Die vermittelte Welt: Elemente für eine Medientheorie 9783205791430, 9783205786665

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Die vermittelte Welt: Elemente für eine Medientheorie
 9783205791430, 9783205786665

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Jan van Eyck  : »Das Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini«, National Gallery, London

Bernhard Pelzl

D i e v er m i t telte Welt Elemente für eine Medientheorie

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch:

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien

Amt der Steiermärkischen Landesregierung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische ­Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78666-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A ­ bbildungen, der Funk­sendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien, Köln, Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Generaldruckerei Szeged

Inhaltsverzeichnis Vorr ede 1. Zum Anfang ein Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . 2. Präsumtionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Präsumtion Konstruktivismus . . . . . . . . . . . 2.1.1 »Modellabhängiger Realismus« . . . . . . . 2.1.2 Konstruktivismus und Forschungsethik . . . 2.1.3 »Epistemologischer Konstruktivismus« . . . 2.2 Beziehung als Erkenntniszugang.. . . . . . . . . 2.3 »Vermittlung« als Wesensmerkmal menschlicher Existenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Ergebnis  : vom individuellen Horizont zum gemeinsamen Bild der Welt.. . . . . . . . . . . . . . 4. Instrumente der Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung  : Grundlegende Elemente für eine Medientheorie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Medienbox S. 30: (1) Es gibt die wirkliche Welt, den wirklichen Kosmos. (2) Doch der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zu ihr und kein unmittelbares Verständnis von ihr. Deshalb muss ihm die Wirklichkeit vermittelt werden. (3) Ungeachtet der Unmöglichkeit der unmittelbaren Erkenntnis der Wirklichkeit ist der Mensch Teil der wirklichen Welt und damit wirklich wie diese. (4) Die Vermittlung der Erkenntnis der Wirklichkeit erfolgt in menschlichen Beziehungen.

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6 : Inhaltsverzeichnis (5) Die Beziehungen sind bestimmt durch die Fähigkeiten der Wahrnehmung von Phänomenen, die eigene Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen von anderen zu vergleichen, die eigenen Wahrnehmungen sowie die Ergebnisse der Vergleiche mit den Wahrnehmungen von anderen zu bezweifeln, sich für eine bestimmte Deutung von Wahrnehmungen zu entscheiden und danach zu leben.

Erster Teil Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Über die Schwierigkeit zu vermitteln. Zum Einstieg ein Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problem und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eine neue Gefahr  : Betrug und Täuschung durch Technik  ? . 3. Das »medientheoretische Trivium«. . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Spezialproblem »Ästhetik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Modellhafte Darstellung des WahrnehmungsVermittlungsprozesses am Beispiel des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das »Ereignis«.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wahrnehmung des Paares Arnolfini – Cenami durch Jan van Eyck.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie Jan van Eyck durch sein Bild seine Wahrnehmung des Paares Arnolfini – Cenami weitererzählt. . . . . . . . . . . . . 3.1 Das vordergründige Zeichensystem des »Hochzeitsbildes«  : Allegorien . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis  :

3.2 Die Überwindung der Allegorie durch Jan van Eyck im »Hochzeitsbild« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   4. Jan van Eyck und die Selbstbezüglichkeit . . . . . . . . . . . .   5. Der Vermittlungsprozess als »Selbstinszenierung« des Vermittlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   6. Exkurs zur Selbstinszenierung  : »Impression Management« .. 6.1 Kleider, Marken, Image . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Körpersprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Gestik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Sprachliche Äußerungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Klassifikation von zwei Menschentypen . . . . . . . . . .   7. Der Vermittlungsprozess als »Selbstinszenierung« des Vermittlers – Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8. Exkurs  : Der Palazzo Rucellai als Fallbeispiel für die Entdeckung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   9. Vermittlung als »Zeugenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Zusammenfassung  : Der Wahrnehmungs Vermittlungsprozess im sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck.. . . . . . . . . . . . . 11. Wahrnehmung durch unbeteiligte Dritte  : Distanz und Komplexität.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Warum unterschiedliche Wahrnehmung überhaupt stattfindet  : eine Antwort von Umberto Eco. . . . . . . . . . .

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III. Elemente für eine Theorie der (Medien-) Ästhe tik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Der Ausgangspunkt für eine Theorie der Ästhetik  : unterschiedliche Deutungen ein und desselben Zeichens und daher unterschiedliche Wahrnehmungen.. . . . . . . . . . . . 86

8 : Inhaltsverzeichnis Medienbox S. 87: (6) Wahrnehmung erfolgt bei verschiedenen Menschen und Menschengruppen nach unterschiedlichen Denkgewohnheiten (Interpretationsregeln). (7) Aufgrund dieser unterschiedlichen Denkgewohnheiten gibt es unterschiedliche Deutungen der durch dieselben oder gleichen Zeichen vermittelten Wahrnehmungen und daher unterschiedliche Wahrnehmungen.

2. Wie »Denkgewohnheiten« entstehen  : Theorien und Modelle . 2.1 Der Mensch in seinen sozialen Beziehungen  : das Modell der »Sozialen Netzwerke« . . . . . . . . . . . 2.1.1 Rekonstruktion eines Wahrnehmungskonzepts im Modell der »Sozialen Netzwerke«  : Sozialisation durch Wechselwirkung des Individuums mit seiner sozialen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Auswirkungen des Wahrnehmungskonzepts des Modells der »Sozialen Netzwerke« auf die Wahrnehmung der Welt durch Massenmedien . . . 2.1.3 Eigene Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Erlernen von Rollen und die Entstehung von Identität  : der »Symbolische Interaktionismus« . . . . . . 2.3 Wahrnehmung wird durch Sprache bestimmt  : Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« . . . 2.4 Das Erklärungsmodell der »Ethnomethodologie«  : Zu »Alltagswissen« verallgemeinerte persönliche Erfahrung . 2.5 Über die Zusammenführung individuell unterschiedlicher Deutungen von Zeichen zu gemeinsamen »Denkgewohnheiten« durch »Bildersprechen«.. . . . . . 2.5.1 Wahrnehmungsabstimmung aufgrund gemeinsamer Interessen  : das Modell der »Fragmentierten Gesellschaft« . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis  :

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2.5.2 Rekonstruktion eines Wahrnehmungskonzepts im Modell der »Fragmentierten Gesellschaft«  : Nutzenoptimierung menschlicher Beziehungen. . . 104 2.6 Der Weg zu gemeinsamer Wahrnehmung als Grundlage für ein gemeinsames Verstehen  : Kommunikation . . . . . 108 Medienbox S. 109: (8) Unterschiedliche Deutungen von Wahrnehmungen werden durch Kommunikation harmonisiert.

3. Zeit und Raum als Deutungseinschränkungen von Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.1 Zeitliche Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2 Zeitliche Fixierung eines Bildes bedingt dessen Definition im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Medienbox S. 113: (9) Die Deutungsvielfalt von Wahrnehmungen wird durch deren

zeitliche Fixierung und räumliche Positionierung eingeschränkt.

4. Konsequenz  : Die zeitliche und räumliche Positionierung von Bildern als medienästhetisches Gestaltungsmittel . . . . . . . 4.1 Die Bedeutung zeitlicher und räumlicher Bildfixierung in der Werbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Beispiel Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zeitverdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Exkurs  : Das »Bild im Bild« als Mittel zur Einschränkung der Deutungsvielfalt von Wahrnehmungen . . . . . . . . 5.2 Konsequenz  : Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Anmerkung  : Zum Begriff »Virtueller Raum« . . . .

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10 : Inhaltsverzeichnis

5.2.2 Konsequenz  : Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel – Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.2.3 Zeitverdichtung  : Grundstruktur menschlicher Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.2.4 Konsequenz  : Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel – Fortsetzung. . . . . . . . . . . 129 5.3 Zeitverdichtung und Ereignisdeutung . . . . . . . . . . . 132 Medienbox S. 132: (10) Die Deutung von Wahrnehmungen führt zu Zeitverdichtung,

auch als Voraussetzung für deren Kommunizier- und Vermittelbarkeit

Zweiter Teil Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt durch Bestätigung der Denkgewohnheiten und Überzeugung

I. Einleitung Gespräche beim Betrachten des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« in der National Gallery, London . . . . . . 137 II. Was Rhe torik eigentlich ist . . . . . . . . . . . . . 1. Definitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der wichtigste Erfolgsfaktor für Rhetorik  : Selbstvertrauen .. 3. Zur sogenannten »Handbuch-Rhetorik«. . . . . . . . . . . . 4. Rhetorik und Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das zentrale Merkmal von Rhetorik  : Persuasion – »Überzeugung« (= Propaganda).. . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zum Verhältnis Rhetorik – Kommunikation. . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis  :

III. Rhe torisches Fallbeispiel (1): Die »Pfingstrede« des Simon Pe trus . . . . . . . . 1. Der Text der »Pfingstrede« . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exkurs  : Die Herkunft des Begriffs Propaganda . . . . . . 3. Die »Pfingstrede« des Petrus  : die erste Propagandarede. . 4. Aus dem Fallbeispiel abzuleitende Voraussetzungen für rhetorisches Handeln und erfolgreiches Vermitteln . . . .

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IV. Publizität: Vorausse tzung rhe torischer Wirkungsmacht in der Gesellschaft . . . . . . . . . 1. Zur Geschichte und Semantik des Begriffs »Öffentlichkeit« . 2. Publizität und Erfolgsmessung rhetorischen Handelns . . . . 2.1 Erfolgsbedingungen »Doxa« und »Confirmation«. . . . . 2.2 Rhetorisches Fallbeispiel (2)  : Warum der Apostel Paulus in Athen scheiterte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Ursachen für das Scheitern von Vermittlungsprozessen  : »Gegenbearbeitung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das rhetorische Setting als wichtigster Bezugspunkt des Oratorethos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Oratore thos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Manifestationen des Oratorethos. . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstbezüglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Selbstbezüglichkeit des Redners als Wesenszug des Oratorethos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Selbstbezüglichkeit als Wesenszug der Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Gemeinsame der Selbstbezüglichkeit des Redners und der Massenmedien  : »Rollenmacht«. . . . . . . . . 3. Selbstinszenierung – »Impression Management« . . . . . . 3.1 Exkurs  : Zur Geschichte der Selbstinszenierung in der Porträtkunst.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 : Inhaltsverzeichnis

3.2 Psychologie der Selbstinszenierung . . . . . . . . . . . . 198 4. Und die Inhalte  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 VI. Die Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Noch einmal  : das rhetorische Fallbeispiel »Pfingstrede« des Simon Petrus. Die Dialektik der Plausibilität . . . . . . . . . . . . . 204 2. Die Struktur der »Pfingstrede« des Simon Petrus . . . . . . . 207 3. Überprüfung der Relevanz der Struktur-Elemente der »Pfingstrede« an John F. Kennedys Rede 1963 in Berlin (Fallbeispiel 3).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4. Der zentrale Unterschied zwischen der Petrus- und der Kennedy-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5. Vergleich der Instrumente und Erfolgsbedingungen der Kennedy- und der Petrus-Rede. . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6. Anmerkungen zum Chárisma/zur Autorität des Redners . . . 221 6.1 Anaximenes und Alexander der Große . . . . . . . . . . 222 6.2 Eine geschichtsphilosophische Anmerkung zur Autoritätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 VII. Zur Entstehung und zum Wesen der Rhe torik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die gesellschaftliche Voraussetzung  : die Demokratie . 2. Die weltanschauliche Begründung  : die Sophisten. . . 3. Protagoras  : der Mensch als Maß aller Dinge  ? . . . . . 4. Gorgias und der Vorwurf der Manipulation . . . . . . 5. Anmerkung  : Protagoras und Petrus . . . . . . . . . . 6. Platon und die Sophistik . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Aristoteles’ Theorie des Meinungswissens . . . . . . .

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VIII. Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhe torik . . . . . . . . . . . . 240

Inhaltsverzeichnis  :

1. Fallbeispiel (4) Fernsehbericht »Regierungsantritt von Tony Blair am 2. Mai 1997«  : Modellbeobachtung. . . . . . 1.1 Wie Oratorethos wirkt  : Bestätigung von Wert- und Lebensauffassungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Problem der »vermittelten« Rezeption durch Massenmedien  : zwei rhetorische Settings. . . . . . . . 1.2.1 Das rhetorische Setting Ereignis. . . . . . . . . . 1.2.2 Das rhetorische Setting Fernsehbericht und das Oratorethos des Vermittlers . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Versuch  : Beschreibung des Oratorethos des Fernsehberichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Vergleich zwischen individueller Wahrnehmung und Wahrnehmung durch Massenmedien. . . . . 1.2.5 Das Ergebnis des Vergleichs  : »Produktions und Präsentationstechniken« als Bezugspunkt der Selbstbezüglichkeit. . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Berichterstatter als Zeuge und Erzähler. . . . . . . . .

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Dritter Teil Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung und die Frage, wie Erkenntnis entsteht

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 II. Fragestellungen und eine AntwortHypothese.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Der Ausgangspunkt  : Anschaulichkeit als Voraussetzung gelingender Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

14 : Inhaltsverzeichnis Medienbox S. 257: (11) Das Gelingen des Vermittlungsprozesses hängt davon ab,

wie die zu vermittelnden Inhalte in Zeichen und Bilder gefasst,



das heißt, anschaulich gemacht werden.

2. Fragen  : Welcher Natur sind Bilder und Zeichen und wie werden sie für die Veranschaulichung ausgewählt  ? . . . . . . 258 3. Eine Hypothese als erster Schritt zu einer Antwort  : Die Bilder und Zeichen des Vermittlungsprozesses bestimmen bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess .. 260 Medienbox S. 260: (12) Bilder und Zeichen werden nicht erst für das Gelingen des Vermittlungsprozesses generiert bzw. ausgewählt, sondern bestimmen bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess.

Oder einfach ausgedrückt  : Menschen vermitteln einander



Bilder und denken in Bildern.

III. Versuch einer Rekonstruktion des Erkenntnisprozesses . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fallbeispiel  : Das »Planetenmodell« des Atoms.. . . 2. Anschaulichkeit und wissenschaftlicher Fortschritt . 3. Das »Postulat der Anschaulichkeit« . . . . . . . . .

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IV. Allgemeine theore tische Grundlagen für die Verifikation der Hypothese . . . . . . . . . . . . . 1. Psychologische Grundlagen der Anschaulichkeit . . . . . . . 2. Anschaulichkeit als Bedingung von Vermittlung und Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das »Postulat der Anschaulichkeit« und die »neuen« Medien .

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Inhaltsverzeichnis  :

V. Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisund Visualisierungsprozess tragenden Bilder und Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kategorien der Visualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Lehre von den Zeichen  : Semiotik . . . . . . . . . . . . . 3. Zeichen-Interpretation als gemeinsamer Nenner von Imagination (Denken) und Visualisierung (Kommunikation) .

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Zum Schluss ein Beispiel, wie durch Imagination und Visualisierung Wirklichkeit vermit telt wird: das »kollektive Gedächtnis«. . . . . . . . . . . 295 Postskrip tum.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorrede 1. Zum Anfang ein Bekenntnis

Der Titel dieses Buches »Die vermittelte Welt« ist ein Bekenntnis. Er fasst meine Beziehungs-, Gesprächs-, Lern-, Lese- und Nachdenk­ erfahrungen über die Welt zusammen, in der ich zu leben glaube. Er beschreibt mein Bild von der Welt, an dem ich mich in meinem konkreten Leben orientiere. »Vermittelte Welt« bedeutet, dass ich glaube, keinen unmittelbaren Zugang zu dieser Welt, in der ich lebe, zu haben und auch kein unmittelbares Verständnis von dem, was diese Welt mit mir macht, sondern dass ich sie aus den Phänomenen, den Erscheinungen, die ich mit allen meinen Sinnen wahrnehme, rekonstruieren muss. Und ich glaube, dass dies alles, was ich bisher über mein Verhältnis zur Welt sagte, auch für alle anderen Menschen gilt, auch wenn sie es nicht so sehen.

2. Präsumtionen

Dass niemand einen unmittelbaren Zugang zu dieser Welt und ein unmittelbares Verständnis von ihr hat und dass dieses Verhältnis zur Wirklichkeit für alle Menschen gilt, sind zwei Präsumtionen, Grundannahmen meines Welt- und damit Wissenschaftsbildes. Ich gehe davon aus, dass mein Bild eine Fülle von solchen Präsumtionen und auch Präsuppositionen – stillschweigende Voraussetzungen – hat, die mir Menschen, zu denen ich Vertrauen hatte und habe, vermittelt haben, die ich glaube, weil sie mir durch meine Lebenserfahrungen bestätigt scheinen, und die ich mich offenzulegen bemühe. Diesem Ziel, Dar-

18 : Vorrede

stellung der Grundannahmen und Offenlegung von Implikationen, dient diese Einführung, damit der Leser alle meine Überlegungen zum Phänomen »Vermitteln« vor dem Hintergrund meines Bildes von der Welt beurteilen und so sein eigenes schärfen kann. Eine Präsumtion habe ich mit der Aussage zum Ausdruck gebracht, dass ich, weil ich keinen unmittelbaren Zugang und kein unmittelbares Verständnis von dieser Welt habe, die Welt aus der Wahrnehmung von Phänomenen rekonstruieren muss. Dies bedeutet, dass ich, obwohl ohne unmittelbaren Zugang zu und ohne unmittelbares Verständnis von ihr, von der Existenz einer wirklichen Welt überzeugt bin, die Ursache aller dieser Phänomene ist, die ich wahrnehme. Ich behaupte also, dass ich mir nicht die Wirklichkeit konstruiere, wie dies immer wieder Populär-Konstruktivisten bedenkenlos daherreden, sondern rekonstruiere, weil ich mich auf dem Boden einer Welt fühle, die es auch gibt, wenn es mich nicht gibt. 2.1 Präsumtion Konstruktivismus

Diese Überzeugung habe ich in mehreren persönlichen Gesprächen im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist beim ORF mit Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld gewonnen, den Vätern des Konstruktivismus in seiner heutigen Fassung, denn die Position lässt sich bis ins 4. vorchristliche Jahrhundert in Griechenland mit ihrem renommierten Vertreter Protagoras gegen die damals schon erfolgreichen Kognitivisten zurückverfolgen, die bis heute den Wissenschafts- und Weltbildbetrieb beherrschen und behaupten, die Wirklichkeit der Welt unzweifelhaft erkennen zu können. Ganz alltäglich formuliert besagt der Konstruktivismus, wie ihn Foerster und Glasersfeld vertreten, dass es zwar die Wirklichkeit gibt, dass sie aber nicht unmittelbar und intersub­jektiv wahrgenommen werden kann, sondern von jedem wahrnehmenden Kopf erst gestaltet, eben »kon­struiert« wird, und viele Phänomene der Wahrnehmung

Präsumptionen  :

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scheinen sich gar nicht an­ders erklären zu lassen. Die Konsequenz aus diesen Erfahrungen wird in der Sprache der Konstruktivisten hörbar. Ein Konstruktivist sagt nie  : »So ist die Welt«, sondern  : »So ist meine Vorstellung von der Welt«, auch wenn er durch die gleichen Methoden wie ein Kognitivist zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sein sollte wie dieser. Der Unterschied zwischen Kognitivisten und Konstruktivisten liegt also nicht in der Art der Erkenntnisgewinnung, sondern er betrifft die Struktur der Erkenntnis der Wirklichkeit und damit des Wissens über sie und in der Folge den Umgang mit diesem Wissen. Weil der Konstruktivist davon ausgeht, dass er sich nur eine Vorstellung, ein Modell von der Wirklichkeit schaffen kann, muss er immer bereit sein, auch gegenteilige Vorstellungen von die­ser Wirklichkeit zu akzeptieren. Und das führt auf gesellschaftlicher Ebene zur Toleranz. Dieses Sich-eine-Vorstellung-von-der-Welt-Machen hat aber nicht nur eine indivi­duelle Seite, sondern durchaus auch eine kollektive, gesellschaftliche. Erfahrung ist, dass es durchaus unter vielen Menschen, unter den Menschen einer ganzen Gesell­schaft möglicherweise, einen Konsens über ihre Vorstellungen der Wirklichkeit, über ihr Wirklichkeitsmodell ge­ben kann, eine Folge der Kommunikation und des Vermittelns – niemals aber in allen Teilen, wie sich schnell herausstellt, etwa wenn man sich das politische Spektrum eines demokratischen Landes ansieht. Damit bekommt dieses gemeinsame Sich-Vorstellen eine soziologi­sche Dimension, weil sie Grundlage für gemeinsames gesell­schaftliches Handeln wird. Ich könnte es auch mit den Wörtern des Philosophen Josef Mitterer sagen, nämlich dass die Welt der sogenannten Fakten als ein Kampfplatz rivalisierender Beschreibungen zu sehen sei und dass es ein Irrtum sei, zwischen den Beschreibungen der Welt und der Welt selber strikt trennen zu wollen. Eine konstruktivistische Sicht unterstelle ich auch dem späten Wittgenstein, als er über »Sprachspiele« schrieb, während er in seinem

20 : Vorrede

Tractatus logico-philoso­phicus noch die reine Abbildtheorie, eine Art philosophischen Kognitivismus vertritt, wenn auch sein berühmter siebenter Satz – »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« – nach meinem Verständnis bereits auf sein Weiterdenken hinweist. Es ist jedenfalls Erfahrung, dass es stark divergierende Bilder von der Welt und inkompatible Wert- und Lebensauffas­sungen gibt. Gäbe es nun die konstruktivistische Auffassung nicht, müsste davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl dieser Bilder von der Welt und die darauf beruhenden Wert- und Lebensauffassungen auf (kognitivistisch) Unerforschtem beruhen oder schlicht falsch seien  : Wenn es nämlich eine Wirklichkeit gäbe, die man klar erkennen könnte, aber trotzdem Fragmente der Gesellschaft diese Wirklichkeit unterschiedlich sähen, könnte dies nur daran liegen, dass die Angehörigen einiger dieser Fragmente unter einer Wahrnehmungs­störung leiden oder dass sie einen niederen Bildungsstand (aus der Sicht der Wis­senschafter) haben. Wüssten nämlich alle, was es über Wirklichkeit insgesamt zu wissen gäbe, müssten ja wenigstens alle Hochgebildeten die Welt gleich sehen. Die Konsequenz daraus  : Die Sicht der Welt würde ausschließlich zu einer bildungspolitischen Frage – eine Ansicht, die viele Wissenschafter tatsächlich vertreten. 2.1.1 »Modellabhängiger Realismus«

Zwei besonders prominente Vertreter aus diesem Kreis sind die Physiker Stephen Hawking und Leonard Mlodinow, deren Buch Der große Entwurf gerade erschien, während ich diese Vorrede schrieb. Mein erster Eindruck war, dass sich Hawking und Mlodinow mit dem Begriff »modellabhängiger Realismus« zu einer Sicht bekennen, die mit meiner verträglich sei  : »Modellabhängiger Realismus« ist von Hawking und Mlodinow definiert als, so wörtlich, »die Vorstellung, dass eine physikalische Theorie oder ein Weltbild ein (meist mathe-

Präsumptionen  :

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matisches) Modell ist und einen Satz Regeln besitzt, die die Elemente des Modells mit den Beobachtungen verbinden. […] Unsere Wahrnehmung – und damit die Beobachtungen, auf die sich unsere Theorien stützen – ist nicht unmittelbar, sondern wird durch eine Art Linse geprägt, die Deutungsstrukturen unseres Gehirns.« Dass Menschen Sinnesreize interpretieren und Modelle der Welt anfertigen, mit denen sich Ereignisse erklären und voraussagen lassen, ist nicht das Problem des »großen Entwurfs« – so sehe ich es auch –, sondern dass die Physiker Qualitätskriterien mit realem Gültigkeitsanspruch formulieren zu können glauben, mit denen ein Modell getestet und widerlegt werden könne  : Eleganz (Einfachheit), Sparsamkeit, Erklärungskraft und Vorhersagefähigkeit. Das erinnert zwar an Sir Karl Popper, der darlegte, dass Theorien nicht verifiziert werden könnten, sondern sich bewähren müssten, aber die Konsequenzen, die Hawking und Mlodinow aus ihrer Erkenntnistheorie ziehen, sind weitreichender als es der Diskursrahmen zulässt und erweisen ihren »modellabhängigen Realismus« als bloßes Lippenbekenntnis. Vor allem, der Mensch spielt im Konstrukt von Hawking und Mlodinow überhaupt keine Rolle  : Verliebtheit, Rausch und andere Sinnlichkeiten, so erfährt der Leser aus Nebensätzen, stünden der Wahrheitsfindung im Wege (als ob Liebe keine Wahrheit sein könnte), und nur die »Unkenntnis der Naturgesetze veranlasste die Menschen früherer Zeiten, Götter zu erfinden, die in jeden Aspekt des menschlichen Lebens hineinregierten«. Das aber heißt nichts anderes, als dass es doch etwas – kognitivistisch – zu wissen gäbe, zum Beispiel eben die Naturgesetze, und dass jemand, der sie kenne, keinen Gott brauche. Dem widersprechen zumindest die Erfahrungen, dass es gelungene Beziehungen, mystische Erlebnisse und gläubige Physiker gibt – vorausgesetzt, dass man sie nicht wegen ihres Glaubens für Dummköpfe hält. Wie für die Evolutionsbiologie Dawkins’ gilt auch für die Physik Hawkings und Mlodinows  : Die Professionalität der Evolutionsbiologie und der Physik besteht sicher nicht darin, Gott und Religion als

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überflüssig oder falsch zu erweisen, sondern Modelle für die Entwicklung des Menschen und der Natur zu erdenken, die sich in Erklärung und Vorhersage bewähren können. Erfahrung ist jedenfalls, dass sich Gott und Religion bis heute im Leben der Menschen bewähren  : Sie trösten und geben Hoffnung – Perspektiven, die keine Wissenschaft eröffnen kann. 2.1.2 Konstruktivismus und Forschungsethik

Zurück zur Präsumtion Konstruktivismus  : Heinz von Foerster hat auch, als ich ihn auf Paul Feyerabends »Anything goes« als mögliche Konsequenz aus dem konstruktivistischen Denken ansprach, eine sehr klare Antwort für das Verhalten des einzelnen Wissenschafters gegeben  : »Die Antwort heißt  : Entscheidung  !«, sagte Heinz von Foerster. »Es wäre ein großer Fehler, wenn nun Wissenschafter und Forscher glaubten, es gelte gar nichts mehr, und jeder könnte tun und denken, wie es ihm beliebt. Genau so wenig, wie man alle Wege gehen kann, wenn man an eine Wegkreuzung kommt, kann man alle Wege im Denken und Forschen gehen und sich zu verschiedenen Positionen bekennen. Durch die Grundhaltung des Konstruktivismus, dass es keine sichere Erkenntnis gibt, dass man sich nur Vorstellungen und Modelle von der Welt machen kann, ist jeder Forscher angehalten, sich unter den vielen möglichen für eine Position zu entscheiden – wie im Leben, in dem man auch nicht alle Möglichkeiten leben kann.« Diese Aussage Heinz von Foersters ist eine vierte Präsumtion meines Weltbildes. Sie akzeptiert keine wertfreien Positionen und postuliert, dass Ethik konstitutiv für Wissenschaft und Forschung ist – »Kernethik« hat Julian Nida-Rümelin diese Verfasstheit von Wissenschaft und Forschung genannt – und keine ergänzende oder übergeordnete Kompetenz, wie es von Forschern heute oft gesehen zu werden scheint, von allen jenen, die ihre Entscheidungen an Ethikkommissionen zu delegieren können glauben.

Präsumptionen  :

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2.1.3 »Epistemologischer Konstruktivismus«

Die Präsumtion Konstruktivismus hat auch meine Beziehung zum Glauben an Gott und seine Kirche geprägt. Für mich ist Gott und die von ihm geschaffene Welt Wirklichkeit im strengen Sinn des Wortes. Weil ich aber keine unmittelbare Erkenntnis von Gott und der von ihm geschaffenen Welt haben, sondern nur Phänomene seiner Existenz und seines Wirkens wahrnehmen kann, weiß ich mich auf seine Beziehung zu mir, zu den Menschen, auf seine Offenbarung angewiesen, dass er, der Wirkliche schlechthin, mir über sich die Wirklichkeit vermittelt. Als Christ nehme ich seine Vermittlung in seiner Menschwerdung in Jesus Christus an und erhalte so Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit überhaupt. Der Philosophieprofessor Reinhold Esterbauer von der katholischtheologischen Fakultät der Universität Graz hat diesen meinen Zugang, als ich ihm davon erzählte, »epistemologischen Konstruktivismus« genannt. Wenn man die große Zahl der aus dieser Vermittlung herausgehenden möglichen und beobachtbaren Phänomene der Wege der Nachfolge Christi wahrnimmt, kann man unter konstruktivistischem Gesichtspunkt gegen alle kognitivistischen Versuche von Gruppen und Amtsträgern den ökumenischen Reichtum der Kirche Christi erahnen. 2.2 Beziehung als Erkenntniszugang

Ich setze den Gedanken vom vorigen Abschnitt fort  : Wenn ich im Falle der für mich unerkennbaren Wirklichkeit Gottes und der von ihm geschaffenen Welt die verlässliche Vermittlung der Erkenntnis der Wirklichkeit durch den Menschen Jesus annehme, muss ich Menschen als Vermittler der Erkenntnis der Wirklichkeit überhaupt zulassen. Das heißt, Menschen, obwohl sie als einzelne keine unmittelbare Erkenntnis der Wirklichkeit haben können, vermitteln ein-

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ander trotzdem verlässlich die Erkenntnis der Wirklichkeit durch ihre Beziehungen zueinander – weil sie sonst nicht miteinander leben könnten. Und das ist eine fünfte Präsumtion  : Die Vermittlung der Erkenntnis der Wirklichkeit erfolgt in menschlichen Beziehungen. 2.3 »Vermittlung« als Wesensmerkmal menschlicher Existenz

Ungeachtet der Unmöglichkeit unmittelbarer Erkenntnis ist der Mensch Teil der Welt und damit wirklich wie diese. Das gibt ihm im Vermittlungsprozess, wie aus dem bisherigen Gedankengang hervorgeht, eine paradoxe Position  : Obwohl selbst Teil der unzugänglichen Wirklichkeit der Welt und damit wirklich, hat er aber nur Zugang zu den Phänomenen dieser Wirklichkeit, aus denen er sich selber in der Beziehung zu seinen Mitmenschen als Wirklichkeit rekonstruieren muss. Das verlangt zumindest, dass jeder Mensch Fähigkeiten zur Rekonstruktion der Wirklichkeit in sich tragen muss, mit deren Hilfe er sich selbst als Teil dieser Wirklichkeit anderen Menschen oder Lebewesen in Beziehungen vermittelt. Beim Nachdenken darüber, was solche Instrumente sein könnten, komme ich als erstes auf die Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen zu machen, zu lernen, sonst wäre ja gar keine Vermittlung möglich. Mit Erfahrung meine ich eine bestimmte Art, die Phänomene der Welt wahrzunehmen, die Sinnesorgane bewusst zu benutzen und sich ständig danach zu fragen, ob man wirklich gerade genau das sieht, hört, fühlt, was man gerade sieht, hört und fühlt. Wenn jemand ein reines Gewissen dabei hat, hält er die Beobachtungen und Eindrücke fest als (histologischen) Schnitt des Augenblicks. Sie kann er Schnitt um Schnitt aneinanderfügen wie eine Fotostory  ; manche passen zueinander, manche schließen einander aus, sosehr, dass es eigentlich einige von ih­nen gar nicht geben dürfte. Aber, aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Menschen keinen Anstoß daran nehmen und davon ausgehen, dass es sie trotzdem gibt (auch die unlösbaren Widersprü-

Präsumptionen  :

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che), und so entsteht ein vielfältiges Bild mit immer neuen Schatten, Farben und Reflexen, wie ein Bach von der Quelle bis zur Mündung, in dem sich die Veränderungen des Himmels und die wechselnden Uferlandschaften spiegeln, ein Bild, das man Leben nennt, mit seinem ureigenen Horizont. Der Vermittlungsprozess beginnt, wenn ich weiter darüber nachdenke, mit der Fähigkeit, die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mit den Beobachtungen und Erfahrungen von anderen zu vergleichen – im direkten Gespräch oder anhand ihrer Texte und Publikationen. Dies führt in meinem Nachdenken zur Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung. Damit meine ich das Wirksamwerden eines dritten Instrumentes, der Fähigkeit des Zweifels als methodische Grundhaltung, nämlich die Einsicht, dass es eben tatsächlich nur vielfältige Bilder sind, die man sieht, hört und fühlt, Bilder, die man gelernt hat zu sehen, zu hören und zu fühlen, oder die man so sehen, hören und erfühlen will, wie man es tut, zum Beispiel weil dies Sicherheit zu geben scheint – und keine kognitivistisch objektive Wirklichkeit. Nur wenn ein Mensch diese Grundhaltung zulässt, kann er die Fähigkeit entwickeln, seine eigenen Bilder auch anders zu sehen, also seine Bilder zu deuten beginnen. Der Vermittlungsprozess setzt sich fort, führt mich das Nachdenken weiter, indem ein Mensch die Deutungen der eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, die er gemeinsam mit anderen gemacht hat, mit deren Deutungen der möglicherweise gleichen Beobachtungen und Erfahrungen vergleicht, um die Ergebnisse dieses Vergleichs weiter an neuen Beobachtungen zu prüfen und sie schließlich an Werten zu messen, die er sich allerdings vorher mit allen ihren Implikationen auf dem gleichen Weg bewusst gemacht haben muss, um sie mit reinem Gewissen vertreten zu können. Ich fasse zusammen  : In meinem Bild vom Menschen trägt er den Prozess des Vermittelns der Welt in sich, indem er über die Fähigkeiten der Wahrnehmung von Phänomenen, des Vergleichens dieser Wahrneh-

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mungen mit anderen Wahrnehmungen, eigenen und fremden, und des Zweifels verfügt. Diese Fähigkeiten kann er nur in vielfältigen Beziehungen entfalten, weil seine Beziehungsfähigkeit die Grundlage von allem ist.

3. Das Ergebnis: vom individuellen Horizont zum gemeinsamen Bild der Welt

Unter »Horizont« versteht man die kreisförmige Grenzlinie, die auf einer freien Ebene, wo nichts die Aussicht beschränkt, die Erde von dem scheinbar auf ihr ruhenden Himmelsgewölbe abgrenzt. Der Beobachter befindet sich im Mittelpunkt dieses Kreises. Der Horizont ist also ein Phänomen des Wahrnehmens. Weil wegen der Kugelgestalt der Erde jeder Ort seinen eigenen Horizont hat, ist dieser vollständig abhängig vom Beobachter, der ihn daher auch beliebig verändern kann, zum Beispiel, indem er sich bewegt und damit seinen Horizont verschiebt, oder auf einen Berg steigt und damit seinen Horizont erweitert. Niemals aber kann er die ganze Welt mit dem eigenen Blick erfassen. Um mehr als seinen Horizont überblicken zu können, ist er auf andere Menschen angewiesen, die ihm von ihren Horizonten erzählen und so den seinen öffnen, wobei sich zwischen den Erzählungen interessante Koinzidenzen und Überschneidungen ergeben können. Vermitteln ist das Erzählen über andere Horizonte. Diese Erzählungen sind das Material für den Kommunikationsprozess, durch den sich die Horizonte der einzelnen Menschen öffnen, sodass sie nach und nach ein Bild von der ganzen Welt gewinnen können. Solche Erzählungen über Horizonte muss man freilich so formulieren, dass sie der Gesprächspartner erfassen kann. Wer einen Wald nur schlicht als Ansammlung von Bäumen beschreibt, ohne ein Wort über seine Ökologie zu verlieren, läuft Gefahr, dass seine Schilderung mit der einer Baumschule verwechselt wird. Wer, um den Schneefall

Das Ergebnis: vom individuellen Horizont zum gemeinsamen Bild der Welt  :

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zu erklären, das Märchen von Frau Holle erzählt, kann mehr Erfolg haben als der, welcher die komplexen atmosphärischen Bedingungen zu vermitteln versucht, die dieses Phänomen hervorrufen. Aus diesen Erzählungen entstehen schließlich in offenen Hirnen Geschichten und Bilder, welche die ganze Welt zum Inhalt haben  : Die Geschichte zum Beispiel, die davon erzählt, dass die Sonne im Zentrum des Systems steht, dem die Erde angehört, stammt von Nikolaus Kopernikus, das Drama von den Trieben als Motor des Menschen hat Sigmund Freud verfasst. Es gibt eine ganze Bibliothek solcher Geschichten, die alle die Namen jener tragen, die sie erzählt haben  : die Erschaffung der Erde von Moses, die Ordnung der Pflanzen von Carl von Linné, die Relativität von Raum und Zeit von Albert Einstein. Diese und viele andere Erzählungen über die Welt spielen in der Geschichte der Erkenntnis die gleiche Rolle wie in der Geschichte der Literatur : Gargantua und Pantagruel von François Rabelais, Don Quijote von Miguel de Cervantes, Tristram Shandy von Laurence Sterne, Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Ulysses von James Joyce und viele andere. So wie diese und andere Werke Höhepunkte der L ­ iteraturgeschichte sind, auch wenn nicht jeder ihre Titel und Autoren kennt, die Weltbilder von Kopernikus, Freud und Einstein, und natürlich viele andere, Höhepunkte der Geistesgeschichte, der Geschichte der Wahrnehmung der Welt, auch wenn die meisten nur ihre Namen kennen. Solche Schlüsselwerke gelungener Vermittlung haben es an sich, dass sie sich durch gute Beziehungen tausendfach kopiert und vervielfältigt unter den Menschen verbreiten, dabei möglicherweise auch verwischen, zerknittern und vergilben, bis schließlich jeder, weil er gute Erfahrungen mit diesen Geschichten gemacht hat, glaubt, er hätte – so wie Jorge Luis Borges’ Pierre Menard – seine Kopie selber geschrieben. Und dann bekommt er eine Ahnung davon, was Wirklichkeit ist. Ich fasse zusammen  : Das Ergebnis des Wahrnehmens und Vergleichens ist der Horizont. Das Ergebnis des Zweifels ist das Öffnen des

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Horizonts. Das Ergebnis der Vermittlung ist die Chance auf Erkenntnis der Wirklichkeit.

4. Instrumente der Vermittlung

Es besteht kein Zweifel, dass das bewährte Instrument der Vermittlung der Welt von Mensch zu Mensch die Sprache ist. Mit ihr konstituieren Menschen die Beziehungen zueinander und halten sie aufrecht, und das gilt nicht weniger für die Beziehung Gottes zu den Menschen. Dies ist auch eine naheliegende Konnotation des Begriffs »Logos«, mit dem das Johannesevangelium die kosmische transzendentale Dimension der Vermittlung aus Menschensicht beschreibt  : »Am Anfang war das Wort« – die Sprache. Sie als das Instrument der Vermittlung schlechthin steht auch im Mittelpunkt dieses Buches. Deswegen ist es mir wichtig, meine Sicht der Sprache, eine weitere Präsumtion, kurz darzulegen. Für mich ist Sprache nicht einfach ein Zeichensystem, das man erlernen und mit ihm Weltsicht erwerben muss, sondern für mich ist Sprache die wesentliche Funktion von »Beziehung«, ihr Ausdruck, ihr Resultat, vielleicht auch ihr Regulator, und als solche linguistisch codierte Beziehung – ganz im Sinne, wie sie Aristoteles versteht  : »Das System unserer Begriffe ist kein Spiegel der Welt, sondern ein Spiegel unserer Auseinandersetzung mit der Welt.« Oder noch schärfer formuliert  : Sprache ist nicht die Voraussetzung für Beziehung, sondern ihre Konsequenz. Vermittlung hat viel mehr Zeichensysteme zur Verfügung als nur die Sprache, z. B. Bilder, durch die Menschen neue Wahrnehmungsphänomene erzeugen können, um ihre Deutung von Wahrnehmungsphänomenen darzustellen. Deshalb ist auch der Begriff »Bildrhetorik« geläufig. Oder Verhaltensweisen, die in ihrer Gesamtheit als Ethos bezeichnet werden, mit dem vor allem Wert- und Lebensauffassungen und

Zusammenfassung: Grundlegende Elemente für eine Medientheorie  :

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Haltungen zeichenhaft vermittelt werden. Das Ethos erweitert das Instrumentarium der Vermittlung weit über Sprache und Bilderzeugung hinaus. Durch das Ethos vermittelt ein Mensch seine Deutungen von Phänomenen im Zeugnis seines Verhaltens, seines puren Menschseins. Das stärkste Beispiel dafür ist, wie Joachim Knape unter Berücksichtigung von Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode und Martin Heideggers Sein und Zeit eindrucksvoll im ersten Kapitel seines Buches Was ist Rhetorik  ? unter der Überschrift »Ecce homo« beschreibt, der leidende Jesus von Nazareth. Für Knape ist dies »Arhetorik«, Gegenentwurf zum zeitgenössischen römisch-rhetorischen Modell (und damit auch zum heutigen), für mich ist dies der Vermittlungsakt schlechthin und damit die stärkste Form der Rhetorik, weil hier keine bloßen Zeichen mehr die Botschaft der Vermittlung tragen, sondern die Zeichen mit der Botschaft selbst zusammenfallen und Wirklichkeit unmittelbar sichtbar wird. Das ist meiner Einsicht nach die Konnotation des Begriffs »Logos«, mit dem das Johannesevangelium die kosmische transzendentale Dimension der Vermittlung aus Gottessicht beschreibt, der keiner Vermittlung der Wirklichkeit bedarf, hat er sie ja selbst geschaffen. Auf den Menschen bezogen heißt das  : Es kann auch jemand ein erfolgreicher Vermittler sein, der niemals spricht. Nur so können auch alle Stummen und Tauben vollwertig am Vermittlungsprozess teilhaben.

5. Zusammenfassung: Grundlegende Elemente für eine Medientheorie

Aus den vorliegenden Gedankengängen ergeben sich fünf grundlegende Elemente für eine Medien-, also für eine Vermittlungstheorie mit einer inhärenten Antwort auf die Frage, warum Vermittlung ontologisch überhaupt notwendig ist  :

30 : Vorrede (1) Es gibt die wirkliche Welt, den wirklichen Kosmos. (2) Doch der Mensch hat keinen unmittelbaren Zugang zu ihr und kein unmittelbares Verständnis von ihr. Deshalb muss ihm die Wirklichkeit vermittelt werden. (3) Ungeachtet der Unmöglichkeit der unmittelbaren Erkenntnis der Wirklichkeit ist der Mensch Teil der wirklichen Welt und damit wirklich wie diese. (4) Die Vermittlung der Erkenntnis der Wirklichkeit erfolgt in menschlichen Beziehungen. (5) Die Beziehungen sind bestimmt durch die Fähigkeiten der Wahrnehmung von Phänomenen, die eigene Wahrnehmungen mit den Wahrnehmungen von anderen zu vergleichen, die eigenen Wahrnehmungen sowie die Ergebnisse der Vergleiche mit den Wahrnehmungen von anderen zu bezweifeln, sich für eine bestimmte Deutung von Wahrnehmungen zu entscheiden und danach zu leben.

I. Einleitung 1. Über die Schwierigkeit, zu vermitteln. Zum Einstieg ein Experiment

Wenn zwei Menschen sich ein Bild ansehen, ein Ereignis beobachten oder eine Rede hören und dann unabhängig voneinander einem Dritten davon erzählen oder mit ihm darüber reden, wenn dieser auch dabei war oder anders davon Kenntnis erlangt hat, zeigen sich nicht nur bei der Beurteilung dieser Ereignisse große Unterschiede, sondern auch in der Wiedergabe selbst, sodass nicht selten der Eindruck entsteht, diese Personen seien bei verschiedenen Ereignissen gewesen oder hätten unterschiedliche Bilder angesehen, oder jeder hätte einer anderen Rede zugehört, und nicht selten wird dann mancher verdächtigt, es mit der »Wahrheit« nicht so genau zu nehmen. Um die Probleme mit der Vermittlung von Wahrgenommenem erlebbar und nachvollziehbar zu machen, wurden 88 Studenten, die im Wintersemester 1999/2000 an der Universität Graz am Kurs »Medienästhetik« teilgenommen haben, gebeten, das, was sie als Inhalt bzw. als »Botschaft« eines berühmten Bildes von Jan van Eyck wahrnahmen, spontan zu beschreiben – ohne dass der Titel des Bildes genannt wurde, weil er ja eine inhaltliche Information gegeben hätte und dadurch die Deutungsbreite eingeschränkt worden wäre. Nur einer der Studenten kannte das Bild vom Sehen, hatte sich jedoch offenbar nicht mit dessen Inhalt beschäftigt. Die Interpretationen zeigten als gemeinsames Merkmal, dass ohne Ausnahme alle bei ihrer Analyse von der Haltung der Hände und den Blicken der beiden Personen ausgingen, die das Bild zeigt – ein Mann und eine Frau –, wobei nur eine Geste übereinstimmend gedeutet

34 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

wurde  : Faktisch alle Interpretationen gingen davon aus, dass die junge Frau schwanger sei, und verstanden die Lage ihrer linken Hand, die »auf dem Bauch liegt«, als Zeichen von Zärtlichkeit und/oder Schutz für ihr ungeborenes Kind. In einer großen Zahl von Beschreibungen wurden Schwangerschaft und Bett, das hinter dem Paar steht, zueinander in Beziehung gesetzt, die Schwangerschaft gewissermaßen als Folge eines Liebesaktes, der vorher im Bett stattgefunden haben müsse, gedeutet. Der Ort der Bildszene, der übereinstimmend als Schlafzimmer definiert wurde, ließ gemeinsam mit den schlampig herumliegenden Pantoffeln und dem kleinen Tier zwischen dem Paar, das sowohl als Hund als auch als Katze angesehen wurde, alle im Bild eine private Szene sehen. Vollständig uneinheitlich fiel die Deutung der Rolle des Mannes aus  : Zwar dominierte unter Berufung auf das Händehalten die Ansicht, dass es sich um ein Liebes‑ oder Ehepaar handle, aber einige deuteten den Mann auch als Arzt, der mit der Geste seiner rechten Hand die »besorgte« werdende Mutter beruhigte, oder als Priester, der sie segnete. Als Begründungen dafür wurde einerseits ein aus dem Bild abgelesener Standesunterschied zwischen dem Mann und der Frau angeführt  : Die Frau wurde vornehm und reich, der Mann hingegen (der in Wirklichkeit übrigens in wertvollen Pelz und damit besonders reich und vornehm gekleidet ist) wurde wegen seiner »ärmlichen« bzw. »schäbigen« Kleidung von niedererem sozialen Rang gesehen, andererseits wurde der Blick der »werdenden Mutter« entweder als beschämt (zur Deutung »Priester«) oder auch als besorgt (zur Deutung »Arzt«) gedeutet, was auch dazu führte, dass die Schwangerschaft einige Male als uneheliche bzw. ungewollte bezeichnet wurde. Ebenso wurde der Blick des Mannes als selbstbewusst mit »fachlicher Kompetenz« (des Arztes), »Strenge« (des Priesters), aber auch »Vormundschaft« des Ehemannes gedeutet, und die Geste seiner Hand sowohl als Abschiedsgruß, was zur Aussage führte, hier werde eine

Einleitung  :

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vornehme Dame von ihrem Geliebten verlassen, als auch als Begrüßungszeichen des von der Arbeit zu seiner Frau heimkehrenden Gatten. Eine ungetrübt glückhafte Stimmung wollte jedenfalls niemand im Bild erkennen. Vereinzelt war auch der Spiegel im Zentrum des Hintergrundes Anknüpfungspunkt dafür, einen tieferen Sinn im Bild zu entdecken, etwa, dass das Bild selber nur eine Fassade darstelle und im Spiegel die Wirklichkeit dahinter abgebildet sei, genau so wie der Luster über dem Paar als Damoklesschwert über der Beziehung gedeutet wurde, das die Liebenden jederzeit überraschend zu trennen drohe. Einige der Studenten waren wegen des Hinweises, den ich b­ eiläufig in der Lehrveranstaltung gegeben hatte, dass sie sich faktisch in der gleichen Situation befänden, wie wenn sie sich zum Beispiel vor den Fernseher setzten, irgendein Programm einschalteten und zu verstehen versuchten, worum es ginge, tatsächlich von dieser Situation ausgegangen und deuteten das Bild sehr kreativ als besonders ungewöhnliche Werbung für Möbel (das »Rote Sofa« der KIKA-Werbung) oder gaben an, beim Sehen dieses Bildes auf dem Bildschirm vermutet zu haben, dass hier eine Sendung über Kunstgeschichte, Kunstreisen oder eine historische Dokumentation, etwa über Ehe und Familie oder die Beziehung zwischen den Geschlechtern im Mittelalter, oder die Live‑Übertragung einer sensationellen Kunstauktion im Laufen sei. Jedenfalls lässt sich festhalten, dass ein und dasselbe Bild von 88 Studenten, wenn schon nicht unterschiedlich wahrgenommen, so doch höchst unterschiedlich verstanden wurde. Berücksichtigt man auch nur auszugsweise die kunsthistorische Literatur zu Jan van Eycks Bild, zeigt sich schnell, dass das Problem der Wahrnehmung erfahrene Kunsthistoriker nicht weniger betrifft als unbedarfte Studenten. In den meisten kunsthistorischen Publikationen geht es um die Frage, was das Gemälde überhaupt darstelle  : Handelt es sich um eine Vermählung, eine Hochzeit – vielleicht heimlich, zumindest ohne Priester vollzogen, weil keiner im Bild sei, fragt z. B.

36 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

Stefan Kemperdick vom Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main –, um eine Verlobung oder um das repräsentative Bildnis eines Ehepaars  ? Bis 1994 war die Deutung des Bildes als »Hochzeitsbild« auf der Grundlage eines Aufsatzes von Erwin Panowsky dominierend. Dieser Deutung wurde 1994 von Edwin Hall widersprochen  : Er verstand die Darstellung stattdessen als eine Verlobungsszene. Dieser Auffassung schloss sich Yvonne Yiu in ihrer 2001 erschienenen Arbeit an. Ihr und Hall widersprach aber 2002 wiederum Stefan Kemperdick in einer Rezension. Er beruft sich auf den »Londoner Bestandskatalog« der National Gallery von Lorne Campell aus dem Jahr 1998, zu deren Bestand das Bild gehört, in dem der Autor seiner Überzeugung Ausdruck gab, dass es sich beim »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« um das Doppelporträt eines Ehepaares handele, das möglicherweise sogar den Maler Jan van Eyck mit seiner Frau zeige.

2. Problem und Zielsetzung

Jan van Eycks Bild ist ein »Medienprodukt«, und die beschriebene unterschiedliche Wahrnehmung sowie, darauf gegründet, die unterschiedliche Vermittlung gilt für alle Medienprodukte, die nichts anderes sind als Erzählungen von jemandem, der etwas wahrgenommen hat, z. B. bei einem Ereignis dabei war oder etwas erdacht hat und dieses weitererzählt. Vor allem bei Medienberichten wird von Betroffenen oder Beobachtern immer wieder behauptet, die Ereignisse, welche die Medienberichte zum Gegenstand haben, seien unverstanden oder falsch, unzureichend oder zumindest verzerrt wiedergegeben. Und daraus wird dann schnell der Vorwurf der Manipulation erhoben oder dass eine andere Wirklichkeit erzeugt werde. Tatsächlich signalisieren solche Vorwürfe aber Störungen im Vermittlungsprozess, sie sind Symptome für nicht geglückte Vermittlungsprozesse.

Einleitung  :

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Von besonderer Bedeutung wird dieses Phänomen, wenn es um Existentielles geht  : eine Zeugenaussage vor Gericht zum Beispiel, um Beziehungskrisen oder um den Unterricht, wo es um die Vermittlung von Wissen geht, das für das Leben wichtig ist. Jedenfalls ist das Phänomen jedermanns Erfahrung, dass ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Menschen unterschiedlich und oft auch widersprüchlich wiedergegeben wird – und auch die negativen Folgen, die sich daraus in der Kommunikation ergeben können  : etwa der Vorwurf, dass jemand zu unaufmerksam oder zu dumm sei, um etwas zu verstehen, oder dass jemand lüge oder manipuliere, weil er ein bestimmtes Interesse mit einer bestimmten Darstellung verbinde. Das können natürlich durchaus Gründe sein, dass jemand ein bestimmtes Ereignisse in einer bestimmten Form darstellt, aber gerade dann braucht man ein Instrumentarium, um diese Intentionen offenlegen zu können. In jedem Fall aber ist die Gefahr groß, dass dadurch – so oder so – Vertrauen untergraben wird, die wichtigste Voraussetzung für gute Beziehungen, die in Summe ein gelungenes Leben ausmachen. 2.1. Eine neue Gefahr: Betrug und Täuschung durch Technik?

Manche Wissenschafter warnen besonderes vor einer neuen, quasi entpersonalisierten Gefahr, die durch neue Techniken der Vermittlung entstanden sei  : Friedrich Kittler von der Humboldt‑Universität Berlin etwa weist in seinem im Internet veröffentlichten Referat »Phänomenologie versus Medienwissenschaft« nachdrücklich darauf hin, dass das, was Menschen intellektuell leisten können, heute genau so gut in Computern stattfinde und dass diese Fähigkeit die Medien überhaupt auszeichne, nämlich mit deren technischen Möglichkeiten Sachverhalte in die Welt zu setzen, deren Hervorbringung lange Zeit als Vorrecht des Menschen gegolten habe, ganz konkret der Maler, die den Augen der Betrachter Sachverhalte darboten, die keine Sachver-

38 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

halte waren  : »Von Zeuxis«, einem griechischen Maler, der 400 v. Chr. lebte, und von dem vor allem ein Bild der Helena berühmt war, das er im Auftrag der Stadt Kroton für den Tempel der Hera malte, »über Brunelleschi bis Bach blieben Wahrnehmungen, die ein anderer manipulierte, das Vorrecht von Künsten.« Aber, so Kittler, während diese Täuschungen Entwürfe zugestandener künstlerischer Freiheit gewesen seien, sei dies bei den Medien eine Wirkung der Technik und kein Werk der Künste und Medien, was dazu führe, dass die Menschen die Ergebnisse der Technik auch nicht mehr als Täuschung erkennen könnten, wie es noch beim Betrachten der Bilder der Maler möglich gewesen sei, sondern dass dadurch gewissermaßen neue Wirklichkeiten geschaffen würden. Seine Schlussforderung daraus  : So wie der Philosoph Edmund Husserl (1859–1938) durch seine historische Phänomenologie den Täuschungscharakter der Welt aufgedeckt habe, sollte auch die Medienwissenschaft ihre Aufgabe darin sehen, die »Ontologie einer kalkulierenden Materie zu fassen«. Unabhängig davon, ob man wirklich eine Gefahr anerkennen will, die von einer »kalkulierenden Materie« ausgeht, der Menschen wesenhafte Unvollkommenheit allein sollte schon Grund genug sein, die Mechanismen und Gründe kennen zu wollen, die zu unterschiedlichen Darstellungen, Wahrnehmungen und dementsprechend zu unterschiedlichen Widergaben ein und desselben Ereignisses führen, damit man keine Vorwürfe macht, wo nichts vorzuwerfen ist, damit man Freund und Feind unterscheiden kann und vor allem, damit man Wissen und Erfahrungen vermitteln kann, die Menschen brauchen, um ihr Leben gelingen lassen zu können, direkt oder mittels Medien – in Übereinstimmung mit den Leben anderer oder auch in Gegnerschaft zu ihnen. Letztendlich geht es immer um »Vermittlung« im kommunikativen und rhetorischen Prozess, und nichts anderes bedeutet der Begriff »medientheoretisch«, nämlich das System des Prozesses zu untersuchen und das Ergebnis der Untersuchung so darzustellen, dass jeder

Einleitung  :

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die Chance hat zu verstehen, wie Vermittlung stattfinden muss, damit sie gelingt.

