhandlungsmaxime Hand in Hand48 und auch die Wortwahl der Gründe erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, es gehe um die Umkehr der abstrakten Beweislast. Jedoch ist angesichts des Umstandes, daß die Rechtsprechung oftmals von "Beweislastumkehr" spricht, wenn sie in der Sache nicht die abstrakte (subjektive und objektive) Beweislast, sondern die konkrete Beweisführungslast meint,49 welche von der abstrakten Beweislast abweichen kann,50 ein genaueres Hinsehen erforderlich. Wenn die dissentierende Meinung ausführt, der Richter müsse im jeweiligen Einzelfall prüfen, ob dem Patienten die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden dürfe und er müsse als Ausdruck fairer Verfahrensgestaltung das Beweisrecht konkret fair handhaben, so geht es in der Sache nicht um die abstrakte Beweislast, sondern darum, daß die Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens den Richter zu einer fairen Handhabung der konkreten Beweisführungslast 51 zwingen. Eine faire Verfahrensgestaltung im konkreten Einzelfall kann nur innerhalb des Kompetenzbereichs des Richters stattfinden. Berücksichtigt man, daß die abstrakte Beweislast im Gegensatz zur prozessualen konkreten Beweisführungslast als Bestandteil des materiellen Rechts rechtssatzmäßig festgelegt und damit vom Einzelprozeß unabhängig ist (reine Rechtsfrage) 52, so wäre ein richterliches Abweichen von der (durch Auslegung ermittelten) abstrakten Beweislastverteilung ein Abweichen vom materiellen Recht. Hierzu wäre der Richter nur im Rahmen einer zulässigen gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung "extra legem", aber "intra ius" legitimiert. 53 Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung orientiert sich an einem über Formel suggeriere eine Beliebigkeit des Richters bei der Auswahl und Anwendung der jeweiligen Beweiserleichterungen, die nicht existiere. 48

Vgl. nur Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 9.

49

Ebenso Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 22: Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 335k. 50

Vgl. nur Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 9.

51

Die konkrete Beweisfuhrungslast bestimmt, wer in der konkreten Prozeßsituation unabhängig von der abstrakten Beweilastverteilung zur Beweisführung aufgerufen ist (vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 7 f f ; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 98; Gottwald, Jura 1980, 225, 227). Sie ist eine Folgerung aus dem jeweiligen Stand der (vorläufigen) richterlichen Überzeugungsbildung: Der Richter baut seine Überzeugung auf normalen und üblichen Erfahrungstatsachen auf, so daß die konkrete Beweisführungslast denjenigen trifft, der sich darauf beruft, entgegen der vorläufigen richterlichen Überzeugung liege eine ungewöhnliche Abweichung vom Normalen vor, z.B. im Falle der Gegenbeweisführung beim Anscheinsbeweis (vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 9 f.). 52 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 8 f., 22; ders., FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (264 f.). 53

Vgl. zu den verschiedenen Methoden zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und zu

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

167

die ratio legis hinausgreifenden Rechtsgedanken; sie wird durch eine Übereinstimmung mit den allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung und der verfassungsgemäßen Werteordnung gerechtfertigt. 54 Beispiel einer methodisch legitimierten richterrechtlichen "Beweislastumkehr" "extra legem", aber "intra ius" 55 ist die Hühnerpest-Entscheidung56, in welcher der BGH analog §§ 836 ff. BGB dem Produzenten das Feststellungsrisiko fur sein Verschulden auferlegt hat. Er hat hier das materielle Recht (= die materielle Beweislast) in Anlehnung an einen übergreifenden Rechtsgedanken des materiellen Rechts (§§ 836 ff. BGB) fortgebildet. Demgegenüber mögen sich die von den dissentierenden Richtern als Grundlage für die richterliche Verpflichting zur fairen Handhabung des Beweisrechts herangezogenen verfassungsrechtlichen Verfahrens gar aniien des fairen Verfahrens und der Wafifengleichheit zwar als verfahrensbezogene Ausprägungen der Grundrechte darstellen. Sie enthalten aber allenfalls verfahrensbezogene Wertungen der Grundrechte, nicht dagegen eigenständige sachlich-inhaltliche Interessenwertungen betreffend das materielle Recht57 als mögliche Erkenntnisquellen einer Fortbildung des materiellen Rechts (= der materiellen Beweislast). Mangels eigenständiger materiell-inhaltlicher Substanz bilden sie keinen materiellrechtlichen Anknüpfungspunkt für eine Fortbildung der materiellen Beweislast. Da der Richter nicht legitimiert ist, das materielle Recht außerhalb der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu ändern 58, können die dissentierenden Richter nicht gemeint haben, die Gebote des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit geböten eine "faire Gestaltung der abstrakten Beweislast im jeweiligen Einzelfall". Nun wäre das Argument denkbar, die materiellen Inhalte der Verfassung selbst, insbesondere die Grundrechte, legitimierten im Wege gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung eine generelle, abstrakte Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes im Bereich der haftungsbegründenden Kausalität.59 In der Sache wird diese Lösung jedoch weder von den dissentierenden Verfassungsrichtern, noch von der Arzthaftungs-Rechtsprechung des BGH vertreten (dazu sogleich). Sie würde auch dem eigentlichen Problem, nämlich den Beweisführungsschwierigkeiten beider Parteien, den Voraussetzungen und Grenzen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung im einzelnen Prütting in FS der rechtswiss. Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln 1988, S. 305 (308,322 f.); Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 366 f f , 413 ff. 54

Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 414.

55

Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 414.

56

BGHZ 51,91 (104 ff.).

57

Vgl. bereits § 61. 1.; näher hierzu § 6 I V . 1. a).

58

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 23; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 132 ff. 59

Diesen Gedanken erörtert Prütting, FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (266).

168

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

nicht gerecht. Im Arztfehlerprozeß gibt es spezifische Beweisnöte auf beiden Seiten,60 für deren Behebung eine generelle Umkehr der abstrakten Beweislast ein viel zu grober und unflexibler Behelf wäre. 61 Die dissentierenden Verfassungsrichter haben eine abstrakte Beweislastumkehr für die haftungsausfüllende Kausalität auch nicht befürwortet. Wenn sie die Prüfung fordern, ob die regelmäßige Beweislastverteilung dem Patienten im konkreten Fall noch zugemutet werden darf und bemängeln, das OLG habe den dem Patienten obliegenden Beweis nicht schon mit dem Nachweis der Ursächlichkeit des Kunstfehlers für den Schaden unter den "typischen" Bedingungen als geführt angesehen, sondern auch den Nachweis des Fehlens atypischer Umstände verlangt, 62 so bemängeln sie nicht die grundsätzliche abstrakte Beweislast des Patienten, sondern die Nichtumkehr der konkreten Beweisführungslast nach Erfüllung der zumutbaren Beweisführung. Konsequenterweise haben sie für den Arzt auch keine Hauptbeweislast für das NichtVorliegen von Kausalität (Gegenteilsbeweis) gefordert, sondern nur eine Entlastung durch den Nachweis atypischer Umstände, was der Inhalt der konkreten (Gegen-) Beweisführungslast ist. Bei "Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr" im vorstehenden Sinne ist nie gemeint, daß sich das Gericht mit einem geringeren Grad an Überzeugung zufrieden geben dürfte, sondern, daß das Gericht fehlende konkrete Anhaltspunkte durch Erfahrungswerte ersetzen und hierauf seine volle Überzeugung stützen kann. Das Risiko der Unaufklärbarkeit hat die beweisbelastete Partei weiterhin zu tragen. Erleichtert werden lediglich die an die Beibringung von geeignetem Beweismaterial zu stellenden Anforderungen (Substantiierungs- und Beweisführungslast). 63 Auch die Rechtsprechung des BGH zur Beweisregelung im Arzthaftungsprozeß, auf welche die dissentierenden Verfassungsrichter Bezug nehmen, behandelt in der Sache den Wechsel der konkreten Beweisführungslast. Begeht der Arzt schuldhaft einen groben Behandlungsfehler, so kommt es wegen der generellen Beweisnot des Patienten zu einer "Beweislastumkehr", wenn der Fehler generell geeignet war, den eingetretenen Schaden herbeizuführen und sich das durch die Berufspflicht zu mindernde Risiko im Schaden typischerweise verwirklicht hat.64 Gemäß seiner abstrak-

60

Näher hierzu BGH NJW 1978, 1681 (1682).

61

In diesem Sinne Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 109; weitere Bedenken bei Prütting FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (266). 62

BVerfGE 52,131 (148).

63

Anders/Gehle,

64

Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 335k.

BGH NJW 1959, 1583 (1584); 1970, 1230 (1231); NJW 1978, 1683 f.; NJW 1978, 2337 (2338); 1981, 2513; BGHZ 85, 212 (216 f.); BGH NJW 1988, 1511 (1513); Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 335g.

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

169

ten Beweislast muß der Patient all dies - insbesondere den groben Behandlungsfehler - zunächst darlegen und beweisen,65 damit sich das Spektrum der denkbaren Schadensursachen so weit zur Ursächlichkeit des Kunstfehlers hin verschiebt, daß eine vorläufige Überzeugung des Richters von der Kausalität angenommen werden kann.66 Vom Arzt wird dann verlangt, daß er sich mit gewisser Wahrscheinlichkeit "entlastet".67 Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß hier nur eine Art Gegenbeweis geführt werden muß, denn der Arzt wird nicht aufgrund eines non liquet, sondern wegen Vorliegens der Kausalität verurteilt, wenn er sich nicht entlasten kann.68 Entsprechendes gilt auch für die Dokumentationspflicht, die dem Arzt gegenüber dem Patienten obliegt, damit dieser nicht bei dem ihm anlastenden Beweis des ärztlichen Behandlungsfehlers in Not gerät. 69 Zu den beweisrechtlichen Konsequenzen fehlender Dokumentation (Wechsel der konkreten Beweisführungslast) führt der BGH aus: "Allerdings darfauch hier nicht nach einer starren Regel Beweislastumkehr angenommen werden, vielmehr sind Beweiserleichterungen, die bis zur Umkehr gehen können, immer dann und insoweit geboten, als nach tatrichterlichem Ermessen dem Patienten die (volle) Beweislast für einen Arztfehler angesichts der vom Arzt verschuldeten Aufklärungshindernisse billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann." 70

Das Fehlen der Dokumentation wird als Indiz dafür angesehen, daß die entsprechenden Behandlungsmängel vorliegen, 71 so daß sich eine vorläufige richterliche Überzeugung vom Vorliegen eines Behandlungsfehlers bilden kann.72

65

Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 335g. Dies wird besonders deutlich in BGHZ 85, 212 (217): Der BGH grenzt den vom Patienten zu beweisenden Vortrag für den Ursachenzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehler und dem Schaden graduell vom Anscheinsbeweis ab. Vgl. auch BHG NJW 1978, 2337 (2338): Ein grober Behandlungsfehler sei nicht Voraussetzung für die Haftung des Arztes, könne aber in geeigneten Fällen zu Beweiserleichterungen fur den Patienten bis zur Umkehr der Beweislast dafür führen, daß der beim Patienten eingetretene Schaden auf dem Fehler ursächlich beruhe. 66

Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz. 335g.

67

Vgl. etwa BGHZ 85,212 (220); BGH NJW 1959,1583 (1584).

68

So allgemein zur Unterscheidung von abstrakter Beweislast und konkreter Beweisführungslast Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 13. 69

BGH NJW 1978, 2337 (2339); Anders/Gehle, 335g.

Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rz.

70

BGH NJW 1978,2337 (2339); nachfolgend BGH NJW 1984,1403; NJW 1986,2365 (2366); NJW 1989,2331. 71 72

BGHZ 85,212 (220); BGH NJW 1989,2330. In diesem Sinne auch Prütting, FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (266): In den Ver-

170

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

Nach Auffassung der dissentierenden Verfassungsrichter muß der Richter also durch eine faire Handhabung der konkreten Beweisführungslast den materiellen Inhalten der Verfassung Geltung verschaffen. Dieser Einfluß des materiellen Rechts auf den Wechsel der konkreten Beweisführungslast existiert übrigens auch im einfachen Recht. Wenn etwa für den Nachweis der Kausalität aus Gründen des materiellen Rechts geringere Anforderungen an das Maß der richterlichen Überzeugung gestellt werden, 73 so führt diese "Beweiserleichterung durch materiellrechtliche Beweismaßsenkung" zu einem vorzeitigen Wechsel der konkreten Beweisführungslast. 74 Entsprechendes gilt für die Fälle der Beweisvereitelung, in denen analog §§ 427,444 ZPO eine vorzeitige Umkehr der konkreten Beweisführungslast stattfindet. 75 Spezielle Folgerungen für die abstrakte Beweislast leiten die dissentierenden Verfassungsrichter aus den Verfassungsgeboten eines faires Verfahrens und der Waffengleichheit nicht her, so daß ihre Ausführungen für die verfassungsrechtliche Determinierung der materiellen Beweislast unergiebig sind. Sie sind ergiebig für die verfassungsrechtliche Determinierung der Gestaltung der Sachverhalts-Aufklärung, welche in § 7 zu behandeln ist. bb) Diejenigen Richter, deren Meinung die Entscheidung trug, verneinten einen Verfassungsverstoß durch das Urteil des Oberlandesgerichts. Waffengleichheit als Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes sei im Zivilprozeß zu verstehen als die verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor 76 dem Richter, der den Prozeßparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen habe, alles für die Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Ihr entspreche die Pflicht des Richters, diese Gleichstellung der Parteien durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, durch unparteiische Rechtsanwendung und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozeßbeteiligten zu eitelungsfällen könne der Richter die streitige Behauptung im Rahmen der Beweiswürdigung analog §§ 427,444 ZPO als bewiesen ansehen bzw. annehmen. 73

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 108 f. m.w.N.

74

In diesen Fällen liegt keine Umkehr der objektiven Beweislast vor, sondern eine "Umkehr" der konkreten Beweisführungslast, vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 12 f. 75 In diesem Sinne Prütting Gegenwartsprobleme, 1983, S. 188, 13; ders., FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (266). 76

Hervorhebung im Beschluß.

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

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wahren. Darüber hinaus ließen sich aus der prozessualen Waffengleichheit fur das zivilprozessuale Erkenntnisverfahren mit seiner von der jeweiligen Beweislage und den geltenden Beweisregeln abhängigen Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang keine verfassungsrechtlichen Folgerungen herleiten. 77 Ob das Oberlandesgericht die Voraussetzungen für die in der Rechtsprechung anerkannten Beweiserleichterungen unzutreffenderweise nicht festgestellt habe, sei im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur dann relevant, wenn die Entscheidung insoweit von sachfremden Erwägungen getragen werde und in keiner Weise nachvollziehbar, also willkürlich sei (Art. 3 I GG). 78 Die Gründe, mit denen das OLG die Möglichkeit einer Beweislastumkehr oder sonstiger Beweiserleichterungen verneint habe, seien jedoch zumindest vertretbar. 79 Festzuhalten ist, daß auch diese Verfassungsrichter sich nur mit der Frage beschäftigt haben, inwieweit die Verfassung den Richter bei Beweisführungsschwierigkeiten im konkreten Einzelfall zur "Gewährung der in der Rechtsprechung anerkannten Beweiserleichterungen" zwingt. Die abweichende Auffassung von der Reichweite des prozessualen Waffengleichheitsgebots ändert nichts daran, daß ihre Ausführungen für die inhaltliche Determinierung der materiellen Beweislast nichts hergeben. Zu b): Von grundlegender, richtungsweisender Bedeutung für die verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast-Normgebung ist dagegen die Rechtsprechung des Β VerfG zu der Frage, ob der Kriegsdienstverweigerer die Beweislast für das Vorliegen einer durch Art. 4 ΙΠ 1 GG geschützten Gewissensentscheidung trägt. Der Gesetzgeber hat diesen Fall in § 141KDVNG dahingehend geregelt, daß der Ausschuß auf Nichtberechtigung zur Kriegsdienstverweigerung entscheidet, wenn er nicht die hinreichend sichere Überzeugung gewinnen kann, daß die Verweigerung auf einer durch Art. 4 III 1 GG geschützten Gewissensentscheidung beruht. Diese Beweislastregelung zu Lasten des Kriegsdienstverweigerers war im Rahmen des 1985 gegen zahlreiche Vorschriften des KDVNG durchgeführten Normenkontrollverfahrens mit der Begründung angegriffen worden, sie verletze das Übermaßverbot.80 Das Β VerfG führte unter Bezugnahme auf BVerfGE 48, 127 aus, die Regelung verstoße nicht gegen Art. 4 III GG, da der Ersatzdienst vom Grundgesetz nicht als alternative Form der Erfüllung der Wehrpflicht gedacht sei.81

77

BVerfGE 52,131 (156 f.).

78

BVerfGE 52,131 (158).

79

BVerfGE 52,131 (162 f.).

80

BVerfGE 69,1 (14).

81

BVerfGE 69,1 (51).

172

§ 6 Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

In BVerfGE 48, 127 hatte das Gericht die Regelung des § 25a I WPflG, nach der Wehrpflichtige Zivildienst anstelle des Wehrdienstes leisten konnten, wenn sie schriftlich erklärten, daß sie aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigerten, mit folgender Begründung fur verfassungswidrig erklärt: Mit den Art. 12a, 73 Nr. 1, 87a I 1 und 115b GG habe der Verfassungsgeber eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung getroffen. 82 Das Grundgesetz (Art. 12a I GG) gebe für das Verhältnis von Wehrdienst und Ersatzdienst als einzige Dienstpflicht die Pflicht zum Dienst in den Streitkräften vor. Der Ersatzdienst trete nur an die Stelle des rechtmäßig verweigerten Wehrdienstes, denn er erfahre seine innere Rechtfertigung allein daraus, daß nach Art. 12a II GG der Wehrdienst nur aus Gründen des Art. 4 III GG verweigert werden dürfe (keine Alternativpflicht). 83 Der systematische Aufbau, der Zweck und die Entstehungsgeschichte des Art. 12a GG unterstrichen dies.84 Hieraus folge, daß die Wehrgerechtigkeit (Art. 3 I i.V.m. Art. 4 III, 12a I und II GG) es verbiete, in den Zivildienst andere als solche Wehrpflichtige einzuberufen, die nach Art. 12a i.V.m. 4 III GG den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern dürften. 85 Sie fordere von jeder gesetzlichen Regelung nach Art. 12a II i.V.m. 4 III 2 GG, dafür Sorge zu tragen, daß nur solche Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt würden, bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden könne, daß in ihrer Person die Voraussetzungen des Art. 4 III GG erfüllt seien.86 Je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den Einzelnen eine Gemeinschaftspflicht sei, mit der eine Gewissensentscheidung in Konflikt gerate, um so weniger könne der Staat darauf verzichten, im Rahmen des Möglichen die Gewissensposition festzustellen. Daraus folge, daß die Wehrgerechtigkeit es nicht zulasse, daß im Zweifel die bloße Erklärung die Freistellung vom Wehrdienst bewirke. 87 Nach dieser Rechtsprechung läßt sich als Erkenntnis für die verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast-Normgebung festhalten, daß sich durch Auslegung und Abwägung einzelner kollidierender Verfassungsgüter eine bestimmte materielle Verfassungswertung für die zu regelnde non liquet-Situation ergeben kann, die der Gesetzgeber bei der Beweislast-Normgebung zu beachten hat. Nach Art. 20 III GG darf die Beweislastnorm ebensowenig gegen die Wertungen des materiellen Verfassungsrechts verstoßen, wie es sonstige Normen des einfachen Rechts dürfen. Das Verfassungsrecht kann für eine bestimmte Fallkonstellation eine eindeutige ma82

BVerfGE 48,127 (159); 69,1 (21).

83

BVerfGE 48,127 (165); 69,1 (23 f , 51).

84

BVerfGE 48,127(165).

85

BVerfGE 48,127(166).

86

BVerfGE 48,127 (168); 69,1 (21,24).

87

BVerfGE 48,127 (168 f.).

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

173

terielle Wertung enthalten, nach der nur eine bestimmte Risikozuweisung rechtmäßig sein kann. Materielle Wertungen, die sich durch Auslegung und Abwägung mehrerer Verfassungsgewährleistungen ergeben, können in der materiellrechtlichen Vorgabe eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses bestehen (Wehrdienst als Regel, Zivildienst als Ausnahme), aber auch in einer materiellrechtlichen Gewichtung kollidierender Verfassungsinhalte (Überwiegen des Wehrdienstes als bedeutsame Gemeinschaflspflicht, auf deren Erfüllung nur bei Feststellung der geschützten Gewissensposition verzichtet werden darf). Diese Erkenntnis darf nicht dahingehend falsch verstanden werden, daß das materielle Verfassungsrecht generell eine starre Beweislastverteilungsregel nach dem Regel-Ausnahme-Schema oder nach dem Gewicht der kollidierenden Rechtsgüter vorgeben würde. Wie noch näher zu zeigen sein wird, stellt das materielle Verfassungsrecht keine griffige, unflexible Beweislastverteilungsregel nach einem bestimmten Prinzip auf. 88 Der Gesetzgeber ist vielmehr grundsätzlichfrei, muß aber stets - ggfs. durch Auslegung - dem grundgesetzlichen Wertesystem entnehmen, ob das materielle Verfassungsrecht für die zu regelnde Konstellation eine bestimmte Risikowertung vorgibt. Der Gesetzgeber muß die materiellen Verfassungswertungen (Regel/Ausnahme, materiellrechtliche Gewichtung kollidierender Verfassungsgarantien, herausragendes Gewicht einer Verfassungsgewährleistung etc.) freilegen - z.B. das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Wehr- und Zivildienst durch systematische, teleologische und historische Auslegung des Art. 12a GG - und prüfen, ob die so ermittelte Verfassungswertung das gesetzgeberische Ermessen einschränkt. Ergänzend sind zwei selbstverständliche Punkte hinzuzufügen. Zum ersten muß es dort bei der Freiheit des Gesetzgebers verbleiben, wo das materielle Verfassungsrecht keine Vorgaben für den Inhalt der Beweislast-Normgebung enthält.89 Zum zweiten kann sich insbesondere aus den Grundrechten in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die zu regelnde non liquet-Konstellation eine bestimmte materielle Verfassungswertung ergeben, gegen die die Beweislastnorm nicht verstoßen darf. Dabei erfüllt die grundrechtliche Schrankensystematik die Funktion, die Inhalte der grundrechtlichen Schutzbereiche, der Grundrechtsschranken und der Schranken-Schranken - insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes - zum Zwecke einer materiellen Gesamtwertung für die non liquet-Konstellation miteinander zu harmonisieren. Zu prüfen ist in derartigen Fällen, ob die in

88

Näher § 6 IV. 3. a). In diesem Sinne auch Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 249.

89

Ebenso Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 220 f.: Die Grundrechte, das Verhältnismäßigkeitsgebot und die übrigen Verfassungsrechtssätze zeigten dem Gesetzgeber Ziele und Grenzen auf, die auch bei der Regelung der Beweislastfrage nicht übersehen werden dürften. Im übrigen lasse die "Ermessensfreiheit" des Gesetzgebers alle sachlich vertretbaren Inhalte der Beweislastregeln zu.

174

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

grundrechtlich geschützte Bereiche eingreifende Beweislastnorm durch die Grundrechtsschranken und die Schranken-Schranken - insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - gedeckt ist. Dies ist exakt die Prüfung, welche das Kammergericht zur Beantwortung der Frage vorgenommen hat, ob die Beweislastnorm des § 23 a I Nr. 1 a GWB mit dem Grundgesetz, speziell dem Grundrecht der unternehmerischen Wirtschaftsfreiheit (Art. 2 I GG) vereinbar ist. 90 Sie wird in § 6 IV 4 hinsichtlich aller Vermutungen des GWB anzustellen sein. Das BVerfG hatte diese Schrankenprüfung in den Kriegsdienstverweigerungsurteilen nicht vorzunehmen, weil es um die Beweislast für die vorgelagerte Frage ging, ob der Schutzbereich des Art. 4 III GG überhaupt tangiert ist - im übrigen unterliegt die Gewährleistung des Art. 4 III GG keinem Gesetzesvorbehalt91 -. Die Frage, wer die Beweislast dafür trägt, daß der Wehrpflichtige dem Schutzbereich des Art. 4 III 1 GG unterfällt, sah das BVerfG durch das grundgesetzliche Wertsystem der Art. 3 I, 4 III, 12a I, II, 73 Nr. 1, 87a 11 und 115b GG als bindend vorgegeben an.92. Zu c): Folgerungen für die Determinierung der Beweislast durch Grundrechte lassen sich aus dem Brokdorf-Beschluß des BVerfG 93 aus dem Jahre 1985 ableiten. Nach § 15 I VersG, der Ausdruck des Gesetzesvorbehalts in Art. 8 II GG ist, kann die Behörde die Versammlung verbieten oder von Auflagen abhängig machen, wenn nach den bei Verfügungserlaß erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Erforderlich ist eine konkrete Gefahrenprognose. 94 Da auch bei (Gefahren-)Prognosen ein non liquet denkbar ist,95 stellt sich die Frage, wer die objektive Beweislast trägt, wenn der Rechtsanwender keine Überzeugung gewinnen kann, ob bei der Versammlung die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet sein wird. Das BVerfG führt aus, unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit 96 dürfe die Behörde insbesondere beim Erlaß eines vorbeugenden Verbotes keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen, zumal ihr bei irriger Einschätzung noch die Möglichkeit einer späteren Auflösung 90 KG WuW/E OLG 2862 (2867 f.) "Rewe/Florimex". Der Inhalt des Urteils ist in § 4 Π. wiedergegeben. 91 BVerfGE 48,127 (163): Durch Regelungen nach Art. 4 m 2 GG darf der Gesetzgeber das Grundrecht nicht in seinem sachlichen Gehalt einschränken, sondern nur die in den Begriffen des Art. 4 ΠΙ 1 GG selbst schon enthaltenen Grenzen offenlegen. 92

Vgl. insoweit BVerfGE 48,127 (159 f , 165 f , 168 f.); 69,1 (21 f , 24, 51).

93

BVerfGE 69,315.

94

BVerfGE 69,315 (353).

95

Vgl. hierzu ausführlich § 5 Π. 2.

96

Die herausragende Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit betont das BVerfG aaO. auf S. 344-347.

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

175

verbleibe.97 Die Behörden seien verpflichtet, nach dem Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und bewährte Erfahrungen mit der friedlichen Durchführung von Demonstrationen auch tatsächlich zu erproben, was das mildere Mittel gegenüber einem Verbot sei.98 Statt eines vorbeugenden Verbots sei bevorzugt eine nachträgliche Auflösung zu erwägen. 99 Obwohl das Β VerfG hier die Frage der Beweislast nicht ausdrücklich angesprochen hat ist zwischen den Zeilen deutlich "im Zweifel das mildere Mittel" ("in dubio pro conventu") zu lesen. Dieses Ergebnis, daß die Behörde die Beweislast für die Voraussetzungen der belastenderen Maßnahme trägt, leitet das Gericht aus der herausragenden Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit ab ("eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt" 100). Wie schon bei Art. 4 ΙΠ GG ist es auch hier das materielle Verfassungsrecht, welches für eine spezielle non liquet-Konstellation eine eindeutige Wertung vorgeben kann. Zu d): Verfassungsrechtliche Bezüge weist auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Beweislastfragen im Prüfungsrecht 101 auf. aa) 1984 hatte das BVerwG die Frage zu entscheiden, ob der Prüfling die Beweislast dafür trägt, daß ein feststehender Bewertungsfehler des Prüfers für das Prüfungsergebnis ursächlich war. 102 Das BVerwG führte aus, nach dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) müsse dem Bürger ein substantieller Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zustehen.103 Von einer solchen könne keine Rede mehr sein, wenn die Nichtaufklärbarkeit der Ursächlichkeit des Fehlers für das Entscheidungsergebnis zu Lasten des Prüflings gehe.104 Materielle Fehler beim Entscheidungsvorgang hätten wie bei Ermessensentscheidungen regelmäßig die Rechtswidrigkeit des Entscheidungsergebnisses zur Folge, da die Fehlerfreiheit der Entscheidungsfindung die Fehlerfreiheit des Entscheidungsergebnisses gewährleisten solle. Zwar zeige sich am Rechtsgedanken der §§ 46 VwVfG, 144 IV VwGO, daß die Rechtsordnung ausnahmsweise auch materielle Fehler ohne Sanktion lasse, wenn sie sich auf das Entscheidungsergebnis nicht 97

BVerfGE 69,315 (354).

98

BVerfGE 69,315 (355 f.).

99

BVerfGE 69,315 (362).

100

BVerfGE 69,315 (342 ff.).

101

BVerwGE 70,143 und 78,367.

102

BVerwGE 70,143.

103

BVerwGE 70,143 (148) unter Bezugnahme auf BVerfGE 53,115 (127 f.).

104

BVerwG a.a.O., S. 148 f., unter Bezugnahme auf die Meinung der dissentierenden Richter zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips für die Beweislastverteilung in BVerfGE 52,131 (144 f.).

176

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

ausgewirkt hätten. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis werde aber in sein Gegenteil verkehrt, wenn der Betroffene die Beweislast dafür tragen müsse, daß Fehler, die im Behördenbereich passiert seien und deren Auswirkungen er in der Regel gar nicht abschätzen könne, das Entscheidungsergebnis beeinflußt hätten.105 Den Erfolg der Klage davon abhängig zu machen, daß der Prüfling die Ursächlichkeit des Fehlers nachweise, hieße seinen Rechtsschutz in einer Weise einzuschränken, die mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar sei. 106 Diese Entscheidung des BVerwG läßt eine klare rechtliche Linie vermissen. Zunächst wird im Anschluß an BVerfGE 53, 115 aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes ein Anspruch des Prüflings auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle abgeleitet. Sodann wird unter Bezugnahme auf die Arzthaftungsentscheidung BVerfGE 52, 131 geäußert, im Falle einer materiellen Beweislast des Prüflings könne von einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle keine Rede mehr sein. Dies wird auf zweierlei Weise begründet: Die materiellrechtliche Begründung dafür, warum der Prüfling die materielle Beweislast nicht trägt, liefert das BVerwG zutreffenderweise ohne jeden Bezug zum Gebot effektiven Rechtsschutzes aus dem subkonstitutionellen Recht. Mit dem Rechtsgedanken der §§ 46 VwVfG, 144IV VwGO zeigt es im einfachen Recht eine materielle Regel/Ausnahme-Wertung auf, aus der sich die Beweislast ergibt. Sodann schwenkt das Gericht auf prozessuale Gesichtspunkte über. Der Fehler sei im Behördenbereich passiert und der Prüfling könne dessen Auswirkung in der Regel gar nicht abschätzen, so daß die Erfolgsabhängigkeit der Klage vom Nachweis des Prüflings dessen Rechtsschutz rechtsstaatswidrig einschränke. Warum keine effektive gerichtliche Kontrolle stattfinden soll, wenn der Prüfling materiellrechtlich das Risiko der Erfolglosigkeit aller prozessualen Überzeugungsbemühungen trägt, überzeugt indessen nicht. Abgesehen davon, daß der Prüfling unter der Untersuchungsmaxime weder durch Nachweis noch sonstwie aufklärerisch tätig werden muß, werden hier vom BVerwG aus prozessualen Gesichtspunkten (Aufklärungsmöglichkeiten) Folgerungen für den Inhalt des materiellen Rechts gezogen. Demgegenüber hatte das BVerfG im Arzthaftungsbeschluß zum Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle ausgeführt, der gerichtlichen Durchsetzung eines materiellen Anspruchs dürften nicht unangemessen hohe verfahrensv^xM\ch.t Hindernisse in den Weg gelegt werden. 107 Die materielle Beweislast verhindert jedoch keine verfahrensrechtlich effektive Kontrolle, da sie eine reine Rechtsfrage darstellt und überhaupt erst aktuell wird, wenn alle prozes-

105

BVerwG a.a.O., S. 147-149.

106

BVerwG a.a.O., S. 149.

107

BVerfGE 52,115 (127/128).

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen Determinierung

177

sualen Mittel ausgeschöpft sind. Auch der Hinweis des BVerwG auf die Meinung der dissentierenden Verfassungsrichter zum Einfluß des Rechtsstaatsprinzips auf die Beweislastverteilung 108 geht fehl, da diese aus dem Rechtsstaatsprinzip lediglich Folgerungen für die konkrete Beweisführungslast gezogen haben.109 Daß prozessuale Gesichtspunkte der Rechtsverfolgung und die materielle Beweislast in keinerlei Wirkungs- oder Abhängigkeitszusammenhang stehen, ist bereits angedeutet worden 110 und wird in § 6 III 1 noch zu vertiefen sein. bb) 1987 hatte derselbe Senat des BVerwG die Frage zu entscheiden, wer die Beweislast für das Vorliegen eines Prüfungsfehlers trägt, wenn nach der Klausurenkorrektur einzelne Klausurenblätter abhandenkommen, so daß sich durch die fehlenden Blätter keine möglichen Prüfungsmängel mehr aufdecken lassen.111 Das Gericht führte aus, von den "allgemeinen Regeln der Beweislastverteilung" (gemeint ist die Normbegünstigungsregel) seien insbesondere im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und das Gebot der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes Ausnahmen erforderlich. So sei - dem Rechtsgedanken des § 444 ZPO folgend - im Falle einer (hier nicht vorliegenden) Beweisvereitelung durch die Prüfungsbehörde eine dem Prüfling günstige Beweislastverteilung geboten.112 Demgegenüber reiche die beim Teilverlust der Prüfungsarbeit bestehende Möglichkeit eines Prüfungsfehlers nicht aus, um der Prüfungsbehörde die Beweislast für das NichtVorliegen eines Prüfungsfehlers zuzuschieben. Hiergegen spreche das Gewicht der beiderseitigen Interessen, die durch die Beweislastverteilung betroffen würden. Bei der Interessenge wichtung seien die Folgen zu berücksichtigen, die sich jeweils ergäben, wenn aufgrund der Beweislastverteilung von einer Lage auszugehen sei, die in Wirklichkeit nicht bestehe.113 Während bei realitätswidriger Entscheidung zugunsten des Prüflings der Grundsatz der Chancengleichheit stets verletzt sei, sei dieser bei realitätswidriger Entscheidung zu Lasten des Prüflings nur dann verletzt, wenn sich der Fehler auch auf das Prüfungsergebnis ausgewirkt habe. Ferner sei bei der Beweislastverteilung das Mißverhältnis der Folgen für die Verwaltungspraxis zu bedenken. Dem Anreiz für den Prüfling, sich durch die Entfernung eines Blattes bei der Einsichtnahme eine neue Prüfungschance zu verschaffen, könne die Prüfungsbehörde nur unter Aufbietung ganz erheblichen Aufwandes vorbeugen. 114 Der entscheidende, gegen eine Korrektur der Beweislast sprechende Gesichtspunkt sei, daß

108

BVerfGE 52,131 (144 f.).

109

Vgl. hierzu ausführlich § 6 Π. 1. a).

110

§61. 1.

111

BVerwGE 78,367.

112

BVerwGE 78,367 (370).

113

BVerwG a.a.O., S. 371.

114

BVerwG a.a.O., S. 372 f.

12 Ittner

178

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

die Rechtsposition des Prüflings nicht in einer das Gebot effektiven Rechtsschutzes einschränkenden Weise verletzt werde. Die gerichtliche Überprüfung der Gutachten bleibe möglich und werde durch die fehlenden Blätter nicht erheblich behindert. Die bloß denkgesetzliche Möglichkeit von Indizien für Prüfungsfehler auf den fehlenden Blättern gebiete eine Umkehr der Beweislast nicht. 115 Obwohl das BVerwG in dieser Entscheidung wiederum die Bedeutung des Gebotes effektiven Rechtsschutzes als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips für den Inhalt der materiellen Beweislast betont, hält das Gericht in der Sache erneut materiellrechtliche Wertungen für ausschlaggebend. Zwar wird für die Beweislastverteilung im Falle der Beweisvereitelung auf den prozessualen Rechtsgedanken des § 444 ZPO abgestellt.116 Jedoch wird im Falle fehlender Beweisvereitelung auf das Gewicht der widerstreitenden materiellen Interessen und die Folgen einer Fehlentscheidung für diese, insbesondere den Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 I GG), abgestellt. Soweit das BVerwG am Ende doch wieder das Gebot effektiven Rechtsschutzes als Beweislastdeterminante anspricht, wird nicht begründet, aufgrund welcher inneren Rechtfertigung das Gericht prozessualen Gesichtspunkten Einfluß auf den Inhalt des materiellen Rechts beimessen will. Die insoweit gegenüber BVerwGE 70, 143 erhobenen Bedenken117 gelten auch hier. Zu e): Erwägungen zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast im Zivilrecht hat schließlich der BGH 1970 im "Anastasia-Fall" angestellt.118 Der BGH erörterte die Frage, ob die Grundrechte auf Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit eine Abweichung von den "allgemeinen Beweislastregeln" zugunsten der Klägerin geboten, welche Ansprüche auf Erbschaftsbeträge geltend machte, jedoch ihre eigene Identität nicht beweisen konnte. Der BGH führte aus, die allgemeinen Beweislastregeln müßten nicht immer dann versagen, wenn es um die Identität einer Person gehe oder "ein Grundrecht im Spiele stehe". Die allgemeine Beweislastregel, daß jede Partei die Beweislast für alle Voraussetzungen einer von ihr in Anspruch genommenen Norm trage, entspreche rechtsstaatlicher Auffassung. Keinesfalls könne es zur Beseitigung oder Umkehr dieser Regeln genügen, wenn

115

BVerwG a.a.O., S. 373 f.

116

Eine Umkehr der abstrakten Beweislast in derartigen Fällen erscheint unzutreffend. Im Rahmen der Würdigung der Arzthaftungsentscheidung des BVerfG wurde unter a) bereits dargelegt, daß die abstrakte Beweislast als Bestandteil des materiellen Rechts stets rechtssatzmäßig festgelegt und damit vom Einzelprozeß unabhängig ist. Der prozessuale Gesichtspunkt der Beweisvereitelung ist vielmehr auch prozessual zu berücksichtigen, nämlich durch vorzeitige Umkehr der konkreten Beweisführungslast. In diesem Sinne auch Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 13, 188; ders, FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257 (266). 117

Vorstehend zu d) aa).

118

BGHZ 53,245.

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen D e t e r m i n i e r u n g 1 7 9

"ein Grundrecht im Spiele stehe". Auch für die Beklagte stünden grundgesetzlich geschützte Eigentums- und Erbrechte "im Spiele" und sie könne sich auf die Gleichheit aller vor dem Gesetz berufen. Jeder Beklagte könne sich durchweg dem Kläger gegenüber auf dieselbe These von der Umkehr der Beweislast beim Streit um Grundrechte berufen, so daß dann doch wieder die alte Regel gelten müsse.119 Zur Einordnung dieser Ausführungen des BGH bedarf es der Vergegenwärtigung, daß die "allgemeine Beweislastregel" sich als positivrechtliche Risikoverteilung durch den Gesetzgeber darstellt. Prütting hat überzeugend nachgewiesen, daß die Beweislast-Grundregel des § 193 des ersten Entwurfs zum BGB jedenfalls für das Zivil- und Arbeitsrecht als positives Gesetzesrecht angesehen werden muß, 120 von dem der Gesetzgeber durch (ebenfalls) positivrechtliche Regeln des materiellen Rechts abweichen kann, welche ggfs. erst durch Auslegung freigelegt werden müssen.121 Damit hatte der BGH in der Sache zu prüfen, ob die gesetzliche Risikoverteilung durch die allgemeine Beweislastregel in derartigen Fallgestaltungen mit den Weitungen des materiellen Verfassungsrechts im Einklang stand oder ob die materiellen Wertungen der kollidierenden Grundrechte eine abweichende Risikoverteilung in derartigen non-liquet-Situationen enthielten. Der BGH entschied, daß sich in derartigen Konstellationen aus den "im Spiele stehenden" kollidierenden Grundrechten keine materielle Wertung ergebe, gegen welche die Beweislastverteilung nach der allgemeinen Grundregel verstoße. Durch die Vornahme dieser Prüfung hat der BGH aber verdeutlicht, daß Beweislastnormen des Zivilrechts (ebenso wie sonstiges materielles Zivilrecht) durch vorrangige Verfassungswertungen determiniert sein können. f) Als Zwischenergebnis zur Sichtweise der Rechtsprechung ist nach alledem festzuhalten: Das Β VerfG geht davon aus, daß die Verfassung für bestimmte non liquet-Konstellationen eine eindeutige materiellrechtliche Wertung vorgeben kann, die der - grundsätzlich freie - Gesetzgeber dann bei der Beweislast-Normgebung zu beachten hat. Die materiellen Verfassungswertungen ergeben sich durch Auslegung und Kollisionslösung einzelner Verfassungsgewährleistungen. Diesem Grundansatz folgt auch der BGH. Demgegenüber erörtert das BVerfG die Bedeutung verfassungsrechtlicher VerfahrensgsrmhQTi, speziell der Gebote eines fairen Verfahrens und der Waffengleichheit, nur unter prozessualen Gesichtspunkten, insbesondere dem der konkreten Beweisführungslast. Hiervon weicht die Rechtsprechung des BVerwG zum Prüfungsrecht ab, soweit sie verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien, insbesondere dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG), Einfluß auf den Inhalt der materiellen Beweislast beimißt.

12*

119

BGHZ 53,245 (250 f.) "Anastasia".

120

Prutting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 278 ff.

121

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 282 ff.