3. Das »medientheoretische Trivium«

Sowohl der Kommunikationsprozess zwischen Menschen im Allgemeinen – eine Spezialform des Kommunikationsprozesses ist das Denken im Sinne eines »Selbstgesprächs« – als auch der Vermittlungsprozess im Besonderen – eine Spezialform des Vermittlungsprozesses ist das Beobachten von Vorgängen im Sinne einer »Selbstvermittlung« – lassen sich durch die Abfolge »Wahrnehmen – Deuten/ Verstehen – Weitererzählen/Darstellen – Wahrnehmen – Deuten/ Verstehen« beschreiben. Das sind nämlich die Schritte, in denen Vermittlung stattfindet  : Eine Person A nimmt ein Ereignis wahr (Wahrnehmen) – Person A deutet die Wahrnehmung (Deutung), um sie sich anzueignen (Verstehen) – Person A erzählt das Ereignis, wie sie glaubt, es verstanden zu haben, einer Person B (Erzählen/Darstellen). Ohne diesen Schritt würde nicht fassbar werden, was jemand und wie er etwas wahrnimmt. Daher ist er die Schnittstelle jeder Vermittlung, die sich von da in einer beliebig langen Kette fortsetzen kann, dabei aber immer auch auf den Ausgangspunkt zurückwirkt  : Person B nimmt die Erzählung wahr (Wahrnehmen) und deutet sie (Deutung), um sie sich anzueignen (Verstehen)  ; aber gleichzeitig versucht Person B auch ihre Deutung, ihr Verstehen durch Rückfrage abzusichern oder, wenn zwei Personen das gleiche Ereignis wahrgenommen haben, versuchen sie, ihre Wahrnehmung abzustimmen. Das sind zentrale Voraussetzungen für das Gelingen von Vermittlungsprozessen überhaupt und auch der Hauptgrund dafür, dass man etwas für »objektiv«, also für mehrere Menschen gemeinsam gültig halten kann. Man kann es noch schärfer formulieren  : Vermittlungsprozesse erscheinen immer als Wahrnehmungs-, Vermittlungs- und Abstimmungs-Prozesse.

40 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

Die einzelnen Schritte »Wahrnehmen – Deuten/Verstehen – Weitererzählen/Darstellen« aber sind Untersuchungsgegenstände verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen  : Das »Wahrnehmen« der Ästhetik, das »Deuten/Verstehen« der Semiotik, das »Erzählen/Darstellen« schließlich der Rhetorik. Die Medientheorie integriert die Erkenntnisse dieser Disziplinen und leitet daraus jene Vorgangsweisen ab, die Vermittlung erfolgreich macht. Semiotik ist die Grundlage von allem, insofern als jede Aussage, jedes Bild, jedes Zeichen für etwas steht – für Ereignisse, Ideen, Vorstellungen, Meinungen – , etwas, das nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern nur über Zeichen – Sprache, Bilder, Verhalten – vermittelt werden kann. Ästhetik beschäftigt sich mit der Wahrnehmung dieser Zeichen, wobei dieses Wahrnehmen durch Deutung wesentlich bestimmt ist, durch denjenigen, der diese Ereignisse, Ideen, Vorstellungen, Meinungen wahrnimmt, bzw. dem sie vermittelt werden sollen, während Rhetorik den Vorgang der Auswahl und den Gebrauch der Zeichen durch denjenigen untersucht, der diese Ideen, Vorstellungen und Meinungen vermitteln will. Ästhetik und Rhetorik betrachten also den Vorgang des Vermittelns von speziellen Standpunkten aus, nämlich ob jemand vermittelt (Rhetorik) oder Ziel der Vermittlung ist (Ästhetik). Der Gegenstand der Semiotik hingegen ist das Gemeinsame, das sich dabei in den Köpfen der am Prozess Beteiligten abspielt, um diesen Prozess gelingen zu lassen. Anders ausgedrückt  : Während Rhetorik die Mechanismen und Vorgänge untersucht, mit denen jemand etwas aus seinem Denken mit dem Ziel der Vermittlung expliziert, und Ästhetik, wie dieses Explizierte ins Denken dessen, dem dieses vermittelt werden soll, Eingang finden kann, sind die Zeichen die Träger der Botschaft selber und die Semiotik die Beschreibung des Vorgangs ihrer Erzeugung (Kodierung) wie ihrer Rezeption durch Dekodierung. Das heißt, Ästhetik und Rhetorik beschreiben, wie wir mit Zeichen umgehen, während Semiotik als

Einleitung  :

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Metawissenschaft dieser beiden Disziplinen die Zeichen selber zum Gegenstand hat und so gesehen die semantische Dimension des Vermittlungsprozesses repräsentiert. So könnte man auch die Rhetorik als die Wissenschaft vom Vermitteln (durch Zeichen), die Ästhetik als die Wissenschaft vom Verstehen (der Zeichen) und die Semiotik als die Wissenschaft dessen, was vermittelt und verstanden werden soll, also der Bedeutung der Zeichen, definieren – wobei immer eine gewisse Unschärfe bleibt, weil jede Disziplin einen Teil der anderen beiden enthält  : Jedenfalls redet man auch dann, wenn man über Rhetorik, Ästhetik oder Semiotik im Speziellen spricht, immer über das Ganze menschlicher Beziehung. So wird auch deutlich, dass die Unterteilung in Semiotik, Rhetorik und Ästhetik für sich keine Bedeutung hat, sondern nur ein Hilfsmittel ist, um das Verständnis des Vermittelns zu befördern, das jedem Menschen angeboren ist, und es dadurch besser gelingen zu lassen. 3.1 Spezialproblem »Ästhetik«

Ein spezielles Problem in diesem Trivium ist die Ästhetik, weil der Begriff sowohl im alltäglichen Sprachgebrauch als auch im historischen Ablauf der Wissenschaft bis heute vieldeutig und inkonsistent verwendet wird  : »Gleich einer Wetterfahne wird sie von jedem philosophischen, kulturellen, wissenschaftstheoretischen Windstoß herumgeworfen, wird bald metaphysisch betrieben, bald empirisch, bald non‑nativ und bald deskriptiv […]«, schreibt Moritz Geiger (1880–1937). So ist der Begriff in der Zusammensetzung »Medien-Ästhetik« erst eine postmoderne Erfindung, speziell in der Ausprägung des französischen Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998)  : Er entstand dadurch, dass in postmodernen Ästhetik-Konzepten die Ästhetik als universelles Paradigma auf alle Bereiche des Lebens ausgedehnt wurde und dabei auch die Medien solchen ästhetischen Modellen unterworfen wurden.

42 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

Medienästhetik ist also in der Geschichte der Wissenschaft ein erst sehr junger Begriff. Trotzdem gebrauchen ihn Medienmacher kaum im Sinn postmoderner Ästhetikkonzepte, sondern in einem eher landläufigen Sinn von Ästhetik als Qualitätsbegriff – »schön«, z. B. im Zusammenhang mit Hörspielen, wie z. B. die Seminarankündigung von Günther Schatter von der Bauhaus‑Universität Weimar für das Wintersemester 1998/99 »Kunststück Hörstück« zeigt, oder mit der Herstellung »ästhetischer« Filme, wie zum Beispiel aus der Beschreibung des sechssemestrigen Studiums der »Szenografie« an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam‑Babelsberg hervorgeht, in der es wörtlich heißt  : »Die Studierenden werden auf kreative Tätigkeiten in den Berufsfeldern Szenenbild/Szenografie, SetDesign/Production Design, Mediendesign vorbereitet. Verbunden wird damit der Anspruch auf eine Verbesserung der Bildkultur in den Medien bzw. auf die Entwicklung einer spezifischen Medienästhetik.« Der Begriff Medienästhetik wird also von den Medienmachern mehrheitlich im Verständnis gebraucht, wie er im 18. Jahrhundert von Alexander Gottlieb Baumgarten (1717–1762) zunächst als Bezeichnung für eine literaturwissenschaftlich-philosophische Disziplin zur Beschreibung des »guten Dichtens« geprägt wurde, die dann auf alle Kunstformen ausgedehnt wurde, sodass Ästhetik seither jene »Wissenschaft« beschreibt, die als »Theorie der freien Künste« und »des schönen Denkens«, »allgemeine Probleme der Kunst und im engeren Sinn des Schönen (Erhabenen, Hässlichen, Tragischen, Komischen usw.) behandelt.« Die Idee zu einer Wissenschaft Ästhetik entwarf Baumgarten zuerst in seiner Schrift De nonnullis ad poema pertinentius (Halle 1735). Das Werk, mit dem er die Ästhetik begründen wollte, Aesthetica acroamatica (ab 1750), hat er nicht vollendet, weil er vorher starb. Die Ästhetik Baumgartens besteht im Auffinden bzw. Aufstellen von Regeln, an die sich Literaten halten müssen, um der Ästhetik zu genügen (»normative Ästhetik«).

Einleitung  :

43

Im Rahmen der Ästhetik werden seither »sowohl die Bedingungen der Konstruktion von Kunstwerken, die Strukturen des ästhetischen Gegenstandes in Kunst und Natur, das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit als auch die Bedingungen und Formen der ästhetischen Rezeption durch den einzelnen wie durch die Gesellschaft« untersucht, wie Ivo Frenzel unter dem Stichwort im Fischer Lexikon Philosophie 1967 zusammenfasst. Der Begriff Ästhetik ist aber erst seit dem 19. Jahrhundert so eng mit der Kunst verbunden, als die Ästhetik gesellschaftlich im »Ästhetizismus« wirksam wurde – damit wird ein Programm bezeichnet, die dem Ästhetischen Vorrang vor anderen Werten einräumt und das daher oft mit der Einschränkung oder Verneinung herrschender religiöser und ethischer Anschauungen verbunden ist. Erklärte Vertreter des Ästhetizismus waren u. a. Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Marcel Proust, der frühe Nietzsche und der junge Hugo von Hofmannsthal. Der Definitionsbereich von »Ästhetik« ist ursprünglich aber viel weiter, wenn man die umfassenden Aspekte des griechischen Begriffes aisthesis – »Wahrnehmung, Empfindung«, aber auch »Anschauung«, von dem schon Alexander Gottlieb Baumgarten den Begriff Ästhetik abgeleitet hat, als Grundlage nimmt. Schon Baumgarten wollte weniger eine Theorie der Kunst als eine »Wissenschaft der Sinneserkennung« schaffen, die als »niedere Erkenntnistheorie« die Logik seines Lehrers Christian Wolf (1679–1754) ergänzen sollte. Dieses Begriffsverständnis übernahm auch Immanuel Kant, der die Ästhetik als »Wissenschaft von den Regeln der Sinnlichkeit überhaupt« bezeichnete, und auch der Philosoph Edmund Husserl hat den Begriff in diesem ursprünglichen Sinne gebraucht. In der Untersuchung des Wahrnehmungs-Vermittlungsprozesses – das sei zusammenfassend vorweggenommen – bewährt sich jedenfalls die Annahme, dass die Wahrnehmung und Vermittlung der Welt durch den Menschen auf die gleiche Weise geschieht wie die Wahrnehmung und Vermittlung der Welt durch Medien – zu denen

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ich auch alle Kunstwerke zähle, weil ja auch sie Sichtweisen der Welt vermitteln. Der komplexe Wahrnehmungs-, Vermittlungs- und Abstimmungsprozess soll im Folgenden modellhaft untersucht und erläutert werden, und zwar am Beispiel des sogenannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini«, jenem Beispiel, an dem bereits exemplifiziert wurde, wie schwierig es ist, zu vermitteln.

II. Modellhafte Darstellung des WahrnehmungsVermittlungsprozesses am Beispiel des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck 1. Das »Ereignis«

Das Ereignis, um das es in diesem Beispiel geht, ist jenes, das dem Bild von Jan van Eyck zugrunde liegt  : Es zeigt höchstwahrscheinlich weder einen Arzt, der eine Schwangere berät, noch einen Priester, der sie wegen ihrer unehelichen Schwangerschaft zur Buße auffordert, noch den Abschied eines armen Mannes von seiner adeligen Geliebten, sondern es ist entweder das offizielle Hochzeitsbild eines gewissen Giovanni Arnolfini, eines reichen flandrischen Bürgers, vermutlich eines Bankiers, mit seiner Frau Giovanna Cenami, oder die Verlobung der beiden oder beide als Ehepaar oder möglicherweise auch das Ehepaar van Eyck, obwohl das Bild in zwei Inventaren der Margarete von Österreich von 1516 und 1523/24 unter dem Titel »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« eindeutig verzeichnet ist. Es ist sozusagen jenes »offizielle« Bild, wie es noch heute bei jeder Verlobung oder bei jeder Hochzeit oder auch nur aus Gründen der Repräsentation aufgenommen wird. Der Vollständigkeit halber und unabhängig davon, dass die Rezeptionsgeschichte völlig dagegen spricht, sei auf die Möglichkeit hingewiesen, dass es auch denkbar wäre, dass dem sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« kein erlebbares Ereignis zugrunde liegt, sondern dass der Maler van Eyck eine Idee ins Bild setzte, etwa »des

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idealen bürgerlichen Ehepaares«, ohne dabei ein konkretes vor Augen zu haben. In diesem Fall wäre die Idee das Ereignis.

2. Die Wahrnehmung des Paares Arnolfini – Cenami durch Jan van Eyck

Nehmen wir einmal an, dass es sich um ein Verlobungs- oder Hochzeitsbild handelt. Wir wissen nicht, ob Jan van Eyck an diesem Ereignis teilgenommen hat. Für das, was er in seinem Bild erzählt, wäre dies jedenfalls nicht nötig gewesen. Hochzeiten wie Verlobungen laufen nach festen Schemata ab, und was innerhalb oder zusätzlich zum Schema geschieht, ist für das Gesamtereignis unerheblich. Auch die Fotografen heutiger Verlobungs- oder Hochzeitsbilder der Brautpaare nehmen oft nicht an den Ereignissen teil, sondern verewigen sie in eigenen Fototerminen. Das Bild sagt – genau so wie die heutigen offiziellen Verlobungsoder Hochzeitsbilder – also nichts über das Ereignis selber aus, sondern hält vielmehr eine Idee fest  : die Idee der dauerhaften und verlässlichen Institution Ehe, die sich in der Eheschließung »bis dass der Tod euch scheidet« bekenntnishaft realisiert, und deshalb kann das Bild wirklich genauso gut auch das Bild eines Ehepaares sein, das schon lange verheiratet ist, trägt doch die Frau, so Stefan Kemperdick, auf jeden Fall die Kopfbedeckung der Verheirateten. Das Bild von Jan van Eyck verdichtet das Ereignis gewissermaßen zu jener Bedeutung, die ihm zeitlos zukommt – und da ist es völlig egal, ob es sich um eine Verlobung, um eine Vermählung, ein bereits länger dauerndes gemeinsames Leben eines Paares handelt. Dafür reicht es, wenn derjenige, der das Bild erzeugt, weiß, dass es sich um ein Braut- oder Ehepaar handelt, dass er abbilden soll, und dies nimmt er anhand einer Summe von Zeichen wahr, welche diejenigen, die zu ihm kommen, an sich tragen – heute bei einer Hochzeit Brautstrauß, Brautkleid, Ehering

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– und an dem, was sie ihm sagen (z. B.  : »Wir kommen zum Hochzeitsfototermin.«). Das heißt, er nimmt diese Zeichen – sprachliche wie nichtsprachliche – wahr und deutet sie dann dementsprechend, dass es sich hier um ein Verlobungs- oder Braut- oder Ehepaar handelt. Für den Bilderzeuger gibt es freilich noch eine zusätzliche Wahrnehmung, die nichts mit dem Ereignis selber zu tun hat  : Es ist die Selbstinszenierung der Persönlichkeiten, die sich da die Treue geschworen haben, in der sie mithilfe von Accessoires, Kleidung, Frisur und Mode zeigen, wie sie wahrgenommen, gesehen, werden wollen – nicht nur bei ihrer Verlobung oder Hochzeit, sondern überhaupt. Das heißt, Paare verwenden für ihre Selbstdarstellung und Selbstinszenierung bestimmte Zeichen, deren Deutung durch den Bilderzeuger Grundlage für seine Rhetorik wird, mit der er von der Bereitschaft des Paares zu dauerndem Eheglück weitererzählt.

3. Wie Jan van Eyck durch sein Bild seine Wahrnehmung des Paares Arnolfini – Cenami weitererzählt

Diese Zeichen sind es dann auch als erstes, die Jan van Eyck als Erzeuger des Bildes verwendet, um über das Paar und sein Bekenntnis zueinander zu erzählen, so wie er es verstanden hat. Aber andererseits zeigt auch derjenige, der das Bild erzeugt, seine Auffassung von der Ehe und vom Paar, indem er die Zeichen gestaltet, etwa durch deren Anordnung oder Inszenierung, und zusätzliche Zeichen verwendet – mehr noch  : Er vermittelt in dieser Gestaltung seine Sicht der Welt. Martina Dreier und Sigrid Faustmann haben in einer Arbeit im Rahmen eines Forschungsseminars am Institut für Anglistik der Universität Graz im WS 2000/2001 von Jan van Eycks Bild ausgehend heutige Hochzeitsbilder auf diese Frage hin analysiert. Das Ergebnis  : In zeitgenössischen Hochzeitsbildern werden vornehmlich Kleidung, Hintergrund und Accessoires kopiert, mit denen adelige Lebensweise

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in der Regenbogenpresse präsentiert wird. Daran sei einerseits der Wunsch der Paare ablesbar, eine besondere gesellschaftliche Position darzustellen, andererseits aber auch die damit verbundene Sicht der Welt von Hochzeitsfotografen. Was Verlobungs- oder Hochzeitsfotografen modisch und ohne Wissen um die Symbolkraft der von ihnen verwendeten Zeichen immer und immer wieder reproduzieren, ist bei Jan van Eyck erst- und einmalig und deshalb von größter Bedeutung, da sich in seinem Bild eine Sicht der Welt konkretisiert, welche gegenüber dem Mittelalter ein neues Bewusstsein von Wahrnehmung sichtbar macht, das bis heute die Substruktion – den »weltbildlichen Unterbau« – des menschlichen Verständnisses von und damit des menschlichen Verhältnisses zur Welt bildet. 3.1 Das vordergründige Zeichensystem des »Hochzeitsbildes«: Allegorien

Vordergründig ist das Zeichensystem von van Eycks »Hochzeitsbild« der Zeit seiner Entstehung entsprechend das der Allegorien. Der Begriff Allegorie kommt aus dem Griechischen – allegoría (von allégere) heißt »das Anderssagen« – und bezeichnet die Verbildlichung eines abstrakten Begriffs oder Vorgangs. Jan van Eyck verwendete in seinem »Hochzeitsbild« z. B. das Hündchen – denn es ist ein Hündchen und kein Kätzchen, wie manche Studenten in ihrer spontanen Wahrnehmung meinten – zu Füßen des Paares. Es symbolisiert die Treue – egal, ob es sich um Verlobung, Hochzeit oder Ehe handelt. Der »buchstäblichen« Sinnebene (sensus litteralis) wird durch eine Allegorie somit eine »vergleichsvermittelt übertragene« Ebene (sensus allegoricus) hinzugefügt. Der Unterschied der Allegorie zur Metapher (von griech. metaphérein – »anderswohin tragen«) besteht darin, dass bei der Metapher ein Wort/eine Wortgruppe aus ihrem eigentlichen Bezeichnungszusammenhang herausgenommen und in einen anderen übertragen

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wird, wobei die Grundlage dieser Übertragung die Ähnlichkeit der bezeichneten Gegenstände oder Erscheinungen ist. Beispiele für solch »übertragene« Wendungen sind »blutrot«, »dünn wie eine Bohnenstange« oder »wie ein Blitz aus heiterem Himmel«. Ein Hörer oder Leser erkennt diese »vorgesetzten« Bilder immer und kann daher die Metapher immer verstehen  : Wenn jemand hört, dass eine Person »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« aufgetaucht sei, versteht er, dass diese Person plötzlich vor dem Erzähler aufgetaucht ist – genauso unerwartet, wie wenn er es erlebte, dass es bei klarem Himmel auf einmal zu blitzen begönne. Metaphern werden also nach dem Ähnlichkeitsprinzip generiert und »liegen« deshalb semantisch gewissermaßen »auf der Hand«. Allegorien hingegen sind Symbole. Das Wesentliche eines Symbols ist, dass es eine gedanklich-konstruktive Beziehung zwischen dem Dargestellten und dem Gemeinten gibt, das heißt, Allegorien werden mit hohem kognitiven Aufwand konstruiert und anschließend durch Lehre weitergegeben. Dies impliziert die Annahme, dass Gegenstände, Erscheinungen und Aussagen oft eine verborgene »tiefere« Bedeutung hätten als das, was man durch sie unmittelbar wahrnimmt. Kulturgeschichtlich sind die Allegorien deshalb eng mit Religion und Kult verbunden. Die Sache, neben dem »buchstäblichen« Sinn noch einen »verborgenen« zu erschließen, wenn auch noch nicht den Begriff Allegorie, findet man bereits im ersten Buch der Bibel  : So wird im ersten Schöpfungsbericht »Gott schuf den Menschen nach seinem Bild« (1. Moses 1,26) eine besondere im Transzendenten verankerte Anthropologie zugrunde gelegt. Im antiken Griechenland findet man Allegorien, ebenfalls ohne dass der Begriff dafür verwendet wurde, bereits in den ältesten literarischen Texten, bei Homer und Hesiod. Ausdrücklich einen »tieferen Sinn« – griech. hyponoia – unterlegten die Vorsokratiker den homerischen Mythen, da sie das Verhalten der Götter, wie es bei Homer

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geschildert wird, als anstößig empfanden – um die Mythen »zu heilen«. Dieser »tiefere Sinn« – so die Philosophen – sei ein physikalischkosmologischer oder ein psychologisch-ethischer, und dementsprechend deutete z. B. der griechische Philosoph Anaxagoras die Götter als geistig-seelische Zustände oder Funktionen. Dies rief später die scharfe Kritik des griechischen Philosophen und Historikers Plutarch hervor, der darauf hinwies, dass durch allegorische Deutung die Gefahr bestand, die Existenz der Götter zu negieren, was dem Atheismus Vorschub leiste. Mit der Allegorie als Mittel der Rhetorik setzte sich der Sophist Gorgias von Leontinai als erster auseinander, der auch die Begriffe Allegorie und Metapher prägte. Im spätantiken Christentum war es der spätere Papst Gregor der Große (540–604), der in seinen Auslegungen des »Hohenliedes« die Allegorie als die Möglichkeit beschrieb, den menschlichen Geist ansonsten vollends verschlossener, göttlicher Wahrheit teilhaftig werden zu lassen  : Nach dem Sündenfall sei es dem Menschen nicht mehr möglich, Gott direkt zu erkennen, schreibt Gregor. Die Allegorie aber »baut für die Seele, die weit von Gott entfernt ist, sozusagen eine Art Hebewerk, damit sie durch jenes zu Gott erhoben wird«. Erkenntnis durch Allegorie komme nicht dadurch zustande, dass etwa ein komplexer Zusammenhang verbildlicht werde, wie es normalerweise durch einen Vergleich (Metapher) geschehe, sondern ein Sinn werde offenbar, der hinter der anschaulichen Bedeutung des Bildes stehe und selbst nicht in Worte oder ein eindeutiges Bild gefasst werden könne. Die Allegorese stelle also eine Verbindung zu Gott her, die durch die Sprache nicht mehr möglich sei. Dementsprechend wurden lange Zeit in den Bibelkommentaren vier Auslegungen unterschieden – die literarische auf die Frage  : »Was ist  ? Was war (»historia«)  ?«, die moralische auf die Frage  : »Was bedeutet das für den einzelnen Menschen (»tropologia«)  ?«, die anagogische auf die Frage  : »Was bedeutet das eschatologisch  ? (= »die letzten Dinge betreffend« – »anagogia«)«, und eben die allegorische auf die

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Frage  : »Was bedeutet das heilsgeschichtlich (bezogen auf das Mysterium Christi und der Kirche – »allegoria«)  ?« Walter Benjamin nennt die Allegorie in Anlehnung an Gregor eine »Sinnmaschine«. Die von Gregor beschriebene Allegorese – die Auslegung von Texten, die hinter dem Wortlaut einen verborgenen Sinn sucht und die von ihm verbindlich eingeführt wurde – ist bis heute sowohl in der katholischen Theologie als auch im konkreten Glaubensleben präsent. Ohne diese Tradition – durch die Allegorien vom Buchstaben der Bibel zu ihrem Geist zu gelangen – hätte nicht einmal Eugen Drewermann seine kirchenkritischen psychoanalytischen Bücher schreiben können. Besondere Bedeutung erhielten Allegorien seit dem frühen Christentum in der Kunst. In einfachen Bildern wird komplexes Heilsgeschehen zusammengefasst  : So steht das Lamm oder der Weinstock für das Leiden Christi, Vogel Strauß und Einhorn sind Allegorien der Jungfräulichkeit Mariens, die Taube bringt die Gaben des Heiligen Geistes, und hinter der Schlange verbirgt sich der Teufel. Bereits früh, nämlich vom christlichen lateinischen Dichter Aurelius Prudentius Clemens (398–405), wird auf das Modell zurückgegriffen, das Anaxagoras für seine Deutung der griechischen Mythen verwendete  : die Personifikation. Man versteht darunter jene Ausdrucksweise, die Nichtmenschliches personenhaft erscheinen lässt, indem sie ihm Reden und Handeln zuschreibt. Die Vielfalt der Personifikationen in der mittelalterlichen Kunst war beinahe unbegrenzt. Es wurden sowohl Konkreta (eine Stadt, ein Körperteil, eine Blume) personifiziert als auch Abstrakta (die Jahreszeiten, Tugenden und Untugenden). Und sie erhielten Attribute, an denen man sie erkennen konnte  : So hält etwa die Klugheit einerseits eine Schlange und als Zeichen der Selbsterkenntnis einen Spiegel sowie ein Buch. Die Mäßigkeit ist dagegen häufig mit einem Messgerät charakterisiert oder mit einer Uhr oder zwei Gefäßen (zur Mischung von Wein und Wasser). Die Tapferkeit oder Stärke zeigt sich in einer Rüstung mit Schwert oder anderen Waffen. Auch der Löwe steht für Stärke.

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Die Gerechtigkeit erkennt man an ein oder zwei Schwertern sowie an der Waage, ein Symbol, das bereits in der ägyptischen Mythologie verwendet wird. Das wohl bekannteste Beispiel der Personifikation eines abstrakten Begriffes ist der Tod als Sensenmann. In allen diesen Fällen wurde ein für die Menschen unbegreiflicher Vorgang oder Zustand in ein Bild gefasst und so darstellbar gemacht. Das stilbildende Schlüsselwerk, das auf die Personifikationstechnik von Prudentius zurückgreift, ist der altfranzösische allegorische Versroman Roman de la rose, der die Suche nach einer Rose (als Symbol für die Liebe) beschreibt. Die 4.068 Verse des unvollendeten ersten Teils wurden zwischen 1230 und 1240 von Guillaume de Lorris verfasst und gelten als Höhepunkt und Ende der höfischen Liebesliteratur. In diesem allegorischen Liebesabenteuer betritt der Erzähler im Traum mit Hilfe von Oiseuse – »Müßigkeit« einen wunderschönen Garten, aus dem alles Negative, Hass, Bosheit oder Traurigkeit, ausgeschlossen ist. Der Garten gehört Deduit – »Vergnügen«, und der Erzähler erlebt viel Schönes darin. In einem Brunnen entdeckt er eine wunderschöne Rose, und Amor schießt daraufhin seine Pfeile ins Herz des Erzählers. Nach Überwindung einiger Hindernisse erhält der Held den ersehnten Kuss der Rose, aber Jalousie – »Eifersucht« trennt die Liebenden wieder. Die 18.000 Verse des zweiten Teils des Rosenromans hat zwischen 1275 und 1280 Jean de Meung geschrieben und dabei die Prinzipien des ersten Teils umgedreht  : Die Liebe ist nicht mehr vom höfischen Sittenkodex bestimmt, sondern wird in ihrer Natur- und Instinkthaftigkeit dargestellt. Ohne Einfluss des »Rosenromans« findet die starke Präsenz von Allegorien im weltlichen und geistlichen Theater des Mittelalters keine zureichende Erklärung. Im Zuge der Moralitäten-Entwicklung im späten Mittelalter entstanden zahlreiche Dramen, in denen Tugenden und Laster als Personen auftraten. Ein Höhepunkt war der reiche »Everyman« – »Jedermann«, der im Hinblick auf seine Sterblichkeit allegorisch aber für alle Menschen steht. Freunde und Reichtum ver-

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lassen Jedermann bei seinem Sterben, nur der Glaube und die guten Werke begleiten ihn vor Gottes Richterstuhl. Ein berühmtes Beispiel für eine Allegorie, die heute noch Bedeutung hat, ist die amerikanische Freiheitsstatue. Dieses weibliche Standbild mit Fackel personifiziert die Freiheit. Anders die französische Marianne  : Ursprünglich eine linksextreme Geheimgesellschaft im Frankreich der Restauration und des Bürgerkönigtums und später Symbolfigur der französischen Revolutionsfreiheit symbolisiert sie heute das Land Frankreich. Beispiele für einen Rückgriff auf Tierallegorien zeigen Disney-Produktionen, z. B. »Der König der Löwen«. Gegenspieler sind die Hyänen. Von ihnen wird gesagt, dass sie schwankend im Glauben seien. Genau auf diese Allegorie wird auch im Film insistiert, wenn sich die Tiere von ihrem eigentlichen König abwenden und sich dem (bösen) Löwen Scar anschließen. Auch in Sprichwörtern findet man noch allegorische Darstellungsformen, z. B. »Ein Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht«. Auch heute werden noch als eine Art Nachhall der Allegorie Zeichen verwendet, um »einen tieferen Sinn« auszudrücken. So wird z. B. in Hochzeitsbildern ab und zu ein Hund in das Bild mit hinein genommen, mit dem das Brautpaar aber seine Tierliebe signalisieren will, weil es von der Allegorie der Treue nichts mehr weiß, die durch das Hündchen im »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck repräsentiert ist. Jedenfalls war jedes Detail des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« für einen gebildeten Betrachter des Spätmittelalters eindeutig lesbar, denn die Symbole, die Jan van Eyck verwendet, sind Allegorien und klar definiert, und ebenfalls ihre Kombination  : Die Früchte auf der Fensterbank und der Kommode sind Symbol für paradiesische Unschuld und der Spiegel im Hintergrund, der von zehn kleinen Passionsszenen eingerahmt ist, repräsentiert die Jungfräulichkeit Mariens, die in der mittelalterlichen Marienliteratur oft speculum sine macula –

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»Spiegel ohne Makel« genannt wird, was immer dies in der Bildkomposition bedeuten mag. Was die Anordnung der Zeichen durch Jan van Eyck – ebenfalls in bester allegorischer Tradition – betrifft, macht er z. B. mithilfe der Stellung der Schuhe besondere Aussagen  : Links unten im Bild sieht man Korkpantinen, Überzieher, wie man sie damals benutzte, wenn man die eigentlichen Schuhe auf der Straße nicht beschmutzen wollte. Bis ins 20. Jahrhundert war es üblich, bei Schlechtwetter sogenannte »Galoschen« aus Gummi über die »schönen« Schuhe zu ziehen und sie auf diese Weise sauber zu halten. Die Lage der Korkpantinen ordnen sie dem Mann zu. Besonders fällt auf, dass diese Pantinen nicht ganz zu sehen sind, sie sind gewissermaßen durch den linken Bildrand abgeschnitten, weisen also über das Bild hinaus. Denn, das ist wohl die Aussage  : Der Aktionsradius des Mannes ist nicht die häusliche Sphäre, sondern die (Geschäfts-)Welt draußen. Martin Burckhardt, dem ich hier in der Interpretation des Bildes folge, sieht aus seiner Kenntnis der spätmittelalterlichen Symbolik in den Korkpantinen zusätzlich ein Zitat aus der Bibel, nämlich die Aufforderung Gottes an Moses, vom Berg Sinai hinabzusteigen und das Zeltheiligtum einzurichten  : »eine Aufforderung, die, in mosaischer Nachfolge, sich auch der Ehemann Giovanni Arnolfini für die Einrichtung seines Hausstandes zu eigen machen soll.« (S. 110). Die Anordnung der Schuhe ist – so Burckhardt – geradezu eine Handlungsanweisung, vergleichbar mit den »Icons« heutiger Computerprogramme, die wie die mittelalterlichen Symbole eine fest umrissene Bedeutung haben. Den Korkpantinen des Mannes korrespondieren in diesem Sinne die Hausschühchen der Frau auf der Höhe des Bettes vor dem Spiegel  : »Stehen die Schuhe des Mannes so, dass sie der Form nach die Spitze eines Pfeils ergeben, Symbol des Angriffs und der Konzentration, so ist die Stellung der Schuhe der Frau leicht geöffnet, […] Chiffre der Empfänglichkeit […] – und tatsächlich geht der Blick von dort auf die Frau zurück, wird sichtbar, dass das über dem Bauch

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geraffte Kleid gleichsam eine Schwangerschaft verheißt.« Tatsächlich ist der Bausch in dieser Zeit auch Kleidermode. 3.2 Die Überwindung der Allegorie durch Jan van Eyck im »Hochzeitsbild«

Das Bild ist aber nicht nur eine gekonnte Kompilation von für den damaligen Betrachter lesbaren Allegorien, sondern auch das Ergebnis individuellen kreativen (Neu-)Gebrauchs dieser Zeichen durch Jan van Eyck. Eine der Besonderheiten des Malers Jan van Eyck ist nämlich, dass er alle diese Zeichen nicht mehr nur in der engen allegorischen Weise gebraucht, wo jedes Zeichen eine festumrissene Bedeutung hat, sondern bei ihm werden diese Zeichen geöffnet für eine freiere, vieldeutige Lesart, eben jene Lesart, die das Bild auch für die Studenten des Experiments im Wintersemester 1999/2000 lesbar gemacht hat. Denn, so schreibt Burckhardt wörtlich (S. 111), er »entreißt« sie gewissermaßen der »vollständigen Verfügungsgewalt der Befehlssprache des Heilsgeschehens« und privatisiert sie, sodass die modischen und kostbaren Kleider, Nerz und Hermelin, die Orangen auf der Fensterbank, der Spiegel und andere Details des Bildes Zeichen eines aus der Sicht der Allegorie alternativen »nicht offiziellen«, gewissermaßen »säkularisierten« Zeichensystems werden können  : wertvolle Gegenstände, die den Reichtum des Paares anzeigen und zur Selbstdarstellung und Selbstinszenierung eingesetzt werden können.

4. Jan van Eyck und die Selbstbezüglichkeit

Durch diesen Umgang mit Zeichen wird Jan van Eyck Vertreter und Bote eines neuen »Weltbildes«. Er ist der erste, der in seinen Bildern konsequent Phänomene nicht mehr nur symbolträchtig – allegorisch – platziert, sondern als seine Konnotationen, materiell wie sie ihm im Kontext seines Alltags begegnen. Damit öffnet er sich die Möglich-

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keit, den Dingen selber Bedeutung zu geben, sich selber zum Bezugsrahmen zu machen (oder auch seine Auftraggeber), das heißt, Bilder zu malen, in denen er Gegenstände in Bezug auf sich selber als van Eyck mit Bedeutung versieht. Damit wird das erste Mal in der Malerei überhaupt bewusst gemacht, dass Dinge unterschiedliche Bedeutungen haben können und damit unterschiedliche Deutungen erlauben und dass dadurch Wahrnehmung und deren Vermittlung so schwierig und unverlässlich werden kann. Der Begriff, der diesen Vorgang auf individueller Ebene beschreibt, heißt Selbstbezüglichkeit und ist inzwischen eine zentrale Kategorie der Semiotik, die theoretisch das erste Mal im Kommunikationsmodell des Wiener Psychologen Karl Bühler zu einem tragenden Element wird. Bühler hat 1934 in seinem Werk Sprachtheorie, ausgehend von der Auffassung, dass die Sprache ein System von Zeichen sei, die Beziehungen dieser Zeichen beschrieben, und zwar zu den Gegenständen, die sie bezeichnen, zum Sprecher, der sie benützt, und zum Hörer, der sie wahrnimmt  : Danach ist das sprachliche Zeichen im Hinblick auf den Gegenstand oder Sachverhalt – das Phänomen, auf das es sich bezieht – dessen Symbol. Im Hinblick auf den Sprecher, der es verwendet, ist es Ausdruck von dessen Denken, Wollen oder Fühlen und damit Symptom, und im Hinblick auf den Hörer ist es ein Signal, das eine Reaktion hervorruft. Es ist klar, dass diese Bereiche zueinander in komplexen, beschreibbaren Beziehungen stehen, aber es ist genauso klar, dass diese Beziehungen nicht starr sind. Und deshalb kann der, welcher die Zeichen (für die Vermittlung wie für die Deutung einer ihm wichtigen Botschaft oder für seine Selbstinszenierung) verwendet, zwischen diesen Zeichen in bestimmter Weise Beziehungen inszenieren und so Gegenständen und Sachverhalten eine ganz bestimmte Bedeutung geben und sie so konnotieren, wie es der Sache, die er vermitteln will, dienlich ist oder wie er es vor dem Hintergrund seines eigenen Weltbildes

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für seine Wahrnehmung für richtig hält – mit dem Ergebnis, dass er dadurch gezielt ganz bestimmte Signale erzeugen und damit den Gegenständen und Sachverhalten, die selber ja vieldeutig sind, durch seine Inszenierung eine ganz bestimmte Deutung geben kann. Was Bühler über sprachliche Zeichen sagt, kann in seiner Gültigkeit auf alle Zeichen ausgedehnt werden, und das ist unter der Selbstbezüglichkeit des Vermittlers – des Malers oder auch des Redners (wenn man von »Bildrhetorik« spricht) – aber auch des Rezipienten zu verstehen, dass er selber – in seiner jeweils aktuellen Selbstinszenierung – das Maß der Deutung seines Bildes oder seiner Aussage ist, wie am Beispiel der unterschiedlichen Deutungen des »Bildes des Giovanni Arnolfini und der Giovanna Cenami« durch studentische wie kunstwissenschaftlich hochqualifizierte Betrachter erläutert wurde. Stichwort konnotieren  : Mit dem Begriff »Konnotation« (zu lat. Con  – »mit« und notatio – »Bezeichnung«) wird die mit einem Zeichen verknüpfte subjektive, emotionale oder assoziative »Begleitvorstellung« bezeichnet. Beim Vermitteln sind stets diese Begleitvorstellungen für das Verständnis richtungweisend, weil sie das Ergebnis von Erfahrung sind. Aus all dem wird klar, dass van Eycks Bild keinesfalls eine physiologische Wahrnehmung im Sinne von »etwas sehen und hören«, so wie man landläufig »wahrnehmen« versteht, wiedergibt, sondern Wahrnehmen und Deuten verschmelzen in einem komplexen Beziehungsgeflecht zu einem einzigen Vorgang.

5. Der Vermittlungsprozess als »Selbstinszenierung« des Vermittlers

Schon der Begriff Selbstbezüglichkeit, der in der Rhetoriktheorie, vor allem von Joachim Knape, besonders ausgearbeitet wurde, macht offenkundig, dass jeder seine Sicht, seine Deutung, seine Bewertung der Phänomene, die er wahrnimmt, sich zu vermitteln bemüht. Ein zentra-

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les Element des Vermittlungsprozesses ist also nicht nur die beschriebene »selbstbezügliche« semiotische Inszenierung der »Botschaft«, sondern – fast mehr noch – die Selbstinszenierung bzw. Selbstdarstellung des Vermittlers, weil er ja mit seiner Person für die Botschaft steht, und sich daher zwangsläufig selbst zum Bezug haben muss. Im Beispiel des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« sind die Vermittler sowohl das abgebildete Paar als auch der Maler Jan van Eyck  : Das abgebildete Paar inszeniert – möglicherweise mit den beschriebenen Mitteln (Hund, Früchte usw.) – seine Auffassung von Ehe und Familie und benützt die Gelegenheit gleich auch, um seine gesellschaftliche Position deutlich zu machen (Selbstimage). Indem der Maler Jan van Eyck dieses Selbstverständnis der Porträtierten im Bild – jedenfalls mit den genannten Mitteln Hund, Früchte usw. – positiv ausdeutet, stimmt er dieser Selbstdarstellung als Botschaft faktisch zu (Fremdimage).

6. Exkurs zur Selbstinszenierung: »Impression Management«

Das Phänomen, dass sich Personen – wie das Paar im Bild von Jan van Eyck – bemühen, »Eindruck« auf andere zu machen und diesen Eindruck zu kontrollieren und zu steuern, hat in jüngster Zeit im Hinblick auf die Entwicklung von Techniken zur Selbstinszenierung großes Interesse gefunden und unter dem Namen »Impression Management«, aber auch »Image Control«, »Self Presentation« und »Self Promotion«, z. B. durch Barry R. Schlenker, M. Leary und Michael Weißhaupt, in die Literatur Eingang gefunden. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf dem Verstehen der Prozesse, sondern auf der Identifikation und Beschreibung von Verhaltensweisen, mit welchen eine beliebige Person andere Menschen geradezu mit mechanistischdeterministischer Verlässlichkeit beeindrucken könne, was alle diese Publikationen eher in die Reihe von »Verhaltens-Handbüchern« stellt

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als in die erkenntnisorientierter wissenschaftlicher Untersuchungen. Aber »Image Control« ist inzwischen eine so starke Denkgewohnheit, ein so starkes Wahrnehmungsmodell der Multioptions- und Eventgesellschaft geworden und bestimmt alle Medienbereiche, dass es notwendig ist, dieses Konzept, so oberflächlich und bisweilen sogar unmoralisch es auch sein mag, in einem Konzept für eine Medientheorie wenigstens zu referieren. Bei der Selbstinszenierung im Verständnis des »Impression Management« betreibe die Person jedenfalls »Eigenwerbung« mit dem Ziel, die eigenen Stärken hervorzukehren und sich selbst gegenüber anderen mit positiven Eigenschaften darzustellen. Um das erfolgreich machen zu können, verfüge die Person über ein Repertoire von aufeinander abgestimmten Zeichen, über ein »Zeichensystem« also, welches sie gezielt zu verwenden in der Lage sein müsse, um ihr Ziel zu erreichen, und die einschlägigen Publikationen des »Impression Management« beschäftigen sich ausschließlich mit den Zeichen dieses Zeichensystems. Dieses Zeichensystem beinhaltet nach der Systematik von Michael Weißhaupt äußere Merkmale (Aussehen, Kleidung, Marken …), verbale Äußerungen (Stimme, Vokabular …) und nonverbales Verhalten (Gestik, Mimik, Augenkontakt, Körperhaltung …), die so beschaffen sein müssen, dass sie von den Mitgliedern jener gesellschaftlichen Fragmente, bei denen die Person Eindruck machen will, erwartungsgemäß gedeutet werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Zeichenbenutzer die »Bedeutungen« der von ihm verwendeten Zeichen oder die mit den Zeichen verbundenen Vorurteile und Konnotationen mit den Mitgliedern dieses Fragments, bei denen er Eindruck machen will, teilt. 6.1 Kleider, Marken, Image

Nach der »Impression-Management-Theorie« bestimmt die Kleidung den gesellschaftlichen Status des Individuums. Eine große Rolle spie-

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len dabei die Marken als semiotische Elemente mit definierter Bedeutung. Unter Marken, Markenartikel oder Markenwaren versteht man standardisierbare Erzeugnisse für den differenzierten Massenbedarf, die unter bestimmten Marken vertrieben werden, um ihre Herkunft von einem bestimmten Hersteller oder einem Handelsbetrieb zu kennzeichnen und dem Käufer gegenüber für gleich bleibende Ausstattung und Aufmachung sowie verlässliche Qualität zu bürgen. Marken sind das Ergebnis einer entsprechenden Markenpolitik, die mit dem Ziel betrieben wird, Bekanntheitsgrad und Marktgeltung zu erreichen, sowie die Marke als Träger eines bestimmten »Image« zu etablieren. »Image« (zu lat. imago – »Bild, Abbild, Vorstellung«) meint dabei ein gefühlsbetontes, möglichst fixiertes Vorstellungsbild, mit dessen Hilfe die soziale Orientierung unterstützt wird, auch wenn dadurch die kritische Wahrnehmung und Bewertung erschwert wird, es hat also die gleiche Funktion wie ein Vorurteil. Die Präferenz für bestimmte Imageobjekte ergibt sich nach der Theorie aus deren Identifikationspotenzial, d. h. aus der Übereinstimmung des idealen Selbstimages und des Fremdimages. Daraus resultiert die große Bedeutung von Produkt- und Firmenimage im Rahmen des Marketings und besonders der Werbung, mit deren Hilfe Images gezielt gestaltet und profiliert werden. Von besonderer Bedeutung wurden Begriff und Sache als Teil der Verkaufsstrategie für das für die Öffentlichkeit aufgebaute Persönlichkeitsbild eines Stars, das Eigenschaften ganz verschiedener Art umfassen kann. Zwischen 1910 und 1920 entdeckten die in Hollywood ums Überleben kämpfenden kleineren Filmstudios, dass ein einmal erfolgreich gewesener Filmschauspieler auch Nachfolgeproduktionen kommerziell mitziehen kann, sofern ein attraktives und einprägsames öffentliches Erscheinungsbild von ihm aufgebaut wird. Es entstand die Image Promoted Publicity – die »auf das Image orientierte Öffentlichkeitsarbeit«, welche die Schauspieler mit Exklusiv-Verträgen nicht

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nur auf die Darstellung einer bestimmten Filmrolle, sondern auch auf ein bestimmtes öffentliches Erscheinungsbild festlegte, die durch passende Storys in einschlägigen Zeitschriften und oft auch über Beinamen transportiert werden, die den kommerziellen Stellenwert der Person signalisieren sollen (»King of …«, »Superstar«). Entscheidend für das Image ist dabei nicht, inwieweit es tatsächlich der Persönlichkeit seines Trägers entspricht, sondern nur, dass es glaubwürdig wirkt, einprägsam, in sich widerspruchsfrei und dauerhaft ist und von der anvisierten Zielgruppe auch angenommen wird. Dafür ist inzwischen eine ganze Imageindustrie entstanden, die Fotowerbung, Posterdrucke, Film, Presse, Rundfunk und Fernsehen umfasst. Für seine Träger kann das Image mit geradezu persönlichkeitszerstörerischen Konsequenzen verbunden sein, denn ist es erst einmal aufgebaut, muss den daraus hervorgehenden Erwartungen auch entsprochen werden. Je größer das geschürte öffentliche Interesse ist, umso mehr werden die Betroffenen zu Gefangenen ihres Images, was bis zur generalstabsmäßigen Abschirmung von der Öffentlichkeit gehen kann. Die Folge sind nicht selten psychische Deformationen, völlige Vereinsamung, Alkohol und Rauschmittelmissbrauch bis zum mehr oder weniger freiwilligen Frühtod, den zum Beispiel der geniale Gitarrist Jimi Hendrix starb. Dementsprechend tragen Marken mit ihrem »Image« im Sinne von »Vorurteilen« wesentlich zur Bildung des Eindrucks und damit zur Selbstinszenierung bei. Manche Marken sind so erfolgreich, dass sie mittlerweile ein ganzes Konzept der Lebensweise um sich entwickelt haben. Vor allem die Konnotationen, die man mit Marken verbindet, sind identifizierbare Tools des »Impression Managements«, haben Conrad Seidl und Werner Beutelmeyer gezeigt. Auf das Bild Jan van Eycks angewendet, zeigt die Kleidung, dass es sich um ein wohlhabendes Paar mit einer dementsprechend hohen sozialen Position in der Gesellschaft handelt  : Die Braut trägt ein mit Hermelin besetztes Obergewand, der Bräutigam einen vornehmen

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Samtumhang. Wiewohl beides keine »Marken« im heutigen Sinne sind, waren sie zur Zeit van Eycks wegen ihres Wertes »hochwohlgeborenen« Trägern vorbehalten. 6.2 Körpersprache

Die Bedeutung der Zeichen der Körpersprache als Ausdruck von Gefühlen wird vor allem von den Experten der »Ausdruckspsychologie« untersucht. Das ist ein manchmal auch »Ausdruckskunde« genannter Zweig der Psychologie, der versucht, die Beziehung zwischen Ausdruck und Eindruck systematisch zu klären. Ihr populärster Vertreter ist Samy Molcho. Nach der Ausdruckspsychologie haben die meisten Zeichen der Körpersprache für sich genommen keine feste Bedeutung  ; einzelnen Ausdrucksformen der Körpersprache ließen sich nur selten eindeutig bestimmte Gefühlszustände zuordnen. Ein zuverlässiges Gesamtbild ergebe erst das Zusammenwirken mehrerer Zeichen, wobei überdies die jeweilige Situation zu berücksichtigen sei. Dessen ungeachtet reflektieren die Elemente der Körpersprache Gestik, Mimik, Blickkontakt und Körperhaltung nach »Impression Management« das Wesen eines Menschen nahezu vollständig. Sie werden als Auslöser dafür verstanden, ob jemand als sympathisch oder als drohend empfunden werde. Es dominiert die psychologische Auffassung, dass durch Körpersprache – sie wird auch als nonverbale Kommunikation bezeichnet – in erster Linie die Gefühle des Vermittlers ausgedrückt und dem Empfänger Botschaften auf der Beziehungsebene mitgeteilt werden. Körpersprache werde zwar größtenteils unbewusst verwendet und verstanden, aber sie bestimme zu einem Großteil das Gesamtbild, das Menschen von sich vermitteln. Im Gespräch werde über die Körpersprache signalisiert, in welchem Verhältnis der Vermittler zu seiner Botschaft stehe, und des-

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halb komme den sogenannten nonverbalen Äußerungen fast immer ein größeres Gewicht zu als der Wortsprache, was vor allem bei sogenannten »Kanaldiskrepanzen« deutlich werde, wenn der Inhalt dessen, was gesagt werde, und die nonverbale Mitteilung in Widerspruch stünden, etwa ein lächelnd gesprochenes »Du verhältst dich wie ein Schwein«. Der Psychotherapeut Paul Watzlawick hat für solcherart Diskrepanzen den Begriff »Doppelbindung« – Doublebind – geprägt. In diesem Sinne wird gemeinhin von einer aufrechten Körperhaltung auf eine aufrechte Gesinnung geschlossen, von einer offenen Körperhaltung auf eine offene Geisteshaltung. Ein nach vorn geneigter Körper, hängende Schultern und ein auf den Boden gehefteter Blick sollen Unsicherheit, Verschlossenheit oder Niedergeschlagenheit verraten. Ein nach hinten geneigter Körper, eine geschwellte Brust und ein über andere Menschen hinweg gleitender Blick hingegen signalisierten Selbstherrlichkeit oder Überheblichkeit. Eine offene Haltung im Bereich von Hals, Brust und Bauch zeige Selbstsicherheit, Offenheit oder Zuwendung. Vor dem Oberkörper verschränkte Arme hingegen könnten als Zeichen von Unsicherheit, Verschlossenheit oder Ablehnung gedeutet werden. Gehobene Schultern seien oft ein Ausdruck von Furcht oder Anspannung, gebeugte Schultern von einer empfundenen Last oder schweren Verantwortung. Die Körperhaltung wird auch im Zusammenhang mit dem sozialen Rang gesehen. Im Allgemeinen sei ein höherer Rang auch mit einer größeren Selbstsicherheit und Offenheit verbunden, die in der entsprechenden Körperhaltung ihren Ausdruck finde. Auch aus dem Gang eines Menschen wird oft auf seine Wesensart oder wenigstens auf seine Gemütsverfassung geschlossen. So spreche ein zügiger, zielstrebiger Gang mit ausgeprägten Pendelbewegungen der Arme für Selbstsicherheit und Entschlossenheit, ein eckiger Gang, ein erhobenes Kinn und übertriebene Pendelbewegungen der Arme für Selbstherrlichkeit oder Überheblichkeit. Langsames Gehen, ein

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gesenkter Kopf und hinter dem Rücken verschränkte Arme sollen angestrengtes Nachdenken zeigen. Viele bildliche Redewendungen schließen von der Körperhaltung auf die Geisteshaltung oder den Gefühlszustand eines Menschen. So bedeuten die Redewendungen »mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen« – »einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn haben«, »die Nase hoch tragen« – »eingebildet sein«, »den Rücken krumm machen« – »unterwürfig sein«, »den Kopf hängen lassen« – »mutlos sein«, »erhobenen Hauptes« – »voller Stolz«. 6.2.1 Gestik

Ein weiterer wichtiger Teilbereich der Körpersprache für »Impression Management« ist die »Gestik«. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen gestus, was ursprünglich das Gebärdenspiel des Schauspielers oder Redners bezeichnete. Gesten bestehen vor allem in Arm- und Handbewegungen, in Kopf- und Rumpfbewegungen, die das Sprechen begleiten oder ersetzen oder Gefühle ausdrücken. Es wird angenommen, dass die meisten Gesten nicht angeboren seien, sondern, weil kulturell bedingt, erworben würden. Ein Großteil der Gesten diene, meist unwillkürlich, zur Unterstützung des Gesagten. Je stärker dabei die Gefühle des Sprechers beteiligt seien, umso lebendiger werde die Gestik. Deshalb lasse sich anhand der Gestik oft abschätzen, wie ernst es der Sprecher meine, zumal wenn er über Dinge rede, die eigentlich seine Gefühle berühren müssten. In jedem Fall erwecke ein Sprecher beim Hörer Misstrauen, wenn seine Worte und seine Gesten nicht übereinstimmten. Ein Teil der Gesten diene zur konkreten Veranschaulichung des Gesagten oder zur direkten Verweisung auf einen Gegenstand. So kann die Größe oder die Form eines Gegenstandes mit den Händen angedeutet werden oder mit dem Zeigefinger auf einen Gegenstand hingewiesen werden.

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Der Fachausdruck dafür ist Deixis, zu griech. deiknýnnai – »zeigen«, »auf etwas hinweisen«  : In der Sprachwissenschaft werden damit Ausdrücke bezeichnet, die im Rahmen einer bestimmten Sprech- und Handlungssituation auf Personen (»ich«, »du«), Gegenstände (»dieser«, »jener«), Raum (»hier«, »dort«) und Zeit (»jetzt«, »damals«, »einst«) hinweisen. Nach der Wortart sind sie entweder Pronomina oder Adverbialausdrücke. Neben Gesten, in denen Gefühle oder Affekte unmittelbar zum Ausdruck kämen, wie das Hochwerfen der Arme aus Freude oder das Ballen der Faust als Aggressionssignal, gebe es viele Gesten, die sich als unbewusstes Anzeichen eines Gefühlszustands deuten ließen, wie das Reiben an der Nase oder das Kratzen am Kopf als Anzeichen von Verlegenheit oder Ratlosigkeit. Das beiläufige Spielen der Finger mit greifbaren Gegenständen wie Schreibgeräten könne ein Symptom von Unkonzentriertheit oder Nervosität sein, das unbeabsichtigte Umklammern von Gegenständen mit den Händen ein Symptom von unterdrücktem Ärger oder krampfhafter Selbstbeherrschung. Das ständige Streicheln des eigenen Körpers oder eines weichen Gegenstandes signalisiere geistige Abwesenheit oder auch Einsamkeit. 6.2.2 Mimik

Die stärkste Zeichenkraft hat im »Impression Management« die Mimik, die Gesamtheit der Gesichtszüge und -bewegungen des Menschen. Der Begriff »Mimik« kommt von griech. mimos – »Schauspieler, Gaukler«, das ursprünglich das künstliche Gebärden- und Mienenspiel des Schauspielers bezeichnete. Da bei der direkten Kommunikation in erster Linie das Gesicht dem Blick des Kommunikationspartners ausgesetzt sei, unterliege die Mimik in hohem Maße der Selbstkontrolle, was ihre ursprüngliche Ausdruckskraft verringere. Manche mimische Äußerungen seien allerdings psychosomatische Reaktionen des Nervensystems und des-

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halb nicht kontrollierbar  : Dazu gehörten das Erröten, das ­Erblassen und das Erweitern der Pupillen bei starken Gefühlserregungen. Grund­gefühle wie Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung und Ekel kämen jedenfalls in allen Kulturen, zeigen Studien des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt, durch die gleichen mimischen Äußerungen zum Ausdruck. Daraus ließe sich schließen, dass sie angeboren seien. Die Mimik des Vermittlers verrate daher dem Empfänger am meisten über dessen gefühlsmäßige Einstellung zum Inhalt der Nachricht und gegenüber ihm selbst und umgekehrt  : Die Mimik des Empfängers gebe dem Vermittler sofort ein Feedback, das ihm anzeige, ob seine Botschaft und er als Vermittler beim Empfänger ankämen und wie sie von ihm aufgenommen werden. So erwecke ein gekünsteltes Lächeln Misstrauen  ; ein unbewegter, bemüht gleichgültiger Gesichtsausdruck, ein offenkundiges Pokerface, ermahne zur Vorsicht. Wenn der Hörer seine Stirn runzle oder seine Augenbrauen hochziehe, signalisiere er Unverständnis, Zweifel oder Misstrauen  ; wenn er seine Nase rümpfe, Ablehnung. 6.3 Sprachliche Äußerungen

Auch der Duktus sprachlicher Äußerungen bestimmt die Position einer Person in der Gesellschaft wesentlich mit, darauf sei der Vollständigkeit halber hingewiesen  : Die meisten Menschen schließen von der Verwendung von sogenannter Umgangssprache auf niedrige Ausbildung und niedrige Sozialschicht, »kultiviertes Sprechen« hingegen beweise Bildung, die zumeist mit Wohlhabenheit in Zusammenhang gedacht wird. In England ist die Rolle der Sprache im bürgerlichen Umfeld für die gesellschaftliche Positionierung einer Person literarisch belegt  : Bernard Shaw’s Pygmalion, der in der Musical-Fassung My fair Lady populär wurde, legt ein gesellschaftliches Bewertungssystem offen, das Menschen, die »Cockney« sprechen, die Sprache der

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Arbeiterschicht, verachtet – sich aber auch schnell gegen ihre Urheber wenden kann. 6.4 Klassifikation von zwei Menschentypen

Die Vertreter von »Impression Management« klassifizieren die Menschen in zwei Gruppen  : Assertiv – »durchsetzungsbereit« werden jene genannt, die positive Reputation erwerben und einen positiven Eindruck hinterlassen wollen und Attraktivität, Status, Prestige und Kompetenz signalisieren. Defensiv – »verteidigend« hingegen sind nach »Impression Management« jene, die ihre Identität zu schützen versuchten und zu Self-handicapping-strategies neigten. So würde die Körperhaltung des Paares im »Hochzeitsbild« von Jan van Eyck von den Mitgliedern des gesellschaftlichen Fragments, das die Repräsentanten des »Impression Management« im Blick haben, als »vertrauensübermittelnd« erklärt werden. Die Argumente  : das zärtliche Händehalten einerseits, andererseits die Haltung der Frau, die durch ihren gesenkten Blick den Eindruck vermittle, zurückhaltend und schüchtern zu sein. Dies verweise auf jene »defensive« Verhaltensweise, wie sie von einer jungfräulichen Verlobten oder Braut, aber auch einer züchtigen Gattin erwartet werde. Im Gegensatz dazu wirke der Mann durch seine aufrechte und zum Betrachter gewandte Haltung »assertiv«. Das Modell des »Impression Management« benutzt also den Umstand, dass bestimmte Eigenschaften von Menschen klischeehaft bestimmten Zeichen – Aussehenstypen, Verhaltens- und Sprechweisen  – zugeordnet werden, um daraus Modelle erfolgreicher Selbstdarstellung abzuleiten und praktisch verfügbar zu machen. Denn die Zeichen seien es, die bei einer Begegnung wahrgenommen werden und nach denen sich eine Person von einer anderen einen Eindruck mache, vor allem wenn sie diese Person noch nicht kenne. Dabei gilt nach dem »Impression Management«  : Nur bekannte Zeichen führten zu einer vom »Träger« oder »Sender« erwünschten

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Deutung. Die »fremden« Zeichen, für welche man keine »passende« Interpretation finde, würden vom Betrachter bei der Bildung des ersten Eindrucks entweder nicht berücksichtigt oder mit eigenen Konnotationen versehen  : So dürfte z. B. ein »Rotary«-Anstecker nur bei einem Menschen Vertrauen erwecken, das heißt, zur Eindrucksbildung »Positives« beitragen, wenn dieser den Anstecker erkenne und bereits eine positive Meinung von Rotary habe. Für Menschen, die das Zeichen nicht kennen, sei es entweder »unentzifferbar« oder mag als Zeichen von Eitelkeit gedeutet werden. In manchen Fällen könnten »undechiffrierbare« Zeichen sogar zu einer »Beängstigung« des Gegenübers führen. Menschen sind jedenfalls immer gleichzeitig Wahrnehmer und Darsteller in der sozialen Umwelt. Jeder versucht über Zeichen bestimmte »Botschaften« an die Umwelt zu vermitteln und sich dadurch ein »Image« zu schaffen, so wie er gesehen werden will, aber er nimmt auch die »Botschaften« von anderen Personen wahr und baut sie – lernend –, wenn sie sich nach der persönlichen Erfahrung positiv auf das Image auswirken, in sein Selbstdarstellungsmodell ein.

7. Der Vermittlungsprozess als »Selbstinszenierung« des

Vermittlers – Fortsetzung

Im konkreten Fall des sogenannten »Hochzeitsbildes« von Jan van Eyck geschieht aber noch viel mehr, als dass ein Paar seine Auffassung von Ehe und Familie inszeniert und seine gesellschaftliche Position darstellt und ein Maler dieses Selbstverständnis der Porträtierten im Bild positiv ausdeutet  : Denn Jan van Eyck macht sich – als erster »Vermittler« der Geschichte – bewusst selber zum Teil dieser Inszenierung, was bei ihm deshalb von solch besonderer Bedeutung ist, da seine Bilder im Allgemeinen und das sogenannte »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« im Besonderen den Beginn einer neuen Darstel-

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lungsform in der Porträtkunst markieren und damit eine neue Sicht der Persönlichkeit überhaupt. Das Kapitel, in dem Martin Burckhardt dieses Bild als historische Wendemarke für die Wahrnehmung der Zeit beschreibt, heißt »Das Bild und der Spiegel«, denn er deutet das Bild für die Geschichte der Wahrnehmung mit intellektueller Schärfe von dem Spiegel im Hintergrund des Bildes und einer unscheinbaren Inschrift aus, die über dem Spiegel zu lesen ist, in dem die Selbstinszenierung van Eycks ihren besonderen Ausdruck finde  : Man kann das Paar sehen, der Stellung entsprechend rücklings, das Bett, den Kronleuchter, das Fenster und dann in der Mitte des Spiegels zwei Männer, die im Bildraum selbst nicht zu sehen sind, weil sie sich diesseits der Bildgrenze befinden, also dort, wo auch der Betrachter steht. Nach Burckhardt ist einer der beiden van Eyck. Danach würde der Betrachter am gleichen Platz stehen wie Jan van Eyck, als er das Bild malte, und das Ereignis aus der gleichen Perspektive sehen wie van Eyck. Aber das wichtigste Merkmal sei, so Burckhardt, deutlich im Zentrum des Bildes die Inschrift  : »Johannes de Eyck fuit hic.« – »Jan van Eyck war hier.« Diese Inschrift sei gewissermaßen der erste Beleg für die in der Form »Kilroy was here« prominenteste Unart, seine Anwesenheit durch Ritzungen oder Graffiti an diversen Orten zu verewigen. Dazu, so wie auch bei Ritzungen, die Jahreszahl  : 1434  ; damit ist das Bild eines der ersten datierten Bilder der Malerei überhaupt. Diese Inschrift erläutere in einer Art Bildunterschrift in der Interpretation Burckhardts die Darstellung des Spiegelbildes und stelle damit den Maler selber in den Mittelpunkt. Stefan Kemperdick hingegen hält sich nur an die Bildtafel selbst und verweist vor diesem Hintergrund darauf, dass die Inschrift »Johannes de eyck fuit hic. 1434.« in der Bildmitte mitnichten wie von selbst Bezug auf die beiden winzigen Gestalten im Spiegelbild nehmen müsse. Ohne die vorausgesetzte Annahme – so Kemperdick –, hier sei ein Arnolfini dargestellt, würde man die Inschrift wohl ein-

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fach auf den groß dargestellten Mann beziehen, neben dessen Kopf sie steht  : »Johannes de Eyck war dieser (der hier dargestellt ist)«, und damit ein starkes Argument haben, dass sich in diesem Bild Jan van Eyck mit seiner Frau ein Denkmal gesetzt hat. Die Frage ist, was hinter dieser doch recht gezielt gesetzt wirkenden Aktion – der Inschrift »Johannes de Eyck fuit hic.« mit Jahresangabe und einem Portrait van Eycks (gleichgültig ob im Spiegel oder als im Bild selbst Dargestellter) – steht. Die Antwort Martin Burckhardts auf diese Frage erscheint plausibel  : In der Jahreszahl sieht er den Ausdruck einer Ahnung des Menschen (Burckhardt sagt »Wissen«), dass er nicht an diesen Ort zurückkehren werde, oder, wenn er es doch tue, zumindest nicht als derselbe, der er in diesem hic et nunc – »Hier und Jetzt« sei  ; und das sei auch der Grund dafür, dass der Zeitpunkt bei solcherart Verewigungen, ob Bild oder Graffiti, fast immer exakt angegeben sei. In der Zeitangabe dokumentiere sich also in einer der frühesten Formen das Bedürfnis, einen Zeitpunkt zu fixieren, gewissermaßen einen Augenblick im Fluss der Zeiten festzuhalten, und das erlaube im Vergleich mit den üblichen bildlichen Darstellungsweisen, wie sie bis dahin geschahen, Rückschlüsse auf ein gegenüber früheren Zeiten gewandeltes Zeitempfinden, ein verändertes Weltbild, das van Eyck vertrete und in diesem Bild als wesentlichen Teil seiner Persönlichkeit inszeniere und offen lege. Dieses gewandelte Weltbild soll im Folgenden in einem Exkurs am Beispiel des Palazzo Rucellai in Florenz erläutert werden.

8. Exkurs: Der Palazzo Rucellai als Fallbeispiel für die Entdeckung der Zeit

In Florenz in der Via della Vigna Nuova, nahe dem Arno ziemlich genau zwischen den beiden Brücken Ponte alla Carrara und Ponte Santa Trinita in Richtung Dom, steht ein Gebäude von schlichter Eleganz  :

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der Palazzo Rucellai. Seine dreigeschossige Fassade ist durch Pilaster gegliedert, die von Geschoss zu Geschoss variieren, vergleichbar den Vorblendungen des Kolosseums. Diese Pilaster haben weder beim Kolosseum noch beim Palazzo Rucellai eine tragende, sondern lediglich eine gliedernde, eine ästhetische Funktion. Anders als beim Palazzo Vecchio und beim Medici‑Palast, wo die Bogenpaare der Fenster wie in der Gotik auf Säulchen ruhen, lagert bei den Fenstern des Palazzo Rucellai über den Säulchen ein Gebälkstück, auf dem die Bögen aufliegen, so wie bei den Bauten der Antike, für die ebenfalls galt, dass die Bögen nicht auf Säulen aufliegen durften. Das Erdgeschoss des Palazzo schließlich zeigt Kreuzschraffuren, die das altrömische opus reticulatum nachahmen. Bei dieser römischen Mauertechnik werden die prismenförmigen Steine der Außenschale so verlegt, dass ein regelmäßiges Rautenmuster entsteht. Diese Mauertechnik ist erstmals am Pompeiustheater in Rom (55 v. Chr.) belegt. Mit diesem Palazzo Rucellai in Florenz setzte im Jahr 1450 der 1404 in Venedig geborene und 1472 in Rom verstorbene Philologe, Rechtsgelehrte und Künstler Leone Battista Alberti das erste Mal eine Aussage in der Architektur um – so wie van Eyck in der Malerei – und machte sie damit für das Auge sichtbar, die im 12. Jahrhundert, also ein Vierteljahrtausend vorher, der scholastische Philosoph Bernhard von Chartres getan hatte  : »Wir sind auf den Schultern von Riesen hockende Zwerge«, hatte Bernhard von Chartres gesagt. »Wir sehen so mehr und weiter als sie, nicht weil unsere Sicht schärfer oder unser Wuchs höher ist, sondern weil sie uns in die Lüfte heben und um ihre ganze gigantische Größe erhöhen.« Der Palazzo Rucellai ist der erste architektonische Ausblick eines Zwerges von der Schulter eines Riesen im Sinne des Bernhard von Chartres  : der Ausblick des Zwerges Leone Battista Alberti, nachdem er die Schultern des Riesen antike römische Baukunst erklommen hatte. Auch die kunsthistorischen Verbindungen zwischen der Fassade des Palazzo Rucellai zur antiken römischen Architektur, speziell zum archäologischen Denkmal Ko-

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losseum, sind nicht die Frucht heutiger Interpretationskunst, sondern man kann sie in Albertis aus zehn Büchern bestehendem 1485 erschienenen Werk De re aedificatoria – »Über die Baukunst« nachlesen. Aber bei aller Abhängigkeit von den römischen Vorbildern  : Der Palazzo Rucellai ist trotzdem nicht im Geringsten eine Imitation eines antiken Baues. Er ist in seiner Art so neu und so selbstständig, dass er sogar eine neue kreative Stilepoche in der Architektur begründete  : die italienische Renaissance. Und genau so und nicht anders wollte Bernhard von Chartres seine Aussage vom »Zwerg, der auf der Schulter des Riesen hockt«, verstanden wissen  : Die Alten, welche die Intellektuellen des Mittelalters respektvoll als Vorbilder und Vordenker zu Rate zogen, sollten nicht einfach nachgeahmt werden. Sie sollten vielmehr benutzt werden, »um weiter vorzudringen, so wie die italienischen Schiffe das Meer benutzten, um an die orientalischen Quellen des Reichtums zu gelangen«, wie es der Historiker Jacques Le Goff, prominenter Mitbegründer der einflussreichen französischen geschichtswissenschaftlichen Bewegung der Annales, formuliert. Der Ausblick des Zwerges ist eben nicht der des Riesen, auf dessen Schulter er hockt, sondern der Zwerg sieht weiter, weil er sich ja auf des Riesen Schultern befindet und ihn deshalb um Haupteslänge überragt. Sowohl die Aussage des Bernhard von Chartres als auch deren Illustration, der Palazzo Rucellai in Florenz, sind die Quintessenz eines revolutionären neuen Weltbildes, das im hohen Mittelalter zugrunde gelegt bis heute die Substruktionen unseres Denkens bildet, und ohne die man nicht begreifen könnte, auf welche Weise wir heute die Welt mit und ohne Medien wahrnehmen. Im Hochmittelalter war nämlich die Geschichte stehen geblieben. Nach der auf antiken Quellen fußenden im 5. Jahrhundert verfassten Weltgeschichte Historiae adversum paganos – »Geschichte gegen die Heiden« des heiligen Orosius aus Braga in Portugal, die man als philosophisches Pendant zur theologischen Geschichtsdeutung der Civitas Dei – des »Gottesstaates« des heiligen Augustinus lesen muss,

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hatte die Geschichte mit der Geburt, dem Kreuzesopfer und der Auferstehung des Erlösers ihren Höhepunkt und ihren Abschluss erreicht. Diese Geschichtsauffassung galt, bestätigt durch die Erfahrung der ecclesia triumphans – der »triumphierenden Kirche«, der machtvollen Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden, das ganze Mittelalter hindurch, und der geschichtsphilosophierende Mönch Otto von Freising, Neffe Kaiser Barbarossas und später Bischof, fasste schließlich in seinem Geschichtswerk Chronica sive Historia de duabus civitatibus im 12. Jahrhundert die offizielle wissenschaftliche Position der mittelalterlichen Gelehrten folgendermaßen zusammen  : Die letzte Epoche der Geschichte, das imperium christianum – das »christliche Reich«, in dem sich geistliche und weltliche Gewalt endgültig zum »Gottesstaat« harmonisch verbinden, habe mit Kaiser Karl dem Großen begonnen, sei dann auf die deutschen Kaiser übergegangen und werde bald in das Weltende einmünden. Die Folge war, dass sowohl die Herrschenden als auch die Denkenden die Zeit schlichtweg ignorierten. Übrigens kein einmaliges Ereignis in der Geschichte  : Als der französische Historiker und Politiker François Pierre Guizot als Kabinettschef des »Bürgerkönigs« Louis Philippe 1847 den politischen Sieg der Bourgeoisie erreicht hatte, glaubte auch er am Ende der Geschichte angelangt zu sein  ; rund 70 Jahre später war für die Marxisten die »Diktatur des Proletariats« das Ende der Geschichte, und für viele ist offensichtlich mit der Verwirklichung der Demokratie »die Fülle der Zeiten« eingetreten, was den Verlust der historischen Dimension heute zum Teil erklären mag. Dieses alte Zeitempfinden historischer Zeitlosigkeit findet in der Malerei und ihrer Ästhetik, also ihrer Weltwahrnehmung, seinen unverkennbaren Ausdruck darin, dass in vielen Darstellungen weder bei den Accessoires noch beim Hintergrund Rücksicht auf die Zeit genommen wird. Ein Beispiel dafür ist das Bild »Der hl. Johannes in der Wüste« von Giovanni di Paolo aus der sogenannten »Schule von Siena«, das sich nun im Art Institut in der Sammlung Reynson in

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Chicago befindet  : Das Bild zeigt, wie der hl. Johannes – eine Person ohne individuelle Züge, aber mit der goldenen Gloriole als Heiliger gekennzeichnet (oft stand daher bei Heiligendarstellungen der Name in dieser Gloriole) seine Heimatstadt verlässt, und gleichzeitig, wie er schon fast in der Wüste ankommt, in einer Wüste, deren tatsächlicher Charakter den Maler offensichtlich keine Minute beschäftigt hat. Der Hintergrund ist vielmehr eine imaginäre Welt, bestenfalls verweisen die Palmenwälder als Zeichen auf einen fernen exotischen Ort, der aber gleichzeitig durch die Struktur der Felder am Rande einer Befestigungsanlage und durch das gotische Stadttor mit Zinnen Merkmale einer mittelalterlichen Landschaft zeigt, wie sie etwa für die Toskana des 15. Jahrhunderts typisch gewesen sein mag. Das Ereignis ist also so dargestellt, als ob es gleichzeitig gerade jetzt – zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes – oder irgendwann einmal geschehen würde, was nur dadurch erklärbar ist, dass es als Teil der göttlichen Heilsgeschichte über zeitlose Aktualität verfügt. Diese fehlende Zeitdimension erlaubte auch als einzige Möglichkeit, zeitliche Abläufe – hier den Aufbruch und die Ankunft in der Wüste – räumlich, innerhalb eines Bildes zu entfalten, was nach unserer heutigen Wahrnehmungsweise aber als Gleichzeitigkeit gelesen wird. Diese zeitlose Zeit des frühen Mittelalters und damit die Geschichte setzten die Intellektuellen des 12. Jahrhunderts, wie Bernhard von Chartres, wieder in Bewegung, indem sie in den sich bildenden Städten, in denen alles zirkulierte, sich alles bewegte, den Wandel wiederentdeckten  : veritas filia temporis – »Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit« ist ein anderer Ausspruch des Bernhard von Chartres. Und diese Zeit ist bis heute kein zweites Mal stehen geblieben, sondern läuft seither immer schneller, sodass sie schon ganz außer Atem ist. Wie im Falle des Leone Battista Alberti in der Architektur wird diese neue Weltsicht in der Malerei erst ein Vierteljahrtausend später nachvollzogen, konkret in den Portraits von Jan van Eyck, aber auch in kunsttheoretischen Schriften, zum Beispiel in der Person des

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Malers Gentile da Fabriano (1385–1487), der zwar in seiner Malerei noch sehr der alten Weise verhaftet blieb, aber ein Buch mit dem Titel Die Fehler der Maler schrieb. Von Gentile da Fabriano stammt das Bild »Die Anbetung der Heiligen Drei Könige«, das wie alle anderen Bilder Fabrianos zeigt, wie er sich damals aufgrund der Wiederentdeckung der Zeit und damit des Wandels um historische Genauigkeit zu bemühen begann, entsprechend seiner Kritik, die er in seinem Buch Die Fehler der Maler an den Berufskollegen übte  : »Der kluge Maler sollte wissen, wie man malt, was zu der Person, zur Zeit und zum Ort passt […]. Ist es nicht ein Fehler, den Heiligen Hieronymus mit einem roten Kardinalshut von heute zu malen  ? Er war zwar Kardinal, trug aber kein solches Kostüm, denn erst Papst Innozenz IV. hat mehr als siebenhundert Jahre später den Kardinälen ihre roten Hüte und roten Soutanen verliehen […]. All das kommt von der Unwissenheit der Maler.« Vor diesem Hintergrund wird die Fixierung des Zeitpunkts per Datum durch Jan van Eyck in seinen Bildern nicht nur erklärbar, sondern mehr noch Zeichen seines Weltbildes, das er in diesen Bildern inszeniert und damit sich selber  : Weil er – im Gegensatz zu den anderen Malern seiner Zeit – die Welt als eine sich im Fluss der Zeit verwandelnde wahrnimmt, ist die Abfolge der Bilder, in denen er sie wahrnimmt, das »Wann«, nicht mehr nebensächlich. Und an diesem Prinzip der Wahrnehmung hat sich bis heute nichts mehr geändert. Das sogenannte »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« hat, was van Eycks Bewusstsein dieses Wandels des Zeitempfindens betrifft, eine besondere Aussagekraft. Denn es gibt noch ein Element im Bild, durch das die alte Darstellungsform, wie sie davor üblich war, in der die Zeit abgeschlossen und in sich ruhend empfunden wurde, in die neue hineinreicht  : Im Rahmen des Spiegels werden im Uhrzeigersinn in einer Folge von ins Holz eingeschnittenen Einzelbildern die wesentlichen Episoden der Passionsgeschichte erzählt, die Geschichte des Heils, die durch das neue Zeitempfinden ja nicht an Gültigkeit

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verloren hat, sondern jetzt – in der Kontrastierung der alten durch die neue Darstellungsweise – noch stärker von van Eyck als zeitlose Wahrheit gekennzeichnet wird. Das Gewicht all dieser ins Bild gesetzten Aussagen des Malers Jan van Eyck legt nahe, dass es sich doch um ein Selbstbildnis handelt, dass also die Selbstinszenierung das gesamte Bild umfasst – nicht nur die Darstellungsweise, sondern auch die Dargestellten. Aber da muss man schon sehr viel wissen, um Jan van Eycks Bild so lesen zu können.

9. Vermittlung als »Zeugenschaft«

Für eine Theorie der Wahrnehmungs-Vermittlung ist eine weitere, freilich recht komplizierte, Überlegung Martin Burckhardts durchaus richtungweisend. Er stellt sie allerdings vor dem Hintergrund der Annahme an, dass es sich um das »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« handle und nicht um ein Selbstbildnis des Ehepaares van Eyck  : Burckhardt macht auf die – im Vergleich mit anderen Bildern van Eycks – Aussagekraft des Schriftzuges im Bild aufmerksam, die als Chiffre zu lesen sei. Es sei die verschnörkelte, kunstvolle Schrift, wie man sie in Dokumenten, Verträgen und Wechsel dieser Zeit finde, und die offensichtlich den Auftraggeber des Bildes, Giovanni Arnolfini, charakterisiere, sei er doch ein Banker, ein Finanzmann. Es sei nach Burckhardt dieser Schriftzug, »der die Transaktionen des Financiers verbürgt  : Signatur seiner Glaubwürdigkeit, und dem gemäß beruht der Funktionsmodus des von ihm gezeichneten Wechsels allein darauf, dass an einem anderen Finanzplatz ein Vertrauter, ein Handelspartner, diesen seinen Schriftzug wiedererkennt und die in der Note niedergelegte Summe Geldes ausbezahlt. Die Signatur des Kaufmanns, unter einen Kontrakt oder Wechsel gesetzt, ist der einzige Garant für den Tausch […] – und in diesem Sinn zieht sich hier das Gewicht seiner Existenz zusammen, kontrahiert es […] zur Verläßlichkeitschiffre

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[…].« Deshalb, so Burckhardt, finde sich auch kein Emblem im Raum, das auf eine berufliche Tätigkeit des abgebildeten Mannes verweise  ; es sei der Schriftzug der Signatur des Malers. Die Frage, die sich im Zusammenhang mit dieser Deutung sofort erhebt, ist  : Wenn dem so wäre, dann müsste da doch wohl der Namenszug des Giovanni Arnolfini verewigt sein mit diesem Schriftzug in irgendeiner Form und doch nicht der van Eycks, wie Stefan Kemperdick anmerkt. Nein, schreibt Burckhardt, muss nicht, kann auf keinen Fall, denn hier gehe es im Hinblick auf die Wahrnehmung um eine ganz besondere Bildaussage. Zwar werde mit diesem Schriftzug sehr wohl Arnolfini charakterisiert, aber der, der hier etwas so verbürgt, wie es sonst der Bankier tut, sei nicht Arnolfini, sondern van Eyck. Es handele sich hier, so Burckhardt, um eine »Transaktion höherer Ordnung«, bei der »nicht etwas materiell Kommensurables ausgetauscht wird, sondern wo der Financier Geld für einen Wechsel gibt, der darin besteht, dass das Bild, das die Signatur des Malers trägt, die seine so wiedergibt, dass er, Giovanni Arnolfini, sich darin wiederentdecken kann.« (S. 108) Die Signatur des Malers in der Art einer Kreditgarantie signalisiere nach der Interpretation Burckhardts also, dass dieses »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« tatsächlich das offizielle Bild des Paares wiedergebe, so wie es sich inszeniert wissen wollte bzw. selbst inszenierte, dass durch das Bild an der Selbstinszenierung des Paares also nichts so verändert worden sei, dass es als etwas anderes gedeutet werden könnte als eben ein Bild des Braut- oder Ehepaares Arnolfini – Cenami. Die Signatur besiegele – so Burckhardt – gewissermaßen ein Bündnis zwischen demjenigen, der die mediale Fixierung des (ihn betreffenden) Ereignisses in Auftrag gegeben habe – nämlich dem Bankier Giovanni Arnolfini –, und dem, der diese mediale Fixierung durch das Malen eines Bildes durchführte, nämlich dem Maler Jan van Eyck. Diese Überlegung Burckhardts ist – wenn überhaupt haltbar – meines Erachtens vielmehr richtungweisend für den Fall, dass das Bild das Ehepaar van Eyck darstellt  : Dann kann man nämlich argumentie-

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ren, dass die Chiffre entweder als »Bürgschaft« van Eycks für sich selber zu lesen sei (»Das bin wirklich ich mit meiner Frau«) oder, weniger stark als »Bildtitel« im Sinne des Textes der Bildinschrift »Johannes van Eyck ist dieser«, oder ganz schlicht überhaupt nur die Signatur des Malers van Eyck. Für die Theorie einer Medienästhetik bringt Martin Burckhardts Argumentation aber auf jeden Fall den Mehrwert, dass sie darauf hinführt, dass im Vermittlungsprozess die Person des Vermittlers mehr sein muss als nur die eines, der etwas einfach so abbildet oder weitererzählt  : Der Vermittler wird vielmehr zum verantwortungsvollen »Zeugen«, der mit seinem Namen für das Ereignis bürgt, oder genauer  : der mit seinem Namen klarstellt, dass es sich um seine Wahrnehmung handelt und nicht um eine allgemein verbindliche, quasi objektive.

10. Zusammenfassung: Der Wahrnehmungs

Vermittlungsprozess im sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck

Rekonstruiert man nun auf der Grundlage aller bisherigen Überlegungen die Intentionen der Beteiligten und wie sie diese vermitteln und setzt sie in Beziehung zu den am Prozess beteiligten Betrachtern, ergibt sich ein rundes Bild des Wahrnehmungs-Vermittlungsprozesses in seiner unauflösbaren kommunikativen Verflechtung  : Als Ausgangspunkt ist das Ansinnen des Paares Giovanni Arnolfini und Giovanna Cenami an Jan van Eyck zu nehmen – oder einfach, auch bei anderer Bilddeutung, der Wunsch des dargestellten Paares  : »Zeige uns/erzähle von uns, wie wir uns als Paar sehen/verstehen, und so wollen wir auch von allen anderen Menschen/von jenen Menschen, die uns wichtig sind, gesehen/wahrgenommen werden.« Für dieses Sich-Zeigen, für die Darstellung dieses Selbstverständnisses verwendet das Paar Zeichen (Kleidung, Haltung, Accessoires, Umfeld), weil es

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gar nicht anders geht, sich selbst zu inszenieren, sich darzustellen –, die (sollte es sich tatsächlich um ein »Hochzeitsbild« handeln) natürlich zwangsläufig weit über den Anlass »Hochzeit« hinausgehen und mindestens genau so die soziale Position betreffen wie die Hochzeit, weil es eben die Hochzeit von Personen ist, die eine besondere gesellschaftliche Stellung einnehmen. Die Antwort des Malers Jan van Eyck auf dieses Ansinnen kann nicht weniger selbstbezüglich sein, sodass bei ihm mindestens zwei Sichtweisen berücksichtigt werden müssen  : einerseits die Wahrnehmung Jan van Eycks, und andererseits wie er glaubt, dass das Paar gesehen werden will. Für die eigene Wahrnehmung  : »Ich zeige euch/ erzähle von euch, wie ich euch – auch aufgrund der Zeichen, die ihr verwendet – als Paar sehe/wahrnehme, und wie ich will, dass ihr auch von allen anderen Menschen/von jenen Menschen, die euch und mir wichtig sind, gesehen/wahrgenommen werden sollt.« Und für den Inszenierungswunsch der Dargestellten  : »Ich zeige euch/erzähle von euch, wie ich glaube, dass ihr als Paar gesehen/wahrgenommen werden wollt, und wie ich glaube, dass ihr so auch von allen anderen Menschen/von jenen Menschen, die euch wichtig sind, gesehen/wahrgenommen werden wollt.« Bei Jan van Eyck scheint aber – und ich stelle mir vor, dass dies auch für jeden anderen Maler, aber auch für Fotografen und in weniger bewusster Form für jedes Erzählen überhaupt gilt – bei Jan van Eyck scheint aber noch eine wesentliche dritte Position dazuzukommen  : »Indem ich euch zeige/von euch erzähle, wie ich euch als Paar sehe/wahrnehme und wie ich glaube, dass auch ihr gesehen werden wollt usw., zeige/erzähle ich auch von mir, wie ich glaube, dass man ein verheiratetes Paar darstellen/erzählen muss in der Art, wie ich als Maler Darstellen/Erzählen verstehe, also vor dem Hintergrund meines Weltbildes.« Noch einmal auf die kommunikative Ebene heruntergebrochen würde also die Position des Malers Jan van Eyck lauten  : »Ich will,

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dass ein Betrachter/Zuhörer meiner Darstellung/Erzählung eures Paarseins durch mich, nicht nur sieht/wahrnimmt, wie ihr gesehen werden wollt, sondern ganz bewusst auch meine Darstellungs-/Erzählweise wahrnimmt und daher nicht nur sagt  : Das sind vornehme Leute, die es ernst nehmen mit den Werten unserer Gesellschaft, sondern auch  : Das ist ein grandioser Maler, der hier auf eine besondere Art zeigt, wie man eine solche Partnerschaft darstellen/von einer solchen Partnerschaft erzählen kann, sodass sie Tiefe gewinnt und als Modell wahrgenommen werden kann für das Wahrnehmen der Welt überhaupt.« Das dargestellte Paar – wer immer es ist – wird also letztendlich, und vielleicht sogar unwissend, Träger der Rhetorik des Jan van Eyck, Transporteur seines rhetorischen Ziels, sein rhetorischer Vorwand dafür, den Betrachter von seiner Auffassung zu überzeugen, wie man die Welt wahrnehmen und wie man sie malen – also diese Wahrnehmung vermitteln – soll. Damit Jan van Eyck dieses Ziel erreichen kann, auch wenn er es nicht expressis verbis ausdrückt, bedarf es letztendlich der Zustimmung durch die Dargestellten, die ja selber ein Ziel mit ihrer Darstellung verbinden. In diesem Verhältnis nehmen sie eine weitere zusätzliche Rolle ein  : Sie sind die ersten Betrachter, die ersten Rezipienten ihrer Darstellung durch Jan van Eyck. Als solche prüfen sie einerseits, ob sie tatsächlich so dargestellt wurden, wie sie gesehen werden wollten, ob die Zeichen so gesetzt sind, dass diese als System ihre Selbstinszenierung und damit ihr Selbstimage unterstützen  ; andererseits erfahren sie aber auch gleichzeitig etwas über sich, indem sie in den Spiegel ihrer Darstellung durch Jan van Eyck schauen – eine Schau gewissermaßen auf sich selber durch die Augen eines anderen gewinnen und damit auch ihre Selbstwahrnehmung, gegebenenfalls auch ihre Selbstinszenierung, und damit ihr Selbstimage mit einem ihnen wichtigen Fremdimage abgleichen und in der Folge möglicherweise sogar verändern. Im sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Ar-

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nolfini« könnte sogar dieser Aspekt dargestellt sein  : durch den Spiegel im Hintergrund, der es dem Paar ermöglichte, eine Sicht von sich selber zu erhalten, die sonst sehr schwer möglich ist, nämlich eine »Rundum-Sicht«, weil es sich im Bild von vorne und von hinten sehen könnte, mithilfe Jan van Eycks quasi in Selbstdistanzierung, die nach der Logotherapie von Viktor Frankl für die Entwicklung der Persönlichkeit eine notwendige Voraussetzung ist und ohne die auch jedes Lernen unmöglich wäre. Die Zustimmung zur Darstellung des Malers ist also keine im Sinne eines einfachen »Ja/Nein«, mit denen der Dargestellte das Bild als sein Selbstverständnis authentisch widerspiegelnd annimmt oder nicht, sondern ein komplexer Vermittlungsprozess, an dessen Ende – möglicherweise nach einem Überzeugungsprozess, also einem rhetorischen Prozess des Künstlers – Dargestellter und Vermittler ein durch übereinstimmende Verwendung von gleich verstandenen Zeichen erzeugtes gemeinsames authentisches Bild des Dargestellten vertreten. Der Prozess »Wahrnehmen – Deuten/Verstehen – Erzählen/Darstellen/Vermitteln – Wahrnehmen – Deuten/Verstehen« erweist sich somit als dynamischer Vermittlungsprozess, bei dem sich Menschen jedenfalls »im Hinblick aufeinander kommunikativ verhalten und sich dabei erfolgreich Bedeutungen vermitteln«, wie Roland Burkart den Kommunikationsprozess definiert, sodass sie schließlich die Bedeutungen teilen.

11. Wahrnehmung durch unbeteiligte Dritte: Distanz und Komplexität

Mag der Prozess der erfolgreichen Bedeutungsvermittlung in der engen Beziehung Maler – Auftraggeber gut funktionieren, bleibt er hingegen auf die Wahrnehmung eines distanzierten Betrachters völlig ohne Wirkung. Denn dessen Wahrnehmung erfolgt zwangsläufig ohne Anteilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Maler und

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dargestellten Personen und wird daher durch »Distanz« und »Komplexität« bestimmt – Phänomene, welche nicht erst heute eine dominante Rolle bei der Wahrnehmung bzw. der Vermittlung der Welt durch Medien spielen. Dabei beschreibt »Distanz« das Problem vom Standpunkt dessen aus, der etwas vermitteln will, und »Komplexität« vom Standpunkt dessen, der wahrnimmt, was vermittelt werden soll. Der Begriff »Distanz« ist bisher allerdings nur im Zusammenhang mit der Rhetorik der Massenmedien ausführlich beschrieben, und zwar von Joachim Knape  : Distanz heißt bei ihm, dass der Redner im »rhetorischen Setting« von Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet nicht mehr die Möglichkeit habe, unmittelbar auf das Verhalten seines Auditoriums zu reagieren. Auch hier heißt »Distanz«, dass derjenige, der etwas vermitteln will – im Fallbeispiel des sogenannten »Hochzeitsbildes« sowohl das dargestellte Paar als auch der Maler Jan van Eyck – nicht mehr die Möglichkeit hat, unmittelbar auf das Verhalten seiner Zuschauer oder seines Auditoriums zu reagieren. Nicht einmal die Botschaft, die sie vermitteln wollen, können sie bestimmen, weil sie den Betrachter nicht in ihren Vermittlungsprozess einbeziehen und so auch nicht »erfolgreich Bedeutungen vermitteln« können. Die Folge davon ist, dass sich der »distanzierte« Betrachter entsprechend seinem Zeichenverständnis eine ihm schlüssig erscheinende Botschaft herausinterpretiert, wie es die Studenten in der Lehrveranstaltung im Wintersemester 1999/2000 taten und bis heute die Kunsthistoriker tun. Und diesen »Vorgang des Herausinterpretierens« nennt man »Komplexität«. Komplexität hat also weniger mit der Komplexität eines Themas oder eines Ereignisses zu tun, sondern mit dem, was in den Hirnen der Zuhörer oder Zuschauer bei der Wahrnehmung vor sich geht, wobei natürlich die Komplexität des Interpretierens mit der Kompliziertheit des Themas oder Ereignisses und der Struktur und Fülle der damit verbundenen Zeichen in unmittelbarem Zusammenhang steht.

Modellhafte Darstellung des Wahrnehmungs-Vermittlungsprozesses  : 83

12. Warum unterschiedliche Wahrnehmung überhaupt stattfindet: eine Antwort von Umberto Eco

Das, was bei der Wahrnehmung generell und bei der Wahrnehmung der Welt durch Medien im Speziellen interpretiert und dessen Bedeutung im Vermittlungsprozess abgestimmt wird, sind offensichtlich komplexe Gefüge und Kombinationen von Zeichen und Zeichensystemen. Diese Zeichen und Zeichensysteme sind, wie in der Einleitung kurz dargestellt, die Basis des gesamten Wahrnehmungs-Vermittlungsprozesses. Dabei können jedes Bild, jede Aussage, praktisch alle Sinneseindrücke, Zeichen für etwas anderes sein, für etwas, das selbst nicht unmittelbar zugänglich ist und nur mithilfe von Zeichen vermittelt werden kann. Die gesamte Welt kann als ein einziges komplexes System aus Zeichen gesehen werden – vergleichbar mit einem unendlich vielfältigen und detailreichen Bild. Das »Lesen« und Interpretieren des sogenannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck repräsentierte als Beispiel im Detail den Vorgang eines solchen Lesens und Interpretierens in der Vieldeutigkeit dessen, was jemand von der Welt gerade im Blick und im Gedanken hat, so wie der Vorgang ununterbrochen im alltäglichen Leben abläuft. Das liege daran, bringt es der italienische Semiotiker Umberto Eco auf den Punkt, dass Zeichen von sich aus keine Bedeutung hätten. Aber wie können sie dann Vermittlung konstituieren  ? Weil ihre Bedeutung, so Eco, durch kulturelle oder andere Übereinkünfte bestimmt sei. Nach Eco ist die Ursache, dass es zu unterschiedlichen Wahrnehmungen ein- und desselben Ereignisses kommt, dass Zeichen und Zeichenkombinationen aufgrund verschiedenartiger Erfahrungen von Einzelpersonen und besonders verschiedener kultureller Konventionen von Gruppen zwangsläufig unterschiedlich gedeutet werden, oder wie es Eco formuliert, dass unterschiedliche »Interpretationsregeln«

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bei der Deutung von Zeichen bei deren Wahrnehmung angewendet werden. Diese Interpretationsregeln seien »kulturell«, also durch Weltbilder bestimmt, repräsentierten sozusagen unterschiedliche »Denkgewohnheit« – wobei die (konventionelle) Bedeutung vieler Zeichen im Zuge der Übernahme der Weltbilder im Sozialisationsprozess automatisch mitgelernt werde. Bewusst wird dieser Umstand freilich erst dann, wenn Zeichen unerwartete Interpretationen hervorrufen, was nahezu immer dann geschieht, wenn Personen aus unterschiedlichen Kulturen (das kann auch heißen, wie am Beispiel des sogenannten Hochzeitsbildes von Jan van Eyck sichtbar  : unterschiedliche Zeiten) zusammentreffen. Dieses Konzept kann auch die Substruktion der Konzeption des sogenannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« durch Jan van Eyck aufdecken, sowie dessen Rezeption, wie sie im Rahmen dieser Untersuchung bisher stattfand  : Der Maler Jan van Eyck nimmt zu Beginn vonseiten des Paares – auch wenn es sich um ein Selbstbildnis handelt – mehrere (teils bewusst, teils unbewusst ausgesandte) Zeichen wahr, aus welchen er durch Deutung oder Beimessung von Zeichenhaftigkeit schließt, wie seine Auftraggeber gesehen werden wollen. In seinem Gemälde setzt er diese gewünschte Darstellungsweise um, um sie »weiterzuerzählen«. Die Rezipienten des Bildes nehmen nun die von van Eyck gesetzten Zeichen wahr und überprüfen anhand ihrer Interpretationsregeln, ob deren Verwendung ihrer Selbstdarstellung dienlich sei. Gleichzeitig verwendet Jan van Eyck aber auch Zeichen, um vor allem seine Überzeugung neuer Darstellungsmöglichkeiten der Selbstinszenierung des dargestellten Paares sichtbar zu machen. Er wird nicht weniger als die Dargestellten darauf geachtet haben, dass die Zeichen diesem seinem Ziel dienen. Das beeindruckende Ergebnis konnte offensichtlich nur durch die Erkenntnis gelingen, dass Zeichen durch unterschiedliche Interpretationsregeln unterschiedlich gedeutet werden können, dass aber über die Deutung zwischen Maler und Dargestellten letztendlich Einigkeit herbeigeführt werden

Modellhafte Darstellung des Wahrnehmungs-Vermittlungsprozesses  : 85

müsse – ein Prozess, bei dem gewissermaßen die Dargestellten vom Darsteller neue Interpretationsregeln »gelernt« haben. Auf der Grundlage dieser Analyse des sogenannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« werde ich im Folgenden versuchen, Elemente für eine Theorie der Ästhetik als Teil einer Theorie der Vermittlung abzuleiten.

III. Elemente für eine Theorie der (Medien-)Ästhetik

1. Der Ausgangspunkt für eine Theorie der Ästhetik:

unterschiedliche Deutungen ein und desselben Zeichens und daher unterschiedliche Wahrnehmungen

Die gravierenden Unterschiede zwischen dem, was Jan van Eyck mit seinem sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« mitteilen wollte, und dem, was die studentischen Beobachter im Studienjahr 1999/2000 herausdeuteten und damit wahrnahmen, sind das Ergebnis solcher im vorigen Kapitel beschriebenen kulturell unterschiedlicher Generierungs- und Interpretationsregeln von Zeichen, das heißt also unterschiedlicher »Denkgewohnheiten« aufgrund unterschiedlicher Bezugsrahmen oder Schemata, die dazu führen, dass die gleichen Zeichen von verschiedenen Menschen unterschiedlich gedeutet bzw. wahrgenommen werden. Der Begriff »Denkgewohnheiten« wurde vom amerikanischen Philosophen und Mathematiker Charles S. Peirce (1839–1914) geprägt, dem Begründer der modernen Semiotik und des Pragmatismus. Schemata (im Singular »Schema«) definiert Philip G. Zimbardo als »generelle begriffliche Rahmen oder Wissensstrukturen, die Vorannahmen über bestimmte Gegenstände, Menschen und Situationen und die Art ihrer Beziehungen enthalten«. Schemata sind also keine einzelnen Wissenselemente, sondern ganze »Wissenspäckchen«. Deshalb impliziert allein das Hören von Begriffen Erwartungen, deren Nichterfüllung negative Gefühle hervorruft. Und Zimbardo weiter  : »Schema steht für ein allgemeines Cluster ge-

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speicherten Wissens, das zu entscheiden hilft, was wir wahrnehmen und an was wir uns erinnern.« Daraus ergibt sich zwingend, dass diese im Bisherigen ausführlich belegten und beschriebenen Beobachtungen – als Prämissen formuliert – der Ausgangspunkt für eine Entwicklung einer Theorie der Wahrnehmung (als wesentlicher Teil einer umfassenden Vermittlungstheorie) sein müssen  : (6) Wahrnehmung erfolgt bei verschiedenen Menschen und Menschengruppen nach unterschiedlichen Denkgewohnheiten (Interpretationsregeln). (7) Aufgrund dieser unterschiedlichen Denkgewohnheiten gibt es unterschiedliche Deutungen der durch die selben oder gleichen Zeichen vermittelten Wahrnehmungen und daher unterschiedliche Wahrnehmungen.

2. Wie »Denkgewohnheiten« entstehen: Theorien und Modelle

Wie diese unterschiedlichen Deutungen der Zeichen und Bilder und damit die unterschiedlichen Wahrnehmungen ein und derselben Reize, wie man in der Psychologie sagt, bei verschiedenen Personen oder Rezipienten zustandekommen, aber auch, wie bei einer Gruppe von Menschen eine gemeinsame Deutung entstehen kann, wurde und wird von Psychologen und Soziologen, von Semiotikern, Linguisten und Kommunikationswissenschaftern erforscht und beschrieben, und deren Forschungsergebnisse geben gewissermaßen einen »Fahrplan«, was man bei der Entwicklung einer Theorie der Ästhetik zu berücksichtigen hat  : Es sind laut Philip G. Zimbardo die mentalen (oder »top‑down«) Prozesse der Wahrnehmung, die für die Ästhetik Bedeutung haben, so gut wie nicht biophysikalische (»bottom‑up«) Prozesse, die deshalb hier auch nicht behandelt werden.

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Die mentalen Prozesse der Wahrnehmung einer Person, die zum Verstehen als Ziel der Wahrnehmung führen, sind – in der psychologischen Terminologie – primär bestimmt durch die Beziehungen, in denen diese Person lebte und lebt, und die damit verbundenen Erfahrungen, zu denen auch Ergebnisse von Vermittlungsprozessen (z. B. Lernen) gehören und die in ihrer Gesamtheit als »Wissen« bezeichnet werden können. Dieses »Wissen« ist im Gedächtnis in Zeichensystemen organisiert. Die Organisation dieses »Wissens« wiederum ist durch die kognitiven Fähigkeiten der einzelnen Person bestimmt und kann dementsprechend sehr unterschiedlich sein. Die Ausformung dieser mentalen Prozesse wird durch eine Fülle von eng aufeinander bezogenen Modellen und Theorien zu beschreiben und zu erklären versucht, von denen den Modellen der »Sozialen Netzwerke«, der »Ethnomethodologie«, dem »Symbolischen Interaktionismus« und der »Theorie des kommunikativen Handelns« (als Art Gesamttheorien menschlicher Beziehungen überhaupt) Bedeutung zukommt und durch das »Modell der fragmentierten Gesellschaft« von mir ergänzt wird. 2.1 Der Mensch in seinen sozialen Beziehungen: das Modell der »Sozialen Netzwerke«

Mit dem Begriff »Soziales Netzwerk« wird das Muster sozialer Beziehungen bezeichnet, in das ein Individuum im Rahmen der Gesamtgesellschaft eines definierten Raumes eingebunden ist (z. B. Familien-, Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehungen, Statushierarchien, örtliche Einflussverhältnisse). Faktisch erscheinen alle Bereiche, in denen sich der einzelne Mensch alltäglich bewegt, als »Soziale Netzwerke« ausgeformt. Die Darstellung eines »Sozialen Netzwerks« geht in der Regel von einer Einzelperson aus und beschreibt deren Beziehungen zu sogenannten Primärgruppen und deren wichtigsten Alltagssektoren (Ar-

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beitswelt, Nachbarschaft, Freizeit). Dabei werden oft auch durch die Einzelperson nicht direkt realisierte Beziehungen aufgenommen, also solche, die potentiell über Personen, zu denen man Beziehung pflegt, auch hergestellt werden könnten, bisher aber noch nicht wurden. Ein wesentlicher Hintergrund, der zur Entwicklung des Modells der »Sozialen Netzwerke« geführt hat, ist die fortschreitende funktionsspezifische Arbeitsteilung und wachsende Mobilität der Menschen in der Industriegesellschaft, die einerseits eine Erweiterung sozialer Verkehrskreise, andererseits aber eine spezifische Individualisierungsdynamik nach sich zog und weiterhin zieht und die einen allmählichen Funktionsverlust vorgegebener durch ursprüngliche Assoziationen wie Familie, Verwandtschaft oder lokale Nachbarschaft sozial determinierter Beziehungen mit sich brachte und bringt. Anstelle traditionsbestimmter Lebenswege entstanden und entstehen weiterhin »Möglichkeitsräume« selbst gewählter Kontakt-, Bekanntschafts-, Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen. Die Folge davon ist, dass Menschen, auch wenn sie gemeinsam leben, grundsätzlich aus verschiedenen Netzwerken stammen. In der Literatur werden »Soziale Netzwerke« häufig nach speziellen Handlungszielvorgaben konstruiert  : z. B. als »Unterstützungsnetzwerk«, aber auch kommunale Machtstrukturen oder Kommunikationsmuster werden als »Soziale Netzwerke« abgebildet  ; wenn ein Beziehungsnetz zur Bewältigung unterschiedlicher Ziele dient, wird es als multiplex bezeichnet  ; segmentiert nennen die Sozialpsychologen ein »Soziales Netzwerk«, wenn sich Kontakte, die in speziellen Lebensbereichen bestehen, kaum überschneiden. Für eine Theorie der Ästhetik erhält das Modell der »Sozialen Netzwerke« insofern Bedeutung, als unterstellt wird, dass jedes dieser Netzwerke ein sogenanntes »Erfahrungsumfeld« bildet. Verknüpft man nämlich das Modell der »Sozialen Netzwerke« mit psychologischen Theorien, welche solche Netzwerke als Erfahrungsumfelder voraussetzen, lässt sich daraus ein Wahrnehmungskonzept ableiten,

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das die Herausbildung unterschiedlicher Denkgewohnheiten oder Interpretationsregeln von Zeichen zumindest teilweise zu erklären vermag. 2.1.1 Rekonstruktion eines Wahrnehmungskonzepts im Modell der »Sozialen Netzwerke«: Sozialisation durch Wechselwirkung des Individuums mit seiner sozialen Umwelt

Danach wäre nämlich ein wesentliches Merkmal eines »Sozialen Netzwerks«, dass es mit spezifischen Denkgewohnheiten verbunden sei, dass also seine Mitglieder ein ganz bestimmtes Repertoire an durch Bedeutungen definierten Zeichen zur Verfügung hätten. Sie »besäßen« demnach ein zu ihrer Umgebung passendes und in ihrer Umgebung geschaffenes System von Zeichen, das in allen Lebenssituationen zum Einsatz käme. Am stärksten wird dieses Zeichensystem durch das »Familiennetzwerk« geprägt, in das der Mensch hineingeboren ist, das zunächst seinen sozialen Status bestimmt und ihm im Zuge der Sozialisation sein grundlegendes Weltbild vermittelt. Das Phänomen ist aber auch in allen anderen »Sozialen Netzwerken«, denen ein Mensch im Laufe seines Lebens angehört – von der Jugendclique bis zur Berufsgruppe –, nachweisbar. Nach dem transaktionalen Ansatz der Wahrnehmungstheorien entwickelt jeder einzelne Mensch durch Wechselwirkung mit seiner sozialen Umwelt – also mit den Menschen, mit denen er lebt – eine beschränkte Anzahl von Wahrnehmungen, um mit der unendlichen Vielfalt der Netzhautbilder fertig zu werden. Aufgrund seiner Erfah­ rungen in seinem »Sozialen Netzwerk«, von dem er aufgefangen und sicher gehalten sein möchte, entwickelt er daraus seinen ­ eigenen »Netzwerk-verträglichen« Realitätsbegriff. Und der wiederum bestimmt, was er wahrnimmt, das heißt, seine Wahrnehmung wird zu einem erlernten Vorgang der Realitätskonstruktion im Interesse der

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Kohärenz – des Zusammenhalts des »Sozialen Netzwerks«, dem er angehört. Diese Bereitschaft, etwas in einer bestimmten Art und Weise wahrzunehmen oder auf etwas in einer bestimmten Art zu reagieren, wird in der Psychologie Einstellung genannt. Eine Einstellung beruht auf Erwartungen, die auf vorherige Erfahrungen zurückzuführen sind, vor allem aber kommt sie durch den Einfluss jener Menschen zustande, mit denen ein Mensch im »Sozialen Netzwerk« zusammenlebt, und vor allem, wenn er zu diesen Menschen Vertrauen hat. Insofern kann eine Einstellung ein momentaner Zustand oder eine lang andauernde Haltung (wenn sie z. B. im Zuge der Ausformung des Weltbildes in der kindlichen Sozialisation entstand) bestimmten Situationen gegenüber sein. Langzeiteinstellungen können sich zu Anschauungen verdichten, welche dann auch die Reizinformationsverarbeitung wesentlich beeinflussen. Anschauungen funktionieren nämlich als »Vergleichsstandard«, mit denen neue Inputs verglichen werden. Dabei werden dem Standard ähnelnde Inputs als ähnlicher wahrgenommen, als sie es tatsächlich sind (gleich, ob es sich dabei um physikalische Gewichte oder politische Ansichten handelt), und Inputs, die sich vom Standard sehr unterscheiden, werden als noch unterschiedlicher empfunden, als sie es tatsächlich sind. 2.1.2 Auswirkungen des Wahrnehmungskonzepts des Modells der »Sozialen Netzwerke« auf die Wahrnehmung der Welt durch Massenmedien

Wie stark zum Beispiel die Wahrnehmung politischer Reden durch Anschauungen beeinflusst zu werden scheint – nämlich dass der Rezipient sogar etwas anderes höre, als der Redner sagt –, hat z. B. eine am 27. April 2010 im British Medical Journal veröffentlichte US-amerikanische neuropsychologische Studie gezeigt, über die das Feuilleton der österreichischen Tageszeitung Die Presse am 29. April unter der

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Überschrift »Wir hören, was wir hören wollen« berichtete  : Während des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2004 seien Testpersonen mit (fiktiven) Wahlreden konfrontiert worden, die in sich widersprüchlich gewesen seien. Parteigänger der Demokraten hätten das bei republikanischen Bewerbern glasklar gehört, bei demokratischen kaum  ; bei Anhängern der Republikaner sei es umgekehrt gewesen. Das EEG, das während der Tests durchgeführt worden sei, habe gezeigte, dass dies nichts mit den kognitiven Fähigkeiten der Testpersonen zu tun hatte, denn es seien im Hirn keine Stresszentren aktiviert worden, im Gegenteil sie seien deaktiviert worden  ; stattdessen seien Zentren für positive Emotionen aktiviert worden, ohne Umweg über die Großhirnrinde. Die Studienautoren, unter ihnen Martin McKee von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, haben dem Phänomen einen ironischen Namen gegeben  : »political junkie«. Auch bei der Wahrnehmung der Welt durch Massenmedien spielt die Zugehörigkeit zu bestimmten »Sozialen Netzwerken« eine maßgebliche Rolle  : Von Massenmedien vermittelte Inhalte, zum Beispiel bestimmte Filme, werden nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen »Sozialen Netzwerken« aufgenommen. Diese Netzwerke absorbieren die Inhalte dieser Massenmedienprodukte und integrieren sie in ihre Realitätskonstruktion. Aus diesem Grund wird Medieninhalten bei Personen, die nicht fest in kohäsiven – »zusammenhaltenden« Gruppen (Familie, Freunde, Arbeitswelt) integriert sind, eine größere Wirkung auf ihre Wahrnehmung der Welt unterstellt als solchen, die in stabilen »Sozialen Netzwerken« verankert sind. In der allgemeinen Diskussion über die Wirkung von Massenmedien wird diese mögliche Auswirkung des Medienkonsums als »Manipulation« bezeichnet. 2.1.3 Eigene Erfahrungen

Hierher gehören als Illustration auch meine eigenen Erfahrungen, wie ich von meinem Großvater gelernt habe, die Welt wahrzunehmen. Am

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meisten lernte ich, während ich auf seinen Knien saß und mit ihm ein dickes Buch ansah, einen Bildband mit Stichen von Moritz von Schwind. Großvater wusste zu jedem Bild eine Geschichte zu erzählen. Bis heute erinnere ich mich an die Geschichte von Leda und dem Schwan, in den sich Göttervater Zeus verwandelt hatte, um Leda zu verführen, oder an die Legende von Kaiser Friedrich Barbarossa, der in einem Berg schlafen soll, bis er für den letzten Kampf gegen den Antichrist geweckt wird. Über den unmoralischen Zeus waren wir beide sehr empört. Was die Legende von Barbarossa betrifft, malten wir uns die Welt aus, wie sie nach dem Sieg über den Antichrist aussehen werde, und ich schöpfte viel Hoffnung und Vertrauen aus unseren Fantasien. Oft gingen wir hinaus, um im Garten die Blumen und im Wald die Bäume zu suchen, die auf Schwinds Stichen abgebildet waren. Mit fünf machte mich Großvater mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein bekannt  : Er erzählte mir ohne jeden Anlass, dass eine Uhr, die schnell fortbewegt werde, zum Beispiel in einem Flugzeug, langsamer gehe als eine, auf die man im Wohnzimmer auf der Erde schaue. Wir haben es gleich ausprobiert  : Er gab mir eine seiner Taschenuhren, und ich rannte mit ihr einmal ums Haus, während er auf der Bank davor sitzen blieb. Als ich atemlos wieder ankam, verglichen wir die Uhren, und Großvater sagte  : »Siehst du, deine Uhr ist um eine Millionstel Sekunde hinten geblieben.« Als ich in die Schule ging, kam mir das Meiste, das ich hörte, sehr bekannt vor, und ich meldete mich oft mit meinem großväterlichen Wissen und bekam viele Einser. Und als ich noch älter war, traf ich viele von Großvaters Geschichten in schwierige Wörter verkleidet wieder. Dass ich sie trotzdem schnell erkannte, lag daran, dass ich mit ihnen bereits Erfahrung hatte und ihre Bilder in mir trug – Jugendbilder, die freilich oft mit den Wörtern, unter denen sie sich mir nun vorstellten, nicht mehr viel gemein hatten. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, dass etwas nicht wahr gewesen wäre, was mir Großvater erzählt hatte.