180

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung 2. Schrifttum

Nähere Beachtung hat dem Problemkreis der verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast-Normgebung erst das jüngere verwaltungsrechtliche Schrifttum geschenkt (insbes. Peschau,122 Nagler, 123 Nierhaus 124). a) Eine erste Gruppe von Autoren stimmt im Ansatz mit der vorstehend aufgezeigten Linie des BVerfG überein. Berg 125 ist der Ansicht, der Gesetzgeber sei bei der Beweislastgestaltung in derselben Weise an die Verfassung gebunden wie bei der Gestaltung sonstiger Normen. Die Grundrechte, das Verhältnismäßigkeitsgebot und die übrigen Verfassungsrechtssätze zeigten Ziele und Grenzen auf, die auch bei der bloßen Regelung der Beweislastfrage nicht übersehen werden dürften. Im übrigen lasse die "Ermessensfreiheit" des Gesetzgebers alle sachlich vertretbaren Inhalte von Beweislastregeln zu. Allerdings verfolgt Berg diesen Ansatz nicht mit letzter Konsequenz, wenn er beispielsweise entgegen der Rechtsprechung des BVerfG zur Beweislast des Kriegsdienstverweigerers die Maßgeblichkeit des abstrakt größeren Gewichts eines der kollidierenden Verfassungsgüter und des Regel/Ausnahme-Verhältnisses von Wehrund Ersatzdienst für die Risikoverteilung leugnet und stattdessen einen Vergleich der möglichen Rechtsfolgen einer Fehlentscheidung und eine Verhältnismäßigkeitsentscheidung im jeweiligen Verfahren vorschlägt. 126 Zum einen verkennt Berg bei seiner Kritik, daß die abstrakt-materiellen Wertungen der Verfassung gerade im Hinblick auf die konkret in Rede stehende Rechtsgüterkonstellation freizulegen sind. Zum anderen stellt Berg durch die Folgenabwägung zwar eine Abwägung im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung her. Er verkennt jedoch, daß die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung die Freilegung und Kollisionslösung aller mit Verfassungsrang ausgestatteten Wertungen verlangt. Hierzu gehört nicht nur die Überlegung, welche der beiden potentiell ungerechten Entscheidungen für die geschützten Interessen schwerer wiegt, sondern auch die Rangbestimmung und Gewichtung der Verfassungsgüter auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Wertesystems. Auf der Linie des materiellrechtlichen Ansatzes des BVerfG liegt auch SchmidtAßmann,127 wenn er ausfuhrt, Art. 19 IV GG gebe für die Verteilung der objektiven Beweislast nichts her. Die Verfassung fülle die durch Art. 19 IV GG nicht besetzten 122

Beweislast, 1983, S. 82 ff.

123

Dogmatische Strukturen der Beweislast im öffentlichen Recht, 1989, S. 215-238.

124

Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 446 ff.

125

Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 220.

126

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 235 f.

Π. Rspr. und Schrifttum zur verfassungsrechtlichen D e t e r m i n i e r u n g 1 8 1

Bereiche durch die Aussagen der materiellen Grundrechte sowie des Art. 20 III GG auf und überlasse die Ausgestaltung im übrigen dem Gesetzgeber. bb) Eine zweite Gruppe von Autoren betont zwar ebenfalls die Maßgeblichkeit der materiellen Verfassungswertungen, mißt aber auch den verfassungsrechtlichen Veifahrensgarantien entscheidende Bedeutung fur den Inhalt der Risikozuweisung bei. Als konsequente Verfolgung des Ansatzes der materiellen Verfassungs(gesamt)wertung stellt es sich zunächst dar, wenn Nagler 128 ausführt, der Fülle verfassungsrechtlich zulässiger materiellrechtlicher Regelungen entspreche eine ebenso große Bandbreite beweislastrechtlicher Sonderregelungen. Der Gesetzgeber könne selbst im Bereich der Eingriffsverwaltung non liquet-Fälle zu Lasten des Bürgers regeln, soweit er sich nur innerhalb der allgemeinen Grundrechtsschranken halte.129 Allerdings wird Nagler dem Wesen der Beweislastnormen als materiellrechtlichen Regelungen nicht gerecht, wenn er auch dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Einfluß auf die inhaltliche Risikozuweisung beimißt. 130 Peschau131 ist der Ansicht, die Verfassungsordnung definiere das prinzipielle Verhältnis von Staat und Bürger dahin, daß die Freiheit als Regelfall und deren Beschränkung als Ausnahme anzusehen sei. Daraus folge aber nicht, daß die Behörde die Beweislast für sämtliche Voraussetzungen eines belastenden Aktes tragen müsse. Es reiche aus, wenn sie hinsichtlich des Regeltatbestandes belastet sei und Ausnahmen in das Aufklärungsrisiko des Bürgers gestellt würden. 132 Die Gebote des fairen Verfahrens und der Waflengleichheit forderten, daß die Risikozurechnung auf sachgerechten Kriterien beruhen und einen angemessenen Ausgleich kollidierender Interessen gewährleisten müsse. Daher dürfe auch unter der Geltung der Untersuchungsmaxime derjenigen Partei nicht die Beweislast auferlegt werden, die typischerweise nicht in der Lage sei, das Aufklärungsrisiko zu mindern. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes bestätige, daß bei belastenden Akten öffentlicher Gewalt die Beweislast der Verwaltung als Prinzip gewahrt sein müsse.133 Abgesehen davon, daß auch Peschau keine sachliche Begründung dafür anführt, warum die materiellrechtliche Risikozuweisung inhaltlich durch verfassungsrechtliche Verfahrensga127

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, Rzn. 227,218.

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 IV,

128

Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989.

129

Nagler, Dogmatische Strukturen, 1989, S. 217-225.

130

Nagler, Dogmatische Strukturen, 1989, S. 238. Näher zum Einfluß verfassungsrechtlicher Verfahrensgarantien auf den Inhalt der materiellen Beweislast § 6 ΠΙ. 1. 131

Die Beweislast im Verwaltungsrecht, 1983.

132

Peschau, Beweislast, 1983, S. 85-87,154.

133

Peschau, Beweislast, 1983, S. 104,154.

182

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

rantien determiniert sein soll 134 , verkennt er, daß die Verfassung mit ihrem System ausdrücklicher und immanenter Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken 135 ein wesentlich subtileres und differenzierteres System zur Kollisionslösung und Harmonisierung materieller Verfassungswertungen für eine bestimmte non liquetKonstellation zur Verfügung stellt, als nur ein grobes, unflexibles Regel/AusnahmeRaster. Letzteres kann den facettenreichen Rechtsgüter- und Interessenbewertungen der Verfassung gar nicht gerecht werden. Schließlich untersucht auch Nierhaus 136 die "verfassungsrechtliche Determinierung der Verteilung der materiellen Beweislast". Er betont zunächst den Einfluß der Grundrechte auf die Beweislastverteilung 137 sowie die Maßgeblichkeit des "verfassungsrechtlichen Rechtsgüter- und Interessengeflechts der jeweiligen Sachnorm". 138 Anschließend leitet er jedoch unter besonderer Berücksichtigung der dissentierenden Meinung im "Arzthaflungsbeschluß" aus einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot tatsächlich wirksamer gerichtlicher Kontrolle i.S.d. Art. 19 IV GG einen "ergänzenden Beweislastverteilungsgrundsatz des Fairneßund Waffengleichheitsgebots im Gewände des Sphärengedankens" (Sphärentheorie) ab.139 Die Beweislastentscheidung ergehe auf der Grundlage materiell-rechtlich vorgefundener oder abgeleiteter Beweislastnormen unter gleichzeitiger Berücksichtigung der strukturell oder falltypisch vorgegebenen Beweisbarkeit rechtserheblicher Sachumstände. Könnten Tatsachen nicht ermittelt werden, die nach dem Sphärengedanken im Verantwortungsbereich der Behörde lägen, so trage diese ungeachtet der allgemeinen Beweislastregeln das Risiko der Beweislosigkeit.140 Diese Beweislastverteilung nach dem "Fairneßgebot der größeren Beweisnähe" könne allerdings nur eine "Auffangfunktion im Sinne ergänzender Lückenfüllung" dort haben, wo das Aufklärungsrisiko nicht mit Aussagen des materiellen Rechts zur inhaltlichen Risikoverteilung bewältigt werden könne.141 Als einziger Autor hat Nierhaus die Problematik der Anerkennung prozessualer Gesichtspunkte als Determinanten des 134

Peschau leitet seine Ansicht zum Gebot des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit im wesentlichen aus dem "Arzthaftungsbeschluß" des BVerfG ab, welcher sich jedoch nur mit der Determinierung der konkreten Beweisführungslast beschäftigt (vgl. § 6 Π. 1. a)). Seine Auffassung zum Gebot des effektiven Rechtsschutzes begründet er nicht näher. Eingehend zum Einfluß der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien auf die materielle Beweislast § 6 ΠΙ. 1. 135

Vgl. hierzu bereits § 6 Π. 1. b).

136

Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 446-472.

137

Nierhaus aaO, S. 447 f.

138

Nierhaus aaO, S. 484.

139

Nierhaus aaO, S. 449 ff. (470 f.).

140

Nierhaus aaO, S. 466.

141

Nierhaus aaO,S.471.

ΠΙ. Eigener Ansatz

183

materiellen Rechts erkannt. So formuliert er selbst gegen die Maßgeblichkeit der Gebote des fairen Verfahrens und der Waffengleichheit für die Beweislastverteilung den Einwand, die Beweislastnormen seien im allgemeinen dem materiellen Recht zuzurechnen und schöpften ihre Verteilungsregeln aus diesem. Diesem Wesen entspreche nicht eine Zuordnung zum verfahrensrechtlichen Aspekt der Waffengleichheit. 142 Für Nierhaus ist dies aber nur ein scheinbarer Widerspruch. Nicht nur das materielle Recht habe Einfluß auf die Beweislastverteilung, sondern umgekehrt habe auch "das Beweisrecht" in Form der Sphärentheorie über die Beweislastverteilung Auswirkung auf die Verwirklichung des materiellen Rechts. Absolutes Trennungsdenken sei fehl am Platze. Obwohl der Sphärengedanke an die prozessuale Beweissituation (Beweisnähe, Beweisnot etc.) anknüpfe, weise er nicht jene verfahrensrechtliche Qualität auf wie das allgemeine Gebot fairen Prozedierens. Er strahle unmittelbar in das materielle Recht aus, das mittels "fairer" Anwendung der Beweislastregeln zu verwirklichen sei.143 Ob eine derartige Determinierung des Inhalts des materiellen Rechts (= der materiellen Beweislast) durch die prozessuale Beweisnähe zu überzeugen vermag, wird im Rahmen der nun folgenden Stellungnahme zu klären sein.

ΙΠ. Eigener Ansatz 1. Trennung der Determinanten für die Risikozuweisung von denen fur die Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung Oben144 wurde aus dem Charakter der Beweislast als einer von prozessualen Umständen unabhängigen materiell-rechtlichen Risikozuweisung gefolgert, für den Inhalt der Beweislast müßten dieselben verfassungsrechtlichen Determinanten gelten wie für den Inhalt "sonstiger" Regelungen des materiellen Rechts. Ebensowenig wie der Gesetzgeber bei der inhaltlichen Gestaltung sonstigen materiellen Rechts durch prozessuale Verfahrensgagantien determiniert sei, könne er es bei der materiellrechtlichen Risikozuweisung sein. Die an prozessuale Gesichtspunkte wie die Beweisnähe oder Schwierigkeiten bei der Aufklärung anknüpfenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien könnten nur die Gestaltung der Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung determinieren. a) Der erste Teil dieses Ansatzes, nämlich die Gleichbehandlung der Beweislastnormen mit sonstigem materiellen Recht, ist von der Rechtsprechung des Β VerfG 145 und der herrschenden Schrifttumsmeinung 146 bestätigt worden. Die Prüfung, ob eine

142

Nierhaus aaO., S. 461,463.

143

Nierhaus aaO., S. 468,471.

144

§61. 1.

184

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

Beweislastnorm gegen die Verfassung verstößt, vollzieht sich wie bei sonstigen Normen des materiellen Rechts durch Freilegung einer etwa vorhandenen Verfassungswertung hinsichtlich der zu regelnden non liquet-Konstellation, was im grundrechtsrelevanten Bereich durch die Prüfung von Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken geschieht. Die Freilegung einer materiellen Verfassungswertung für die non liquet-Konstellation durch Auslegung und Kollisionslösung materieller Verfassungswertungen weist übrigens eine unübersehbare Parallele zur Methode der richterlichen Ermittlung des Inhalts der materiellen Beweislast auf, wenn ausdrückliche Beweislastnormen fehlen. Insoweit setzt sich nämlich im jüngeren Schrifttum zunehmend die Tendenz durch, die Ermittlung der materiellen Beweislast schlicht als Frage der Auslegung des (einfachen und konstitutionellen) materiellen Rechts zu begreifen. 147 Ebenso wie der Richter beim Fehlen ausdrücklicher Beweislastnormen die Beweislast durch Auslegung des materiellen Rechts gewinnt, ermittelt der beweislastnormsetzende Gesetzgeber durch Auslegung des materiellen Verfassungsrechts, ob dieses für den non liquet-Fall eine verbindliche Wertung enthält. Diese Parallele wird unten (III. 2.) noch zu vertiefen sein. b) Sieht man einmal von Einzelproblemen bei der konsequenten Umsetzung des vorstehenden materiellrechtlichen Ansatzes ab, 148 so läßt sich heute als grundsätzliches, Rechtsprechung und Schrifttum jeweils intern in Lager aufspaltendes Problem die Frage herauskristallisieren, ob auch die an prozessuale Gesichtspunkte wie Beweisnähe oder Beweisnot anknüpfenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien bei der inhaltlichen Gestaltung der materiellen Beweislast berücksichtigt werden müssen. Den größten Schaden fur die diesbezügliche Diskussion hat zweifellos die in der Rechtsprechung des BVerwG zum Prüfungsrecht 149 und bei einigen Autoren 150 anzutreffende Auffassung angerichtet, der Arzthaftungsbeschluß des BVerfG 151 betreffe in der Sache die abstrakte, materielle Beweislast. Da die dissentierenden Verfassungsrichter vor allem auf die Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens abgestellt haben, ist fiir die vorgenannte Auffassung eine Begrün145

Vgl. insbesondere die Rechtsprechung zur Beweislast des Kriegsdienstverweigerers, § 6 Π. l.b). 146

Von den vorstehend in § 6 Π. 2. zitierten Autoren weicht nur Peschau vom Ansatz der Maßgeblichkeit des verfassungsrechtlichen Rechtsgüter- und Interessengeflechts der jeweiligen Sachnorm ab. 147

Hierzu näher § 6 m. 2.

148

Vgl. hierzu die bereits in § 6 Π. 2. geäußerte Kritik.

149

BVerwGE 70, 143 und 78,367 (besprochen in § 6 Π. 1. d)).

150

Nagler, Dogmatische Strukturen, 1989, S. 225 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 99 ff ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 456 ff. 151

BVerfGE 52,131 (besprochen in § 6 Π. l.a)).

ΠΙ. Eigener Ansatz

185

dungsnot entstanden, warum verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien den Inhalt des materiellen Rechts determinieren sollen. Da allein Nierhaus seine Ansicht von der Maßgeblichkeit der prozessualen Beweisnähe (Sphärengedanke) für den Inhalt der materiellen Beweislast näher begründet und die fehlende Beeinflussung des materiellen Rechts durch die prozessuale Beweissituation leugnet,152 wird seine Auffassung näher zu berücksichtigen sein. Nierhaus leitet seinen "ergänzenden Beweislastverteilungsgrundsatz des Fairneßund Waffengleichheitsgebots im Gewände des Sphärengedankens" aus einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot tatsächlich wirksamer gerichtlicher Kontrolle i.S.d. Art. 19 IV GG ab. 153 Soweit damit aus der Kombination verfahrensbezogener Verfassungsgewährleistungen eine inhaltliche Determinante des materiellen Rechts befürwortet sein sollte, vermag dieser Ansatz nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, daß die Meinung der dissentierenden Richter im Arzthaftungsbeschluß, auf die Nierhaus sich in diesem Zusammenhang bezieht,154 nach der hier vertretenen Auffassung die faire Verfahrensgestaltung im konkreten Einzelfall und damit die konkrete Beweisführungslast betrifft, 155 bleibt unklar, wie aus verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien inhaltlich-materielle Verfassungsaussagen entstehen sollen. Dabei wird keineswegs verkannt, daß das materielle Verfassungsrecht insbesondere durch die Grundrechte Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung setzt.156 So entwickelt das Β VerfG die Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip, sondern auch aus den Grundrechten. 157 Hier geht es jedoch um den umgekehrten Fall, daß aus den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien ihrerseits sachlich-inhaltliche Verfassungswertungen hergeleitet werden sollen. Art. 19IV GG sowie die Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens setzen die Existenz zu schützender materieller Rechte voraus, sie gewähren sie nicht. 158 Die verfahrensbezogenen Ausprägungen des materiellen Verfassungsrechts und die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien betreffen ausschließlich die VerfahUmgestaltung. Diese Verfahrensgarantien - auch die aus den Grundrechten entwikkelten - enthalten zwar die verfahrensbezogenen Wertungen des materiellen Rechts,

152

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 468,471.

153

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 449 ff. (470).

154

Nierhaus aaO., S. 452 (Fn. 483), 457/458,465.

155

Vgl. hierzu eingehend § 6 Π. 1. a). Die Aussage der dissentierenden Meinung, der Richter müsse das Beweisrecht, insbesondere die Beweislastregeln fair handhaben, wird dort als Aspekt fairer Verfahrensgestehung verstanden (BVerfGE 52,131,144 f.). 156 Vgl. nur BVerfGE 53,30 (65 f., 72 f.); 65,216 (236); 65,76 (94); 63,131 (143); 65, 1 (44,49); 69,315 (355). 157

Vgl. nur BVerfGE 53,30 (74).

158

So zu Ait. 19IVGG BVerfGE 15,275 (281); ebenso Peschau, Beweislast, 1983, S. 95.

186

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

dessen Ausprägung sie sind, sie enthalten jedoch keine eigenständigen sachlich-inhaltlichen Aussagen als mögliche Erkenntnisquellen und Determinanten des materiellen Rechts. Sollte Nierhaus demgegenüber auf nicht allein verfahrensbezogene, sachlichinhaltliche Verfassungswertungen abstellen wollen, die hinter dem Konstrukt des "Faimeßgebots der größeren Beweisnähe" stehen, so bedürfte es des Umwegs über die einbezogenen Verfahrensgarantien nicht, da sich der Inhalt der materiellen Risikozuweisung auch direkt durch Auslegung der diesbezüglichen materiellen Verfassungswertung freilegen ließe. Auch der Versuch von Nierhaus, den Sphärengedanken über seinen verfahrensspezifischen Inhalt hinaus als eine sachlich-inhaltliche Verfassungswertung zu etablieren, an der sich subkonstitutionelles Recht zu orientieren hätte, überzeugt nicht. Eine derartige auf den Inhalt des materiellen Rechts gerichtete Aussage läßt sich der Verfassung auch unter Berücksichtigung immanenter Wertungen nicht entnehmen. Soweit Nierhaus in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf zahlreiche Mitwirkungs- und Nachweisvorschriften des subkonstitutionellen Rechts darauf verweist, das materielle Recht verteile die Beweislast in weiten Bereichen nach dem Sphärengedanken,159 ist dieser Hinweis allein nicht zwingend, da der Gesetzgeber die Beweisnähe aufgrund freier Entscheidung zum Sachgrund der Risikozuweisung machen kann, ohne daß ihn das materielle Verfassungsrecht hierzu verpflichten muß.160 Wenn der laut Nierhaus verfassungsrechtlich fundierte Sphärengedanke tatsächlich eine sachlich-inhaltliche Verfassungswertung wäre, so müßte er vom Gesetzgeber nicht nur bei der Schaflung aller Beweislastnormen, sondern bei der Schaflung des gesamten materiellen Rechts unserer Rechtsordnung inhaltlich berücksichtigt werden. Ist demnach festzuhalten, daß der an die prozessuale Beweissituation (Beweisnähe, Beweisnot) anknüpfende Sphärengedanke keine sachlich-inhaltliche Verfassungswertung ist, so bleibt die These Nierhaus' zu würdigen, der Sphärengedanke habe eine "materiell-rechtliche Ausrichtung", er strahle unmittelbar in das materielle Recht aus, das mittels "fairer" Anwendung der Beweislastregeln im Fall des non liquet durchzusetzen und zu verwirklichen sei. 161 Dahinter steht die Überlegung, der Sphärengedanke weise, obwohl er an die prozessuale Beweissituation (Beweisnähe, Beweisnot) anknüpfe, ungleich stärkere Affinität zum materiellen Recht auf, als zum Verfahrens- oder Beweisrecht im engeren Sinne.162 Gegen eine derartige "Ausstrahlung" struktureller Beweisnähe auf den Inhalt des materiellen Rechts richten sich - unabhängig von der geltenden Verfahrensmaxime - folgende Bedenken: 159

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 467.

160

In diesem Sinne auch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 224,212 f.

161

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 468,471.

162

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 471.

ΠΙ. Eigener Ansatz

187

Berücksichtigt man, daß die Beweislastnorm selbst Bestandteil des materiellen Rechts ist, so kann die These, das materielle Recht sei mittels "fairer" Anwendung der Beweislastregeln zu verwirklichen, 163 auch übersetzt werden mit: "Im non liquet-Fall ist das materielle Recht durch faire Anwendung des materiellen Rechts zu verwirklichen."

Der Richter soll also auch außerhalb der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung164 aus Fairneßgründen abweichend von der Auslegung des materiellen Rechts entscheiden dürfen, was abzulehnen ist. Ebenso wie das übrige materielle Recht "interessiert sich" auch die materielle Beweislast nicht dafür, wie oder warum es zum prozessualen non liquet gekommen ist. Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Untersuchungsgrundsatzes wurde bereits dargelegt, daß der Gesetzgeber aus Art. 20 III GG verpflichtet ist, das Sachverhalts· Aufklärungsmodell so auszugestalten, daß der Rechtsanwender seiner Entscheidung den möglichst wahren Sachverhalt zugrundelegen kann. Dort - bei der Gestaltung der prozessualen Aufklärung - haben Gesetzgeber und Richter die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien zu beachten.165 Wegen des Verfassungsauftrags aus Art. 20 III GG setzt die Beweislast als Element der Rechtsanwendung166 voraus, daß eine optimale Sachverhaltsaufklärung bereits stattgefunden hat. Das materielle Recht (Beweislast) danach auszurichten, welcher Partei strukturell-falltypisch die besseren Aufklärungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, hieße, die für das sachliche Recht entscheidenden materialen Wertungen durch eine Ausdehnung der für die prozessuale Aufklärung maßgeblichen Wertungen im Wege der Doppelberücksichtigung ohne Not zu überlagern. Die Berücksichtigung typischer Aufklärungsschwierigkeiten bei der inhaltlichen Risikozuweisung würde mit sachlichen Verfassungsinhalten kollidieren, welche die Risikozuweisung determinieren. 167 Oben 168 wurde bereits auf die vor allem im öffentlichen Recht denkbare Gestaltung hingewiesen, daß Grundrechte eine bestimmte Risikozuweisung gebieten können, jedoch typische Beweisnot des Beweisbelasteten erkennbar ist. Wäre hier die Beweisnot zwingend zu beachten, so stünde der Gesetzgeber vor der Entscheidung, die materielle Gerechtigkeit durch prozessuale Gesichtspunkte einzuschränken. Nierhaus versucht, dieser Konsequenz durch die These auszuweichen, das "Fairneßgebot der größeren Beweisnähe" könne nur eine "Auffangfünktion im Sinne ergänzender Lückenfüllung" dort haben, wo das Aufklärungsrisiko nicht mit

163

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 466.

164

Vgl. hierzu bereits § 6 Π. 1. a).

165

Vgl. § 5 Vn. 1.; näher hierzu § 7 Π. 2 .b).

166

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 58.

167

In diesem Sinne Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 212 f.

168

§61. 1.

188

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Aussagen des materiellen Rechts bewältigt werden könne.169 Abgesehen davon, daß die (ggfs. durch Auslegung des materiellen Rechts ermittelte) Beweislast eine Aussage des materiellen Rechts ist - woraus folgt eine derartige Subsidiarität? Aus der Verfassung ist sie nicht ableitbar. Richtigerweise dient das materielle Recht, d.h. auch die materielle Beweislast, nicht dem Ausgleich prozessualer Nöte. Aufgabe und Inhalt des materiellen Rechts ist es, materiellen Gerechtigkeitserwägungen zu genügen170, während das Verfahrensrecht dafür Sorge zu tragen hat, daß der möglichst wahre Sachverhalt zur rechtlichen Beurteilung gestellt wird. 171 Wenn eine Partei keine Möglichkeit zur Aufklärung hat, muß nicht die - durch das Parteiverhalten gar nicht beeinflußbare 172 Risikozuweisung korrigiert werden, sondern die Verteilung der Verantwortlichkeit für die Sachverhaltsaufklärung. 173 Zwar kann der Gesetzgeber unter der Verhandlungsmaxime typischerweise auftretender Beweisnot durch eine entsprechende Verteilung der materiellen Beweislast "ausweichen". Hat er sich aber aufgrund materialer Risikoerwägungen einmal dafür entschieden, ein bestimmtes Feststellungsrisiko vorzusehen, so ist durch eine geeignete Gestaltung der Aufklärungsverantwortung dafür Rechnung zu tragen, daß eine optimale Sachverhaltsaufklärung gewährleistet ist. 174 Wenn z.B. der zivilrechtliche Gesetzgeber aufgrund materialer Ewägungen bei der Vaterschaftsvermutung des § 1600ο II BGB das Feststellungsrisiko zu Lasten des der Mutter in der Empfängniszeit beiwohnenden Mannes verteilt, so hat er durch die Wahl des Untersuchungsgrundsatzes als Aufklärungsmodell dafür Rechnung getragen, daß zuvor eine optimale Sachverhaltsaufklärung als Basis der Überzeugungsbildung gewährleistet ist. 175 c) Nach alledem kann als Zwischenergebnis festgehalten werden: Setzt man den Ansatz, daß die materielle Beweislast auf einer Stufe mit sonstigen Normen des 169

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 471.

170

So für die materielle Beweislast Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 86; allgemein BVerfGE 52,131 (153); 30,173 (199). 171

BVerfGE 52,131 (153); 42,64 (73).

172

Auch diejenige Partei, die "näher am Beweis" ist, kann durch ihr Verhalten die Beweislast nicht verhindern. Nur die Verhinderung des non liquet ist je nach Aufklärungsmodell eine Last. Die Beweis-"last" steht schon bei Prozeßbeginn fest. 173

Hierzu eingehend § 7 Π. 2.

174

In diesem Sinne auch Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 91, 95 f. m.w.N.; vgl. im einzelnen hierzu § 5 VE. sowie § 7 Π. 2. 175 In diesem Sinne hat auch der BGH im "Anastasia-Fall" geprüft, ob der Schutz der Grundrechte, insbesondere der Schutz der verfassungsrechtlich gewährleisteten Persönlichkeitsrechte das zur-Verfügung-Stehen eines Statusverfahrens als Abweichung von der reinen Verhandlungsmaxime gebiete, vgl. BGHZ 53,245 (249 f.).

ΠΙ. Eigener Ansatz

189

materiellen Rechts steht, konsequent um, so kann der Inhalt der materiellen Beweislast ebenso wie der Inhalt sonstigen materiellen Rechts wiederum nur durch materielles Recht determiniert sein, aufgrund welcher Legitimation auch immer (Vorrang des Gesetzes, Rechtsfortbildung etc.). Die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien als solche enthalten keine materiell-inhaltlichen Interessenwertungen, so daß sie als Determinanten der materiellen Beweislast ausscheiden. Die Prüfung, ob eine Beweislastnorm gegen die Verfassung verstößt, erfolgt wie bei sonstigen Normen des materieUen Rechts durch eine Freilegung der materiellen Verfassungswertungen hinsichtlich der gesetzlich zu regelnden non liquet-Konstellation.

2. Bezüge zu den Beweislasttheorien

Die Situation des Gesetzgebers, der sich beim Erlaß einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, welche inhaltlichen Vorgaben er hierbei zu beachten hat, ist strikt zu trennen von der Situation des Richters, der sich beim Fehlen einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, nach welchen Vorgaben er seine Beweislastentscheidung zu treffen hat. Die Unterschiede beider Konstellationen werden hier nicht verkannt. Dennoch befinden sich sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter insoweit in einer vergleichbaren Situation, als beide ohne ausdrückliche inhaltliche Vorgabe eine Beweislastentscheidung treffen müssen. Es liegt daher die Frage nahe, ob sich nicht - bei aller gebotenen Rücksichtnahme auf die Unterschiede beider KonsteUationen - Gemeinsamkeiten der Entscheidungsvorgaben herausarbeiten lassen, angesichts derer sich ein übergreifender Gesamtansatz für jede Beweislastentscheidung formulieren läßt. Der Streit um die Frage, nach welcher inhaltlichen Vorgabe der Richter seine Beweislastentscheidung beim Fehlen einer ausdrücklichen Beweislastnorm auszurichten hat, gehört zu den am heftigsten umkämpften Bereichen der Beweislastdogmatik sowohl des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts. Rechtsprechung176 und Schrifttum 177 zu dieser Frage sind nahezu unübersehbar. Erst in jüngerer Zeit haben 176

Vgl. aus der Rechtsprechung der Zivilgerichte nur BGHZ 51, 91; 53, 245; 87, 399; BGH NJW 1983, 2018; NJW 1983,2944; NJW 1986,2427; aus der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte: BVerwG Buchholz Bd. 4a, 406.11, § 34 BBauG Nr. 25, BVerwGE 37, 192; 44, 265; 45, 131; 47, 330; 52, 255; BVerwG MDR 1979, 783 ff.; NJW 1982, 1893; BVerwGE 70, 143; BVerwG NJW 1986, 122; NJW 1986, 2523; BVerwGE 77, 102; VGHBW DVB1. 1987, 951; BVerwGE 78,367; BVerwG NVwZ-RR 1990,165; aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs: BFH BStBl. 1971 Π, 220; 1980 Π, 69; 1981 Π, 492; 1982 Π, 772; 1983 Π, 760; 1984 Π, 433; 1985 Π, 308; 1986 Π, 289; 1985 Π, 520; 1986 II, 318; 1986 Π, 441; 1986 Π, 732; 1986 Π, 857; 1987 Π, 679; 1987 Π, 487; 1987 II, 756; 1988 II, 96; 1988 Π, 111; 1988 Π, 987; 1989 Π, 462; 1989 Π, 879; BFHE 161, 221; BFH BStBl. 1992 Π,55. 177

Vgl. aus dem zivilprozessualen Schrifttum nur Prölss, Beweiserleichterungen im

190

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

vor allem die Habilitationsschriften von Prütting 178 für das Zivil- und Arbeitsrecht sowie von Nierhaus179 für das öffentliche Recht mit überkommenen Ansätzen aufgeräumt, 180 Fehlvorstellungen und Irrwege zahlreicher Beweislasttheorien bloßgestellt 181 und zwingende Eckdaten einer modernen Sichtweise182 so gründlich auf-

Schadensersatzprozeß, 1966, S. 65 ff; Leipold, Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 45 ff, ders., Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 17 f f ; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 282 ff; Wahrendorf, Prinzipien der Beweislast, 1976, S. 51 f f ; Reinecke, Beweislastverteilung, 1976, S. 27 ff.; Schwab, Zur Abkehr modemer Beweislastlehren von der Normentheorie, FS Bruns 1978, 505 f f ; ders. in Rosenberg/Schwab/Gottwald,Zivilprozessrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 Π; Gottwald, Grundprobleme der Beweislastverteilung, Jura 1980, S. 225 ff.; Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 179 f f ; ders., Grundprobleme des Beweisrechts, JA 1985, 313, 317 ff; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rzn. 103 f f ; aus dem verwaltungsprozessualen Schrifttum: Tietgen, Gutachten 46. DJT, 1966, S. 36 ff.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 164 ff; ders., Grundsätze des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, FS Menger, 1985, S. 537 ff, 548 ff, Peschau, Beweislast, 1983, S. 17 ff; Baur FS Bachof 1984, S. 285 ff., 288 ff.; Sonntag, Beweislast bei Drittbetroffenenklagen, 1986; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 353 f f ; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 75 ff; Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 97 ff; Ewer/Rapp, Beweis- und Feststellungslast bei Ansprüchen auf Gewährung von Ermessensleistungen, N V w Z 1991, 549; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 IV Rzn. 227 f. 178

Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 179 ff.

179

Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 353 ff.

180 Gegen eine Beweislastverteilung nach richterlichem Ermessen, nach Billigkeit, Zweckmäßigkeit, Zumutbarkeit oder Erträglichkeit: Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 181 ff., 245 f.; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 116; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 422 ff.; gegen eine Beweislastverteilung nach konkreter Wahrscheinlichkeit: Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 191 f f ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 417; gegen eine Berücksichtigung der Parteirolle oder der Verfahrensmaximen: Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 189; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 115; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 416 f.; gegen eine Beweislastverteilung nach den unterschiedlichsten "in dubio"-Formeln (in dubio pro libertate/auctoritate, in dubio pro fisco/contra fiscum, in dubio pro petitore, in dubio pro appellante, in dubio pro operano): Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 246 ff.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 418 ff. 181

Dies gilt insbesondere für den Irrweg einer Beweislastverteilung nach einzelnen sachlich-inhaltlichen Prinzipien (konkrete oder abstrakte Wahrscheinlichkeit, Gefahrenbereich) oder nach mehreren Prinzipien, ohne daß die gesetzliche Legitimation (Geltungsgrund) derartiger Verteilungsregeln nachzuweisen wäre, vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 194,199 f., 212 f., 224,234,256; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 355,414 ff. 182

Dies gilt insbesondere für die Notwendigkeit einer generell-abstrakten, gesetzlich

ΠΙ. Eigener Ansatz

191

gearbeitet, daß ihren Ergebnissen kaum Überzeugenderes entgegengesetzt werden kann. So ist es auch nicht Aufgabe dieser Untersuchung, den Diskussions- und Streitstand erneut aufzuarbeiten. In dem hier interessierenden Zusammenhang geht es allein darum, trotz aller Unterschiede im Detail die Tendenzen der modernen Dogmatik auf der Grundlage eines möglichst breiten Konsenses zu skizzieren. Dabei läßt sich die Entwicklung in der jüngeren Dogmatik auf die griffige Formel "von der Rosenberg'schen Normentheorie zur modernen Normwertungslehre" bringen. a) Die zivilprozessuale Beweislastverteilung wird bis heute von der Normentheorie Rosenbergs beherrscht, nach der der Anspruchsteller die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatbestandsmerkmale trägt und der Anspruchsgegner für die rechtshindemden, rechtsvemichtenden und rechtshemmenden.183 Die mit der Untersuchung von Leipold 184 einsetzende Kritik an der Normentheorie besteht insbesondere darin, daß diese Theorie sich methodisch nicht aus der Nichtanwendung der Norm im Falle eines non liquet und die Beweislast nicht als Folge dieser Nichtanwendung rechtfertigen läßt.185 Ferner läßt sich eine Trennung von rechtsbegründenden und rechtshindernden Merkmalen in materieller Hinsicht nicht durchführen. 186 Schließlich stellt die Fixierung der Normentheorie allein auf Wortlaut und Satzbau des Gesetzes eine ungerechtfertigte Einengung der Ermittlung des normativen Willens dar. 187 Bestärkt durch die Haltlosigkeit der Normentheorie in ihrer ursprünglichen Fassung entstanden vor allem in den sechziger und siebziger Jahren zahlreiche Theorien, die eine Beweislastverteilung nach bestimmten sachlich-inhaltlichen Prinzipien

verankerten Regelung der Beweislast, vgl. Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 190 f , 256; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 354 f , 415; dies gilt ferner für die Entnahme der Beweislastverteilung aus der normativen Güter- und Interessenbewertung durch die streitgegenständlichen Normen und ihre Freilegung durch "normale" Gesetzesauslegung: Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 256 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 355,429/430,435. 183

Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl. 1965, S. 100 f , lOZjiosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 Π 2. 184

Beweislastregeln und gesetzliche Vermutungen, 1966, S. 31 ff.

185

Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 32 ff.; ders, Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 18,Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 26; ders., ZZP 100 (1987), 385 (386 f.); Wahrendorf, Prinzipien der Beweislast, 1976, S. 55; Reinecke, Beweislastverteilung, 1976, S. 25; Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 149 f , 352, ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 99; Schwab FS Bruns, 1978, 505 (519). 186

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 267, 352; Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 38 ff.; ders., Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 18; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 294 f f ; Gottwald, Jura 1980,225 (230). 187

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 283 f f , 352.

192

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

befürworteten, etwa nach abstrakter Wahrscheinlichkeit, 188 nach Sphären bzw. Gefahrenbereichen 189 oder nach einer Vielzahl von Prinzipien. 190 Es ist das Verdienst Prüttings, die Schwächen einer Beweislastverteilung nach einzelnen Prinzipen gründlich bloßgelegt,191 die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Beweislast (Problematik der Legitimation der Beweislastentscheidung) aufgezeigt 192, die Notwendigkeit der flexiblen Berücksichtigung der Güter- und Interessenbewertungen einzelner Normen durch Auslegung des Gesetzes herausgearbeitet 193 und - darauf aufbauend -ein modernes Verständnis der Normentheorie 194 begründet zu haben. So hat Prütting nachgewiesen, daß § 193 des ersten Entwurfs eines BGB von 1888, wonach die anspruchsbegründenden Tatsachen vom Anspruchssteiler und die zur Begründung der Aufhebung oder Hemmung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen vom Gegner zu beweisen sind,195 eine positivrechtliche, konkludente gesetzliche Grundregel darstellt, 196 an die der Richter nach Art. 20 III GG bei seiner Entscheidung gebunden ist, wenn nicht eine spezielle Norm 197 eine abweichende Beweislastverteilung enthält. Der Begriff der rechtshindernden Norm ist nicht Bestandteil des materiellen Rechts, sondern nur eine aus Zweckmäßigkeit gebildete Gruppe von Rechtssätzen, welche die Beweislast entgegen der gesetzlichen Grundregel verteilen. 198 Während zur Ermittlung einer abweichenden normativen Beweislastver188

Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 40 ff., 51 ff., 73 f f ; ähnlich Grunsky, Grundlagen, 2. Aufl. 1974, § 41 m 2 a) aa). 189

Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, 1966, S. 65 ff.

190

Wahrendorf,

Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 1976, S. 65 ff.. 131.

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Gegen eine Beweislastverteilung nach abstrakter Wahrscheinlichkeit: Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 195 ff.; gegen eine Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen: Prütting aaO., S. 217 ff., 223 ff.; gegen eine Beweislastverteilung nach einer Vielzahl von Prinzipien: Prütting aaO., S. 234 ff. 192 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 234, 256; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rzn. 88,103; ebenso Leipold, Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 19 f., Musielak, ZZP 100 (1987), 385 (388). 193

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 256 f., 283 ff.

194

"Modifizierte Normentheorie": Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 282 ff., 352.

195

Mugdan, Materialien, I. Band, 1899, S. CVm.

196

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 267 ff., 280,352; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 107; die Geltung der Grundregel als Teil des Gesetzesrechts ist für das Zivilrecht herrschende Meinung, vgl. nur Leipold, Beweislastregeln, 1966, S. 46; ders., Beweismaß und Beweislast, 1985, S. 19; Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 313; Gottwald, Jura 1980,225 (228). 197

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 282 ff.

198

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 287 f.; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1.

ΠΙ. Eigener Ansatz

193

teilung früher nur auf Wortlaut und Satzbau der Norm abgestellt wurde, kommt es nach zutreffender Auffassung für die Ermittlung, ob eine Norm eine abweichende Beweislastverteilung von der Grundregel enthält, auf alle Facetten der Gesetzesauslegung an, also auch auf die historische, teleologische und systematische Auslegung.199 Die richterliche Ermittlung der Beweislastverteilung stellt sich damit schlicht als Auslegung des den Richter bindenden materiellen Rechts dar. 200 b) Obwohl eine ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls im Grundsatz von der Anwendbarkeit der Normentheorie ausgeht201 und diese als "allgemeine Regel des Verwaltungsrechts" qualifiziert, 202 hat die jüngere Beweislastdogmatik des öffentlichen Rechts der Normentheorie die Gefolgschaft versagt 203 und begreift sie allenfalls als "Systemtheorie der Beweislastregeln". 204 Im Unterschied zum Zivilrecht leugnen gewichtige Stimmen auch die Geltung einer Grundregel i.S.v. § 193 des ersten Entwurfs eines BGB als geltendes Gesetzesrecht im öffentlichen Recht.205 Es ist hier nicht der Ort, den Streit um die (Notwendigkeit der) Existenz einer abstrakt-generellen Grundregel im öffentlichen Recht 206 bzw. im gesamten deutschen Recht einschließlich des Verfassungsrechts zu entscheiden. Es Aufl. 1992, § 286 Rz. 108; in diesem Sinne auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, 1975, S. 298 f. 199

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 283 ff, 352; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, Rz. 110, 112; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 Π 2. 200 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 264, 283 ff ; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 112; insoweit zustimmend auch Gottwald, Jura 1980,225 (233); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 15. Aufl. 1993, § 117 Π 2. 201 Vgl. nur BVerwGE .30, 358 (360 f.); 36,121 (126); 38,307 (310); 39,247 (256); 41, 53 (58); 44, 265 (269); 45, 297 (303 ff); 47,330 (339); 47,365 (375); 49,1 (6); 52,255 ff.; 55, 288 (297 f.); 61, 176 (189); weitere Nachweise bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 230 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 21 ff 202

BVerwGE 30,358 (360 f.); 41, 53 (58); 47,330 (339); 47,365 (375); 61,176 (189); weitere Nachweise bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 230 f , 418 und Peschau, Beweislast, 1983, S. 21 ff. 203

Vgl. insbesondere Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 182 ff ; Peschau, Beweislast, 1983, S. 38 ff; Sonntag, Beweislast bei Drittbetroffenenklagen, 1986, S. 4 ff, 7 ff; Ν agier, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 80 ff; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 84, 119; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 407 ff. 204

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 409 ff; Bachof, JZ 1966, 302 (310); ähnlich für das Zivilrecht Gottwald, Jura 1980,225 (233 f.). 205

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 180 ff ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 418. 206

13 Ittner

Befürwortend für das öffentliche Recht Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 281.