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Ich tat mich übrigens auch mit jenem Wissen leicht, von dem mir Großvater nie erzählt hatte. Ich bin fest überzeugt, dass dies daran lag, dass Großvaters Geschichten selber gar nicht so wichtig waren wie das, was er mir durch die Art, wie er mich mit ihnen bekannt machte, beigebracht hat  : Er lehrte mich, Geschichten zu imaginieren, indem er mich mit den Geschichten Erfahrungen machen ließ und wir im Miteinander-Reden Bilder dazu erfanden. Er zeigte mir, was ich alles sehen konnte, wenn ich genau hinsah – und vor allem  : Er sprach mit mir über die Ergebnisse meines Schauens und verglich sie mit seinen eigenen und den Beobachtungen anderer Menschen. Heute bin ich überzeugt, dass das wohl das Geheimnis des Lehrens überhaupt ist  : dass jedes Wissen Kleckerei bleibt, wenn es nicht durch eine vertrauensvolle Beziehung abgesichert ist, die für dieses Wis­sen einsteht. Dass man deshalb seinen Lehrern in die Augen schauen und durch ihre Blicke und ihre Stimme die Gewähr erhalten muss, dass sie Wörter des Lebens sprechen und nicht irgendwelche Plattitüden  ; dass man das Leben sehen muss, das diese Wörter trägt … 2.2 Das Erlernen von Rollen und die Entstehung von Identität: der »Symbolische Interaktionismus«

Die Theorie des »Symbolischen Interaktionismus« geht in allen ihren Spielarten von der gleichen Grundlage aus wie das Modell der »Sozialen Netzwerke«  : Die Gesellschaft bestehe aus permanenten Interaktionsprozessen, in denen andauernd subjektive und sich gegenseitig beeinflussende Interpretations- und Definitionsleistungen erfolgten – erweitert sie aber um die symbolische Dimension der Kommunikation. Grundlage der Theorie ist das Skript der Vorlesung »Sozialpsychologie« des amerikanischen Philosophen und Soziologen Georg Herbert Mead (1863–1931) an der Universität Chicago. Darin beschreibt Mead seine Vorstellung von Kommunikation  : Sie finde durch Symbole statt, die an mögliche Reaktionen des Partners ausgerich-

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tet würden. So entstehe kollektives Handeln nach bestimmten Mustern, die auch die Verhaltenserwartungen in kommenden Situationen bestimmten. Das Erlernen der Erwartungen an der eigenen Person forme die Rolle jedes Menschen. Sie diene der Erwartungssicherheit, führe zur Gewohnheit und wirke schließlich entlastend. Auf dieser Grundlage hat Meads Schüler und Nachfolger Herbert Blumer (1900–1987) die Theorie des »symbolischen I­ nteraktionismus« entwickelt. Sein aus Meads Überlegungen abgeleiteter Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Menschen in zweierlei Umwelten lebten, der natürlichen und der symbolisch vermittelten. Die Symbole der symbolischen Umwelt (Zeichen, Laute, Gesten, aber auch Verhaltens­ weisen) seien innerhalb von Gesellschaften und Kulturen allgemein bekannt und würden in der Regel von allen gleich verstanden. Der Vorteil daraus sei die Möglichkeit, soziale Situationen richtig zu deuten. Durch die Symbole entstünden aber auch idealtypische Vorstellungen der Umwelt und des Handelns, welche die Welt begreifbar machten und Menschen Rollen und soziale Positionen zuwiesen. Die Symbole würden in der Phase der primären Sozialisation erlernt. Dementsprechend werde jede konkrete soziale Interaktion, in die Menschen im Begriff sind einzutreten, von allen Teilnehmern an dieser Interaktion identifiziert. Es folge eine Wahl der angemessenen Handlung entsprechend der Rolle, die jeder spiele, aber auch in Bezug auf die Rollen der anderen. In der Regel entsprächen die Verhaltensweisen den Rollen, welche die Personen innehätten, oder sie gäben zumindest zu erkennen, welche Absichten sie hätten. In Bezug auf beides ließe sich die Handlung jedes Teilnehmers an der Interaktion orientieren. Die Konfrontation mit Bezugspersonen, aber auch abstrakteren Erwartungen und Vorgaben an den Einzelnen, führten nicht nur zu einer Rollenübernahme, sondern seien auch Grundlage für die Ausbildung einer eigenen, ganz persönlichen Identität. Da jeder in etwa das Verhalten der anderen abschätzen könne, sei die Folge davon auch

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die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und sich selbst zu betrachten. In den so beschriebenen sozialen Beziehungen unterliegt Handeln also wechselseitigen Beziehungsdefinitionen in bestimmten einmaligen Situationen. Blumer wollte damit auch zeigen, dass sich menschliches Handeln nicht auf Reiz und Reaktion und damit sichtbares Verhalten reduzieren lässt. Die aus den Arbeiten Meads entnommenen Grundlagen seines Konzepts fasste er in drei Prämissen so zusammen  : 1. Menschen handeln Dingen gegenüber aufgrund der Bedeutung, die diese Dinge für sie besitzen. 2. Die Bedeutung solcher Dinge ist aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet, oder entsteht aus ihr. 3. Diese Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess gehandhabt und geändert. Die Vertreter des »Symbolischen Interaktionismus« lassen aber auch keinen Zweifel daran, dass Interaktionen stets störanfällig und voraussetzungsreich seien und daher nicht alle wie gewünscht verliefen. Für Joel M. Charon ist der »Symbolische Interaktionismus« die einzige Theorie, die den Menschen nicht vorbestimmt-maschinell, sondern aktiv und dynamisch sehe. Auch das Konzept der Semiotik von Umberto Eco erscheint Mead und Blumer verpflichtet. 2.3 Wahrnehmung wird durch Sprache bestimmt: Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«

Nach der Theorie des »Symbolischen Interaktionismus« werden die Symbole, bzw. eine Grundausstattung an Symbolen in der primären, also im Rahmen der ersten Sozialisation des Menschen als Kind erlernt. Das heißt aber, dass die Symbole im sozialen Netzwerk, in das ein

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Kind hineingeboren wird, für soziale Interaktionen in Gebrauch sein müssen. Damit dies gelingen kann, reicht es nicht, dass diese Symbole nur »zur Verfügung stehen«, sie müssen im Hinblick auf die Verlässlichkeit des Zusammenlebens als System organisiert und als solches im sozialen Netzwerk gespeichert sein. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass das wichtigste im Netzwerk der Gesellschaft gespeicherte Symbol- oder Zeichensystem die Sprache ist, und von dieser Ebene aus argumentiert Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns  : Es sei die Sprache, stellt Habermas fest, in der die normativen Grundlagen gesellschaftlicher Prozesse lägen – und das ist der Hauptunterschied zu Herbert Mead, der sprachliche Kommunikation ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der sozialen Integration betrachtete. In die Sprache, so Habermas, flössen die Geltungsansprüche der Wahrheit, Verständlichkeit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, das heißt der Vernünftigkeit ein, die jeglicher Verständigung und damit menschlichem Handeln, das sich in sozialen Interaktionen realisiere, als moralische Normen zugrunde lägen. Indem ein Mensch die Sprache erlernt, erlernt er auch die Bilder, mit denen er kommuniziert, und damit auch die Denkgewohnheit, nach der er Wahrnehmungen deutet. Andererseits werde – so Habermas – der Verständigungsprozess auch durch nicht hinterfragte Kenntnisse und Hintergrundüberzeugungen bestimmt, d. h. durch die konkrete Lebenswelt des Individuums. Diese könne aber im Hinblick auf gemeinsame, definierte Handlungsziele sprachlich artikuliert und zur Diskussion gestellt werden. 2.4 Das Erklärungsmodell der »Ethnomethodologie«: Zu »Alltagswissen« verallgemeinerte persönliche Erfahrung

Nicht hinterfragte Kenntnisse und Hintergrundüberzeugungen von Menschen im Verständigungsprozess dürften wohl auch Ursache für die Erfahrung sein, dass Menschen, die in enger Beziehung in »So-

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zialen Netzwerken« miteinander verbunden sind, ein und dasselbe Zeichen trotzdem unterschiedlich deuten und damit unterschiedlich wahrnehmen. Die Vielfalt der Interpretationen des sogenannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck durch die Studentinnen und Studenten der Lehrveranstaltung im Studienjahr 1999/2000, die unzweifelhaft einem gemeinsamen »Sozialen Netzwerk« angehörten, aber auch die große Zahl brechender familiärer Bindungen sind Beleg dafür. Der Grund dafür ist, dass jeder Mensch nicht nur über ein durch Bedeutungen definiertes »Soziales-Netzwerk-Zeichensystem« verfügt, sondern dass sein Deuten, Wahrnehmen und Verhalten mindestens genau so durch sein individuelles »Alltagswissen« bestimmt ist. »Alltagswissen« wird in der Ethnomethodologie nach Werner J. Patzelt »jede biographisch spezifische Erfahrung der Alltagswelt, über die eine Person zu einem gegebenen Zeitpunkt ihres Lebens verfügt« genannt  : »Dieser Begriff bezeichnet alle Wissensbestände und Deutungsroutinen einer Person, die ihr als Durchführungsmittel ihrer ethniespezifischen Alltagspraxis dienen. Die Konzepte des Alltagswissens und der Ethnotheorie oder -theorien unterscheiden sich darin, daß ›Alltagswissen‹ sich auf individuell besessene und benutzte Wissensbestände und Deutungsroutinen bezieht, während die intersubjektiv geteilten alltäglichen Wissensbestände und Deutungsroutinen, über die eine Einzelperson in ihrem Alltagswissen in der Regel nur unvollständig verfügt und die insgesamt nur als Rekonstruktionen faßbar werden, als Ethnotheorie oder Ethnotheorien bezeichnet werden […].« Letztendlich ist es immer der einzelne Mensch, sind es die Einzelbeziehungen zwischen zwei Menschen, in denen sich Leben und damit auch Wahrnehmen und Vermitteln konkretisiert. Zwar wird den Mitgliedern sozialer Netzwerke durchaus ein gemeinsames Zeichensystem zugestanden, aber eben nur auf einer Metaebene, an der zwar alle Anteil haben, aber doch nur wie Teile Anteil haben an einem System.

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Zur Vervollständigung des Hintergrundwissens, aber vor allem um daran zu erinnern, dass die einzelnen Modelle zur Erklärung der Entstehung von Denkgewohnheiten nur unterschiedliche Ausschnitte aus dem Ganzen der Beziehungen darstellen, füge ich hier hinzu, dass empirisch die Ethnomethodologie vom »Symbolischen Interaktionismus« wichtige Anregungen erfahren hat  : Ihr Begründer, der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel (geb. 1917 in Newark, New Jersey) war Schüler und Mitarbeiter von Talcott Parsons (1902–1979) und des bedeutenden in Wien geborenen Phänomenologen Alfred Schütz (1899–1952) an der Harvard University. Garfinkel lehrte und forschte bis 1988 als Professor für Soziologie an der California University in Los Angeles. Zum Begründer der »Ethnomethodologie« wurde er dadurch, dass er mithilfe der Prinzipien des »Symbolischen Interaktionismus« Teile des methodischen Programms von Schütz empirisch umsetzte. Schütz hatte sich mit der Frage beschäftigt, wie sich Menschen in den sozialen Strukturen der alltäglichen Lebenswelt wechselseitig orientieren und nach dem ihnen selbstverständlich scheinenden Alltagswissen handeln. Der Beitrag von Garfinkel besteht vor allem darin, selbstverständlich und vertraut erscheinendes Verhalten im Detail untersuchbar und soziologischer Forschung zugänglich gemacht zu haben. Zu diesem Zweck inszenierte er unter anderem so genannte Krisenexperimente (breaching experiments), in denen bewusst mit den Regeln der alltäglichen Interaktion gebrochen wurde, um die ständige (Re-)Konstruktion der Regeln des Alltagslebens durch die »Mitglieder eines sozialen Zusammenhangs« zu beobachten. 2.5 Über die Zusammenführung individuell unterschiedlicher Deutungen von Zeichen zu gemeinsamen »Denkgewohnheiten« durch »Bildersprechen«

Wenn Menschen miteinander sprechen, kommt es zwangsläufig ständig zu Missverständnissen. Das liegt daran, dass viele Menschen, auch wenn sie

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die gleichen Zeichen verwenden, unterschiedliche Assoziationen, unterschiedliche Vorstellungen und unterschiedliche Gefühle damit verbinden. Und dass dies der Fall ist, liegt wiederum daran, dass Menschen letztendlich Individuen sind. Diese individuellen Unterschiede wirken in Bezug auf das Wahrnehmen wie verschiedene Brillen, welche die Menschen aufhaben und durch die sie die Phänomene unterschiedlich sehen und damit auch alle Mitteilungen, die sie erhalten. Der eine hat möglicherweise eine Vergrößerungsbrille auf, sodass sein Blick Details recht scharf wahrnimmt, er jedoch Probleme hat, das Ganze zu sehen. Der andere trägt vielleicht eine Designer-Sonnenbrille, die seiner Sicht – und umgekehrt auch seinem Gesehenwerden – eine ganz spezielle Farbe gibt. Aber Brillen müssen nicht notwendigerweise den Blick ein für allemal bestimmen, das weiß jeder Brillenträger. Brillen kann man abnehmen, man kann sie austauschen, oder auch nur putzen. Darüber hinaus weiß jeder, der mit seinen Augen Probleme hat, dass die Sicht nicht nur von der Brille abhängt, sondern auch von den Augen, das heißt, dass sich die Dioptrien ändern können, und dann braucht man (bestenfalls) gar keine Brille mehr oder man besorgt sich (schlechtestenfalls) eine neue Brille, um die Welt wieder gleich wie vorher sehen zu können. Der Text mit den Brillen ist gewissermaßen die Übersetzung des Z ­ itats aus dem Buch Grundlagen der Ethnomethodologie von Werner J. Patzelt in ein »Sprachbild«, das es jedem Zuhörer, auch wenn er in der Ethnomethodologie unbewandert ist, möglich machen müsste, den Inhalt auf Anhieb und ohne Anstrengung zu verstehen. Oder, um es weniger optimistisch auszudrücken  : Jeder müsste sich danach etwas vorstellen können anhand des Sprachbildes der Brille. Das zeigt, wie gemeinsames Verstehen trotz unterschiedlicher Erfahrungen, trotz eines unterschiedlichen Bildungsstandes und unterschiedlicher Wert- und Lebensauffassungen zustande kommen kann  : nämlich über Metaphern – Sprachbilder, und darum nenne ich diesen Vorgang Bildersprechen.

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Bildersprechen besagt, dass Vermittlung – mit dem Ziel des Verstehens – in der heutigen fragmentierten Gesellschaft unter Angehörigen gleicher wie verschiedener »Sozialer Netzwerke« überhaupt nur mithilfe metaphorischer Ausdrucksweise möglich ist, insofern als nur durch Bildersprechen »Bedeutungen so vermittelt werden« können, »dass sie danach geteilt werden«, und dass Vermittlung zwischen Angehörigen gleicher wie verschiedener »Sozialer Netzwerke« und Fragmente tatsächlich auch nur so und nicht anders stattfindet – also die gesellschaftliche Praxis darstellt – Metaphors We Live Be haben George Lakoff und Mark Johnson ihr 1981 erschienenes Buch getitelt. Dieses Phänomen lässt sich mithilfe eines Modells erläutern, das ich »Modell der fragmentierten Gesellschaft« nenne – ein Modell, das nichts anderes sein will, als der Versuch, im Modell »Sozialer Netzwerke« unter Beachtung der Erklärungen des »Symbolischen Interaktionismus«, der »Ethnomethodologie« und der »Theorie des kommunikativen Handelns« die kommunikativen Beziehungen seiner Individuen mitzudenken, weil diese ja – unabhängig von ihren Beziehungen – individuell unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Bildungsgrade, unterschiedliche kognitive Fähigkeiten und unterschiedliche Wertund Lebensauffassungen haben, über die sie – oft ohne tatsächliche Beziehung – mit anderen Menschen quasi »inhaltlich« in der Art einer Mentalgemeinschaft verbunden zu sein scheinen. 2.5.1 Wahrnehmungsabstimmung aufgrund gemeinsamer Interessen: das Modell der »Fragmentierten Gesellschaft«

Ich greife für die Erklärung des Modells der »Fragmentierten Gesellschaft« noch einmal das Bild der Brille auf  : Wenn man das alltägliche Leben der Menschen beobachtet, mit denen man freundschaftlich, beruflich oder zufällig über den Tag zusammenkommt, oder mit denen man zusammenlebt (und was anderes soll man mit nur zwei Augen und Ohren beobachten können  ?), zeigt sich, dass sie alle verschiedene

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Brillen tragen, zum Beispiel die Brille der Sozialdemokratie, oder die Brille des Katholizismus, oder die Brille von Eltern, die gerade Sorgen um ihre Kinder haben, oder die Brille eines speziellen Wertsystems, mit dem sie ihre persönlichen Handlungen begründen, oder die Brille der Klischees über Ausländer, durch die sie dann alle Ausländer sehen, oder sie tragen die Brillen bestimmter Theorien, wenn sie Wissenschafter sind, und sehen die Welt nach den Bedingungen dieser Theorien. Soziologisch gesprochen zerfällt die ganze Gesellschaft in Gruppen von solchen Brillenträgern, die zumeist nicht in »Sozialen Netzwerken« organisiert sind – so könnte man, wieder mit einem Bild, das Gesellschaftsmodell zusammenfassen, das ich aus den Arbeiten der Historikers Moritz Csáky über die Moderne weiter entwickeln zu können glaube  : Csáky hat, zum Beispiel in seinen Aufsätzen Pluralität und Wiener Moderne oder Historisches Gedächtnis und Identität gezeigt, dass man den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft mit dem Modell einer Fragmentierung beschreiben kann, und dass diese Fragmentierung eine Differenzierung des Bewusstseins der Einzelpersonen voraussetzt. Diese Fragmentierung sowohl von Individuen und in der Folge der ganzen Gesellschaft in extremer Form ist, so Csáky, in der Folge der Differenzierung der industriellen Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und daher als solche erst für die Gesellschaft der Moderne konstitutiv. Sie wird auch – unabhängig von Csáky – von vielen Psychotherapeuten, zum Beispiel Erich Fromm, im Zusammenhang mit daraus resultierenden psychopathogenen Phänomenen beschrieben und beklagt. Im konkreten Leben zeigt sich diese Verfasstheit von Mensch und Gesellschaft zum Beispiel in der oft beklagten Auflösung allgemeingültiger Normen, im beliebigen Wechsel von Individuen zwischen unvereinbaren Paradigmen je nach Problemlösungsbedarf (etwa wenn ein medizinischer Biochemiker, der das Immunsystem erforscht, seine eigenen Virusinfektionen homöopathisch behandelt), vor allem aber, so Csáky, in

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der gegenüber früheren Epochen widersprüchlichen Vielfalt ästhetischer Ausdrucksweisen (»Zillertaler Schürzenjäger« contra Nikolaus Harnoncourt contra Györgi Ligeti). Möglicherweise ist dieser Relativismus auch mit den vom Psychotherapeuten und Begründer der Logotherapie Viktor Frankl diagnostizierten noogenen Depressionen (»Sinnkrisen«), unter denen viele Menschen leiden, in einen engen Zusammenhang zu bringen. Ein weiterer Indikator für diese Fragmentierung ist die allgemeine Klage über den Verlust der Autorität und der Werte. Das Modell der »Fragmentierten Gesellschaft« erlaubt es jedenfalls, die Komplexität der Bedingungen von Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen von Individuen, die durch besondere inhaltliche Übereinstimmungen in- und außerhalb »Sozialer Netzwerke« verbunden sind – das ist die Definition von »Fragment« in dieser Darstellung – deutend zu beschreiben, und lässt sich in folgenden allgemeinen Aussagen zusammenfassen  : 1. Gesellschaft besteht nicht nur aus »Sozialen Netzwerken«, sondern auch aus nicht durch individuelle Beziehung, sondern mentale Übereinstimmung verbundenen Fragmenten von Menschen, wobei diese mentale Übereinstimmung in ähnlicher Herkunft, ähnli­chen Lebensschicksalen und Erfahrungen, ähnlicher Bildung und ähnlichen Berufen, in gemeinsamen In­teressen und weitgehend gemeinsamen Wert- und Lebensauffassungen begründet liegt. Auch das Bewusstsein gemeinsamer Abstammung und gemeinsamer Wohngebiete können Menschen zu solchen Fragmenten verbinden. (Die Betonung dieser Aspekte führt zu extremem Nationalismus.) 2. Jeder Mensch fühlt sich zwar einem bestimmten Fragment vornehmlich zugehörig (mit jenem, in dessen »Weltbild« er sich »zu Hause« fühlt), gehört aber faktisch mehreren von­einander unterscheidbaren Fragmenten an, zwischen denen er »wandert« (Rollenverhalten). 3. Jeder Mensch bemüht sich, vornehmlich als Angehöriger jenes Fragments akzeptiert zu werden, das ihm das höchste Maß an Ansehen sichert.

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4. Im Laufe seines Lebens kann jeder Mensch (auch mehrmals) seine vornehmliche Zugehörigkeit zu Fragmenten wechseln. Politisch gesehen erscheint individuelle, und in der Folge davon gesellschaftliche Fragmentierung als Voraussetzung wie Preis der modernen westlichen Demokratie, die ja nahezu ausschließlich durch individuelle Freiheit gekennzeichnet ist. Es bedarf keiner besonderen Fantasie, sich vorzustellen, wie sich diese Fragmentierung auf die Kommunikation zwischen Individuen auswirkt, die in dieser gesellschaftlichen Konstellation ganz bestimmte Bedingungen braucht, um überhaupt zu gelingen, Bedingungen, die wie Rezeptoren, um wieder ein Bild zu verwenden, an den Membranen von Körperzellen das Ankoppeln von Proteinen anderer Zellen ermöglichen (wie z. B. bei einer Virusinfektion). Und diese Rezeptoren sind es dann, an denen man die Fragmente einer Gesellschaft unterscheiden kann. Das Verhältnis zwischen der Zugehörigkeit eines Individuums zu einem »Sozialen Netzwerk« und zu einem »Fragment« des Modells der »Fragmentierten Gesellschaft« ist daher das einer »Verwerfung« oder einer »Störzone« in dem Sinn, dass die Zugehörigkeit zu einem Fragment nach dem Modell der »Fragmentierten Gesellschaft« ein Störfaktor für dessen Zugehörigkeit zu und der Identität mit einem »Sozialen Netzwerk« sein kann. »Soziale Netzwerke« sind durch das reale Zusammenleben von Individuen bestimmt, während die Zugehörigkeit zu einem »Fragment« die Individualität der einzelnen Mitglieder »Sozialer Netzwerke« sichert. 2.5.2 Rekonstruktion eines Wahrnehmungskonzepts im Modell der »Fragmentierten Gesellschaft«: Nutzenoptimierung menschlicher Beziehungen

Zunächst zeigt sich, dass Kommunikation stets mit einem zentralen Ziel begonnen wird  : einen Selbstmehrwert zu gewinnen und indivi-

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duellen Nutzen oder Genuss zu maximieren. Prinzipiell kann jeder sich bei jedem anderen solches holen, indem er in dessen soziales Netzwerk eintritt, etwa ins Schuhgeschäft oder zum Uhrmacher, und faktisch geschieht dies ständig im alltäglichen Leben, wenn jemand zum Beispiel zum be­rühmten Klinikchef geht um Heilung, oder zum Rechtswissenschafter um Rechtsbeistand, oder wenn er einen renommierten Chemiker um eine Umweltexpertise ersucht. Große Teile des Gutachter- und Sachverständigenwesens sind solche Vorgänge, die beiden Partnern etwas bringen  : dem Fachmann, weil seine Arbeit dadurch, dass sie einem Menschen bei der Bewältigung seines Lebens hilft, gesellschaftliche Relevanz und damit einen Sinn erhält, der über eine Freizeitbeschäftigung hinausgeht, oder wenigstens weil ihm diese Tätigkeit jenes Einkommen sichert, das ihm den seinem Prestige entsprechen­den Lebensstil ermöglicht. Und derjenige, der um Rat und Hilfe zum Experten kommt, darf hoffen, dass ihm dadurch tatsächlich bei der Bewältigung seines Lebens geholfen wird. Dieser Nutzaspekt menschlicher Beziehung, der von Vertretern der »Chicagoer Schule der Wirtschaftswissenschaften« zu einer Theorie formalisiert wurde und auch mit einem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist (Gary Becker, 1992), muss dann auch als erster Rezeptor, als erste Bedingung, für eine Beziehungsaufnahme gesehen werden. Er mag auch erklären, warum im Zweifelsfall die Zugehörigkeit zu einem »Sozialen Netzwerk« Vorrang vor dem Bekenntnis zu einem »Fragment« zu haben scheint. Zweitens  : Jeder, der schon einmal von einem Freund um Rat gebeten wurde, weiß, dass es weniger schwer ist, solche Ratschläge zu geben, als es zu ertragen, dass sie der Freund dann nicht befolgt. Gerade diese Erfahrung muss aber jeder, der Ratschläge gibt, häufig machen, und das liegt daran, dass jeder sein ganz persönliches Leben als allgemeinen und auch allgemeingültigen Bezugsrahmen für Ratschläge nimmt, so als ob alle Werte, nach denen er sich richtet, auch für jeden anderen die gleiche Bedeutung haben müssten wie für den Ratgeber.

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Das vor allem ist der Grund, warum in vielen Fällen Gespräche nichts bewirken  : weil nämlich das Menschenbild oder der Lebensentwurf, oder die Werte zwischen den Gesprächspartnern nicht übereinstimmen, sie das aber in ihren Gesprächen nicht bemerken und so weniger miteinander als gegeneinander reden. Das bedeutet aber auch, dass jeder, der ein Problem hat, das er allein nicht lösen kann, trotzdem Bedingungen für dessen Lösung hat, die vor allem durch seine Wert- und Lebensauffassungen bestimmt sind. Auf die Beziehung bei »Dienstleistung« als Beispiel angewendet, ergibt sich daraus  : Wenn die vom konsultierten Spezialisten angebotene Lösung in wesentlichen Punkten nicht diese Bedingungen berücksichtigt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie der Ratsuchende nicht annimmt, vielmehr die Beziehung abbricht und sich einen anderen Spezialisten sucht, von dem er einen seinen Bedingungen adäquaten Lösungsvorschlag erwarten kann. Ein Beispiel  : Gesetzt den Fall, ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft Zeugen Jehovas leidet an einer Krankheit, die mit einer aufwendigen Operation behandelt werden kann. Der Eingriff ist jedoch mit einem so großen Blutverlust verbunden, dass Transfusionen notwendig sind, um ihn erfolgreich durchzuführen. Der Patient wird auf jeden Fall die Transfusion ablehnen, sodass möglicherweise die vorgeschlagene Operation nicht durchgeführt werden kann, obwohl sie aus der Sicht des Spezialisten die optimale Problemlösung wäre. Solche Kommunikationsabbrüche treten viel häufiger auf, als sie bemerkt werden, da danach oft aufgrund von Erwartungszwängen jener »Sozialen Netzwerke«, von denen ein betroffenes Individuum emotional (Familie, Freundeskreis, Nachbarn, Religionsgemeinschaft) oder materiell (»Sachzwang«) abhängig ist (Firma, Lobby, Partei), von diesem eine weitere Beziehung vorge­täuscht wird. Im Alltag behelfen sich diese Partner, wenn es nicht möglich ist, ihre Beziehung abzubrechen, damit, dass sie ihre Kommunikation auf jene Sachbereiche einschränken, auf de­nen sie einen Minimalkonsens zustande bringen

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oder zu einem solchen gezwungen werden. Dies ist möglicherweise auch eine Ursache für die scharfe Trennung vieler Menschen zwischen Arbeit und Freizeit. Drittens, an der gleichen Beziehungskonstellation exemplifiziert  : Der Ratsuchende muss die Problemlösungskompetenz des Spezialisten oder Dienstleisters an äußeren Merkmalen, an Zeichen, an Signalen, erkennen, bzw. darf dieser keine Symbole und Rituale verwenden, die den Eindruck von Inkompetenz erwecken. Dazu gehört auch, wie dieser redet. Ein Ratsuchender wird von vorneherein weder einem Chemiker im Baströckchen noch einem Psychotherapeuten trauen, der nur in Gaunersprache mit ihm spricht. Aus dieser durch Signale sichtbar gemachten Kompetenz ergibt sich der vierte Beziehungs-Rezeptor  : die durch das Fragment bestimmte Autorität seiner Mitglieder und, damit verbunden, der Anteil des Fragments an der Macht über die Gesamtgesellschaft, welche unmittelbare Auswirkungen auf die Machtstruktur »Sozialer Netzwerke« zeitigt. Der Universitätsprofessor, mag er in seinem »Fragment« auch wenig beachtet sein, kann in seinem »Sozialen Netzwerk«, in dem er der einzige Universitätsprofessor ist, die höchste Autorität besitzen. Diese Rezeptoren gelten für alle Individuen, wenn sie miteinander Beziehung pflegen und miteinander kommunikativ handeln  : Richter und Statiker, Installateure und Lehrerinnen, Priester und Gewerkschaftsfunktionäre – das kann man auch im Buch Sprachbarrieren. Die Verständigungskrise der Gesellschaft von Ruth Wodak, Florian Menz und Johanna Lalouschek nachlesen, auch wenn die Autoren ihre Ergebnisse nicht in dieser Art systematisiert haben, wie es hier geschah  ; ein besonders glitzerndes Beispiel für das Gefühl für diese Beziehungs-Rezeptoren ist Willard van Orman Quines berühmtes sprachphilosophisches Werk Word and Object.

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2.6 Der Weg zu gemeinsamer Wahrnehmung als Grundlage für ein gemeinsames Verstehen: Kommunikation

Wie am sogenannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« des Jan van Eyck dargelegt wurde, stehen den unterschiedlichen Deutungen von Zeichen und damit den unterschiedlichen Wahrnehmungen von verschiedenen Rezipienten bzw. Rezipientengruppen im Vermittlungsprozess aber Zeichen gegenüber, die in einer ganz bestimmten Weise, wenn schon nicht eindeutig, so doch gemeinsam verstanden werden bzw. verlässliche gemeinsame Reaktionen hervorrufen wollen, damit der Vermittlungsprozess gelingen kann. Um ein annähernd eindeutiges Verständnis, z. B. des Bildes von Jan van Eyck, zu gewinnen, wäre es notwendig, zu erfragen, was Jan van Eyck durch sein Bild mithilfe der von ihm verwendeten Zeichen vermitteln wollte. Mit anderen Wörtern  : Es wäre – nicht nur in persönlichen Beziehungen – mehr als belastend, ständig in einer vieldeutigen, unklaren, als widersprüchlich wahrgenommenen Welt zu leben (auch wenn sie wahrscheinlich wesenhaft widersprüchlich ist). Alltagssprachlich drückt sich dieses Bedürfnis von Menschen, trotz unterschiedlicher Wahrnehmung gemeinsam wissen und verstehen zu wollen, in der Formel aus  : »Was will der Künstler/Dichter/Regisseur/ Journalist mit seinem Bild/seinem Text/seinem Film/seinem Artikel sagen  ?« – nicht anders als es oft auch bei ganz persönlichen Gesprächen vorkommt, dass jemand zurückfragt, mit dem gleichen Ziel, um zu verstehen  : »Was willst du damit sagen  ? Was meinst du damit  ?« Dieses Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit wird auch darin sichtbar, dass Beobachter, wenn es sich um beobachtbare Ereignisse handelt, sofort die Möglichkeit zu einer Eingrenzung der Vieldeutigkeit dadurch suchen, dass sie sich im gemeinsamen Gespräch über ihre Wahrnehmung rückversichern und ihre Sichtweisen, ihre Deutungen der Zeichen, abklären und abstimmen. Für die Menschen des 15. Jahrhunderts waren die meisten Zeichen verständlich, die van Eyck im »Hochzeitsbild des Giovanni Arnol-

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fini« verwendete, weil sie als Zeitgenossen Jan van Eycks mit diesem im gemeinsamen semantischen Raum der Allegorie wohnten, der den meisten heutigen Betrachtern verschlossen und von selbst nicht mehr zugänglich ist. Aber durch das Reden über wichtige Details des Bildes und ihre Erläuterung kann dieses Wissen kommunikativ-vermittelnd wieder hergestellt werden und zum Verständnis des Bildes von Jan van Eyck beitragen. Denn nichts anderes ist das Ziel von Vermittlung, wie sie der Wiener Kommunikationswissenschafter Roland Burkart definiert  : als eine »spezielle Form der sozialen Interaktion, nämlich wenn sich Menschen im Hinblick aufeinander kommunikativ verhalten und sich dabei erfolgreich Bedeutungen vermitteln«, das heißt, dass diese Menschen »danach diese Bedeutungen teilen« und »gemeinsam einen semantischen Raum bewohnen« – wie es mit einem Bild ausgedrückt wird, das darüber hinaus auch auf die Notwendigkeit der Anschaulichkeit in der Vermittlung Bezug nimmt. Und damit kommt man zum wichtigen dritten Element für eine Theorie der Wahrnehmung  : (8) Unterschiedliche Deutungen von Wahrnehmungen werden durch Kommunikation harmonisiert.

Durch Kommunikation wird der »gemeinsame semantische Raum« geschaffen, in dem dann »Denkgewohnheiten« entstehen, indem sich Menschen auf Wahrnehmungs- und Kommunikationskonventionen einigen oder erlernen, die ein gedeihliches Zusammenleben ermöglichen.

3. Zeit und Raum als Deutungseinschränkungen von Wahrnehmungen 3.1 Zeitliche Positionierung

Wenn man die Befunde aus der Analyse des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck im Hinblick auf das Zeitverständnis verallgemeinert, erhält man ein weiteres Element für eine

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Theorie der Wahrnehmung  : die Kennzeichnung des »Wann« eines Bildes, des Zeitpunktes der dargebotenen Darstellung. Denn unzweifelhaft, so der Befund, wird die Wahrnehmung einerseits durch die zum Zeitpunkt ihrer Herstellung herrschenden Denkgewohnheiten, andererseits durch die zeitliche Abfolge der Zeichen und Bilder im zeitlichen Kontext strukturiert (wobei der Begriff »Bild« hier sehr allgemein und umfassend verwendet wird, das heißt, auch Ereignisse, Sachverhalte usw. bezeichnet). Eine Datierung der Bilder im Sinne einer Strukturierung der Wahrnehmung – auch das ergibt sich aus der bisherigen Analyse – ist mit vielfältigen Zeichen möglich  : 1. Man kann sie einfach mit einem Datum oder einer Jahreszahl versehen wie bei unserem Musterbild von van Eyck. 2. Entsprechend Gentile da Fabrianos kritischen Ausführungen in seinem Buch Die Fehler der Maler, die sich auf den Hintergrund des damals gerade sich durchsetzenden Zeitempfindens beziehen, bieten sich als weitere allgemeine Datierungsmöglichkeiten die Erscheinungsformen der Mode an, z. B. die Art, Kleider, Haare und Bart zu tragen. 3. Schließlich spielt für die Datierung der Bildhintergrund eine große Rolle, der mit dem Wandel des Zeitempfindens eine vollständig neue Konzeption erhält – weg von der typisierten Darstellung einer imaginären zeitlosen Welt –, und mit ihm die auf den Bildern zu sehenden Accessoires. Auch dafür ist van Eycks »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« ein Musterbeispiel  : die Möbel Bett, Kommode, Bank, Spiegel, Kronleuchter geben uns, zunächst einmal aber dem Betrachter des 15. Jahrhunderts, unzweideutig bekannt, dass es sich um ein repräsentatives Schlafgemach einer vornehmen Familie handelt. Dies ist besonders auch daran erkennbar, dass die Fenster verglast sind, was im 14. Jahrhundert noch so teuer und kostbar war, dass eine Verglasung nur bei öffentlichen, repräsentativen Gebäuden verwendet wurde, während die Häuser gewöhnlicher Sterblicher lediglich Fensterläden hatten.

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Diese Darstellung der Welt als Hintergrund, die man auf der Grundlage des heute mehrheitlich akzeptierten naturwissenschaftlichen Weltbildes und der damit verbundenen Wahrnehmungsgewohnheit als »naturalistisch« bezeichnen kann, wird ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts so detailreich und genau, dass – als Beispiel – der ehemalige Professor für Systematische Botanik an der Universität Graz, Josef Poelt, daraus sogar eine Geschichte der Umweltzerstörung für diese Zeit rekonstruieren konnte. 4. Wenn es sich um Bilderfolgen handelt wie die Bilder des Spiegelrahmens am Hochzeitsbild von Jan van Eyck oder um die Franziskusdarstellung in der Capella Bardi der Kirche San Croce in Florenz aus der Schule des aus Lucca stammenden Bonaventura Berlinghieri, der um 1235 wirkte, die in mittelalterlicher Manier von Episoden in zeitloser Darstellung aus dem Leben des Heiligen umgeben ist, oder um die Paradiesestür des Baptisteriums in Florenz, auf der Lorenzo Ghiberti (1378–1455) in Bronzereliefs die Highlights der biblischen Geschichte, in diesem Fall bereits mit deutlichen Ansätzen eines datierenden Hintergrundes nach dem gewandelten Zeitempfinden, darstellt, wird die zeitliche Position des Einzelbildes vor allem durch seine Stellung in der Bilderfolge bestimmt. Zum Beispiel das Relief »Die Opferung des Isaak«, das zeigt, nach welcher Dramaturgie die Tafeln der Paradiesestür gestaltet sind   : Ghiberti verwendet zwar Darstellungsmittel zur Datierung der Bilder, ergänzt die jeweilige »Haupthandlung« aber im gleichen Bild mit Szenen, welche zur »Haupthandlung« hinführen bzw. ihre Botschaft verdeutlichen. Die Opferung Isaaks, den Abrahams Frau Sara ja erst im hohen Alter gebar, hat, wie in einer Rückblende, als Pendant die Verkündigungsszene der Geburt des Isaak an Abraham durch die Gottesengel – wie wenn Ghiberti die zeitlose Wahrheit zum Ausdruck bringen wollte, mit der Hiob den Versuchungen seiner Freunde begegnete  : »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.« Im Hinblick auf das zu dieser Zeit

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bereits in vielen Bildern dargestellte Zeitempfinden kann es aber eigentlich nur als ein »Bild im Bild« als zusätzlicher inhaltsdefinierender Zeitverweis verstanden werden. 5. Dazu kommen Datierungsmittel, die durch das Fallbeispiel »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« sowohl wegen des Genres, aber vor allem auch aufgrund des damaligen Standes der Technik nicht erfasst werden, nämlich alle Formen sprachlicher Ausdrucksweise  : zum Beispiel der Sprachduktus sowie alle in der Sprache ausgedrückten Bezüge auf Wert‑ und Lebensauffassungen und Moden (Namen), sowie politische, kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse. 6. Schließlich besitzt jedes Bild immanente Zeichen als Datierungsmittel, wie die Produktionstechnik des Mediums, inklusive die Materialien, die bei ihrer Herstellung verwendet wurden. Diese Datierungsmittel dienen freilich nicht den Herstellern zur Datierung ihrer Bilder, sie sind vielmehr durch den »Stand der Technik« vorgegeben und sind nur eine Datierungshilfe für den gebildeten Rezipienten. 3.2 Zeitliche Fixierung eines Bildes bedingt dessen Definition im Raum

Wenn man diese genannten Möglichkeiten der Datierung eines Bildes betrachtet, sieht man, dass dies nicht ohne Definition im Raum möglich ist  : Im »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« Jan van Eycks macht dieser die räumliche Definition sogar mit schriftlichen Zeichen sichtbar  : in der Inschrift Johannes de Eyck fuit hic. – »Jan van Eyck war hier.« Zu jedem nunc – »jetzt« gehört auch ein hic – »hier«. Oder anders und wieder mit einem Bildbeispiel ausgedrückt  : Wenn dieses Bild nicht das »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« wäre, sondern zum Beispiel eines Bauernpaares, und das noch in einem niederländischen Dorf, müsste es ganz anders aussehen, heißt, müssten andere Zeichen, bzw. ein anderes Zeichensystem verwendet werden, um diese Hochzeit darzustellen  : Auch wenn das Bild »Bauernhochzeit« mehr

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als hundert Jahre später von Pieter Brueghel gemalt wurde, wird durch den Vergleich zwischen diesem, bzw. den Zeichen, die dort verwendet werden, und dem »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck die Ortsabhängigkeit jeder Datierung deutlich  : Datierung ist stets mit einem konkreten Ort verbunden, den man beschreiben – bezeichnen – muss, um die Zeit in ihm zu fassen. Daraus ergibt sich ein weiteres Element für eine Theorie der Wahrnehmung  : (9) Die Deutungsvielfalt von Wahrnehmungen wird durch deren zeitliche Fixierung und räumliche Positionierung eingeschränkt.

4. Konsequenz: Die zeitliche und räumliche Positionierung von Bildern als medienästhetisches Gestaltungsmittel

Diese verschiedenen Datierungsmöglichkeiten in Kombination mit dem Wissen um die Darstellungsusancen – das Zeichensystem – der Zeitlosigkeit in der Zeit davor, von denen sich die visuellen alle im »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck finden, zeigen – umgekehrt – welche medienästhetischen Mittel zur Verfügung stehen, um die Deutung von Wahrnehmungen und ihrer Veränderungen im Zeitfluss zu beeinflussen und zu gestalten, und sie werden auch ganz gezielt, wenn auch nicht immer bewusst, von Medienmachern eingesetzt, wobei hier der Begriff »Medien« in seiner allgemeinen etymologisch begründbaren Form verwendet wird  : Die Einzahl »Medium« kommt aus dem Lateinischen, bedeutet »das in der Mitte Befindliche«, dadurch »das Vermittelnde«, und bezeichnet als Plural »Medien« bildungssprachlich alle Mittel zur Weitergabe oder Verbreitung von Botschaften – nicht Informationen  ! – durch Sprache, Gestik, Mimik, Schrift, Bild oder Musik, speziell in der Ausgestaltung der Kulturgüter Buch, Bild, Plastik, Theater, den Massenmedien Presse, Film, Funk, Fernsehen und Internet mit allen ihren Gestaltungsmit-

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teln sowie den elektronischen Medien, welche aufgrund neuer technischer Möglichkeiten die Zeichensysteme als Darstellungsmittel der einzelnen Kulturgüter in vielfältiger Weise neu zu kombinieren in der Lage sind. Die sieben grundsätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten für die Deutung der Wahrnehmung der Welt in Medien mithilfe von Zeichen zur Datierung von Bildern, die natürlich nicht in allen Medien gleichermaßen verwendet werden können, lassen sich aus der Analyse ableiten und ihre Verwendung in Medien beispielhaft nachweisen  : 1. Die strenge Rekonstruktion der Bilderfolge in ihrer ursprünglichen zeitlichen Einbettung  : Sie vermittelt auch bei dadurch gegebenenfalls verringerter Verständnismöglichkeit der Rezipienten Authentizität und Wahrhaftigkeit. Immerhin lautet eine der häufigsten Fragen von Kunstreisenden  : »Aus welcher Zeit stammt das  ?« Oder schlichter  : »Wie alt ist das  ?«, auch wenn sie dann mit der Antwort nichts anfangen können. Beispiele aus dem täglichen Leben sind Protokolle (z. B. von Zeugenaussagen), Bedienungsanleitungen, Lebensläufe oder Tagebücher. Im medialen Bereich folgen diesem Muster (Museums‑) Kataloge, Sachbücher und (vor allem historische) Dokumentationen oder – in der Wissenschaft – digitale Rekonstruktionen. Die strenge chronologische Bildfolge ist übrigens allen Medien, die Bewegungen wiedergeben, immanent  : Es lassen sich nur dann bewegte Bilder wahrnehmen, wenn die Kader des Films oder der Animationen in einer strengen chronologischen Abfolge ablaufen, einer Abfolge, die jener des Bewegungsablaufes vollkommen entspricht, die den Bewegungsablauf also »rekonstruiert«. 2. Die Veränderung der Abfolge der Bilder durch Umpositionierung in der Bilderfolge  : Dadurch kann ein anderer Begründungszusammenhang, ein anderes Verständnis bei den Rezipienten provoziert werden, als sich aus der korrekten Abfolge ergebe. Eine klassische Form ist die Rückblende, die oft eine Erweiterung der Bilderfolge in die Vergangenheit zum Ziel hat. Im Alltag findet man diesen Umgang mit Zeit

Elemente für eine Theorie der (Medien-)Ästhetik  : 115

in Gesprächen, wenn Menschen von sich erzählen. Umpositionierungen von Bildern in der Form von Rückblenden sind eines der am häufigsten gebrauchten Stilmittel in allen Medien, eines der bekanntesten aktuellen Beispiele ist der Film Forrest Gump, ein anderes der Film Evita, der vollständig als Rückblende in die Rahmenhandlung ihres Begräbnisses eingebettet ist, oder auch die Filme Jenseits von Afrika und Titanic, um nur einige aus der Fülle der Beispiele herauszugreifen. Im klassischen Theater übernehmen oft Prologe diese Funktion der Rückblende, indem sie die Vorgeschichte erzählen und so den Ablauf des gezeigten Geschehens für den Zuschauer deutbar und verstehbar machen. 3. Die Umdatierung des Bildes (Anachronismus) durch Verwendung von Zeichen und Zeichensystemen aus einer anderen Zeit  : Eine geläufige Form dieser Umdatierung ist die Aufführung von klassischen Theaterstücken mit jeweils zeitgenössischen Accessoires und in zeitgenössischer Kulisse des Zeitpunkts ihrer jeweiligen Aufführung. Besonders eindrucksvoll wird dieses medienästhetische Mittel in Filmen wie Romeo und Juliette (1996), Ein Sommernachtstraum oder Wild Blue Eyes vorgeführt  : Die zeitlosen Aussagen der Theaterstücke fügen sich in das geänderte Ambiente ein, während sich die zeitgebundenen Aussagen scharf abheben. Auch die Verfilmung des Märchens Aschenputtel nach diesem Modell mit dem Titel Cinderella ’87 macht die zeitlosen Aussagen von Märchen im Sinne alter Menschheitserfahrungen deutlich wahrnehmbar. Besonders beliebt war und ist die Verwendung dieses Gestaltungsmittels am Theater, wie etwa die Don-GiovanniInszenierung bei den Salzburger Festspielen 1999 oder Peymanns legendäre Inszenierung von Shakespeares Julius Caesar, was deshalb als stilecht akzeptiert werden könnte, weil Shakespeare selber dieses Mittel bei vielen seiner Theaterstücke verwendet hat, zumindest bei jenen, die er aus antiken Vorlagen nach‑ oder umgedichtet hat. 4. Die absichtliche wie unabsichtliche Verwendung widersprüchlicher Da­tie­rungsmittel, bzw. Zeichen aus divergenten Zeichensystemen  : So soll

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angeblich ein Kondensstreifen am Himmel über dem Kolosseum oder eine Uhr am Arm eines Sklaven im Film Ben Hur zu sehen sein. Der Einsatz widersprüchlicher Datierungsmittel erzeugt, wenn er von den Rezipienten erkannt wird, entsprechend der Theorie des Humors in der Fassung von Heike Christian Hirsch eine lächerliche Wirkung. Eine solche Wirkung ist offensichtlich auch das Ziel einer Comic‑Serie über eine Familie »Flintstone«, die zwar als in der Steinzeit lebend dargestellt wird, aber ihre Lebenswelt ist in einer skurrilen Form nach modernen Mustern hochtechnisiert gestaltet. Die bekanntesten Beispiele aus der Filmwelt für die absichtliche Verwendung widersprüchlicher Datierungsmittel zur Unterstützung humoristischer Wirkungen sind die Produktionen von Monty Python (Ritter der Kokosnuss, Das Leben des Brian). 5. Die Auflösung der Zeit in räumliche Dimensionen  : Als ungewöhnliches Beispiel für dieses medienästhetische Gestaltungsmittel, das vollkommen dem mittelalterlichen Zeitempfinden und seinen Darstellungen entspricht, kann die Darstellung des Lebens von Alma MahlerWerfel im Rahmen des Steirischen Herbstes 1999 gelten. Bei dieser Inszenierung wurden verschiedene Episoden aus dem Leben der Dichterin gleichzeitig von verschiedenen Schauspielern an verschiedenen Orten gespielt, zwischen denen die Zuschauer umhergehen konnten. Dieser Vorgang könnte in einer filmischen Umsetzung nicht einmal durch einen geteilten Bildschirm vollkommen dargestellt werden. Eine vergleichbare Auflösung der Zeit in räumliche Dimensionen bietet auch – das ist ein weiteres Beispiel – eine Episode aus der TV‑Serie Star Trek – The Next Generation, in der die Helden sich selber begegnen. Eine Szene zeigt sogar in bester mittelalterlicher Darstellungs­ tradition den Androiden Data, im gleichen Raum x‑fach vervielfältigt, verschiedene zeitlich aufeinander folgende Handlungen ausführend, bis am Ende der Szene alle Datas die gleiche Handlung setzen. Eine feinere Form des Einsatzes dieses medienästhetischen Gestaltungsmittels, mehr angedeutet als angewendet, findet man im Buch

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Der kleine Prinz von Antoine de Saint Exupery, z. B. in der Episode des Planeten mit dem Laternenanzünder. In gewisser Weise kann man auch den Film Vier lieben dich in diese Kategorie der räumlichen Auflösung von Zeit einordnen, auch wenn in diesem Fall das Phänomen durch Klone hervorgerufen wird. 6. Auch die Zeitschleife – die Wiederholung ein und desselben Zeitabschnittes mit abweichendem Inhalt –, wie sie in vielen Filmen von Quentin Tarantino zu finden ist (zum Beispiel in Pulp Fiction oder Jackie Brown), oder bei Oliver Stones Natural Born Killers (in dem zum Beispiel eine Szene aus den Sichtweisen verschiedener Personen wiederholt wird), und die auch das Gestaltungsmittel des Schlusses des Filmes Lola rennt ist (Wiederholung der Schlussszene mit verschiedenen Ausgängen), bzw. von der auch der Film Und ewig grüßt das Murmeltier seine Dramatik bezieht, zeigt Merkmale einer solchen Auflösung der Zeit im Raum. Gleichzeitig findet hier jedoch unzweifelhaft auch eine Verdichtung der Zeit statt, sodass es schwer ist, zwischen beidem, räumlicher Auflösung der Zeit oder Zeitverdichtung (im weitesten Sinn  : die zeitliche Auflösung des Raumes) eindeutig zu unterscheiden. (Siehe den Abschnitt »Zeitverdichtung« dieses Kapitels.) Mit räumlicher Auflösung von Zeit kann übrigens, genau so wie mit der Verwendung widersprüchlicher Datierungsmittel, ebenfalls eine humoristische Wirkung erzielt werden, und zwar deshalb, weil sie im heutigen Zeitverständnis als widersprüchlich empfunden wird, wie folgender Witz beweist  : Ein Museumsbesucher, der zwei menschliche Schädel – einen großen und einen kleinen – nebeneinander in einer Vitrine betrachtet, fragt den Museumsführer, von wem diese Schädel sind  : »Der große«, erklärt dieser, »gehört Kleopatra«. – »Und der kleinere  ?« fragt der Besucher. »Das ist der Schädel von Kleopatra, als sie ein Kind war.« 7. Die den unmittelbaren Erfahrungshorizont überschreitende Darstel­ lung von Bildern und Ereignissen, z. B. nach modernen p ­ hysikalischen Zeittheorien, heißt mit divergierenden Zeichensystemen  : Diese Datie­ rungs­art (z. B. nach Einsteins Relativitätstheorie) wird derzeit aus-

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schließlich in Science-Fiction-Produktionen verwendet. Das bekannteste Beispiel sind die Filme der Serie Zurück in die Zukunft. Dazu gehört auch das Außerkraftsetzen von Zeit, wie es etwa in Michael Endes Buch (und Film) Momo dargestellt wird  : Da gibt es keine Zeit mehr, und niemand kann sich bewegen. Das Wissen um diese medienästhetischen Gestaltungsmittel ermöglicht es den Produzenten, inhaltliche, semantische Positionen und damit wesentliche Intentionen, die sie mit ihrem Produkt verbinden, zu vermitteln und damit Wert‑ und Lebensauffassungen, »Weltbilder«, zu spiegeln  : Wird z. B. ein Medienprodukt, ein Bild, nicht zeitlich fixiert, also gleichsam aus der Zeit herausgenommen, wird damit ein Anspruch auf Zeitlosigkeit erhoben. Trotz vielfältiger technischer und inhaltlicher Fragestellungen scheint auch für Medienprodukte des Internets der Grundsatz zu gelten, dass deren Deutungsmöglichkeiten durch zeitliche und räumliche Fixierung stark eingeschränkt werden, auch wenn Webseiten nur Schablonen sind, die oft über mehrere örtlich weit auseinander liegende Server verstreute Einzelinhalte unterschiedlicher Entstehungszeit gesammelt anzeigen. Jürgen Genser und Marko Ikonic zeigten in ihrer Seminararbeit Die zeitliche und räumliche Fixierung von Bildern im Internet und ihr Einfluss auf die Deutung der Wahrnehmung der Welt im Rahmen des Forschungsseminars »Wahrnehmen – Deuten/Verstehen – Erzählen/Darstellen – Deuten/Verstehen – Wahrnehmen« am Institut für Anglistik der Karl-Franzens-Universität Graz im Sommersemester 2002, dass sich in erster Linie das auf der Webseite verzeichnete Datum auf die Wahrnehmungsdeutung auswirkt. 4.1 Die Bedeutung zeitlicher und räumlicher Bildfixierung in der Werbung

In der Werbung etwa kann dadurch, dass sich in den Darstellungen über einen längeren Zeitraum zwar das Umfeld entsprechend den äußeren Bedingungen, nicht aber der Markenname oder wesentliche Ele-

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mente der Darstellung des Produktes ändern, die zeitlose Bedeutung und Qualität des Produkts signalisiert werden. Bekannte Produkte sind das Getränk Coca Cola, das bis heute nicht einmal den Schriftzug geändert hat und wie ein urzeitliches Monument – allen Stürmen der Zeit trotzend, Lebensfreude und Dynamik sichernd – dargestellt wird, und das Waschmittel Persil, dessen Darstellungsform sich zwar durchaus verändert hat, lange Zeit aber nicht die Trägerperson, die Persil‑Lady oder »‑Dame«, die nur ihr Outfit den jeweils herrschenden Moden und Einstellungen entsprechend abgewandelt hat. Dies hat mit dem Bedürfnis, »Marken« als emotionale Trittsteine im stürmischen Wandel der Zeiten zu schaffen, zu tun und setzt auf das Beharrungsbedürfnis der Menschen im Interesse der Stabilität ihrer Identität auf. Dieser Vorgang funktioniert aber auch umgekehrt  : Wenn man nämlich die Umgebung zeitlos darstellt und sich das Produkt in diesem unveränderten Umfeld wandeln lässt, wird auf die Zeitgebundenheit des Produktes in der Zeitlosigkeit eines bestimmten (moralisch‑ethischen) Anspruches hingewiesen. Eine solche Intention liegt möglicherweise im Layout mancher Nachrichtenstudios vor, die sowohl zeitlos gestaltet sind, als auch wenig Veränderungsbedürfnis zeigen. Dies kann entsprechend den von Michael Kunczik klassifizierten dominierenden Selbstverständnistypen von Journalisten entweder als gatekeeper – »Tormann« mit Neutralitäts‑ und Objektivitätsanspruch oder als advocate – »Anwalt« mit sozialem Engagement das Mittel sein, Verlässlichkeit in einer sich rasch wandelnden Zeit zu signalisieren, selbst dann, wenn den Designern und Programmverantwortlichen diese Intention gar nicht bewusst ist. 4.2 Beispiel Archäologie

In den beschriebenen Fällen der Werbung wirkt die gleiche anthropologische Konstante, die bis heute auch der Archäologie für den Menschen Bedeutung gibt. Hinter dem Interesse an Archäologie steht weniger die

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philosophische Grundfrage »Woher kommen wir  ?« als eine Sehnsucht nach Transzendenz, eine Sehnsucht, die Zeit und damit den ständigen schnellen Wandel zu überschreiten. Diese Sehnsucht wird nicht dadurch gestillt, dass durch die Arbeit der Archäologen die Geschichte als Mittel der Selbstvergewisserung des Menschen nach dem Verlust der Sicherheit des »Imperium christianum« illustriert wird, sondern dadurch, dass die Archäologen die Bilder der Geschichte konservieren, das heißt unveränderlich machen, wodurch jenes Empfinden wieder verfügbar und abrufbar wird, aus dem die Menschen des Mittelalters ihre Sicherheit gewannen  : In den steinernen Bildern wird das Zeitliche wieder zurückverwandelt ins Ewige – in die Wahrnehmungsform von Zeit und Geschichte im Mittelalter. Das Entwicklungsgebundene, durch Ort und Zeit Bedingte, erscheint als dauerhaft Gültiges, das Bewegliche wird fest – mit fünf Wörtern  : Die Zeit steht wieder still, wie sie es im Mittelalter tat, sodass sich der Betrachter wenigstens für einige Augenblicke wieder in jener ruhenden Sicherheit geborgen fühlen darf, an der er in seinem konkreten alltäglichen Leben keinen Teil mehr hat. Archäologie ist also ein Instrument, jenen Motor der Zeit für kurze Zeit wieder anzuhalten, der im 12. Jahrhundert von mittelalterlichen Intellektuellen wie Bernhard von Chartres angeworfen wurde und der sich in den 800 Jahren seither auf Höchsttouren beschleunigt hat. Archäologie kann die rasende, atemlose Zeit stillstehen lassen und die Geschichte so zeigen, um es mit dem mittelalterlichen Philosophen Bernard de Chartres zu sagen, wie sie ein Zwerg von den Schultern eines sehr, sehr großen Riesen aus sieht  : In der Weite des Horizonts verschwinden alle Bewegungen, und er gewinnt eine Ahnung dessen, was bleibt.

5. Zeitverdichtung

Nach Martin Burckhardt gibt es noch einen weiteren Aspekt von Zeit, der für eine Theorie der Ästhetik von Bedeutung ist und im »Hoch-

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zeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck die Darstellung bestimmen könnte  : Wenn das Bild den Akt der Eheschließung zeige, wäre die Stellung, die Mann und Frau zueinander einnehmen, nicht eine beliebige Pose, sondern typischer Teil des Hochzeitsrituals, das vorsieht, dass die Brautleute einander die rechten Hände reichen und der Bräutigam die Hand zum Gelöbnis erhebt. Burckhardt bietet als Interpretation des Bildes an, dass in der Darstellung genau diese zwei Ereignisse, diese beiden Zeichen gleichzeitig festgehalten seien, zwei für das Hochzeitsritual wesentliche Handbewegungen zu einer einzigen verdichtet  : das Sich‑die‑Hand‑Reichen der Brautleute und das Heben der Hand zum Gelöbnis des Mannes. Um diese zeitlich hintereinander liegenden Bewegungen in einer Szene »zeitverdichtet« darstellen zu können, hätte – so Burckhardt – Jan van Eyck eine Abweichung vom Ritual in Kauf nehmen müssen  : Er musste, meint Burckhardt, den Ehemann seiner Frau die linke Hand reichen lassen, obwohl die rechte die richtige wäre, weil er die rechte Hand sich zum Gelöbnis erheben hätte lassen müssen. Hätte Burckhardt recht, wäre diese von van Eyck gewählte Zeitverdichtung eines Ablaufs in einen Augenblick das umgekehrte Gegenstück zur mittelalterlichen Darstellungspraxis  : In der mittelalterlichen Darstellung werden Ereignisse in der Zeit räumlich aufgelöst, indem deren Abläufe wie die Kader eines Films nebeneinander oder hintereinander abgebildet wurden. Hier wäre der zeitliche Ablauf zu einem Bild zusammengeschoben, so als ob man die Kader eines Films übereinander legen würde  : Das Ereignis wäre im wahrsten Sinn des Wortes auf den Punkt gebracht, und das wäre wahrhaftig das Gegenteil zur Ausdehnung der Zeit im Raum, nämlich ein Beleg zeitlicher Synthese, einer Zusammenfassung zeitlich auseinander liegender Ereignisse in den dargestellten Personen. Aber  : Im Falle des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« wäre diese Zeitverdichtung – ungeachtet ihrer einmaligen Genialität – nur möglich, weil es sich um ein sehr kurzes Ereignis mit wenig Verän-

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derungen im Gesamtbild handelt. Es würde die beiden typischen und einander auch sehr naheliegenden Handlungen darstellen, die beiden typischen Handbewegungen und damit das Typische des Hochzeitsrituals schlechthin. Und das würde das Bild noch einmaliger machen als es ist, denn es wäre das einzige Bild, in dem eine solche Zeitverdichtung, zwei Handlungen in einem Paar zu einer zusammengefügt, gemalt worden wäre. Dieses Verfahren wäre freilich nicht möglich, wenn ein Ereignis virulenter, mit starken Bewegungen abläuft  : Man stelle sich vor, die wesentlichen Teile des Rituals wären das Händereichen und danach ein Purzelbaum der beiden Ehepartner. Dies darzustellen wäre in einer Zeitverdichtung in der Art des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« nicht möglich. Wäre das Ritual so gewesen, hätte sich Jan van Eyck für einen der beiden Ritualteile als typischen entscheiden oder eine ganz andere Darstellungsform wählen müssen, wie es ja auch die Maler danach taten  : Sie entschieden sich, nachdem sich die neue Zeitauffassung in den Köpfen durchgesetzt hatte – wie auch das Beispiel von Breughels »Bauernhochzeit« zeigt –, für einen »typischen Augenblick« eines Ereignisses und nahmen ihn pars pro toto für das gesamte Ereignis. Oder sie griffen auf die mittelalterliche Form der Darstellung eines Ereignisses in neugedachter Weise zurück und wählten, wie Ghiberti in seiner Paradiesestür in Florenz, den Weg, durch ein »Bild im Bild« eine zusätzliche inhaltsdefinierende Zeitschiene einzuziehen. Als Schluss kann man aber auf jeden Fall aus diesen Überlegungen ziehen  : Bei der räumlichen Auflösung der Zeit im Mittelalter kann es sich ebenfalls nur um eine Zeitverdichtung handeln. Und  : Weil Zeitverdichtung auch nach dem Mittelalter in der neuen Zeitauffassung eine Rolle spielt, ist die räumliche Auflösung der Zeit, wie sie im Mittelalter gang und gäbe war, auch danach bei weitem nicht vorbei – vor allem auch, um auf die Darstellung zeitlicher Abläufe nicht verzichten zu müssen (noch war der Film ja nicht erfunden), aber sie erscheint in

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neuem, mit der neuen Zeitauffassung vereinbaren Gewande als »Bild im Bild« – quasi als Zeichensystem im Zeichensystem – mit einem zusätzlichen Ziel, wie das folgende Beispiel der »Spinnerinnen« von Velázquez zeigt  : als weiteres Mittel zur Einschränkung der möglichen Deutungen des Bildinhalts. 5.1 Exkurs: Das »Bild im Bild« als Mittel zur Einschränkung der Deutungsvielfalt von Wahrnehmungen

Das Bild »Die Spinnerinnen« des spanischen Malers Diego ­Rodrí­guez de Silva y Velázquez zeigt drei Mädchen beim Spinnen. Im Hintergrund kann man einen Blick durch eine offene Tür auf eine Szene machen, die offensichtlich in einer anderen Sphäre spielt, in einer olympischen, göttlichen, die nicht zu dem zu gehören scheint, was man im Vordergrund sieht. Dieses Bild wurde immer als Darstellung einer Geschichte aus dem 6. Buch von Ovids Metamorphosen interpretiert  : die Geschichte von Arachne, die so vermessen war, Athene, die Göttin der Webkunst, zum Wettstreit in dieser Fertigkeit herauszufordern. Das Bild soll nach dieser üblichen Interpretation in dem hinteren, lichtdurchfluteten Raum Arachne und Pallas Athene (mit Helm) zeigen – umgeben von einigen Frauen, die Zeugen ihres Wettstreits seien – und vorne wollten die Kunsthistoriker ebenfalls Arachne und Athene sehen, assistiert von einigen Mägden, aber in der Art einer Genreszene. So findet man das Bild in Kunstgeschichtebüchern gedeutet, offen­ sichtlich auch, weil – nachdem diese Deutung einmal gefunden war – niemand mehr genau hinschaute. Doch eines Tages schaute einer wieder genau hin  : der Kunsthistoriker Friedrich Teja Bach. Er veröffentlichte seine Beobachtungen am 20. März 1992 unter dem Titel Metamorphosen in Velázquez’ Malerei in der Fernausgabe 66 der Neuen Zürcher Zeitung auf Seite 39. Bach war nämlich aufgefallen, dass dem Bild die für eine solche Darstellung in dieser Zeit notwendige antago-

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nistische Grundstruktur fehlt. Da arbeiten im Vordergrund nämlich keineswegs zwei Personen kämpferisch gegen‑, sondern drei Personen freundlich miteinander. Und, indem er die Zeichen des »Bildes im Bild« mit den Zeichen der Szene im Vordergrund verknüpfte, erkannte Bach eine ganz andere Ovid‑Geschichte, nämlich jene aus dem 4. Buch der Metamorphosen, in welcher der römische Dichter vom Einzug des Gottes Bacchus in Theben erzählt, dem die Frauen der Stadt als neuem Gott Gesellschaft leisten – mit Ausnahme der drei Töchter des Königs Minyas, die dem neuen Gott den orgiastischen Kult verweigern. Sie bleiben also keusch zuhause, weil für sie »Pallas die bessere Göttin ist«, fahren mit ihrer Wollarbeit, der »Kunst Minervas«, fort und vertreiben sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Aber das hätten sie besser nicht tun sollen, erzählt Ovid weiter, denn plötzlich »bebt das Haus« und Bacchus erscheint, um die drei schrecklich für ihre Verweigerung zu bestrafen. Und das ist es auch, weist Bach nach, was im Hintergrund des Bildes in der Szene, die man durch eine geöffnete Tür sieht, spielt  : Jene drei, die vorne in einfacher Kleidung arbeiten, sind hinten im offiziellen Ornat der Königstöchter dargestellt als Zeugen und Betroffene eines göttlichen Konflikts  : Pallas Athene und Bacchus, der gekommen ist, sich für seine Missachtung durch die königliche Familie zu rächen. Ohne das »Bild im Bild« wären die »Spinnerinnen« des Velázquez wirklich nur Spinnerinnen, die Darstellung einer alltäglichen Szene. Durch die Zeitverdichtung mithilfe eines Bildes im Bild wird die Vieldeutigkeit, die Zeichen prinzipiell innewohnt, eingeschränkt, und der Betrachter erhält gezielte Hinweise, wie er das Bild lesen soll  : als Darstellung der braven Töchter des thebanischen Königs Minyas. Aber Achtung, nicht jedes in ein Bild gemaltes Bild ist ein »Bild im Bild« im ästhetiktheoretischen Sinn  : Das Bild im Spiegel im »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« ist sicher keines, das den Bildinhalt verdeutlicht. Es dient ausschließlich als Lesehilfe für van Eycks Zeitverständnis des hic et nunc.

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5.2 Konsequenz: Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel

Um die Bedeutung der Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel ermessen zu können, braucht man sich nur vorzustellen, wie unsere Gespräche verliefen, wenn wir uns gegenseitig alles, was wir erlebten, detailgetreu erzählten. Oder man möge sich vorstellen, wie das Medienangebot aussehen würde, wenn alle Ereignisse 1  : 1, also so wie sie ablaufen, dargestellt würden. Diese Darstellung kommt zwar, seit es Film und Fernsehen gibt, in der Realität häufig vor  : Fußballübertragungen zum Beispiel, oder Konzertübertragungen, oder Talk‑ und andere Shows. Nur  : Dort, wo dies geschieht, wird entweder das Verhältnis zwischen dem Medium Fernsehen und dem Ereignis umgekehrt, das heißt, die Ereignisse werden nach speziell für das Fernsehen gültigen medienästhetischen Gesichtspunkten gestaltet, oder es wird ein Querschnitt von Blickwinkeln präsentiert, den ein Teilnehmer an diesem Ereignis nur dann hätte, wenn er sehr schnell seine Position wechseln und verschiedene Standpunkte einnehmen könnte. 1. Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung  : Dieser schnelle Positionswechsel ist, wenn man die Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel systematisieren möchte, die erste und am meisten übliche Form. Es handelt sich hierbei deshalb um Zeitverdichtung, weil alle Wegstrecken »zeitlos« zurückgelegt werden, gewissermaßen aus dem Ablauf herausgeschnitten werden, als ob sich ein Zuschauer »beamen« könnte. Dabei wird, und das muss man beachten, das Ereignis selber nicht gekürzt, es bleibt unbeeinflusst, sondern es ist die Wahrnehmung des Zuschauers, die dadurch verdichtet wird (Wahrnehmungsverdichtung), dass der Raum des Ereignisses aufgelöst wird (Raumauflösung)  : Zeitverdichtung ist Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung. Ein von dieser »Auflösung« eines einzelnen Großereignisses nur auf den ersten Blick zu unterscheidendes medienästhetisches Gestaltungs-

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mittel ist das »Umschalten« zwischen unterschiedlichen, bisweilen weit voneinander entfernten Orten, etwa bei Nachrichtensendungen, in denen sich oft Korrespondenten von den verschiedensten Schauplätzen von »vor Ort« mit Live-Reportagen oder Kommentaren melden und es Zuschauern damit ermöglichen, in einer Art Blitzreise rund um den Erdball zu fahren. Dabei werden aber nicht nur die in diesen Fällen äußerst langen Reisezeiten verdichtet, sondern es werden auch die Orte miteinander verknüpft, sodass eine klar sichtbare Auflösung und damit Verdichtung des Raumes damit verbunden ist. Natürlich handelt es sich auch bei der räumlichen »Auflösung« eines Großevents um eine Raumverdichtung. Ein besonders schönes Beispiel dafür war die Live‑Sendung der BBC gemeinsam mit 26 anderen Fernsehanstalten am 31. Dezember 1999, in welcher der Jahreswechsel zum Jahr 2000 entsprechend den Zeitzonen auf zwölf Stunden ausgedehnt wurde. Das heißt aber nichts anderes, als dass eines der stärksten medienästhetischen Gestaltungsmittel genau jene räumliche Auflösung der Zeit ist, wie sie den mittelalterlichen Darstellungsformen zugrunde liegt, und dass diese Formen der Zeitverdichtung immer auch mit Raumverdichtung verbunden sind. Und das gilt auch für alle folgenden Formen der Zeitverdichtung bis auf eine  : die »Zeitraffung«. 5.2.1 Anmerkung: Zum Begriff »Virtueller Raum«

Dabei entsteht auch das Empfinden einer anderen Art von Raum  : ein »virtueller Raum«, den es in unserem alltäglichen Leben nicht gibt, weil es eben nicht möglich ist, beliebig und ohne Rücksicht auf die Zeit von Ort zu Ort zu springen. Damit ergäbe sich auch eine originäre Erklärung für den Begriff, der immer im Zusammenhang mit Telekommunikation und Cybertech verwendet wird. In beiden Technologien werden Zeit und Raum verdichtet, sodass eben diese neue Art von Raum, der »virtuelle Raum«, entsteht, den es in Wirklichkeit nicht gibt, weil er ein reines Wahrnehmungsphänomen ist.

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5.2.2 Konsequenz: Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel – Fortsetzung

2. Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden  : Der Wahr­­­ nehmungsverdichtung durch Raumauflösung entspricht auf der Zeit­­­ ebene die Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in ­Epis­­­­oden. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden ­Formen der Zeitverdichtung liegt darin, dass im ersten Fall (Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung) die Zeit prinzipiell ungekürzt bleibt und nur die Position im Raum verändert wird, während im zweiten Fall (Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden) der zeitliche Ablauf eines Ereignisses in Zeitabschnitte zerteilt wird, der Raum aber weitgehend unverändert bleibt. Das einfachste Beispiel für die Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden in modernen Medien ist die Auflösung langwieriger Produktionsvorgänge im Fernsehen, z. B. in den Sendungen der beliebten »Fernsehköche«  : Da werden zuerst die (möglicherweise noch unbehandelten) Zutaten gezeigt und erläutert, dann werden die wichtigsten Zubereitungsschritte andeutungsweise dargestellt, und schließlich wird die fertige Speise präsentiert, und das alles in derselben Kulisse, also im selben Raum. Faktisch wird ein Ablauf, der gegebenenfalls Stunden dauert, auf einige zentrale Episoden verkürzt, die aneinandergereiht nur noch Sekunden dauern. 5.2.3 Zeitverdichtung: Grundstruktur menschlicher Interaktion

Wenn man sich vor Augen führt, in welchen Bereichen Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden Verwendung findet, ist sie als Grundstruktur des Erinnerns und des Erzählens, des größten Teils der menschlichen Interaktion, erkennbar  : von der Darstellung historischer Abläufe und den vielfältigen Formen des Erzählens in der Literatur, die mit wenigen Ausnahmen (z. B. in einigen Kapiteln

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des Romans Ulysses von James Joyce) immer episodisch stattfinden, bis zu Filmen, Comics und Reportagen. Und das ist auch der Grund, warum Ereignisse trotz ihrer zeitlichen Auflösung in Episoden den Zuhörern, Betrachtern, Rezipienten nicht entstellt oder unwirklich erscheinen  : Denn jeder Mensch verwendet auch im Alltag diese Formen der Wahrnehmungsverdichtung, wenn er sich erinnert oder jemandem etwas erzählt. Auch da erzählt niemand eins zu eins, sondern der Erzähler schneidet Zeitabschnitte heraus und fügt das Erlebte zu Episoden zusammen, entsprechend seiner Deutung der Wahrnehmung aufgrund seiner Wert- und Lebensauffassungen. Der britische Psychologe Sir Frederick Charles Bartlett berichtete im Jahre 1932 in seinem Buch Remembering über die Ergebnisse seiner vielen verschiedenen Gedächtnisexperimente, bei denen er mit »sinnvollen« Geschichten arbeitete. Ein Versuch sah folgendermaßen aus  : Die Versuchspersonen bekamen eine Volkssage nordamerikanischer Indianer zu lesen. Fünfzehn Minuten später und danach in verschieden großen Intervallen prüfte Bartlett das Erinnerungsvermögen. Er stellte fest, dass die Form der ersten Nacherzählung der Versuchsperson auch in all deren späteren Wiedergaben beibehalten wurde. Des Weiteren fand Bartlett heraus, dass Elemente der ursprünglichen Geschichte, die von den Versuchspersonen als verwirrend oder sinnlos empfunden wurden, von diesen verändert worden waren, um diese Elemente sinnvoller zu machen. Es wurden von den Versuchspersonen sogar Einzelheiten erfunden, um die Geschichte zusammenhängender zu machen. So war die Geschichte, die zuletzt »erinnert« wurde, häufig ganz anders als die ursprünglich gehörte. Bartlett kommentierte diesen Umstand  : »Die Erinnerung […] ist eine schöpferische Rekonstruktion oder Konstruktion, die sich aus dem Verhältnis unserer Einstellungen gegenüber einer aktiven Menge organisierter früherer Reaktionen oder Erfahrungen herausbildet. […] Sie ist deswegen selten immer genau.«

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Das Vergessen bestand also nicht aus einem allmählichen Verlust von Einzelheiten  ; vielmehr fand eine definitive Umarbeitung des Materials zu einer neuen Geschichte statt. Aus diesem Grund spricht Bartlett vom »kreativen Vergessen« und betrachtet das Erinnern als einen »konstruktiven« Vorgang. Seit 1980 haben sich Humberto Maturana Romesín und Heinz von Förster um ein konstruktives Gedächtnismodell bemüht. Sie betonen vor allem die Kreativität, die Dynamik und die Aktualisierung des Gedächtnisses. Heinz von Förster formuliert dies in seinem Buch Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen (1997) so, dass das Gedächtnis nicht als Speicher, sonders als Wahrnehmungs- und Lernprozess gesehen werden solle. Denn die Funktion des Gedächtnisses liege nicht in der Bewahrung von vergangenen Inhalten, sondern in der aktuellen Synthese neuronaler Konnexionen. Und nichts anderes geschieht in der Vermittlung durch Massenmedien  : Sie berichten, indem sie das Erlebte und das Gehörte zu Episoden zusammenfügen, entsprechend den Deutungen durch ihre Berichterstatter aufgrund von deren Wert- und Lebensauffassungen, deren Rahmen allerdings durch die Selbstbezüglichkeit des Mediensystems eingeengt ist. In der Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden fallen gewissermaßen die Prozesse der Wahrnehmung und der Vermittlung zusammen. 5.2.4 Konsequenz: Zeitverdichtung als medienästhetisches Gestaltungsmittel – Fortsetzung

3. Die Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden lässt sich in einem logischen Folgeschritt selber noch einmal verdichten  : in der Zusammenfassung eines Ereignisses in einer Zentralepisode, der »typischen Szene«, oder, wie man auch sagen könnte, in einem für das Ereignis »typischen Bild«, das alle oder wenigstens einige wesentliche

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Merkmale des Ereignisses in sich vereinigt als pars pro toto – »Teil für das Ganze« für das Gesamtereignis. Diese Art der Zeitverdichtung liegt in der Malerei – oft auch in der Fotografie – vor, sowohl als Zentralepisode wie im Beispiel »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini«, oder in einigen seltenen Bildern wie »Picasso malt einen Kentaur mit der Taschenlampe« von Gjon Mili (1949), das sich im Musee Picasso in Paris befindet, oder »Akt, eine Treppe herabschreitend II« von Marcel Duchamp (1912) im Philadelphia Museum of Art oder »Chronografie eines weißen Pferdes« von Étienne‑Jules Marey (um 1886) in der Cinematheque Francaise, Paris, die alle in der Art übereinander gelegter Frames Bewegung darstellen und damit Zeitabläufe auf ein Bild verdichten  ; ebenso in den Portraits, in denen aus einer Vielzahl von Zügen, die zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten beim Porträtierten auftreten, aber insgesamt sein Gesicht prägen, ein für die Person aus der Sicht des Malers typisches Gesicht verdichtet wird, also Züge festgehalten werden, die unabhängig von ihrer aktuellen Ausprägung das Wesen des porträtierten Gesichtes ausmachen. Um diese Art der Zeitverdichtung handelt es sich auch, um ein früher gegebenes Beispiel fortzusetzen, bei den Bildern fertiger Speisen in Kochbüchern, welche die Ergebnisse eines längeren Produktionsprozesses, gewissermaßen als Ergebnisbilder, darstellen, oder bei Ansichtskarten, welche das Typische eines Ortes oder einer Landschaft festzuhalten vorgeben, vor allem aber bei den Bildern, Filmausschnitten und den Fotos in Zeitungen, die einen Artikel über ein Ereignis illustrieren, in Büchern oder Filmdokumentationen, um Stimmung und gesellschaftliche Befindlichkeit einer Zeitepoche zu vermitteln oder um den Eindruck von Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnisse hervorzurufen. Die Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden lässt sich nicht nur in der Zusammenfassung eines Ereignisses in einer Zentralepisode selber noch einmal verdichten, sondern darüber hinaus auch

Elemente für eine Theorie der (Medien-)Ästhetik  : 131

noch mit der Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung verbinden  : Wer von Ort zu Ort springt, kann auch von den verschiedenen Orten nur Zentralepisoden aus Ereignissen vermitteln, die an den einzelnen Orten über einen längeren Zeitraum ablaufen. 4. Zeitraffung  : Die letzte und erst durch Technik ermöglichte Form der Zeitverdichtung ist ihre Beschleunigung, ohne dass vom Ablauf selber etwas verloren geht – genau so wie in der Physik, die besagt, dass ein Körper, der beschleunigt wird, auch seine Masse verdichtet. Der Begriff dafür ist die Zeitraffung, bei der ein Ablauf so beschleunigt wird, dass er in einer kürzeren Zeitspanne Platz hat. Wie bei den beiden vorher behandelten Formen der Zeitverdichtung wird auch durch Zeitraffen die Wahrnehmung verändert  : In den ersten beiden Formen bedarf es noch menschlichen Mitwirkens, dass der Betrachter immer beim Wesentlichen, beim gerade Wichtigen, bei den »Schlüsselepisoden« dabei ist. In der Zeitraffung durch Beschleunigung kann dieses Wesentliche durch den Vorgang der Beschleunigung selber hervortreten. Für die Notwendigkeit, in allen Bereichen des Lebens, auch außerhalb der Medien, Zeit zu verdichten, gibt es einen ganz banalen Grund  : Welche große Anzahl von Bildern hätte zum Beispiel Jan van Eyck malen müssen, um die Hochzeit des Giovanni Arnolfini umfassend zu dokumentieren  ? Oder wie umfangreich müsste eine Fotostory sein, welche eine Bergtour vollständig wiedergeben wollte  ? Oder wie könnte man, auch wenn dies eine reizvolle Aufgabe wäre, eine Großdemonstration mit ihren vielen Einzelepisoden in einen Roman fassen  ? Dazu kommt, und das ist ein zweiter Grund, die Parallelität vieler Ereignisse, sodass eine 1  : 1‑Darstellung die Zahl der festgehaltenen oder verfolgbaren Ereignisse gewaltig verringern und damit den Blick stark verengen würde, selbst wenn man die Zahl von Massenmedien gewaltig vermehren würde.

132 :  Ästhetik: Über die Deutung der Welt durch »Denkgewohnheiten«

5.3 Zeitverdichtung und Ereignisdeutung

Im Wesentlichen läuft Zeitverdichtung nach einem einzigen Muster ab  : Es werden für das Ereignis als typisch erachtete Momentaufnahmen oder Einzelszenen entsprechend der diese Szenen bestimmenden Zeichen aus dem Ablauf herausgeschnitten, welche die Struktur des Ereignisses und seine Bedeutung nach Auffassung eines Erzählers oder Berichterstatters aus dessen Meta‑Sicht einsichtig machen. Nachdem die Auswahl der typischen Momentaufnahmen oder Einzelszenen nach den Wert- und Lebensauffassungen des Berichterstatters erfolgt, ergibt sich durch Zeitverdichtung zwangsläufig auch eine Einschränkung der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten, die Wahrnehmungen innewohnen. Aus all dem ergibt sich als Grundelement für eine Theorie der Wahrnehmung  : (10) Die Deutung von Wahrnehmungen führt zu Zeitverdichtung, auch als Voraussetzung für deren Kommunizier- und Vermittelbarkeit.

Auch dieses Element für eine Theorie der Wahrnehmung lässt sich aus dem »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« herauslesen  : Offensichtlich ist für Jan van Eyck (wie für die meisten Menschen) das Ereignis wie der Begriff »Hochzeit« einerseits durch die Erwartung ganz bestimmter Zeichen (Rituale) bestimmt – Gelöbnis und Handreichen  – sowie durch die Erwartung, dass sich das Leben der Verheirateten danach entsprechend der bei der Hochzeit eingegangenen Verpflichtungen in einer ganz bestimmten Weise verändert, was er wiederum durch Zeichen zum Ausdruck bringt – in der Formulierung Martin Burckhardts  : »Stehen die Schuhe des Mannes so, dass sie der Form nach die Spitze eines Pfeils ergeben, Symbol des Angriffs und der Konzentration, so ist die Stellung der Schuhe der Frau leicht geöffnet, […] Chiffre der Empfänglichkeit […] – und tatsächlich geht der Blick von dort auf die Frau zurück, wird sichtbar, dass das über

Elemente für eine Theorie der (Medien-)Ästhetik  : 133

dem Bauch geraffte Kleid gleichsam eine Schwangerschaft verheißt.« (S. 113). Das »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« ist (vorausgesetzt man sieht es als »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini«) also kein Abbild des Ereignisses »Hochzeit des Giovanni Arnolfini und der Giovanna Cenami«, sondern die Verdichtung der Wahrnehmung dieses Ereignisses durch Jan van Eyck, die er durch deren Verbildlichung deutet und vermittelt. Und das gilt für das Vermitteln überhaupt – gleichgültig ob durch Bilder oder Sprache.

I. Einleitung Gespräche beim Betrachten des »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« in der National Gallery, London

Im April 2010 luden unsere Kinder ihre Eltern als Geburtstagsgeschenk nach London ein, und meine Frau und ich nahmen die Gelegenheit wahr, die National Gallery zu besuchen, um uns das so genannte »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini«, über das wir so oft sprachen, im Original anzusehen. Ein freundlicher Aufseher beim Eingang konnte uns auf unsere Frage aus dem Stand Abteilungs-, Raum- und Bildnummer des Werkes sagen, vor dem wir uns kurz darauf in einer sich ständig erneuernden Schar junger Leute fanden, die angeregt miteinander das Bild besprachen. Es waren ganz offensichtlich Kunststudentinnen und -studenten, die ihren Panofsky perfekt gelernt hatten und nun einander auf die beschriebenen Details voll Freude über ihr Wiedererkennen aufmerksam machten – so als ob es gar keine andere Möglichkeit geben würde, van Eycks Bild zu lesen. Für sie war das »Hochzeitsbild« eine vollkommen durch Erwin Panofsky vermittelte Welt. Als meine Frau und ich nach einiger Betrachtung uns gegenseitig darin bestärkten, dass das Bild wohl eher das Ehepaar van Eyck darstelle, wandten sich viele der jungen Leute kopfschüttelnd ab. Von dieser Interpretation hatten sie wohl noch nie gehört. Wir diskutierten, wie wohl meine Studierenden der »Medienästhetik« im Wintersemester 1999/2000 an der Universität Graz das Bild besprochen hätten, wenn sie hier gewesen wären. So wie ich einige von ihnen kenne, hätten sie versucht, hier am Originalbild Argumente zu finden, ihre Deutungen in Konkurrenz zu jenen der Kunsthistoriker zu verteidigen und auch andere für ihr Verständnis zu gewin-

138 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

nen – aus Freude an der eigenen Originalität, aus purem Widerspruch oder aus Überzeugung. Andere wiederum hätten im Vertrauen auf Persönlichkeit und Professionalität der Kunsthistoriker die gängigen Interpretationen durch eigene Anschauung bestätigt gesehen. Jedenfalls hätte sich nach meiner Überzeugung – ausgehend vom Element (8) für eine Theorie der Wahrnehmung »Unterschiedliche Deutungen von Wahrnehmungen werden durch Kommunikation harmonisiert« – eine anregende Kontroverse entwickelt, an der man alle Aspekte der Rhetorik, des Vermittlungsprozesses aus der Sicht der Vermittlerposition, in ihrer ganzen Ambivalenz studieren hätte können, die die zugrundeliegende Struktur dieses zweiten Teiles ist.

II. Was Rhetorik eigentlich ist 1. Definitionen

Bezogen auf die Konzeption dieses Buches ist Rhetorik die Fähigkeit, im Prozess der Deutungsabstimmungen von Wahrnehmungen anderen die eigene Deutung zu vermitteln und durchzusetzen und so die Hoheit über die Bilder zu gewinnen, die sich Menschen von der Welt machen. In der Rhetoriktheorie, in der antiken wie in der modernen, z. B. des Heidelberger Rhetoriktheoretikers Joachim Knape, von dem ich viel gelernt und von dem ich viele Positionen übernommen habe, ist für Rhetorik ausdrücklich konstitutiv, dass Menschen durch ihr Reden Einfluss auf andere ausüben, jenen Einfluss, der die Voraussetzung dafür ist, dass sie erfolgreich sind bzw. ihr Recht bekommen  : »Wir nennen das rhetorische Handeln ›Persuasion‹ [von lat. persuadere – ›überzeugen, überreden‹], das heißt, Lenkung des Denkens der anderen nach dem auf Veränderung gerichteten Metabolieprinzip, darunter versteht man ›Standpunktwechsel‹ in Hinsicht auf Meinung, Einstellung oder Verhalten.« Und Gert Ueding definiert dementsprechend  : »Rhetorik ist die Lehre, wie man sich im sozialen Leben zu verhalten hat, wenn man erfolgreich sein und sein Recht bekommen will.« Die Definitionen von Knape und Ueding spiegeln im Negativen wie im Positiven eine Jahrtausende alte Erfahrung, nämlich dass sich Menschen mit einer Rede immer wieder durchsetzten, vor Gericht, in einer politischen Angelegenheit oder bei festlichem Anlass – Kategorien, die in der klassischen Rhetorik bestimmten Redegattungen (Gerichtsrede, politische Beratungsrede, Festrede und Predigt) zugeord-

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net waren. Diese Redegattungen gibt es heute im praktischen Leben so gut wie nicht mehr, sondern Rhetorik wird in vielerlei Situationen zur Wirkung gebracht, in der Massenmedienarbeit zum Beispiel, bei politischen Debatten, bei Pressekonferenzen, bei Präsentationen im Berufsleben, z. B. von Konzepten und Projekten, beim Führen durch eine Ausstellung, beim Lehren oder bei Verkaufsgesprächen. Redner müssen sich also in vielen unterschiedlichen rhetorischen Umgebungen bewähren, die »rhetorische Settings« genannt werden. Das »rhetorische Setting« beschreibt die kommunikative Situation, in welcher der Redner handelt, und umfasst damit sämtliche Faktoren und Bedingungen, die jemand berücksichtigen muss, um seinen Vermittlungsprozess gelingen zu lassen. Die Settings, in denen rhetorisches Handeln gefragt ist, sind vielfach durch das Phänomen der Distanz bestimmt, das heißt, dass zunächst – so formuliert es Chaim Perelmann – kein »Zusammenhang zwischen der Gegenwärtigkeit bestimmter Elemente im Bewusstsein und ihrer Bedeutung im Hinblick auf die rhetorische Wirkung« vorhanden ist und deshalb erst hergestellt werden muss. In Massenmedien besteht zum Beispiel Distanz zwischen dem Redner und seinem Auditorium, bei einem Verkaufsgespräch etwa zwischen den Produkten oder Dienstleistungen, die angeboten werden, und den Bedürfnissen der Kunden. Um diesen »Zusammenhang zwischen der Gegenwärtigkeit bestimmter Elemente im Bewusstsein und ihrer Bedeutung im Hinblick auf die rhetorische Wirkung« herzustellen und damit die Distanz zu überwinden, benötigt der Redner ein spezielles rhetorisches Instrumentarium, spezielle Präsentationstechniken, von denen viele glauben, dass sie wie eine technische Fertigkeit gelernt werden und in »Handbüchern« verfügbar gemacht werden könnten. Wenn man aber Rednerpersönlichkeiten studiert, zeigt sich schnell, dass hier außerrhetorische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen, z. B. Persönlichkeitsprofile, psychische Konstitutionen, Überzeugun­

Was Rhetorik eigentlich ist  : 141

gen, die tatsächlich nicht unterrichtbar sind. Wie soll man etwa Begeisterungsfähigkeit unterrichten, schnelle Auffassungsgabe oder Charisma  ? Die klassische wie moderne Rhetoriktheorie hat eine Fülle von solchen außerrhetorischen Bedingungen und Voraussetzungen für den überzeugenden Redner formuliert, die abseits jeder rhetorischen Technik liegen und mit Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung zu tun haben – ganz in der antiken Tradition, die als erklärtes Ziel allen Rhetorikunterrichts den vir bonus dicendi peritus – den »Ehrenmann, der die Kunst der Rede beherrscht« – definiert.

2. Der wichtigste Erfolgsfaktor für Rhetorik: Selbstvertrauen

Nach Martin Heidegger ist die wichtigste Eigenschaft eines Redners, die überzeugt, das sogenannte »Rhetoren-« oder »Orator-Ethos«, ein Begriff, der wie alles Wichtige in der Rhetorik von Aristoteles stammt  : »Das Ethos ist nichts anderes als die Art und Weise, in der sich offenbart, was der Redende will, das Wollen im Sinne der Prohairesis – das ›Für-etwas-Sein‹.« Es ist das »Entschlossensein« des Sprechers, sein Auditorium von etwas zu überzeugen. Joachim Knape übersetzt den Begriff Prohairesis verständlicher als »Glaubwürdigkeitskomponente beim Oratorethos« oder auch »Persuasionsdeterminante«, weil die Theorie im Sinne der Definition von Rhetorik unterstellt, dass das Ziel von Rhetorik immer Beeinflussung, Überzeugung sei, und das Fachwort dafür ist Persuasion (daher »Persuasionsdeterminante«). Knape beruft sich dabei auf Experimente einer amerikanischen Psychologengruppe, der Harvey London, Philip J. Meldman und Antony Lanckton angehören. Ihre Ergebnisse über das, was den Redner glaubwürdig macht, was also die »Persuasionsdeterminante« ist, lässt sich folgend zusammenfassen  : »Die Persuasionsdeterminante […] besteht darin, dass der Überzeugungsmechanismus im Gespräch primär

142 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

nichts mit Intelligenz, Haltung zum Thema oder bekundete[r] Kompetenz zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, die eigene Überzeugung und sein Selbstvertrauen (seine confidence) sprachlich oder nonverbal auszudrücken […].« Das Vertrauen werde danach also nicht durch Argumente und Argumentationsfähigkeit aufgebaut, wie man glauben könnte, sondern Confidence – »Selbstvertrauen« bestimmt von Anfang an den Erfolg. Dieses »Selbstvertrauen« ist aber nichts Lehrbares, sondern Teil der Persönlichkeit des Redners. Dies macht auch Joachim Knape deutlich, der den »Rhetorischen Fall« folgend definiert  : »Der rhetorische Fall tritt ein«, schreibt Knape (S. 77), »wenn ein Sprecher • sein ›Certum‹ – seine ›innere Gewissheit‹ über eine Angelegenheit gefunden hat, • diese ›sichere Sicht‹ der Angelegenheit zu seinem Anliegen macht und ihr • mit oratorischem Impetus Geltung verschaffen will.« Erst daraus entwickelt sich die »rhetorische Technik«.

3. Zur sogenannten »Handbuch-Rhetorik«

Im Gegensatz zu einer Rhetorik, die sich im Kontext der Vermittlung als umfassendes Persönlichkeitsbildungsprogramm versteht, fokussieren die Lehrer der sogenannten »Handbuch-Rhetorik« ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die »rhetorische Technik«, das heißt auf allgemeine oberflächlich aus Reden abgeleitete Regeln, die zu internalisieren und dann konsequent anzuwenden seien, wenn jemand mit seinem Reden Erfolg haben wolle. Als Beispiel dazu sein ein über E-Mail versendetes Merkblatt des Instituts für Rhetorik und Kommunikation in Bornheim vorgestellt  ;

Was Rhetorik eigentlich ist  : 143

solche Merkblätter mit rhetorischen Tipps erhält jeder, der einmal in die Homepage dieses Instituts hineingeschaut hat  : Zehn Rhetorik-Tipps für Ihren aktiven, psychologisch fundierten, zielbewussten Umgang mit

dem Wort. Wie Sie Ihre Gesprächsverhandlungen + Präsentationen lebendig und kreativ gestalten.

1. Wecken Sie Interesse. 2. Dramatisieren Sie!

3. In der Sie- oder Wir-Form sprechen! 4. Personalisieren Sie! 5. Direkte Rede verwenden! 6. Gemeinsamkeit betonen! 7. Mit den Zuhörern sprechen! 8. Vorteile und persönliche Auswirkung schildern! 9. Beispiele und Beweise bringen! 10. Anekdoten, Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen, Witze

Das Merkblatt spricht für sich selbst. Das wird noch deutlicher, wenn man die Beispiele zu den Merksätzen liest. Zum Beispiel zu »Merksatz 7  : Mit den Zuhörern sprechen«, eine Ansammlung rhetoriktheoretisch peinlicher Banalitäten  : »Das heißt zweierlei  : Erstens so zu schreiben und zu sprechen, dass der Inhalt genau auf die Erwartungen und Vorstellungen der Zuhörer ausgerichtet ist. Also, in keinem ›Schrift-Hochdeutsch‹, denn man spricht anders als man schreibt  ! Und das bedeutet zweitens  : Bemühen Sie sich, nicht zu den Zuhörern zu sprechen, sondern in einer Art Dialog mit ihnen. Nur so fühlt sich jeder Zuhörer individuell angesprochen. Die Mittel dazu sind  : Sie- und Wir-Formulierungen (›Sie wissen doch aus eigener Erfahrung…‹)  ; Rhetorische Fragen (›Haben Sie sich nicht auch schon die Frage gestellt  ?‹)  ; Persönliche Beziehung (›Mit diesem Automatik-Getriebe schalten Sie …‹)  ; Einzelne

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Zuhörer ansprechen (›Stimmen Sie mir da zu, Herr Meyer  ?‹)  ; Personen handeln lassen (›Da zog der Kunde nur ein schiefes Gesicht und sagte  :…‹)  ; Gemeinsamkeiten betonen (›Wir wollen doch alle dasselbe, nämlich die Arbeitsplätze sichern  !‹).« Diese Ambivalenz zwischen Rhetorik als Bildungsprogramm für den vir bonus dicendi peritus – den »Ehrenmann, der die Kunst der Rede beherrscht« und Rhetorik als unabhängig lernbares Instrument zur Erreichung persönlichen Erfolgs (auch für nicht Ehrenmänner) bestimmt die gesamte Geschichte der Rhetorik und der Haltungen zu ihr.

4. Rhetorik und Massenmedien

Obwohl aus den elektronischen Massenmedien ununterbrochen Gerede herausquillt und Printmassenmedien täglich gewaltige Textströme produzieren und dies auch alles gehört und gelesen wird, muss derjenige, der sich mit der Frage nach der Art und Weise des Redens in Massenmedien systematisch beschäftigen will, schnell feststellen, dass er hier trotzdem weitgehend unbearbeitetes Land betritt. Weder in medienwissenschaftlichen Einführungen noch in Fachbüchern, die sich mit dem Journalismus und seiner Theorie beschäftigen, noch in den zahlreichen kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten, die das Verhältnis zwischen Massenmedien, Rezipienten und Gesellschaft untersuchen, für welches das Sprechen (oder Schreiben) ja wohl konstitutiv ist, ist das Reden (oder Schreiben) selbst Gegenstand der Untersuchungen. Und sollte doch einmal die Rede auf die konkrete Massenmediensprache kommen, dann gibt es entweder Analysen in der Art der klassischen Stilistik, mit allen ihren problematischen Aspekten, oder man beschäftigt sich mit dem Wortschatz, d. h. der rechten Verwendung der Begriffe – etymologisch oder im Hinblick auf »political correctness« –, oder gibt praktische Anleitungen in der oberfläch-

Was Rhetorik eigentlich ist  : 145

lichen Form hausbackener Handbuch-Rhetorik, z. B. dass man keinen Fachjargon und keine Fremdwörter verwenden, keine Schachtelsätze bauen, sondern einfache und kurze Sätze mit vornehmlich aktivischer Struktur bilden, Beispiele bringen und »bildhaft« sowie anschaulich reden, das Wichtige hervorheben und schließlich deutlich und nicht zu schnell sprechen solle. Dies mag vielleicht für den journalistischen Anfänger-Alltag hilfreich sein, bringt aber nichts für das Verständnis jener Mechanismen, die erfolgreicher Medien-, also Vermittlungsarbeit zugrunde liegen. Dessen ungeachtet ist aber nur über die Implikation, dass in Massenmedien rhetorische Mechanismen wirksam wären, verständlich, warum den Massenmedien heute bestimmte Wirkweisen zugesprochen werden, nämlich zu manipulieren und dadurch ein ideales Propagandamittel zu sein.

5. Das zentrale Merkmal von Rhetorik: Persuasion – »Überzeugung« (= Propaganda)

Denn als zentrales Merkmal von Rhetorik gilt von Anfang an ihr wichtigstes Ziel  : Persuasion – »Überzeugung, Überredung«. Dementsprechend spielt dieses Merkmal auch in der Rhetorik-Definition von Joachim Knape als »die Beherrschung erfolgsorientierter strategischer Kommunikationsverfahren« (S. 33) – ähnlich wie bei Gerd Ueding – die zentrale Rolle  : »Rhetorik ist die kommunikative Möglichkeit des Menschen, einem von ihm als berechtigt angesehenen Anliegen, dem oratorischen Telos, soziale Geltung zu verschaffen und sich selbst damit, wenigstens im Moment des kommunikativen Erfolgs, aus sozialer Determination zu befreien. Rhetorik war von Beginn an der Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, und der rhetorische Imperativ lautet  : Perorare aude – ›Wage es, dich deiner Ausdrucksfähigkeit zu bedienen.‹«

146 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

Spätestens hier hätten meine Studenten von mir eine Klarstellung verlangt, was eigentlich der Unterschied zwischen Kommunikation und Rhetorik sei, denn aus unserem Gespräch vor dem »Hochzeitsbild« wäre deutlich geworden, dass es sich hier nicht einfach um »Kommunikation« handelt mit dem Ziel, sich gegenseitig Bedeutungen zu vermitteln, sondern dass die Abstimmung unserer unterschiedlichen Wahrnehmungsdeutungen sehr viel mit Überzeugung – und damit Rhetorik – zu tun hat.

6. Zum Verhältnis Rhetorik – Kommunikation

Bei der Beschäftigung mit Kommunikation und Rhetorik und den dazugehörenden Theorien werden schnell große Übereinstimmungen sichtbar – so große, dass dies erklären mag, warum mir in der wissenschaftlichen Literatur bisher keine Versuche bekannt sind, die beiden Bereiche gegeneinander abzugrenzen, ich vielmehr den Eindruck habe, dass Rhetorik bestenfalls als Untermenge von Kommunikation behandelt wird und die beiden Bereiche stets ineinander verschwimmen. Das beginnt bereits bei den Definitionen  : Wenn Gerd Ueding »Rhetorik« als »die Lehre« definiert, »wie man sich im sozialen Leben zu verhalten hat, wenn man erfolgreich sein und sein Recht bekommen will« und der Wiener Kommunikationswissenschafter Roland Burkart »Kommunikation« als »spezielle Form der sozialen Interaktion« bestimmt, »nämlich wenn sich Menschen im Hinblick aufeinander kommunikativ verhalten und sich dabei erfolgreich Bedeutungen vermitteln«, implizieren beide, dass menschliche Handlungen zum größten Teil Sprechhandlungen seien, dass also das Bild, das Menschen von sich vermitteln, wesentlich davon geprägt sei, wie sie reden und was sie sagen, und nicht so sehr davon, was sie tun. Ebenso gilt für Kommunikation wie für Rhetorik, dass sie beide einen intentionalen Charakter haben  : Nicht nur »rhetorisches«, son-

Was Rhetorik eigentlich ist  : 147

dern auch »kommunikatives Handeln« wird nicht um seiner selbst willen betrieben, sondern verfolgt Ziele und ist daher stets Mittel zum Zweck. Dies wiederum bedeutet, dass Menschen in beiden Fällen, in Kommunikation und in Rhetorik, durch ihr Reden Einfluss auf andere ausüben wollen, jenen Einfluss, der als Persuasion bezeichnet wird und die Voraussetzung dafür ist, dass diese Menschen »erfolgreich sind, bzw. ihr Recht bekommen«. Die Intention der Kommunikation besteht darin, Bedeutungen so lange abzustimmen, bis sie die Teilnehmer am Kommunikationsprozess teilen, heißt gemeinsam haben, und, wie es mit einer Metapher ausgedrückt werden kann, »in einem gemeinsamen semantischen Raum wohnen«. Die Intention der Rhetorik besteht im Wesentlichen in der Persuasion, der Überzeugung der Rezipienten von der Auffassung, die der Redner vertritt. Das heißt aber auch, dass Kommunikation nie ohne Rhetorik betrieben werden kann, wenn es darum geht, dass eine Person einer anderen die Bedeutung vermitteln will, von der sie überzeugt ist. In beiden Szenarien, in der Kommunikation wie in der Rhetorik, gibt es einen Menschen, der redet, den Kommunikator in der Kommunikation, den Orator oder Rhetor in der Rhetorik, und einen oder mehrere, die zuhören, die Rezipienten, und beide stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Denn der Rezipient ist nicht einfach nur einer, der etwas »empfängt«, sondern er reagiert auch auf den Kommunikator oder manchmal auch auf den Redner – er kann widersprechen oder zustimmen, aufmerksam zuhören oder sich abwenden, sodass »Kommunikation« wie Rhetorik »als implizit reziproker (wechselseitigen) Prozess« verstanden werden kann, der von Gerhard Maletzke als »gegenseitige Kommunikation« bezeichnet und von der »einseitigen Kommunikation« unterschieden wird, wie sie etwa bei einem Vortrag als vorhanden unterstellt wird. Entsprechend den Beziehungen, in denen sich Kommunikator und Rezipient(en) zueinander befinden können, unterscheidet Maletzke neben dem Oppositionspaar

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• »gegenseitige Kommunikation« – »einseitige Kommunikation« noch zwei weitere, nämlich • »direkte Kommunikation« (Face-to-Face-Kommunikation – die Partner begegnen einander von Angesicht zu Angesicht) und »indirekte Kommunikation« (die Partner sind räumlich, zeitlich oder raum-zeitlich voneinander getrennt) und • »private Kommunikation« (der Kommunikator steht in einem Naheverhältnis zu einer begrenzten Anzahl von eindeutig definierten Personen) und »öffentliche Kommunikation« (der Kreis der Rezipienten ist weder begrenzt noch eindeutig definiert). Sowohl bei der Kommunikation als auch bei der Rhetorik wird der Vermittlungsprozess vornehmlich vom gleichen Medium getragen, nämlich der Sprache, und daher gilt auch für beide, dass eine zentrale Voraussetzung, das Ziel zu erreichen, das Verstehen ist. Auch was dieses Verstehen betrifft, funktioniert es in der Rhetorik wie in der Kommunikation gleich, wenn man will, zum Beispiel nach dem Modell von Karl Bühler über Zeichen, die als Symbole Gegenstände und Sachverhalte repräsentieren. Man könnte hier durchaus von einer »symbolischen Interaktion« reden, auch wenn das Konzept dieses Namens einen weiteren und größeren Geltungsbereich beansprucht. Damit »Verstehen« aus der Sicht des Kommunikators (bzw. Redners) überhaupt funktioniert, muss bereits beim Rezipienten ein System von Symbolen mit Bedeutungen vorhanden sein, auf das sich der Kommunikator (bzw. Redner) beziehen kann. Nun liegt es im Wesen des Menschen, dass jeder unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat und daher die Symbole, die er in seinem Bewusstsein gespeichert hat, mit speziellen von diesen Erfahrungen abhängigen Bedeutungen verbunden sind, die aber auch nicht starr sind, sondern einem dynamischen Gestaltungsprozess durch immer neue Erfahrungen, vor allem auch Kommunikationserfahrungen, unterliegen. Im Kommunikati-

Was Rhetorik eigentlich ist  : 149

onsprozess werden nun diese Bedeutungen aktualisiert und zwischen Kommunikator und Rezipient über das Zeichensystem Sprache ausgetauscht. Wenn es dabei gelingt, dass die beiden Einverständnis über die Bedeutungen der verwendeten Sprach-Symbole erlangen, sodass sie diese dann teilen, ist das Kommunikationsziel Verstehen erreicht – die wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein Kommunikationsprozess gelingt. In der Rhetorik geht es im Gegensatz dazu immer um mehr, nämlich um Aussagen, die aus den in der Kommunikation abgestimmten Sprach-Symbolen aufgebaut worden sind und komplexe Sinngehalte beschreiben, denen man zustimmen kann oder auch nicht – auch wenn die Gesprächspartner alle ihre Bedeutungen teilen. Bildlich gesprochen  : Rhetorik bezieht sich auf ganze Bilder, Kommunikation auf die Bausteine, aus denen sie zusammengesetzt sind. Dabei spielt natürlich immer wieder der Kommunikationsprozess hinein, nämlich dort, wo gefühlsmäßig die verwendeten Sprach-Symbole, die Bausteine, von den am rhetorischen Vermittlungsprozess Beteiligten mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden. Das muss, solange die Bedeutungen nur weniger einzelner Bausteine unter den am Vermittlungsprozess Beteiligten differieren, nicht unbedingt die Persuasion stören, wie ich als Beispiel an einem Detail des so genannten »Hochzeitsbildes des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck mit den Studierenden ausprobiert habe  : Ob das kleine Tier zwischen dem Paar ein Hund ist oder eine Katze, ob der Hund allegorisch die Treue bezeichnet oder die Katze für Liederlichkeit steht und ob jemand kleine Hunde oder Katzen mit guten oder ablehnenden Gefühlen konnotiert, war für die Gesamtdeutung des Bildes als »Idee der Ehe« unerheblich, hat ihr vielmehr einen realistischen Aspekt hinzugefügt  : Das Tier als Katze und Symbol für Liederlichkeit gedeutet, bekam von den Studierenden die Bedeutung einer Gefahr für die gute Ehe, die niedergehalten werden müsse, wie das eben bei Ehen im konkreten Leben so ist.

150 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

Das Experiment hat aber auch gezeigt, dass sich die Gesamtdeutung des Bildes gravierend ändert, wenn zu vielen der Bausteine oder einem »tragenden« Baustein unterschiedliche Bedeutungen gegeben werden. Einige solcher Deutungen wurden bei der Beschreibung des Experiments in der Einleitung des Teiles »(Medien-)Ästhetik« bereits genannt  : »Abschied eines armen Liebhabers, der seine reiche Geliebte verlässt«, »Ermahnung eines Priesters einer unehelich schwanger gewordenen Frau«, »Arzt beruhigt eine werdende Mutter, die sich Sorgen um ihr ungeborenes Kind macht«. In späteren Diskussionen haben die Studierenden durch kreative bewusste Bedeutungsabstimmungen weitere kluge Deutungen erfunden, zum Beispiel »Der Wahrsager«, als sie sich für das Halten der Hände des Paares auf die Bedeutung »Handlesen« einigten und dann im Bild eine werdende Mutter sehen wollten, die das Schicksal ihres ungeborenen Kindes erfragte. Wer diesen Überlegungen folgt, wird zugeben müssen, dass trotz vieler Übereinstimmungen Rhetorik nicht einfach als eine Spezialform der Kommunikation verstanden werden kann. Es gibt einen weiteren prinzipiellen Punkt, und zwar im Verhältnis zwischen Kommunikator bzw. Redner und Rezipient(en), an dem sich Rhetorik von Kommunikation deutlich unterscheidet, indem sie deren Rahmen weit überschreitet, nämlich, wenn ein Kommunikator »unter den determinierenden Bedingungen der Welt durch sein Ausagieren kommunikativer Handlungsmacht für einen Moment informationelle Souveränität« erlangt – so lautet ein weiteres von Joachim Knape formuliertes Definitionselement von Rhetorik (S. 76). Das heißt, das wichtigste Merkmal von Rhetorik aus der kommunikationstheoretischen Sicht Gerhard Maletzkes ist die »asymmetrische kommunikative Lage«, die eintritt, wenn ein Kommunikator die kommunikative Handlungsmacht ausübt und dadurch zu einem »kommunikativen Souverän« wird, zu einem, der die kommunikative Handlungssituation vollständig beherrscht. Das heißt andererseits aber auch, dass faktisch in jeder der von Maletzke unterschiedenen

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Situationen Rhetorik eine Rolle spielen kann, denn in jeder kann es zum »Ausagieren kommunikativer Handlungsmacht mit informationeller Souveränität« des Kommunikators kommen. Das aber bedeutet, dass Maletzke wie die meisten Kommunikationswissenschafter letztlich doch nicht über Kommunikation, sondern über Rhetorik schreibt.