194

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

dürfte allerdings unbestreitbar sein, daß das Rechtsgüter- und Interessengeflecht öffentlich-rechtlicher Normen sehr viel komplexer, vielschichtiger und uneinheitlicher ist, als die typische Rechtsgüter- und Interessenkonstellation zivilrechtlicher Gleichordnungsnormen. Infolgedessen wäre die Durchbrechung einer entsprechenden öffentlich-rechtlichen Grundregel durch die Güter- und Interessenbewertung einzelner öffentlich-rechtlicher Normen sehr viel häufiger gegeben als im Zivilrecht, 207 wenn nicht sogar die "Regel". Die mangelnde Repräsentanz einer solchen Grundregel gälte in besonderem Maße für den Bereich hoheitlicher Eingriffe in Grundrechte. Die komplexen Güterbewertungen und -verschränkungen im Bereich der Grundrechte, deren Kollsionen mittels einer feingliedrigen und subtilen Schrankensystematik zu lösen sind, 208 sind zu vielfältig und uneinheitlich, als daß diese sich als typische Güter- und Interessenwertung in einer grundsätzlichen Beweislastregel zusammenfassen ließen. Anderes gilt demgegenüber für das materielle Strafrecht. Hier hat die Güterbewertung der Menschenwürde in jedem non liquet-Fall das überwiegende Gewicht,209 so daß diese typische Interessenbewertung Grundregel ist ("in dubio pro reo"). Die (konkludente) Normierung einer Grundregel macht nur dort Sinn, wo eine typische Güter- und Interessenbewertung für ein ganzes Rechtsgebiet gegeben ist, so daß sich das Gesetz auf das Hervorhebungen der Abweichungen von der Grundregel beschränken kann. Je zahlreicher, vielschichtiger, unterschiedlicher und komplexer aber die in einem Rechtsgebiet "verarbeiteten" Rechtsgüter und Interessen sind - dies gilt in besonderem Maße für das Verfassungsrecht -, um so schwieriger und nutzloser wird die Formulierung einer Grundregel. Akzeptiert man die Prämisse, daß sich Abweichungen von der Grundregel i.S.v. § 193 des ersten Entwurfs eines BGB durch Auslegung der Güter- und Interessenbewertung des materiellen Rechts ergeben, so ist die Existenz einer Grundregel eigentlich nicht erforderlich. Entscheidend ist ohnehin allein die (abweichende) Güter- und Interessenbewertung der streitgegenständlichen Norm(en), welche durch Auslegung freizulegen ist. 210 Daher kann es auch unabhängig davon, ob eine Grundregel existiert, keine "Umkehr" der Beweislast geben.211 Eine Grundregel bringt nicht mehr zum Ausdruck, als das übereinstimmende Ergebnis materieller Güter- und Interessenbewertungen in einer Vielzahl von Fällen, nämlich die typische Güter- und Interessenwertung eines ganzen Rechtsgebietes.212 Letztlich ist auch die zivilrechtliche Grundregel nur eine solche Systematisierungsformel ("typische Ausprä207

In diesem Sinne Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 281.

208

Vgl. insoweit bereits § 6 Π. 1. b) und speziell im Hinblick auf die Vermutungen des GWB §6 IV. 5. 209

In diesen Sinne Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 223 m.w.N.

210

Entscheidend ist selbstverständlich die abstrakte Norm, nicht der konkrete Einzelfall; vgl. statt vieler Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 IV Rz. 228; Baur FS Bachof, 1984,285 (292). 211

Zutreffend Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 221.

ΠΙ. Eigener Ansatz

195

gung der Sachgründe gesetzgeberischer Entscheidung, Auslegungshilfe" 213). Die Geltung der Grundregel als konkludentes Gesetzesrecht ist aber deshalb berechtigt, weil sie die typische Güter- und Interessenbewertung des materiellen Zivilrechts zutreffend wiedergibt. Verfügt ein Rechtsgebiet jedoch nicht über sich gleichende Güter- und Interessenbewertungen, 214 so bringt die Formulierung einer Grundregel keinen Nutzen. Ebenso wie die klassische Normentheorie allenfalls als "Systemtheorie der Beweislastregeln" begriffen wird, 215 werden im öffentlich-rechtlichen Schrifttum auch anderen Formeln oder Prinzipien wie z.B. das Regel-Ausnahme-Schema oder der Angreifergedanke lediglich als Erklärungen bzw. Systematisierungen materiellrechtlich bereits getroffener Güter- und Interessenbewertungen eingeordnet. 216 Derartige Formeln oder Prinzipien verteilen die Beweislast nicht. 217 Sie fassen nur schlagwortartig häufig anzutreffende normative Risikobewertungen zusammen. Ihre starre Befolgung im Sinne eines originären Verteilungsansatzes ginge an der Differenziertheit öffentlich-rechtlicher Interessenbewertungen vorbei. 218 Dementsprechend hat auch die jüngere Beweislastdogmatik des öffentlichen Rechts überkommene Verteilungsansätze, insbesondere das Denken in "Prinzipien", überwunden 219 und betont die alleinige Maßgeblichkeit der abstrakt-generellen,

212 Etwa für das Zivilrecht, Strafrecht, Steuerrecht, Staatshaftungsrecht oder das öffentlichrechtliche Vertragsrecht. 213

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 353.

214

Dies gilt insbesondere für das Verfassungsrecht.

215

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 409 ff ; ähnlich Bachof, JZ 1966,302 (310); aus zivilrechtlicher Sicht Gottwald, Jura 1980,225 (233 f.). 216

In diesem Sinne insbesondere Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 415, 443,445 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 155. 217

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 415: Kein Prinzip wirkt für sich allein " normschöpferisch ". 218

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz.

227. 219 Gegen die Relevanz der Beteiligtenrolle, der Klageart oder der Verfahrensmaxime: Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171 f , 178 ff, 197ff.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 19 ff ; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, S. 97 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 416 f.; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz. 227; gegen eine Verteilung nach richterlichem Ermessen, Billigkeit oder Zumutbakeit im Einzelfall: Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 107 f.; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 422 ff ; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz. 228; im Grundsatz auch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 209 ff ; gegen die Maßgeblichkeit konkreter oder abstrakter Wahrscheinlichkeit: Berg, Entscheidung bei

13*

196

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

normativ vermittelten Beweislastentscheidung. 220 I m Gleichklang mit modernen zivilrechtlichen Überlegungen gelangt sie zu dem Ergebnis, daß entscheidend für die Beweislastverteilung allein die Rechtsgüter- und Interessenbewertung der den Streitgegenstand rechtlich konstituierenden Normen ist, die es zu ermitteln gilt. 2 2 1 Dieses Ergebnis w i r d von Berg auf den Nenner "in dubio pro ratione legis" gebracht 2 2 2 und von Schmidt-Aßmann plastisch als "Normwertungslehre" bezeichnet 223 . Unterschiedlich sind dagegen die i m öffentlich-rechtlichen Schrifttum vorgeschlagenen Modelle zur Ermittlung der normativen Rechtsgüter- und Interessenbewertung. Während die jüngere Literatur alle Formen der Gesetzesauslegung heranzieht, 224 schlagen Berg und ihm folgend Schmidt-Aßmann eine "Rechtsfolgenabwägung" (Abwägung der Folgen der Beweislastentscheidung für die rechtlich geschützten Interessen) vor. 2 2 5 Die Besonderheit des Auslegungsproblems liege darin, daß der Richter einen Sachverhalt ermittelt habe, der nicht mit Sicherheit unter die Tatbestandsmerkmale der anzuwendenden N o r m subsumiert werden könne. Daher

ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 214 ff.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 48 f f ; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 99 ff.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 103 f f ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 417; gegen die Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen: Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 212; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 102 f., gegen die Beweislastverteilung nach diversen "in-dubio-Formeln" (in dubio pro libertate/auctoritate, in dubio pro statu quo): Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 189ff:,Peschau, Beweislast, 1983, S. 68 ff; Sonntag, Beweislast bei Drittbetroffenenklagen, 1986, S. 43 ff; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 418 ff; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 93 ff; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 105 ff; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IVRz. 227. 220

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 354 f., 415; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 221. 221 Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 355,429/430,435 und passim; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 221 f., 229; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl. Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 IV Rz. 228; wohl auch Peschau, Beweislast, 1983, S. 39/40, 47, 47, 50, 154 f.; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 124 ("öffentlich-rechtlich modifizierte Normentheorie") sowie Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 90 ff. und passim. 222

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 243.

223

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz.

228. 224

Vor allem Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 429/430,435 ; wohl auch Peschau, Beweislast, 1983, S. 39/40,47,49 f., 154 f.; J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 124. 225 Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 221 ff ; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19IV Rz. 228.

ΠΙ. Eigener Ansatz

197

könne sich eine Antwort auf die Beweislastfrage nur auf der Rechtsfolgenseite finden. Es sei diejenige Rechtsfolge zu wählen, die in dem jeweils ungünstigeren Falle den geringeren Schaden stifte ("materielle Schwere der Konsequenzen der beiden Fehlurteile für die Beteiligten in der besonderen materiellen Rechtslage").226 Der letztgenannten Auffassung kann nicht gefolgt werden. Mit dem Abstellen auf die Schwere der Konsequenzen einer Fehlentscheidung für die Beteiligten öffiiet Berg Tür und Tor für eine Durchbrechung der abstrakt feststehenden Beweislast durch Zumutbarkeits- und Billigkeitserwägungen im konkreten Einzelfall. 227 Insbesondere aber bildet die Schwere der potentiellen Konsequenzen einer Beweislastentscheidung nur einen kleinen Ausschnitt aus dem großen Spektrum möglicher normativer Bewertungsgesichtspunkte, z.B. dem Gewicht eines Rechtsgutes, rechtspolitischen Zwecksetzungen (Aktivierung einer Partei bei der Sachverhaltsaufklärung, sozialer Schutzgedanke, Wahrung des Besitzstandes und des Rechtsfriedens), der Beweisnähe, der Gefahrerhöhung oder der Gefährdungspotentiale. 228 Das Modell der Rechtsfolgenabwägung allein vermag all diese Gesichtspunkte nicht einzubeziehen und schneidet damit ohne Not auch maßgebliche Elemente der (auch nach Berg) maßgeblichen normativen Rechtsgüter- und Interessenbewertung ab. 229 c) Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß nach moderner zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Lehre der Richter beim Fehlen einer ausdrücklichen Beweislastnorm die Beweislastverteilung der Rechtsgüter- und Interessenbewertung der den Streitgegenstand rechtlich konstituierenden Normen zu entnehmen hat, was durch alle Formen der Gesetzesauslegung geschieht. Für die Situation des Gesetzgebers, der sich beim Erlaß einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, welche inhaltlichen Vorgaben er zu beachten hat, wurde oben das entsprechende Ergebnis gewonnen, daß die Beweislast durch die materiell-verfassungsrechtlichen Güter- und Interessenbewertungen determiniert ist. 230 Danach läßt sich als Gesamtansatz formulieren: Sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter haben bei ihrer Beweislastentscheidung die Entscheidungen des sie bindenden materiellen Rechts zu beachten. Während der Gesetzgeber nur an die mate216

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 222 ff.

227

Kritisch in diesem Sinne insbesondere J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 112 ff. Zumindest mißverständlich denn auch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 222 f , 235 f. 228 Eingehend zu den gesetzgeberischen Sachgründen der Beweislastverteilung Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 257 ff ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 430 ff,439 ff 229

Eingehende Kritik an Bergs Lehre von der Folgenorientierung äußern Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 423 ff. und J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 112 ff. 230

Siehe oben § 61. Ι , Π . und ΠΙ. 1.

198

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

riellen Güter- und Interessenwertungen der Verfassung gebunden, im übrigen aber frei ist (dazu sogleich), hat der Richter zusätzlich auch die Vorgaben des subkonstitutionellen materiellen Rechts zu beachten.231 Entgegen der immer wieder im Schrifttum geäußerten Ansicht, die Beweislast im Verwaltungsrecht lasse sich nicht aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen ableiten,232 sie stehe unter eigenen Gesetzen233, sie werde durch ein anderes Ordnungssystem geprägt als im Zivilrecht 234 oder die Beweislastverteilung im Privatrecht sei ohne Rücksicht auf das Grundgesetz zu beurteilen, 235 ist hier klarzustellen, daß die materielle Beweislast als (Wertungs-)Bestandteil des materiellen Rechts ebenso in die Normenpyramide des Rechts eingebunden ist, wie sonstiges materielles Recht auch. Die Beweislast ist in allen Gebieten des Rechts durch materielle Verfassungswertungen determiniert, mag es auch zutreffen, daß Verfassungsbezüge im Bereich zivilrechtlicher Gleichordnung sehr viel seltener augenscheinlich werden als im Verwaltungsrecht. Unterschiede beim Inhalt der Beweislast im Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht resultieren nicht aus unterschiedlichen Beweislastgrundsätzen oder aus einer unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Determinierung dieser Rechtsgebiete, sondern allein aus den Unterschieden der jeweils normativ verarbeiteten sachlichen Materien. Sowohl für das Verfassungsrecht als auch für das einfache materielle Recht gilt, daß Beweislasttheorien bzw. Beweislast-Prinzipien den Gesetzgeber und Richter nicht binden, sofern sie nicht - wie die Grundregel im Zivilrecht - ausnahmsweise durch das materielle Recht legitimiert sind. Für das materielle Verfassungsrecht, dessen Güter- und Interessenbewertungen äußerst vielschichtig, komplex und uneinheitlich sind, läßt sich die Normierung derartiger Grundregeln oder Prinzipien nicht ausmachen. Deren Funktion liegt allein in einer sekundären, formelhaften Wiedergabe normativ bereits getroffener, für eine Vielzahl von Fällen typischer Interessenwertungen. Durch ihre starre Befolgung im Sinne eines originären Verteilungsansatzes verstießen sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter gegen Art. 20 III GG (Vorrang der gesetzlichen Güter- und Interessenwertung).

231

Soweit eine Beweislastverteilung durch das einfache Recht gegen die Rechtsgüterund Interessenwertungen der Verfassung verstößt und eine verfassungskonforme Auslegung der Beweislastnorm oder eine richterliche Rechtsfortbildung nicht möglich ist, muß der Richter die verfassungswidrige Norm nach Art. 100 I GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. 232

Ule DVB1. 1959, 537 (543).

233

Peschau, Beweislast, 1983, S. 84.

234

Weber-Gr eilet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht, 1979, S. 33.

235

Tietgen, Gutachten zum 46. DJT, 1966, Bd. I, S. 37.

ΠΙ. Eigener Ansatz

199

3. Umfang der gesetzgeberischen Freiheit

Hat der Gesetzgeber beim Erlaß von Beweislastnormen als "normalem" Akt gesetzgeberischer Entscheidung236 die Wertungen der Verfassung zu beachten, so stellt sich - wie beim Erlaß sonstiger materieller Normen auch - die Frage nach der verbleibenden Gesetzgebungsfreiheit. Diese bringt Stern wie folgt auf den Punkt: "Bildet die Verfassung die Rechtsbasis für die Gesetzgebung, so ist die Gesetzgebung dennoch nicht bloßer VerfassungsVollzug. Das Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetzgebung ist anders als das zwischen Gesetzgebung und Verwaltung, wiewohl auch dieses nicht schlechthin Gesetzesvollzug bedeutet. Die Gesetzgebung hat sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG), insbesondere der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), zu halten; gegen diese Prinzipien darf kein Rechtssatz verstoßen. Aber es wäre ein Fehlverständnis der Verfassung, dieser einen Gehalt zu imputieren, aufgrund dessen der Inhalt der Gesetze gleichsam aus der Verfassung abgeleitet werden könnte. Der Gesetzgeber hat einen eigenen politischen Gestaltungsspielraum. Er ist ein echt politisches Organ, das für seine Akte die volle Verantwortung trägt. Jedoch kann die Verfassung diese Akte initiieren, dirigieren und limitieren." 237

Dabei geschieht die Initiierung, Dirigierung und Limitierung der gesetzgeberischen Akte durch Verfassungsaufträge, Verfassungsdirektiven und verfassungsrechtliche Leitgrundsätze. 238 Der Gesetzgeber ist nur durch diese Verfassungsdirektiven und Leitgrundsätze gebunden, im übrigen aber frei in seiner Zielsetzung und Gestaltung.239 Das BVerfG kann die Entscheidung des Gesetzgebers nicht darauf überprüfen, ob dieser die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat; es hat lediglich darüber zu wachen, daß die Norm materiell im Einklang mit den Bestimmungen des Grundgesetzes steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und grundentscheidungen entspricht. 240 Je dichter das konstitutionelle Regelungswerk ist, um so kleiner wird der Bereich politischer Gestaltungsmöglichkeiten. Hat umgekehrt die Verfassung keine speziellen Güter- und Interessenbewertungen getroffen, so hat der Gesetzgeber einen weiten materiellrechtlichen Freiraum politischer Kreativität. Dies gilt beispielsweise bei der Zielbestimmung, Auswahl und tech236 Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 206; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rz. 102 f , 112 f.; eingehend hierzu § 61. 1. und ΠΙ. 1. 237 Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 84 f. mit zahlreichen Nachweisen aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum; in diesem Sinne femer Herzog in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 20 ΙΠ Rzn. 2 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 319. 238

Näher hierzu Stern, Staatsrecht 1,2. Aufl. 1984, S. 85 f.

239

Vgl. BVerfGE 6, 84 (94); 10,234 (246); 40,121 (133); 50,290 (338).

240

BVerfGE 80, 225 m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG; Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1993, Art. 20 Rz. 788.

200

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

nischen Gestaltung wirtschaftsordnender und -lenkender Maßnahmen ("wirtschaftspolitisches Gestaltungsermessen"241). Hier sind Normen aber verfassungswidrig, wenn sich feststellen läßt, daß sie unverhältnismäßig in Grundrechte eingreifen. Mit der legislativen Gestaltungsfreiheit (Handlungsspielraum) im vorstehenden Sinne dürfen nicht verwechselt werden die Grundsätze über den gesetzgeberischen Entwicklungsspielraum (Beurteilungs-, Prognosespielraum). Diese betreffen die Situation, daß der Gesetzgeber bei der Normsetzung eine künftige Entwicklung einschätzen muß. Hier hat er im Rahmen der materiellen Verfassungsvorgaben einen weiten Einschätzungsspielraum ("Einschätzungsprärogative" 242), sei es hinsichtlich drohender Gefahren oder einer bestimmten Entwicklung, sei es hinsichtlich der Geeignetheit (Zwecktauglichkeit) und Erforderlichkeit seiner Gesetze.243 Die Nachprüfung der legislativen Maßnahmen ist dort, wo ein derartiger Prognosespielraum besteht, auf die ex ante-Prüfung beschränkt, ob die Prognose sachgerecht und vertretbar 244 bzw. evident falsch 245 war, d.h. nur auf Sachverhalts- und Logikfehler oder auf evidente Verstöße gegen anerkannte Grundsätze, Gesetze und praktische Erfahrungen.246 Insbesondere im wettbewerbspolitischen Bereich kann vom Gesetzgeber nicht mehr verlangt werden, als daß er ein von ihm gewähltes Lenkungs- oder Aufsichtsinstrumentarium nicht in offenkundig fehlerhafter oder von vornherein unvertretbarer Weise einsetzt; sein Entwicklungsspielraum ist gerade hier sehr weit bzw. offen. 247 Die Sachgerechtigkeit und Vertretbarkeit der Prognose der Geeignetheit bzw. Erforderlichkeit einer Normierung darf das Β VerfG nur dann verneinen, wenn die Maßnahme bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes eindeutig zweckuntauglich bzw. ohne mildere, gleich wirksame Alternative war. 248 Eine gesetzliche Maßnahme kann demnach nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil sie auf einer Fehlprognose

241

BVerfGE 39, 210 (225); 50, 290 (338) m.w.N.; vgl. aus dem Schrifttum statt vieler nur Scholz, Entflechtung, 1981, S. 111; ders. in Maunz/Dürig,, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 77 ff. m.w.N., 383 ff Eingehend hierzu m.w.N. § 6 I V . 5. 242 Zur "Einschätzungsprärogative" des Gesetzgebers speziell im Bereich der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung Scholz, Entflechtung, 1981, S. 121 f. 243

BVerfGE 25, 1 (12 f., 17); 30, 250 (263 f.); 39, 210 (226, 230 f.); Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1993, Art. 20 Rz. 801; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rzn. 321, 326. 244

BVerfGE 25,1 (12 f., 17); 30,250 (263); 39,210 (225 f.); 50,290 (333 f.).

245

BVerfGE 37,1 (20); 40,196 (223).

246

Instruktiv BVerfGE 39, 210 (226, 230 f.); Breuer in Handb. d. StaatsR, Band IV, 1989, § 148 Rzn. 16, 18. 247 248

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 121 f.

Vgl. BVerfGE 25, 1 (17); 30, 250 (263); 37, 1 (21); 39, 210 (226); 69, 53; Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1993, Art. 20 Rz. 801 f.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

201

beruht. 249 Allerdings ist der Gesetzgeber, wenn sich seine Einschätzung später als Fehlprognose herausstellt, verpflichtet, die falsifizierte Norm zu berichtigen oder aufzuheben. 250

IV. Die Determinierunç des materiellen Inhalts der Vermutungen des GWB durch einzelne Verfassungsgewährleistungen Die Prüfung, ob die inhaltliche Verteilung der materiellen Beweislast durch die §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB gegen einzelne Verfassungsnormen bzw. -inhalte verstößt, erfolgt vor dem Hintergrund folgender Ergebnisse der bisherigen Untersuchung in § 6 ("Korsettstangen der Prüfung"): - Beweislastnormen des materiellen Rechts bilden selbst materielles Recht; sie unterliegen denselben verfassungsrechtlichen Determinierungen wie sonstige materielle Rechtssätze.251 - Die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien sind für den Inhalt der Beweislast ohne Bedeutung, da sie keine eigenständigen sachlich-inhaltlichen Aussagen enthalten. Sie können nur die Gestaltung der prozessualen Sachverhalts-Aufklärung determinieren. 252 - Die Verfassung kann für bestimmte non liquet-Situationen eine eindeutige materielle Rechtsgüter- und Interessenbewertung vorgeben, die der Gesetzgeber bei der Beweislast-Normsetzung zu beachten hat. Die materielle Verfassungswertung ergibt sich durch Auslegung und Kollisionslösung einzelner Verfassungsinhalte.253 Im folgenden werden die im kartellrechtlichen Schrifttum behaupteten Verfassungsverstöße der Vermutungen im jeweiligen Sachzusammenhang erörtert. 254

249

BVerfGE 25, 1 (12 f.); 30, 250 (263); 39, 210 (226); Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1993, Art. 20 Rz. 801yBreuer in Handb. d. StaatsR, Band IV, 1989, § 148 Rzn. 17 f. 250 BVerfGE 25, 1 (13), 50, 290 (335); Scholz, Entflechtung, 1981, S. 122 f.; Breuer in Handb. d. StaatsR, Band IV, 1989, § 148 Rz. 18. 251

Vgl. hierzu insbesondere § 61. 1. und m. 1. b).

252

Vgl. hierzu insbesondere § 6 I. 1. und ΠΙ. 1. b).

253

Vgl. hierzu insbesondere § 6 Π. 1. b) und ΙΠ. 1.

254

Die Behauptung, die Vermutungen des § 23a I GWB seien faktisch unwiderlegbar, wurde bereits in § 5 ΙΠ. vor 1. rechtstatsächlich widerlegt, so daß die hieran geknüpften Verfassungsbedenken (Formenmißbrauch des Gesetzgebers, Verstoß gegen die Prinzipien der Systemgerechtigkeit oder der Verhältnismäßigkeit - vgl. im einzelnen §41.-) der Basis entbehren.

202

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Bev/eislastverteilung 1. Art. 3 I GG

Zu prüfen ist, ob die Beweislastregelungen der §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG verstoßen. Da die Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts determinieren, sondern zugleich auch Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften setzen,255 ist zu trennen zwischen verfahrensbezogenen Ausprägungen des Gk ichheitssatzes und solchen, die den Inhalt des materiellen Rechts betreffen.

a) Waffengleichheit

und faires Verfahren

Im Arzthaftungsbeschluß 256 haben diejenigen Richter, deren Meinung die Entscheidung nicht trug, zur Bedeutung des Art. 3 I GG für die Ausgestaltung und Anwendung der Verfahrensgnmdsätze ausgeführt: Grur dsätzliche Waffengleichheit im Prozeß und die gleichmäßige Verteilung des Risikos am Verfahrensausgang seien verfassungsrechtlich gebotene Erfordernisse des Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG) wie auch des Rechtsstaatsprinzips.257 Aus dem Rechtsstaatsprinzip folge, daß der Richter durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung den materiellen Inhalten der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, Geltung verschaffen müsse. Im Rahmen dieser Verpflichtung habe er für ein gehöriges, faires Verfahren Sorge zu tragen. 258 Aus dem verfassungsrechtlichen Erforderris eines gehörigen, fairen Gerichtsverfahrens, insbesondere aus dem Gebot der Waffengleichheit im Prozeß und dem Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit, ergebe sich die Verpflichtung des Richters, im konkreten Fall für eine faire, zumutbare Handhabung des Beweisrechts Sorge zu tragen, insbesondere zu prüfen, ob dem Patienten die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden dürfe. 25' Diese Ausführungen des BVerfG sind sowohl vom BVerwG 260 als auch von Teilen des Schrifttums dahingehend mißverstanden worden, sie beträfen in der Sache 255 BVerfGE 53, 30 (65 f , 72 f.); 56, 216 (236); 65, 76 (94); 63, 131 (143); 65, 1 (44, 49); 69,315 (355); hierzu näher § 7 Π. 2. b). 256

BVerfGE 52,131 (144), ausführlich besprochen in § 6 Π. 1. a).

257

BVerfG aaO, S. 144.

258

BVerfGE 52,131 (145 f.).

259

BVerfG aaO, S. 145,147.

260

Vgl. insbesondere die Rechtsprechung zur Beweislastverteilung im Prüfungsrecht: BVerwGE 70,143 und 78,367 (besprochen in § 6 Π. 1. d).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

203

die abstrakte Beweislast.261 Nierhaus hat aus einem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip und dem Gebot tatsächlich wirksamer gerichtlicher Kontrolle i.S.d. Art. 19 IV GG einen "ergänzenden" Beweislastverteilungsgrundsatz des Fairneßund Waffengleichheitsgebots im Gewände des Sphärengedankens (Sphärentheorie) entwickelt.262 Aus der Determinierung der Verfahrensgestaltung durch den Gleichheitssatz i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich indessen - selbst in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19IV GG - für die Verteilung der abstrakten Beweislast nichts herleiten. Oben 263 ist gezeigt worden, daß sich die Aussagen der dissentierenden Meinung im Arzthaftugsbeschluß ausschließlich auf die richterliche Umkehr der konkreten Beweisführungslast im prozessualen Einzelfall und damit auf das Verfahrensrecht beziehen. Den Versuchen, grundrechtsgeprägten Verfahrensgrundsätzen und verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien in Verbindung mit rechtsstaatlichen Erwägungen eigenständige materiell-inhaltliche Aussagen als Determinanten des materiellen Rechts zu entnehmen, ist oben 264 eine klare Absage erteilt worden. Dies gilt auch für den von Nierhaus entwickelten "ergänzenden" Beweislastverteilungsgrundsatz des "Fairneßgebotes der größeren Beweisnähe".265 Die verfahrensbezogenen Ausprägungen der Grundrechte und die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien betreffen ausschließlich die Verfahrensgestaltung. Sie enthalten zwar die verfahrensbezogenen Wertungen des materiellen Rechts, aus dem sie entwickelt bzw. durch das sie geprägt sind, sie enthalten jedoch keine eigenständigen sachlich-inhaltlichen Aussagen als mögliche Erkenntnisquellen und Determinanten des materiellen Rechts. Wegen der Einzelheiten wird auf die Argumentation in § 6 III 1 b) verwiesen. Abzulehnen ist nach diesen Überlegungen auch die im kartellrechtlichen Schrifttum vertretene Ansicht, Vermutungsregelungen zum Nachteil der Unternehmen seien im Rahmen der hoheitlichen Eingriffsverwaltung nur dort zulässig, wo der Beweisgegenstand in der "Sphäre" der Unternehmen begründet liege. 266 Die Beweislast ist ausschließlich durch materiell-inhaltliche Verfassungswertungen determiniert

261 Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 225 f.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 99 ff, 104. 262

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 449 ff. (466,470 f.).

263

Vgl. § 6 Π . 1. a).

264

Vgl. § 6 ΠΙ. 1. b).

265

Vgl. zur Auseinandersetzung mit der "Sphärentheorie" von Nierhaus insbesondere § 6 ΠΙ. l.b). 266

Scholz, Entflechtung, 1981, S.235 f.; G. Meier ZHR 145 (1981), 393 (428 f.).

204

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

und damitfrei von der Berücksichtigung prozessualer Gesichtspunkte wie der Nähe oder dem Zugang zu Informationen und Beweismit;eln.267 Die Grundsätze der Waffengleichheit, des fairen Verfahrens und der Sphärengedanke scheiden als inhaltliche Determinanten der materiellen Beweislast, speziell der kartellrechtlichen Vermutungen, aus.268 b) Sachlich-inhaltliche Ausprägungen, insbesondere Systemgerechtigkeit Für die Determinierung der kartellrechtlichen Vermutungen durch Art. 3 I GG kommt es ausschließlich auf solche Ausprägungen des Gleichheitssatzes an, die den Inhalt des materiellen Rechts betreffen. Nach einer ständigen Rechtsprechung des BVerfG endet die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers, welche Umstände maßgeblich dafür sind, zu regelnde Sachverhalte gleich oder ungleich zu behandeln, erst dort, wo die Gleich- bzw. Ungleichbehandlung nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Gleich-/ Ungleichbehandlung fehlt. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit (Willkürverbot) ist vom BVerfG nachzuprüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber die gerechteste, vernünftigste o der zweckmäßigste Lösung gefunden hat. 269 Prüft man anhand dieser Grundsätze, ob der Gesetzgeber durch die kartellrechtlichen Vermutungen eine Gleich- bzw. Ungleichbehandlung der betroffenen Unternehmen vorgenommen hat, die nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, so ist entgegen Leo selbstverständlich nicht bei der Gleichbehandlung marktbeherrschender und nicht marktbeherrschender Unternehmen anzuknüpfen. 270 Die Frage der Marktbeherrschung ist gerade 267

Vgl. § 6 m. l.b).

268

Völlig fehl geht die darüber hinausgehende Argumentation Leo's (WRP 1970,197,202 und WRP 1972,1,13 f.), die Vermutungen verstießen geg;en das Gebot der Waffengleichheit bzw. gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil die begünstigte Behörde zugleich die entscheidende Behörde sei. Leo trennt nicht zwischen den Ebenen der Sachverhaltsaufklärung und der Rechtsanwendung und verkennt das Wesen der Vermutungen als reine Normen der Rechtsanwendung, die mit prozessualen Chancen und Gestaltungen nicht das geringste zu tun haben. In der Konsequenz dürfte nach Leo's Auffassung überall dort, wo der Untersuchungsgrundsatz gilt, ausnahmslos nur eine Beweislast der Verwaltung zulässig sein. 269 270

Vgl. z.B. BVerfGE 10,234 (246); 26,302 (310).

So aber Leo, WRP 1970,197,202 f., der meint, ein solcher Verstoß liege vor (zu § 22 Π 2 RegE).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

205

unklar, so daß sich insoweit eine Gleich- oder Ungleichbehandlung als Voraussetzung der Willkürprüfung gar nicht feststellen läßt. Leo's Fragestellung verkennt das Wesen der materiellen Beweislast als eigenständiger Risikoentscheidung, der die Möglichkeit der wahrheitswidrigen Entscheidung gerade immanent ist. Der sachliche Grund dafür, möglicherweise ungleiches gleich zu behandeln, liegt gerade in der Unaufklärbarkeit des wahren Sachverhalts. Vielmehr ist zu fragen, ob in der Entscheidung der §§22 III, 23a I, II und 26 II 3 GWB, die Unternehmen mit dem Feststellungsrisiko für das jeweils vermutete Merkmal zu belasten, eine Gleich-/Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Beweislastregelungen liegt, für die ein einleuchtender Grund fehlt. Zwar liegt eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu der sonstigen Beweislastregelung im Bereich der kartellbehördlichen Aufsicht über marktmächtige Unternehmen vor, wonach die Behörde die Beweislast für alle Tatbestandsvoraussetzungen der Eingriffstatbestände trägt. Einleuchtender sachlicher Grund für diese Ungleichbehandlung sind jedoch die in den Gesetzesmaterialien deutlich hervorgehobenen besonderen Schwierigkeiten der Kartellbehörden bei der Aufklärung und dem Nachweis des für die vermuteten Merkmale relevanten Sachverhalts,271 woraus gerade der Normzweck der kartellrechtlichen Vermutungen resultiert ("Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck") 272. Eine willkürliche Ungleichbehandlung durch die kartellrechtlichen Vermutungen wird allerdings im kartellrechtlichen Schrifttum mit der Argumentation angenommen, die Vermutungen seien rechtssystematisch verfehlt 273 bzw. nicht systemgerecht und nicht durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt, 274 weil belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung sich innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten bzw. empirisch einwandfrei abgesichert seien müßten.275 Bei dem vom Β VerfG kreierten Gedanken der sog. "Systemgerechtigkeit" 276 handelt es sich um eine spezielle Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG. Hat sich der Gesetzgeber zu bestimmten gesetzlichen Regelungen ent271 Vgl. zu § 22 m GWB die Ausführungen in § 3 I.; zu § 23a GWB die Ausführungen in § 3 Π.; zu § 26 Π 3 GWB die Ausführungen in § 3 ΙΠ.; jeweils m.w.N. 272

Ausführlich zum Normzweck § 5 m. 2.

273

Köhler, DB 1982,313,314 (zu § 26 Π 3).

274

Knöpfte, BB 1970, 717, 723 (zu § 22 Π 2 RegE).

275

Daß keine einzige der hier untersuchten Vermutungen des GWB der regelmäßigen Lebenserfahrung entspricht, wurde bereits in § 5 ΙΠ. vor 1. dargelegt. 276

BVerfGE 13,31 (38); 13,331 (340); 21, 54 (64); 25,236 (252); 27,364 (374 f.); 36, 383 (394); 59, 36 (49 f.); 60,16 (40); grundlegend Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969.

206

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

schlossen, so muß Folgerichtigkeit, d.h. innere Konsequenz, herrschen. Auf die ursprüngliche Freiheit des Gesetzgebers folgt aus dem ersten legislativen Akt die Bindung. Schafft der Gesetzgeber eine neuartige, aus dem System und Zweck der bisherigen Regelungen herausfallende, abweichende Regelung, so durchbricht er die selbst gesetzte Sachgesetzlichkeit.277 Jedoch sind Systembrüche nicht schlechthin verboten. In der Sache besteht letztlich Identität mit der herkömmlichen Gleichheits- und Willkürdoktrin. Die Systemwidrigkeit stellt nur dann einen Verfassungsverstoß dar, wenn das Abweichen vom System nicht von sachlich vertretbaren bzw. überzeugenden Gründen gedeckt ist. 278 Die Systemgerechtigkeit dient nicht als eigenes, methodisch selbständiges Kriterium, sondern der Berücksichtigung sozialer Gegebenheiten im Entscheidungszusammenhang des mit Hilfe des Gleichheitssatzes zu lösenden Falles.279 Nach diesen Vorüberlegungen zur Systemgerechl igkeit müssen mit Blick auf die vorgenannte Schrifttumsmeinung zwei Fragestellungen klar getrennt werden: Zum einen die Frage, ob belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung stets der Lebenswahrscheirdichkeit entsprechen müssen, weil materielle Wertungen des Verfassungsrechts, insbesondere die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip, das Vorliegen einer entsprechenden Wahrscheinlichkeit gebieten. Diese Frage ist sogleich im Rahmen der Erörterung des Rechtsstaatsprinzips zu behandeln (mit negativem Ergebnis).280 Zum anderen die Frage, ob der Gesetzgeber (ohne entsprechenden verfassungsrechtlichen Zwang) freiwillig im Rahmen seiner Gesetzgebungsfreiheit ein einfachgesetzliches "System" geschaffen hat, wonach gesetzliche Vermutungen zulasten des Bürgers in der Eingriffsverwaltung stets empirisch fundiert sind, so daß er durch die Schaflung der nicht der Lebenserfahrung entsprechenden Vermutungen der §§ 22 III, 23a I, Π, 26 Π 3 GWB gegen dieses System verstieße. Im Rahmen des Gleichheitssatzes und der Systembindung kann es nur um die letztgenannte Fragestellung gehen.

277 BVerfGE 25,236 (252); 36,383 (394); 59,36 (45 f.); Battis FS KP. Ipsen, 1977,11 (14); Bleckmann, Staatsrecht Π, 3. Aufl. 1989, S. 552 ff. 278

BVerfGE 13,31 (38); 13,331 (340); 36,383 (394); 59,36 (49 f.); Canaris, Systemdenken, 1969, S. 128; Bleckmann, Staatsrecht Π, 3. Aufl. 19*9, S. 552 ff.; Battis FS KP. Ipsen, 1977, 11 (14 ff.), der sich unter Auseinandersetzung mit verschiedenen Lehrmeinungen dagegen ausspricht, dem Systemgerechtigkeitsgebot schilrfere Anforderungen beizumessen, als der herkömmlichen Gleichheits- und Willkürdoktriri des Art. 3 I GG; vgl. speziell zur Systemgerechtigkeit im Bereich der Fusionskontrolle Scholz, Entflechtung, 1981, S. 116 ff.; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 84 f. 279

Battis FS HP. Ipsen, 1977,11 (28).

280

Siehe unten § 6 I V . 3.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

207

Berücksichtigt man, daß gesetzliche Vermutungen "reine" Beweislastnormen sind, 281 so müßte der Gesetzgeber in der Konsequenz der vorgenannten Literaturmeinung ein System geschaffen haben, wonach sämtliche für den Bürger nachteiligen Beweislastnormen - nicht nur die Vermutungen - in der Eingriffsverwaltung der Lebenswahrscheinlichkeit entsprechen. Indessen existiert ein derartiges System nicht, wie zahlreiche nicht der Wahrscheinlichkeit entsprechende Beweislastnormen in der Eingriffsverwaltung belegen: z.B. § 161 AO; § 17 ZollG; § 3 III Nr. 1, § 4 II Nrn. 1, 3, 5, § 6 II Nrn. 1,4, § 7 II Nrn. 1, 5, § 9 II Nrn. 1, 5 AtomG; § 5 IV WafifG, § 30 I Nr. 3 WaffG; § 7a WHG, § 17 II BGSG; § 5 II Nr. 1, § 8 II Nr. 1 SprengG sowie zahlreiche "Verdachts"normen der §§ 30 ff. des BSeuchenG. Der Gesetzgeber wäre hinsichtlich der Schaffung eines derartigen Systems auch gar nicht frei. Wie gezeigt worden ist, wird er bei der Beweislastnormgebung vielfach durch Rechtsgüter- und Interessenbewertungen des materiellen Verfassungsrechts determiniert, 282 welche nicht der statistischen Wahrscheinlichkeit entsprechen. Man denke nur an zahlreiche Beweislastregelungen zulasten des Bürgers im Bereich der Gefahrenabwehr: Bestehen z.B. tatsächliche Zweifel bei der Zuverlässigkeit eines Atomanlagenbetreibers oder eines Herstellers explosionsgefährlicher Stoffe, bei der Gefährlichkeit von Chemieabwässern, bei Seuchensymptomen oder beim Bedürfiiis für die Erteilung eines Waffenscheins, so gebietet angsichts möglicher Katastrophen der hohe verfassungsrechtliche Rang der Rechtsgüter auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung eine Beweislastverteilung zulasten des Einzelnen auch ohne Vorliegen eines Erfahrungssatzes. 283 Sachgründe der Beweislastverteilung sind auch in der Eingriffsverwaltung materiale Güter-, Zweck- und Gerechtigkeitserwägungen, und zwar auch dort, wo der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum nicht durch bindende Verfassungswertungen eingeengt ist. Als Zwischenergebnis ist danach festzuhalten, daß ein Verstoß der §§22 III, 23 a I, II und 26 II 3 GWB gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG nicht erkennbar ist. 284 281

Siehe oben § 5 I. 2. und 3 , VII. 1 , IX.

282

Vgl. hierzu insbesondere § 6 Π. 1. b).