III. Rhetorisches Fallbeispiel (1): Die »Pfingstrede« des Simon Petrus 1. Der Text der »Pfingstrede«

In den Dreißigerjahren des ersten Jahrhunderts n. Chr. soll an einem der jährlichen Feste der Weizenernte, das auch »Wochenfest« genannt wird und fünfzig Tage nach dem Passach gefeiert wurde, in Jerusalem folgendes Ereignis stattgefunden haben, berichtet die Apostelgeschichte im zweiten Kapitel  : Die Luft wurde plötzlich von einem Brausen erfüllt wie von einem starken Wind, aber ohne dass sich ein Grashalm bewegte. Die Stadt war gerade wegen des Wochenfestes voll von Juden aus allen Teilen der damaligen Welt, denn das Fest war eine der drei »heiligen« Zeiten im Jahr, an dem alle männlichen Juden verpflichtet waren, »vor Gott zu erscheinen« und am zentralen Heiligtum Opfer darzubringen. Das Brausen führte schnell dazu, dass unter den Pilgern ein Volksauflauf entstand, weil alle wissen wollten, wo dieses Brausen herkomme. Da traten plötzlich elf Männer aus einem Haus heraus, und einer von ihnen richtete das Wort an die Versammelten  : »Ihr Juden und all ihr Bewohner von Jerusalem  !«, sagte er. »Das sei euch kundgetan  ! Vernehmt meine Worte  ! […] Jesus den Nazarener, einen Mann von Gott bei euch beglaubigt durch mächtige Taten, Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte gewirkt hat, wie ihr selbst wisst, diesen, der nach Gottes festgesetzten Ratschluss und Vorherwissen ausgeliefert wurde, habt ihr durch die Hände der Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Ihn

Rhetorisches Fallbeispiel (1): Die »Pfingstrede« des Simon Petrus  : 153

aber hat Gott auferweckt, indem er die Wehen des Todes löste. Es war nicht möglich, dass er von ihm festgehalten wurde.« Und der Mann, ein gewisser Simon mit dem Beinamen Kephas oder griechisch petrós, zitiert aus den heiligen Büchern der Juden Prophezeiungen des Königs David, die er auf Jesus bezieht  : »Sagt doch David von ihm  : ›Ich habe den Herrn allzeit vor Augen, denn er steht mir zur Rechten, dass ich nicht wanke. / Darum freut sich mein Herz und jubelt meine Zunge, und auch mein Fleisch wird in Hoffnung ruhen  ; / denn du wirst meine Seele nicht im Totenreich lassen und deinem Heiligen nicht zu sehen geben die Verwesung. / Du hast mir kundgetan die Wege des Lebens, du wirst mich mit Wonne erfüllen vor deinem Antlitz.‹« An dieses Zitat aus den Psalmen fügt Petrus eine Auslegung, die den alten und jedem Juden bekannten Text als Weissagung auf Jesus hin deutet  : »Brüder, ich darf wohl mit Freimut zu euch vom Ahnherrn David reden. Er ist gestorben und begraben worden, und sein Grab befindet sich unter uns bis auf den heutigen Tag. Da er ein Prophet war und wusste, dass Gott ihm mit einem Eid zugesichert hatte, einen aus der Frucht seiner Lende auf seinen Thron zu setzen, so hat er vorausschauend von der Auferstehung des Messias gesprochen, dass er nicht im Totenreich gelassen wurde, noch sein Fleisch die Verwesung sah. Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dessen sind wir alle Zeugen. Durch die Rechte Gottes nun erhöht, hat er vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen und dieses ausgegossen, was ihr seht und hört. Denn nicht David ist in den Himmel hinaufgestiegen  ; er sagt ja selbst  : (nämlich David) ›Es sprach der Herr zu meinem Herrn  : Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel unter deine Füße setze.‹« Und daraus zieht Petrus apodiktisch den Schluss, den er so formuliert, dass er keinen Widerspruch duldet, nämlich dass dieser Jesus der versprochene Messias und Retter sei, wörtlich  :

154 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

»Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel  : Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, eben diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.« Die Zuhörer waren von der Leidenschaft, mit der Simon seine Ansprache – übrigens in aramäischer Sprache – hielt, beeindruckt, aber noch mehr beeindruckt waren sie, als sie bemerkten, dass sie alle verstanden, was er sagte, obwohl die Menge aus Menschen mit unterschiedlichen Sprachen bestanden haben soll, von Ägyptisch bis Babylonisch und von Lateinisch bis Griechisch. Und »als sie das hörten«, heißt es in der Apostelgeschichte weiter, »durchschnitt es ihr Herz« und sie fragten, was sie tun sollten. Und Petrus antwortete  : »Bekehrt euch, und ein jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden  ; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen […].« Und die Geschichte schließt  : »Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen, und es wurden an jenem Tage gegen dreitausend Seelen hinzugetan«, – nämlich zur ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem. Diese Rede des Simon Petrus zeigt nicht nur alle Merkmale von Rhetorik, sondern man kann sie sogar als echte Propagandarede bezeichnen, denn sie verfolgt – unterstützt durch das aufmerksamkeitserregende »Brausen« – tatsächlich ganz bewusst das Ziel des propagare – lat. für »verbreiten, fortsetzen«, konkret der »Verbreitung« einer weltanschaulichen Idee, durch die das allgemeine Bewusstsein verändert werden soll, nämlich in Richtung Glaube an Jesus Christus als den Sohn Gottes und Messias.

2. Exkurs: Die Herkunft des Begriffs Propaganda

Von diesem Ziel »Verbreitung des christlichen Glaubens« kommt auch der Begriff Propaganda. Eigentlich ist Propaganda eine Abkürzung des

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umfassenden Namens einer päpstlichen Institution, deren voller Titel Congregatio cardinalium de propaganda fide lautet, oder vielmehr lautete, denn in dieser Form gibt es diese Institution heute nicht mehr. Auf deutsch bedeutet dieser Name »Kardinalskongregation für den Glauben, der verbreitet werden muss« und signalisiert einen grundlegenden Wandel im Umgang der Kirche mit Menschen, welche die Botschaft des Christentums nicht annehmen wollten – aus der heutigen Sicht signalisiert sie sogar einen gewaltigen Fortschritt bei der Beachtung der Menschenrechte. Während im hohen Mittelalter die Bekehrung an Ketzern durch die Mittel des kirchlichen Strafrechts geschah, wobei dieses Strafrecht durch die staatliche Gewalt unter dem Namen Inquisitio haereticae pravitatis – deutsch »Untersuchung der abweichlerischen Verschrobenheit« angewendet wurde – heute spricht man kurz von Inquisition –, während also im hohen Mittelalter die »Bekehrung« von Ketzern durch die Mittel des kirchlichen Strafrechts mithilfe der Inquisition geschah, wurde nach der Reformation im Jahre 1622 unter Papst Gregor XV. ein selbstständiges System des Missionsrechts geschaffen, das vom Strafrecht vollkommen unabhängig war. Es lohnt sich einige Details aus der Entstehungsgeschichte und der ursprünglichen Intention zu kennen  : Gregor XV., mit bürgerlichem Namen Alessandro Ludovisi – er wird als aufrechter und wahrheitsliebender Charakter beschrieben, dem jedes Intrigantentum fern lag – war bei seiner Wahl zum Papst bereits 67 Jahre, für die damalige Zeit ein sehr hohes Alter, und schon sehr kränklich und altersschwach  – aber offenbar keineswegs im Kopf. Denn noch am gleichen Tag, an dem er gekrönt wurde, ernannte der seinen 25-jährigen Neffen Ludovico Ludovisi zum Kardinal und übertrug ihm die Leitung sämtlicher geistlicher und weltlicher Geschäfte des Heiligen Stuhls. Und diese Entscheidung vor allem war es, die dem Pontifikat Gregors XV. seine große historische Bedeutung verlieh. Denn Ludovico war ein kluger, weitblickender und umsichtiger Regent, wie eben die Einrichtung der »Propagandakongregation«, wie man sie kurz nennt, beweist.

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Ludovico Ludovisi hat übrigens bis heute seine Spuren in Rom hinterlassen  : in der Villa Ludovisi am Pincio, in der er eine großartige Antikensammlung römischer Kunstwerke anlegte, unter anderem die Figurengruppe des »Galliers, der sein Weib tötet«. Aus der Propagandakongregation, bestehend aus dreißig Kardinälen und zwei Präla­ten, die zunächst vor allem die Ketzer der Reformation in Nordeuropa mit intellektuellen Ar­gumenten zum Glauben zurückführen sollte, entwickelte sich bald eine Art päpstliches Außenministerium mit Planungs-, Koordinierungs- und Gouverneurskompetenz, die vor al­lem in der Organisation der Propagandakongregation zum Ausdruck kam  : So war die ge­samte Erde in zwei Hemisphären eingeteilt  : die Länder des Heiligen Stuhls, lat. terrae sanctae sedis, das war sozusagen das »christliche Abendland«, und das Missionsgebiet, lat. terrae missionis, wobei nicht zwischen heidnischem und ketzerischem (reformatorisch-protestantischem, auch griechisch-katholischem) Gebiet unterschieden wurde. Diese terrae missionis unterstanden der Propagandakongregation, die sich für ihre Bekehrungsarbeit der Nuntiaturen, der päpstlichen Botschaften, zuerst in den an das Missionsgebiet grenzenden Ländern, später auch eigener Nuntien in einem Missionsland bedienten. Wie alles wurde auch diese Propagandakongregation durch das Zweite Vatikanische Konzil reformiert. Aus den Kardinalskongregationen wurden Kurienkongregationen, und diejenige, die früher Congregatio cardinalium de propaganda fide hieß, heißt heute Kurienkongrega­ tion für die Evangelisation der Völker oder für die Glaubensverbreitung oder kurz Missions-Kongregation. Jedenfalls erscheint die Einrichtung der Congregatio cardinalium de propaganda fide, der »Propagandakongregation«, im Jahr 1622 durch Kardinal Ludovico Ludovisi unter Papst Gregor XV. – nach einer für die Menschenwürde dunklen Zeit der Kirchengeschichte – ge­ wissermaßen als eine inhaltliche letzte Konsequenz des neutestamentlichen Berichts von der Rede des Simon Petrus am ersten christli-

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chen Pfingstfest in den Dreißigerjahren des ersten Jahrhunderts n. Chr., der ersten umfassenden und idealtypischen Beschreibung einer Propaganda­situation der Geschichte. Und von dieser Kongregation kommt der Begriff Propaganda. Die pejorative Konnotation des Begriffs ist viel jünger  : Sie hat mit den Verbreitungs- und Manipulationskonzepten des Marxismus und in besonderer Weise des Nationalsozialismus zu tun, der sich zur Verbreitung seiner Lügen ein eigenes »Propagandaministerium« leistete. Und in diesem Zusammenhang ist auch die Unterstellung an die Massenmedien zu sehen, dass sie manipulierten.

3. Die Pfingstrede des Petrus: die erste Propagandarede

Die Pfingstrede des Simon Petrus kann man entsprechend der älteren Begriffsgeschichte bis zu Karl Marx und den Missbrauch durch die Nationalsozialisten als die erste echte Propagandarede überhaupt bezeichnen, denn sie verfolgt als erste – unterstützt durch das aufmerksamkeitserregende »Brausen«– tatsächlich ganz bewusst das Ziel des propagare, der »Verbreitung« einer weltanschaulichen Idee mithilfe von Rhetorik, durch die das allgemeine Bewusstsein verändert werden soll, nämlich in Richtung Glaube an Jesus Christus als den Sohn Gottes und Messias. Genau das aber ist die Definition von Propaganda  : Unter Propaganda versteht man laut Duden-Fremdwörterbuch »die systematische Verbreitung ideologischer, politischer oder weltanschaulicher Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine bzw. politische Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen« – wobei zumeist publizistische Mittel massiv zur Unterstützung eingesetzt werden. Diese Definition hat den wichtigsten Teil mit der Definition von Rhetorik gemeinsam, nämlich  : das Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen – ich erinnere an die Definition des »rhetorischen Han-

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delns« von Joachim Knape  : »Wir nennen das rhetorische Handeln ›Persuasion‹, das heißt, Lenkung des Denkens der anderen nach dem auf Veränderung gerichteten Metabolieprinzip, darunter versteht man ›Standpunktwechsel‹ in Hinsicht auf Meinung, Einstellung oder Verhalten.« Letztendlich erweisen sich also die Begriffe Propaganda und Rhetorik prinzipiell als bedeutungsgleich und unterscheiden sich bestenfalls in der Größe ihrer Zielgruppe. Deshalb wird im Folgenden der Begriff Propaganda nur noch dann verwendet, wenn Persuasion mit Hilfe von Massenmedienkampagnen an einer möglichst großen Anzahl von Menschen erreicht werden soll, ungeachtet ob es sich um »Manipulation« oder »Aufklärung« handelt.

4. Aus dem Fallbeispiel abzuleitende Voraussetzungen für rhetorisches Handeln und erfolgreiches Vermitteln

Der Kontext der Rede des Simon Petrus zeigt, so wie er überliefert ist, alle Merkmale, die eine rhetorische Handlung eines Menschen erfüllen muss, sowie alle Bedingungen, die notwendig sind, damit diese rhetorische Handlung Erfolg haben kann, und zwar in idealtypischer Weise  : Heilswert/Certum Als erstes muss es eine Idee, eine Botschaft geben, die den Anspruch erhebt, von existentieller Bedeutung zu sein. Nach dem, was Simon Petrus in seiner Rede vermittelt, ist jeder Mensch verloren, der sich nicht bekehrt und taufen lässt, der also diese Idee nicht annimmt, um nach ihr zu leben. Die Botschaft erhebt also den Anspruch, einen Heilswert zu besitzen. In der Definition des »Rhetorischen Falls« von Joachim Knape entspricht diesem Heilswert das sogenannte Certum des Redners. Nach dem amerikanischen Rhetoriktheoretiker Kenneth Burke ist das Certum »die für einen Menschen evident gewordene Wahrheit (truth), die ihm durch eine Offenbarung (revelation) zuteil wurde oder die er auf

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der Grundlage unterschiedlicher Erkenntnisquellen gewonnen hat«, wobei nach Burke als Erkenntnisquellen »Magie, Religion oder wissenschaftliche Experimente« infrage kommen. Genauer systematisiert Chaim Perelmann, woraus das Certum entstehen kann  : • • • •

durch Gespräch, also Beziehung, durch Inspiration, durch unmittelbare Erkenntnis, also Intuition (intuitions évidentes), durch ursprüngliche Seinserfahrungen, das entspricht am ehesten der Offenbarung, oder • durch vorgängige Rhetorik, fügt Knape konsequent hinzu, wenn diese schon das Ziel hat, »einem als berechtigt angesehenen Anliegen, dem oratorischen Telos, soziale Geltung zu verschaffen«. Missio/Zum-Anliegen-Machen Weil die Idee Heilswert besitzt, sieht Simon Petrus es als seine missio, seine »Sendung« an, dass möglichst alle von ihr erfahren, um nach ihr zu leben. Er hat sogar den konkreten Auftrag dazu, wie bei Matthäus 28,18–20 überliefert ist  : »Gehet hin und lehret alle Völker, taufet sie […], lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe.« Die Rede des Simon Petrus ist die erste Umsetzung dieses Auftrags, nämlich allen, wie es heißt, »die Gute Botschaft« (gr. eu-angelion) zu verkünden. Dieser Missio entspricht im »Rhetorischen Fall«, dass der Redner das, worüber er innere Gewissheit gewonnen hat, zu seinem Anliegen macht, die Voraussetzung dafür, dass er überhaupt darüber spricht. Charisma/Rhetorischer Impetus – »Oratorethos« Simon Petrus, der konkrete Träger des »Persuasions-Aktes« des Fallbeispiels »Pfingstrede«, vermittelt den Zuhörern den Eindruck, vom Heilswert der Idee, die er in seiner Rede darlegt, selber absolut überzeugt zu sein. Er tritt mit Leidenschaft und Charisma für diese Idee

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ein, im konkreten Fall sogar im eigentlichen Sinn des Wortes, denn das griechische Wort chárisma bedeutet »Gnadengabe, himmlisches Geschenk«, und das hat er ja gerade vom Geist Gottes selber, vom Heiligen Geist in Form einer Feuerzunge empfangen. Das, was ich hier bei Simon Petrus als Charisma bezeichnet habe, entspricht bei der Definition des »Rhetorischen Falls« eindeutig dem, was Knape als rhetorischen Impetus bezeichnet, und der in der Antike im Zusammenhang mit dem sogenannten »Oratorethos« beschrieben wird, einer der für uns am schwersten begreifbaren Begriffe der antiken Rhetoriktheorien. Das griechische Wort éthos bedeutet »Gewohnheit, Sitte, Brauch« und signalisiert damit jedenfalls, dass es etwas gibt, eine gemeinsame Kultur zum Beispiel und Verhaltensregeln, das den Redner mit seinem Auditorium verbindet. Dementsprechend ist auch Ethik ein Teil des »Oratorethos«, insofern als »die Glaubwürdigkeit der Person (des Redners), ihre Klugheit, moralische Integrität und wohlwollende Haltung« – so Gerd Ueding – möglicherweise eine stärkere Wirkung auf die Zuhörerschaft haben wie Argumente. Wer aber über dieses Profil »Glaubwürdigkeit der Person, Klugheit, moralische Integrität und wohlwollende Haltung« bei seinen Zuhörern verfügt, dessen Rede wird, wenn er es einmal für notwendig befindet, seine Stimme zu erheben, auch Gewicht gegeben, wenn er sie entsprechend vorträgt, wie Martin Heidegger schreibt  : »Das Ethos ist nichts anderes als die Art und Weise, in der sich offenbart, was der Redende will, das Wollen im Sinne der Prohairesis – das ›Für etwas Sein‹.« Diese Prohairesis – das »Entschlossensein« des Sprechers bei Heidegger entspricht der »Glaubwürdigkeitskomponente« oder »Persuasionsdeterminante« – confidence – Joachim Knapes. Auf der Grundlage der Rhetorik des Aristoteles hat Martin Heidegger alle diese Aspekte des »Oratorethos« folgendermaßen auf den Punkt gebracht  : »Rhetorik ist dýnamis ›Kraft, Fähigkeit‹, sofern sie eine Möglichkeit darstellt, eine Möglichkeit in bestimmter Weise zu sprechen.« (S. 41)

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Diese Fähigkeit, »in bestimmter Weise zu sprechen«, teilt der Redner, wie Manfred Fuhrmann beschreibt, mit dem Schauspieler. In der antiken Rhetorik wird diese Fähigkeit actio bezeichnet, mit dem gleichen Wort wie die »Schauspielkunst«, denn es gibt in der Sache eine große Gemeinsamkeit  : Die Überzeugungskraft, die der Redner seinen Worten durch die Art und Weise seines Vortrags zu geben versucht, beruht nicht anders als die Wirkung des Schauspielers auf Übung und den bewussten Einsatz geeigneter Mittel. Demosthenes, der als der bedeutendste Redner des antiken Griechenlands überhaupt gilt, soll nach einer Anekdote auf die Frage, was das wichtigste beim Reden sei, geantwortet haben  : »Actio  !«, also die Art des Vortrags. Und als er dann weiter gefragt wurde, was das Zweitwichtigste sei, sagte er wieder  : »Actio  !«, und die gleiche Antwort gab er auf die Frage nach dem Drittwichtigsten – was dann Cicero in seinem Buch De oratore – »Über den Redner« (3, 214) veranlasste, zur Rettung der Rednerehre eine spezielle Unterscheidung zwischen dem Redner und dem Schauspieler einzuführen  : Der Redner sei, so Cicero, der veritatis actor – »Darsteller der Wirklichkeit«, der Schauspieler hingegen der imitator veritatis – »Nachahmer der Wirklichkeit«. Diese quasi technische Verwandtschaft zwischen Rhetor und Schauspieler – so Heinrich Plett 1975 – birgt natürlich die Gefahr in sich, dass auch der Redner sein Ethos nur vorspielt wie ein Schauspieler – was ja die Rhetorik dann auch stark in Verruf gebracht hat, wenn man sich an die Aussage von Immanuel Kant erinnert  : »Rednerkunst ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen) – [Rednerkunst ist also als solche Kunst] gar keiner Achtung würdig.« Diese Beurteilung von Rhetorik, mit der Kant nicht allein steht, sondern die ab der Aufklärung in den deutschsprachigen Ländern üblich wurde, ist auch der Grund dafür, warum es kein traditionelles Fach Rhetorik an den deutschsprachigen Universitäten gibt.

IV. Publizität – »Öffentlichkeit«: Voraussetzung rhetorischer Wirkungsmacht in der Gesellschaft Zu den genannten drei Merkmalen Heilswert der Idee/Certum des Redners, Missio – »Sendung« des Redners und Botschaftscharakter seiner Rede sowie Chárisma/oratorischer Impetus des Redners, die sich umfassend als konstituierende Elemente des »Orator­ethos« darstellen – kommt noch ein viertes, das für Rhetorik wie für Propaganda als besondere Ausformung des Persuasionsaspekts der Rhetorik Gül­ tigkeit hat, nämlich die »Reichweite« rhetorischen Handelns. Dieses Merkmal ist die Publizität, die »Öffentlichkeit« der Rede. Durch Publizität wird eine Rede gesellschaftlich wirksam.

1. Zur Geschichte und Semantik des Begriffs Öffentlichkeit

Wenn heutzutage einer, der nicht gerade Soziologe ist, Öffentlichkeit sagt, meint er, dass eine möglichst große Zahl von Menschen, am besten das ganze Staatsvolk – wenn nicht gleich alle stimmberechtigten Erdenbewohner (internationale Öffentlichkeit) – etwas erfahren soll, das Konsequenzen für die Gestaltung des politischen und damit gesellschaftlichen Lebens nach sich ziehen müsste. An die Öffentlichkeit gehen jene, die Missstände in der staatlichen Administration (vom Waffenhandel bis zur Korruption) abstellen oder einer Bestrafung zuführen wollen. An die Öffentlichkeit gehen auch jene, die den Bürgern etwas näherbringen wollen, von dem sie meinen, dass es zu aller (oder wenigstens einiger Benachteiligter) Frommen und Nutzen sei, z. B. nicht

Publizität – »Öffentlichkeit«: Voraussetzung rhetorischer Wirkungsmacht  : 163

zu rauchen, ballaststoffreich zu essen, mit den Armen zu teilen, den Sozialabbau zu stoppen oder eine Autobahn durchs steirische Ennstal zu bauen. An die Öffentlichkeit gehen schließlich alle, die die Bürger an ihrer Freude über eine mit Steuergeldern, anderen Fremd- oder auch eigenen Mitteln erbrachten besonderen Leistungen teilhaben lassen wollen, sei es, um Rechenschaft über das Anvertraute abzulegen oder diese ihre besondere Leistung gewinnbringend zu verkaufen – oder beides. Sieht man einmal von der Wirkung solcher Öffentlichkeitsgänge ab, ist die Semantik des Begriffs Öffentlichkeit zunächst einmal von ihren Gegensätzen her bestimmt  : Bei den Beziehungen zwischen den Individuen wird landläufig zwischen persönlichen, privaten, und Beziehungen im öffentlichen Raum unterschieden. Sowohl wissenschaftliche Tradition als auch Alltagserfahrung scheinen diese Unterscheidung zu bestätigen  : Ehepaare zum Beispiel, die sich vollständig auseinandergelebt haben und im privaten Raum immer wieder lautstark aneinandergeraten oder sich aus dem Weg gehen, halten sich im öffentlichen Bereich zumeist an die von einem »glücklichen« Ehepaar erwarteten Spielregeln  ; Politiker, die im persönlichen Gespräch Missstände in der eigenen Organisation scharf kritisieren, paralysieren dieselben Missstände im öffentlichen Interview oder spielen sie herunter  ; Wissenschafter, die einen Kollegen für einen Trottel halten, erwecken im öffentlichen Vortrag trotz aller Ironie möglicherweise den Eindruck, sich ernsthaft mit dessen Ansichten auseinanderzusetzen. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch differenziert in der Unterscheidung zwischen »Ehrenbeleidigung« und »Ehrenkränkung« oder durch den strafbaren Tatbestand des »öffentlichen Ärgernisses« zwischen privat und öffentlich. Ein Blick auf die Geschichte zeigt aber  : Diese Unterscheidung zwischen öffentlich und privat ist erst eine junge Erscheinung in der Sozialgeschichte  : Im antiken Griechenland und in Rom bezeichneten die Begriffe politeia und res publica das allen Gemeinsame, das auf dem Marktplatz

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verhandelt wurde, also den Staat selbst, im Gegensatz zu den Maßnahmen des einzelnen Bürgers zu seiner persönlichen ökonomischen Existenzsicherung. Diese Bedeutung wurde von der Aufklärung übernommen, und zwar im Zusammenhang mit der Forderung nach »Öffentlichkeit aller politischen Vorgänge«, die sich gegen Geheimdiplomatie, undurchsichtige Kabinettspolitik und totalitäre Manipulation absolutistischer Staaten richtete. Der Hintergrund dafür war das kritisch-aufklärerische Prinzip des »öffentlichen Vernunftgebrauchs« und das daraus abgeleitete Recht, seine Gedanken und Meinungen ungehindert einem kritischen Publikum mitteilen zu dürfen (Meinungs- und Pressefreiheit). Dabei wurde und wird ignoriert, dass bereits in der Antike und ihren quasi-demokratischen Verfassungen Öffentlichkeit nicht durch jeden Menschen hergestellt werden konnte, sondern dass es immer einzelne oder kleine Gruppen privilegierter Persönlichkeiten waren, die Öffentlichkeit geschaffen haben, die sich außerdem – politisch – nur an ihresgleichen richtete  : die Bürger in griechischen Stadtstaaten (im Gegensatz zur großen Masse der rechtlosen Heloten und Sklaven), oder die waffenfähigen Männer in der germanischen Heeresversammlung, da nur mit diesen zur politischen Entscheidungsfindung ein Konsens hergestellt werden musste. Alle anderen konnten nur durch offene oder subversive Gewalt ihre Interessen geltend machen, ließen sich aber öfter durch Benefizien der Angehörigen der herrschenden Gruppen als deren Anhänger gewinnen (Klientelsystem). Damit hängt eng zusammen, dass Öffentlichkeit in allen Epochen der Geschichte mit konkreten Orten verbunden war  : In der Antike war es eben der öffentliche Marktplatz, die agora, vom Mittelalter bis zur Neuzeit waren es die Universitäten, mit der Entstehung der Demokratien die Parlaments-Sitzungsräume, zu allen Zeiten waren es an bestimmten Plätzen errichtete Anschlagtafeln, über die der Öffentlichkeit etwas politisch Bedeutsames mitgeteilt wurde, zuletzt die

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Wandzeitungen der chinesischen Kulturrevolution, auf der Konterrevolutionäre angeprangert wurden. Heute herrscht die Auffassung, dass die Massenmedien gewissermaßen einen virtuellen Ort dieser Öffentlichkeit darstellen, dass sozusagen die Lesergemeinschaft einer Zeitung, die Hörergemeinschaft einer Radiostation und vor allem die Zuschauer vor dem Fernsehapparat Öffentlichkeit konstituierten. Diese Auffassung scheint jedoch aus folgenden Gründen kritisierbar  : Der Begriff Öffentlichkeit ist nämlich, wie seine Geschichte zeigt, ein rein politischer Begriff, der in seiner heute geläufigen Form als von der privaten wie staatlichen Sphäre geschiedener Bereich erst mit dem ökonomisch emanzipierten Bürgertum des 17. und 18.Jahrhunderts entstanden ist, das Anteil an der politischen Macht haben wollte. In diesem Sinne wird der Begriff nur in der Soziologie korrekt gebraucht, die drei konstitutive Bedingungen formuliert hat, unter denen von Öffentlichkeit gesprochen werden kann  : 1. Es muss sich um Fragen und Ereignisse gesellschaftlicher Bedeutung handeln. 2. Es müssen demokratische Entscheidungsstrukturen vorhanden sein. 3. Es muss ein Platz definiert sein, an dem diese Öffentlichkeit stattfindet. Und die daraus abgeleitete Definition von Öffentlichkeit lautet  : Öffentlichkeit ist die jeweils erreichte Zahl von politisch handlungsfähigen Teilnehmern an einem gesellschaftlich relevanten Ereignis an einem dafür bestimmten Ort. So gesehen muss auch die Frage gestellt werden, ob es im Mittelalter oder in der stalinistischen Sowjetunion oder im Dritten Reich Öffentlichkeit gegeben habe, weil in jedem dieser politischen Systeme mindestens eine ihrer konstitutiven Bedingungen fehlte.

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Auf jeden Fall aber legt diese Definition des Begriffs Öffentlichkeit nahe, dass sie in der Massenmedienlandschaft nur eine Rolle in der Beziehung zwischen jenen Soziofragmenten spielt, deren Mitglieder unmittelbar und physisch am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sind – und sich übrigens auch nur an jene richtet. Das aber würde wiederum bedeuten, dass Massenmedien keine Öffentlichkeit in dem Sinn schaffen, wie sie landläufig verstanden wird, sondern nur eine der fragmentierten Gesellschaft korrespondierende fragmentierte Öffentlichkeit. Das, was landläufig als von den Massenmedien produzierte Öffentlichkeit verstanden wird, ist demnach nur eine Scheinöffentlichkeit, die von den Konsumenten freilich im Glauben an eine freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung als politische Öffentlichkeit missdeutet wird und bei ihnen den Eindruck einer Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess und somit einer Unterscheidung zwischen öffentlich und privat erweckt. De facto ist das Leben der Mehrheit der Menschen in einem Staatswesen aber ausschließlich auf den privaten Raum beschränkt, weil eben ohne Anteil am konkreten politischen Entscheidungsprozess. Ich fasse also zusammen  : Das Merkmal Öffentlichkeit käme danach also nur bestimmten Soziofragmenten (z. B. Politikern, Journalisten, Wissenschaftern) zu, und zwar jenen, die tatsächlich am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sind, und zwar auch nur soweit, als sie es erlauben, dass ihnen dabei andere, die nicht mitentscheiden dürfen, bei ihrer Entscheidungsfindung über die Schulter schauen. Betrachtet man den komplexen Prozess der Entscheidungsfindung auch in demokratischen Gesellschaftsordnungen, zeigt sich, dass diese Anteilnahme nur in der jeweiligen Endphase des Entscheidungsvorganges eingeräumt wird  : nämlich bei der bereits vorher in Ausschüssen vereinbarten Beschlussfassung über die Entscheidungen am (per definitionem) öffentlichen Ort Parlament. Die Teilnahme der anderen Soziofragmente an diesem Vorgang erscheint auf eine Zuschauerrolle beschränkt und ist offensichtlich nichts anderes als eine neue, technikunterstützte In-

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szenierung der Verlautbarung, der »Veröffentlichung« der getroffenen Entscheidungen, unterscheidet sich aber inhaltlich nicht vom mittelalterlichen »Verkünder«, der damals mittels Trommel oder »Trommete« auf sich und das, was er zu verkünden hatte, aufmerksam machte. Und genau das, dieses Zuschauen, zum Beispiel eben bei der politischen Entscheidungsfindung, mit dem Charakter der bloßen »Veröffentlichung« ist die eigentliche Semantik des landläufigen Öffentlichkeitsbegriffs. Wie unterscheidet sich nun Öffentlichkeit im politischen Sinn von jener Öffentlichkeit, die eigentlich nur die »Veröffentlichung« meint  ? 1. Während für Öffentlichkeit gilt  : Es muss sich um Fragen und Ereignisse gesellschaftlicher Bedeutung handeln, kann »Veröffentlichung« alle Inhalte, auch die unbedeutenden, betreffen. 2. Während für Öffentlichkeit im politischen Sinn demokratische Entscheidungsstrukturen vorhanden sein müssen, funktioniert »Veröffentlichung« unabhängig von politischen Strukturen. 3. Während für die politische Öffentlichkeit ein Platz definiert sein muss, an dem sie stattfindet, ist die »Veröffentlichung« ausschließlich eine Frage der technischen Mittel. 4. Während an der politischen Öffentlichkeit nur bestimmte Soziofragmente entsprechend ihrem Unterscheidungsmerkmal »Macht« beteiligt sind, sind die Ziele von »Veröffentlichung« prinzipiell alle Individuen einer Gesellschaft – im demokratischen System zumeist mit der einzigen Intention der periodischen Zustimmung zu ihrer Machtentfaltung, das heißt des »Markterfolgs« der im Besitze der Entscheidungsgewalt stehenden Soziofragmente. Das Sprachbild, das sich für die Beschreibung dessen anbietet, was mit dem Begriff Öffentlichkeit bezeichnet wird, ist somit das des Theaters  : Die Massenmedien sind die Bühne, auf der das Drama der politischen Entscheidungsfindung aufgeführt wird, während die Rezipienten als Zuschauer im (unerleuchteten) Zuschauerraum sitzen, dort aufgrund gruppendynamischer Mechanismen zum Ausharren gezwungen sind

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und keine andere Möglichkeit haben, auf das Drama einzuwirken, als der Aufführung ihren Applaus zu versagen.

2. Publizität und Erfolgsmessung rhetorischen Handelns

Der Begriff der Publizität ist deshalb so wichtig, weil auch nur daraus jene Kriterien abgeleitet werden können, mit denen man den Erfolg einer rhetorischen Hand­lung im Sinne der Persuasion messen kann. Die Frage in diesem Zusammenhang lautet  : Hat der Redner, der ein Certum, eine Idee mit Heilswert vertritt und der mit prohairesis – »Entschlossenheit« im Bewusstsein seiner missio – »Sendung« das Wort ergriffen und rhetorische Handlungsmacht gewonnen hat und dabei die Qualitäten des Oratorethos sichtbar werden ließ, sein Ziel erreicht und den oder die Zuhörer von seiner Idee überzeugt  ? Die Bedingungen zum Erfolg liegen nämlich nicht allein in der Person, die rhe­torisch handelt. Sie haben vor allem mit dem Publikum, den Zuhörern, dem Au­ditorium zu tun, an die sich die Rhetorik richtet, dem der Redner seine Idee mitteilt oder veröffentlicht. 2.1 Erfolgsbedingungen »Doxa« und »Confirmation«

Um Erfolg zu haben, muss das Certum des Redners erstens nicht nur Heilswert für sich beanspruchen, sondern es muss ihr vom Publikum, von der Zuhörerschaft auch diese existentielle Bedeutung zugestanden werden. Das heißt, der beanspruchte Heilswert der propagierten Idee muss mit einer Heilserwartung des Publikums korrespondieren (»Erwartungshaltung«). Und wenn die Idee schon nicht über eine Heilserwartung mit dem Publikum verknüpft ist, so muss sie wenigstens ins Weltbild der Zuhörer passen. In der antiken Rhetorik wird diese Korrespondenz mit den Wertund Lebensauffassungen des Auditoriums als Doxa bezeichnet. Der

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Begriff bedeutet die Meinung wie das Wissen, welche ein Redner bei seinem Auditorium vorfindet und die er in seiner Argumentation berücksichtigen muss, um mit seinem Persuasions-Anliegen Erfolg zu haben. Den größten Erfolg haben Rhetoren, deren Reden nichts anderes tun, als die Haltungen, Auffassungen und Meinungen des Auditoriums zu bestätigen, gegebenenfalls mit neuen Argumenten, oder indem sie Erklärungen für Phänomene liefern, die eine große Zahl von Menschen in Unsicherheit und Angst versetzen. Im Jahr 2005 erschien ein Buch in mindestens dritter Auflage mit dem Titel Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte, in dem der bayrische Autor Heribert Illig behauptete, dass die Chronologie des Mittelalters durch Mönche gefälscht worden sei. Diese hätten der mittelalterlichen Epoche einfach 300 erfundene Jahre zugerechnet, insbesondere die Zeit Karls des Großen, von dem sie behaupteten, dass er nie gelebt habe. Das ist eine sensationelle Aussage, die auch als »Phantomzeit-Theorie« bekannt wurde und sich bestens zur Bestätigung des Vorurteils gegen die römisch-katholische Kirche eignet, dass die Vertreter speziell des Vatikans Dokumente fälschen oder unterdrücken, die ihren Machtinteressen entgegenstehen. Solches wird ja auch von den Papyrusrollen behauptet, die in Qumran gefunden wurden, und das, obwohl sie z. B. 1971 von Eduard Lohse unter dem Titel »Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch« veröffentlicht wurden und für jedermann in vollständiger Übersetzung lesbar sind. Entsprechend häufig wurde auch die Aussage von der »von Mönchen erfundenen Zeit« in Massenmedien referiert. Aber offensichtlich war die Geschichte dann doch zu verrückt, als dass große öffentliche Diskussionen darüber geführt wurden, auch wenn ein Blick ins Internet zeigt, dass eine verschworene Gruppe bis heute diese Idee weiter zu verbreiten versucht. Der Grund dafür  : Jeder Mensch hat eine fest verankerte Sicht der Welt. Das ist zur Festigung seiner Identität und seiner Positionie-

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rung in der Gesellschaft notwendig. Aber das bedeutet auch  : Jeder ist nur offen und empfänglich dafür, was der Festigung seiner Position förderlich ist und seine Sichtweise bestätigt. Das heißt, am besten werden solche Inhalte von Vermittlungsprozessen von Massenmedienprodukten rezipiert, die entsprechende Rezeptoren in der Sicht der Welt eines Menschen haben, an die sie »andocken« können – so wie sich ein Virus an eine Zelle heftet. Ohne Rezeptoren kann er nicht andocken, und das entspricht genau den Prinzipien moderner immunologischer Therapien, zum Beispiel gegen Aids. Mit anderen Worten  : Menschen suchen jenen Teil des Inhalts, der ihnen hilft, ihre Identität und Position zu festigen. Die anderen Teile können nicht in ihre Gedankenwelt eindringen. Ein weiteres Beispiel für »Bestätigung« als Erfolgsfaktor rhetorischen Handelns ist das Buch Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, veröffentlicht 1994 von Richard J. Herrnstein und Charles Murray. In diesem Buch behaupten die Verfasser, scheinbar belegt durch eine Unmenge wissenschaftlicher Untersuchungen und Statistiken, dass Afro-Amerikaner weniger intelligent seien als Weiße. Große Teile der weißen Bevölkerung der Welt nahmen diese Publikation freudig auf, denn sie bot eine wissenschaftliche Bestätigung für ihr Vorurteil. Aber gleichzeitig polarisierte diese inhumane so genannte »Erkenntnis«, die wesentliche Elemente der Lebensführung als Einflussfaktor auf Intelligenz missachtete, denn sie widersprach auch der Auffassung vieler Menschen, und es gab in den Massenmedien rund um den Globus eine Vielzahl an heftigen öffentlichen Diskussionen. Ein Erklärungsmodell für die jeweiligen Reaktionen der Rezipienten habe ich im ersten Teil »Ästhetik« ausführlich dargelegt  : die Fragmentierung der Gesellschaft, nach der es – einfach gesagt – viele verschiedene Gruppen mit verschiedenen Sichtweisen der Welt, unterschiedlichen Wert- und Lebensauffassungen und dementsprechend verschiedenen Vorurteilen gibt. Deshalb haben die verschiedenen

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Meinungen, die in den Massenmedien transportiert werden, alle eine Chance, rezipiert zu werden. Es ist interessant, dass auch Einzelpersonen eine solche Fragmentierung in ihrem Intellekt aufweisen  ; ich kenne beispielsweise einen akademischen Pharmazeuten, der gegen seinen Katarrh homöopathische Medizin einnimmt. Die große Anzahl von öffentlichen Diskussionen in den Massenmedien beim Thema der »Bell Curve« könnte zum Beispiel darin begründet sein, dass quer durch die weiße Weltbevölkerung rassistische Haltungen weit verbreitet sind, die einer ebenso vielzähligen heftigen Gegnerschaft gegenüberstehen, während die schwache Reaktion auf die »Phantomzeit« darauf hinweisen könnte, dass diese »Theorie« trotz einer gewissen Tradition doch zu abwegig und kompliziert ist für die Konstitution eines öffentlich deutlich sichtbaren gesellschaftlichen Fragments. Die Folgerung  : Der erfolgreichste Weg für eine Vermittlung ist, etwas im Vermittlungsprozess anzubieten oder von etwas auszugehen, das bestätigt, was allgemein, oder wenigstens von der Zielgruppe der Vermittlung, geglaubt wird. Wer Erfolg haben will, muss wissen, was die Leute glauben, und muss diesen Glauben mit Geschichten und Erfahrungen oder wissenschaftlichen Erklärungsmodellen bestätigen. Das gelte sogar für die Arbeit der Wissenschafter, behauptet der berühmte Hirnforscher Valentin Braitenberg  : Wissenschafter bestätigten mit den Ergebnissen ihrer Forschungsarbeiten stets sich selbst und ihre Weltsicht und würden gar keine Erkenntnisse zulassen, die diesem Zweck zuwiderliefen. Mit ihren Erkenntnissen, so Braitenberg, glaubten sie, ein besseres Verständnis zu haben, wie die Welt funktioniere. Aber in Wirklichkeit hätten sie einfach nur mehr Gewissheit in ihrem Glauben erhalten und aus diesem Grund ein besseres Gefühl im Hinblick auf ihre Identität und Position in der Gesellschaft. Braitenberg nennt diese Weltsicht daher »zirkuläres Weltbild«. In der täglichen wissenschaftlichen und journalistischen Vermittlungsarbeit gibt es eine Reihe von Varianten dieses Prinzips. Zum

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Beispiel, wenn Menschen mit einem Phänomen konfrontiert sind, das ihnen Angst macht, dann suchen sie nach einer Erklärung dieses Phänomens, weil sie es nicht mögen, Angst zu haben. Diese Lösung kann auch Verstehen sein, denn wenn jemand meint, eine gewisse Sache, die ihn ängstigt, zu verstehen, dann hat er davor auch keine so große Angst mehr. Der Klimawandel ist so ein Beispiel  : Im Juni 1988, als im Mittleren Westen der USA eine schlimme Dürre herrschte und viele Farmer vor dem Bankrott standen, rief der US-Kongress zu einem Hearing, um Gründe dafür zu erfahren und Maßnahmen dagegen zu entwickeln. Als Experte geladen war auch der Klimatologe James Hansen, Direktor am Goddard-Forschungsinstitut der NASA. Hansen sorgte für Schlagzeilen, als er behauptete, dass die Dürre eine erste Auswirkung des so genannten Treibhauseffektes sei. Das war eine neue Qualität einer wissenschaftlichen Aussage, weil sie sich nicht auf Hypothesen, Computermodelle oder Zukunftsszenarios bezog, sondern auf erlebbare, aktuelle Phänomene und eine Erklärung für sie lieferte. Seither glauben alle Menschen an den Treibhauseffekt. Der Vorgang, dass von Wissenschaftern gegebene Deutungen aktueller Phänomene in die Schlagzeilen der Massenmedien kommen, wird seither in der Medientheorie »Hanseneffekt« genannt und zeigt, dass Deutungen von Wahrnehmungen bei Rezipienten gut durchsetzbar sind, wenn drei Bedingungen vorliegen  : 1. Ein konkretes, gesellschaftlich relevantes Ereignis (die Dürre) muss vorliegen. 2. Es muss eine plausible, einfache Erklärung für dieses Ereignis möglich sein (Treibhauseffekt  : globale Erwärmung der Atmosphäre), und 3. es muss ein entsprechendes »Meinungsklima« als Katalysator vorhanden sein (Erklärungsbedarf für ein als bedrohlich empfundenes Ereignis).

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Das folgende Fallbeispiel will nun zeigen, was geschehen kann, wenn ein Redner ein Anliegen vertritt, das überhaupt nicht in der Weltsicht, nicht in den Wert- und Lebensauffassungen, nicht in der »Doxa« der Rezipienten verankert werden kann, und daher auch keine Bestätigung – »Confirmation« – der Haltungen, Auffassungen und Meinungen der Zuhörer zustandekommt und keine »Erwartungshaltung« erfüllt werden kann. 2.2 Rhetorisches Fallbeispiel (2): Wie der Apostel Paulus in Athen scheiterte

Das gleiche Buch, die Apostelgeschichte des Johannes, dem das Fallbeispiel (1), die erfolgreiche Pfingstrede des Petrus, entnommen ist, berichtet auch, was bei allem Charisma und aller Missio geschieht, wenn sich die propagierte Idee nicht ins Weltbild der Zuhörer einknüpfen lässt (17,22ff ). Die Geschichte ist dem heiligen Paulus »passiert«, dem man die beiden Eigenschaften Charisma und Missio wirklich nicht absprechen kann. Paulus wurde nämlich bei seinem Aufenthalt in Athen wegen seiner Predigttätigkeit, der er in der ganzen Stadt nachging, von »stoischen und epikuräischen Philosophen«, die auch auf den Plätzen lehrten und mit denen Paulus in Streit geriet, dem Areopag vorgeführt, dem obersten Gerichtshof in Athen  ; und dort hielt er eine brillante Rede mit dem Ziel, die Mitglieder des Gerichtshofes, die Areopagiten, zu bekehren. Dabei knüpfte er mit seiner Argumentation bei einem Altar an, einem solchen, der so wie in anderen Städten Griechenlands, z. B. in Pergamon, angeblich auch in Athen aufgestellt gewesen sein soll und die Aufschrift agnosto theo – »dem unbekannten Gott« trug. Dieser Altar, dessen Existenz bisher in Athen archäologisch allerdings nicht nachgewiesen werden konnte, soll als Vorsorge aufgestellt gewesen sein, dass man einen der vielen Götter des antiken polytheistischen Himmels nicht aus Unkenntnis nicht verehren könnte. Für den Fall, dass sich dieser »ungeehrte« Gott

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nun deshalb rächen hätte wollen, hätte man auf diesen Altar verweisen und behaupten können, dass dieser Gott genau jener unbekannte und daher keineswegs unverehrt sei. Diesem »unbekannten Gott« wies Paulus damals in seiner Rede eine eindeutige Identität zu  : nämlich die des allmächtigen jüdischen Schöpfergottes, des Vaters von Jesus Christus, dessen Auferstehung er bezeugte. Und das ist die Rede des Paulus, wie sie im Wortlaut überliefert ist  : »Ihr Männer von Athen, ich finde, dass ihr in jeder Hinsicht sehr religiös seid  ; denn als ich umherging und eure Heiligtümer betrachtete, fand ich auch einen Altar mit der Inschrift ›dem unbekannten Gott‹. Was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Der Gott, der die Welt und alles in ihr geschaffen hat, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand erbaut sind  ; auch lässt er sich nicht von Menschenhand bedienen, als ob er etwas bedürfe, gibt er doch selber allem Leben, Odem und alles andere.« Das sind starke Aussagen, die Elemente der antiken Religionskritik aufgreifen, etwa, dass Götter auf die menschlichen Opfer angewiesen seien. »Dieser Gott hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht hervorgehen lassen, dass es wohne auf der ganzen Erde, und hat bestimmte Zeiten und die Grenzen für ihre Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn fühlen und finden könnten, ist er doch nicht fern von einem jeden von uns. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. So haben ja auch einige von euren Dichtern gesagt  : ›Wir sind von seinem Geschlecht.‹ Sind wir also von Gottes Geschlecht, so dürfen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich dem Gold, Silber oder Stein, einem Gebilde menschlicher Kunst und Erfindung. Nun aber hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen, jetzt lässt er den Menschen kundtun, dass überall alle sich bekehren

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sollen. Denn er hat einen Tag bestimmt, an dem er die Welt in Gerechtigkeit richten wird durch einen Menschen, denn er dazu bestellt und durch die Auferstehung von den Toten bei allen beglaubigt hat.« Aber statt mit dieser brillanten didaktischen Idee, zu der noch sehr viel zu sagen wäre, Erfolg zu haben, wird Paulus von den Areopagiten abgewiesen – mit der Höflichkeit philosophisch Gebildeter, denn sie antworten auf seine Rede mit der bis heute üblichen Abwehrfloskel  : »Darüber wollen wir dich ein anderes Mal befragen«, heißt, »über solchen Unsinn wollen wir wirklich nicht reden«. Diese Geschichte, die sich im Jahr 51 n. Chr. zugetragen hat, zeigt aber nicht nur, wie kontextabhängig die Akzeptanz des Heilswerts einer Idee ist, sondern auch die Abhängigkeit vom soziokulturellen Umfeld und den anderen Bedingungen für eine erfolgreiche Rhetorik, die da sind  : die Autorität der Person, die sich um Persuasion bemüht, die Durchschlagskraft ihrer Argumente und wie die Zuhörer die Inszenierung der Symbole in der Rede verstehen. Während der gebildete Zeltmachermeister Paulus durch seine mit den jüdischen Sitten übereinstimmende Lebensweise selbst in vornehmer jüdischer Umgebung, in der im Gegensatz zur gehobenen Sozialschicht der Griechen Handarbeit immer sehr hoch eingeschätzt wurde, hochangesehen ist und jedermann seine Argumente versteht, weil sie auf die jüdische Tradition aufbauen, nimmt den »jüdischen Handwerker« in dem von Philosophen wie Platon und Aristoteles geprägten in der Dialektik geübten gelehrten Umfeld Athens niemand für voll, sondern sieht in ihm einen Möchtegernphilosophen, einen spermologos – »Körnerpicker«, dessen Definition des »unbekannten Gottes«, dem der Altar gewidmet sei, im polytheistischen Kontext schon deshalb nicht anerkannt werden darf, um mögliche weitere nicht mit eigenen Heiligtümern geehrte Götter nicht zu vergrämen, ganz unabhängig davon, dass Paulus’ Argumente wegen ihres völlig anderen Zugangs zur behandelten Frage der Prüfung durch griechische Philosophen sowieso nicht standhalten.

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Die Publizität, die Paulus durch die geschickte Nutzung seiner Befragung durch den Areopag erreicht, ist daher nur eine momentane, etwa so, wie wenn sich heutzutage jemand bei einer Talkshow im Fernsehen ungewöhnlich benehmen würde, und daher – ungeachtet eines gewissen Unterhaltungswertes, den Peinlichkeiten immer haben – rhetorisch und propagandistisch wirkungslos, wenn man von der Erwähnung der Bekehrung eines namentlich genannten Areopagiten absieht  : Dieser hat als Dionysios Areopagitas mit vier eigenen theologischen Schriften in die Tradition Eingang gefunden – Schriften übrigens, die genau jenen Mangel wieder gutmachten, dessentwegen Paulus vor dem Areopag scheiterte. Die unter dem Namen dieses Dionysios Areopagitas herausgegebenen Abhandlungen über »himmlische« und »kirchliche Hierarchie«, »mystische Theologie« und den »göttlichen Namen« sind eine elegante Verschmelzung der christlichen Botschaft mit der Terminologie und Methodik der griechischen Philosophie und hatten dadurch starke Wirkung auf das christliche Weltbild des Mittelalters. Heute geht man freilich davon aus, dass ein kluger Kopf des 5. Jahrhunderts n. Chr. den Namen Dionysios Areopagitas als Pseudonym wählte, um mit seinen Schriften eine bessere propagandistische Wirkung zu erzielen. 2.3 Ursachen für das Scheitern von Vermittlungsprozessen: »Gegenbearbeitung«

Sich mit der Abwehrfloskel »Darüber wollen wir dich ein anderes Mal befragen« einem Vermittlungsbegehren zu verweigern, wie es die athenischen Areopagiten gegenüber Paulus taten, ist die einfachste und wirkungsvollste Form der so genannten »Gegenbearbeitung«, und einen wesentlichen Teil der Gründe dafür habe ich bereits im vorigen Abschnitt skizziert  : entgegengesetzte Weltbilder von Rhetor und Rezipienten, wie die Zuhörer die Inszenierung der Symbole in der Rede verstehen und wenn dem Redner keine Autorität zugestanden wird.

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Wie eine »Gegenbearbeitung« in einer weniger eleganten Umgebung verläuft, ist ebenfalls in der Apostelgeschichte mehrfach beschrieben, etwa in 17, 5ff. und 13f.: Da entsteht im Volk »Unruhe und Aufruhr« und Paulus wird niedergebrüllt  ; das ist die brutale Form des Widerspruchs von in die Rolle des Orators gewechselten Rezipienten gegen einen dadurch in die Rolle des Rezipienten gezwungenen Rhetor. Es gäbe aber noch einen viel einfacheren Grund dafür, dass die Zuhörer gegen den Redner opponierten, nämlich dass sie zur Überzeugung gelangten, dass er sich mithilfe seiner Rhetorik »der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten bediene«, wie Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden, Anhang II, darlegt. In dieser Abhandlung entwickelt Kant seinen »politischen kategorischen Imperativ der Öffentlichkeit«, auch »transzendentale Formel des öffentlichen Rechts« genannt. Kant beschäftigt sich hier – aus irgendeiner schlechten Erfahrung – mit der Wahrhaftigkeit der Redner, die er ihnen nicht zubilligen will, und spricht damit Propaganda, Manipulation und Lüge im Vermittlungsprozess an, aber auch das Vorurteil der Zuhörer, dass der Redner seine Rhetorik nur als Mittel des Missbrauchs einsetze, ohne seine wahren Intentionen offen zu legen  : »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht […]. Denn eine Maxime, die nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht gleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend von wo anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.« Bei Kant ist die Ursache für »Gegenbearbeitung« also immer der Verdacht, dass ein Redner eine unlautere Gesinnung habe und lüge, wenn er öffentlich redet, um seine wahre Absicht zu verheimlichen, weil de-

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ren Offenlegung ihr Erreichen vereiteln würde. Und das wäre wirklich ein guter Grund für die Zuhörer, »Gegenbearbeitung« zu leisten. Kant führt hier mit der Publizität gewissermaßen ein Kriterium für die moralische Qualität des Certum ein, das sich nach dem Vorbild des bekannten »kategorischen Imperativs« – »Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns als Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung dienen kann« – auch so formulieren ließe  : Denke stets so, dass die Maxime deines Denkens, in öffentlicher Rede ausgesprochen, als Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung dienen kann. Oder in eine Frage gefasst, die sich jeder Redner, bevor er den Mund aufmacht, stellen soll  : Kann ich sagen, was ich mit meiner Rede bezwecke, oder muss ich meinen Zuhörern mein wirkliches Persuasionsziel verschweigen und ihnen etwas »vorspielen«, um meinen Zweck zu erreichen  ? Diesem politischen kategorischen Imperativ von Immanuel Kant liegt der bereits erläuterte semantische Doppelaspekt der ­actio zugrunde  : einmal die Fähigkeit eines Redners, als actor veritatis »in bestimmter Weise zu sprechen«, das andere Mal die Kunst des Schauspielers, als imitator veritatis Wirklichkeit – oder hier besser  : »Wahrheit« – nur vorzuspielen, oder wörtlich  : »nachzuahmen«. Ganz offensichtlich unterstellt Kant, dass die meisten Redner nicht als actores veritatis agieren, sondern als imitatores veritatis, und deshalb kommt er zum Schluss  : »Rednerkunst ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen) – [Rednerkunst ist also als solche Kunst] gar keiner Achtung würdig.« Diese Kant’sche Befürchtung wirkt bis heute weiter, inzwischen bestimmt sie vielfach die Meinung der Menschen über das, was in Massenmedien geredet wird  : Massenmedien bzw. diejenigen, die in Massenmedien reden, sagten nicht, was wirklich sei, sondern das, was die Menschen ihrem Wunsch nach darüber glauben sollen. Mit zwei Wörtern  : Massenmedien manipulieren.

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Wenn aber jemand glaubt, er werde manipuliert, befindet er sich bereits in »Gegenbearbeitung«  : Denn niemand will manipuliert werden und deshalb begibt er sich in eine Abwehrhaltung, wenn die Gefahr, manipuliert zu werden, befürchtet wird, sodass Argumente nicht mehr ohne weiteres akzeptiert werden und auch die wohlwollende Haltung dem Redner gegenüber beeinträchtigt wird, und damit auch der Sache gegenüber, die er vertritt. Man darf davon ausgehen, dass die Athener einige schlechte Erfahrung mit Rhetoren hatten. Joachim Knape hat nun diesen Kant’schen Begriff der »Gegenbearbeitung« von der berechtigten Empörung der Zuhörer – wenn sie glauben müssen, dass sie der Redner belügt, bzw. wenn er etwas sagt, das sie als unrecht empfinden, sowie dem Misstrauen, das aus der Befürchtung, belogen zu werden, entstehen kann – auf alle Widerstandsfaktoren ausgedehnt, auf welche ein Redner bei seinem Auditorium stoßen kann und die es ihm erschweren oder verhindern, sein oratorisches Persuasionsziel zu erreichen. Sonst könnte man sich nicht im Zusammenhang mit dem persuasorischen Misserfolg des Paulus mit »Gegenbearbeitung« auseinandersetzen, der tatsächlich nichts verschleiert oder verschweigt, sondern voll hinter dem steht, was er verkündet, und daher der Hintergrund Kants für ihn absolut nicht gilt. Im Fall Paulus als Fallbeispiel und in vielen anderen Fällen, seit die Geschichte lang ist, liegt das Unrecht viel mehr auf der Seite der Rezipienten, die sagen müssten  : »Es passt uns nicht, was du verkündest, es stört uns und ist gegen unsere Interessen, und deshalb bezichtigen wir dich der Lüge, der unlauteren Gesinnung, und bringen dich damit zum Schweigen.« Wichtige Faktoren der »Gegenbearbeitung« durch das Auditorium sind z. B. das Erschweren des Rollenzugangs zur Rolle des Redners durch Behinderung beim Reden, Oratorkonkurrenz, etwa durch einen oder mehrere »Widersprecher« oder Ignoranz, welche die Areopagiten Paulus gegenüber demonstrierten.

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Viele Elemente der »Gegenbearbeitung«, also viele dieser »Widerstandsfaktoren«, kann man aus dem Verhältnis zwischen Kommunikator und Rezipient und dem Unterscheidungskriterium zwischen Kommunikation und Rhetorik ableiten  : Was die Rollenmacht der Oratorrolle betrifft, also die kommunikative Handlungsmacht des Kommunikators, findet der Redner nur schwer Zugang zu ihr, wenn entweder sein »Oratorethos« nicht stark genug ist oder seine Aussagen keine Zustimmung finden – entweder, weil er gegen vorherrschende Meinungen anredet oder weil er unter Manipulationsverdacht steht. Es könnte auch sein, dass derjenige, der die Rolle des Redners ergriffen hat, damit gegen einen sozialen Regulierungsmechanismus oder ein Ritual verstößt, die den Zugang zur Oratorrolle regeln  ; dann kann der Zugriff auf die Oratorrolle sogar geahndet werden. Regulierungsmechanismen für den Zugang zur Oratorrolle spielen vor allem beim rhetorischen Handeln in Massenmedien eine bedeutende Rolle, denn gerade in Massenmedien ist sehr genau geregelt, wer reden darf und wer nicht, und es gibt gut rekonstruierbare Instanzen, wer dies bestimmt. Eine rechtliche Regelung ist z. B., dass nur gewählte Mandatare in Parlamenten »öffentlich« reden, also die Oratorrolle einnehmen dürfen. Jedenfalls hat der Zugang zur Oratorrolle mit Macht und Autorität zu tun. Die Oratorkonkurrenz schlägt durch  : Jeder Redner befindet sich in einer ständigen latenten Konkurrenzsituation mit anderen, die auch die Oratorrolle anstreben. Wenn Ablehnung des Orators spürbar wird, kann Rollenwechsel stattfinden. Zur Erläuterung  : Im privaten, persönlichen Gespräch kommt es ständig zu einem Rollenwechsel zwischen den Gesprächspartnern, denn im persönlichen Gespräch kann im Normalfall jeder jederzeit die Oratorrolle beanspru­chen und sich das Wort nehmen, und es gibt keine Instanz, welche regelt, wer gerade der Redner ist. Im »rhetorischen Setting Gespräch« kann also der Widerspruch voll wirken

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und den Erfolg jeder Rhetorik infrage stellen, wenn nicht sogar den rhetorischen Fall selber verhindern. Andererseits können nur unter den Bedingungen der Publizität die Mechanismen voll wirken, welche regeln, wer die Oratorrolle innehat und dadurch die Kräfte der »Gegenbearbeitung« minimieren, und das gilt sogar für Gespräche, wenn sie öffentlich geführt werden. Dazu gibt es noch, wie schon ausgeführt, inhaltliche Widerstandsfaktoren, die mit den Wert- und Lebensauffassungen der Rezipienten zu tun haben, oder, wie man auch ungenau sagt, mit deren Weltbild. Diese Faktoren werden mit dem Begriff Komplexität zusammengefasst. Komplexität hat in der Rhetorik-Theorie zwar durchaus auch mit der Komplexität eines Rede-Themas im Sinne von schwierig oder schwer verstehbar und damit mit dem wichtigen Element der Vermittlung »Verstehen« zu tun, mehr aber noch mit dem, was in den Hirnen und Herzen der Zuhörer vor sich geht, und deshalb hängt es besonders vom Widerstandsfaktor Komplexität ab, ob eine Rede bei den Zuhörern Erfolg hat. Sowohl aus der Rhetorik-Definition Gerd Uedings, die das wirkungsvolle »Sprechhandeln« des Rhetors impliziert, als auch aus den Unterscheidungen der kommunikativen Situationen von Gerhard Maletzke lässt sich noch ein weiterer im weitesten Sinn technischer Widerstandsfaktor ableiten  : Distanz, die ich schon öfter angesprochen habe. Distanz heißt, wenn man Maletzkes »indirekte Kommunikation« als Bezug nimmt, dass die Partner räumlich, zeitlich oder raum-zeitlich voneinander getrennt sind, während sie kommunizieren – etwa brieflich oder übers Telefon, wohingegen Joachim Knape den Begriff von vorne herein mit den Massenmedien verknüpft und mit dem Begriff Distanz das Phänomen beschreibt, dass der Redner im rhetorischen Setting von Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet nicht mehr die Möglichkeit hat, unmittelbar auf das Verhalten seines Auditoriums zu reagieren. »Nicht einmal seine Botschaft kann er direkt steuern,

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weil viele Instanzen dazwischen geschaltet sind  : vom Berichterstatter über den Chefredakteur bis zu jenen Personen in der Kette medialer Produktionen, welche das Produkt technisch realisieren, und schließlich den Rezipienten, die über dieses Produkt zum Redner Stellung beziehen, als ob es seines wäre.« (S. 91) Man braucht nur daran zu denken, was von einem Interview, das heute z. B. ein Politiker gibt, auf Sendung geht oder in einer Zeitung gedruckt wird und wie er trotzdem nach diesem Torso beurteilt wird. Zur Beschreibung und Erklärung dieses Phänomens der Distanz unterscheidet Knape anders als Maletzke zwischen mehreren Ebenen der Medialpräsenz, die er in primär-, sekundär- und tertiärmediale Kommunikation unterteilt  : – Primärmediale Kommunikation bedarf für Knape der körperlichen Anwesenheit des Redners, oder wie er es nennt, der korporalen Oratorpräsenz. Der Redner sieht seinem Auditorium ins Gesicht, er besitzt die kommunikative Handlungsmacht, das »Oratorethos« kann voll wirken. – Bei der sekundärmedialen Kommunikation Knapes liegt keine korporale Oratorpräsenz mehr vor, sie wird nur noch simuliert (»Präsenzsimulation«)  : »Sie tritt ein, wenn das kommunikative setting die leibhaftige Präsenz bestimmter Sprecher nicht mehr vorsieht, diese Präsenz aber intersemiotisch komplex (also nicht mehr nur durch Sprache) [wie bei der primärmedialen Kommunikation] simuliert wird.« Diese Situation, dieses »rhetorische Setting«, ist für Knape auf jeden Fall in den Massenmedien gegeben, besonders in Fernsehen und Radio, denn für diese gilt, was schon gesagt worden ist, nämlich »dass der Redner im ›rhetorischen setting‹ von Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet nicht mehr die Möglichkeit hat, unmittelbar auf das Verhalten seines Auditoriums zu reagieren. Nicht einmal seine

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Botschaft kann er direkt steuern, weil viele Instanzen dazwischen geschaltet sind  : Vom Berichterstatter über den Chefredakteur bis zu jenen Personen in der Kette medialer Produktionen, welche das Produkt technisch realisieren, und schließlich bis zu den Rezipienten, die über dieses Produkt zum Redner Stellung beziehen, als ob es seines wäre. […] Der Orator verliert, weil er nicht alles allein entscheiden kann, sehr viel an leibhaftiger Situationsmächtigkeit.« Die Konsequenz daraus ist, vor allem auch vor dem Hintergrund der Selbstbezüglichkeit der Massenmediensysteme, dass beim »Reden in Massenmedien« möglicherweise gar keine Rhetorik mehr vorliegt, deren wesentliches Merkmal ja kommunikative Handlungsmacht wäre. – Kann man bei der sekundärmedialen Kommunikation von »Präsenzverfremdung« reden, tritt bei der tertiärmedialen Kommunikation nach Knape als quasi höchster Grad der Distanz zwischen Kommunikator und Rezipient »Präsenzentfremdung« ein  : »Bei der tertiärmedialen Kommunikation haben es die Kommunikationspartner nicht mehr nur mit Verfremdung, sondern mit Präsenzentfremdung als Widerstandsfaktor zu tun. Es handelt sich um eine semiotische Entfremdung, die auf der Reduktion auf ein einziges semiotisches System beruht, wie es etwa im Medialsystem der Publizistik vorliegt.« Dabei beruft sich Knape auf Marshall McLuhans »Gutenberg­ gala­ xis«-Hypothese, die besagt, dass durch die Verschriftlichung der Kommunikation seit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg, die wichtigsten Informationen und Argumentationen über dieses einzige semiotische System der Schrift transportiert werden, wodurch unserer Sinne reduziert und des Menschen Wahrnehmung verzerrt würde, denn das Denken werde gewissermaßen ausschließlich vom Lesen geprägt. Weil die Redner aber auch unter diesen medialen Bedingungen ihre kommunikative Handlungsmacht schon wegen ihres Persuasionsziels – sie wollen ja überzeugen oder überreden – erhalten wollen, entwickeln

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sie Präsentations-, also »Vergegenwärtigungs«-Techniken, um diesen Widerstandsfaktor Distanz der »Gegenbearbeitung« zu überwinden, und diese sind es, die in der Handbuch-Rhetorik von Rhetoriktrainern unter dem Titel »Präsentationstechniken« verkauft werden. Auf jeden Fall gilt, dass für Joachim Knape Distanz das zentrale Gegenbearbeitungs-Element der massenmedialen Publizität ist. Aus all dem müsste klar geworden sein, was die Gründe für die gescheiterte Vermittlung des Apostels Paulus in Athen gewesen sind.

3. Das rhetorische Setting als wichtigster Bezugspunkt des »Oratorethos«

Aus der Beschreibung des Kontextes der ersten Missionsrede des Simon Petrus wie – negativ – der des Paulus vor dem athenischen Areopag kann man, wenn man die bisher gefundenen Elemente in eine Matrix einträgt, nicht nur die Bedingungen für den Erfolg der Persuasion, das Ziel der Rhetorik, ablesen, sondern auch, mit welchen konkreten medialen (vermittelnden) Instrumen­ten Rhetorik zu ihrer Unterstützung verknüpft ist. Viele von ihnen stehen im Dienste der Errei­chung der Publizität  : Maßnahmen zur Erregung von Aufmerksamkeit der Zuhörer, die Wahl des Ortes und der Zeit der Rede, die Beachtung der vorgefundenen Stimmung des Auditoriums, im Zentrum die Struktur der Rede und schließlich – speziell für das »Reden in Massenmedien« – die Organisation ihrer Verbreitung  : das sogenannte rhetorische Setting. Die zentralen Begriffe, mit denen ein rhetorisches Setting in der Art einer Matrix beschrieben werden kann, gehören dementsprechend einerseits der Kommunikationstheorie, andererseits dem Begriffsfeld der »Gegenbearbeitung« an. Die Begriffe der Kommunikationstheorie sind die der Unterscheidung von kommunikativen Situationen von Gerhard Maletzke  : ge-

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genseitig kommunikativ – einseitig kommunikativ, direkt kommunikativ – indirekt kommunikativ (»distanziert« vom Auditorium) und privat – öffentlich, sowie, ob Rollenwechsel möglich ist oder nicht. Mit den Begriffen der »Gegenbearbeitung« wird beschrieben, welche situativen kommunikativen Regulierungsmechanismen und Rituale die Rollenmacht der Oratorrolle sichern, bzw. mit welcher Oratorkonkurrenz der Redner rechnen muss. Dazu kommt eine Fülle von Begriffen, mit denen die situative Umfeld- und Stimmungssituation erfassbar wird. Wie man ein rhetorisches Setting konkret erfasst, soll im Folgenden am Beispiel einer Analyse des rhetorischen Settings der »Pfingstrede des Simon Petrus« dargelegt werden  : Der Ort ist ein Marktplatz in Jerusalem, in der antiken Tradition der »öffentliche Platz« schlechthin, weil dort alle Angelegenheiten »öffentlichen Interesses« abgehandelt wurden, in Griechenland z. B. die »Volksversammlung«, in der alle wichtigen politischen Entscheidungen abgestimmt und entschieden wurden. Der Marktplatz ist aber auch Handelsplatz, und das bedeutete in der Antike im Gegensatz zu unseren heutigen Bauernmärkten Internationalität und damit auch Vielsprachigkeit, denn die Händler kamen aus aller Herren Länder. Das rhetorische Setting wird im Fallbeispiel aber auch noch dadurch bestimmt, dass gerade ein Feiertag ist, nämlich das jüdische Fest der Weizenernte, das viele Pilger nach Jerusalem geführt hat, die durch eine besondere religiöse Grundstimmung miteinander verbunden sind. Dazu kommt das überraschende unerklärliche Brausen, mit dem die Emotionalität der Leute, die sich am Markt befinden, gleichsam synchronisiert wird, und schließlich das ungewöhnliche, aber für die Anwesenden deutbare Verhalten einer Gruppe von Männern, die gerade aus einem Haus getreten sind. Sie sind, kann man aus dem Kontext schließen, in Verzückung gefallen, die sich in der sogenannten Glossolalie – dem »Zungenreden« – äußert, einer Art Lallen, das damals als Zeichen gesehen wurde, dass

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von diesem Menschen der Geist Gottes Besitz ergriffen hat. Darauf bezieht sich der Text des Berichtes, wenn es heißt (Apg 2, 4)  : »Und alle wurden mit Heiligem Geist erfüllt und begannen mit anderen Zungen zu reden, wie der Geist ihnen zu sprechen verlieh.« Wenn man diese Situation rhetoriktheoretisch systematisiert, ergeben sich folgende Merkmale für das konkrete rhetorische Setting, auf das sich Simon Petrus einstellen muss – oder in diesem Fall eher, das sich auf die Rede des Simon Petrus einstellt  : Es ist öffentlich, direkt und einseitig kommunikativ, denn Petrus »verkündet«, und offensichtlich wollen die Zuhörer aufgrund der unerklärten und auffallenden Rahmenbedingungen wirklich wissen, was der Redner zu sagen hat. Durch die direkte Face-to-Face-Kommunikation kommt das Charisma des Petrus auf die Zuhörer voll zur Wirkung. Das heißt aber auch, dass alle Regulierungsmechanismen wirken, welche die Rollenmacht der Oratorrolle sichern. Das Merkmal öffentlich wird noch unterstrichen durch die Internationalität dieser Öffentlichkeit, vergleichbar der Live-Fernsehübertragung der Eröffnung der Olympischen Spiele – nicht was das Setting betrifft, aber dessen Bedeutung. – Die Rahmenbedingungen wirken massenpsychologisch emotional synchronisierend durch eine gemeinsame Wahrnehmung und Erwartung (Brausen). Dies wird durch die Grundstimmung der Versammelten unterstützt, denn ihre Anwesenheit ist religiös, gewissermaßen durch ein kollektives RezipientenCertum motiviert, was den Gegenbearbeitungs-Faktor Komplexität ausschaltet. Diese aufmerksamkeitsfokussierende, spannungserzeugende und damit stimmungssynchronisierende, aber auch erklärungsbedürftige Situation »determiniert die Bedingungen der Welt« in diesem Moment so, dass Petrus für seine Rede die idealen Bedingungen vorfindet, auf die Stimmung aufsetzen, »seine kommunikative Handlungsmacht ausagieren« und, nicht zuletzt, weil er alle die ungewöhnlichen Phänomene erklärt, »absolute informationelle Souveränität gewinnen kann«  ;

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und er nützt das Setting auf eine so optimale Weise, dass sich »dreitausend« Personen überzeugen lassen und Christen werden, wie es im Originaltext heißt. Dieses rhetorische Setting wird um so besser fassbar, wenn man sich das vorherige, aus dem die Apostel heraustreten, vergegenwärtigt  : Ob es direkt oder indirekt kommunikativ ist, lässt sich zwar nicht klar feststellen, denn die feurigen Zungen, in denen der Geist über die Apostel kommt, können sowohl als direkt, weil unmittelbar von Gott ausgehend, als auch als indirekt verstanden werden, weil der Geist eben in Flammenform kommt und nicht als Wort der göttlichen Person, und es ist auch einseitig kommunikativ, obwohl für das Setting vor der »Pfingstrede« privat statt öffentlich gilt, und das ist sicher ungewöhnlich und verweist auf etwas Feierliches, vergleichbar etwa dem offiziellen Teil einer Geburtstagsfeier in der Familie, bei welcher der Familienvater eine Laudatio hält. Wie es sich für eine ideale private Situation gehört, ist sie trotzdem intim geschlossen, während sonst in beiden Settings alle anderen Merkmale übereinstimmen und so eine ungewöhnliche Stimmigkeit der beiden Situationen signalisieren, bei der die öffentliche aus der privaten quasi herauswächst, sie sich geradezu durch eine Strukturierung des bunten Marktplatztreibens angleicht und aneignet  : eine hochprofessionelle Generierung eines perfekten rhetorischen Settings, in dem sich das Private bekenntnishaft öffnet, wie es wohl nur der Geist Gottes selber kann, der letztlich dann auch durch das docere des Simon Petrus die angesprochenen Menschen delectat und im Sinne des movere, unterstützt von einer situativen evidentia, berührt, also alle laut Aristoteles in der Antike geforderten rhetorischen Wirkungsfunktionen idealtypisch zeigt, um seine Rede überzeugend zu machen und Vermittlung gelingen zu lassen. Jedenfalls gilt, dass, wenn es die Publizität nicht gäbe, es auch keinen Sinn hätte, sich mit Vermittlungsprozessen durch Massenmedien zu beschäftigen, denn ohne Publizität hätten Massenmedien keinen Sinn, deren wesentliches Merkmal ja ist, dass sie »veröffentlichen«.

V. Das Oratorethos 1. Manifestationen des Oratorethos

Wenn man alle Elemente des »Oratorethos«, wie sie hier bereits dargelegt wurden, zusammenfasst, erschließt sich das »Oratorethos« in der konkreten Redesituation aus folgenden Manifestationen  : • aus dem, was der Redner durch sein Reden an Authentizität seiner Persönlichkeit und an Charakter zu vermitteln in der Lage ist (Selbstbezüglichkeit), was er redet  ; dies wird beeinflusst durch das, was die Rezipienten über ihn wissen oder glauben zu wissen, z. B. sein Lebenswandel oder seine Position in einer Machtstruktur, oder was sie aus seiner Rede rekonstruieren  ; • aus seiner physischen Erscheinung  ; • aus seiner psychischen Verfasstheit zum Zeitpunkt seiner Rede, die sich – in seiner Gestik und Mimik und – in der Art der Rede niederschlägt, also wie er redet  ; dabei sind die wesentlichen Elemente einerseits seine »Kraft, Fähigkeit« in bestimmter Weise zu sprechen (dýnamis/actio – »Redekunst und Schauspielkunst«)  ; dazu gehört Emotionalität und »Entschlossenheit« (prohairesis – »Selbstvertrauen« – confidence). Das heißt auch, dass Rhetorik von Anfang an mit einer gewissen Selbststilisierung, oder besser Selbstinszenierung verbunden ist, denn es ist der Rhetor als Person, der für das Ziel einsteht, für das er seine Zuhörer gewinnen und von dem er sie überzeugen will  : Rhetorik, in

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deren Zentrum immer der Redner steht, ist also aus der Sicht des Redners, der sein Certum gefunden hat oder auch nur den Auftrag wahrnimmt, das Certum eines anderen zu vermitteln, und es nun mit oratorischem Impetus vorträgt – Rhetorik ist immer selbstbezüglich. Ohne diese beiden Phänomene – Selbstbezüglichkeit und Selbstinszenierung – könnte man das Wesen der Rhetorik nicht vollständig verstehen.

2. Selbstbezüglichkeit 2.1 Die »Selbstbezüglichkeit« des Redners als Wesenszug des Oratorethos

Selbstbezüglichkeit ist eine semiotische Kategorie ganz im Sinne des Bühlerschen Kommunikationsmodells  : Der Redner, der die sprachlichen Zeichen verwendet, inszeniert zwischen diesen Zeichen Beziehungen und gibt so Wahrgenommenem ganz bestimmte Deutungen, so wie sie seiner Sache dienlich sind oder wie er es für richtig hält. Das ist unter der Selbstbezüglichkeit des Rhetors zu verstehen, dass er selber – in seiner jeweils aktuellen Selbstinszenierung – das Maß seiner Rede ist. »Der Orator ist die Botschaft«, formuliert Joachim Knape deshalb und sagt damit für die individuelle Ebene des Redners das gleiche, was Marshall McLuhan für die modernen Massenmedien gültig gefunden und in die berühmte Formel gefasst hat  : »The medium is the message.« – Das Medium selber ist die Botschaft. 2.2 Die »Selbstbezüglichkeit« als Wesenszug der Massenmedien

Auch die Grundlage für McLuhans Aussage über Massenmedien ist die Selbstbezüglichkeit in Form der Selbstinszenierung. Aber hier ist es nicht die Selbstinszenierung einzelner konkreter Persönlichkeiten wie

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bei den Rednern, sondern die Selbstbezüglichkeit und Selbstinszenierung ganzer Systeme. Der Zusammenhang ist leicht nachzuvollziehen, wenn man die für die Erklärung der Selbstbezüglichkeit des Redners verwendeten Kriterien auf Massenmedien anwendet  : Wie die Selbstbezüglichkeit des Redners die eigene konkrete Rednerpersönlichkeit als Maß nimmt und sich inszeniert, ist das Maß bei den Massenmedien das ganze System. Auch Massenmedien inszenieren, als ob ein einziger Wille dahinterstünde, in einer ganz bestimmten Weise Beziehungen zwischen Zeichen und konnotieren so immer in einer ganz bestimmten Weise Gegenstände und Sachverhalte – so als ob sie eben nicht vieldeutig wären, sondern eindeutig. Das heißt, auch wenn in einem Massenmedium fünf kluge und kritische Köpfe agieren, inszenieren sich ihre Produkte nach den von Günther Wallraff bei der Bild-Zeitung gemachten und im Buch Der Aufmacher veröffentlichten Erfahrungen immer auf die gleiche grundsätzliche Deutungslinie hin, immer auf die gleiche Art der Wahrnehmung der Welt, als ob es einen »großen Bruder« gäbe, der Regie führt. Diese Selbstbezüglichkeit ist gewissermaßen das »Oratorethos« der Massenmedien. Auf die Persönlichkeiten bezogen, die in Massenmedien arbeiten, heißt das, dass diese Menschen – zumindest während sie dort arbeiten – die systemische Selbstbezüglichkeit des Massenmediums annehmen und ihre persönliche, individuelle vollständig in den Hintergrund tritt, längerfristig oft sogar ersetzt. Dieser Vorgang führt in der Psyche dieser Personen, die ja über eine eigene Identität verfügen, oft zum Gefühl starker Widersprüchlichkeiten zwischen dieser systemischen und der individuellen Selbstbezüglichkeit, welche die Erhaltung der eigenen Identität erfordert. Die sich daraus aufbauenden Spannungen werden dann im persönlichen Umgang nach außen als der bekannte Zynismus der Massenmedienmitarbeiter sichtbar, der aber nichts anderes ist, als eine missglückter Versuch, die eigene Identität zu retten.

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Was ist das nun, worauf sich das »Selbst« in der Selbstbezüglichkeit bezieht  ? Beim Redner ist es »das Ganze« der eigenen Persönlichkeit mit ihren Wert- und Lebensauffassungen, vor allem ihrem Certum, ihrer Selbstsicht, ihren Erfahrungen im Umgang mit dem Auditorium in verschiedenen »rhetorischen Settings«. Das alles kann aber nicht für Massenmedien als Systeme gelten. Worauf beziehen sich dann Massenmedien  ? Der Großteil der Medientheoretiker geht davon aus, dass als Bezugsrahmen der Massenmedien ihre Produktionstechniken als quasi technische Wert- und Lebensauffassungen gesehen werden müssen. 2.3 Das Gemeinsame der Selbstbezüglichkeit des Redners und der Massenmedien: »Rollenmacht«

Es gibt freilich etwas, das die Selbstbezüglichkeit des Redners mit der Selbstbezüglichkeit der Massenmedien gemeinsam hat  : Auch die Selbstbezüglichkeit der Massenmedien kann nicht anders inszeniert und sichtbar gemacht werden als in konkreten Persönlichkeiten, sei es als Autoren, Regisseure oder handelnde Personen im Sinne der antiken actio. Denn jede Vermittlung einer Botschaft bedarf eines Vermittlers, und der kann nur ein Mensch sein. Der gemeinsame kommunikationstheoretische Nenner zwischen den rhetorischen Settings von Rednerpersönlichkeiten vor Publikum und dem »Reden in Massenmedien« ist die »Rollenmacht« der Vermittler. In beiden Fällen verfügen die Rhetoren über eine Autorität, die während ihres konkreten rhetorischen Handelns jede Oratorkonkurrenz ausschaltet.

3. Selbstinszenierung – »Impression Management«

Certum, also das Anliegen des Redners, und Selbstbezüglichkeit manifestieren sich nach außen in der Selbstinszenierung des Orators. Der

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Begriff Selbstinszenierung entspricht dem, was im ersten Teil dieses Buches als »Impression Management« oder »Self Presentation« beschrieben wurde, und umfasst eine Vielfalt psychologischer Ansätze, mit denen ein bestimmtes Verhalten von Menschen klassifiziert und erklärt wird. Zu verstehen, was Selbstinszenierung ausmacht, kann man historisch aus Kunstwerken lernen  : Die Inszenierung der Welt ist ihnen wesenhaft, und nicht umsonst verweist auch Friedrich Kittler darauf, dass es lange Zeit das akzeptierte Vorrecht der Künstler war, den Augen und Ohren der Betrachter und Zuhörer Weltdeutungen darzubieten, die – unabgestimmt – Sicht- und Hörweisen dieser Künstler bzw. ihrer Auftraggeber waren. Bezogen auf die Frage der Selbstinszenierung von Menschen bietet sich dementsprechend die Darstellung von Menschen in der Kunst als Analysecorpus an, vor allem die Porträtkunst. 3.1 Exkurs: Zur Geschichte der Selbstinszenierung in der Porträtkunst

Unter »Porträt« – »portrait« im Französischen, »ritratto« im Italienischen – versteht man die bildnerische Wiedergabe eines identifizierbaren Menschen in einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Skulptur. Obwohl bereits das mittelalterliche »Konterfei« eine Beziehung zwischen Bild und Modell herstellt, entstand die Idee, einen Menschen in einem Bild in seiner Identität zu erfassen, erst im 15. Jahrhundert. Dieses Phänomen zeigt eine Veränderung im Menschenbild und in der Sichtweise der Welt, die hier zu erläutern zu weit ginge. Jedenfalls ist die Porträtkunst Ausdruck der Emanzipation und Bewusstwerdung des Einzelnen, eingebettet in Umbrüche der politischen, sozialen und geistigen Verhältnisse. Dürers Selbstbildnis zum Beispiel dokumentiert das Selbstverständnis eines modernen Menschen, der sich in Haltung, Gestik und Mimik so präsentiert, wie er sich selbst sieht und gesehen werden will.

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Und genau diese Definition gilt auch heute für das, was der Begriff Selbstinszenierung bezeichnet  : Unter Seltbstinszenierung versteht man die Selbstpräsentation eines Menschen, der sich in Haltung, Gestik und Mimik so darstellt, wie er gesehen werden will. Die Inszenierung der Persönlichkeit im Porträt, die vom Modell beabsichtigt war und vom Künstler mit den Mitteln seiner Bildsprache umgesetzt wurde, entspricht den Forderungen, die noch heute an ein Porträt gestellt werden  : Abgebildet wird ein Mensch mit allen typischen Merkmalen seines Aussehens und seines Charakters zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, damit sein Bild den Zeitgenossen und der Nachwelt über seinen Tod hinaus erhalten bleibe. Zugleich aber sind die Porträts auch Produkte einer ins Mittelalter und bis ins Altertum zurückreichenden Tradition. Die Wurzeln der Porträtmalerei liegen in der Antike, deren Wiederentdeckung die italienischen Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts zur Nachahmung anregte. Die seit der griechischen Klassik geübte Praxis, verdienstvollen Männern öffentliche Ehrenstatuen zu errichten, brachte bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. ganzfigurige, idealisierte Porträtstatuen lebender oder verstorbener Personen hervor. Die Römer bevorzugten zwar die skulptierte Büste, deren auf Kopf und Schulteransatz beschränkte Form die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Physiognomie konzentrierte. Vorbilder waren vermutlich die Totenmasken aus Wachs, die im römischen Ahnenkult verwendet wurden. Bei ihnen bestand die Inszenierung unter anderem in der Haartracht, welche die Haltung des Dargestellten zum Ausdruck brachte  : So verwies der Bart während der Kaiserzeit darauf, dass es sich beim Dargestellten um einen Philosophen handelte. Aber auch in Rom gab es Porträtstatuen, und die waren ebenso inszeniert, wie die umfassende Untersuchung Augustus und die Macht der Bilder von Paul Zanker zeigt. Als Beispiel die Panzerstatue des Augustus aus der Villa der Livia bei Prima Porta, die um 20 n. Chr. von einem Anhänger des jungen Kaisers in Auftrag gegeben wurde  :

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»Zu einer Zeit, da Augustus […] noch […] Zurückhaltung übte, ließ der Auftraggeber der Statue ihn als strahlenden Sieger feiern und zögerte auch nicht, unverhüllt auf seine göttliche Abstammung hinzuweisen. In der Linken hielt Augustus die Lanze, in der Rechten vielleicht die wiedergewonnenen signa. Im Verzicht auf irdisches Schuhwerk darf man eine Reminiszenz an Götter- und Heroenbilder sehen, und der auf dem Delphin reitende Eros deutet zweifellos auf die Ahnfrau Venus hin. […] Nicht nur das Bildnis des Augustus, der ganze Statuenkörper ist in den klassischen Formen der griechischen Kunst des 5. Jhdt.’s v. Chr. gebildet, um die Gestalt des Siegers in eine höhere Sphäre zu heben.« (S. 192) Daraus sieht man, dass die Inszenierung nicht primär auf ästhetischen, sondern auf ethischen Wertvorstellungen beruhte. Den Römern lag sehr an den alten virtutes – »Tugenden«, besonders der pietas – »Frömmigkeit«, und vieles, was sie an Idealen vertraten, glaubten sie in besonderen Form in einer Art »rückwärtsgewandter Utopie« im Griechentum repräsentiert. Aber die Inszenierung geht noch viel weiter und macht das Weltbild der römischen Führungsschicht in der Art einer Staatsideologie sichtbar  : »Die Panzerreliefs […] zeigen die neue Auffassung des Sieges. Im Zentrum der Komposition übergibt der Partherkönig Legionsadler und Feldzeichen an eine in militärischer Haltung angetretene Person, in der man einen Repräsentanten der römischen Legionen, wenn nicht sogar [den Gott] Mars Ultor zu sehen hat. Der durchaus sachlich geschilderte historische Vorgang erscheint hier aber als Mittelpunkt eines Himmel und Erde umfassenden Bildes. Links und rechts sitzen zwei trauernde weibliche Gestalten. Sie verkörpern Völkerschaften, die von den Römern völlig unterworfen (mit leerer Schwertscheide) oder nur botmäßig gemacht (mit Schwert) worden sind. […] auf dem Panzerrelief wird der Parthersieg als Vollendung eines vollkommenen Weltzustandes gefeiert.« (S. 193)

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Neben solchen bildhauerischen Werken wie die Panzerstatue des Augustus von Prima Porta, welche die im Vorderen Orient und in Ägypten begründeten Traditionen fortsetzten, kannte die Antike auch das Profilporträt des Herrschers auf Siegeln und Münzen. Diese Form diente zum einen als direktes Vorbild für die seit der Renaissance geprägten Bildnismedaillen von Herrschern und berühmten Persönlichkeiten. Zum anderen legte sie – in Ermangelung gemalter antiker Porträts – das frühe Schema der Porträtdarstellung in der Malerei fest, das die Profilhaltung von Kopf und Büstenansatz übernahm. In dieser Gestalt überlebte das Bildnis in der mittelalterlichen Kunst auch im Stifterbild, das mit der Profilhaltung noch auf das herkömmliche Münzschema verweist. Im frühen und hohen Mittelalter widersprach die auf das Jenseits ausgerichtete christliche Religion der Wiedergabe des irdischen Menschen und verdrängte das eigentliche Porträt  ; Darstellungen eines Menschen sind in dieser Zeit Sinnbilder des Amtes des Abgebildeten. Und gerade diese Sicht scheint in der Selbstinszenierung subsistent  : Durch die Selbstinszenierung soll ja die gesellschaftliche bzw. gesellschaftlich herausgehobene Position deutlich werden. In der mittelalterlichen Grabkunst bestand die antike Idee der Todesmasken fort, das Bildnis des sterblichen Individuums über seine Lebenszeit hinaus zu bewahren. Liegefiguren von Gräbern aus romanischer und gotischer Zeit belegen die Bemühungen, der Nachwelt ein getreues Abbild des Verstorbenen zu überliefern. Das vergängliche Erscheinungsbild eines Menschen bewahrte daneben auch das Stifterporträt, das den Gläubigen in eine heilsgeschichtliche Darstellung einfügte – jedoch in kleinerem Maßstab an untergeordneter Stelle am unteren Bildrand oder sogar außerhalb des Bildgeschehens. Beide Konzepte – das mittelalterliche Grabbild wie das Stifterbild – lieferten neben den antiken Anregungen die gedanklichen und die konkreten künstlerischen Voraussetzungen für die Gestaltung von Porträts in der Neuzeit. Daher ist diese Entwicklung in ihrer frühes-

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ten Phase um 1400 geografisch auch nicht an Italien gebunden, wo die Antike zuerst wieder belebt wurde. Vielmehr wird sie zunächst im kulturell in höchster Blüte stehenden Umkreis des französischen und burgundischen Hofes greifbar, wenige Jahre später auch in den wirtschaftlich aufblühenden Städten der Niederlande. Hier entstanden in rascher Folge – zunächst wohl innerhalb dynastischer Bildergalerien – Porträts der Herrschenden, des Adels und des erstarkenden Bürgertums, die sich rasch vom starren Profilschema entfernten und neue Lösungen präsentierten, die dann ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in Italien aufgegriffen wurden. Jan van Eyck dokumentierte in einem nicht weniger bedeutenden Gemälde als das »Hochzeitbild des Giovanni Arnolfini«, wie sich das private Individuum im 15. Jahrhundert aus der Bindung in die festgefügte mittelalterliche Ikonografie befreite  : In gleicher Größe und in ganzer Gestalt, den Kopf aus dem blicklosen Profil gedreht, kniet der burgundische Kanzler Nicholas Rolin in dem von ihm gestifteten Madonnenbild der Gottesmutter gegenüber. Wie das »Hochzeitsbild« Ausdruck einer neuen Weltsicht, ist die »Madonna des Kanzlers Nicholas Rolin« ein Dokument neuen Selbstbewusstseins  : Der Mensch tritt direkt vor seinen Gott, erlaubt sich persönliche Zwiesprache und bringt sich mit seiner leiblichen, sterblichen Existenz in die Bild gewordene sakrale Szene ein. Bereits bei den frühen Niederländern findet sich auch das selbstständige Privatporträt, deren Funktion jedoch mysteriös ist. Denn die frühen Privatbildnisse waren zunächst nicht als Raumschmuck gedacht, sondern wurden in eigens angefertigten Behältern aufbewahrt, mit Deckeln verschlossen und nur gelegentlich zum Betrachten hervorgeholt. Ihr Format ist deshalb durchgängig klein. Die Inschrift, die den Namen des Dargestellten, bisweilen seinen Stand, sein Lebensalter, das Entstehungsdatum, gegebenenfalls auch die Signatur des Künstlers überliefert, befand sich bei den frühen niederländischen Bildern auf dem Rahmen, später dann – vor allem im deutschspra-

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chigen Raum – auf dem Bildgrund selbst. Diese Daten, die heute häufig verloren sind, garantierten dem Dargestellten seine Identifikation durch die zeitgenössischen und die späteren Betrachter, sodass der sterbliche Leib im Bild der Nachwelt übermittelt werden konnte. Totenschädel mit mahnenden Inschriften auf den Rückseiten der Bilder stellten dem Auftraggeber und dem Betrachter gleichermaßen die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Erst während des 15. Jahrhunderts, als die Kunst durch den Rückgriff auf antike Motive und durch die neuen Themen der Renaissance zunehmend säkularisiert wurde, eroberten auch die Porträts von Privatpersonen die Wände  ; sie wurden nun zur Repräsentation und Dekoration aufgehängt, aber auch dann noch oft durch Klappdeckel oder Vorhänge vor den täglichen Blicken verborgen. Sich gegenseitig anregend und vorantreibend, entwickelten die Künstler der Renaissance im Norden wie im Süden Europas das ganze Repertoire der Formen, das der Porträtmalerei noch heute zur Verfügung steht. Neben der gängigen Darstellung von Einzelpersonen, Paaren oder Gruppen in Kopf- und Brustbildern (im Profil, im Dreiviertelprofil oder »en face« in frontaler Vorderansicht), als Halb- und Ganzfigur, als Hüft- oder Kniestück, sitzend, stehend oder zu Pferde gab es bis zum 20. Jahrhundert nur noch wenig Raum für originelle Neuerungen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde der bis dahin neutrale Bildhintergrund der porträtierten Person durch die Ausgestaltung des umgebende Raumes ersetzt – wie man auch am so genannten »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« sieht  ; er dient dazu, die Position des Porträtierten durch die Accessoires im Raum zum Ausdruck zu bringen und die dargestellte Person zu charakterisieren, wie dies bei heutigen Hochzeitsbildern, wie beschrieben, noch eine große Rolle spielt. Im 19. Jahrhundert wurde durch die Erfindung der Fotografie die Porträtmalerei zumindest im bürgerlichen Milieu durch Fotos ersetzt. Erst im 20. Jahrhundert erfanden insbesondere die Expressionisten

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neue Ausdrucksformen für Porträts. Da die Künstler nicht mehr dem Modell und dessen Wiedererkennbarkeit verpflichtet waren, konnten sie neben symbolischen oder surrealen Darstellungen auch abstrakte Formen verwenden, um die Persönlichkeit eines Menschen zu erfassen. Bereits mit der Anhebung des sozialen Ansehens des Künstlers in der Renaissance setzte sich – und das ist ein weiterer Puzzle-Teil für das Verständnis der Selbstinszenierung – das aus sich selbst motivierte Selbstbildnis durch. Vor allem bei Albrecht Dürer bekommt das Selbstbildnis, den Lebenslauf begleitend, den Charakter verbindlicher Selbstaussage. Ab der Barockzeit ist für die gesellschaftliche Bezogenheit des Selbstbildnisses eine Fülle literarischer Anspielungen typisch, und es entstehen – etwa von Paul Rubens und Velázquez – Selbst- und Fremdinszenierungen, die an Theateraufführungen erinnern. Seit damals zeigt die Porträtkunst wie die Rhetorik den Doppelaspekt der actio, der schon für Ciceros Rhetorik zentral ist  : Von damals bis heute sind literarische Zitate eines der erfolgreichsten Mittel rhetorischer Selbstinszenierung, um sich Ansehen zu erwerben oder zu erhalten, was wiederum belegt, dass die Selbstaussage des Selbstporträts zur Selbstpositionierung dient. 3.2 Psychologie der Selbstinszenierung

Die Beobachtungen aus der historischen Entwicklung und Rolle von Porträts und Selbstporträts lassen sich mit psychologischen Modellen verknüpfen und erleichtern die Darstellung des Stellenwerts, den die Selbstinszenierung im rhetorischen Vermittlungsprozess einnimmt. Eines der Modelle ist die »Theorie des Selbst« in der Fassung des Gründers der klientenzentrierten Gesprächstherapie, des amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers. Rogers versteht das Selbst oder Selbstkonzept als konsistenten umfassenden Bestand organisierter

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Wahrnehmungen der Eigenschaften des »Ich« (Identität) zusammen mit den Beziehungen dieses »Ich« zu anderen Menschen und auch anderen Aspekten des Lebens. Es beinhaltet sowohl, wie Menschen sich selber wahrnehmen, als auch, wie sie idealerweise sein möchten. Und darauf bezieht sich nach Rogers auch der Ausdruck von der Konsistenz einer Persönlichkeit  : auf das reale wie ideale Selbst – insofern als dieser Mensch in der Lage ist, sich so zu verhalten, wie es dem Selbst entspricht, sodass die anderen dieses Selbst auch so wahrnehmen können. Aus dem Verhältnis zwischen realer Selbstwahrnehmung und SeinWollen ergibt sich nach Rogers der Selbstwert einer Persönlichkeit. Das Selbstkonzept ist also eine innere Regulationsinstanz für Gedanken, Gefühle und Handlungen. Man kann davon ausgehen, dass es aus einer Vielzahl von Facetten besteht – Schemata (Verhaltensmuster), Prototypen, persönliche Theorien, Konstrukte und Ziele –, die teilweise sogar zueinander in Widerspruch stehen. Das Selbstkonzept ist also das, was ich nach Hellmuth Benesch als »Wert- und Lebensauffassungen« bezeichne. Darüber hinaus hat das Selbstkonzept eine doppelte Natur  : Zum einen ist das Selbst ein kognitives Objekt, das heißt, eine Struktur, die erkannt wird  ; zum anderen ist es aber auch der Akteur (agent) der kognitiven Prozesse selber  : das ist das Erkennen und das Wissen. Diese doppelte Natur des Selbstkonzepts ist auch der Grund, warum wir einander und uns selber nie ganz begreifen können. Das Selbstkonzept wird im Zuge der Sozialisation entwickelt, und zwar aus drei Arten von Informationen  : 1. aus Beobachtungen, wie andere sich zur Person verhalten, 2. aus Beobachtungen der eigenen Handlungen und aus der Beachtung der kausalen Schlüsse aus diesen Selbstwahrnehmungen, 3. aus Vergleichen mit anderen im Hinblick auf Meinungen, Fähigkeiten und Emotionen.

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Der Psychologe Albert Bandura hat vor allem durch Gewichtung der Punkte eins und drei dazu die Theorie des »sozialen Lernens« entwickelt. Sie besagt, auf den Punkt gebracht, dass man nicht alle Erfahrungen selber machen muss, sondern auch lernen kann, indem man andere Menschen beobachtet und die Lehren daraus für das eigene Verhalten zieht (»Lernen durch Beobachtung«). Nach dem Psychologen George Kelly spielt bei der Entwicklung der Persönlichkeit und damit des Selbst die aktive kognitive Konstruktion der Welt eine große Rolle. Grundlage dafür war Kellys Überzeugung, dass niemand ausschließlich Opfer seiner Geschichte und seiner Umwelt ist. Zwar, so Kelly, sind die Ereignisse selbst, die Menschen betreffen, nicht zu ändern, aber sie sind zumindest offen für unterschiedliche Interpretationen. Nach Kelly agiert dabei jeder Mensch wie ein Wissenschafter  : Wissenschafter entwickelten mit jenen kognitiven Fähigkeiten, die auch wir alle mehr oder weniger haben – Wissenschafter entwickelten Theorien, um die Welt zu verstehen und vor allem, um Prognosen, Vorhersagen zu machen, was sich in Zukunft unter bestimmten Bedingungen ereignen werde. Das sind auch die Hauptkriterien, nach denen die Qualität einer Theorie, die Bewährung nach Karl Popper, geprüft wird, ob sie diese Erwartung erfüllen. Wenn nicht, müsse eine neue Theorie entwickelt werden. Und das gelte für jeden Menschen und die Ereignisse seines eigenen konkreten Lebens, vor allem für seine interpersonale, zwischenmenschliche Umwelt, die er verstehen und über die er Vorhersagen machen müsse, um nicht zu scheitern. Die persönlichen Theorien, die Menschen dazu entwickelten, einfach weil das Hirn so funktioniere, nennt Kelly »persönliche Konstrukte« und definiert die »Persönlichkeit eines Menschen als dessen gesamtes System persönlicher Konstrukte« – Theorien, wie persönliche Konstrukte funktionieren, wenn sie sich einmal bewährt haben, aber dann auch umgekehrt im Sinne der genannten Interpretation von Ereignissen  : Der Mensch sieht dann auch die Welt durch die Brille seiner Theorien.

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Das aus solchen Elementen und Prozessen entstandene Selbstkonzept steuere dann die kognitiven und die Verhaltensprozesse zur Konstruktion der sogenannten sozialen Realität, die der Aufrechterhaltung und Bestätigung des Selbstkonzeptes diene (Selbstbestätigung), das im Laufe des weiteren Lebens verwirklicht werden wolle. Denn das ist ja das Wesentliche, warum Menschen überhaupt so etwas wie ein Selbstkonzept brauchen  : um mit anderen Menschen in gelungene Beziehungen treten zu können. Und deshalb beinhaltet die Selbstbestätigung die Absicherung, dass einen die anderen so sehen, wie man sich selbst sieht oder besser  : gesehen werden will – entsprechend der Definition  : Unter Seltbstinszenierung versteht man die Selbstpräsentation eines Menschen, der sich in Rede, Haltung, Gestik und Mimik so darstellt, wie er gesehen werden will. Bleibt noch die Frage, warum jemand so und nicht anders gesehen werden will. Eine Antwort darauf bietet die Theorie der »sozialen Interaktion«, das ist die soziologische Ausprägung des »symbolischen Interaktionismus«, weil auch die »soziale Interaktion« symbolvermittelt ist. Da alles darauf hinweist, dass die Wahl der Verhaltensweisen ergebnisorientiert ist, kann die Antwort vor dem Hintergrund der »sozialen Interaktion« wohl nur im Kontext von Macht und Abhängigkeit gesehen werden, wobei Macht als die Fähigkeit definiert ist, die Qualität der »(Wahrnehmungs-)Ergebnisse« der anderen zu beeinflussen. Dazu gehören auch, auch wenn es nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, die »strategischen Selbstpräsentationen«, die im alltäglichen Umgang eine besondere Rolle spielen  ; »strategische Selbstpräsentationen« dienen weniger dazu, dass einen die anderen so sehen, wie man gesehen werden will, sondern sie synchronisieren quasi die Selbstkonzepte vieler Menschen miteinander und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Übereinstimmung gibt zwischen der eigenen und der Fremdauffassung des Selbst. Man könnte darin von einer Art Verhaltensabstimmung zwischen Menschen sprechen – einer Form der Ab-

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stimmung über die Deutung von Wahrnehmungen zwischen Menschen –, in der Psychologie heißt der Begriff »Verhaltensbestätigung« oder behavioral confirmation. Darunter versteht man den Prozess, bei dem die Überzeugungen über das Selbst das eigene Verhalten in der Gegenwart anderer kontrolliert. Viele psychologische Experimente haben übereinstimmend gezeigt, dass extravertierte Menschen auch bei anderen extravertiertes Verhalten auslösen und depressives Verhalten bei anderen depressive, feindselige Gefühle hervorruft. Bezogen auf die Rhetorik verknüpft sich mit der Hilfe der Reflexion psychologischer Theorien der Begriff »Selbstinszenierung« mit einer ganzen Reihe von Elementen der Rhetorik  : • mit dem Certum, das nach den dargebotenen Theorien in die Kategorie der »persönlichen Konstrukte« gehört  ; • mit der Selbstbezüglichkeit, welche beschreibt, wie die Symbole im Hinblick auf das Selbstbild inszeniert werden  ; man wird sogar sagen müssen, dass Selbstbezüglichkeit und Selbstinszenierung zwei Erscheinungsformen ein und derselben Sache sind  ; • mit dem oratorischen Impetus, nach Joachim Knape ein Kriterium des »rhetorischen Falls«, bzw. kommunikationstheoretisch ausgedrückt, das wichtigste Definitionselement von Rhetorik  : nämlich »kommunikative Handlungsmacht«, bei dem der Begriff »Macht« sogar wörtlich vorkommt  ; schließlich • über den psychologischen Terminus der »Verhaltensbestätigung« mit den Wirkungsfunktionen der (klassischen) Rhetorik, für die schon Aristoteles in seiner Rhetorik erläutert hat, dass Emotionen vor allem dadurch hervorgerufen werden können, dass der Rhetor diese Gefühle selber zeigt. Ganz radikal betrachtet könnte man sogar den Schluss aus diesem Nachdenken ziehen, dass Selbstinszenierung der Begriff für die gesamte Darstellung des »Oratorethos« den Rezipienten gegenüber ist.

Das Oratorethos  : 203

4. Und die Inhalte?

Nach dieser Darstellung des »Oratorethos« könnte man den Eindruck erhalten, dass Inhalte in der Rhetorik überhaupt keine Rolle mehr spielen, und tatsächlich besteht die Gefahr, dass die Betonung der wesentlichen Aspekte des Oratorethos – Persönlichkeit und Verhalten der Oratoren – auf dieses Element vergessen lässt. In der Handbuchrhetorik kommt »Inhalt« ohnehin nicht mehr vor. Aber das wäre ein großer Fehler, und dementsprechend weist der Rhetoriktheoretiker Paul I. Rosenthal nachdrücklich darauf hin, dass doch wohl auch noch die Inhalte des rhetorischen Handelns eine Rolle spielen, und sich die Glaubwürdigkeit eines Redners mit der Rationalität seines Textes verbinden muss, damit er überzeugen kann. Anders ausgedrückt  : Es werden weder dem Yuppie seine sauberen Fingernägel und sein Markenoutfit noch der Blondine ihre Figur, ihre Frisur, ihr Duft und ihr Dekolleté genügen, um jemand zu überzeugen, wenn sie jedesmal nicht nachvollziehbaren Unsinn reden, sobald sie den Mund aufmachen, oder wie es Rosenthal ausdrückt  : »Ethos is an end product of the combined logical and emotional responses.« – Ethos ist ein Produkt aus logischen und gefühlsmäßigen Faktoren. Das hat in ähnlicher Weise auch schon Aristoteles in seiner Rhetorik über das »Oratorethos« geschrieben  : »Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten  : Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine bestimmte Stimmung zu versetzen, oder schließlich in der Rede selbst, das heißt, durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.« (1356a) Gleichzeitig gilt aber trotzdem auch  : Das Ethos erweitert das Instrumentarium der Vermittlung weit über die Sprache hinaus. Denn durch das Ethos vermittelt ein Mensch seine Deutung von Phänomenen durch sein Verhalten. Das heißt  : Es kann auch jemand ein erfolgreicher Vermittler sein, der niemals ein Wort spricht.

VI. Die Rede Auch wenn gilt, dass jemand aufgrund seines Verhaltens ein erfolgreicher Vermittler sein kann, auch wenn er niemals ein Wort spricht, ist das dominante Instrument der Vermittlung die Rede. Ihre Gestalt und Konzeption ist geradezu Bedingung, um den Begriff Rhetorik verwenden zu dürfen, und Bedingung für ihren Erfolg.

1. Noch einmal: das rhetorische Fallbeispiel »Pfingstrede« des Simon Petrus. Die Dialektik der Plausibilität

Auch für die Qualität von Reden als dominantes Instrument der Vermittlung ist die Pfingstrede des Simon Petrus modellhaft. Sie berücksichtigt vollkommen den soziokulturellen Kontext, in dem sie gehalten wird, und zeigt eine perfekte Argumentation für die Idee und ihre Heilswirksamkeit, eine Dialektik der Plausibilität  : Nach der Anrede »Ihr Juden und all ihr Bewohner von Jerusalem«, welche die Zielgruppe »Menschen mosaischen Bekenntnisses« klar definiert, und den Aufmerksamkeitsformeln »Das sei euch kundgetan  ! Vernehmt meine Worte  !«, die im Sprachgebrauch der damaligen Zeit ankündigen, dass der Redner etwas sehr Wichtiges, Offizielles, mitzuteilen hat, reagiert Petrus als erstes auf die Fragen und Vermutungen der Zuhörer über die Ungewöhnlichkeit des Verhaltens der Apostel. Er knüpft gewissermaßen an der Reaktion auf das Ereignis an, durch das die Aufmerksamkeit der Zuhörer erregt wurde  : »Diese da sind nicht trunken, wie ihr meint  ; es ist ja erst die dritte Stunde des Tages.«

Die Rede  : 205

Damals wäre es ein schwerer Verstoß gegen den Anstand gewesen, so früh schon Wein zu trinken. Petrus erklärt das Ereignis, indem er auf das heilige Buch, die Bibel verweist, das hochgeachtet und anerkannt war als Gesetzbuch der Zuhörer, und daraus zitiert er eine Weissagung des Propheten Joel, die den meisten Zuhörern wahrscheinlich bekannt war aus den wöchentlichen Auslegungen der Schrift durch die Rabbis in der Synagoge. Petrus ruft den Zuhörern zu  : »Hier geht das durch den Propheten Joel Angekündigte in Erfüllung.« Und Petrus zitiert aus den Büchern der Propheten Joel und Jesaja so, wie heute jemand aus einer anerkannten wissenschaftlichen Studie zitieren würde  : »In den letzten Tagen wird es geschehen, spricht Gott  : Da will ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter werden weissagen, und eure Jünglinge werden Gesichte schauen, und eure Greise werden Träume haben. Selbst über meine Knechte und Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie werden weissagen […].« Petrus tut dies mit dem Ziel, den einzigen möglichen Schluss daraus zu ziehen  : Diese angekündigten letzten Tage sind gekommen, wobei er gar nicht selber diesen Schluss zieht, sondern nur weiter zitiert, was die meisten kennen  : »Die Sonne wird sich in Finsternis wandeln und der Mond in Blut, ehe der große und strahlende Tag des Herrn kommt. Und es wird geschehen […]«, schließt Petrus als Überleitung zur Darstellung der neuen Idee sein großes Zitat, »Es wird geschehen  : Jeder der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.« Rettung spielt bei den Juden eine große Rolle, Rettung aus Ägypten, aus der Wüste, in dieser Zeit die Rettung aus der Fremdherr-

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schaft der Römer. Rettung durch einen König, einen Gesalbten, hebr. mašiach. Die Bezeichnung kommt daher, dass die zentrale liturgische Handlung der Königskrönung die Salbung mit Öl war. Aber für die Juden war dies auch ein Reizwort, und deshalb verwendet Simon Petrus den Begriff nicht, sondern bezieht sich auf den »Herrn«, dessen Name anzurufen ist, will man gerettet werden. Dementsprechend wird im nächsten Teil der Rede die Person des »Nazareners« eingeführt, wieder eingeleitet mit einer Ankündigungsformel, die auf eine wichtige Mitteilung verweist  : Dieser »Nazarener«, auf dessen Verdienste, sprich Wunder, Petrus verweist, ist »nach Gottes festgesetztem Ratschluss und Vorherwissen« gekreuzigt worden und auferstanden. »Nach Gottes festgesetztem Ratschluss und Vorherwissen« betont die historische Notwendigkeit des Ereignisses, auch wenn dadurch nichts an Schuld von denen genommen ist, »den Gesetzlosen«, welche die Handlanger des göttlichen Willens waren. Und das ist nun die neue Idee  : Der Nazarener Jesus ist auferstanden. Die Technik der Begründung bleibt die gleiche  : Simon Petrus beruft sich weiter auf prophetische Bibelworte, die diese Auferstehung des »Nazareners« vorangekündigt haben sollen, in dem Fall auf Worte des großen israelischen König David, dessen Weissagungen nach der Auffassung der Juden in den Psalmen überliefert sein sollen, die aber im Judentum nicht in der Weise als prophetisch gelten wie Prophetenworte. Aber diesen Mangel behebt Simon Petrus, indem er die Psalmen einfach als Prophetenwort verwendet und es damit in deren Rang erhebt  : »[…] denn du wirst meine Seele nicht im Totenreich lassen und deinem Heiligen nicht zu sehen geben die Verwesung.« Aus dem Kontext der Zeit heraus wäre diese Aussage eigentlich nicht möglich gewesen. Da gibt es nur die direkte Aufnahme einer Person in den Himmel wie Elias oder die Neuschaffung der Welt am Tag des Gerichts. Aber  : Die neue Idee wird auch in einer neuen Deutung der überlieferten Texte sichtbar.