283

In diesem Sinne auch Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 224226; Peschau, Beweislast, 1983, S. 116. 284

Soweit im kartellrechtlichen Schrifttum geltend gemacht wird, die Vermutungen des § 23a GWB seien faktisch unwiderlegbar, da der Umsatz und damit die Unternehmensgröße alleiniges Untersagungskriterium sei, weshalb sie einen Formenmißbrauch darstellten bzw. gegen die Verfassungsprinzipien der Systemgerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit oder Verhältnismäßigkeit verstießen (vgl. hierzu die Nachweise in § 41. 1.), konnten diese Bedenken bereits

208

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung 2. Art. 1 9 I V GG

Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 IV GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes, der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. 285 Der gerichtlichen Durchsetzung eines materiellen Anspruchs dürfen nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden. 286 Die Gerichte müssen im jeweiligen Verfahren der normativen Geltung der Grundrechte tatsächliche Wirksamkeit verschaffen. 287 Bezogen auf die materielle Beweislast besteht Einigkeit darüber, daß die Garantie effektiven Rechtsschutzes den Richter verpflichtet, trotz eines non liquet eine Entscheidung in der Rechtsfrage zu treffen. 288 Umstritten ist demgegenüber die nachgeordnete Frage, ob die effektive Rechtsschutzgarantiii auch den Inhalt der Beweislast determiniert. So wird die Auffassung vertreten, Art. 19 IV GG realisiere das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 III GG) zugunsten des Einzelnen; dieser Schutz laufe aus Sicht des Bürgers weitgehend leer, wenn ihm Rechtsschutz dort versagt werde, wo ein Verstoß der Verwaltung gegen die Gesetzesbindung zwar möglich, aber nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellbar sei. Art. 19 IV GG gebiete, daß ein subjektives öffentliches Recht des Einzelnen grundsätzlich nicht an der Unaufklärbarkeit der tatsächlichen Voraussetzungen scheitere. 289 Im gleichen Sinne hat das BVerwG in einer älteren Entscheidung ausgeführt, es bedeute eine mit der Rechtsschutzgarantie nicht zu vereinbarende Überlegenheit der Verwaltung, wenn die Gerichte in Zweifelsfällen an die Sachverhaltsfeststellung der Verwaltung gebunden seien, weshalb bei Ab weh'klagen Zweifel an den tatsäch-

in § 5 ΙΠ. vor 1. durch das rechtstatsächliche Ergebnis widerlegt werden, daß die Vermutungen des § 23a GWB in der ganz überwiegenden Zahl aller "Aufgreiffälle" widerlegt werden. 285

Ständige Rspr. des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 10,267; 25,365; 35,274; 35,401; 37, 153; 41,26; 41, 326; 42, 130; 42, 310; 44, 305; 46, 178; 49,341; 51,284; 53,127 f.; 54, 41; 60, 296 f., 77, 284; 78, 99; femer Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 19 Rz. 30; Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1983, Art. 19 Rz. 446. 286

BVerfGE 53,115 (128 m.w.N.); 51,150 (156).

287

BVerfGE 49,257; E 53, 30 (72-74 m.w.N); E 51,150 (156); E 53,115 (127); E 63, 131 (143); Leibholz/Rinck/Hasselberger, GG, 7. Aufl., Stand 24. Lfg. 1993, Art. 19 Rz. 448. 288

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 43, 124 f., Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 35 f.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 20. 289

217 ff.

Lühe JZ 1966, 587 (590); Michael, Verteilung der objektiven Beweislast, 1976, S.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

209

liehen Voraussetzungen eines Eingriffs zulasten der Behörde gehen müßten.290 In seiner Beweislastrechtsprechung zum Prüfungsrecht geht das BVerwG davon aus, das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderten in bestimmten Fällen bzw. je nach Gewicht der beiderseitigen Interessen Ausnahmen von den "allgemeinen Regeln der Beweislastverteilung". 291 Peschau meint, das Gebot des effektiven Rechtsschutzes bestätige, daß bei belastenden Akten öffentlicher Gewalt die Beweislast der Verwaltung als Prinzip gewahrt bleiben müsse.292 Nierhaus ist der Ansicht, im Geltungsbereich des Art. 19IV GG komme den Beweislastverteilungsnormen eine "Komplementärfunktion" zu. Das "Beweisrecht" habe in Form der Sphärentheorie 293 Auswirkung auf die Verwirklichung des materiellen Rechts. Die notwendige Klammerfunktion nehme die effektive Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG wahr. 294 Zwar gewähre Art. 19 IV GG keine materiellen Rechte, doch bilde er einen verfassungsrechtlichen Prüfstein für die Verteilung der Beweislast. Die gerechte Entscheidung im non liquet-Fall trage ganz wesentlich zur Effektivität des Rechtsschutzes bei. 295 Die Gegenansicht argumentiert, Art. 19 IV GG gebe für die Beweislastverteilung nichts her. Jeder Versuch, aus der Rechtsschutzeffektivität die Folge abzuleiten, der Rechtsschutzsuchende dürfe nicht mit dem Rechtsnachteil aus der Unerweislichkeit einer Tatsache belastet werden, gehe an der Differenziertheit verwaltungsrechtlicher Interessenwertungen vorbei. 296 Das von Art. 19 IV GG geforderte Erkenntnis- und Beweisverfahren solle gerade zur Vermeidung eines non liquet führen. Die Frage der Verteilung des Risikos im non liquet-Fall sei sachlich und zeitlich nachgeordnet. 297 In der Konsequenz des oben entwickelten Grundansatzes, daß verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien als Determinanten des materiellen Rechts ausscheiden,298 lassen sich aus der auf die Verfahrens%esia\hm% gerichteten Garantie effektiven Rechtsschutzes für den Inhalt des materiellen Rechts, dessen Bestandteil die abstrakte Beweislast ist, keine Folgerungen herleiten. Art. 19 IV GG will als formelles 290

BVerwGE 18,168(173).

291

BVerwGE 78,367 (370 f , 373); 70,143 (148); besprochen in § 6 Π. 1. d).

292

Peschau, Beweislast, 1983, S. 104.

293

Ausführlich zur "Sphärentheorie" § 6 Π. 2. und m. 1. b).

294

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 235,468.

295

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 235 f.

296

Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 19 I V Rz.

227. 297

Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 19 f.

298

Siehe § 6ΙΠ. l . b ) und c).

14 Ittner

210

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Hauptgrundrecht zwar helfen, den Schutz subjektiver Rechte zu effektivieren, er enthält jedoch selbst keine sachlich-inhaltlichen Aussagen, sondern setzt die Existenz zu schützenden materiellen Rechts voraus. 299 Wenn Art. 19 IV GG selbst keine sachlich-inhaltlichen Aussagen enthält, kann er den Inhalt einfachen materiellen Rechts nicht determinieren. 300 Auch die Differenzierung von Nierhaus, Art. 19 IV GG gewähre zwar keine materiellen Rechte, doch bilde er einen Prüfstein für die Beweislastverteilung, löst das Begründungsdefizit, warum eine formelle Verfahrensgarantie Einfluß auf den Inhalt des materieller Rechts haben soll, nicht auf. Insoweit kann auf die oben an der Lehre von Nieriaus geäußerte Kritik verwiesen werden. 301 Abzulehnen ist in der Konsequenz dieser Überleitungen auch die Ansicht, Art. 19 IV GG gebiete, daß ein subjektives öffentliches R.echt grundsätzlich nicht an der Unaufklärbarkeit seiner tatsächlichen Voraussetzungen scheitere. Art. 19 IV GG garantiert nur effektive Verfahrensbedingungen zur Vermeidung eines non liquet, eine "Rechtsverwirklichungsgarantie" enthält er nicht. Die Gewährleistung des Art. 19IV GG endet dort, wo die prozessuale Aufklärung trotz fairer Verfahrenschancen erfolglos geblieben ist. Ebenso abzulehnen ist die Auffassung, Art. 19 [V GG realisiere das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dieser Schutz laufe leer, wenn dem Bürger Rechtsschutz dort versagt werde, wo ein Verstoß der Verwaltung gegen die Gesetzesbindung zwar möglich, aber nicht zur Überzeugung des Gerichts feststellbar sei. Diese Ansicht basiert letztlich auf der Vorste lung, in der Eingriffsverwaltung trage der Staat stets die Beweislast für die Voraussetzungen belastender Akte. Daß diese Vorstellung die komplexen und vielfältigen materiellen Rechtsgüter- und Interessenbewertungen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts ignoriert, wird noch näher auszuführen sein.302 Irrtümlich ist aber auch die Annahme, Art. 19 IV GG realisiere das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 III GG). Es ist gerade die Beweislastnorm - nicht die Verfahrerisgarantie des Art. 19 IV GG -, welche materielles Recht speziell für den non liquet Fall schafft 303, so daß der Rechtsanwender bei jedem Inhalt der Risikozuweisung gesetzestreu entscheiden kann. 299

BVerfGE 15, 275 (281); Jarass/Pieroth, Beweislast 1983, S. 95.

GG, 3. Aufl. 1995, Art. 19 Rz. 21; Peschau,

300

Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. ^ 48. Vgl. diesbezüglich allgemein zu den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien § 6 ΠΙ 1. b). 301

§ 6ΠΙ. l.b).

302

Hierzu sogleich unter § 6 IV. 4.

303

Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 86; den, FS LG Saarbrücken, 1985, S. 257

(269).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

211

Die Schwäche derjenigen Ansichten, die mittels der Garantie effektiven Rechtsschutzes - teils in Verbindung mit den Verfassungsgeboten der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens - den Schluß konstruieren wollen, das "Beweisrecht" habe Auswirkung auf die Verwirklichung des materiellen Rechts, es trage zur Effektivität dessen Schutzes bei, hegt in der unbegründeten Prämisse, die materielle Beweislast diene der Verwirklichung des materiellen Rechts.304 Beweislastnormen "dienen" nicht der "Verwirklichung" des materiellen Rechts, sie sind vielmehr selbst dessen Bestandteil. Daher dienen sie auch nicht dem Ausgleich prozessualer Nöte. Als Gegenstände der Rechtsanwendung setzen sie voraus, daß eine optimale Sachverhaltsaufklärung bereits stattgefunden hat. 305 Festzuhalten ist nach alledem, daß die effektive Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG als Determinante der materiellen Beweislast und damit der Vermutungen der §§ 22 III, 23a I, II und 26 II 3 GWB ausscheidet.

3. Weitere Aspekte des Rechtsstaatsprinzips

Zu prüfen bleibt, ob die Beweislastverteilung der Vermutungen des GWB gegen sonstige Aspekte des Rechtsstaatsprinzips verstößt. Dabei konzentriert sich die Untersuchung zum einen auf die Fragestellung, ob der Verfassung ein "allgemeines" Beweislastverteilungsprinzip/-schema im Sinne einer Grundregel entnommen werden kann [a)] und zum anderen auf die Erörterung angeblicher Besonderheiten der Beweislastverteilung in der Eingriffsverwaltung [b)]. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips wird auf seine beweislastrechtliche Relevanz im Rahmen der Prüfung zu erörtert, ob die Vermutungen des GWB gegen Freiheitsgrundrechte verstoßen. 306

a) Verfassungsrechtliches

Beweislastprinzip?

Die bereits in § 6 III 2 erörterte Frage, ob der Verfassung eine "allgemeine" Beweislastverteilungs-Grundregel etwa im Sinne eines Angreiferprinzips, eines Regel/Ausnahme-Schemas oder einer Normbegünstigungsregel entnommen werden kann, wird im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips erörtert, weil sich eine derartige Grundregel mangels ausdrücklicher Verfassungsbestimmung nur aus der Zusammenschau materialer Verfassungswertungen entwickeln ließe und die meisten dieser

1*

304

So ausdrücklich Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 235.

305

Vgl. § 6ΠΙ. l.b).

306

Siehe unten § 6 IV. 4. e).

212

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beislastverteilung

Wertungen nichts anderes als die Konkretisierung der dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit innewohnenden Idee der Gerechtigkeit sind. 307 Klarzustellen ist, daß sich das Rechtsstaatsprinzip nicht mit überpositiver] Gehalten auffüllen läßt; die Anforderungen der materiellen Rechtsstaatlichkeit müssen aus der Verfassung selbst abgeleitet werden. 308 Die Suche nach der Existenz einer verfassungsrechtlichen Beweislast-Grundregel ist bisher nur vereinzelt betrieben worden. Im älteren Schrifttum ist u.a. mit rechtsphilosophischen Erwägungen die Formel "in dub ο pro liberiate" als verfassungsrechtliches Beweislastprinzip befürwortet worden. 309 Diese Formel ist in der beweislastrechtlichen Literatur auf einhellige Ablehnung gestoßen.310 In jüngerer Zeit haben vor allem die Ansätze von Peschau311 und Nagler 312 die Diskussion neu belebt. 313 Peschau vertritt die Ansicht, wegen der Bej^ründungsbedürftigkeit der Freiheitsbeschränkung definiere die Verfassungsordnung das prinzipielle Verhältnis Staat/Bürger dahin, daß die Freiheit als Regelfall und deren Beschränkung als Ausnahme anzusehen sei. Als Prinzip müsse daher gewährleistet sein, daß der Staat das Aufklärungsrisiko für die tatsächlichen Voraussetzungen belastenden Verwaltungshandelns trage. Daraus folge aber nicht, daß die Etehörde die Beweislast für sämt-

307 Insbesondere die Grundrechte einschließlich ihrer Gesetzesvorbehalte, der Vorbehalt des Gesetzes und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, vgl. Jarass/ Pieroth, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 20 Rzn. 20 ff. 308

Jarass/Pieroth,

GG, 3. Aufl. 1995, Art. 20 Rz. 22

309

Vor allem P. Schneider, FS 100 Jahre DJT, Band Π, 1960, S. 263 ff.; Auer, Die Verteilung der Beweislast im Verwaltungsstreitverfahren, 1963, S. 65 ff., 77 ff., 88 ff.; v. Zezschwitz JZ 1970,233 ff. 310

Gegen die Formel "in dubio pro libertate": J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 106 f.; Weber-Gr eilet, Beweis- und Argumentationslast, 1979, S. 41 f.; Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 192 ff.; Peschau, Beweislast, 1983, S. 68 ff ; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 420 f.; Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 94 ff.; aus ziv irechtlicher Sicht Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 247 f. 311

Die Beweislast im Verwaltungsrecht, 1983, S. 82 ff.

312

Dogmatische Strukturen der Beweislast im öffentlichen Recht, 1989, S. 138 ff.

313

Die 1979 von Weber-Grellet unter dem Titel "Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" geführte Untersuchung ist für die vorliegende Suche nach einer verfassungsrechtlichen Beweislast-Grundregel nicht ergiebig, da Weber-Grellet sich im wesentlichen mit der Frage auseinandersetzt, ob der Gesetzgeber die Beweislast für das Vorliegen solcher Tatsachen trägt, die eine gesetzlich; Regelung rechtfertigen. Diese löst er in Anlehnung an Grad und Umfang der Qualifikationskompetenzen, welche die Grundrechte dem Gesetzgeber gewähren; vgl. Weber-Grellet a.a.O., S. 45 ff., 75 ff.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

213

liehe Voraussetzungen eines belastenden Aktes tragen müsse. Es reiche aus, wenn sie hinsichtlich des Regeltatbestandes belastet sei und Ausnahmen in das Aufklärungsrisiko des Bürgers gestellt würden. 314 Demgegenüber ist Nagler der Auffassung, die von ihm entwickelte - allerdings nicht aus Wertungen der Verfassung abgeleitete - "Theorie der negativen Grundregel" sei das geeignete Prinzip, die Beweislastverteilung im Bereich der Grundrechte und des übrigen Verfassungsrechts schlüssig zu "erklären". 315 Zunächst ein Wort zu Naglers Theorie von der Geltung einer "negativen Grundregel" im Verfassungsrecht. Bedenkt man, daß nach moderner Lehre die materielle Beweislast stets in den Wertungen des materiellen Rechts positiv angelegt ist und gegebenenfalls im Wege der Gesetzesauslegung aus diesem freizulegen ist ("Normwertungslehre") 316, so kann man nicht - wie Nagler dies tut - ohne jede Auseinandersetzung mit dieser Lehre und ohne nähere Begründung einfach behaupten, die Beweislast sei im materiellen Recht nur ausnahmsweise positiv geregelt 317 und darauf basierend die Geltung einer negativen Grundregel im Verfassungsrecht unterstellen. Die Geltung einer negativen Grundregel läßt sich nicht einfach in das Verfassungsrecht "übertragen" 318, ohne ihre Geltung aus diesem zu entwickeln. Die Schwäche beider vorgenannten Ansätze liegt darin, daß sie die Vielschichtigkeit, Komplexität und Unterschiedlichkeit materieller Verfassungswertungen in den verschiedensten non liquet-Konstellationen entweder gänzlich ignorieren (Nagler) oder mittels einer viel zu groben, unflexiblen Formel auf eine Faustregel pressen wollen (Peschau). Oben 319 ist bereits dargelegt worden, daß die Verfassung mit ihrem System ausdrücklicher und immanenter Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken ein wesentlich feingliedrigeres und differenzierteres System zur Freilegung und Kollisionslösung materieller Güter- und Interessenwertungen zur Verfugung stellt, als nur ein grobes, unflexibles Prinzip, welches den facettenreichen Wertungsmöglichkeiten des materiellen Rechts in unterschiedlichsten non liquet-Konstellationen gar nicht gerecht werden kann. Ebensowenig wie man den materiellen Inhalt des Verfassungsrechts als solchen in einer griffigen Faustformel zusammenfassen kann, kann man den Inhalt der verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast auf eine Formel bringen, es sei denn, man erhebt die Beachtung der Wertungen des materiellen Verfassungsrechts als solche zum Prinzip 314

Peschau, Beweislast, 1983, S. 85-87,154.

315

Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 147 f f , 210 f.

316

Siehe oben § 6 m. 2. b).

317

Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 75 f f , 110 f f , 136 ff.

318

Nagler, Dogmatische Strukturen der Beweislast, 1989, S. 147 f , 161.

319

Vgl. §6 Π. l . b ) und 2. b).

214

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

("in dubio pro ratione legis" 320 ). Oben 321 ist bereits dargelegt worden, daß kein Beweislastprinzip und keine Grundregel qualitativ mehr als nur eine "Systematisierungsformel" gleichgerichteter materieller Gütei Bewertungen sein kann. Derartige Prinzipien oder Regeln verteilen die Beweislas : nicht, sondern sie systematisieren lediglich schlagwortartig häufig anzutreffende, gleichgerichtete Güterbewertungen eines Rechtsgebietes, die bereits materiellrechtlich getroffen worden sind. Je komplexer, vielschichtiger und uneinheitlicher die in einem Rechtsgebiet bewerteten Rechtsgüter und Interessen sind - dies gilt in besonderem Maße für das Verfassungsrecht -, desto geringer sind die Aussichten darauf, ein einheitliches Muster gleichgerichteter Wertungen vorzufinden, das sich in einer "Systematisierungsformel" zusammenfassen ließe. Können danach z.B. das Angreiferprinzip, das Regel/Ausnahme-Schema oder der Gedanke der Normbegünstigung im Verfassun gsrecht nicht mehr als die Qualität "sekundärer Erklärungstheorien" für materiell hingst getroffene Wertungen haben, so erscheint es angesichts vielfältigster materiel 1er Verfassungswertungen müßig, derartige Systematisierungsversuche zu unternehmen. Determiniert wäre der beweislastnormsetzende Gesetzgeber durch eine derartige Formel ohnehin nicht.

b) Besonderheiten der Eingriffsverwaltung Zu untersuchen bleibt, ob der Gesetzgeber beim Erlaß von Beweislastnormen in der Eingriffsverwaltung durch Wertungen der Verfassung dergestalt einheitlich determiniert ist, daß eine Beweislast des Gewaltunterworfenen für die Voraussetzungen des Eingriffstatbestandes grundsätzlich ausgeschlossen oder nur eingeschränkt zulässig ist. Im kartellrechtlichen Schrifttum wird die Ansicht vertreten, die Vermutungen des GWB verstießen gegen das Rechtsstaatsprinzip, da die Voraussetzungen freiheitsbelastender Verwaltungsakte in der Eingriffsverwaltung vom Staat vollständig nachgewiesen werden müßten.322 Von anderer Seite wird geltend gemacht, belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung müßten sich innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder empirisch einwandfrei abgesichert seien. Nicht em-

320

In diesem Sinne Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 243.

321

Siehe oben § 6 m. 2. b).

322

Leo, WRP 1970, 197, 200 f. (zu § 22 Π 2 Re i5 E); Gleiss/Bechtold, BB 1973, 1142, 1147 (zu § 22 ΠΙ); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 576 (zu §§ 22 ΙΠ, 23a Π); Wirz, WuW 1975, 611, 613 f. (zu § 22 ΠΙ); Knöpfte, NJW 1988, 1116,1118 (zu § 23a); vgl. ferner die Rede des Berichterstatters des Rechtsausschusses, dss Abgeordneten Alber, im Bundestag am 14.6.1973, WuW 1973, 599 f. (oben § 3 I.).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

215

pirisch abgesicherte Vermutungen verstießen gegen das Rechtsstaatsprinzip.323 Der Gesetzgeber sei daher im Falle von Fehlprognosen nach den Grundsätzen des Entwicklungsspielraums gehalten, die falsifizierte Norm wieder aufzuheben. 324 Die vorstehenden Meinungen lassen jede nähere Begündung vermissen, worin bei hoheitlichen Eingriffen in Grundrechte eigentlich die qualitative Besonderheit bzw. die besondere materielle Verfassungswertung liegen soll, welche eine Beweislast des Gewaltunterworfenen für Eingriffsvoraussetzungen nicht zuläßt. Oben 325 ist bereits dargelegt worden, daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht zur Begründung herangezogen werden kann, weil die Beweislastnorm materielles Recht gerade für den non liquet Fall schafft, so daß die Behörde auch im Fall der materiellen Beweislast des Bürgers auf gesetzlicher Grundlage handelt. Berg warnt zurecht vor der "Fatalität des Eingriffsdenkens" bei der Beweislastverteilung mit dem Hinweis, der überall zitierte "Einzelne", der als Vertreter des Individualinteresses der Behörde als Vertreterin des öffentlichen Interesses und des Gemeinwohls entgegentrete, sei eine ebenso unrealistische Konstruktion wie die gesamte vorgebliche Frontstellung und die Entgegensetzung der Interessenlagen.326 Derartige Überlegungen treffen in besonderem Maße für die Aufsicht über marktstarke Unternehmen durch die Kartellbehörde zu, deren Aufgabe es ist, die Grundrechtsverwirklichung der Mitwettbewerber zu schützen und so ein insgesamt möglichst freiheitliches Wettbewerbssystem zu fördern. Die grundrechtsrelevante Verengung wettbewerblicher Handlungsspielräume einzelner dient der Effektivierung der Grundrechtsverwirklichung aller Wettbewerber ("Grundrechtsoptimierung"). 327 Die Kartellbehörde wird nicht nur zur Realisierung des öffentlichen Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb tätig, sondern auch zur Lösung der Kollisionen zwischen Freiheitsgrundrechten einzelner Wettbewerber. 328 Die staatliche Aufsicht 323 Leo, WRP 1970, 197, 201 (zu § 22 Π 2 RegE); ders., WRP 1972, 1, 13 f. (zu § 22 I 3 RegE); Meier, ZHR 145 (1981), 429 f.; Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574, 579 (für den Fall des gleichzeitigen Eingreifens mehrerer Vermutungen). 324

Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 95 f.; ders., Entflechtung, 1981, S. 235 f.; Kaiser, WuW 1978,344 (362). 325

Siehe § 6 IV. 2.

326

Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 240 f.

327

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 384 f.; vgl. zum diesbezügl. Zweck der Vermutungen des GWB bereits § 5 ΙΠ. 2. b). 328 Daß die kartellbehördliche Aufsicht nicht nur dem Schutz des Wettbewerbs als Institution, sondern gerade auch dem Schutz der Wettbewerber dient, ist allgemeine Meinung, vgl. nur Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 388; ders., Entflechtung, 1981, S. 94,96 f.; Meier ZHR 145 (1981), 393 (422).

216

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

rangiert gewissermaßen "zwischen" mehreren kollidierenden Wettbewerbsfreiheiten mit dem Ziel einer größtmöglichen Verwirklichung grundrechtlich geschützter Freiheit aller. Wenn der Gesetzgeber bei der Beweislastnormset zung nur durch materielles Verfassungsrecht determiniert ist, 329 so können nur dessen Wertungen selbst im grundrechtssensiblen Bereich der Eingriffsverwaltung den Schutz des Einzelnen herstellen. Gerade in diesem Bereich hält die Verfassung durch das System der Grundrechtsschranken und Schranken-Schranken besondere Mechanismen bereit, um zu gewährleisten, daß bei Aufstellung der materiellen Beweislastnorm der Inhalt der betroffenen Grundrechte des Einzelnen ausreichende Berücksichtigung im Rahmen der Freilegung und Kollisionslösung der involvieren Rechtsgüter und Interessen erlangt. So wurde oben bereits angesprochen, daß z.B. im Bereich des materiellen Strafrechts das verfassungsrechtliche Gewicht der Menschenwürde des Beschuldigten in jedem non liquet-Fall überwiegt ("in dubio pro reo"). 330 Schon nicht mehr so eindeutig ist die Gewichtung der kollidierenden Güter und Interessen im Bereich des formellen Strafrechts. Dort ist im einzelnen umstritten, in welchen Fällen die materielle Bewertung der kollidiernden Interessen eine dem Beschuldigten günstige Beweislast auch für verfahrensrechtlich erhebliche Tatsachen gebietet.331 Den genauen Gegenpol bilden non liquet-Konstellationen aus Bereichen der Eingriffsverwaltung, in denen angesichts möglicher Katastrophen das eindeutige Überwiegen der Rechtsgüter auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung eine Beweislast zulasten des einzelnen Gruidrechtsträgers auch ohne Vorliegen eines Erfahrungssatzes gebietet, so etwa im Bereich der Gefahrenabwehr, wenn tatsächliche Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Atomanlagenbetreibers, eines Herstellers explosionsgefährlicher Stoffe, bei der Gefährlichkeit von Chemieabwässern, bei Seuchensymptomen oder beim Bedürfiiis für die Erteilung eines Waffenscheins bestehen.332 Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, belastende Beweislastnormen in der Einfgriffsverwaltung nur nach abstrakter Wahrscheinlichkeit oder anhand von Erfahrungssätzen auszurichten, würde im übrigen dogmatische Probleme auslösen, weil derartige Normen in Wahrheit "verdeckte Beweisregeln" wären. Wie oben333 näher dargelegt worden ist, läge eine normative Ausdehnung des An329

Siehe oben § 6 ΙΠ. 1. b) und passim.

330

Vgl. § 6 ΠΙ. 2. b).

331

Ausführlich zum Streit um den Anwendungsbereich des Satzes "in dubio pro reo" KleinknechtMeyer-Goßner, StPO, 42. Aufl. 1995, § 261 Rzn. 26 ff, 33 ff. m.w.N. 332 Vgl. hierzu mit Hinweis auf zahlreiche Beweislastregelungen zum Nachteil des Bürgers in der Eingriffsverwaltung ohne Fundierung durch die Lebenswahrscheinlichkeit § 6 IV. 1. b). 333

Vgl. hierzu § 5ΙΠ. 1.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

217

scheinsbeweises bzw. eine normative Ersetzung der nicht erreichten richterlichen Überzeugung vor, so daß die Frage nach dem Risiko echter Überzeugungslosigkeit gar nicht mehr aktuell würde. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß belastende Beweislastnormen in der Eingriffsverwaltung je nach verfassungsrechtlicher Rechtsgüter- und Interessenbewertung auch dann rechtmäßig sein können, wenn sie nicht der Lebenserfahrung entsprechen. Die materiellen Inhalte der Verfassung geben für die hoheitliche Eingriffsverwaltung keine "typische" Güter- und Interessenbewertung vor, nach der das Interesse des betroffenen Bürgers grundsätzlich das größere Gewicht hätte odernach der belastende Beweislastnormen stets der Wahrscheinlichkeit entsprechen müßten. Demzufolge verstoßen die Vermutungen der §§22 III, 23 a I, II, 26 II 3 GWB nicht allein deshalb gegen die Verfassung, weil sie als nachteilige Beweislastnormen entgegen der Annahme des Gesetzgebers nicht der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen.334 Zu prüfen ist vielmehr, ob durch diese Beweislastregelungen unverhältnismäßig in die Grundrechte der betroffenen Unternehmen eingegriffen wird.

4. Freiheitsgrundrechte und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Die bisherigen Überlegungen in § 6 haben zu der Einsicht geführt, daß es vor allem die Freiheitsgrundrechte sind, welche als Quellen materialer Rechtsgüter- und Interessenbewertungen den Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Vermutungen des GWB bilden. Gegenstand der Grundrechtsprüfung ist nicht die Frage, ob die kartellrechtlichen Verbotstatbestände und Eingriffsermächtigungen, deren einzelne Tatbestandsvoraussetzungen Gegenstand der Vermutungen des GWB sind, verfassungsgemäß sind335. Zu prüfen ist also nicht, ob es mit den Grundrechten der betroffenen Unternehmen vereinbar ist, - wenn die Kartellbehörde marktbeherrschenden Unternehmen ein mißbräuchliches Verhalten untersagen und Verträge für unwirksam erklären kann (§ 22 V, IV GWB), - wenn das Bundeskartellamt einen Zusammenschluß, durch den die Entstehung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung zu erwarten ist, untersagen muß (§ 24 II, I GWB) oder 334 Daß entgegen der Motive des Gesetzgebers nicht eine der kartellrechtlichen Vermutungen der regelmäßigen Lebenserfahrung entspricht, wurde in § 5 ΙΠ. vor 1. näher ausgeführt. 335

§ 22 V, IV; § 24 Π, I; §§ 26 Π, 37a Π GWB. Hierzu näher § 2.1.

218

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

- wenn den Unternehmen ein behinderndes oder diskriminierendes Verhalten gegenüber abhängigen Unternehmen verboten ist und die Kartellbehörde ein solches Verhalten untersagen kann (§§ 26 IL 37a II GWB). In dem hier interessierenden Zusammenhang geht es vielmehr um die Verfassungsmäßigkeit des darin liegenden Nachteils für die Unternehmen, daß die Vermutungen die Anweisung enthalten, das vermutete Merkmal auch dann als gegeben zu behandeln, wenn insoweit ein non liquet besteht.336 Der vermutungsspezifische Nachteil besteht nur darin, daß Eingriffe in die Freiheit der Unternehmen nicht nur beim Feststehen des Tatbestandsmerkmals, sonderi gerade zusätzlich im non liquetFall gerechtfertigt sind (vorausgesetzt, die Vermutungsvoraussetzungen liegen vor). Auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten dei· betroffenen Unternehmen zu untersuchen ist nur diese zusätzliche, eigenständige Verschärfung des Inhalts, daß die Verbots- bzw. Eingriflfsvoraussetzung auch dann als gegeben zu behandeln ist, wenn insoweit ein non liquet verbleibt und die Vermutungsvoraussetzungen gegeben sind. Die zusätzliche materielle Verschlechterung der Rechtslage für die Unternehmen ist noch in das System des grundrechtlichen Eingriifsbegrififs einzuordnen. "Eingriff' ist jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, welches in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, unmöglich macht, gleichgültig, ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich erfolgt. 337 Der Eingriff kann individuell (durch Verwaltungsakt, Gerichtsurteil) oder generell (durch Gesetz) erfolgen. Er kann durch ein Gesetz auch lediglich ermöglicht werden. Wenn z.B. das Gesetz die Verwaltung ermächtigt, dem Einzelnen ein Verhalten zu verwehren, so entscheidet es zwar schon, welche Eingriffe den Einzelnen treffen können, es nimmt sie aber noch nicht vor. 338 Demgemäß weisen die Vermutungen des GWE, soweit sie im Rahmen der Eingriffsermächtigungen der §§ 22 V, IV, 24 II, I une. 37a II GWB Anwendung finden, nicht selbst die Qualität gesetzlicher Eingriffe auf. Vielmehr rechtfertigen sie einen Eingriff durch Verwaltungsakt. Dieser Eingriff, welcher durch die materiellrechtliche Fiktion des vermuteten Merkmals im non liquet-Fall gerechtfertigt ist, erfolgt nicht durch, sondern aufgrund eines Gesetzes (= der Beweislastnorm). Demgegenüber erfolgt im Falle des unmittelbar wirkenden verwaltungsrechtlichen Verbotes des § 26 II GWB der Eingriff durch Gesetz Diese Unterscheidung bedarf im folgenden freilich keiner näheren Vertiefung, da es in dem hier interessierenden Zu-

336

Vgl. zur diesbezüglichen Anweisung der gesetzlichen Vermutungen Prütting, Gegenwartsprobleme, 1983, S. 50. 337

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 274.

338

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 239.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

219

sammenhang allein auf die Frage ankommt, ob das den Eingriff rechtfertigende bzw. bewirkende Gesetz seinerseits verfassungsgemäß ist. 339 Im folgenden sind zunächst die Maßstäbe der Verfassungskontrolle, insbesondere die Schutzbereiche der tangierten Grundrechte, näher zu bestimmen [a)]. Im Anschluß daran ist nochmals kurz auf die Frage des Charakters der Grundrechte als materielle Vermutungsregeln einzugehen[b)], bevor die Verfassungsmäßigkeit der kartellrechtlichen Vermutungen bzw. der durch sie gerechtfertigten Eingriffe am Maß stab des Art. 12 I GG unter besonderer Berücksichtigung der "Dreistufentheorie" des Β VerfG geprüft wird [c)]. Sodann ist die Vereinbarkeit der Vermutungen bzw. der durch sie ermöglichten Eingriffe mit Art. 9 I GG abzuhandeln [d)], bevor unter [e)] ein Zwischenergebnis festgehalten wird.

a) Maßstab der verfassungsrechtlichen

Prüfung/tangierte

Grundrechte

Fraglich ist, ob die (zusätzlichen) Eingriffe in wettbewerbliche Handlungsspielräume der betroffenen Unternehmen im non liquet-Fall nur am Maßstab der individuellen Einzelgrundrechte der Unternehmen zu kontrollieren sind oder ob sie auch an einem verselbständigten "Schutz- und Ordnungszusammenhang der Grundrechte" bzw. an einem "institutionellen Zusammenhang der Wirtschaftsverfassung" zu messen sind. Das Β VerfG geht in ständiger Rechtsprechung von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes aus.340 In seinem "Mitbestimmungsurteil" hat es ausgeführt, das Grundgesetz enthalte weder die unmittelbare Festlegung einer bestimmten Wirtschaftsordnung, noch konkrete Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens. Es überlasse die Gestaltung der Wirtschaftsordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden habe, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen. Diese Gestaltungsfreiheit könne im Wege einer Grundrechtsinterpretation nicht weiter eingeschränkt werden, als die Einzelgrundrechte dies geböten. Die Bedeutung der Grundrechte sei primär eine solche der Wahrung der individuellen Freiheit des einzelnen Bürgers, die der Gesetzgeber auch bei der Ordnung der Wirtschaft zu respektieren habe, nicht jedoch die eines institutionellen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung, der durch verselbständig339

Daß es auf die Verfassungsmäßigkeit des rechtfertigenden Gesetzes selbst auch dann ankommt, wenn die auf seiner Grundlage beruhende Entscheidung angegriffen wird, folgt z.B. aus § 95 ΠΙ BVerfGG. 340

BVerfGE 4, 7 (17 f.); 7, 377 (400); 12, 341 (347); 14,19 (23); 14,263 (275); 21, 73 (78); 25,1 (19 f.); 30,292 (317 ff); 50,290 (336 ff.).

220

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

te, den individualrechtlichen Gehalt der Grundrechte überhöhende Objektivierungen begründet werde. Das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch neutral. Der Gesetzgeber dürfe jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei die in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen Freiheiten beachte.341 Diese Rechtsprechung des Β VerfG ist im Schrifttum auf breite Zustimmung gestoßen.342 Mit dieser Rechtsprechung ist klargestellt, daß die Vermutungen des GWB als Elemente wirtschaftspolitischer Gestaltung ("Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck" 343) weder am Maßstab einer "institutionellen Wirtschafisverfassung des Grundgesetzes" noch an einem "wirtschaftspolitischen Ordnungszusammenhang der Grundrechte", sondern lediglich an den individuellen Freiheitsgewährleistungen der tangierten Einzelgrundrechte der Unternehmen zu messen sind. Zu klären ist nun, welche einzelgrundrechtlichen Schutzbereiche durch die Vermutungen des GWB bzw. durch die durch sie gerechtfertigten Eingriffe tangiert werden. Da die Vermutungen die Anwendung de:> Verbots- bzw. Eingriffstatbestandes im non liquet-Fall ermöglichen, werden die Unternehmen durch Eingriffe, die erst durch die Vermutungen gerechtfertigt werden, eben in denjenigen Grundrechten tangiert, in denen sie aufgrund des Verbots- bzw. Eingriffstatbestandes tangiert werden. Diefraglichen Verbots- und Eingriffstatbestände verbieten bzw. rechtfertigen die Untersagung bestimmter wettbewerblicher Verhaltensweisen und Verträge (§§ 22 V, IV, 26 II und 37a II GWB) sowie die Untersagung bestimmter Unternehmenszusammenschlüsse (§ 24 II, I GWB). Dadurch werden einerseits die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit allgemein sowie als deren spezielle Ausprägungen die unternehmerische Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit t;ingiert (§§ 22 V, IV, 26 II und 37a II GWB), andererseits wird die gesellschaftsrechtliche Freiheit des Sich-Vereinigens tangiert (§ 24 II, I GWB). aa) Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum werden die unternehmerische Betätigungsfreiheit, die Wettbewerbsfreiheit und die Vertragsfreiheit auf wirtschaftlichem Sektor durch Art. 12 1 GG geschützt.344 In der älteren 341

BVerfGE 50,290 (337 f.).

342

Vgl. nur Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., -Ii. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 77 ff. m . w . N , 383; ders, Entflechtung, 1981, S. 96, 110 f ; R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band IV, 1989, § 147, Rzn. 19 f , § 148, Rzn. 12,16 f , 20. 343

Vgl. zum diesbezüglichen Zweck der Vermutunger des GWB § 5 ΙΠ. 2. b).

344

BVerfGE 32,311 (317); 46,120 (137 f.); 50,290 (363); Scholz in Maunz/Dürig,

GG,

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

221

Rechtsprechung und Literatur wurde die Ansicht vertreten, die wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit, die Wettbewerbsfreiheit und weite Bereiche der Vertragsfreiheit seien nicht vom Schutzbereich spezieller Freiheitsrechte erfaßt, so daß Art. 2 I GG als lex generalis eingreife. 345 Demgegenüber überwiegt heute die Einsicht, daß wegen des spezifischen Gewährleistungszusammenhangs von wirtschaftlicher und beruflicher Betätigung Art. 12 I GG gegenüber Art. 2 I GG als lex specialis allein maßgebend ist, soweit es um wirtschaftliche Freiheiten geht, die im Kontext mit der Berufsausübung stehen ("funktionstypische Annexfreiheiten"). 346 Umstritten ist demgegenüber die Frage, ob die unternehmerischen Betätigungs-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheiten auf wirtschaftlichem Sektor, soweit sie im funktionstypischen Kontext mit beruflicher Betätigung stehen, nur durch Art. 12 I GG gewährleistet werden oder ob sie als Ausfluß eines funktionalen Verbundes von Art. 12 I und Art. 14 GG geschützt sind. So argumentiert Scholz347: Art. 14 GG schütze über das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb die Substanz wirtschaftlich genutzter Vermögensrechte. Die allgemeine Wirtschaftsfreiheit und ihre Teilfreiheiten seien zwar nicht unmittelbarer Bestandteil des geschützten Rechtes am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, es handele sich jedoch um typische Nutzungs- und Ausübungsformen eigentumsrechtlich vermittelter Betätigungsfreiheiten, welche als Annexfreiheiten durch Art. 14 GG geschützt würden. Da Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie in ihren wirtschaftlichen Funktionen die gleiche Freiheitssphäre erfaßten bzw. prinzipiell identischen Schutzgütern verpflichtet seien, bestehe ein "funktionaler Verbund" von Berufs- und Eigentumsfreiheit, welcher grundsätzlich alle wirtschaftlichen Teilfreiheiten als "funktionstypische Ausübungsfreiheiten" (Annexfreiheiten) gewährleiste. Der Zusammenhang von Art. 12 I und 14 GG figuiere im Sinne eines einheitlichen Komplexes aller wirtschaftlichen Verhaltens- und Bestandsweisen die allgemeine Verfassungsgewährleistung der Wirtschaftsfreiheit. 348 Demgegenüber ist das BVerfG mit der Annahme einer Idealkonkurrenz von Art. 12 I und 14 GG im Bereich unternehmerischer Betätigungs-, Wettbewerbs- und 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 123 f., 131, 136; ders., Entflechtung, 1981, S. 148; Papier in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., 31. Lfg. 1994, Art. 14 Rzn. 226 f.; Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, § 147 Rz. 63. 345

Vgl. nur Dürig in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 2 Rzn. 46, 48,53 mit zahlreichen Nachweisen aus der älteren Rspr. des BVerfG; femer das KG (WuW/E OLG 2862 (2867) "Rewe/Florimex") in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 23a I Nr. 1 a) GWB. 346

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 115, 123, 131, 136; R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, § 147 Rz. 63. 347

Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 122 ff.

222

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Vertragsfreiheit zurückhaltender. Die Wettbewerbsfreiheit ordnet es der Berufsfreiheit unmittelbar zu.349 Das Gericht geht im Grundsatz davon aus, Art. 14 GG garantiere dem Einzelnen den erworbenen Bestand an Vermögenswerten Gütern in "objektbezogener Gewährleistungsfunktion", während die Berufsfreiheit als "persönlichkeitsbezogenes" Grundrecht die individuelle Leistung und Existenzerhaltung gewährleiste.350 Art. 14 GG schütze das Erworbene, das Ergebnis der Betätigung, Art. 12 I GG dagegen den Erwerb, die Betätigung selbst.351 Eine Idealkonkurrenz von Art. 121 und 14 GG hat das Β VerfG nur ausnahmsweise in Fällen anerkannt, wo die freie Nutzung eines Eigentumsrechtes beruflichen Zwecken diente und in dieses Eigentumsrecht eingegriffen wurde oder wo in eine berufliche Tätigkeit eingegriffen wurde, die funktionsnotwendig mit der Nutzung eines bestimmten Eigentumsrechts verbunden war. 352 Im Kontext der Verbotstatbestände und Eingriffsermächtigungen der §§ 22 V, IV, 26 II und 37a II GWB bedarf der vorstehende Streit keiner Entscheidung. Die nach diesen Normen verbotenen oder untersagbaren mißbräuchlichen bzw. diskriminierenden Verhaltensweisen und Vertragsschlüsse sind nicht funktionsnotwendig mit der Nutzung unternehmerischen Eigentums verbunden. Funktionstypisch ist nur das vom (zufälligen) Einsatz unternehmerischen Eigentums unabhängige berufliche Verhalten im Wettbewerb tangiert. Mangels Funktionstypik ist die (zufällige) Nutzung unternehmerischen Eigentums nicht verallgemeinerungsfähig im Sinne des Gewährleistungsinhalts des Art. 14 GG. 353 Soweit durch bzw. aufgrund der §§ 22 V, IV, 26 II und 37a II GWB die wirtschaftliche Betätigungs-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit der Unternehmen eingeschränkt wird, ist demnach allein der Schutzbereich des Art. 12 I GG betroffen. 354 bb) Soweit durch fusionskontrollierende Verfugungen gemäß § 24 II, I GWB auch die gesellschaftsrechtliche Freiheit des Sich-Vereinigens eingeschränkt wird, rückt neben den Art. 12 I und 14 GG zusätzlich Art. 9 I GG in den Blickpunkt. 348

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 122 f f , 130 f , 136 ff, ders., Konzentrationskontrolle, 1971, S. 39. Ähnlich Papier in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 14 Rzn. 226 ff. 349

BVerfGE 32,311 (317); 46,120 (137 f.).

350

BVerfGE 30,292 (334); 31,8 (32).

351

BVerfGE 30,292 (335); 31,8 (32); 38,61 (102).

352

Vgl. hierzu näher mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 138. 353 Auf die Funktionstypik der freiheitlichen Betätigung stellt auch Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 130 f , 136 maßgeblich ab. 354

In diesem Sinne mit ähnlicher Begründung auch Meier ZHR 145 (1981), 393 (415 f.).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

223

Die allgemeine Vereinigungsfreiheit des Art. 9 I GG schützt alle wirtschaftlichen und gesellschaftsrechtlichen Zusammenschlüsse wie Konzernbildungen und Unternehmensfusionen. 355 Zu beachten ist aber, daß nicht jeder Vorgang wirtschaftlicher bzw. unternehmensmäßiger Konzentration unter den Begriff der "Vereinigung" i.S.d. Art. 9 I GG fällt. So bilden Gewinnabführungsverträge oder bloße Betriebsüberlassungs- und -verpachtungsverträge von im übrigen selbständig bleibenden Unternehmen zwar Fusionstatbestände im Sinne der Konzentrationskontrolle, 356 jedoch keine Vereinigungen (= Zusammenschlüsse) i.S.d. Art. 9 I GG. 357 Indessen stellen sich sämtliche Vorgänge unternehmensmäßiger Konzentration i.S.d. § 23 Π GWB als Ausübungsformen unternehmerischer Betätigungs-, Wettbewerbs· oder Vertragsfreiheit im funktionstypischen Kontext beruflicher Tätigkeit dar und fallen damit (auch) dem Schutzbereich des Art. 12 I GG. 358 Die Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG wird durch die präventive Fusionskontrolle prinzipiell nicht berührt. 359 Am tatbestandlichen Eingriff in die Substanz verfassungsrechtlich geschützten Eigentums und seiner verfassungsrechtlich garantierten Zuordnung fehlt es dort, wo die Maßnahme lediglich eigentumsmäßig vermittelte Erwerbschancen, Erweiterungschancen, Wachstumsmöglichkeiten, Liquiditäten, Kostenvorteile oder Rentabilitätserwar-tungen betrifft. 360 Als Maßnahme allein der Beschränkung künftigen Wachstums bzw. des Entzugs künftiger Chancen berührt die präventive Fusionskontrolle das Unternehmenswachstum nicht in seinen bereits erreichten bzw. substantiell verfestigten Rechtspositionen.361 Sind demnach durch Eingriffe nach § 24 II, I GWB allein die Schutzbereiche der Art. 91 und 121 GG betroffen, so stellt sich die Frage der Konkurrenz dieser Grundrechte. Im Rahmen von Unternehmenszusammenschlüssen fungiert die Vereini355

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 63, 60; Dürig in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 2 Rz. 53. 356

§ 23 Π Ziff. 3 b) und c) GWB.

357

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rz. 63.

358

Vgl. Scholz, Entflechtung, 1981, S. 169 f., 181 ff ; ders. in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 116,153. 359

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 169 f.; ders., Konzentrationskontrolle, 1971, S. 51 ff,

80. 360 In diesem Sinne hat das BVerfG etwa die kapazitätsmäßige Erweiterung von Mühlenbetrieben, Anbaubeschränkungen im Weinbau oder Produktionsstops durch die Einführung von Marktordnungen nicht als Eingriff in Art. 14 GG, sondern als Beschränkungen der Erwerbsfreiheit bzw. der freien Berufsausübung qualifiziert, vgl. BVerfGE 8,71 (79 f.); 11,294 (297 f.); 17,232 (249); 21,150 (154 ff). 361

Scholz, Entflechtung, 1981, S. 169 f.

224

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

gungsfreiheit als "Ausübungsrecht" im Verhältnis zum zweckbestimmenden "Inhaltsrecht" der Berufsfreiheit. Wegen der gleichrangigen Stellung von Vereinigungszweck und Vereinigung als Mittel stehen Art. 9 I und 12 I GG insoweit im Verhältnis der Idealkonkurrenz. 362 Würde Art. 12 I GG durch Art. 9 I GG als lex specialis verdrängt, so ergäbe sich wegen der unterschiedlichen Schrankenvorbehalte von Vereinigungs- und Berufsfreiheit eine erhebliche Privilegierung zugunsten solcher beruflicher Zweckverfolgungen, die im Wege wirtschaftsoder gesellschaftsrechtlicher Zusammenschlüsse realisiert würden, was mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG unvereinbar wäre. 363 Soweit Art. 9 I GG in Idealkonkurrenz auftritt, ist sowohl die Schrankenordnung des Art. 9 I GG als auch die des konkurrierenden Grundrechts maßgeblich.364 cc) Dies bedeutet für die weitere Prüfung, daß die Vermutungen der §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB am Maßstab der Schrankensystematik des Art. 12 I GG zu kontrollieren sind, soweit sie im Rahmen der §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB Anwendung finden [sogleich c)]. Soweit die Vermutungen der §§22 III und 23 a GWB Verfügungen gemäß § 24 II, I GWB rechtfertigen, 365 sind sie zusätzlich auch am Maßstab der Schrankensystematik des Art. 9 I GG zu prüfen [d)].

b) Grundrechte als materielle Vermutungsregeln? Einen besonderen Inhalt will G. Meier, nach dessen Ansicht die durch die Vermutungen des GWB gerechtfertigten Maßnahmen nicht nur in Art. 12 I GG, sondern auch in Art. 21 GG eingreifen, dem Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung beimessen. Art. 2 I GG treffe eine Aussage über das Vorliegen eines Regel/Ausnahme-Verhältnisses (Recht auf freie Entfaltung als Regel, Einschränkung als Ausnahme), woraus ein Charakter des Art. 2 I GG als "materieller Vermutungsregel" folge. Dies bedeute, daß qua Verfassung das non liquet stets zulasten des Staates gehen müsse, wenn nicht alle Voraussetzungen einer öffentlichen Eingriffsnorm erwiesen seien.366 Zwar könne der Gesetzgeber im Rahmen des Vorbehalts der verfassungsmäßigen Ordnung das vermutete Tatbestandsmerkmal als Eingriffsvorausset362

Vgl. Scholz in Maunz/Dürig,

363

Ähnlich Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rz. 111. GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 111,

149. 364

Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 111,149.

365

Die Vermutungen des § 22 ΠΙ GWB gelten auch für die Fusionskontrolle, vgl. nur Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 24 Rzn. 63 ff. m.w.N. 366

G. Meier ZHR 145 (1981), 393 (417 f.).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

225

zung gänzlich streichen. Eine diesbezügliche Beweislast des Unternehmens als "minus" dürfe er jedoch nicht kodifizieren, weil Art. 2 I GG eine Vermutung von Verfassungs wegen enthalte, welche nicht zu seiner Disposition stehe.367 In der Konsequenz dieser Auffassung G. Meiers liegt die Überlegung nahe, ob nicht auch die Schranken spezieller Freiheitsgrundrechte zu den jeweils geschützten Freiheiten in einem vergleichbaren Regel/ Ausnahme-Verhältnis stehen, so daß z.B. die Art. 121 und 91 GG als "materielle Vermutungsregeln" im Bereich der §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB eine Beweislast der Unternehmen ausschließen würden. Der Sache nach vertritt G. Meier die Geltung einer verfassungsrechtlichen Beweislastregel "in dubio pro liberiate" im Anwendungsbereich des Art. 2 I GG. Die Existenz dieser und anderer konstitutioneller Beweislastregeln wurde oben 368 jedoch bereits verneint. Auf die dortigen Überlegungen kann verwiesen werden, insbesondere darauf, daß die Schrankenordnungen der Grundrechte mehr als nur ein grobes, unflexibles Regel/Ausnahme-Schema bilden. G. Meiers Versuch, das behauptete "Regel/Ausnahme-Verhältnis" und die "materielle Vermutungsregel" durch Auslegung aus dem Wortlaut des Art. 2 I GG ("insoweit"369) abzuleiten, vermag nicht zu überzeugen. Der Gesetzes- und Regelungsvorbehalt, den Art. 2 I GG - ebenso wie z.B. Art. 12 I GG - hinsichtlich des Umfangs der geschützten Freiheit enthält, verbietet als lex specialis gerade die Annahme einer (allgemeineren) Freiheitsvermutung. 370 Eben weil G. Meier die Bedeutung der einzelgrundrechtlichen Schrankenordnungen als potentielle Ermächtigungen für Beweislastregelungen als "normale" Normen des materiellen Rechts verkennt, kann er auch nicht überzeugend begründen, warum der Gesetzgeber das vermutete Tatbestandsmerkmal als Eingriffsvoraussetzung ganz streichen können soll, an der "milderen" Regelung einer diesbezüglichen Beweislast des Bürgers jedoch gehindert sein soll. 371 367

G. Meier ZHR 145 (1981), 393 (419 f.).

368

§ 6 IV. 3. a).

369

G. Meier aaO, S. 417, ist der Ansicht, die die freie Persönlichkeitsentfaltung einschränkende Ausnahme werde - ähnlich der Worte "es sei denn" im Zivilrecht - in Art. 2 I GG durch das Wort "insoweit" zum Ausdruck gebracht. 370

Ebenso Scholz in Maunz/Dürig,

371

GG, 7. Aufl., Stand31.Lfg. 1994,Art. 12 Rz. 10.

Aus diesem Grunde sieht G. Meier aaO, S. 419 f , sich auch gezwungen, die Beweislast des Bürgers für eine Eingriffsvoraussetzung nicht als "minus" gegenüber einer Streichung dieses Merkmals zu behandeln, sondern als "aliud". Wie bereits mehrfach betont worden ist, unterscheidet sich die Beweislastnorm als materielrechtliche Regelung jedoch qualitativ nicht von sonstigen materiellen Rechtssätzen.

15 Ittner

226

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Für die Grundrechte der Art. 12 I und 9 I GG ist danach ein Charakter als materielle (Freiheits-) Vermutungsregeln mit der Konsequenz einer generellen Verfassungswidrigkeit der Vermutungen abzulehnen.

c)Art.

12IGG

Zu erörtern ist vielmehr, ob die Vermutungen der §§22 III, 23a und 26 II 3 GWB als Rechtfertigungen (zusätzlicher) Verbote und Eingriffe gemäß §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB durch die Schranken des Art. 12 I GG gedeckt sind.

aa) Schranken Gemäß Art. 1212 GG kann das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden. Die formellen Gesetze der §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB sind durch diesen Regelungsvorbehalt gedeckt.

bb) Schranken-Schranken (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz/Stufenlehre) Eingriffe durch oder aufgrund eines Gesetzes in Grundrechte müssen verhältnismäßig, d.h. geeignet, notwendig und angemessen zur Erreichung des jeweils verfolgten, seinerseits verfassungslegitimen Zwecks sein. Das gilt auch dort, wo diese Eingriffe der Auflösung von Grundrechtskollisionen dienen sollen. Wenn die Kartellbehörde Aufsichtsmaßnahmen zur Konfliktlösung zwischen den Wettbewerbspositionen des betroffenen Unternehmens und der Wettbewerber ergreift, so muß die "zwischen" den kollidierenden Freiheiten rangierende Maßnahme einen möglichst verhältnismäßigen bzw. beide Seiten möglichst schonenden Ausgleich herstellen. Die Vermutungen des GWB stellen sich in diesem Sinne als kollisionslösende Ordnung dar, die ihr Ziel, die Förderung eines möglichst freiheitlichen, "grundrechtsoptimalen" Wettbewerbssystems, mit verhältnismäßigen Mitteln erreichen müssen.372 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an dem gesetzlich bewirkte oder fundierte Beschränkungen der Berufsfreiheit zu messen sind, hat durch die im "Apothekenurteil" von 1958373 entwickelte Stufenlehre eine Rechtsprechung und Lehre 372

Vgl. Scholz in Maunz/Dürig, und Art. 12 Rzn. 385,308. 373

BVerfGE 7,377 (400 ff.).

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 150,152

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

227

beherrschende Ausprägung erfahren. Die "Stufentheorie" errichtet für die Regelungen von Berufsausübung, subjektiver und objektiver Berufszulassung eine differenzierte, am Übermaßverbot und der unterschiedlichen Wertigkeit der Teilfreiheiten orientierte Schrankensystematik, nach der mit zunehmender Eingrififsintensität die Abnahme der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit einhergeht. Auf der am wenigsten eingrififsintensiven Stufe der Berufsausübungsregelungen - die Vermutungen des GWB rechtfertigen bzw. bewirken (zusätzliche) Eingriffe gemäß §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB in die Berufsausübung - sind Beschränkungen der Berufsfreiheit schon verhältnismäßig, wenn vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls sie gerechtfertigt erscheinen lassen; der Grundrechtsschutz beschränkt sich hier auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen. 374 Allerdings erfaßt die Stufenzuordnung die Schwere des Eingriffs und die Legitimationsanforderungen der Verhältnismäßigkeit nur in typisierender und rahmensetzender Weise. Die fragliche Freiheitsbeschränkung muß in einem Anschlußschritt noch einer stufenspezifischen Verhältnismässigkeitsprüfung unterzogen werden. 375

(1) Legitimer Zweck Stufenlehre bzw. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangen zunächst, daß die gesetzlich bewirkte oder fundierte (zusätzliche) Beschränkung der Berufsfreiheit einen legitimen Zweck verfolgen muß. 376 Durch das Mittel der Zuweisung der objektiven Beweislast beim Vorhegen der Vermutungsvoraussetzungen (d.h. durch "faktischen Aufklärungsdruck" im "kritischen Bereich" 377) verfolgt der kartellrechtliche Gesetzgeber den Zweck der Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht 378 und damit den Zweck eines effektiveren Schutzes des freien Wettbewerbs und der Grundrechte der Wettbewerber. 379 374 BVerfGE 7, 377 (405 f.); Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rz. 317 f. 375

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994,

R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, § 148 Rz. 9.

376

Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 912; Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, § 148 Rzn. 11 ff. 377

Hierzu ausführlich § 5 m. 2. b).

378

Vgl. hierzu näher § 5 DI. 2. b): Trotz der vollständigen Aufklärungspflicht der Kartellbehörde üben die Vermutungen einen faktischen Aufklärungsdruck auf die Unternehmen aus, der Behörde zur Vermeidung eines non liquet umfassende Informationen an die Hand zu geben, wodurch für die Kartellbehörde eine größere und zuverlässigere Informationsbasis als Grundlage realitätsgerechter RechtsanWendung geschaffen werden soll. 379

15*

Hierzu ausführlich § 5 ΙΠ. 2. b). Die kartellrechtlichen Instrumentarien der Mißbrauchs-

228

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Bereits die gesetzliche Zweckwahl als solche bedarf der verfassungsrechtlichen Legitimation und Kontrolle gemäß Art. 12 I GG. Der Zweck seinerseits muß als verhältnismäßiger Faktor der wirtschaftspolitischen Ordnungskonzeption des Gesetzgebers dazu beitragen können, die Berufsausübung einer akzeptablen Balance von grundrechtlicher Freiheit und sozialer Bindung zuzuführen. 380 Das BVerfG kann die Anschauungen des Gesetzgebers über Rang und Legitimationskraft des verfolgten Zwecks jedoch nur beanstanden, wenn diese offensichtlich fehlsam oder mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind. 381 Unter Beachtung des weiten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in der "offenen Wirtschaftsverfassung" des Grundgesetzes ist der Kreis eingriffslegitimierender Gemeinwohlbelange im wettbewerblichen Bereich auf der Stufe der reinen Berufsausübungsregelungen vergleichsweise am weitesten zu ziehen; der Gesetzgeber verfugt bei der Konstituierung dieser Belange über einen erheblichen Freiraum. 382 Ausreichend sind vernünftige, d.h. wirtschaftspolitisch einsehbare und nicht sachfremde Erwägungen des Gemeinwohls.383 Vergegenwärtigt man sich, daß die kartellrechtlichen Vermutungen mit ihrem Ziel der Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht letztlich dem Zweck eines effektiveren Schutzes des freien Wettbewerbs und der kollidierenden Grundrechte der Wettbewerber dienen sollen,384 so liegen wirtschaftspolitisch einsehbare, nicht sachfremde Erwägungen des Gemeinwohls deutlich auf der Hand. Vor der Einführung der §§22 III, 23a und 26 II 3 in das GWB hatten die Kartellbehörden erhebliche Probleme beim Nachweis von Marktbeherrschung 385, bei der Kontrolle vertikaler und konglomerater Zusammenschlüsse386, beim Nachweis fehlenden Binnenwettbewerbs im Oligopol 387 oder bei der Aufklärung der Voraussetzungen nachfragebeund Fusionskontrolle dienen nicht nur dem Schutz des Wettbewerbs als Institution, sondern gerade auch dem Schutz der Wettbewerber, vgl. Scholz, Entflechtung, 1981, S. 94, 96 f.; ders. in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 388; Meier ZHR 145 (1981), 393 (422) sowie oben § 6 IV. 3. b). 380

R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, § 148 Rz. 13.

381

R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, § 148 Rzn. 11-13; BVerfGE 13, 97

(107). 382 R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, § 148 Rzn. 20 f.; Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 319; ders., Konzentrationskontrolle, 1971, S. 86 f. ("staatliche Gemeinwohlkompetenz"). 383

R. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, § 148 Rzn. 13,20 m.w.N.

384

Vgl. § 5 m. 2. b).

385

Hierzu näher § 3 I. (zu § 22 ΙΠ GWB).

386

Hierzu näher § 3 Π. vor 1. (zu § 23a I GWB).

387

Hierzu näher § 3 Π. 2. (§ 23a Π GWB).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

229

dingter Abhängigkeit388, so daß sich der Schutzzweck der Mißbrauchs- und Fusionskontrolle in der Praxis nur unzureichend verwirklichen ließ. Der die Beseitigung dieser Probleme legitimierende Gemeinwohlbelang mußte vom Gesetzgeber nicht einmal frei konstituiert werden, denn die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung ist durch Art. 74 I Ziff. 16 GG 389 und der Schutz kollidierender Unternehmens-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheiten ist durch Art. 12 I GG als Gemeinwohlbelang schon verfassungsrechtlich legitimiert. 390 Zweifel an der Legitimität des Zwecks der Vermutungen des GWB könnten sich allerdings aus dem allgemeinen, im Polizeirecht entwickelten Rechtsgrundsatz ergeben, wonach staatliche Eingriffsermächtigungen nicht allein dem Zweck staatlicher Aufsichtserleichterung dienen dürfen. 391 Entgegen den in den Gesetzesmaterialien und auch im Schrifttum teilweise zu lesenden Aussagen392 wird die kartellbehördliche Aufsicht durch die Vermutungen des GWB jedoch nicht "erleichert". Die Vermutungen regeln ausschließlich die materielle Beweislast (Rechtsanwendung) und haben mit der Ebene der Sachverhaltsaufklärung nichts zu tun. 393 Trotz des "faktischen Aufklärungsdrucks" auf die Unternehmen als "Vorwirkung" der Vermutungen394 bleibt die Kartellbehörde zur umfassenden Amtsermittlung verpflichtet. Die aufgrund des Aufklärungsdrucks beigebrachten Informationen der Unternehmen vergrößern zwar die Informationssammlung der Behörde, nicht aber verkleinern oder erleichtern sie deren Aufklärungspflicht. Die Behörde darf diese Informationen nicht ungeprüft hinnehmen, sondern muß sie verifizieren und weitere Ermittlungen

388

Hierzu näher § 3 Π. 3. (zu § 26 Π 3 GWB).

389

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 387; Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 83. 390

G. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, Rz. 25: Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Verträge, Beschlüsse und Untemehmensfusionen diene dem institutionellen Schutz des Wettbewerbs und trage ihre grundrechtliche Legitimation gleichsam "in sich selbst". Zum Wettbewerbsschutz als eingriffslegitimierendem Gemeinwohlbelang: G. Breuer in Handb. d. StaatsR, Band VI, 1989, Rzn. 22,25; zur grundrechtlichen Kollisionslösung als eingriffslegitimierendem Gemeinwohlbelang: Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 385 und Art. 9 Rzn 150 ff. 391

Hierzu Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 94 m.w.N.; ders., Entflechtung, 1981, S. 128,235; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 415. 392 Begründung zum Regierungsentwurf der zweiten GWB-Novelle, BT-Drs. VI/2520, S. 23; der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 14; der fünften GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22; Scholz, Konzentrationskontrolle, 1971, S. 96 ("Erleichterung der praktischen Handhabung der Aufsichtstätigkeit"). 393

Vgl. § 5 I. 2 , 3. und passim.

394

Hierzu § 5 1.2. und § 5 m. 2. b).

230

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung

anstellen, wenn diese sich aufgrund der neuen Informationen aufdrängen 395. Ahnlich wie bei den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten erweitern die Aufklärungsbeiträge der Unternehmen also den behördlichen Ermittlungszwang; sie haben eine "dienende" bzw. "effektivierende Funktion" unter dem "Dach" der uneingeschränkten Aufklärungspflicht. 396 Die kartellbehördliche Aufsicht wird durch die Vermutungen nicht "erleichtert", sondern "effektiviert" bzw. überhaupt erst "ermöglicht". 397

(2) Geeignetheit Stufenlehre bzw. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangen sodann, daß das den Eingriff bewirkende oder rechtfertigende Gesetz zur Erreichung des Zwecks geeignet ist, d.h. in einem durch bewährte Hypothesen vermittelten Zusammenhang zur Zweckerreichung steht.398 Daß die Vermutungen des GWB Aufklärungsdruck auf die Unternehmen zur Vermeidung eines non liquet ausüben und dadurch zur Effektivierung der behördlichen Aufklärungsarbeit beitragen, wurde vom Gesetzgeber nach ersten Erfahrungen mit den Vermutungen des § 22 III GWB anläßlich der vierten GWB-Novelle ausdrücklich bestätigt399 und wird im Schrifttum überwiegend anerkannt. 400 Gerade hier hat die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers besonderes Gewicht.401 395

Näher zum Umfang der Amtsermittlungspflicht § 5 VU. vor 1.

396

Vgl. zur parallelen Situation bei den verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten die Ausführungen in § 5 VE. vor 1. 397

Vgl. zur diesbezüglichen Wirkung der Vermutungen des GWB bereits § 5 ΙΠ. 2. b). Die Zulässigkeit solcher Maßnahmen, welche die polizeiliche Aufsicht nicht erleichtem, sondern überhaupt erst ermöglichen sollen, ist unbestritten; vgl. BVerwGE 32, 204 (207); Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 416. 398

Vgl. Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rzn. 912,322.

399

Begründung zum Regierungsentwurf der vierten GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 14; Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/3690, S. 26 (vgl. diesbezüglich § 5 I. a.E.). 400

Meier ZHR 145 (1981), 393 (422); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 75 f. (zu § 23a Π GWB); Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rzn. 83 ff, 91. Soweit dagegen Kaiser (WuW 1978, 344, 363) argumentiert, die Vermutungen des § 23a GWB seien nicht geeignet, weil sie die Arbeit der Kartellbehörde nicht "erleichterten", verkennt er, daß Zweck der Vermutungen nicht die "Erleichterung" der kartellbehördlichen Aufsicht ist, s.o. § 6 IV. 4. c) bb) (1). 401

3.

Vgl. zu den Grundsätzen über den gesetzgeberischen Entwicklungsspielraum § 6 ΙΠ.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

231

Fehl geht der Einwand Köhlers, die Vermutung des § 26 II 3 GWB sei zur Erreichung ihres Zweckes, die Frage beantworten zu helfen, wann Abhängigkeit von einem Nachfrager vorliege, untauglich, weil hinter ihr kein Erfahrungssatz stehe, daß bei regelmäßiger Gewährung von Sondervergünstigungen Abhängigkeit vorliege.402 Abgesehen davon, daß die Vermutungen des GWB nicht dem Zweck dienen, das vermutete Merkmal zu konkretisieren 403 - Zweck ist vielmehr die Effektivierung der Aufsicht durch eine Vergrößerung der Informationssammlung der Kartellbehörde404 - verkennt Köhler das Wesen der Vermutungen als autarke materielle Risikoentscheidungen, deren Inhalt allein durch materielle Verfassungswertungen determiniert wird. Weder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch sonstige materielle mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter und Interessen verlangen jedoch, daß die gegen den Bürger gerichtete Beweislast in der Eingriffsverwaltung der Wahrscheinlichkeit entsprechen muß. Vermutungen sind hier nicht allein deshalb ungeeignet oder unverhältnismäßig, weil sie nicht empirisch fundiert sind.405 Ohne Bedeutung für die Geeignetheit der Vermutungen des GWB ist es auch, daß der Gesetzgeber sich bei seinen Wahrscheinlichkeitserwägungen zum "kritischen Bereich", in dem er die Beweislastumkehr für angebracht hielt, geirrt hat. Entgegen seiner Einschätzung erstreckt sich der Anwendungsbereich der Vermutungen auf Konstellationen, in denen die Verwirklichung des vermuteten Merkmals zwar oftmals der Fall, nicht aber die "Regel" ist. 406 Auch in diesem "weiten", nicht der Wahrscheinlichkeit entsprechenden Anwendungsbereich üben die Vermutungen faktischen Aufklärungsdruck auf die betroffenen Unternehmen aus und eignen sich daher zur Effektivierung der behördlichen Aufklärungsarbeit.

(3) Notwendigkeit Stufenlehre bzw. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangen ferner, daß das den Eingriff bewirkende oder rechtfertigende Gesetz zur Erreichung des Zwecks notwendig ist. Keine andere Maßnahme, die den Bürger weniger belastet, darf zur Zweckerreichung ebenso geeignet sein.407 Nach der Stufenlehre ist eine Maßnahme

402

Köhler DB 1982, 313 f.

403

Eingehend zur "materiellrechtlichen Funktion" der Vermutungen § 5 IV.

404

S.o. § 5 ΙΠ. 2. b).

405

In diesem Sinne aber wohl Köhler DB 1982, 313 (314) und Scholz, Entflechtung, 1981, S. 235 f. - de lege ferenda 406

Vgl. hierzu näher § 5 ΠΙ. vor 1.

407

Vgl. Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rzn. 914 f f , 324.

232

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

auf einer höheren Stufe nur dann notwendig, wenn ihr Zweck nicht ebensogut durch eine Maßnahme auf einer niedrigeren Stufe erreicht werden kann. Auch innerhalb einer Stufe kann es mehr und weniger belastende Maßnahmen geben.408 Da die Vermutungen des GWB Eingriffe auf der "mildesten" Stufe der Berufsausübung rechtfertigen, stellt sich nur die Frage, ob der Gesetzgeber auf dieser Stufe weniger belastende, zur Zweckerreichung ebenso wirksame Regelungen hätte treffen können. Die Vermutung belastet den Bürger weniger als die gänzliche Streichung der Eingriffsvoraussetzung, weil deren Feststellung bei der Vermutung nur im non liquetFall entfällt. 409 Zu überlegen ist jedoch, ob der Gesetzgeber sein Ziel, die kartellbehördliche Aufsicht zu effektiviern, nicht ebenso wirksam auf schonendere Weise hätte erreichen können, etwa durch Vermutungen mit "engeren" Voraussetzungen, die nur solche Konstellationen umschreiben, bei deren Vorliegen das vermutete Merkmal nach statistischer Wahrscheinlichkeit regelmäßig verwirklicht ist. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob "enge" Vermutungen, die den Bereich der Beweislast der Unternehmen auf einen empirisch abgesicherten Bereich reduzieren würden, zur Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks geeignet wären. Der Gesetzgeber verfolgte mit den Vermutungen nämlich nicht den Zweck, die Unternehmen nur in den mit statistischer Regelwahrscheinlichkeit auf das vermutete Merkmal deutenden Fällen "aus der Reserve zu locken", sondern ihm ging es um eine Beweislastumkehr gerade in den konkret normierten Fällen des "kritischen Bereichs" ("Risikolagen"), die zum vermuteten Merkmal nur "tendieren". 410 Hiergegen mag unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien eingewendet werden, der Gesetzgeber habe mit seinen Wahrscheinlichkeitsaussagen zur "statistischen Treflferquote" der konkret gewählten Vermutungsvoraussetzungen zum Ausdruck gebracht, daß er den "engeren" Zweck verfolge, die Aufsicht nur in empirisch abgesicherten Risikolagen zu effektivieren. Die aufgrund der irrtümlichen Wahrscheinlichkeitserwägungen normierte "weite" Beweislastumkehr sei zur Erreichung des verfolgten Zwecks daher nicht notwendig. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die konkret gewählten

408

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 915.

409

Ebenso Meier ZHR 145 (1981), 393 (422). So war es gegenüber § 23a Π des Regierungsentwurfs zur 4. GWB-Novelle, welcher auf die Untersagungsvoraussetzung "fehlender Binnenwettbewerb" gänzlich verzichtete, das mildere Mittel, diese Eingriffsvoraussetzung beizubehalten und den betroffenen Unternehmen insoweit "nur" die Beweislast aufzuerlegen (vgl. die Materialien zu § 23a Π GWB in § 3 Π. 2.). 410 Dies konnte in § 5ΙΠ. 2. b) dieser Untersuchung nachgewiesen werden. Der Gesetzgeber wollte mit den Vermutungen die Beweislast nicht nach statistischer Wahrscheinlichkeit verteilen, sondern es kam ihm darauf an, die Unternehmen in ganz konkreten, von ihm als risikoträchtig eingestuften Sachverhaltskonstellationen "aus der Reserve zu locken", die für die Kartellbehörde als marktferner Institution besonders schwer zu durchdringen sind.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

233

Marktanteile, Umsatzerlöse und sonstigen Kriterien der Vermutungsvoraussetzungen sind das Ergebnis jahrelanger Expertenanhörungen und Gesetzesberatungen zu der Frage, in welchen konkreten Sachverhaltskonstellationen eine Unterstützung der behördlichen Aufsicht zweckmäßig erschien. Mit anderen Worten: Es ist die konkret umschriebene Risikolage, welche den legislativen Zweck kennzeichnet, nicht ihre empirische Fundierung. Wie weit der Gesetzgeber den "kritischen Bereich", in dem die Kartellbehörde nach seiner Auffassung der Unterstützung bedarf, durch eine entsprechende Fassung der Vermutungsvoraussetzungen "ausdehnt", ist - vorbehaltlich der Angemessenheit dieser Ausdehnung - seine freie Entscheidung im Rahmen seines "wirtschaftspolitischen Gestaltungsermessens".411 Mag der Gesetzgeber sich bei der "statistischen Trefferquote" der von ihm als kritisch eingestuften "Risikolagen" auch geirrt haben, so ist doch seine Entscheidung, nach jahrelangen Erfahrungen mit den Vermutungen an den als zweckmäßig erachteten Bereichsabgrenzungen festzuhalten, durch dieses Gestaltungsermessen gedeckt. Da der Gesetzgeber nicht den Zweck verfolgt hat, die behördliche Aufsicht nur in empirisch fundierten Risikolagen zu effektivieren, sondern vielmehr in den konkret normierten Risikolagen, finden entgegen Scholz412 und Kaiser 413 die Grundsätze des gesetzgeberischen Entwicklungsspielraums, wonach der Gesetzgeber verpflichtet ist, die falsifizierte Norm zu berichtigen oder aufzuheben, wenn sich seine Einschätzung später als Fehlprognose herausstellt, 414 keine Anwendung. Ein milderes, gleich wirksames Mittel zur Erreichung der vom Gesetzgeber konkret für zweckmäßig erachteten Effektivierung der kartellbehördlichen Aufklärungsarbeit ist im übrigen nicht ersichtlich.

(4) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit

i.e.S.)

Stufenlehre bzw. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangen schließlich, daß das den Eingriff bewirkende oder rechtfertigende Gesetz zur Erreichung des Zwecks an-

411 Vgl. zum weiten wirtschaftspolitischen Gestaltungsermessen des Gesetzgebers, insbesondere zur freien Zweckwahl im wettbewerblichen Bereich bereits § 6 IV. 4. c) bb) (4): ausreichend sind vernünftige, d.h. wirtschaftspolitisch einsehbare und nicht sachfremde Erwägungen des Gemeinwohls. 412

Konzentrationskontrolle, 1971, S. 96;

413

WuW 1978,344 (362).

414

Vgl. zum gesetzgeberischen Entwicklungsspielraum § 6ΙΠ. 3.

Entflechtung, 1981, S. 235 f.

234

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

gemessen ist. Der verfolgte Zweck muß um so wertvoller sein, je intensiver die Belastung des Grundrechtsträgers ist (Güterabwägung). 415 Gelegentlich stellen die Grundrechte oder sonstige materielle Verfassungswertungen selbst einen Bezug zwischen dem beeinträchtigten Interesse und dem verfolgten Zweck her, der als entsprechende Gewichtung und Abwägung verstanden werden kann.416 Diese Maßgeblichkeit materieller Verfassungswertungen für den Inhalt der materiellen Beweislast ist bereits mehrfach betont worden. 417 Im wirtschaftspolitischen Bereich ist das Grundgesetz jedoch neutral; materielle Verfassungswertungen, welche die durch die Eingriffs- und Verbotsnormen der §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 Π und 37a II GWB geordneten Rechtsgüter und Interessen wertend in Schichten von Regel und Ausnahme aufteilen oder eine der involvierten Wettbewerbsinteressen als besonders bedeutsam qualifizieren würden, sind nicht existent.418 Nach der Stufenlehre des BVerfG sind Regelungen auf der Stufe der Berufsausübung bereits dann angemessen, wenn Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit sie verlangen. Der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr übermäßig belastender und nicht zumutbarer gesetzlicher Auflagen. 419 Damit ist auf dieser Stufe die Angemessenheitsprüfung vor allem auf eine Stimmigkeitskontrolle zur Vermeidung eines krassen Mißverhältnisses reduziert. Regelmäßig zeigt sich der hohe Wert eines Gemeinschaftszwecks eben darin, daß er tatsächlich nur um den Preis des konkreten Grundrechtseingriffs erreicht werden kann. 420 Das speziell durch das Mittel der Risikozuweisung im non liquet-Fall beeinträchtigte Interesse der Unternehmen liegt darin, daß Eingriffe in die unternehmerische Betätigungs-, Wettbewerbs-, Vertrags- und Vereinigungsfreiheit auch dann gerechtfertigt sind, wenn die Eingriffsvoraussetzungen nicht vollständig festgestellt sind, wodurch die entsprechenden Freiräume der Unternehmen (zusätzlich) verengt werden.421 Hinter dem hiergegen abzuwägenden Zweck (Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht) steht nicht nur die Realisierung des öffentlichen

415

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 920.

416

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rzn. 328 f.

417

Vgl. die in § 6 Π. 1. b) besprochene Rspr. des BVerfG zur Beweislast des Kriegsdienstverweigerers für seine Gewissensentscheidung sowie die Ausführungen in § 6 ΠΙ. 1. 418

Hierzu näher § 6 I V . 4. a).

419

BVerfGE 7, 377 (406), Scholz in Maunz/Dürig, Art. 12 Rzn. 319,324.

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994,

420 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 10. Aufl. 1994, Rz. 923; ähnlich Scholz in Maunz/Dürig, GG, 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rzn. 319,323. 421

Siehe oben § 6 IV. 4. vor a).

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

235

Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb, 422 sondern insbesondere auch die Effektivierung der behördlichen Aufgabe einer optimalen Konfliktlösung zwischen den kollidierenden Wettbewerbsfreiheiten. 423 Die zu efifektivierende Aufsicht rangiert nur "zwischen" diesen kollidierenden Freiheiten, so daß es insbesondere Aufgabe der Vermutungen ist, die Herstellung der Gleichrangigkeit der kollidierenden Grundrechte zu ermöglichen. 424 Dient aber die Beweislastregelung dem Interesse, die Gleichrangigkeit dieser Grundrechte gerade herzustellen, so handelt es sich in der Sache vor allem um eine Güterabwägung zwischen dem beeinträchtigten Grundrechtsinteresse und denjenigen Grundrechtsinteressen, die von der Effektivierung der "KoUisionslösungsaufsicht" profitieren. Hier kann solange keine Unangemessenheit des verfolgten Zwecks vorliegen, wie der Nachteil, den die Beweislastregelung von dem geschützten Gemeinschaftsinteresse abwendet, größer ist als der Nachteil, den sie dem beeinträchtigten Individualinteresse zufügt. Während die Vermutungen auf der Seite des beeinträchtigten Interesses nur einen "marginalen Aspekt wirtschaftlicher Entfaltung" betreffen, 425 ließ sich auf der Seite des geschützten Interesses vor der Einführung der Vermutungen die den Kartellbehörden aufgetragene Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen und des Schutzes kollidierender Unternehmens-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheiten in der Praxis nur unzureichend umsetzen bzw. lief sogar leer. 426 Muß wegen der vorhandenen "Kollisionslage" eine materielle Risikozuweisung ohnehin zwingend zulasten einer der kollidierenden Grundrechtsinteressen gehen, so kann es nicht als krasses Mißverhältnis oder unzumutbar angesehen werden, den Einzelnen "marginal" zu belasten, wenn auf der anderen Seite die Funktionsfähigkeit der kartellbehördlichen Aufsicht und der effektive Schutz des Wettbewerbs auf dem Spiele stehen.427 422

Daß die kartellbehördliche Aufsicht nicht nur dem Schutz des Wettbewerbs als Institution, sondern gerade auch dem Schutz der Wettbewerber dient, ist allgemeine Meinung, vgl. nur Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 388; ders., Entflechtung, 1981, S. 94,96 f.; Meier ZHR 145 (1981), 393 (422). 423

In diesem Sinne Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz.

388. 424 In diesem Sinne allgemein zur Funktion der Kartellaufsicht Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 385: "Lösung von Grundrechtskollisionen zwischen den (gleichen) Wettbewerbsfreiheiten der jeweils miteinander konkurrierenden Grundrechtsträger", "Förderung eines insgesamt möglichst freiheitlichen Grundrechtssystems (Grundrechtsoptimierung)". 425 So das KG WuW/E OLG 2862 (2867 f.) "Rewe/Florimex" zu § 23a I Nr. la GWB; allgemein BVerfGE 7, 377 (406): Die Berufsausübungsregelung treffe den Grundrechtsträger nicht allzu empfindlich, da er bereits im Beruf stehe und die Befugnis, ihn auszuüben, nicht berührt werde. 426

Vgl. § 6 I V . 4. c) bb) (1).

427

Im Ergebnis ebenso, jedoch mit anderer Begründung Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7.

236

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Die Vermutungen der §§22 III, 23a und 26 GWB verstoßen folglich nicht gegen Stufentheorie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und sind damit durch die Schranken des Art. 12 I GG gedeckt.

d)Art

9IGG

Zu erörtern bleibt, ob die Vermutungen der §§22 III und 23 a GWB durch die Schranken und Schranken-Schranken des Art. 9 I GG gedeckt sind, soweit sie im non liquet-Fall (zusätzliche) Verfugungen gemäß § 24 II, I GWB rechtfertigen. 428

aa) Art. 9 II GG und Grundrechtskollision Die allgemeine Vereinigungsfreiheit des Art. 9 I GG steht nicht unter Gesetzesvorbehalt. Jedoch sind nach Art. 9 II GG, der als verfassungsrechtliche Rechtfertigung für Eingriffe angesehen wird, 429 Vereinigungen verboten, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten. "Verfassungsmäßige Ordnung" ist - anders als bei Art. 21 GG - nur ein enger Ordnungsbestand, der die freiheitliche demokrtische Grundordnung und das sonstige Grundgefiige der Verfassung umfaßt, wobei zu letzterem auch die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht 430 gehört. 431 Art. 9 II GG nennt als gerechtfertigte Maßnahme ausdrücklich nur das Vereinsverbot. Ein spezieller Gesetzesvorbehalt, die Vereinigungsfreiheit durch einfaches Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 12 Rz. 388: Aufsichtsmaßnahmen, die sich inhaltlich als grundrechtliche Kollisionslösungen darstellen, rangierten "zwischen" kollidierenden Wettbewerbsfreiheiten mit der Folge, daß auch Beweiserleichterungen zugunsten der im kollisionslösenden Sinne tätigen Aufsicht statthaft sein könnten. Indessen stellen die Vermutungen des GWB keine "Beweiserleichterungen" dar, wie in § 6 I V . 4. c) bb) (1) gezeigt worden ist. Nicht überzeugend wäre auch die Begründung, es könne nicht als unzumutbar angesehen werden, die Freiheiten der kollidierenden Seite, die zur Effektivierung der im kollisionslösenden Sinne tätigen Aufsicht maßgeblich beitragen und damit den non liquet-Bereich erheblich verkleinem könne, mit dem dann noch verbleibenden Restrisiko der Aufklärungslosigkeit zu belasten: Bessere Aufklärungsmöglichkeiten oder Beweisnot gehören systematisch in den Bereich der Ausgestaltung des Sachverhalts-Aufklärungsmodells und determinieren die materielle Risikozuweisung nicht (siehe vor allem § 6 ΠΙ. 1., IV. 1. und passim). 428

Diese Fragestellung knüpft an § 6 IV. 4. a) bb) a.E. an.

429

Scholz in Maunz/Dürig,, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rz. 113; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 11. Aufl. 1995, Rz. 810. 430 431

Art. 741 Nr. 16 GG.

Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 127; Seifert/Hömig, GG, 5. Aufl. 1995, Art. 9 Rz. 6.

IV. Determinierung durch einzelne Verfassungsgewährleistungen

237

Gesetz einzuschränken, fehlt. Die Auslegung des Art. 9 II GG bleibt aber beim Vereinsverbot als denkbar schärfstem Mittel nicht stehen. Schonendere Maßnahmen sind verfassungsrechtlich erst recht gerechtfertigt. 432 Über den Wortlaut des Art. 9 Π GG hinaus können nach den Grundsätzen der verfassungsimmanenten Schranken auch kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte die Vereinsfreiheit ausnahmsweise in einzelnen Beziehungen beschränken, wenn ihnen im Kollisionsfalle das höhere Gewicht zukommt.433 Die durch die vorgenannten Schranken des Art. 9 I GG gedeckten Vermutungen der §§ 22 III und 23 a GWB müßten zur Erreichung des verfolgten Zwecks (Effektivierung der behördlichen Aufsicht) geeignet, erforderlich und angemessen sein. Zur Geeignetheit der Vermutungen kann auf die im Rahmen des Art. 12 I GG angestellten Überlegungen verwiesen werden. 434 Ähnlich wie bei Art. 12 I GG wird auch bei Art. 9 I GG zur Konkretisierung der Notwendigkeit einer Maßnahme zwischen verschiedenen Stufen unterschiedlicher Eingriffsintensität unterschieden: - präventive Zulassungskontrollen von Vereinigungen bis hin zum Vereinigungsbildungsverbot als regelmäßig schwerwiegendste Maßnahmen; - Aufsichtsmaßnahmen bezüglich der inneren Ordnung der Vereinigung bis hin zum repressiven Vereinigungsverbot; - punktuelle Vereinsbetätigungsverbote als regelmäßig mildeste Mittel. Der Gesetzgeber muß nach dem Grundsatz der Verhälnismäßigkeit des Mittels auch innerhalb der jeweiligen Stufe - diejenige Eingriffsform wählen, die das Grundrecht am wenigsten einschränkt. 435 Die durch die §§ 22 III und 23a GWB im non liquet-Fall (zusätzlich) gerechtfertigten Untersagungsverfügungen gemäß § 24 II, I GWB erfolgen auf der schwerwiegendsten Stufe der Vereinigungsbildungsverbote. Ein milderes Mittel als die Auferlegung der Beweislast zur Erreichung einer Effektivierung der behördlichen Aufsicht in den konkret normierten Risikolagen ist jedoch nicht ersichtlich. Insoweit kann auf die zur Notwendigkeit der Vermutungen im Rahmen des Art. 12 I GG angestellten Überlegungen 436 sinngemäß verwiesen werden.

432

Scholz in Maunz/Dürig,

433

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 114 ff.

Seifert/Hömig, GG, 5. Aufl. 1995, Art. 9 Rz. 4; Scholz in Maunz/Dürig, Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 116,148,150 ff. 434

Vgl. § 6 I V . 4. c) bb) (2).

435

Scholz in Maunz/Dürig,

436

Vgl. § 6 I V . 4. c) bb) (3).

GG, 7. Aufl.,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 114 ff.

238

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Wägt man im Rahmen der Angemessenheitsprüfung sodann das beeinträchtigte Interesse der Unternehemen gegen den mit den Vermutungen verfolgten Zweck ab, so ist zu beachten, daß die Vereinigungsfreiheit der Unternehmen im Fusionskontrollbereich der §§ 23 ff. GWB Mittel ("Ausübungsfreiheit") zum Zwecke der freien unternehmerischen Berufsausübung ist. Inhaltlich deckt sich das beeinträchtigte Interesse damit mit dem schon im Rahmen des Art. 12 I erörterten. Auch auf die zur Angemessenheit der Vermutungen im Rahmen des Art. 12 I GG angestellten Überlegungen437 kann daher sinngemäß verwiesen werden. Die durch die Vermutungen zu effektuierende kollisionslösende Ordnung des GWB rangiert auch hier nur "zwischen" den kollidierenden Freiheiten, so daß neben dem Schutz des Wettbewerbs als Institution im Mittelpunkt der Güterabwägung erneut die kollidierenden Berufsausübungsinteressen der Unternehmen und ihrer Wettbewerber stehen.438

bb) Grundrechtskonkurrenz Andere Grundrechte können Beschränkungen der Vereinigungsfreiheit unter dem Aspekt der Grundrechtskonkurrenz rechtfertigen. 439 Zur Konkurrenz der bei den betroffenen Unternehmen tangierten Art. 12 I und 9 I GG wurde bereits dargelegt, daß die gesellschaftsrechtliche Freiheit des Sich-Vereinigens als Mittel ("Ausübungsrecht") im Verhältnis zum zweckbestimmenden "Inhaltsrecht" der unternehmerischen Berufsfreiheit fungiert. 440 Bei Idealkonkurrenzen dieser Art sind die Schrankenvorbehalte sowohl der Vereinigungsfreiheit als auch des zweckbestimmenden Konkurrenzgrundrechts gemeinsam anzuwenden. Die durch die Schrankenvorbehalte des zweckbestimmenden Konkurrenzgrundechts (Art. 12 I GG) gerechtfertigten Freiheitsbeschränkungen werden auch gegenüber der Vereinigungsfreiheit wirksam 441 mit der Folge, daß die durch die (externe) Schrankensystematik des Art. 12 I GG gedeckten Vermutungen der §§22 III und 23 a GWB auch als Beschränkungen des Art. 9 I GG verfassungsgemäß sind.

437

§ 6 I V . 4. c) bb), insbesondere (4).

438

Siehe zur entsprechenden Güterabwägung bei Art. 121 GG § 6 I V . 4. c) bb) (4).

439

Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 148 f.

440

Siehe § 6 IV. 4. a) bb), vgl. auch Scholz in Maunz/Dürig, GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rzn. 111,149. 441

Scholz in Maunz/Dürig,

GG, 7. Aufl., Stand 31. Lfg. 1994, Art. 9 Rz. 149 m.w.N.

V. Ergebnis zu § 6

239

V. Ergebnis zu § 6 Im Anschluß an die in § 5 gewonnene Erkenntnis, daß die Vermutungen des GWB allein die materielle Beweislast regeln, gelangt die Untersuchung in § 6 zu dem Ergebnis, daß die konkrete Risikozuweisung durch die §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB verfassungsgemäß ist. Beweislastnormen des materiellen Rechts gehören selbst zum materiellen Recht. Sie bilden materielles Recht speziell für den non liquet-Fall. Sie unterliegen denselben inhaltlichen Determinierungen durch die Verfassung wie sonstige materielle Rechtssätze. Als normaler Akt materieller Normsetzung unterfällt der Erlaß einer Beweislastnorm der Gesetzgebungsfreiheit. Nach Art. 20 III GG muß der Gesetzgeber (nur) die Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung beachten. Die Verfassung kann für bestimmte non liquet-Konstellationen eine eindeutige materielle Rechtsgüter- und Interessenbewertung vorgeben. Diese ergibt sich durch Auslegung und Kollisionslösung einzelner Verfassungsinhalte. Tangiert die Beweislastnorm Grundrechte, so erfüllt deren Systematik von Schranken und Schranken-Schranken die Funktion, materielle Verfassungswertungen im Hinblick auf die non liquet-Konstellation freizulegen und miteinander zu harmonisieren. Demgegenüber betreffen die verfahrensbezogenen Ausprägungen des materiellen Verfassungsrechts und die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien ausschließlich die Verfahrensgestaltung. Diese enthalten zwar die verfahrensbezogenen Wertungen des materiellen Rechts, dessen Ausprägung sie sind, sie enthalten jedoch keine eigenständigen sachlich-inhaltlichen Aussagen als mögliche Erkenntnisquellen und Determinanten des materiellen Rechts. Sie können nur die Gestaltung der prozessualen Sachverhaltsaufklärung determinieren. Die Prüfung der Frage, welche materiell-inhaltlichen Aussagen der Verfassung als Determinanten der Vermutungen des GWB entnommen werden können, führt zunächst zu einem prinzipiellen Ausscheiden der Gebote der Waffengleichheit, des fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG). Es existiert weder eine allgemeine verfassungsrechtliche Beweislastverteilungs-Grundregel, an der sich der kartellrechtliche Gesetzgeber zu orientieren hätte, noch existiert ein ergänzender Beweislastvertreilungsgrundsatz des Fairneß- und Waffengleichheitsgebots im Gewände des Sphärengedankens. Ferner läßt sich den materiell-inhaltlichen Entscheidungen der Verfassung keine generelle Güter- oder Interessenbewertung dahingehend entnehmen, daß die Voraussetzungen freiheitsbelastender Verwaltungsakte in der Eingriffsverwaltung vom Staat vollständig nachgewiesen werden müßten oder daß sich belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung stets innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder durch Wahrscheinlichkeitssätze fundiert sein müßten. Bei der Untersuchung der kartellrechtlichen Vermutungen auf ihre Vereinbarkeit mit den materiellen Grundrechten ist eine gegen

240

§ 6 Die Verfassungsmäßigkeit der Beeislastverteilung

Art. 3 I GG verstoßende, willkürliche Ungleichbehandlung der Unternehmen durch die §§ 22ΙΠ, 23a und 26 II 3 GWB nicht festzustellen. Freiheitsgrundrechte der betroffenen Unternehmen in Form der unternehmerischen Betätigungs-, Wettbewerbsund Vertragsfreiheit (Art. 12 I GG) sowie der gesellschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit (Art. 91 und 12 I GG) werden dadurch tangiert, daß die Vermutungen des GWB Eingriffe durch bzw. aufgrund der §§ 22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB zusätzlich im non liquet-Fall rechtfertigen. Die Vermutungen des GWB sind aber durch die Schranken und Schranken-Schranken der Art. 12 I und 9 I GG gedeckt. Unter Beachtung des weiten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in der "offenen Wirtschaftsverfassung" des GG ist der Kreis eingriffslegitimierender Gemeinwohlbelange weit zu ziehen. Da der Gesetzgeber nicht den Zweck verfolgt, die kartellbehördliche Aufsicht nur in durch Wahrscheinlichkeitsaussagen fundierten Risikolagen zu effektivieren, sondern vielmehr in den konkret normierten Risikolagen, sind die Vermutungen trotz des gesetzgeberischen Irrtums über ihre "statistische Trefferquote" zur Zweckerreichung erforderlich. Sie sind zur Erreichung des verfolgten Zwecks (Effektivierung der behördlichen Aufgabe einer optimalen Konfliktlösung zwischen den kolliedierenden Wettbewerbsfreiheiten der Unternehmen und ihrer Wettbewerber) schließlich angemessen. Während die Vermutungen auf der Seite des beeinträchtigten Interesses der Unternehmen nur einen "marginalen Aspekt wirtschaftlicher Entfaltung" betreffen, ließe sich auf der Seite des geschützten Interesses ohne die Vermutungen eine Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen und des Schutzes kollidierender Unternehmens-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheiten in der Praxis nur unzureichend umsetzen bzw. liefe sogar leer.

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung Mit der Feststellung, daß die Vermutungen des GWB ausschließlich Regelungen der objektiven Beweislast bilden und als solche verfassungsgemäß sind, ist ihre Erörterung im Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren streng genommen abge schlossen.1 Da aber § 23a II 1, Halbs. 2 GWB über die Beweislast hinaus auch einen partiellen Wechsel des Aufklärungsmodells regelt 2 und gegen diese Verfah rensgestaltung verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden3, soll auch die Ver fassungsmäßigkeit der Gestaltung der Aufklärungsverantwortung für die durch die §§22 III, 23a I, II und 26 II 3 GWB vermuteten Merkmale und ihre Widerlegung erörtert werden. Bei der Prüfung, ob die gesetzliche Organisation der Aufklärungsverantwortung für die vermuteten Merkmale bzw. ihr Gegenteil aus Verfassungsgründen zu bean standen ist, kann an das in § 6 gewonnene Ergebnis angeknüpft werden, daß es vor allem die Grundrechte und die verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien sind, welche die Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung determinieren. 4

I. §§ 22 m, 23a I und 26 I I 3 GWB Wegen des Streitstandes zu der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Um fange die §§ 22 III, 23a I und 26 II 3 GWB die aus den §§ 54 I und 69 GWB fol gende Amtsermittlungspflicht von Kartellbehörde und Gericht beschränken, kann auf die Darstellung in § 4 I 3 a) und § 4 II verwiesen werden. Zu dieser Fragestellung wurde in § 5 VII 1 das Ergebnis erzielt, daß diese Vermutungen weder die Amtsaufklärungspflicht hinsichtlich des vermuteten Merkmals und seines Gegen teils beschränken, noch eine besondere Mitwirkungspflicht der Unternehmen bei der Vermutungswiderlegung begründen.

1

Die strikte gedankliche Trennung der Ebene der Rechtsanwendung von derjenigen der Sachverhaltsaufklärung war ein besonderes Anliegen der bisherigen Untersuchung. 2

Vgl. §5 Vn. 1. und 2.

3

Vgl. die Nachweise in § 4 I. 3. b).

4

Vgl. vor allem § 6 Π. 1. a) - "Arzthaftungsbeschluß" -, § 6 ΙΠ. 1. und § 6 IV. 1. a).

16 Ittner

242

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

Wie der Blick auf den vorgenannten Streitstand5 zeigt, werden gegen die Entscheidung des Gesetzgebers, die Aufklärung des für die vermuteten Merkmale und ihre Gegenteile relevanten Sachverhalts in Form der Amtsermittlung zu organisieren (§§ 54 1,69 GWB), keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben.

IL § 23a U GWB Verfassungsrechtlich beanstandet6 wird jedoch die Regelung des § 23a II 1, Halbs. 2 GWB, wonach die in Halbs. 1 bestimmten Oligopole für die Zusammenschlußkontrolle als marktbeherrschend gelten, "es sei denn, die Unternehmen weisen nach, daß - die Wettbewerbsbedingungen auch nach dem Zusammenschluß zwischen ihnen wesentlichen Wettbewerb erwarten lassen" (1. Alt.) "oder - die Gesamtheit der Unternehmen im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung hat" (2. Alt.).

1. Anknüpfung an bereits erzielte Ergebnisse/Problemstellung

In § 2 I 2 b) wurde gezeigt, daß § 23a II 1 GWB die Erwartung der Entstehung einer marktbeherrschenden Stellung durch einen Unternehmenszusammenschluß vermutet. Die Festschreibung des Inhalts des Gegenteilsbeweises in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB stellt keine Beschränkung oder Erschwerung der Widerlegung der Vermutung dar.7 Hinsichtlich des Streitstandes zu der Frage, ob und in welchem Umfang Kartellbehörde und Gericht zur Amtsermittlung des für das vermutete Merkmal und seine Widerlegung maßgeblichen Sachverhalts verpflichtet sind, kann auf die Darstellung in § 413 b) und § 4 II verwiesen werden. Zu dieser Fragestellung wurde oben8 das Ergebnis gewonnen, daß der Gesetzgeber den Nachweis der in § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB vorgeschriebenen Widerlegungsmerkmale als solchen zum eigenständigen Tatbestandsmerkmal erhoben und damit den Amtsermittlungsgegenstand verändert hat ("formbestimmte Nachweispflicht mit eigenständiger Tatbestandsfunktion"). Die Amtsermittlungspflicht ist zugunsten einer echten Behauptungs- und Beweis-

5

§ 41. 3. a).

6

Vgl. den Streitstand in § 4 I. 3. b).

7

Vgl. im einzelnen § 2 I. 2. b).

8

In § 5 VE. 2.

Π. § 2 3 a I I G W B

243

führungslast der Unternehmen materiellrechtlich durchbrochen (Wechsel des Aufklärungsmodells).9 Gegen die Belastung der Unternehmen mit der Behauptungs- und Beweisführungslast für das Gegenteil des vermuteten Merkmals ist in weiten Teilen des kartellrechtlichen Schrifttums Kritik laut geworden. Kernpunkt der Kritik ist die Argumentation, die Unternehmen besäßen nicht wie das Bundeskartellamt das Ausmaß an Informationen und Informationsmöglichkeiten, welches zur Gegenteilsbeweisführung erforderlich sei. Allein das Bundeskartellamt sei zur sachgerechten Aufklärung in der Lage. Die den Unternehmen auferlegte Darlegungs- und Beweisführungslast müsse auf Verhältnisse aus der eigenen Unternehmenssphäre beschränkt werden.10 Auch das Kammergericht geht im Fall "Morris/Rothmans" 11 von einer beschränkten Amtsermittlungspflicht hinsichtlich von Widerlegungstatsachen aus. Insoweit wird auf die in § 4 II zitierte Urteilspassage verwiesen. Oben12 wurde dargelegt, daß der aus Art. 20 III GG folgende Verfassungsauftrag zur Einführung desjenigen Sachverhalts-Aufklärungsmodells, welches eine optimale Aufklärung verspricht, den Gesetzgeber nicht zu einer lückenlosen Einführung des Untersuchungsgrundsatzes in den Verfahrensordnungen zwingt. In Umsetzung des Verfassungsauftrages ist dem Gesetzgeber bei der einfachgesetzlichen Wahl zwischen Verhandlungs- oder Untersuchungsmaxime eine weite Einschätzungsprärogative zuzubilligen. Bei seiner freien, nur durch jenen Verfassungsauftrag dirigierten Gestaltung muß der Gesetzgeber als Entscheidungsgrenze aber die verfassungsmäßige Ordnung beachten. So können insbesondere Grundrechte und verfassungsrechtliche Verfahrensgarantien die Freiheit auf die Pflicht zum Vorschreiben amtlicher Ermittlungen reduzieren.13 In welchen Fällen dies der Fall ist, ist mit Blick auf § 23a II 1, Halbs. 2 GWB zu klären. 2. Die Verfassungsmäßigkeit der durch § 23a I I 1, Halbs. 2 GWB bestimmten Aufklärungsverantwortung

a) Zugang zu den Widerlegungstatsachen Als Vorfrage der Verfassungsprüfung ist zu erörtern, ob die zur Widerlegung der Vermutung nach § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB benötigten Informationen ganz oder teil9

16*

Vgl. im einzelnen § 5 VII. 2.

10

Vgl. zum Streitstand und zur geäußerten Kritik im einzelnen § 41. 3. b).

11

KG WuW/E OLG 3051 (3071).

12

In § 5 VE. 1.

13

Vgl. zum Vorstehenden näher § 5 VE. 1.

244

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

weise nicht in die Sphäre der betroffenen Unternehmen fallen oder diesen sogar unzugänglich sind. Hinsichtlich des durch die 1. Alternative des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB geforderten Nachweises des Fortbestehens der Bedingungen für wesentlichen Binnenwettbewerb im Oligopol herrscht Einvernehmen darüber, daß die insoweit benötigten Informationen typischerweise zur Sphäre der beteiligten Unternehmen gehören und diesen typischerweise verfügbar sind. Allerdings wird es für möglich gehalten, daß einzelne Informationen nicht ihrer Sphäre entstammen14 bzw. ihnen unzugänglich sind.15 Hinsichtlich des durch die 2. Alternative geforderten Nachweises des Fehlens einer überragenden Marktstellung des Oligopois im Verhältnis zu den übrigen Wettbewerbern wird im Schrifttum verstärkt die Unzugänglichkeit einzelner Informationen für die Unternehmen angenommen.16 Harms macht darüber hinausgehend sogar geltend, die insoweit erforderlichen Informationen seien für die beteiligten Unternehmen insgesamt nicht verfügbar. 17 Danach ist im Hinblick auf die Informationen über die Bedingungen für künftigen Binnenwettbewerb (1. Alt.) und das Fehlen einer überragenden Oligopolmarktstellung nach außen (2. Alt.) davon auszugehen, daß bestimmte Informationen nicht nur außerhalb der Sphäre der darlegungs- und beweispflichtigen Unternehmen liegen, sondern diesen sogar unzugänglich sind. Allerdings ist ein Informationsnotstand bezogen auf den Binnenwettbewerb und die Marktmacht des Oligopois nicht schon in der normativen Umschreibung des Gegenteilsbeweises strukturell oder falltypisch vorgezeichnet. Die normative Umschreibung des Gegenteilsbeweises (die Wettbewerbsbedingungen lassen "auch nach dem Zusammenschluß zwischen ihnen wesentlichen Wettbewerb erwarten" bzw. "keine überragende Marktstellung" des Oligopois) als solche ist zu allgemein, als daß Aufklärungsschwierigkeiten der Unternehmen schon typischerweise für jeden denkbaren Widerlegungsfall vorpro-

14 Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 18; Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574 (575). 15 Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 285; Schultz, WuW 1981, 102 (115); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79; Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867; Burrichter, WuW 1982, 661 (668 f.); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 54 f. 16

In diesem Sinne: Burrichter, WuW 1982, 661 (671); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 54 f.; Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867; Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79; Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 18; Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574 (575). 17

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 88.

Π. § 2 3 a ï ï G W B

245

grammiert wären. Aktualisiert und konkretisiert wird ein Informationsnotstand der Unternehmen vielmehr erst im - stets anders gelagerten - konkreten Einzelfall. Dies gilt entgegen der Ansicht von Harms 18 auch für die überragende Marktstellung des Oligopois nach außen. Zahlreiche der für die Beurteilung einer überragenden Marktstellung maßgeblichen Kriterien - die in § 22 I Nr. 2 GWB aufgezählten Kriterien sind keineswegs abschließend - sind den betroffenen marktstarken Unternehmen wegen ihrer guten Marktkenntnisse typischerweise zugänglich. Nicht für jeden Gegenteilsbeweis werden Informationen benötigt, die den Unternehmen typischerweise unzugänglich sind. Folglich kann für den normierten Gegenteilsbeweis des Fehlens einer überragenden Marktstellung des Oligopois als solchen nicht davon gesprochen werden, es sei bereits abstrakt-falltypisch vorgezeichnet, daß die für die Vermutungswiderlegung relevanten Informationen den Unternehmen typischerweise unzugänglich seien. Die Vorstellung, daß die Amtsuntersuchungspflicht auch hinsichtlich solcher für die Widerlegung benötigter Informationen ausgeschlossen sein soll, zu denen die Unternehmen keinen Zugang haben, wird von weiten Teilen des kartellrechtlichen Schrifttums als unbefriedigend empfunden. Von zahlreichen Autoren wird daher freilich ohne nähere Begründung und dogmatische Rechtfertigung - die These vertreten, das BKartA bleibe hinsichtlich der den Unternehmen nicht zugänglichen Informationen verpflichtet, von seinen Auskunftsrechten Gebrauch zu machen bzw. Ermittlungen durchzuführen, wobei hinsichtlich des Umfangs dieser Pflicht unterschiedliche Ansichten bestehen.19 Im folgenden wird zu prüfen sein, ob verfassungsrechtliche Garantien Korrekturen an der Aufklärungsverantwortung für die zur Vermutungswiderlegung benötigten Informationen gebieten.

b) Den Grundrechtsschutz

effektuierende

Verfahrensgestaltung

In seinem "Mülheim-Kärlich-Beschluß" 20 hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß die einzelnen Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen 18

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 88.

19

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 285; Schultz, WuW 1981, 102 (115); Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79; Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867; Burrichter, WuW 1982, 661 (668 f.); Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574 (575); Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 18; Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 54 f.; vgl. femer das KG WuW/E OLG 3051 (3071) "Morris/ Rothmans" (in § 4 Π. zitierte Urteilspassage). 20

BVerfGE 53,30.

246

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

Rechts beeinflussen, sondern auch Maßstäbe fur eine den Grundrechtsschutz effektuierende Verfahrensgestaltung und für eine verfassungskonforme Anwendung der vorhandenen Verfahrensvorschriften setzen. Aus den Grundrechten folge die verfassungsrechtliche Pflicht, das gesamte Verfahrensrecht grundrechtskonform auszugestalten und anzuwenden. Die Garantien des fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes folgten bereits unmittelbar aus den Einzelgrundrechten. Diese Garantien blieben auf die Gestaltung des behördlichen Verfahrens nicht ohne Einfluß, soweit die behördliche Entscheidung Grundrechte berühre. 21 Zum Einfluß der Grundrechte auf das Verfahrensrecht stellt das Β VerfG allerdings an anderer Stelle einen weitreichenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers fest. 22 Die materiellen Grundrechte geböten lediglich elementare und rechtsstaatlich unverzichtbare Mindeststandards der Verfahrensgestaltung. 23 Im Verfahren der Widerlegung der Vermutungen des § 23a II GWB sind diejenigen Grundrechte der Unternehmen durch Verfahrensgestaltung zu effektuieren, welche bei fehlender Vermutungswiderlegung durch eine nachteilige Beweislastentscheidung tangiert würden. Dies sind die Art. 12 I und 9 I GG. 24

aa) Waffengleichheit und faires Verfahren Einzelheiten der grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung im Lichte der Gebote der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens erschließen sich vor allem25 aus den Aussagen der dissentierenden Richter im "Arzthaftungsbeschluß" 26, die in § 6 II 1 a) als irrelevant für den Inhalt der materiellen Beweislast eingeordnet werden mußten. Der Richter habe durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung den materiellen Inhalten der Verfassung, insbesondere den Grundrechten, Geltung zu verschaffen. Im Rahmen dieser Verpflichtung habe er für ein gehöriges, faires Verfahren Sorge zu tragen, wozu eine faire Handhabung des Beweisrechts zähle. Habe eine Partei erhebliche Schwierigkeiten in ihrer Beweisführung, so müsse es verfas21 BVerfGE 53, 30 (65, 72-74) mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG; femer BVerfGE 63,131 (143); E 69,315 (355 m.w.N.). 22

BVerfGE 39,276 (294 f.); E 56,216 (236); E 60,253 (295 ff); E 69,1 (53).

23

BVerfGE 60,253 (295).

24

Vgl. hierzu ausführlich § 6 IV. 4. a).

25

Weitere Nachweise zur Verfahrensgestaltung unter den Gesichtspunkten der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens bei Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 449 f f ; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 109 ff. 26

BVerfGE 52,131,143 ff.

Π, § 23a Π GWB

247

sungsrechtlichen Bedenken begegnen, die Beweislast für ein bestimmtes Vorbringen generell einer Seite aufzubürden, die von der typischen Art der Fallkonstellation her nicht in der Lage sein könne, den erforderlichen Beweis zu erbringen. Die Gerichte müßten sich im jeweiligen Einzelfall die beweisrechtliche Stellung der Parteien bewußt machen und im konkreten Fall für eine faire, zumutbare Handhabung des Beweisrechts Sorge tragen. Es müsse von Mal zu Mal geprüft werden, ob dem Patienten die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden dürfe. 27 Die angegriffene Entscheidung habe die im konkreten Fall gegebene beweisrechtliche Situation der Parteien nicht hinreichend berücksichtigt, weil sie vom Patienten einen Nachweis gefordert habe, den dieser grundsätzlich und typischerweise nicht zu leisten vermöge; für den dem Arzt viel leichter fallenden Nachweis habe das Gericht den Arzt nicht beweispflichtig gehalten.28 Zum strafprozessualen Vollstreckungsverfahren hat das BVerfG ausgeführt: Sei es das Ziel von Verfahren, den wahren Sachverhalt zu ermitteln, so verstießen verfahrensrechtliche Gestaltungen, die der Ermittlung der Wahrheit und damit einem gerechten Urteil entgegenstünden, gegen das Prozeßgrundrecht auf ein faires Verfahren. 29 Es sei unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, daß Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit beträfen, auf zureichenderrichterlicher Sachaufklärung beruhten und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage hätten.30 Überträgt man die tragenden Wertungen der wiedergegebenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf die bei § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB anzutreffende Situation, daß ein Informationsnotstand der Unternehmen bei der Widerlegung der Vermutung zwar nicht für jeden Normanwendungsfall vorprogrammiert ist, Konstellationen typischer Aufklärungsnot sich jedoch im einzelnen Fall aktualisieren können, so ergibt sich unter Beachtung dieser Wertungen für die Verteilung der Aufklärungsverantwortung: Die Verfahrensvorschrift des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB (Anordnung einer Darlegungs· und Beweisführungslast der Unternehmen) ist nicht generell verfassungswidrig, da eine Unmöglichkeit der Darlegung bzw. des Beweises der Widerlegungsmerkmale nicht für jeden Widerlegungsfall vorprogrammiert ist. Ihre Anwendung muß jedoch im jeweiligen Einzelfall ("von Mal zu Mal") unter den Gesichtspunkten der Waflfengleichheit und des fairen Verfahrens dahingehend grundrechtskonform

27

BVerfGE 52, 131 (145-147).

28

BVerfGE 52,131 (147 f.).

29

BVerfGE 57,250 (275); NJW 1983,1043; E 70,297 (308).

30

BVerfGE 70,297 (308); NJW 1983,1043; E 57,250 (275).

248

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

(grundrechtseffektuierend) erfolgen, daß die Unternehmen keine Darlegungs- und Beweisführungslast fur solche Informationen tragen, deren Erlangung ihnen typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. 31 Zwar betrifft der Arzthaftungsbeschluß speziell nur die Situation eines Beweisführungsnotstandes, doch muß nach den dort getroffenen Wertungen gleiches für einen Darlegungsnotstand gelten.32 Wenn bei unzumutbarer Beweisführung eine faire Handhabung der konkreten Beweisführungslast geboten ist,33 muß bei unzumutbarer Konkretisierung bzw. Substantiierung auch eine faire Handhabung der Substantiierungslast geboten sein.34 Zugleich ist deutlich geworden, daß entgegen der Ansicht zahlreicher Autoren 35 die (Unternehmens-) "Sphäre" kein maßgebliches Kriterium zur Begrenzung der die Unternehmen treffenden Darlegungs- und Beweisführungslast ist. Der verfahrensrechtliche Grundrechtsschutz setzt erst dort ein, wo die Aufklärung den Unternehmen typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. 36 Nicht möglich ist dagegen eine Übertragung der im Arzthaftungsbeschluß aus der Unzumutbarkeit für den Zivilprozeß gezogenen speziellen Folge des Wechsels der konkreten Beweisführungslast auf das kartellbehördliche Verfahren. Ein Wechsel der konkreten Beweisführungslast 37 scheidet schon deshalb aus, weil der Behörde im Verwaltungsverfahren wegen der fehlenden Kontradiktion nur ein Beteilgter gegenübersteht. Berücksichtigt man, daß nach der Rspr. des BVerfG zum strafprozessualen Vollstreckungsverfahren grundrechtsrelevante Entscheidungen auf genügender Tatsachengrundlage beruhen müssen, und vergegenwärtigt man sich den Verfassungsauftrag des Art. 20 III GG, welcher es der Behörde zur Pflicht macht, ihrer Entscheidung den Sachverhalt zugrundezulegen, der sich tatsächlich ereignet hat,38 so muß im Falle einer den Unternehmen unzumutbaren Aufklärung die Sachver31

Zur Unmöglichkeit und zur Unzumutbarkeit der Aufklärung speziell als Grenzen des "Nachweisgrundsatzes" Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 101 ff., 106 ff. m.w.N. aus dem öffentlich-rechtlichen Schrifttum. 32

In diesem Sinne wohl BVerfGE 52,131 (145).

33

BVerfGE 52,131 (145 ff.).

34

Der Zivilprozeß kennt für diese Situation die Figur des "qualifizierten Bestreitens" bzw. der "sekundären Behauptungslast". Vgl. zu dieser Figur BGH NJW 1981, 577; NJW 1985, 264; NJW 1986, 3194; NJW 1990, 3151; DB 1987, 1680; JZ 1987, 684 m.w.N; Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rzn. 34,97,312; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 138 Rz. 10, Vor § 284 Rz. 34; femer bereits § 2 Π. (zu § 26 V GWB). 35

Vgl. insoweit die Nachweise in § 4 I. 3. b).

36

BVerfGE 52, 131 (146-148).

37

Hierzu im einzelnen § 6 Π. l.a).

38

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 90,107.

Π. § 2 3 a G W B

249

haltsermittlung jedoch fortschreiten. Da keine anderen Informationsquellen ersichtlich sind - der Kartellbehörde steht nur ein Beteiligter gegenüber -, verlangt eine grundrechtseffektuierende Verfahrensfuhrung i.V.m. Art. 20 III GG das Wiederaufleben des durch die Spezialvorschrift des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB verdrängten Untersuchungsgrundsatzes (§§ 54 I, 69 GWB). 39 Man erreicht dieses Ergebnis methodisch durch verfassungskonforme Auslegung des § 23a II 1, Halbs. 2 GWB. 40 Wenn der Gesetzgeber eine weitergehende Wirkung der Norm beabsichtigt hatte, als sie nach der Verfassung zulässig ist, kann das Gesetz verfassungskonform einschränkend ausgelegt werden. 41

bb) Effektiver (Grund-)Rechtsschutz, Art. 19 IV GG Das Bundesverfassungsgericht geht nicht erst seit seinem "Mülheim-Kärlich-Beschluß" in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß nicht nur das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 IV GG, sondern schon die einzelnen Grundrechte selbst die Gerichte verpflichten, bei Eingriffen in Grundrechte einen effektiven Rechtsschutz in Gestalt einer tatsächlich wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu gewähren.42 Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlange, daß dem Bürger ein substantieller Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle zustehen müsse. Der gerichtlichen Durchsetzung eines materiellen Anspruches dürften nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden. 43 Setze das Verfahrensrecht der Rechtsausübung so hohe Hindernisse entgegen, daß die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition entstehe, so sei dieses Recht mit dem Grundrecht, dessen Schutz es bewirken solle, unvereinbar. 44 Insbesondere dürfe es dem Rechtsuchenden nicht von vornherein unmöglich gemacht werden, eine umfassende tatsächliche Prüfung seines Begehrens zu erreichen. 45 Nach dieser Rechtsprechung ist die Verfahrensvorschrift des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB auch unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes dahingehend 39

In diesem Sinne auch Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 107 f., 113,133.

40

Näher zur verfassungskonformen einschränkenden Auslegung einfacher Normen Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 339 ff. 41

BVerfGE 33, 52 (70); Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 1991, S. 340.

42

BVerfGE 53, 30 (72-74 m.w.N.); BVerfGE 51, 150 (156) = NJW 1979, 534 (534 f.); E 53,115 (127); E 63,131 (143). 43

BVerfGE 51,150 (156) = NJW 1979, 534 (534 f.); E 53,115 (128 m.w.N).

44

BVerfGE 63,131 (143).

45

BVerfGE 84,366 (370); E 60,253 (297).

250

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

grundrechtskonform einschränkend auszulegen, daß die Darlegungs- und Beweisfuhrungslast der Unternehmen im konkreten Einzelfall dort nicht besteht, wo ihnen die Aufklärung typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. Da die Verfahrensvorschrift des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB lex specialis gegenüber der gem. §§ 541,69 GWB generell geltenden Untersuchungsmaxime ist, 46 greift jenseits der Unzumutbarkeitsgrenze die Amtsermittlungspflicht ein.47 Andernfalls würde der Widerlegung der Vermutung das verfahrensrechtliche Hindernis einer unerfüllbaren Aufklärungslast in den Weg gelegt. Ein Teil des für die Gegenteilsbeweisführung relevanten Sachverhalts würde erst gar nicht in das Verfahren eingeführt. Auf diese Weise würde es den betroffenen Unternehmen von vornherein unmöglich gemacht, eine umfassende tatsächliche Prüfung des Vermutungsgegenteils zu erreichen. Durch eine Beweislastentscheidung nach § 23 a II GWB würde in die Unternehmensgrundrechte aus Art. 12 I, 9 I GG eingegriffen, ohne daß durch das Verfahren die Voraussetzungen für eine vollständige Prüfung der zum Schutze dieser Grundrechte angeordneten Vermutungswiderlegung geschaffen wären.

cc) Verhältnismäßigkeit Eine im vorstehenden Sinne waffenungleiche, unfaire und rechtsschutzunefifektive Verfahrensführung 48 wäre auch unverhältnismäßig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bindet Gesetzgebung und Verwaltung auch bei der Gestaltung und Anwendung von Verfahrensnormen. 49 Verfahren, die der Durchsetzung grundrechtlich geschützter Rechte dienen, müssen geeignet und zumutbar sein.50 Ungeeignet sind Verfahrensnormen, deren Regelungen zur Erreichung des gesetzten Zieles objektiv untauglich sind.51 Speziell der "Nachweisgrundsatz" ist untauglich und unzumutbar, wenn die Beteiligten aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen keine Möglichkeit haben, die erforderlichen Informationen zusammenzustellen und der Behörde nachzuweisen.52

46

Vgl. insoweit § 5 VII. 2.

47

In diesem Sinne auch Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 107 f., 113,133.

48

= Anwendung der Verfahrensvorschrift des § 23a Π 1, Halbs. 2 GWB dort, wo den Unternehmen im konkreten Einzelfall eine Darlegung und Beweisführung bzgl. der Widerlegungsmerkmale unmöglich und unzumutbar ist. 49

Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 104, mit zahlreichen Nachweisen aus dem Schrifttum und der Rspr. des BVerfG. 50

BVerfGE 60,253 (295); E 69,1 (50).

51

BVerfGE 69, 1 (53); Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 116.

Π. § 2 3 a G W B

251

3. Folgerungen für den Tätigkeitsumfang des BKartA/Kritik an der Rechtsprechung des Kammergerichts

Nach alledem ist festzuhalten, daß die Unternehmen keine Darlegungs- und Beweisfuhrungslast für solche zur Widerlegung des § 23a II GWB geeigneten Tatsachen tragen, zu deren Aufklärung sie im konkreten Fall typischerweise nicht in der Lage sind. Insoweit gilt die Amtsermittlungsmaxime (§§ 54 1,69 GWB). Das Kammergericht hat im Fall "Morris/Rothmans" 53 zur Aufklärungsverantwortung bei der Widerlegung der Vermutungen des § 23 a II GWB ausgeführt: "Die am Zusammenschluß beteiligten Unternehmen haben zwar alle zur Widerlegung geeigneten Tatsachen vorzutragen, jedoch nur, soweit sie ihnen zugänglich sind. Bei erheblichen Umständen, von denen sie keine genaue Kenntnis haben können, wie zum Beispiel von Marktanteilen einzelner Außenwettbewerber, setzt die Aufklärungsverpflichtung des BKartA ein, das auch dem anderen Tatsachenvortrag der beteiligten Unternehmen nachgehen muß, aber auch im übrigen Ermittlungen anzustellen hat, die sich ihm aufgrund seiner sonstigen Kenntnisse vom Sachverhalt aufdrängen (...)."

Diesen Ausführungen kann nur zum Teil beigepflichtet werden. Mit dem eingangs Ziff. 3 festgehaltenen Ergebnis deckt sich zunächst die Aussage des Kammergerichts, die Unternehmen hätten nur solche zur Widerlegung geeigneten Tatsachen vorzutragen, die ihnen zugänglich seien; im übrigen setze die Aufklärungsverpflichtung des BKartA ein. Soweit das Gericht beispielhaft die Marktanteile einzelner Außenwettbewerber nennt, handelt es sich um eben solche Informationen, die den Unternehmen typischerweise unzugänglich sind. Problematisch ist demgegenüber die Aussage des Kammergerichts, das BKartA müsse "auch dem anderen Tatsachenvortrag der beteiligten Unternehmen nachgehen" und es habe "auch im übrigen Ermittlungen anzustellen, die sich ihm aufgrund seiner sonstigen Kenntnisse vom Sachverhalt aufdrängen". Diese Aussage kann nur dahingehend verstanden werden, das BKartA müsse auch dort, wo den Unternehmen die Widerlegungstatsachen typischerweise zugänglich sind, solche amtswegigen Ermittlungen anstellen, zu denen die Unternehmen durch den eigenen Vortrag Anstöße gegeben haben oder die sich dem Amt aufgrund sonstiger Sachverhaltskenntnisse aufdrängen. Dem kann nicht gefolgt werden. Unzweifelhaft ist die Behörde unter der Geltung der Untersuchungsmaxime verpflichtet, allen sich aufdrängenden Erkenntnisquellen nachzugehen, sofern sie ausreichenden Erkenntniswert besitzen.54 Den Nachweis der zur Widerlegung der Vermutung vorgeschriebenen

52 Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 101 f., 106, mit weiteren Nachweisen aus dem öffentlich-rechtlichen Schrifttum. 53

KG WuW/E OLG 3051 (3071).

252

§ 7 Die Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung

Tatsachen hat § 23a II 1, Halbs. 2 GWB jedoch als solchen zum eigenständigen Tatbestandsmerkmal erhoben und damit den Ermittlungsgegenstand materiellrechtlich verändert ("formbestimmte Nachweispflicht mit eigenständiger Tatbestandsfunktion"). 55 Im verwaltungsrechtlichen Schrifttum besteht Einigkeit darüber, daß die Behörde eigene Ermittlungen nicht durchführen muß und auch nicht darf, wenn der Gesetzgeber den Nachweis als solchen zum Tatbestandsmerkmal erhoben hat 56 , sei es auch, daß Ermittlungen sich aufdrängen. Das BKartA muß sich hier seine Oberzeugung vom Gegenteil des vermuteten Merkmals nur auf der Basis des Sachverhaltsmaterials bilden, das die Unternehmen dargelegt und unter Beweis gestellt haben. Allerdings wird die Behörde aufgrund ihrer Fürsorgepflicht für die Beteiligten (§ 25 VwVfG) dazu verpflichtet sein, die Unternehemen auf die sich aufdrängenden Ermittlungen hinzuweisen und entsprechende Darlegungen anzuregen.57 Nicht zu beanstanden wäre die Annahme des Kammergerichts, das BKartA müsse "auch dem anderen Tatsachenvortrag der beteiligten Unternehmen nachgehen", nur dann, wenn sie ausschließlich die Tätigkeit des Amtes auf der Ebene der Rechtsanwendung beträfe. Die auf das Gesetzmäßigkeitsprinzip des Art. 20 III GG zurückzuführende Pflicht des Rechtsanwenders, auf der Basis des (von wem auch immer) zusammengetragenen Sachverhalts alle Schritte der Überzeugungsbildung und Rechtsanwendung vorzunehmen, bleibt von den Verfahrensmaximen unberührt. Bei jedem Aufklärungsmodell besteht die Pflicht des Rechtsanwenders zur Überzeugungsbildung vom kompletten Normenprogramm. So ist das BKartA bei § 23a II GWB dazu verpflichtet, sich eine Überzeugung auch vom Gegenteil des vermuteten Merkmals zu bilden, wozu insbesondere die Erhebung der von den Unternehmen angebotenen Beweise und die Berücksichtigung aller von diesen vorgetragenen Tatsachen im Rahmen der Überzeugungsbildung vom Vermutungsgegenteil gehört. Abschließend ist zum Tätigkeitsumfang des BKartA bei der Anwendung des § 23 a II GWB klarzustellen, daß der partielle Wechsel des Aufklärungsmodells durch § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB selbstverständlich nicht bedeutet, daß sich die Amtsermittlung nur auf die Vermutungsbasis beschränken dürfte. § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB belastet die Unternehmen nur mit der Behauptungs- und Beweisführungslast für das Gegenteil des vermuteten Merkmals. Im übrigen bleibt es bei der uneinge-

54

Bettermann, Referat zum 46. DJT 1966, Bd. Π, S. E 35 f., E 43; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 278; Harms in Gemeinschaftsomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 40; vgl. hierzu bereits § 5 VD. vor 1. 55

Vgl. hierzu im einzelnen § 5 VE. 2.

56

So ausdrücklich Berg, Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 251; Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 132 m.w.N. 57

Entsprechendes folgt für das Beschwerdegericht aus § 69 Π GWB.

ΠΙ. Ergebnis zu § 7

253

schränkten Geltung der Untersuchungsmaxime, was bedeutet, daß das BKartA den fur die positive Feststellung des vermuteten Merkmals relevanten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat.

I I I . Ergebnis zu § 7 Die Gestaltung der Aufklärungsverantwortung fur die durch die §§22 III, 23a und 26 II 3 GWB vermuteten Merkmale und ihre Widerlegung ist verfassungsgemäß. Allerdings ist für die Verfahrensvorschrift des § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB unter dem Gesichtspunkt einer den Grundrechtsschutz der Unternehmen effektuierenden Verfahrensgestaltung, insbesondere aufgrund der Gebote der Waffengleichheit, des fairen Verfahrens, des effektiven Rechtsschutzes und der Verhältnismäßigkeit, eine einschränkende Auslegung der Norm dahin geboten, daß die Unternehmen im konkreten Fall nicht die Darlegungs- und Beweisführungslast für solche zur Widerlegung geeigneten Tatsachen tragen, deren Erlangung ihnen typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. Insoweit lebt der durch § 23a II 1, Halbs. 2 GWB verdrängte Untersuchungsgrundsatz wieder auf (§§ 54 I, 69 GWB).

Dritter Teil

Die Vermutungen des GWB im Zivilrechtsstreit § 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime I. Anwendbarkeit der §§ 22 Π Ι , 26 I I 3 GWB im Zivilprozeß - Meinungsstand Während die Vermutungen des § 23 a GWB ausdrücklich nur für die kartellbehördliche Zusammenschlußkontrolle nach § 24 GWB gelten, ist die Anwendbarkeit der §§ 22 III und 26 II 3 GWB in Zivilrechtsstreitigkeiten (§ 35 GWB) für § 26 II 3 GWB eindeutig und für § 22 III GWB herrschende Meinung.

1. § 22 ΙΠ GWB

Problematisch ist der Anwendungsbereich der Marktbeherrschungsvermutungen des § 22 III GWB in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 35 GWB. Geklärt sein dürfte seit der 4. GWB-Novelle nur die Frage, ob § 22 IV GWB als Schutzgesetz i.S.v. § 3511 GWB mit der Folge anzusehen ist, daß sich Dritte selbst durch zivilrechtliche Schadensersatz- und Unterlassungsklagen gegen Mißbräuche wirtschaftlicher Macht durch marktbeherrschende Unternehmen wehren können. Die Rechtsanwendungspraxis1 und das überwiegende Schrifttum 2 hatten es bereits vorder 4. GWB-Novelle von 1980 abgelehnt, § 22 IV GWB als Schutzgesetz i.S.v. § 35 I 1 GWB anzuerkennen. Der Gesetzgeber der 4. GWB-Novelle hat sodann ausdrücklich davon Abstand genommen, § 22 IV GWB in ein Schutzgesetz umzuwandeln und sich stattdessen auf andere Maßnahmen zur Schließung der "Sanktionslücke" bei § 22 IV GWB beschränkt.3 Angesichts dessen ist es heute nicht 1 WuW/E BGH 995 (998) "Taxiflug" = BGHZ 51,61 (66 ff.); WuW/E BGH 1299 (1300) "Strombezugspreis"; OLG Frankfurt WuW/E OLG 1194 (1198) "Stromversorgung für USStreitkräfle"; KG WuW/E OLG 1758 (1762) "Weichschaum Π"; WuW/E OLG 1813 (1815) "Medizinischer Badebetrieb" ; OLG Düsseldorf WuW/E OLG 1536 (1540) "Umstellung auf Erdgas". 2

Statt vieler K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, 1977, S. 130, 226, 269, 380 ff.; Göll, WuW 1976,291 (293 ff.). 3

Insbesondere auf die Mehrerlösabschöpfung nach § 37b GWB sowie die Einfügung des

I. Anwendbarkeit der §§ 22 ΠΙ, 26 Π 3 GWB im Zivilprozeß

255

mehr vertretbar, § 22 I V G W B als Schutzgesetz i.S.v. § 35 I 1 G W B zu qualifizieren. 4 Stark umstritten ist indessen die Anwendbarkeit der Vermutungen des § 22 I I I G W B zur Feststellung von "Marktbeherrschung" i.S.d. § 26 I I 1 G W B i m Rahmen von Zivilrechtsstreitigkeiten nach §§ 35, 26 I I GWB. Uneins ist bereits die Rechtsanwendungspraxis. Das O L G Düsseldorf hat die A n wendbarkeit des § 22 I I I i n Zivilverfahren 1978 ohne Begründung verneint, 5 das O L G Hamburg hat sie 1982 ohne Begründung bejaht. 6 Der B G H 7 und das O L G Stuttgart 8 haben die Frage bisher ausdrücklich offengelassen. In seiner Entscheidung "Sonderungsverfahren" aus dem Jahre 1988 (d.h. vor der 5. GWB-Novelle) hat der B G H ausgeführt: "Die kartellverwaltungsrechtlichen Vermutungsregeln des § 22 Abs. 3 GWB sind durch die zweite Kartellnovelle von 1973 (...) in das Gesetz eingefügt worden. Wie aus den Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist, hat der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages bei der Erörterung der genannten Vermutungsregelung die Auffassung vertreten, es handele sich dabei nicht um Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne. Die Vermutungen seien vielmehr ihrer Art nach eher "Aufgreiftatbestände", durch die die Kartellbehörde zur Einleitung des Verfahrens veranlaßt werden solle (...). Der Senat hat die Frage, ob die Vermutungen des § 22 Abs. 3 GWB auch im Rahmen des Diskriminierungsverbots nach § 26 Abs. 2 GWB gelten, im Urteil vom 26.6.19799 (...) offengelassen. Sie bedarf auch hier keiner abschließenden Entscheidung. Die Vermutungsregeln des § 22 Abs. 3 GWB haben mittelbar jedenfalls insoweit eine Auswirkung auf Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 26 Abs. 2 GWB, als das in Anspruch genommene Unternehmen sich nicht auf ein unsubstantiiertes Bestreiten zurückziehen kann, sondern substantiiert darlegen muß, warum es trotz der Erfüllung der Vermutungstatbestände des § 22 Abs. 3 GWB nicht marktbeherrschend ist.

neuen § 35 Π GWB - hierzu Emmerich in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 35 Rzn. 9a ff., 54 -; vgl. die Begründung zum RegE der 4. GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 15,25 sowie die Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses zum RegE, BT-Drs. 8/3690, S. 28. 4

Ebenso Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 201. A.A. dennoch Emmerich in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 35 Rz. 54, mit dem Argument, diese Vorstellung des Gesetzgebers habe keinen zwingenden Ausdruck im Wortlaut des § 35 Π GWB gefunden. 5

OLG Düsseldorf WuW/E OLG 1913 (1914) "Allkauf'.

6

OLG Hamburg WuW/E OLG 3195 (3197) "Metall-Lösungsmittel".

7

WuW/E BGH 1620 (1621) "Revell Plastics" (1979); WuW/E BGH 2483 (2489) "Sonderungsverfahren" (1988). 8

BB 1983,269 (270) "Brillenglas".

9

WuW/E BGH 1620 (1621) "Revell Plastics".

256

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

Außerdem kommt es nicht allein darauf an, ob der Kläger eine marktbeherrschende Stellung der Beklagten im Sinne von § 26 Abs. 2 Satz 1 GWB nachweisen kann (...). Wenn sich herausstellen sollte, daß die Beklagte (...) über ein Drittel der Nachfrage verfügt, wäre dies ein gewichtiges Indiz dafür, daß sie über die in § 26 Abs. 2 Satz 2 GWB vorausgesetzte Marktmacht verfügt (...)." 10

Die wohl herrschende Schrifttumsmeinung geht davon aus, die Anwendbarkeit der Vermutungen des § 22 III GWB im Zivilprozeß sei uneingeschränkt zu bejahen.11 Wichtigstes Argument ist der Hinweis, im Gegensatz zu den §§ 26 II 3 a.F.12 und 23a I, II GWB sei § 22 III GWB wie § 26 II 3 GWB n.F. nicht auf ein behördliches Verfahren beschränkt, sondern allgemein gefaßt. 13 Die Gegenansicht lehnt die Anwendbarkeit des § 22 III GWB in Zivilrechtsstreitigkeiten ab.14 Kersten argumentiert, dort fehle "die Beibehaltung der formellen Beweislast der Kartellbehörde" als "Korrektiv" dafür, daß das beklagte Unternehmen mit der materiellen Beweislast für die Frage der Marktbeherrschung beschwert werde. 15 Benisch und Winkler meinen, im Verwaltungsverwahren müsse die Kartellbehörde aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes den Umständen nachgehen, die gegen die Vermutung sprächen. Hierauf könne (durch einen Wechsel zur Verhandlungsmaxime) nicht verzichtet werden, weil das betroffene Unternehmen häufig nicht über alle zur Vermutungswiderlegung erforderlichen Daten verfüge; es könne zwar seine eigenen Daten liefern, nicht aber die der übrigen Marktbeteiligten. Eine Übertragung des § 22 III GWB auf das Zivilverfahren stelle das Unternehmen schlechter, weil ihm dort nicht die Ermittlungsmöglichkeiten der Kartellbehörde für diejenigen Einwände zur Seite stünden, die es gegen die Vermutung geltend mache.16 Winkler fügt hinzu, § 22 III GWB habe auch dann nicht die Funktion einer "zivilrechtlichen Vermutung", wenn sich das Kartellamt nach § 90 II, III GWB am

10

WuW/E BGH 2483 (2488 f.).

11

Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 79; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 289 f.; Kouker, GRUR 1986,31 (34); Langen, Komm, zum KartellR, 7. Aufl. 1994, § 26 Rz. 62; wohl auch v. Gamm, Kartellrecht, 3. Aufl. 1993, § 22 Rz. 5; § 26 Rz. 24. 12

Näher zu § 26 Π 3 GWB a.F. sogleich 2.

13

Kouker, GRUR 1986,31 (34).

14

Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 13; Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 348; Winkler, BB 1983,271 (272) in seiner Urteilsanmerkung zu OLG Stuttgart BB 1983,269. 15 16

Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 348.

Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 13; Winkler BB 1983,271 (272).

I. Anwendbarkeit der § § 22 ΠΙ, 26 Π 3 GWB im Zivilprozeß

257

Zivilprozeß beteilige, weil hierdurch die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes unberührt bleibe und im Zivilrechtszug keine dem Beschwerdeverfahren der §§ 62 ff. GWB entsprechende ^ β φ Γ ΰ ί ί ϋ^ π ^ Ι ΐ ϋΙ & β ύ bestehe.17 Nach Benisch könnten die Vermutungskriterien des § 22 III GWB im Zivilverfahren allenfalls die Bedeutung eines Anscheinsbeweises haben.18 Hiergegen argumentiert Winkler, mangels "der vorausgesetzten umfassenden Ermittlungsmöglichkeiten" könnten die Vermutungen auch nicht als Anscheinsbeweis Platz greifen. 19 Eine vermittelnde Meinung befürwortet nur eine "mittelbare Anwendung" des § 22 III GWB im Zivilprozeß in dem Umfange, wie er vom BGH im Fall "Sonderungsverfahren" 20 für zulässig erachtet worden ist. 21

2. § 26 Π 3 GWB

Bis zur 5. GWB-Novelle 1989 galt der Vermutungstatbestand des § 26 II 3 GWB a.F. nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur für das behördliche Untersagungsverfahren des § 37a II GWB. Durch diese Novelle wurden die Worte "Für das Untersagungsverfahren nach § 37a Abs. 2" in § 26 II 3 GWB a.F. gestrichen. Die Begründung zum Regierungsentwurf stellte klar, durch die Streichung werde die Beschränkung der Vermutung auf das kartellbehördliche Verfahren aufgehoben und die Bestimmung aUgemein gefaßt. Mit der Gesetzesänderung solle erreicht werden, daß § 26 II 3 GWB auch im Zivilprozeß Vermutungswirkung entfalte. 22 Dennoch wird im Schrifttum die Ansicht vertreten, § 26 II 3 GWB könne im Zivilverfahren "nicht als Vermutung im zivilrechtlichen Sinne mit voller (formeller und materieller) Beweislastwirkung" gewertet werden. Aus der Bezugnahme der Regierungsbegründung 23 auf die Rechtsprechung des BGH im Fall "Sonderungsverfahren" 24 ergebe sich, daß lediglich eine Anpassung an den derzeitigen Stand der 17

Winkler, BB 1983,271 (272).

18

Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 13.

19

Winkler, BB 1983,271 (272).

20

WuW/E BGH 2483 (2489); vgl. die soeben zitierte Urteilspassage.

21

In diesem Sinne wohl Immenga, GRUR 1989, 146 (147) in seiner Urteilsanmerkung zu BGH GRUR 1989, 142 "Sonderungsverfahren" (= WuW/E BGH 2483); Bechtold, GWB, Komm., 1993, § 22 Rz. 46. 22

So ausdrücklich die Begründung zum Regierungsentwurf der 5. GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (zitiert in § 3 Π. 3.). 23

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 Π. 3.).

17 Ittner

258

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

zivilrechtlichen Relevanz des § 22 III GWB im Lichte der dazu vorliegenden Rechtsprechungsergebnisse bewirkt werden sollte.25

IL Stellungnahme Die Diskussion um die Anwendbarkeit der Vermutungen im Zivilprozeß - insbesondere der Streit zu § 22 III GWB - krankt ganz grundlegend an zwei Schwachpunkten: Zum ersten stammen die komplette einschlägige Rechtsprechung und der Großteil des Schrifttums aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der 5. GWB-Novelle am 22.12.1989. Daher wird dort argumentativ noch auf überkommene, durch die 5. Novelle längst überholte Äußerungen des Gesetzgebers anläßlich der 2. und 4. GWB-Novelle abgestellt ("keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne"26, "eine Umkehr der Beweislast nicht bewirkender Aufgreiftatbestand" 27 etc. 28 ). 29 Die Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle hat jedoch die Einordnung der §§ 22 III und 26 II 3 GWB als "Aufgreiftatbestände, die die Kartellbehörde zur Prüfung im Rahmen der Amtsermittlung veranlassen, aber keine Umkehr der Beweislast bewirken", als unzutreffend aufgegeben und diese Vermutungen "schon nach geltendem Recht" als echte Beweislastnormen anerkannt.30 Zudem betont sie, der BGH habe die Frage, ob § 22 ΠΙ GWB im Zivilprozeß "echte Vermutungswirkung" entfalte, in seiner Entscheidung "Sonderungsverfahren" 31 ausdrücklich ofifengelas24

WuW/E BGH 2483 (2489); vgl. die unter 1. zitierte Urteilspassage.

25

Markert in Immenga/Mestmäcker,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 141.

26

Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 27

Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. Von Charakter als "Aufgreiftatbestände" sprechen auch der Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16; zur 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22. 28 Vgl. zu diesen und weiteren fehlerhaften Einordnungsversuchen des Gesetzgebers aus den Anfangszeiten der Vermutungen die Nachweise in § 4 vor I. 29 Argumentativ einbezogen etwa von WuW/E BGH 2483 (2488 f.) "Sonderungsverfahren, Immenga, GRUR 1989,146 (147). 30

Hierzu näher sogleich unter 1.

31

WuW/E BGH 2483 (2488 f.), wörtlich zitiert in § 81. 1.

Π. Stellungnahme

259

sen. Eben dieses werde nun für § 26 II 3 GWB (nur) durch die Aufhebung der Beschränkung auf das Verfahren nach § 37a II GWB erreicht. 32 Zum zweiten leidet die Diskussion an einer undifferenzierten Vermischung der Ebenen des materiellen Rechts (materielle Beweislast, Rechtsanwendung) und der prozessualen Aufklärung (Verfahrensmaximen, Aufklärungsverantwortung). So meint z.B. Winkler, die Beweislastnorm des § 22 III GWB setze umfassende Ermittlungsmöglichkeiten voraus33 und nach Kersten soll die "formelle Beweislast" der Kartellbehörde das Korrektiv dafür sein, daß das beklagte Unternehmen mit der materiellen Beweislast für die Frage der Marktbeherrschung beschwert werden dürfe. 34 Auf die gedankliche Trennung von materieller Beweislast und prozessualer Aufklärung wird im folgenden besonderes Augenmerk zu richten sein.

1. Materielle Beweislast

Die Geltung der §§ 26 II 3 und 22 III GWB als Beweislastnormen im Zivilrechtsstreit kann seit der 5. GWB-Novelle nicht mehr ernsthaft bezweifelt werden. Der kartellrechtliche Gesetzgeber hat eine beabsichtigte Beschränkung einzelner Vermutungen des GWB auf bestimmte Verfahrensarten bisher stets im Wortlaut der Norm zum Ausdruck gebracht (§ 23a I, II GWB: "für die Zusammenschlußkontrolle"; § 26 II 3 GWB a.F.: "Für das Untersagungsverfahren nach § 37a Abs. 2"). Anläßlich der 5. Novelle hat er klargestellt, (nur) durch die Streichung der Worte "Für das Untersagungsverfahren nach § 37a II" werde die Beschränkung des § 26 Π 3 GWB auf dieses Verfahren aufgehoben und die Bestimmung "allgemein" gefaßt. (Nur) Hierdurch werde erreicht, daß die Regelung auch im Zivilprozeß "Vermutungswirkung" entfalte. 35 Da § 22 III GWB keine Beschränkung auf ein bestimmtes Verfahren enthält, sondern "allgemein" gefaßt ist, kann insoweit nichts anderes gelten, zumal die Regierungsbegründung sich eingehend mit der Geltung des § 22 III GWB im Zivilprozeß befaßt hat 36 und Anlaß gehabt hätte, eine dort nicht gewollte 32 Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 m.). 33

Winkler, BB 1983,271 (272).

34

Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 348.

35

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 ΙΠ.). 36

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 m.).

17»

260

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

Geltung der Norm klarzustellen. Im Gegenteil hat der Gesetzgeber mit dem Hinweis, der BGH habe die Frage, ob § 22 III GWB im Zivilprozeß "echte Vermutungswirkung" entfalte, "noch" offengelassen, was mit der Gesetzesänderung für § 26 Π 3 GWB gerade erreicht werden solle37, deutlich zu verstehen gegeben, daß er auch dort die Geltung des § 22 III GWB als Beweislastnorm befürwortet. Es war ein besonderes Anliegen der bisherigen Untersuchung, hervorzuheben, daß die materielle Beweislast von prozessualen Gesichtspunkten im Vorfeld der Rechtsanwendung, insbesondere von den Verfahrensmaximen, unabhängig ist. 38 Der Charakter der objektiven Beweislast besteht nur in einer Risikoverteilung für den non liquet-Fall unabhängig davon, wer für die Sachverhaltsaufklärung verantwortlich war. Beweislastnormen des materiellen Rechts beruhen auf autarken, materialen Erwägungen des Gesetzgebers; sie bilden selbst materielles Recht.39 Aus diesem Grunde wurde oben die Maßgeblichkeit prozessuler Gesichtspunkte (Verfahrensmaxime, bessere Aufklärungsmöglichkeiten, Beweisnot etc.) und verfahrensbezogener Verfassungsgewährleistungen für den Inhalt der Beweislast verneint.40 Im Zivilprozeß gilt im Unterschied zum Kartellverwaltungs- und Beschwerdeverfahren zwar der Verhandlungsgrundsatz. Da das materielle Recht mit den Verfahrensmaximen aber nichts zu tun hat, vielmehr voraussetzt, daß durch verfassungskonforme Verfahrensgestaltung und -fuhrung bereits eine optimale Aufklärung (durch wen auch immer) stattgefunden hat, können aus der Verhandlungsmaxime und dem Argument, das betroffene Unternehmen verfüge nicht über alle zur Vermutungswiderlegung erforderlichen Daen41, keine verfassungsrechtlichen oder rechtsstaatlichen Bedenken gegen die Wirkung kartellrechtlicher Vermutungen als Beweislastnormen im Zivilprozeß hergeleitet werden. (Hiervon zu unterscheiden ist die nachfolgend unter 2. zu erörternde Frage, ob die Geltung der Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell im Rahmen der §§22 III, 26 II 3 GWB rechtlich unbedenklich ist.) Die Verfassungsmäßigkeit der kartellrechtlichen Vermutungen wurde bereits in § 6 bejaht. Gegen eine Anwendung der Vermutungen im Zivilrechtsstreit ergeben sich auch aus den vom BGH im Fall "Sonderungsverfahren" 42 herangezogenen Äußerungen 37

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 ffl ). 38

Vgl. nur § 5 I. 2., § 6 I. 1., § 6 ΠΙ. 1. und passim.

39

Vgl. hierzu eingehend § 61. 1. und § 6 m. 1.

40

Vgl. nur § 6 I. 1., § 6 ΠΙ. 1., § 6 I V . 1. a) und passim.

41 So Benisch in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 2. Lfg. 1981, § 26 Rz. 13; Winkler, BB 1983,271 (272). 42

BGH in WuW/E BGH 2483 (2488 f.); ebenso Immenga, GRUR 1989,146 (147).

Π. Stellungnahme

261

des Gesetzgebers anläßlich der 2. und 4. GWB-Novelle, die §§ 22 III und 26 II 3 GWB seien "keine Vermutungen im zivilrechtlichen Sinne"43, sondern "ihrer Art nach eher Aufgreiftatbestände, durch die die Kartellbehörde zur Einleitung eines Verfahrens veranlaßt werden solle"44, keine Bedenken. Die Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle hat die Einordnung der §§22 III, 26 II 3 GWB als "Aufgreiftatbestände, die die Kartellbehörde zur Prüfung im Rahmen der Amtsermittlung veranlassen, aber keine Umkehr der Beweislast bewirken", als unzutreffend aufgegeben und sie "schon nach geltendem Recht" durch Bezugnahme auf das Grundsatzurteil des BGH im Fall "Klöckner/Becorit" 45 als echte Beweislastnormen anerkannt.46 Oben47 wurde nachgewiesen, daß die Einordnung der Vermutungen als "Aufgreiftatbestände" dem Verständnis der Vermutungen als Beweislastnormen nicht entgegenstehtJa sogar ohne eigenständige Bedeutung ist. Ferner wurde oben48 dargelegt, daß es keine spezifisch "verwaltungsrechtlichen" oder "zivilrechtlichen" Vermutungen mit unterschiedlicher rechtlicher Wirkung gibt. Es existiert nur ein einheitliches Rechtsinstitut der gesetzlichen widerlegbaren Vermutung, das in allen Verfahrensordnungen (lediglich) das Feststellungsrisiko zuweist.49 Auch aus den weiteren Ausführungen des BGH im Fall "Sonderungsverfahren" läßt sich nichts gegen eine Geltung des § 22 III GWB als Beweislastnorm im Zivilprozeß herleiten. Der BGH hat die Frage, ob die Vermutungen hier gelten, ausdrücklich offengelassen. Die Erwägung, § 22 III GWB habe "mittelbar jedenfalls" insoweit eine Auswirkung auf Zivilrechtsstreitigkeiten, als das beklagte Unternehmen sich nicht auf ein unsubstantiiertes Bestreiten zurückziehen könne, sondern substantiiert darlegen müsse, warum es trotz der Erfüllung der Voraussetzungen des

43 Bericht des Wirtschaftsausschusse zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/3690, S. 26; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16. 44 Begründung zum Regierungsentwurf der 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 24; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 38. Von Charakter als "Aufgreiftatbestände" sprechen auch der Bericht des Wirtschaftsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/ 3690, S. 26; Stellungnahme des Rechtsausschusses zur 2. Novelle, BT-Drs. 7/765, S. 6; Regierungsentwurf zur 4. Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 16; zur 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22. 45

WuW/E BGH 1749 (1754), wörtlich zitiert in § 4 Π.

46

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 22 (wörtlich zitiert in § 3 m.). 47 48 49

In § 5 VI. I n §51. 1.-3. Vgl. § 5 I. 3. und § 5 IX.

262

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

§ 22 III GWB nicht marktbeherrschend sei,50 beschreibt nur das, was sich nach Auffassung des BGH völlig unabhängig von der Beweislastfrage aus prozessualen Erwägungen ergibt, wenn der Kläger (nur) die Vermutungsvoraussetzungen dargelegt hat. Allerdings geben diese Erwägungen des BGH Rätsel auf. Die Aussage, das beklagte Unternehmen könne sich nicht auf ein unsubstantiiertes Bestreiten zurückziehen, sondern müsse substantiiert darlegen, warum es trotz Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen nicht marktbeherrschend sei, ähnelt zum einen der zivilprozessualen Figur des "qualifizierten Bestreitens" bzw. der "sekundären Behauptungslast". Qualifiziertes Bestreiten kann aus Treu und Glauben erforderlich sein, wenn dem Darlegungspflichtigen ein weiterer substantiierter Vortrag nicht möglich oder unzumutbar ist, der Gegner hingegen die erforderlichen Informationen hat oder in der Lage ist, sich diese leicht zu verschaffen. 51 Versteht man die Ausführungen des BGH in diesem Sinne, so würde dies bedeuten, daß der BGH davon ausgeht, der private Diskriminierungskläger habe mit dem Nachweis der Vermutungsvoraussetzungen das ihm Zumutbare geleistet, während ihm der darüber hinausgehende Vortrag, daß das beklagte Unternehmen keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist bzw. eine überragende Marktstellung besitzt (§ 22 I Nr. 1 bzw. Nr. 2 GWB), nicht zumutbar,52 eine diesbezügliche Aufklärung bzw. qualifizierte Gegendarstellung dem Beklagten dagegen leicht möglich sei. Eine derartige generelle Sichtweise von einer Unzumutbarkeit weiterer Darlegungen nach Vortrag der Vermutungsvoraussetzungen wäre jedoch inkonsequent, da die Rechtsprechung in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 26 II GWB ja dort, wo die Vermutungsvoraussetzungen nicht vorliegen, davon ausgeht, daß dem Kläger entsprechende Darlegungen grundsätzlich zumutbar sind. Zum anderen spricht der BGH im weiteren Verlauf der Entscheidung davon, das Vorliegen der Vermutungsvoraussetzung des § 22 III 1 Nr. 1 GWB (1/3 Marktanteil) sei ein "gewichtiges Indiz" für Marktmacht i.S.d. § 26 II 2 GWB. 53 Möglicherweise ging der BGH bei seiner Aussage, das beklagte Unternehmen müsse substan50

WuW/E BGH 2483 (2489).

51

Die abstrakte Darlegungslast wird hier nicht umgekehrt. Der Gegner muß nur eine qualifizierte Gegendarstellung geben, in deren Anschluß der Darlegungspflichtige seinen Vortrag zu substantiieren hat. Vgl. zur Figur des "qualifizierten Bestreitens" bzw. der "sekundären Behauptungslast" BGH NJW 1981, 577; NJW 1985, 264; NJW 1986, 3194; NJW 1990, 3151; DB 1987,1680; JZ 1987,684 m.w.N., Anders/Gehle, Assessorexamen, 4. Aufl. 1993, Rzn. 34,97,312; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 138 Rz. 10, Vor § 284 Rz. 34; femer bereits § 2 Π. (zu § 26 V GWB). 52

In diesem Sinne auch Kouker, GRUR 1986,31 (34).

53

WuW/E BGH 2483 (2489), zitiert in § 81. 1.

Π. Stellungnahme

263

tiiert darlegen, warum es "trotz" der Erfüllung der Vermutungstatbestände nicht marktbeherrschend sei, daher auch davon aus, er könne auf das "gewichtige Indiz" von 1/3 Marktanteil eine "vorläufige Überzeugung" vom Vorliegen von Marktmacht i.S.v. § 26 Π 2 GWB stützen, mit der Folge eines Wechsels der konkreten Substantiierungs- und Beweisführungslast 54.55 Eine derartige Sichtweise wäre indessen bedenklich, da oben gezeigt werden konnte, daß nicht eine der Vermutungen des GWB auch nur annähernd der Lebenswahrscheinlichkeit entspricht, 56 so daß der Richter auf das Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen auch keine (vorläufige) Überzeugung gründen kann. Eine abschließende Stellungnahme zu den vorstehenden Erwägungen des BGH zur "jedenfalls mittelbaren Auswirkung" des § 22 III GWB im Zivilprozeß kann hier dahinstehen. Diese Erwägungen sind völlig unabhängig von der Beweislastfrage angestellte prozessuale Ausweichüberlegungen. Hier ist nur die eigentliche (vom BGH offengelassene) Frage zu beantworten, ob die Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB im Zivilprozeß die materielle Beweislast regeln, was nach den vorstehenden Überlegungen auch für § 22 III GWB zu bejahen ist.

2. Aufklärungsverantwortung (Verhandlungsmaxime)

Wie bei § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB, wo für die Aufklärung der Widerlegungstatsachen ebenfalls die Verhandlungsmaxime57 gilt, liegt die Problematik der Geltung der §§ 22 ΙΠ und 26 II 3 GWB im Zivilprozeß nicht in einer möglicherweise unzu-

54 Vgl. zum Wechsel der konkreten Substantiierungs- und Beweisführungslast in Fällen, in denen das Gericht fehlende konkrete Anhaltspunkte durch Erfahrungswerte ersetzen und hierauf seine volle Überzeugung stützen kann, Prütting in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286 Rzn. 98, 130; ders. in Gegenwartsprobleme, 1981, S. 7 ff., 44. Die abstrakte Darlegungs- und Beweislast sowie das Beweismaß bleiben auch hier unverändert. 55

In diesem Sinne auch Immenga in seiner Anmerkung zur Entscheidung in GRUR 1989, 146 (147): Die Vermutungen knüpften an die hohe Wahrscheinlichkeit an, daß schon bei den genannten Marktanteilen eine marktbeherrschende Stellung bestehe. Dieser Zusammenhang könne bei der Beweisführung des Klägers nicht unberücksichtigt bleiben, wobei es jedoch nur um eine "Erleichterung" der Beweisführung gehen könne. Allerdings will Immenga den Vermutungen auch eine Wertung beimessen, die über dieses "faktische Element innerhalb der Beweiswürdigung" hinausgeht. Dies ist jedoch abzulehnen (vgl. insoweit § 5 IV.). 56 57

§ 5 ΠΙ. vor 1.

Richtiger: der "Nachweisgrundsatz". In Verwaltungsverfahren, in denen der Behörde nur eine Seite gegenübersteht, läßt sich wegen der fehlenden Kontradiktion statt vom "Verhandlungsgrundsatz" genauer vom "Nachweisgrundsatz" sprechen, vgl. Schromek, Mitwirkungspflichten, 1989, S. 99 f.

264

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

lässigen Regelung der Beweislast, sondern in einer möglicherweise unzulässigen Gestaltung der Aufklärungsverantwortung. Diese ist keine Beweislastfolge, sondern eine Wirkung speziell der Verhandlungsmaxime.58 In dieser Untersuchung wurde durchgängig der Ansatz vertreten, daß verfahrensspezifische Schwierigkeiten (z.B. Beweisnot) ausschließlich durch verfahrensbezogene Korrekturen durch den Gesetzgeber (normativ) oder den Richter (im Einzelfall) zu berücksichtigen sind.59 Die Untersuchung zur Verfassungsmäßigkeit der durch § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB bestimmten Aufklärungsverantwortung hat gezeigt, daß eine verfassungskonforme (grundrechtseffektuierende) Verfahrensgestaltung und -fuhrung nur gegeben ist, wenn die Unternehmen nicht die Darlegungs- und Beweisführungslast für solche zur Vermutungswiderlegung geeigneten Tatsachen tragen, deren Erlangung ihnen typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. 60 Im folgenden ist daher zu untersuchen, ob die Verhandlungsmaxime (anstelle der Amtsermittlungspflicht der Kartellbehörde) eine verfassungskonforme Gestaltung der Aufklärungsverantwortung für die vermuteten Merkmale bzw. deren Gegenteile darstellt. Auszugehen ist hierzu von der im Schrifttum zu § 22 III GWB vertretenen Meinung, der Vermutungsgegner verfüge häufig nicht über alle zur Vermutungswiderlegung erforderlichen Informationen. 61 Grundsätzliche Zweifel daran, ob Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten der Parteien im Zivilprozeß nach § 35 GWB überhaupt auftreten können, könnten aus der Vorschrift des § 90 II GWB resultieren. Nach § 90 II GWB kann der Präsident des BKartA, wenn er dies zur Wahrung des öffentlichen Interesses als angemessen erachtet, für Rechtsstreitigkeiten aus dem GWB einen Vertreter bestellen, der unter anderem befügt ist, dem Gericht schriftliche Erklärungen abzugeben, auf Tatsachen und Beweismittel hinzuweisen und in den Terminen Ausführungen zu machen. Die Kartellbehörde ist zwar nicht Prozeßpartei und ihre Ausführungen sind für das Gericht nur unverbindliche Anregungen, jedoch können sich die Parteien den Behördenvortrag durch Bezugnahme zueigen machen und entsprechende Beweise antreten. 62 Daran anknüpfend ließe sich die Meinung vertreten, in einzelnen Verfahren, in denen den Parteien bestimmte zur Darlegung und Beweisführung erforderliche Daten typischerweise unzugänglich sind, sei das Ermessen der Kartellbehörde zur Beteiligung aus rechtsstaatlichen Gründen auf Null reduziert; die Behörde müsse auf Tatsachen und Beweismittel, die den Parteien nicht zugänglich sind, hinwei58

Vgl. hierzu eingehend § 5 I. 1.-3.

59

Vgl. insoweit nur § 61. 1., § 6 ΠΙ. 1. b), § 7 Π. 2. und passim.

60

Vgl. §7 Π. 2.-ΠΙ.

61

Vgl. die in § 8 I. skizzierte Gegenansicht.

62

Statt vieler K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker,

GWB, 2. Aufl. 1992, § 90 Rz. 8.

Π. Stellungnahme

265

sen und hierzu auch ihr Aufklärungsinstrumentarium einsetzen. Ein derartiger Ansatz wäre jedoch de lege lata verfehlt. Normzweck des § 90 II GWB ist die Publizität von Wettbewerbsbeschränkungen und damit die Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht. Die Kartellbehörde hat im einzelnen Rechtsstreit die Funktion, das öffentliche Interesse wahrzunehmen.63 Die Norm bezweckt danach nicht den Schutz einzelner Parteiinteressen an einer umfassenden und wahrheitsgemäßen Sachverhaltsaufklärung (kein "drittschützender" Charakter). § 90 II GWB soll für den Zivilprozeß kein vom Beibringungsgrundsatz abweichendes Aufklärungsmodell anordnen.64 Sind danach mangels Amtsaufklärungspflicht der Kartellbehörde Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten der Parteien im Zivilprozeß nach § 35 GWB theoretisch nicht ausgeschlossen, so bedarf es zunächst der Vergegenwärtigung, daß sich die Frage, ob die Verhandlungsmaxime eine rechtmäßige Gestaltung der Aufklärungsverantwortung für die Merkmale der Marktbeherrschung bzw. der Abhängigkeit darstellt, nicht erst dadurch stellt, daß eine kartellrechtliche Vermutung im Zivilprozeß gilt. Die Merkmale der Marktbeherrschung bzw. der Abhängigkeit existierten schon vor der Geltung der Vermutungen im Zivilprozeß und waren zuvor durch den Kläger darzulegen und zu beweisen, ohne daß diese Aufklärungslast für unzulässig gehalten wurde. Sie sind auch weiterhin vom Kläger darzulegen und zu beweisen, wenn die Vermutungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Die Geltung der Vermutungen im Zivilprozeß führt wegen der "faktischen Vorwirkung" der Beweislast nur zu einem Wechsel der Aufklärungsverantwortung vom Kläger auf den Beklagten (für das Gegenteil), ohne daß damit aber erstmals eine Aufklärungsverantwortung für die Merkmale geschaffen würde. Damit geht es im folgenden nicht um die Frage, ob die Verhandlungsmaxime ein zulässiges Aufklärungsmodell für die Merkmale der Marktbeherrschung bzw. der Abhängigkeit ist, sondern nur um die Frage, ob der Wechsel der Darlegungs- und Beweisführungslast vom Kläger auf den Beklagten (für das Gegenteil) zulässig ist. Im folgenden soll der Frage, ob dem Vermutungsgegner die Darlegung und Beweisführung für das Vermutungsgegenteil typischerweise nicht möglich bzw. unzumutbar ist, für die §§ 22 III 1 Nr. 1, 22 III 1 Nr. 2 und 26 II 3 GWB getrennt nachgegangen werden.

63

K. Schmidt in Immenga/Mestmäcker,

64

Im Ergebnis ebenso Winkler BB 1983,271 (272 f.).

GWB, 2. Aufl. 1992, § 90 Rz. 1.

266

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

a) § 22 III 1 Nr. 1 GWB Das nach § 22 III 1 Nr. 1 GWB beweisbelastete Unternehmen trägt die Darlegungs» und Beweisführungslast dafür, daß es nicht marktbeherrschend ist. Dieser Gegenteilsbeweis verlangt die Darlegung und Beweisführung, daß das Unternehmen wesentlichem Wettbewerb ausgesetzt ist (§ 22 I Nr. 1 GWB) und im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern keine überragende Marktstellung hat (§ 22 I Nr. 2 GWB). 65 Sowohl die für das Bestehen wesentlichen Wettbewerbs maßgeblichen Daten (Nr. 1 ) als auch die für das Fehlen einer überragenden Marktstellung relevanten Kriterien wie der Marktanteil des Unternehmens, seine Finanzkraft, sein Zugang zu den Märkten, seine Verflechtungen mit anderen Unternehmen etc. (Nr. 2) entstammen typischerweise der Sphäre des beweisbelasteten Unternehmens und sind diesem zugänglich. Die Erfüllung der Darlegungs- und Beweisführungslast für seine NichtMarktbeherrschung ist dem Vermutungsgegner daher typischerweise möglich und zumutbar. Typische Aufklärungsnot ist hier nicht strukturell für jeden Normanwendungsfall vorprogrammiert. Natürlich ist es denkbar, daß dem Vermutungsgegner im Einzelfall die Darlegung bestimmter Daten typischerweise nicht möglich ist. Da derartige Aufklärungsschwierigkeiten jedoch nicht schon für jeden Normanwendungsfall vorprogrammiert sind, machen sie die Anordnung der Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell nicht unzulässig. Hinsichtlich denkbarer Aufklärungsschwierigkeiten des Beklagten kann - um mit den Worten des Gesetzgebers aus der Begründung zum Regierungsentwurf der 5. GWB-Novelle (zu § 26 V GWB) zu sprechen "darauf vertraut werden, daß die Rechtsprechung wie schon bisher im Wettbewerbsrecht und auf anderen Rechtsgebieten den Klägern [hier: dem Beklagten, Anm. d. Verf.] aus für sie unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten durch Gewährung von Beweiserleichterungen heraushelfen wird, soweit dies nach Treu und Glauben geboten ist" 66 .

Typische Formen solcher "Beweiserleichterungen" sind etwa gesetzlich vorgesehene Beweiserleichterungen, 67 zulässige Beweismaßreduzierungen, 68 der An65

K G WuW/E OLG 1745 (1751) "Sachs", BGH WuW/E 1501 (1504) "Kfz-Kupplungen" = "GKN/Sachs"; Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 22 Rz. 90; Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 50. 66

Begründung zum Regierungsentwurf der 5. GWB-Novelle, BT-Drs. 11/4610, S. 11.

67

Hierzu näher Prütting, Beweiserleichterungen, Karlsruher Forum 1989, S. 11 ff.; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286, Rz. 124; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, Vor § 284 Rz. 26. 68

Insbesondere Beweismaßsenkungen praeter und extra legem, vgl. Prütting, Beweiser-

Π. Stellungnahme

267

scheinsbeweis,69 die Figur des "qualifizierten Bestreitens" bzw. der "sekundären Behauptungslast"70 oder der Wechsel der konkreten Beweisfuhrungslast im Sinne der dissentierenden Richtelmeinung im "Arzthaftungsbeschluß". 71 Dieses Ergebnis, daß die Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell im Rahmen des § 22 III 1 Nr. 1 GWB und als ihre Folge die Darlegungs- und Beweisführungslast des Vermutungsgegners für seine Nicht-Marktbeherrschung zulässig ist, wird durch folgende Überlegungen gestützt: Zum einen hat der BGH in seiner Entscheidung "Sonderungsverfahren" zum Ausdruck gebracht, daß dem Vermutungsgegener eine substantiierte Darlegung seiner Nicht-Marktbeherrschung möglich und zumutbar ist. 72 Auch wenn es hierbei nicht um eine Gegenteilsbeweisführung handelt, geht der BGH doch davon aus, daß der Vermutungsgegner des § 22 III GWB diejenigen Informationen hat oder sich leicht beschaffen kann, die auch für eine Gegenteilsbeweisführung relevant sind. Zum anderen trägt der Diskriminierungskläger nach wie vor die Darlegungs- und Beweisführungslast für die Marktbeherrschung seines Gegeners, wenn die Vermutungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Wenn dem Kläger aber die Darlegung und Beweisführung für solche Daten, die typischerweie der Sphäre des Beklagten entstammen, möglich und zumutbar ist, muß es erst recht unbedenklich sein, denjenigen mit der Gegenteilsaufklärung zu belasten, dem die relevanten Daten leichter zugänglich sind.

leichterungen, Karlsruher Forum 1989, S. 15; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286, Rz. 124; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, Vor § 284 Rz. 28. ω Prütting, Beweiserleichterungen, Karlsruher Forum 1989, S. 12 f.; ders. in MünchKomm zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 286, Rz. 124; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, Vor § 284 Rzn. 29 ff. 70 So entschieden vom BGH im Fall "Sonderungsverfahren" (WuW/E BGH 2483,2489), siehe oben § 8 Π. 1. Qualifiziertes Bestreiten kann aus Treu und Glauben erforderlich sein, wenn dem Darlegungspflichtigen ein weiterer substantiierter Vortrag nicht möglich oder unzumutbar ist, der Gegner hingegen die erforderlichen Informationen hat oder in der Lage ist, sich diese leicht zu verschaffen, vgl. BGH NJW 1981, 577; NJW 1985,264; NJW 1986, 3194; NJW 1990, 3151; DB 1987, 1680; JZ 1987, 684 m.w.N., Anders/Gehle, Assessorexamen,4. Aufl. 1993, Rzn. 34,97,312; Zöller, ZPO, 19. Aufl. 1995, § 138 Rz. 10, Vor § 284 Rz. 34. 71

BVerfGE 52,131, 143 ff., 148), besprochen in § 6 Π. 1. a).

72

WuW/E BGH 2483 (2489), wörtlich zitiert in § 81. 1.

268

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

b) § 22 III 1 Nr. 2 GWB Das nach § 22 III 1 Nr. 2 GWB beweisbelastete Unternehmen trägt die Darlegungs· und Beweisführungslast dafür, daß das Oligopol nicht marktbeherrschend ist. Widerlegt werden die auf § 22 II GWB bezogenen Vermutungen des § 22 III 1 Nr. 2 GWB durch die Darlegung und Beweisführung, daß das Gegenteil einer der Voraussetzungen des § 22 II GWB vorliegt, daß also entweder ein wesentlicher Binnenwettbewerb im Oligopol herrscht (§ 22 II Halbs. 1 GWB) oder daß im Aussenverhältnis wesentlicher Wettbewerb und keine überragende Marktstellung besteht (§ 22 II Halbs. 2 i.V.m. § 22 I Nr. 1 und Nr. 2 GWB). 73 Die Informationen über wesentlichen Binnenwettbewerb im Oligopol und über den wesentlichen Außenwettbewerb für das Oligopol entstammen typischerweise der Sphäre des Vermutungsgegners bzw. sind diesem regelmäßig zumindest zugänglich. Hinsichtlich des Fehlens einer überragenden Marktstellung des Oligopois im Außenverhältnis wird dagegen im Schrifttum zur vergleichbaren Konstellation bei § 23a II 1, Halbs. 2 GWB, wo das Unternehmen ebenfalls die Darlegungs- und Beweisführungslast für das Fehlen einer überragenden Marktstellung des Oligopois im Außenverhältnis trägt, angenommen, daß einzelne der insoweit maßgeblichen Informationen für das Unternehmen nicht zugänglich seien74 bzw. daß die insoweit relevanten Daten für das Unternehmen insgesamt nicht verfügbar seien.75 Im Rahmen der Erörterung dieser Parallelproblematik bei § 23a II 1, Halbs. 2 GWB konnte jedoch gezeigt werden, daß ein diesbezüglicher Informationsnotstand des Unternehmens jedenfalls nicht schon in der normativen Umschreibung des Gegenteilsbeweises strukturell für jeden denkbaren Widerlegungsfall vorprogrammiert ist. 76 Zahlreiche der für die Beurteilung einer überragenden Marktstellung des Oligopois relevanten Daten sind dem betroffenen marktstarken Unternehmen wegen seiner guten Marktkenntnisse typischerweise zugänglich. Nicht für jeden Gegenteilsbeweis werden Informationen benötigt, die dem Unternehmen typischerweise unzugänglich sind. Aktualisiert und konkretisiert wird ein Informationsnotstand des Unternehmens erst im konkreten Einzelfall. Da derartige Aufkläningsschwierigkeiten nicht abstrakt für jeden Widerlegungsfall vorprogrammiert sind, machen sie die Anord73 Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 22 Rz. 50; Kersten in Frankfurter Komm, zum GWB, 3. Aufl., Stand 36. Lfg. 1995, § 22 Rz. 387. 74

In diesem Sinne: Burrichter, WuW 1982, 661 (671); Mestmäcker in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 23a Rzn. 54 f.; Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, Rz. 867; Fischer, Qualifizierte Oligopolvermutung, 1988, S. 79; Bechtold, GWB, Kommentar, 1993, § 23a Rz. 18; Gäbelein, ZHR 147 (1983), 574 (575). 75

Harms in Gemeinschaftskomm. zum GWB, 4. Aufl., 3. Lfg. 1981, § 23a Rz. 88.

76

Vgl. § 7 Π. 2. a).

Π. Stellungnahme

269

nung der Verhandlungsmaxime als Modell zur Aufklärung der Nicht-Marktbeherrschung eines Oligopois nicht unzulässig. Bei im Einzelfall auftretenden Beweisschwierigkeiten kann auch hier darauf vertraut werden, daß die Rechtsprechung dem Beklagten aus unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten durch Gewährung von "Beweiserleichterungen" heraushelfen wird, soweit dies nach Treu und Glauben geboten ist. 77 Gestützt wird dieses Ergebnis, daß die Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell im Rahmen des § 22 III 1 Nr. 2 GWB zulässig ist, durch die Überlegung, daß der BGH seine Ausführungen im Fall "Sonderungsverfahren auf die Vermutungen des § 22 ΠΙ GWB insgesamt (also auch auf Satz 1 Nr. 2) bezogen hat. Demnach gilt der oben78 hieraus Schluß, daß der BGH davon ausgeht, daß der Vermutungsgegner diejenigen Informationen hat oder sich leicht beschaffen kann, welche für eine Gegenteilsbeweisführung relevant sind, auch für die Oligopolvermutungen. Zudem bleibt es bei der Darlegungs- und Beweisführungslast des Diskriminierungsklägers für die Marktbeherrschung des Oligopois, wenn die Vermutungsvoraussetzungen des § 22 ΙΠ 1 Nr. 2 GWB nicht vorliegen. Wenn sogar dem Kläger die entsprechende Darlegung und Beweisführung, die dem zum Oligopol gehörenden Beklagten wesentlich leichter fällt, zumutbar ist, muß es erst recht zulässig sein, den Beklagten mit der Gegenteilsaufklärung zu belasten.

c) §26 II 3 GWB Die Vermutung des § 26 II 3 GWB, daß ein kleines oder mittleres Unternehmen als Anbieter einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen von einem Nachfrager abhängig i.S.d. § 26 II 2 GWB ist, wird durch den (Gegenteils) Beweis des Nachfragers widerlegt, daß für den Anbieter ausreichende und zumutbare Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen (§ 26 II 2 GWB).

77 Vgl. insoweit schon § 8 Π. 2. a) a.E. Im Rahmen des § 23a Π 1, Halbs. 2 GWB war unter dem Gesichtspunkt einer grundrechtseffektuierenden Verfahrensgestaltung eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung der Norm mit der Folge des Wiederauflebens des Untersuchungsgrundsatzes geboten (vgl. insoweit § 7 Π.). Dagegen sind für den Zivilprozeß in Rechtsprechung und Schrifttum zahlreiche "Erleichterungen" anerkannt, die einer Partei aus unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten "heraushelfen", soweit dies aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten oder nach Treu und Glauben geboten ist, ohne daß hier gleich die Einführung des Untersuchungsgrundsatzes geboten wäre. 78

Vorstehend a) am Ende.

270

§ 8 Die Vermutungen des GWB unter der Verhandlungsmaxime

Das Tatbestandsmerkmal der "Abhängigkeit" wurde durch die zweite GWBNovelle 1973 in das Gesetz eingefügt und war seitdem in Zivilprozessen nach §§35 I 1, 26 II GWB vom Kläger darzulegen und zu beweisen. Erst die fünfte GWBNovelle 1989 änderte dies79 durch die Ausweitung der Vermutung des § 26 II 3 GWB auf den Zivilprozeß. 80 Für die durch die Gesetzesänderung entstehende Aufklärungslast des Beklagten war der Gesetzgeber besonders sensibilisiert, da die Beweissituation im Zivilprozeß gerade der Grund der Gesetzesänderung war. Die Frage, ob dem Beklagten die Erfüllung der Darlegungs- und Beweisführungslast für das Vermutungsgegenteil möglich und zumutbar ist, hat der Gesetzgeber also sehenden Auges entschieden. Als Ursache dafür, daß der konkrete Absatzkanal für den Anbieter unverzichtbar ist, kommt in erster Linie der Anteil des Nachfragers am Absatz des Anbieters in Betracht.81 Weitere Gründe können eine Spezialisierung des Anbieters auf nicht allgemein nachgefragte Produkte, die besondere Bedeutung des Nachfragers oder die Angewiesenheit des Anbieters darauf sein, mit seinen Markenartikeln in dem als repräsentativ bekannten Sortiment eines bedeutenden Nachfragers vertreten zu sein.82 Die Darlegung und Beweisführung dieser zur Vermutungswiderlegung benötigten Daten ist dem Nachfrager typischerweise möglich und zumutbar, zumal das nach §§ 35 1 1, 26 II GWB verklagte Unternehmen marktstark ist und regelmäßig gut über die Marktverhältnisse informiert ist. Typische Aufklärungsnot des Vermutungsgegners ist auch hier nicht generell-abstrakt für jeden Widerlegungsfall vorprogrammiert. Denkbare Beweisnöte im Einzelfall machen die grundsätzliche Verteilung der Aufklärungsverantwortung nicht unzulässig. Vielmehr ist der Richter verpflichtet, dem Beklagten im aus unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten durch die Anwendung anerkannter "Beweiserleichterungen" herauszuhelfen. 83

79

Nach herrschender Auffassung trifft die durch die Vermutung begünstigte Partei auch keine Behauptungslast für das vermutete Merkmal, vgl. nur Prütting, Gegenwartsprobleme, 1981, S. 47; ders. in MünchKomm. zur ZPO, 1. Aufl. 1992, § 292 Rz. 16 m.w.N 80

Einzelheiten zur Gesetzgebungsgeschichte des § 26 Π GWB in § 3 Π. 3. mit zahlreichen Nachweisen. 81

KG WuW/E OLG 3917 "Coop/Wandmaker"; Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 300; Markert in Immenga/Mestmäcker, GWB, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 134. 82 Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl. 1994, S. 301 ; Markert in Immenga/Mestmäcker, 2. Aufl. 1992, § 26 Rz. 135 ("goodwill-bedingte" Abhängigkeit). 83

Vgl. insoweit schon § 8 Π. a) a.E. und b).

GWB.

ΠΙ. Ergebnis zu §

271

ΠΙ. Ergebnis zu § 8 Die Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB sind als Beweislastnormen in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 35 GWB anwendbar. Von der Beweislastfrage zu unterscheiden ist die Frage, ob die Geltung der Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell für die Tatbestandsmerkmale "Marktbeherrschung" und "Abhängigkeit" dort rechtlich zulässig ist, wo die §§22 III und 26 II 3 GWB die grundsätzlich vom Kläger zu tragende Beweislast auf das beklagte Unternehmen "umkehren". Dies ist zu bejahen, weil Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten des Vermutungsgegners bei der Gegenteilsbeweisführung nicht schon generell-abstrakt für jeden denkbaren Widerlegungsfall vorprogrammiert sind. Soweit sich im Einzelfall unzumutbare Aufklärungsschwierigkeiten ergeben, ist Raum für die Anwendung gesetzlich angeordneter oder in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannter prozessualer "Beweiserleichterungen".

§ 9 Gesamtergebnis der Untersuchung I. Die Vermutungen des GWB (§§ 22 III, 23a I, 23a II und 26 II 3 GWB) stellen gesetzliche widerlegbare Vermutungen und als solche ausschließlich Regelungen der materiellen Beweislast dar. Sie nehmen keine Sonderstellung im allgemeinen System der materiellen Beweislast ein. Bis auf § 23 a II 1, Halbs. 2 GWB greifen sie nicht in die durch die Verfahrensmaximen bestimmten Verantwortlichkeiten für die Sachverhaltsaufklärung ein. Alle Normen sind verfassungsgemäß, wobei allerdings die Verfahrensvorschrift des § 23a II, Halbs. 2 GWB verfassungskonform einschränkend auszulegen ist. Die §§22 III und 26 II 3 GWB haben auch in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 35 GWB die Wirkung echter Beweislastnormen. Die dortige Geltung der Verhandlungsmaxime im Rahmen der §§22 III und 26 II 3 GWB ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Π. Für das allgemeine Verständnis gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen wurde gezeigt, daß es keinen Unterschied zwischen "zivilrechtlichen" und "verwaltungsrechtlichen" Vermutungen gibt, sondern daß nur eine einheitliche Figur der gesetzlichen Vermutung existiert, welche ihre spezifische Wirkung in allen Verfahrensordnungen erst im non liquet-Fall entfaltet. Gesetzliche Vermutungen sind ausschließlich voraussetzungsgebundene Risikozuweisungsnormen auf der Ebene der Rechtsanwendung. Unterschiedliche "Vorwirkungen" der objektiven Beweislast unter den verschiedenen Verfahrensmaximen sind nicht Ausdruck unterschiedlicher Rechtswirkungen der Vermutungen, sondern die Folge unterschiedlicher Sachverhaltsaufklärungsmodelle. Die kartellrechtlichen Vermutungen weisen keinerlei Besonderheiten gegenüber der Wirkung gesetzlicher Vermutungen im allgemeinen auf. So kann die nach § 24 I GWB anzustellende Prognose selbst Gegenstand der Vermutungen des § 23 a GWB sein, da auch bei Prognosen ein non liquet und damit eine objektive Beweislast möglich ist. Ferner müssen die Vermutungen des GWB ebensowenig wie andere Vermutungen aus funktionellen Gründen der regelmäßigen Lebenserfahrung entsprechen; sie tun dies auch nicht. Mit den Wahrscheinlichkeitsaussagen in den Motiven wollte der Gesetzgeber nur begründen, welche Sachverhaltskonstellationen zum vermuteten Merkmal tendieren ("kritischer Bereich"). Zweck der Vermutungen ist es, die Unternehmen im "kritischen Bereich" durch die nachteilige Beweislast "aus der Reserve zu locken" und unter Druck zu setzen, aktiv an der Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken, um so die kartellbehördliche Aufsichtstätigkeit, welche ihrerseits dem Schutz der Wettbewerbsfreiheit konkurrierender Wettbewerber dient,

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deutlich zu effektivieren ("Grundrechtsoptimierung durch faktischen Aufklärungsdruck"). Die Vermutungen des GWB haben keine über die materielle Beweislast hinausgehende Wirkung. Sie sind weder Beweis(würdigungs)regeln, konkrete Auslegungshinweise, verbindliche Interpretationshilfen, Typisierungen rechtlich relevanter Kausalzusammenhänge, Gefährdungstatbestände oder materielle Neuformulierungen der vermuteten Merkmale, noch stellen sie "prima-facie-Regeln" dar. Sie begründen keine konstitutive Pflicht der Kartellbehörde, beim Vorliegen der Vermutungsvoraussetzungen ein Verfahren einzuleiten. Ihre Bezeichnung als "Aufgreiftatbestände" ist ohne eigenständige Bedeutung. Die kartellrechtlichen Vermutungen schränken weder die volle Amtsermittlungspflicht von Behörde und Gericht hinsichtlich des vermuteten Merkmals ein noch begründen sie eine besondere Mitwirkungspflicht der Unternehmen bei der Widerlegung der Vermutung. Eine Ausnahme gilt nur für § 23a II 1 GWB, der hinsichtlich der in Halbs. 2 vorgeschriebenen Widerlegungstatsachen durch die Nachweispflicht einen partiellen Wechsel von der Untersuchungs- zur Verhandlungsmaxime anordnen soll (punktuelle Behauptungs- und Beweisführungslast der Unternehmen). III. Die Vermutungen des GWB regeln die Beweislast für die Voraussetzungen hoheitlicher Gefahrenabwehreingriffe zum Nachteil der betroffenen Unternehmen in Fällen, die mehr oder weniger deutlich zum vermuteten Merkmal tendieren (keine Erfahrungssätze), wobei zahlreiche Fakten zur Beurteilung des vermuteten Merkmals nicht zur Sphäre der Unternehmen gehören. Dennoch gelangt die Untersuchung aufgrund der Erkenntnis, daß die Vermutungen des GWB allein die materielle Beweislast regeln, zu dem Ergebnis, daß die konkrete (durch die Vermutungsvoraussetzungen abgegrenzte) Risikozuweisung durch die §§ 22 III, 23a und 26 II 3 GWB verfassungsgemäß ist. Beweislastnormen des materiellen Rechts gehören selbst zum materiellen Recht. Sie bilden materielles Recht speziell für den non liquet-Fall. Sie unterliegen denselben inhaltlichen Determinierungen durch die Verfassung wie sonstige materielle Rechtssätze. Als normaler Akt materieller Normsetzung unterfällt der Erlaß einer Beweislastnorm der Gesetzgebungsfreiheit. Nach Art. 20 III GG muß der Gesetzgeber (nur) die Grenzen der verfassungsmäßigen Ordnung beachten. Die Verfassung kann für bestimmte non liquet-Konstellationen eine eindeutige materielle Rechtsgüter- und Interessenbewertung vorgeben. Diese ergibt sich durch Auslegung und Kollisionslösung einzelner Verfassungsinhalte. Tangiert die Beweislastnorm Grundrechte, so erfüllt deren Systematik von Schranken und Schranken-Schranken die Funktion, materielle Verfassungswertungen im Hinblick auf die non liquet-Konstellation freizulegen und miteinander zu harmonisieren. Demgegenüber betreffen die verfahrensbezogenen Ausprägungen des materiellen Verfassungsrechts und die ver-

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fassungsrechtlichen Verfahrensgarantien ausschließlich die Verfahrensgestaltung. Diese enthalten zwar die verfahrensbezogenen Wertungen des materiellen Rechts, dessen Ausprägung sie sind, sie enthalten jedoch keine eigenständigen sachlich-inhaltlichen Aussagen als mögliche Erkenntnisquellen und Determinanten des materiellen Rechts. Sie können nur die Gestaltung der prozessualen Sachverhaltsaufklärung determinieren. Ein Vergleich der Situation des Gesetzgebers, der sich beim Erlaß einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, welche inhaltlichen Vorgaben er hierbei zu beachten hat, mit der Situation des Richters, der sich beim Fehlen einer ausdrücklichen Beweislastnorm fragt, nach welchen Vorgaben er seine Entscheidung zu treffen hat, zeigt, daß sowohl der Gesetzgeber als auch der Richter bei ihrer Beweislastentscheidung die inhaltlichen Wertungen des sie jeweils bindenden materiellen Rechts zu beachten haben, welche durch schlichte Gesetzesauslegung freizulegen sind. Während der Gesetzgeber nur an die materiellen Güter- und Interessenwertungen der Verfassung gebunden und im übrigen frei ist, hat der Richter zusätzlich auch die Vorgaben des subkonstitutionellen materiellen Rechts zu beachten. Die Beweislastnorm ist als (Wertungs-) Bestandteil des materiellen Rechts in die Noimenpyramide des Rechts eingebunden. Sie unterliegt dem Vorrang des Gesetzes ebenso wie das sonstige materielle Recht, so daß sie in allen Gebieten des Rechts durch materielle Verfassungswertungen determiniert ist. Unterschiede beim Inhalt der Beweislast in den verschiedenen Gebieten des Rechts resultieren allein aus den Unterschieden der jeweils normativ verarbeiteten Güter und Interessen. Beweislasttheorien oder Beweislastprinzipien binden den Gesetzgeber oder den Richter nicht, sofern sie nicht ausnahmsweise durch das materielle Recht selbst aufgestellt werden. Ihre Funktion hegt ansonsten in der sekundären, formelhaften Wiedergabe normativ bereits getroffener, für eine Vielzahl von Fällen typischer Interessenwertungen. Die Prüfung der Frage, welche materiell-inhaltlichen Aussagen der Verfassung als Determinanten der Vermutungen des GWB entnommen werden können, führt zunächst zu einem prinzipiellen Ausscheiden der Gebote der Waflfengleichheit, des fairen Verfahrens und eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG). Es existiert weder eine allgemeine verfassungsrechtliche Beweislastverteilungs-Grundregel, an der sich der kartellrechtliche Gesetzgeber zu orientieren hätte, noch existiert ein ergänzender Beweislastverteilungsgrundsatz des Fairneß- und Wafifengleichheitsgebots im Gewände des Sphärengedankens. Ferner läßt sich den materiell-inhaltlichen Entscheidungen der Verfassung keine generelle Güter- oder Interessenbewertung dahingehend entnehmen, daß die Voraussetzungen freiheitsbelastender Verwaltungsakte in der Eingriffsverwaltung vom Staat vollständig nachgewiesen werden müßten oder daß sich belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung stets

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innerhalb der Grundsätze des Anscheinsbeweises halten oder durch Wahrscheinlichkeitssätze fundiert sein müßten. Bei der Untersuchung der kartellrechtlichen Vermutungen auf ihre Vereinbarkeit mit den materiellen Grundrechten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine gegen Art. 3 I GG verstoßende, willkürliche Ungleichbehandlung der Unternehmen durch die §§ 22 III, 23a und 26 II 3 GWB nicht festzustellen. Insbesondere existiert kein vom Gesetzgber selbst geschaffenes "Systen", wonach belastende Vermutungen in der Eingriffsverwaltung durch Wahrscheinlichkeitsaussagen fundiert wären. Freiheitsgrundrechte der betroffenen Unternehmen in Form der unternehmerischen Betätigungs-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit (Art. 12 I GG) sowie der gesellschaftsrechtlichen Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I und 12 I GG) werden dadurch tangiert, daß die Vermutungen des GWB Eingriffe durch bzw. aufgrund der §§22 V, IV, 24 II, I, 26 II und 37a II GWB zusätzlich im non liquet-Fall rechtfertigen. Diese tangierten Grundrechte tragen nicht den Charakter "materieller Vermutungsregeln" mit der Folge, daß sie eine Beweislast der Unternehmen grundsätzlich ausschließen würden. Die Vermutungen des GWB sind durch die Schranken und Schranken-Schranken der Art. 12 I und 9 I GG gedeckt. Unter Beachtung des weiten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in der "offenen Wirtschaftsverfassung" des GG ist der Kreis eingriffslegitimierender Gemeinwohlbelange weit zu ziehen; der durch die Vermutungen verfolgte Zweck der Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht ist hiernach legitim. Da der Gesetzgeber nicht den Zweck verfolgt, die kartellbehördliche Aufsicht nur in durch Wahrscheinlichkeitsaussagen fundierten Risikolagen zu effektivieren, sondern vielmehr in den konkret normierten Risikolagen, sind die Vermutungen trotz des gesetzgeberischen Irrtums über ihre "statistische Trefferquote" zur Zweckerreichung erforderlich. Sie sind schließlich zur Erreichung des verfolgten Zwecks angemessen. Wegen der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes wird der betroffene Güter- und Interessenbereich konstitutionell nicht bewertet oder abgeschichtet. Vergegenwärtigt man sich, daß hinter dem verfolgten Zweck der Effektivierung der kartellbehördlichen Aufsicht insbesondere die Effektivierung der behördlichen Aufgabe einer optimalen Konfliktlösung zwischen den kollidierenden Wettbewerbsfreiheiten der betroffenen Unternehmen und ihrer Wettbewerber steht, so ist es insbesondere Aufgabe der Vermutungen, die Herstellung der Gleichrangigkeit der kollidierenden Grundrechte zu ermöglichen. Hier kann solange keine Unangemessenheit des verfolgten Zwecks vorliegen, wie der Nachteil, den die Beweislastnorm vom geschützten Gemeinschaftsinteresse abwendet, größer ist als der Nachteil, den sie dem beeinträchtigten Individualinteresse zufügt. Während die Vermutungen auf der Seite des beeinträchtigten Interesses nur einen "marginalen Aspekt wirtschaftlicher Entfaltung" betref-

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fen, ließe sich auf der Seite des geschützten Interesses ohne die Vermutungen eine Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen und des Schutzes kollidierender Unternehmens-, Wettbewerbs- und Vertragsfreiheiten in der Praxis nur unzureichend umsetzen bzw. liefe sogar leer. IV. Im Kartellverwaltungs- und -beschwerdeverfahren organisiert das Gesetz die Aufklärung des Sachverhalts, der für die durch §§22 III, 23 a und 26 II 3 GWB vermuteten Merkmale und ihre Gegenteile relevant ist, in Form der Amtsermittlung (§§ 54 I, 69 GWB). Nur § 23a II 1, Halbs. 2 GWB ordnet für die dort normierten Widerlegungstatsachen eine echte Behauptungs- und Beweisführungslast der Unternehmen an (Wechsel des Aufklärungsmodells). Diese Gestaltung der Aufklärungsverantwortung ist verfassungsgemäß. Allerdings ist für die Verfahrensvorschrift des § 23a Π 1, Halbs. 2 GWB unter dem Gesichtspunkt einer den Grundrechtsschutz der Unternehmen effektuierenden Verfahrensgestaltung, insbesondere aufgrund der Gebote der Waffengleichheit, des fairen Verfahrens, des effektiven Rechtsschutzes und der Verhältnismäßigkeit, eine einschränkende Auslegung der Norm geboten. Diese geht dahin, daß die Unternehmen im konkreten Fall nicht die Darlegungs- und Beweisführungslast für solche zur Widerlegung geeigneten Tatsachen tragen, deren Erlangung ihnen typischerweise nicht möglich und daher unzumutbar ist. Insoweit lebt der durch § 23a II 1, Halbs. 2 GWB spezialgesetzlich verdrängte Untersuchungsgrundsatz wieder auf (§§ 54 I, 69 GWB). V. Die Vermutungen der §§22 III und 26 II 3 GWB sind als Beweislastnormen in Zivilrechtsstreitigkeiten nach § 35 GWB anwendbar. Entgegen vereinzelter Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum gilt dies auch für die Vermutungen des § 22 III GWB, da diese nicht auf eine bestimmte Verfahrensart beschränkt sind. Von der Beweislastfrage zu unterscheiden ist die Frage, ob die Geltung der Verhandlungsmaxime als Aufklärungsmodell für die Tatbestandsmerkmale "Marktbeherrschung" und "Abhängigkeit" dort rechtlich zulässig ist, wo die §§22 III und 26 II 3 GWB die grundsätzlich vom Kläger zu tragende Beweislast auf das beklagte Unternehmen "umkehren". Dies ist zu bejahen, weil Darlegungs- und Beweisschwierigkeiten des Vermutungsgegners bei der Gegenteilsbeweisführung nicht schon generell-abstrakt für jeden denkbaren Widerlegungsfall vorprogrammiert sind. Soweit sich im Einzelfall unzumutbare Aufklärungsschwierigkeiten ergeben, ist Raum für die Anwendung gesetzlich angeordneter oder in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannter "Beweiserleichterungen", insbesondere für zulässige Beweismaßreduzierungen, den Anscheinsbeweis, die Figur des qualifizierten Bestreitens bzw. der sekundären Behauptungslast und den Wechsel der konkreten Beweisführungslast.

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arverzeichnis Abhängigkeitsvermutung ( § 26 Π 3 GWB) 31 ff. Amtsermittlungspflicht - Beschränkung durch §§ 22 m , 23a I, 26 Π 3 GWB 60 ff, 142 ff. - Beschränkung durch § 23a Π GWB 63 f., 66 f. 148 ff, 251 ff. - gesetzliche widerlegbare Vermutungen (allg.) als Beschränkungen der ~ 77 ff, 145 ff. - Wechselbezüge zur Beteiligtenmitwirkung 137 ff. Anfangsverdacht 134 Anscheinsbeweis siehe prima-facie-Beweis Aufgreiftatbestände 59,129 ff. Aufklärungsverantwortung, Gestaltung der ~ durch die Vermutungen des GWB - Begründung einer Mitwirkungspflicht 60 ff, 147 ff. - Beschränkungen der Amtsermittlungspflicht und Begründung einer Darlegungs- und Beweisfuhrungslast 60 ff, 65 f., 142 ff, 148 ff. - im Zivilrechtsstreit 263 ff. - Verfassungsmäßigkeit siehe dort Behauptungs- und Beweisführungslast - bei § 23a Π GWB 63 f., 66 f. 148 ff, 251 ff. - Vermutungen des GWB als Begründung einer ~ 60 ff, 65 ff, 142 ff, 147 ff. - Wechselbezüge zum Untersuchungsgrundsatz 137 ff. Beweis des Gegenteils 70, 85 Beweiserleichterungen 266 ff. Beweisfuhrungslast siehe Behauptungsund Beweisführungslast Beweislast siehe materielle Beweislast Beweislasttheorien

- im öffentlichen Recht 193 ff. - im Zivilrecht 191 ff. Beweislastverteilung - im subkonstitutionellen Recht siehe Beweislasttheorien - im Verfassungsrecht siehe verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast - bei Fehlen ausdrücklicher Beweislastnormen siehe Beweislasttheorien Darlegungslast siehe Behauptungs- und Beweisführungslast Eindringensvermutung 23 Eingreifkriterien 132 Eingriffsverwaltung 21 - Besonderheiten bei Beweislastnormen in d e r - 1 1 8 f. - verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast in d e r - 2 1 4 ff. empirische Absicherung - der Vermutungen des GWB 57 f., 100 ff. - gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen 73,81,104 ff, 117 f. - objektive Beweislast und ~ 104 ff. Entwicklungsspielraum, gesetzgeberischer 200 f. Fiktion, § 23a Π GWB als ~ 25 f. Freiheit des Gesetzgebers - Abgrenzung zum gesetzgeberisch-en Entwicklungsspielraum 200 f. - beim Erlaß von Beweislastnormen 199 ff. Gefährdungstatbestand, abstrakter 88 f.,

120 Gefahrenbegriff 88 f. Gegenbeweis 70,84 Gesamtergebnis 272 ff.

Sachwortverzeichnis Gesetzesmaterialien und Entstehungsgeschichte - zu §22 m GWB 36 ff. - zu § 23a I GWB 49 ff. - zu § 23a Π GWB 49 ff, 45 ff. - zu § 26 Π 3 GWB 47 ff. - zum Zweck der Vermutungen des GWB 110 ff. gesetzliche widerlegbare Vermutungen

287

Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsaufklärung - gesetzliche widerlegbare Vermutungen (allg.) als Begründung einer ~ 147 - Vermutungen des GWB als Begründung einer - 60 ff, 147 ff - Wechselbezüge zum Untersuchungsgrundsatz 137 ff. Monopolvermutung 20

(allg.) - als Begründung einer Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsaufklärung 146 f. - als Beschränkungen der Amtsermittlungspflicht und Begründung einer Behauptungs- und Beweisführungslast 77 ff, 145 ff. - empirische Absicherung 73, 81, 104 ff, 117 f. - Wirkung in Verfahren mit Untersuchungsmaxime 73 ff. - Wirkung in Verfahren mit Verhandlungsmaxime 69 ff, 254 ff. Großfusionsvermutung 24 GWB-Novelle - zweite ~ 36 ff. - vierte ~ 39 ff. - fünfte-49 f.

Nachweisvorschrift - verwaltungsrechtliche ~ (allg.) 149 - § 23a Π GWB als ~ 149 ff.

Hauptbeweis 70

Rechtsprechung - Kritik der BGH-Entscheidung "Klöckner/Becorit" 153 ff. - Kritik der BGH-Entscheidung "Sonderungsverfahren"261 ff. - Kritik der KG-Entscheidung "Morris/Rothmans" 251 ff. - ~ zur Anwendbarkeit des § 22 ΠΙ GWB in Zivilrechtsstreitigkeiten 255 f. - ~ zur verfassungsrechtlichen Determinierung der Beweislast 163 ff. - ~ zur Wirkung der Vermutungen des GWB 65 ff. Regelbeispiele, verwaltungsrechtliche 86 ff,121

Kartellverwaltungsverfahren 21 ff, 32 Lebenserfahrung, statistische siehe empirische Absicherung Legalitätsprinzip 133 f. materielle Beweislast - bei Prognosen 90 ff. - im Zivilprozeß 191 ff, 259 ff. - ~ und statistische Wahrscheinlichkeit 104 ff. - verfassungsrechtliche Determinierung der ~ siehe dort materiellrechtliche Wirkungen der Vermutungen des GWB 59 f., 109 f, 119 ff. Marktbeherrschung 19,23

objektive Beweislast siehe materielle Beweislast Offizialprinzip 133 Oligopol - Dreieroligopol 24 - Fünferoligopol 24 - Oligopolvermutung 20 f., 24 f. Opportunitätsprinzip 133 ff. Ordnungsverfügungen aufgrund kartellrechtlicher Vermutungen 16 ff Prima-facie-Beweis 84 f. Prima-facie-Regeln 58 f., 125 ff. Prognosen, Beweislast bei ~ 90 ff.

Schutzgesetz, § 22 I V GWB als ~ 33, 254 f.

288

Sachwortregister

Untersuchungsgrundsatz - im Kartellverwaltungsverfahren 21 f. - verfassungsrechtliche Verankerung 142 ff. - Wechselbezüge zur Beteiligtenmitwirkung 137 ff. - Wirkung der Vermutungen des GWB in Verfahren mit ~ 147 ff., 241 ff., 251 ff. - Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit ~ 73 ff. Verhandlungsmaxime - Wirkung der Vermutungen des GWB in Verfahren mit ~ siehe Wirkungen der Vermutungen des GWB im Zivilrechtsstreit - Wirkung gesetzlicher widerlegbarer Vermutungen in Verfahren mit ~ 69 ff., 254 ff. Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung durch die Vermutungen des GWB (siehe auch verfassungsrechtliche Determinierung der Vermutungen des GWB) 56 ff., 61 ff., 64,66, 201 ff., 217 ff. Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Aufklärungsverantwortung durch die Vermutungen des GWB - §§ 22 m, 23a 1,26 Π 3 GWB 241 f. - § 23a Π GWB, verfassungskonforme Einschränkung 242 ff. - Art. 19 IV GG 249 f. - ~ im Zivilrechtsstreit 263 ff. - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 250 - Waffengleichheit und faires Verfahren 246 ff. Verfassungsrechtliche Determinierung der Beweislast (allg.) bzw. der Vermutungen des GWB 160 f f , 197 f., 201 ff. - durch Art. 3 I GG 202 ff. - durch Art. 19IV GG 208 ff. - durch Freiheitsgrundrechte (Art. 12 I, 14, 9 I GG) i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 173 f., 217 ff. - durch verfassungsrechtliches Beweislastprinzip 211 ff.

- Freiheit des Gesetzgebers 199 ff. - Grundrechte als materielle Vermutungsregeln 224 ff. - in der Eingriffsverwaltung 214 ff. - Rechtsprechung zur ~ (mit Kritik) 163 ff. - Schrifttum zur ~ (mit Kritik) 180 ff. - Systemgerechtigkeit 204 ff. - Trennung der verfassungsrechtlichen Determinierung von der Determinierung der Gestaltung der Sachverhaltsaufklärung 160 ff., 183 ff. - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz/Stufentheorie 226 ff. - Waffengleichheit und faires Verfahren 202 ff. verfassungsrechtliches Beweislastprinzip 211 ff. Vermutung - beschränkt widerlegliche § 23a Π GWB als ~ 26 ff. - gesetzliche widerlegbare ~ siehe dort - im zivilrechtlichen Sinne 83, 129 f.,

261 - tatsächliche 85 f. - unwiderlegliche § 23a Π GWB als ~ 25 f. - Vermutungen des GWB siehe dort Vermutungsvoraussetzungen, Anforderungen an ihre Gestaltung 119 f. Vermutungen des GWB - § 22 ΠΙ GWB 19 ff. - § 23a I GWB 23 F. - § 23a Π GWB 24 ff. - §26 Π 3 GWB 31 ff. - § 26 V GWB 34 f. - als Aufgreiftatbestände 60,129 ff. - als Auslegungshinweise 59, 114, 119 ff. - als Begründung einer Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsaufklärung 60 ff., 147 ff. - als Beschränkungen der Amtsermittlungspflicht und Begründung einer Darlegungs- und Beweisführungslast 60 ff., 66 f., 142 ff., 148 ff., 251 ff - als Beweislastnormen 55 f f , 65 f. - als Gefährdungstatbestände 59., 109, 120 ff.

Sachwortverzeichnis - als Interpretationshilfen 59, 109, 120 ff. - als konkretisiert typische Gefährdungslagen 59,110,120 ff. - als Konkretisierung des Marktbeherrschungsbegriffs 59,109 f., 120 ff. - als prima-facie-Regeln 58 f., 125 ff. - empirische Absicherung der ~ 57 f., 100 ff. - Gesetzesmaterielien und Entstehungsgeschichte siehe dort - Gestaltung der Aufklärungsverantwortung durch die ~ im Zivilrechtsstreit 263 ff. - materiellrechtliche Wirkungen der ~ 59,109 f., 120 ff. - Rechtsprechung zur Wirkung der ~ siehe dort - Streitstand im Schrifttum zur Wirkung d e r - 5 5 ff. - Verfassungsmäßigkeit der Beweislastverteilung durch die ~ siehe dort - Verfassungsmäßigkeit der Gestaltung der Aufklärungsverantwortung durch die - siehe dort

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- verfassungsrechtliche Determinierung der ~ siehe dort - Wirkungen der ~ im Zivilrechtsstreit siehe dort - Wirkungen der ~ in Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz siehe dort - Zweck der ~ 109 ff. Verstärkungsvermutung 23 Wahrscheinlichkeit, statistische siehe empirische Absicherung Zivilrechtsstreit (Wirkungen der Vermutungen des GWB im 32 f., 254 ff. - Anwendbarkeit des § 22 ΠΙ im ~ 254 ff. - Anwendbarkeit des § 26 Π 3 im ~ 257 ff. - Beweiserleichterungen 266 ff. - Gestaltung der Aufklärungsverantwortung durch die Vermutungen des GWB im ~ 263 ff. - materielle Beweislast 259 ff. Zweck der Vermutungen des GWB 109 ff.