Die Rede  : 207

Diese neue Deutung im Sinne der neuen Idee wird abgesichert durch Berufung auf die höchste historische Autorität der Juden, auf König David, von dem gesagt wird, »dass Gott ihm mit einem Eid zugesichert hatte, einen aus der Frucht seiner Lende auf seinen Thron zu setzen.« Das heißt ursprünglich freilich nichts anderes, als dass König David ein Thronfolger geboren werden wird, was historisch ja mehrfach stattfand. Aber Petrus hebt diese Aussage auf eine Metaebene weit über die Geschichte hinaus und verwendet die Ankündigung der Geburt eines Thronfolgers auf den Nazarener Jesus und verbindet gleich auch noch völlig unlogisch, aber genial, diese königliche Rechtsnachfolge mit einer Weissagung seiner Auferstehung. Simon Petrus verknüpft hier also historische Aussagen aus den verschiedensten Kontexten, die eigentlich nicht wirklich miteinander zu tun haben, in einer dialektischen Meisterleistung miteinander, und zwar so, dass das, was eigentlich erst zu beweisen wäre, zum Beweis wird – dieses Phänomen nenne ich Dialektik der Plausibilität – und Simon Petrus macht dies so perfekt, dass er schließlich plausibel als große Conclusio zusammenfassen kann  : »Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel  : Gott hat ihn zum Herrn und Messias, zum König gemacht, eben diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.«

2. Die Struktur der »Pfingstrede« des Simon Petrus

Aus dieser Rede des Simon Petrus kann man als vollkommene rhetorische Struktur der Persuasion acht Elemente herauskristallisieren, die – wenn auch nicht immer vollständig – für alle Reden, die überzeugen wollen, wesentlich sind  : Als erstes  : die Definition der Zielgruppe, an die sich die Rede richtet. Als zweites  : Hinweise darauf, dass die Rede von Bedeutung ist, was durch

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drittens  : den Bezug auf die Ereignisse zur Erregung der Aufmerksamkeit der Zuhörer unterstrichen wird und diese erklärt werden. Man könnte also durchaus statt »Hanseneffekt« auch »Petruseffekt« sagen. Im vierten Schritt wird über die Doxa eine Art Grundkonsens zwischen Redner und Zuhörerschaft über Bekanntes und Anerkanntes hergestellt, aus dem fünftens die Heilswirksamkeit der (neuen zu propagierenden) Idee hergeleitet wird, was sechstens durch eine neue Verknüpfung von Auffassungen, über die ein Grundkonsens besteht, begründet wird, das heißt, Bekanntes und Anerkanntes wird im Sinne der (zu propagierenden) Idee neu gedeutet, wobei nicht eine logisch korrekte Begründung angestrebt wird, sondern Plausibilität (Dialektik der Plausibilität). Diese neue die neue Idee begründende Deutung wird siebentens durch Berufung auf Autoritäten oder durch Rückverweisung auf die Geschichte selber wiederum abgesichert. Diese Rückverweisung auf die Geschichte (als eine Art Autorität) ist eines der wichtigsten Merkmale von Reden, die überzeugen wollen überhaupt. Schließlich wird achtens als Höhepunkt in einer großen Conclusio die neue Idee mit allen Implikationen notwendiger Handlungen zusammengefasst.

3. Überprüfung der Relevanz der Struktur-Elemente der »Pfingstrede« an John F. Kennedys Rede 1963 in Berlin (Fallbeispiel 3)

Die Annahme, dass man aus dem Modell der Rede des Simon Petrus eine persuasistische rhetorische Struktur herauskristallisieren kann, bedarf der Überprüfung. Diese Überprüfung soll nun durch die Analyse einer anderen Rede geschehen, die aus der jüngeren Zeitgeschichte stammt  : Die berühmte Rede von John F. Kennedy am 26. Juni 1963 am Platz vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin. Das Ziel ist auch,

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festzustellen, ob diese Struktur, die man in der Pfingstrede des Petrus findet, grundsätzlich für die rhetorische Struktur aller Reden, die überzeugen wollen, Gültigkeit hat – gegebenenfalls für Rhetorik überhaupt. Kennedy hatte seine Deutschland-Reise als Reaktion auf die triumphale Reise von Charles de Gaulle durchgeführt, der ein Jahr vorher, 1962, das besetzte Land besucht hatte. In Frankreich herrschte damals eine antiamerikanische Haltung, welche die Gefahr in sich barg, dass die USA aus Europa verdrängt werden könnte. Deshalb wollte der Präsident die Verlässlichkeit des amerikanischen Bündnispartners dokumentieren und zeigen, dass die US-Truppen da waren, um die Deutschen, vor allem die Berliner, zu beschützen. Die Idee mit Heilswert, das rhetorische Certum, das demnach hinter Kennedys Rede stehen müsste – so die inhaltlich zu überprüfende These – müsste die notwendige Anwesenheit der amerikanischen Truppen in Berlin sein. »Meine Berliner und Berlinerinnen  ! Ich bin stolz, heute in Ihre Stadt zu kommen als Gast Ihres regierenden Bürgermeisters, der in allen Teilen der Welt als Symbol für den Kampf und den Widerstandsgeist West-Berlins gilt.« Das erste Element der rhetorischen Struktur der Persuasion »Definition der Zielgruppe« ist offensichtlich durch die Anrede Kennedys an »Meine Berliner und Berlinerinnen« erfüllt. Kennedy hebt dabei, ohne dessen Namen zu nennen, einen Berliner pars pro toto besonders heraus, der damals eine Integrations- und Identifikationsfigur für die Berliner war, den damaligen Bürgermeister der Stadt, Willy Brandt, »der in allen Teilen der Welt als Symbol für den Kampf und den Widerstandsgeist Westberlins gilt«. Aber gleichzeitig erweitert Kennedy die Zielgruppe auf alle Bürger Deutschlands, von denen die Berliner ja ein Teil sind – mehr noch  : auf die Bürger der ganzen freien »demokratischen« Welt, wenn er fortfährt  :

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»Ich bin stolz, auf dieser Reise die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Ihrem hervorragenden Herrn Bundeskanzler besucht zu haben, der während so langer Jahre die Politik bestimmt hat nach den Richtlinien der Demokratie, der Freiheit und des Fortschritts.« Das zweite Element, die Betonung, dass die Rede bzw. das Ereignis, das dahintersteht, von Bedeutung sei, braucht Kennedy nicht anzusprechen. Sein Besuch ist – auch in seinem Selbstverständnis – auf jeden Fall von historischer Bedeutung, denn er ist der erste Präsident, der nach dem Krieg Deutschland besucht. Deshalb bedurfte es auch keiner Maßnahmen zur Erregung der Aufmerksamkeit der Zuhörer und auch keinen Bezug darauf, was das dritte Element wäre. Kennedys Anwesenheit war genug Grund für Aufmerksamkeit. »Ich bin stolz darauf, heute in Ihre Stadt in Gesellschaft eines amerikanischen Mitbürgers gekommen zu sein. General Clay, der hier tätig war in der Zeit der schwersten Krise, durch die diese Stadt gegangen ist, und der wieder nach Berlin kommen wird, wenn es notwendig werden sollte.« General Clay hatte die Versorgungsbrücke während der großen Blockade durch die Sowjets geleitet und so das Überleben der Menschen durch viele Monate gesichert. Durch diese Erinnerung und das Versprechen, dass es, wenn nötig, wieder eine solche Aktion geben werde, beansprucht der Besuch Kennedys, Teil eines Heilsgeschehens für Berlin und ganz Deutschland zu sein, das in der Anwesenheit der amerikanischen Truppen liege, die ihre Heilsbedeutung bereits – nämlich während der Zeit der Blockade – unter Beweis gestellt habe. Diese Anwesenheit ist es ja, die Kennedy sicherstellen will, zum Nutzen der Berliner wie zum eigenen strategischen Nutzen. Aber  : Das eigentliche Verdienst für das Durchhalten komme den Berlinern selber zu, lobt Kennedy durchaus nach den Vorgaben der klassischen Rhetorik seine Zielgruppe und öffnet damit einen Gedankenbogen, der das aus der Pfingstrede analysierte siebente Ele-

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ment der rhetorischen Struktur der Persuasion andeutet, die Rückverweisung auf die Geschichte, die in der Conclusio ihre letzte Deutung erfahren wird  : »Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der  : Ich bin ein Bürger Roms  ! Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann  : Ich bin ein Berliner  !« Diesen Satz »Ich bin ein Berliner« sagte Kennedy wirkungsbewusst in deutscher Sprache, und er wurde vom Dolmetscher in seiner Übersetzung ins Deutsche entsprechend wiederholt, was hätte er sonst tun sollen. Das gibt Kennedy natürlich eine gute Gelegenheit zu einem »Joke«, und daher fügt er an diese Passage an  : »Ich danke dem Dolmetscher für die Übersetzung meines Deutsch.« Dann knüpft Kennedy wieder bei der Erinnerung an die Blockade an  : Die Anspielung darauf, dass sich die Anwesenheit der Amerikaner schon einmal bewährt habe, korrespondiert mit dem vierten Kriterium, der Herstellung eines Grundkonsenses zwischen Redner und Zuhörerschaft in der Angelegenheit, um die es in der Rede geht, mithilfe von Erfahrungen, bereits Bekanntem und Anerkanntem. Im Fall der Kennedy-Rede muss dieser Konsens, dass es einen gemeinsamen Feind gebe, gegen den man sich verteidigen müsse, nämlich den Kommunismus, nicht einmal mehr hergestellt werden, sondern Kennedy kann sich schon auf eine gemeinsame Erfahrung berufen, die nicht einmal mehr konkret angesprochen werden muss  : »Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht verstehen oder die nicht zu verstehen vorgeben, worum es bei der heutigen Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen. Es gibt Leute, die sagen, dem Kommunismus gehöre die Zukunft. Sie sollen nach Berlin kommen  ! Und es gibt wieder andere in Europa und in anderen Teilen der Welt, die behaupten, man könne mit dem Kommunismus zusammenarbeiten. Auch sie sollen nach Berlin kommen. Und es gibt auch einige wenige, die sagen, es treffe zwar zu, dass der

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Kommunismus ein böses und schlechtes System sei  : aber er gestatte es ihnen, wirtschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Lasst auch sie nach Berlin kommen  ! Lasst sie nach Berlin kommen  !« Auch hier sagt Kennedy einmal den Satz »Lasst sie nach Berlin kommen« auf Deutsch. In allen diesen Passagen wird der Konsens nicht verbal ausgedrückt, es genügt die gemeinsame Erfahrung, auf die aufbauend Kennedy eine Art gemeinsamen semantischen Raum konstituiert, in dem das Bekannte nicht mehr angesprochen werden muss. Die gleiche rhetorische Methode, gemeinsame Erfahrung, gemeinsames Wissen und gemeinsames Wollen und Handeln vorauszusetzen, verwendet Kennedy auch, um die Heilswirksamkeit der zu vermittelnden Idee zu transportieren – das fünfte Element –, nämlich dass die Berliner ihren Kampf gegen den Kommunismus und für die Freiheit nur im Bund mit den USA gewinnen können, jener USA, in deren politischem System diese Freiheit an oberster Stelle stehe  : »Ein Leben in Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht vollkommen. Aber wir hatten es nie nötig, eine Mauer aufzubauen, um unsere Leute bei uns zu halten und sie daran zu hindern, woanders hinzugehen.« In diesem Anliegen, für die Freiheit zu kämpfen, seien Amerikaner und Berliner tief verbunden, ist die nächste Botschaft Kennedys  : »Ich möchte im Namen der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, die viele tausend Kilometer von Ihnen entfernt auf der anderen Seite des Atlantik lebt, sagen, dass meine amerikanischen Mitbürger sehr stolz darauf sind, mit Ihnen zusammen selbst aus dieser Entfernung die Geschichte der letzten achtzehn Jahre teilen zu können. Denn ich kenne keine Stadt, die jemals achtzehn Jahre lang belagert wurde und dennoch lebt mit ungebrochener Vitalität, mit unerschütterlicher Hoffnung, mit gleicher Stärke und mit gleicher Entschlossenheit wie heute West-Berlin.« Dann nimmt Kennedy wieder auf die Mauer Bezug, die er als Beweis für die Unmenschlichkeit des Kommunismus ausformuliert  :

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»Die Mauer ist die abscheulichste und die stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems. Die ganze Welt sieht dieses Eingeständnis des Versagens. Wir sind darüber keineswegs glücklich, denn, wie Ihr regierender Bürgermeister gesagt hat, die Mauer schlägt nicht nur der Geschichte ins Gesicht, sie schlägt der Menschlichkeit ins Gesicht. Durch die Mauer werden Familien getrennt, der Gatte von der Gattin, der Bruder von der Schwester, Menschen werden mit Gewalt auseinandergehalten, die zusammen leben wollen.« In der Berliner Rede Kennedys gibt es genaugenommen keine neue Verknüpfung von Auffassungen, über die ein Grundkonsens besteht  ; es wird nichts Bekanntes und Anerkanntes im Sinne der zu vermittelnden Idee neu gedeutet, was das sechste Element der rhetorischen Struktur der Persuasion wäre, es werden vielmehr alte Positionen in Erinnerung gerufen und erneuert  : Die Berliner kämpfen um den Erhalt der Freiheit gegen den Kommunismus und dieser Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn er im Bunde mit den USA geführt wird. Auch hierzu gibt es keine logisch korrekte Begründung – der Kampf könnte genauso im Bunde mit den Franzosen oder den Briten geführt werden – aber, und das ist der Begründungszusammenhang Kennedys, die USA haben bereits ihr Eintreten für die Freiheit der Berliner bewiesen. Es sollte gewissermaßen die gute Erfahrung, die die Berliner mit den Amerikanern haben, der Grund sein, dieses Bündnis zu erneuern. Und das ist wirklich plausibel im Sinne einer Dialektik der Plausibilität. Die Verknüpfung der Idee mit der Autorität der Geschichte – das siebente und von mir als wichtigstes bezeichnete Kriterium für eine Propagandarede – ist in Kennedys Rede ein besonders eindrucksvolles Beispiel, wie dies nur beiläufig und trotzdem äußerst nachdrücklich geschehen kann. Ich habe bereits darauf hingewiesen. Die Verknüpfung findet in einem einzigen Satz statt, der dann über der Rede gleichsam schweben bleibt  : »Vor zweitausend Jahren«, sagt Kennedy, »war der

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stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der  : Ich bin ein Bürger Roms  ! Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann  : Ich bin ein Berliner  !« Mit diesem historischen Bezug wird der ungeheure Anspruch der von Kaiser Augustus ausgerufenen pax Romana – des im römischen Weltreich garantierten Friedens – auf die von den USA geführte freie westliche Welt übertragen, und dabei der Stadt West-Berlin die gleiche Rolle eingeräumt, wie sie einstens Rom für die pax Romana hatte. Durch diese Rückverweisung auf die Geschichte und ihre Autorität wertet Kennedy die Rolle Berlins in so ungeheurer Weise auf, dass daraus eine Verpflichtung entsteht  : Berlin erhält durch den Präsidenten der USA den Status einer »geistigen Hauptstadt« der von den USA geführten freien Welt, einen Status, der dadurch auch nur durch die USA gewährleistet werden kann, was die Notwendigkeit der Anwesenheit von US-Truppen endgültig begründet, wie ja die Erfahrung zeigt. Auch das Ansprechen der Erfahrung der Berliner seit der Teilung der Stadt ist Geschichtsbezug – ja mehr noch  : Kennedy deutet diese jüngste Geschichte Berlins sogar als eine Wiedergutmachung um, als Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit gewissermaßen, auch wenn er solche Begriffe nicht verwendet. »Was für Berlin gilt, gilt für Deutschland  : Ein echter Friede in Europa kann nicht gewährleistet werden, solange jedem vierten Deutschen das Grundrecht einer freien Wahl vorenthalten wird. In siebzehn Jahren des Friedens und der europäischen Verlässlichkeit hat diese Generation der Deutschen sich das Recht verdient […]«, – ein Recht, das sie offenbar vorher verwirkt hatten – »[…] frei zu sein, einschließlich des Rechts, die Familien und die Nation in dauerhaftem Frieden wieder vereint zu sehen im guten Willen gegen jedermann. Sie leben auf einer verteidigten Insel der Freiheit. Aber ihr Leben ist mit dem des Festlandes verbunden, und deswegen fordere ich Sie zum Schluss auf, den Blick über die Gefahren des Heute hinweg auf die Hoffnung des Morgen zu richten, über die Freiheit dieser Stadt

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Berlin, über die Freiheit dieses Landes hinweg auf den Vormarsch der Freiheit überall in dieser Welt, über die Mauer hinweg, auf den Tag des Friedens in Gerechtigkeit. Die Freiheit ist unteilbar, und wenn auch nur einer versklavt ist, dann sind nicht alle frei.« So wird auch von Kennedy in seiner Rede die Idee in die Zukunft orientiert und mit allen Implikationen notwendiger Handlungen in einer großen Conclusio zusammengefasst, und damit das achte Element der rhetorischen Struktur der Persuasion erfüllt  : »Aber wenn der Tag gekommen sein wird, an dem alle die Freiheit haben und ihre Stadt und ihr Land wieder vereint sind, wenn Europa geeint ist und Bestandteil eines friedvollen und zu höchsten Hoffnungen berechtigten Erdteils, dann können Sie […]« – mit diesem »Sie« redet Kennedy die Berliner an – »[…] dann können Sie mit Zufriedenheit von sich sagen, dass die Berliner und diese Stadt Berlin zwanzig Jahre lang die Front gehalten haben.« Und dann der große Abschluss mit dem persönlichen Bekenntnis Kennedys  : »Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt West-Berlin […]«, sagt er – gewissermaßen so, wie im römischen Reich jedermann unter bestimmten Kriterien »römischer Bürger« wurde – »[…] und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können  : Ich bin ein Berliner  !« Tatsächlich sind sechs der acht Elemente der rhetorischen Struktur der Persuasion, die aus der Rede des Simon Petrus am Pfingstfest abgeleitet wurden, in der Rede von John F. Kennedy am 26. Juni 1963 so deutlich zu erkennen, dass man ihr Persuasionsziel klar bestimmen kann. Andererseits sind aber auch zentrale Unterschiede dieser KennedyRede zur Modellrede des Simon Petrus festzustellen, für die zumindest zu klären ist, ob es sich ausschließlich um eine formale Differenz handelt oder ob sie eine Anpassung des Kriterienkatalogs notwendig machen.

216 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt 4. Der zentrale Unterschied zwischen der Petrus- und der KennedyRede

Der zentrale und auffallende Unterschied zwischen den beiden Reden besteht darin, dass bei Simon Petrus alle Elemente breit ausgeführt sind, während sich Kennedy auf wenige Anspielungen beschränkt und von der Präsenz der gemeinsamen Erfahrungen in der Erinnerung ausgeht. Petrus setzt offenbar so gut wie nichts voraus. Er zitiert ausführlich die Autoritäten, die auf das aktuelle Heilsgeschehen weisen und die Heilserwartung der Menschen begründen, und selbst dort, wo er die gemeinsame Erfahrung des Wirkens Jesu zur Herstellung eines Konsenses anspricht, benennt er diese Erfahrung, zum Beispiel  : »Jesus, der Nazarener, einen Mann, von Gott bei euch beglaubigt durch mächtige Taten, Wunder und Zeichen […].« Der zweite wesentliche Unterschied liegt in dem, was als »Autoritäten« bezeichnet wird  : Bei Petrus begründen prophetische Aussagen die Plausibilität des Heilswertes der Idee, während Kennedy sich ausschließlich auf Erfahrungen bezieht, die er mit der Zielgruppe teilt. Das verweist wiederum auf einen großen Unterschied in der Einbeziehung der historischen Dimension in den beiden Reden  : Während Petrus die gesamte Heilsgeschichte, mehr oder weniger seit Adam und Eva, als Bezugsrahmen hat, die Heilsgeschichte, die mit dem Wirken Jesus und vor allem seiner Auferstehung gewissermaßen ihren Abschluss erreicht und damit die Zukunft eingeholt hat, könnte Kennedy sogar die historische Dimension der Verknüpfung mit der pax Romana weglassen, ohne wirklich etwas am Inhalt seiner Rede zu verlieren – nicht einmal der Gag »Ich bin ein Berliner« würde dadurch unmöglich. Außerdem verweist die Kennedy-Rede im Gegensatz zur Petrus-Rede vollständig in die Zukunft, wo dies alles erst durch den »Kampf um die Freiheit« erreicht werden soll, was Kennedy als Idee anspricht.

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Und dann liegt einer der größten Unterschiede darin, dass die Idee, die von Simon Petrus propagiert wird, substanziell vollkommen neu ist, während Kennedys Propaganda der Beibehaltung einer Idee gilt. Petrus neue Idee braucht eine neue Begründung durch eine neue Verknüpfung von Auffassungen, über die ein Grundkonsens besteht, das heißt, er muss eine neue plausible Deutung von Bekanntem und Anerkanntem im Sinne der neuen zu vermittelnden Idee vornehmen und diese neue die neue Idee begründende Deutung durch Rückverweisung auf die Geschichte selber wiederum absichern. Kennedy vertritt dem gegenüber eine bereits bekannte Idee, deren Begründung er neu, mit neuen Erfahrungen absichert. In den Begriffskategorien der Mission geht es im Falle des Petrus, dessen Idee noch gar keine Anhänger hat, um Bekehrung, während bei Kennedy, der sich bereits auf ein Fragment von Parteigängern stützen kann, um die Erneuerung einer Idee, eines Anspruches im Mittelpunkt steht. Dies erklärt, warum das Element Nummer sechs der rhetorischen Struktur der Persuasion, worauf ich schon bei der Analyse der Kennedy-Rede aufmerksam machte, im Falle einer Erneuerung verzichtbar sein kann. Als Analyse-Mehrwert dieses Vergleiches ist also festzustellen, dass es einen zentralen Unterschied in der Persuasionsstruktur von Reden gibt, je nachdem, ob ihr Gegenstand eine neue oder eine bestehende Idee ist  : Im Falle der Erneuerung einer Idee, fällt die Bedingung sechs, die Notwendigkeit einer neuen Verknüpfung von Auffassungen, über die ein Grundkonsens besteht, mit dem Ziel einer Neudeutung im Sinne der zu vermittelnden Idee weg – was nicht heißt, dass eine solche nicht bisweilen möglich und angeraten sein kann, wenn für eine bestehende Idee, die persuasistisch erneuert werden soll, eine neue Begründung ratsam erscheint. Für das Anliegen der Kennedy-Rede ist das nicht der Fall. Ähnliches gilt für das Element Nummer sieben der rhetorischen Struktur der Persuasion, die Verankerung der neuen Idee in der

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Geschichte. Während bei Petrus aus der neuen Idee heraus die gesamte Geschichte rückblickend neu gedeutet wird, muss Kennedy nur nachweisen, dass sich die Idee in der Geschichte bewährt hat, dass es also nützlich ist, an ihr festzuhalten. Die Verknüpfung mit der römischen Geschichte in der Berliner Rede Kennedys dient nur zur Apotheose, zur Erhöhung des Überzeugers wie des zu Überzeugenden. Das erklärt auch den Unterschied im Umgang mit dem Bezug zur Geschichte, der sich aber auch im Vergleich als für eine Propagandarede als konstitutiv erweist. Ohne den Bezug zur Geschichte geht es nicht, er unterscheidet sich in den beiden Rede-Beispielen nur in der Tiefe  : Durch die neue Idee, wie sie in der Petrus-Rede vorliegt, wird gewissermaßen eine neue Geschichtsphilosophie kreiert. Die bestehende Idee, auf die Kennedy rekurriert, bezieht sich hingegen auf weitgehend gemeinsam erlebte oder erinnerte Geschichte, auf Zeitgeschichte nach dem Motto  : Ihr habt selbst erlebt, dass diese von mir vertretene Idee einen Heilswert besitzt. Konkret auf die Kennedy-Rede bezogen  : »Gäbe es nicht das Bündnis zwischen den USA und Deutschland für die Freiheit, hätte Euch (Berliner) längst der Kommunismus in die Knie gezwungen, jener Kommunismus, dessen Unterdrückung der Freiheit Ihr täglich an der Mauer erlebt.« Im konkreten Fall des Vergleichs zwischen der Petrus- und der Kennedy-Rede kommt noch die unterschiedliche Art der Überlieferung der beiden Reden dazu  : Die Rede John F. Kennedys ist authentisch überliefert. Es gibt Fernseh- und Radioaufzeichnungen und Mitschriften, und vermutlich ist auch noch die Urschrift vorhanden. Ebenso ist der historisch-politische Kontext noch so weitgehend in Erinnerung, dass es noch Lebende gibt, die alle Anspielungen verstehen. Das ist ganz anders bei der Petrusrede, die nur in der Apostelgeschichte überliefert ist. Diese Apostelgeschichte versteht sich aber nicht als historisches Protokoll, sondern als Glaubenszeugnis, und al-

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les, was darin steht, ist ausschließlich in dieser Intention geschrieben. Eine erste schriftliche Fassung dürfte nicht vor der zweiten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts entstanden sein, also eineinhalb Jahrhunderte, nachdem sie Petrus möglicherweise gehalten hat  ; der Märtyrer und Schriftsteller Justinus, der um 150 n. Chr. schrieb, nennt die Texte, die wir heute als »Evangelien« bezeichnen, noch »apostolische Denkwürdigkeiten«  ; den Begriff »Evangelien« kennt er noch überhaupt nicht. Die älteste erhaltene Handschrift, in der die Apostelgeschichte fast vollständig enthalten ist, ist der Papyrus Chester Beatty I, der 1930 100 km südlich von Kairo gefunden wurde. Er stammt aus der Zeit um 200 n. Chr. Der so genannte kanonische Text des Neuen Testaments wurde überhaupt erst auf den von Augustinus einberufenen Synoden von Hippo 393 und von Karthago 397 festgelegt, und bis dorthin konnte der Text noch verändert werden. Jedenfalls zeigt die Literaturkritik, dass alle Erfahrungen und Festlegungen der jungen Kirche bis dahin noch den Text beeinflussten. Auch hier gilt der Grundsatz, dass die Sieger die Geschichte schreiben – in diesem Fall die Sieger im Richtungsstreit, wie Glaube und Kirche endgültig verfasst sein sollten. Jedenfalls hat man davon auszugehen, dass ein sehr großer Zeitabstand zwischen der Rede des Petrus (wenn er sie überhaupt gehalten hat) und ihrer Aufzeichnung liegt (wenn er sie überhaupt so gehalten hat). Allein diese zeitliche Entfernung macht es notwendig, zur Überwindung der »Distanz« den Erwartungshorizont der zum Zeitpunkt der Rede möglicherweise geherrscht hat, mitzuformulieren, denn gut 150 Jahre nach einer Rede ist es wirklich nicht mehr gut möglich, dass sich jemand an den historisch-politischen Kontext erinnert. Aber in diesem Fall wird man eher davon ausgehen müssen, dass die Pfingstrede des Petrus nach den Erfordernissen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts geschrieben ist und zum Lesen gedacht war, sodass es einen Sinn hatte, den gesamten Kontext mitzubeschreiben im Sinne einer geschlossenen Argumentation.

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Wenn man alle diese unterschiedlichen Faktoren, die sich im Vergleich gezeigt haben, berücksichtigt, kann man davon ausgehen, dass sich die aus der Petrus-Rede gewonnene inhaltliche Struktur als brauchbar erweist, die Mechanismen der Persuasion, das dahinterliegende didaktische Konzept zu erkennen.

5. Vergleich der Instrumente und Erfolgsbedingungen der Kennedyund der Petrus-Rede

Auch von der Rede John F. Kennedys wissen wir, dass sie Erfolg hatte, indem sie zur Zielerreichung seines Besuches beitrug. Das Bündnis zwischen Deutschland und den USA wurde gestärkt und blieb eine Säule des Kampfes gegen den Kommunismus. Deshalb sei der Vergleich der beiden Reden im Hinblick auf ihre unterstützenden medialen Instrumente und Erfolgsbedingungen fortgesetzt  : Der Anspruch des Heilswerts der von Kennedy vertretenen Idee und dessen Akzeptanz bei den Berlinern wie bei den politischen Entscheidungsträgern wurde schon im Vergleich erläutert, wodurch die wichtigste Bedingung erfüllt ist, ebenso die Frage nach den Maßnahmen und Bezügen, Aufmerksamkeit bei der Zielgruppe zu erlangen. Bemerkenswert, was seine Wirkmächtigkeit betrifft, ist der konkrete Ort der Rede vor dem Schöneberger Rathaus im Angesicht der Berliner Mauer. Wie bei der Petrus-Rede ist es ein öffentlicher Platz, wenn auch nicht mehr der öffentliche Platz schlechthin wie bei Petrus. Aber auf diesem Platz bekommen die Aussagen Kennedys optische Unterstützung, die gemeinsam mit den Aussagen verbreitet wird  : Die Rede wurde nicht nur im Radio live übertragen, sondern auch vom Fernsehen und von der Wochenschau aufgezeichnet und in Nachrichtensendungen und Kinos ausgestrahlt, sodass maximale Publizität erreicht wurde.

Die Rede  : 221

6. Anmerkungen zum Chárisma/zur Autorität des Redners

Beim Vergleich des Chárismas/der Autorität der beiden Personen Simon Petrus und John F. Kennedy tritt ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen beiden Settings zutage  : Auch wenn man John F. Kennedy ein gewisses persönliches Charisma zugesteht, bezieht er im Gegensatz zu Petrus seine Autorität nicht daraus, sondern einzig aus seiner Position als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Autorität ist im Gegensatz zu der des Petrus im konkreten rhetorischen Setting institutionell, nicht persönlich, geliehen von der realen Macht des Staates, den er vertritt. Zwar bezieht auch Petrus seine Autorität nicht aus sich selbst, sondern »ist vom Geist erfüllt«, aber für seine Zuhörer stellt sich diese Autorität als persönliche, individuelle, dar – jedenfalls wenn man den beschriebenen Kontext für sich betrachtet. Wenn man freilich die Überlieferungssituation der Petrus-Rede mit einbezieht, könnte man auch behaupten, dass seine Autorität ebenso institutionell ist, wie die des amerikanischen Präsidenten, aber eben nur aus diesem Blickwinkel der Überlieferung. Umgekehrt kann man fragen, ob eine gleiche Rede irgendeines amerikanischen Staatsbürgers die gleiche Wirkung gehabt hätte wie die des Präsidenten. Die Antwort darauf muss eindeutig »Nein« lauten, was eine zusätzliche Dimension für die weiteren Analysen von rhetorischen Settings erschließt  : Persönliches Chárisma lässt sich nur dann in persönliche Autorität umsetzen, wenn es in die Transzendenz hineinreicht und seine Kraft daraus bezieht, entweder in die Transzendenz Gottes wie eben bei Simon Petrus oder Franz von Assisi oder Mutter Theresa, oder in die Transzendenz der Geschichte wie bei Mohandas Karamchand Gandhi, oder in beide, in die Transzendenz und die Geschichte, wenn sie nicht ohnehin ein und dieselbe sind, wie bei Martin Luther oder bei Martin Buber, wobei diese persönliche Autorität in jedem Fall durch das Zeugnis eines konkreten glaubwürdigen Lebens abgesichert sein muss.

222 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

6.1 Anaximenes und Alexander der Große

Es gibt eine Anekdote, die dies in besonderer Weise illustriert. Sie ist durch den römischen Rhetoriklehrer Valerius Maximus in s­ einem Rhetorik-Lehrbuch mit dem Titel Facta et dicta memorabilia – »Denkwürdige Taten und Aussprüche« überliefert, eine Art Zitatensammlung (»Geflügelte Worte«) für den Gebrauch in Reden, und erzählt aus den Feldzügen Alexanders des Großen folgende Geschichte  : Alexander wollte auf einem seiner Feldzüge die Stadt Lampsakos zerstören, eine phokäische Kolonie in Kleinasien. Da, erzählt Valerius Maximus, sei ihm der Philosoph Anaximenes, der sonst keine große Bedeutung für die Geschichte der Erkenntnis hat, aber eine imponierende Persönlichkeit gewesen sein muss und auch neben Aristoteles Alexanders Lehrer war, furchtlos entgegengetreten. Als ihn Alexander sah, schwor er laut, dass er auf keinen Fall den Wunsch des Anaximenes erfüllen werde. Darauf wünschte sich Anaximenes  : »Ich bitte dich, König Alexander, zerstöre Lampsakos.« Und so wurde Lampsakos errettet. Was ist da geschehen, abgesehen davon dass Anaximenes schlagfertig war  ? – Ein Schwur in der Antike bezieht sich auf eine größere Macht, als es der allmächtige König ist. Es gab eigene gefährliche Gottheiten, die über die Einhaltung von Schwüren wachten, sodass derjenige, der einen Schwur brach, nach allgemeiner Auffassung auf jeden Fall mit schlimmer Strafe rechnen musste. Dessen ungeachtet gibt es genug Fälle in der Antike, in denen sich Mächtige nicht an ihre Schwüre hielten. – Deshalb spielt das Bezugssystem des Königs eine große Rolle  : Sein Bezugssystem, seine königliche Doxa, verbot ihm, dass er einen Schwur brach. Ohne diese Doxa, diese »Königsehre«, wäre die Stadt Lampsakos wohl trotzdem zerstört worden.

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– Aber mindestens genauso wichtig war die Beziehung zwischen den beiden Männern. Wenn irgendjemand gekommen wäre, hätte der König sich wohl nicht durch einen Schwur vor dessen Wunsch schützen müssen. Also kommt als weiterer Wertrahmen das Autoritätsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler zum Tragen und damit die Autoritätsfrage. – Es kommt noch ein vierter Aspekt dazu  : die Zugehörigkeit des Rhetors zu einem bestimmten Stand, zu einer bestimmten Gruppe, die ihn überhaupt befähigte, Lehrer eines Herrschers zu sein  ; einer Gruppe, welcher nach einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens, der auch im Werte-Bezugssystems des Herrschers verankert war, der Zugang zur Oratorrolle zugestanden wurde  : die Zugehörigkeit zum Stand der Philosophen. Steht in einer Demokratie nämlich die parrhesia, die »freie Meinungsäußerung« jedem freien Bürger zu, und schon da in besonderer Weise den Philosophen, können sich die Philosophen der Antike dieses Gewicht auch in den monarchischen Staat hinein die ganze Zeit bewahren. Der Grund war, dass man den Philosophen, den Experten, den Wissenschaftern der damaligen Zeit, unterstellte, dass sie sich »durch eine heroische Geistesleistung« von allen gesellschaftlichen Bindungen befreit hätten – der Vorrang des Genies gewissermaßen vor der breiten Masse –, nicht anders als es heute Sportgrößen, Nobelpreisträgern, Künstlern und Wirtschaftsbossen zugestanden wird. Man darf also im konkreten Fall davon ausgehen, dass der König Alexander jeden Philosophen angehört hätte, auch wenn er mit ihm nicht in einer engen Beziehung gestanden wäre. Auch hier gilt wieder  : Auch wenn man Alexander dem Großen ein hohes persönliches Chárisma zugesteht, bezieht er im Gegensatz zu Anaximenes seine Autorität nicht nur daraus, sondern vor allem aus seiner Position als legitimer König. Seine Autorität ist im Gegensatz

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zu der des Anaximenes in der konkreten Situation institutionell, nicht persönlich, geliehen von der realen Macht der Funktion, die er hat. Anaximenes hingegen bezieht seine Autorität aus sich selbst, seine Autorität stellt sich als persönliche, individuelle, dar – jedenfalls wenn man den beschriebenen Kontext betrachtet. 6.2 Eine geschichtsphilosophische Anmerkung zur Autoritätsfrage

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen individueller und institutioneller Autorität, ohne die es keine Persuasion, keine Überzeugung, keine Überredung und damit kein Durchsetzen von Ideen geben kann, entspricht der alten Frage der Geschichtsphilosophen, ob Geschichte von herausragenden Personen gemacht wird, oder ob sich Geschichte in herausragenden Persönlichkeiten gleichsam materialisiere. Mit anderen Worten geht es um nicht weniger als die Frage, ob Hitler mit seiner Bande Deutschland nationalsozialistisch gemacht hat, oder ob er durch die Gesinnung, die damals in Deutschland herrschte, »gemacht« wurde, oder um die Frage, ob Gaius Julius Caesar die römische Republik als Person machtvoll in eine Monarchie umgewandelt habe, oder ob sich die untergehende römische Republik der Persönlichkeit Caesars bediente, um das römische Imperium in die Monarchie zu retten. Die erstere Position ist bis heute weitverbreiteter Konsens. Die letztere Position ist eng mit dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel verbunden, der 1770 bis 1831 lebte, und der den Gedanken, dass die Weltgeschichte durch ein regierendes Prinzip, den Hegel Weltgeist nennt, geleitet sei, aus seiner Dialektik zu einem konsistenten geschichtsphilosophischen System entwickelt hat, ohne das der Marxismus nicht möglich gewesen wäre. Durch diesen Weltgeist wird nach Hegel der Ablauf der Weltgeschichte bestimmt. Die handelnden Personen seien lediglich seine »Geschäftsführer«, die durch die »List der Vernunft«, indem sie scheinbar ihre eigenen Zwecke verfolgten,

Die Rede  : 225

nur dem Fortgang des Weltgeistes dienten. Deshalb – so Hegel   »[…] müssen ihnen die Anderen dienen.« Damit beschreibt Hegel, wenn auch in ungewöhnlicher Diktion, eine besondere Art der Beziehung zwischen einzelnen Individuen und der Gesellschaft im Hinblick auf die Doxa, die ich gerade am Beispiel Alexanders zu erklären versucht habe, die nicht aus sich Doxa sein kann, sondern mit Akzeptanz korrespondiert. Und das ist das stärkste Argument dagegen, dass es jene Art von Manipulation geben kann, in jener die meisten Menschen den Grund sehen, dass sie – von Massenmedien beeinflusst – Dinge tun, die sie eigentlich nicht tun wollen – und diese Bedingungen sind auch die Bedingungen dafür, dass Persuasion im Sinne der Rhetorik gelingen kann. Alle vier im Zusammenhang mit dem Charisma/der Autorität des Redners genannten Elemente – transzendentale Verankerung, Doxa des Mächtigen, institutionelle Autorität aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die Zugang zur Oratorrolle hat, und individuelle Autorität aufgrund eines glaubwürdigen Lebens – verweisen darauf, unter welchen Bedingungen Rhetorik auch in autoritären Systemen Erfolg haben kann, und eröffnen darüber hinaus einen Betrachtungswinkel für die Rhetorik, wie sie heute betrieben wird – vor allem auch in den Massenmedien.

VII. Zur Entstehung und zum Wesen der Rhetorik Die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer gesellschaftlichen Gruppe, welcher der Zugang zur Oratorrolle in der Art eines sozialen Regelmechanismus zusteht wie eben z. B. dem Philosophen Anaximenes, spielt schon bei der Entstehung der Rhetorik eine zentrale Rolle  : Rhetorik als Mittel der Durchsetzung politischer Entscheidungen, wie wir sie heute kennen, wird das erste Mal in klaren Strukturen im 5. vorchristlichen Jahrhundert fassbar, und zwar in der Bewegung der »Sophisten«. Sie hängt eng mit der Entstehung der Demokratie zusammen. Es ist diese spezielle historische Konstellation im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland – die Entstehung der Demokratie, die sophistische Bewegung als geistiges Pendant dazu und, gewissermaßen als Instrument der Überprüfung, ob Rhetorik erfolgreich war, der Peloponnesische Krieg, aus der jene beschriebene Verhaltensweise entsteht, die man als Rhetorik bezeichnet und die bis heute erfolgreich geblieben ist. Denn in diesem entsetzlichen Peloponnesischen Krieg, der mit dem Untergang der Weltmacht Athen endete und über den der griechische Geschichtsschreiber Thukydides – der erste Historiker in unserem Sinn – ausführlich berichtete, erhielt die Rhetorik das erste Mal jenes Gewicht, das deutliche Belege dafür hinterließ, wie es zu vielen politischen Entscheidungen mithilfe der Persuasionskraft der Rhetorik kam.

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1. Die gesellschaftliche Voraussetzung: die Demokratie

Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass politische Rhetorik entstehen konnte, ist die Demokratie. Denn nur in einem System, in dem die Bürger am politischen Leben Anteil nehmen und Führungsfunktionen durch Wahl anstreben können, hat Rhetorik, wie wir sie heute verstehen, Bedeutung. Die historischen Eckpunkte der Entwicklung des Gemeinwesens zur Demokratie vom Königtum der homerischen Epen Ilias und Odyssee über die Aristokratie bis zur demokratisch verfassten Polis sind gut nachvollziehbar und vielfach beschrieben worden. Aber die diesen Wandel begründenden Veränderungen des dahinterliegenden Weltbildes sind so komplex, dass sie sich bisher weitgehend einer Analyse entzogen haben. Einen Zugang dazu kann man über einige Merkmale des homerischen Königtums zu finden versuchen  : So waren die homerischen Könige Stammeshäuptlinge, deren Würde sie jeweils ererbten. Ihre Legitimation erhielten die Herrscherfamilien durch ihre Abstammung von Göttern, die in Mythen und Sagen tradiert wurden. Ihre Herrschaft übten sie über das gesamte Siedlungsgebiet des Stammes aus. Geht man von diesen Merkmalen des Königtums aus, muss der Beginn zur Entwicklung der Demokratie in zwei wesentlichen Veränderungen liegen  : einerseits in der Auflösung der Stammesidentität und ihren Folgen, andererseits an einer Entmythologisierung des Weltbildes, wobei sich aber beide Phänomene nicht eindeutig auf der Grundlage der sozioökonomischen Veränderungen zwischen 800 und 600 v. Chr. als beschreibbar erweisen. Wichtige Faktoren könnten gewesen sein  : eine Zunahme der Bevölkerung, welche die Suche nach neuem Lebensraum zur Folge hatte, die in der intensiven Kolonisationstätigkeit in Kleinasien, an den Küsten des Schwarzen Meeres, Italiens und Siziliens und auf der Iberischen Halbinsel stattfand  ; die räumliche Trennung von Stammesgruppen bedeutete aber auch eine eigenständige Entwicklung dieser Gruppen unter der diese

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Gruppen führenden Aristokratie  ; die Zersplitterung der Stämme, die kleinere Gruppen zur Folge hatte, wurde durch lokale Kulte und Heroen begünstigt, die oft in die Rolle von Ahnherren der neuen Gemeinwesen erhoben wurden  ; die Struktur kleinerer Gemeinwesen führte zwangsläufig zu einem verstärkten Sicherheitsbedürfnis, das in der Entstehung der poleis ihren Ausdruck fand  ; in der Folge davon, weil die Zahl der Stadtbewohner ja nicht so groß war, ergab sich die Notwendigkeit der Beteiligung aller Bürger an der Verteidigung  ; dazu kam der Technologiesprung von Bronze zu Eisen, der Waffen erschwinglich machte, so dass sich auch weniger Reiche, also Nichtaristokraten, Waffen leisten konnten. Bürger mit Waffen aber, so folgert André Pichot, erheben schnell den Anspruch, politisch mitbestimmen zu dürfen. Die griechische Demokratie stellt sich so gewissermaßen als Erweiterung der Aristokratie dar und ist eng mit der Urbanisierung verbunden. Damit ging offensichtlich eine Entmythologisierung des Weltbildes einher  : War in der Königszeit das Leben im Jahrlauf durch Mythen organisiert, kann man ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert in der Literatur eine gezielte Mythenkritik beobachten, die in Grundzügen durchaus der Entmythologisierung der Religionen seit der Aufklärung vergleichbar ist. Auch die Entstehung der modernen Demokratie reicht in ihren Begründungszusammenhängen in die Antike zurück, lässt sich im Gegensatz zur Antike aber vor allem theologisch begründen  : Und zwar hat die Demokratie-Theorie des Aristoteles, die durch römische und später durch jüdisch-arabische Vermittlung erhalten geblieben ist, durch die christliche Weltanschauung neue Nahrung erhalten  : Nachdem das feudalistische imperium christianum des Mittelalters als Wirklichkeit gewordenes Reich Gottes auf Erden der Kritik nicht mehr standhielt, wurde der Gedanke der Gleichheit aller Menschen vor Gott im Jenseits auf das Diesseits übertragen. Die Vorreiterrolle spielte die Reformation, welche die Idee der christlichen Urgemeinde,

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wie sie Luther und Calvin verstanden, auf Staat und Gesellschaft übertrug. Die englische Revolution des 17. Jahrhunderts ist als politischer Durchbruch der religiösen Demokratie zu verstehen. So sind die calvinistischen Gemeindeverfassungen und die einiger reformatorischer Sekten, vor allem der Quäker, nach Inhalt und Geist die Urbilder des modernen demokratischen Staates. Die Entstehung der modernen Demokratien verläuft nach diesem Befund also nahezu umgekehrt wie in der Antike  : In der Antike waren die sozioökonomischen Entwicklungen der Motor, und die Religion zog nach. In der Neuzeit war die Religion die Vorreiterin und bot mit ihren Konzepten ein Instrument, um mit dem sozioökonomischen Strukturwandel fertig zu werden.

2. Die weltanschauliche Begründung: die Sophisten

Parallel zu den politischen Veränderungen und um die damit verbundenen neuen Bedürfnisse zu erfüllen, entstand in Griechenland seit der Mitte des 5. Jh. v. Chr. eine Bewegung, die nicht mehr in erster Linie die außermenschliche Natur betrachtete, sondern in ihren Mittelpunkt den Menschen als Individuum und gesellschaftliches Wesen, als zoon politikon, stellte  : die Sophistik. Die Demokratie begann sich breit in den griechischen Stadtstaaten, den poleis, durchzusetzen. Die Bürger nahmen in den Volksversammlungen am politischen Leben regen Anteil und viele strebten Führungsfunktionen an, die man ja durch Wahl erreichen konnte. Da zeigte sich auch bald, dass nur diejenigen Erfolg hatten, ihre Interessen und Standpunkte durchzusetzen, die diese auch formulieren und für sie argumentieren konnten, und dazu gehörte auch ein großes Wissen. So erwachte das Bedürfnis nach Lehrern der Rhetorik, Grammatik und Dialektik, der alten Dreiheit der sophistischen Bildung, lat. trivialis scientia.

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Der Begriff kommt ursprünglich jedoch nicht von der »Dreiheit« der Gegenstände, sondern von einem der häufigsten Orte, wo das Wissen vermittelt wurde  : vor allem im Rom der Kaiserzeit, wo es als letzten Ausfluss des sophistischen Volksbildungsideals eine Art »Schulpflicht« gab, erfolgte der Unterricht von schlecht bezahlten Lehrern in elenden Ladenlokalen, Bretterbuden oder gar an Straßenecken im Freien zwischen Händlern. Und von daher kommt auch der Begriff trivialis scientia, was nichts anderes als »an der Straßenecke erworbenes Wissen« heißt, woraus viel später, nämlich im Mittelalter, bis in welches das sophistische Bildungsideal nachwirkte, das Wort trivial entstand. Um dieses Wissen und diese Fertigkeiten zu erlernen, die man brauchte, um in den sich entfaltenden demokratischen Strukturen erfolgreich zu sein, brauchte man Lehrer  : Lehrer für Rhetorik, Grammatik und Dialektik, weil die Vermittlung von Sichtweisen und Propaganda ja in erster Linie über Reden betrieben wird, aber auch für Literatur und Geschichte – weil man sich ja bei der Argumentation in der Rede auf Autoritäten berufen wollte – und ebenso für Philosophie, Mythologie und Astronomie. Und dieser neue Lehrer-Berufsstand waren die Sophisten. Es waren Wanderlehrer, die dadurch oder durch Lektüre von ethnologischen Beschreibungen, etwa des Herodot, in Kontakt mit divergierenden Moralvorstellungen und Rechtssystemen kamen. Sie machten die Erfahrung, dass was in der einen Polis erlaubt war, in der anderen verboten war, und was in der einen Kultur bestraft wurde, in der anderen möglicherweise gefordert war. Diese gewissermaßen ethnologische Betrachtung der Arten von Konventionen des Zusammenlebens führte zur Relativierung aller absoluten Geltungsansprüche, wie sie in den alten griechischen poleis erhoben wurden.

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3. Protagoras: der Mensch als Maß aller Dinge?

In einer besonderen und bis heute akzeptierten Weise hat diese Erfahrung der Sophist Protagoras in seinem berühmten Satz »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« zusammengefasst, wobei die heutige Akzeptanz ausschließlich daran liegen dürfte, dass niemand die theoretischen Grundlagen kennt, aus denen dieser Satz abgeleitet ist. Heute versteht man unter diesem Satz, dass nichts Bedeutung habe, was nicht dem Menschen oder seiner Umwelt einen Nutzen bringe. Aber das ist keineswegs der Inhalt der Aussage des Sophisten Protagoras. Protagoras leitete diesen Satz aus den Aussagen des Naturphilosophen Demokrit ab, und zwar nach der damaligen Auffassung streng wissenschaftlich und keinesfalls propagandistisch, und schuf damit gleichzeitig auch eine theoretische Begründung für die junge Demokratie. Diese Ableitung sah folgendermaßen aus  : Demokrit hatte die Theorie aufgestellt, dass das Erkennen darin bestehe, dass die Atome der Dinge den Atomen der Seele begegnen. Protagoras folgerte messerscharf daraus, dass unter diesen Umständen die Erkenntnis nur darüber Auskunft geben könnte, wie die Dinge der Seele, also dem erkennenden Ich, in diesem Augenblick der Begegnung der Atome erscheinen, nicht generell und allgemeingültig. Die Dinge seien für jeden immer nur das, als was sie ihm erscheinen. Und deshalb sei der jeweilige Mensch das Maß der Erkenntnis aller, zumindest der von ihm wahrgenommenen, Dinge, folgerte Protagoras und wurde so zum Begründer der Weltsicht, die heute als »Konstruktivismus« bezeichnet wird. Denn – die Fragen haben bis heute Gültigkeit – wie sollte man sonst die vielen Unterschiede in den Rechts- und Gesellschaftssystemen erklären  ? Die verschiedenen Formen der Religion und des Kultus, der gesellschaftlichen Einrichtungen wie der Ehe, bei der ein Mann mit mehreren Frauen verheiratet sein durfte oder nur mit einer,

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der Rechte von Männern und Frauen – in einem System konnten nur Männer erben, in einem anderen auch die Frauen – das Verhältnis von Adel und Bürgertum, zwischen konstitutionell und absolutistisch, bei der Bestrafung der Unterschied zwischen dem sogenannten »Talionsprinzip« nach dem Motto »Aug’ um Aug’ und Zahn um Zahn« oder durch Zahlung von Schadensersatz. Jedenfalls schienen die verschiedenen Sozietäten ganz gut mit ihren jeweiligen Systemen leben zu können, und das musste, so die Sophisten, ja irgendeinen vernünftigen Grund haben. Protagoras zog den Schluss daraus, dass es – jedenfalls aus der Sicht der unterschiedlich wahrnehmenden Individuen – verschiedene, durchaus auch widersprüchliche Wahrheiten gebe, und entwickelte auch eine Methode, wie man die daraus entstehenden Konflikte lösen könnte  : über die Unterschiede und Widersprüche so gegensätzlich zu reden, wie sie erscheinen, sie also als konkurrierende Meinungen zu behandeln – nicht als richtigen oder falschen Standpunkt –, als konkurrierende Meinungen, die sich in Rede und Gegenrede zu bewähren haben. Nichts anderes meint ein weiterer Satz des Protagoras, nämlich  : »die schwächere Sache zur stärkeren machen zu können« und diese Fertigkeit auch seine Schüler lehren zu wollen. Denn tatsächlich kann diese Bewährung unterschiedlicher Meinungen in Rede und Gegenrede nur dann erreicht werden, wenn nicht schon eine Hierarchie der Meinungen vorausgesetzt ist, die außerhalb der Rede Gültigkeit besitzt und diese nur noch als nachträgliche Bestätigung braucht. »Die schwächere Sache zur stärkeren machen zu können« bedeutet also nichts anderes, als sie aus einer Vorurteils-Fixierung zu lösen und der »vernünftigen« dialektischen Erörterung zugänglich zu machen, in deren Verlauf sich herausstellen werde, ob die »schwächere Sache« wirklich die schwächere ist. Protagoras formulierte damit als erster Elemente einer Theorie der Vermittlung mit dem Ziel der Persuasion  :

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– als Grundlage  : die Widersprüchlichkeit der Welt entsprechend den individuellen Wahrnehmungen, – dem entsprechend konkurrierende Meinungen über eine Angelegenheit statt wahre und falsche Standpunkte, – im Wettkampf der konkurrierenden Meinungen die Notwendigkeit des Einsatzes rhetorischer Mittel, um die, welche anderen Meinungen anhängen, von der eigenen zu überzeugen, um politisch handlungsfähig zu werden, – wobei sich die Argumentation auf die jeweiligen in einer polis oder einer sonstigen Gemeinschaft für richtig erachtete Grundsätze berief. Die dazugehörigen Techniken und das dafür notwendige Wissen boten die Sophisten gegen Bezahlung jedermann zu lehren an, nahezu mit Erfolgsgarantie, dass der Unterrichtete danach in der Rede überzeugungskräftig und im Streit der Meinungen glaubwürdig sein werde.

4. Gorgias und der Vorwurf der Manipulation

Der Sophist Gorgias warb um Schüler, indem er anbot, über jedes beliebige Thema sofort eine Rede zu halten, nach Belieben pro oder contra  : Es tritt die Überzeugung in die Helligkeit des Bewusstseins, dass die Wörter losgelöst sind von den Sachverhalten, dass Reden, Denken, Wahrnehmen und Handeln so unabhängig voneinander betrieben werden könnten, dass zum Beispiel ein Advokat jemanden auch dann erfolgreich verteidigen könne, wenn er nicht an dessen Unschuld glaube – und trotzdem nicht lüge. »Der Helena ein Lob, mir aber ein Spiel«, ist der Satz des Gorgias in seiner berühmten Rede, in der er die schöne Helena von allen Vorwürfen freispricht, mit schuld am Trojanischen Krieg zu sein.

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Auch andere Elemente für eine Theorie der Vermittlung, speziell deren Erfolgsbedingungen, sind von Sophisten bereits vertreten worden  : von Hippias die Unterscheidung von Naturrecht, das sind jene Teile des Rechts, die von Natur aus verpflichten und deshalb ewig und unabänderlich seien, und positivem, also von Menschen gesetztem Recht, das deshalb von ihnen auch wieder nach Belieben geändert werden könne – eine Unterscheidung, die auch großen Einfluss auf die Rechtswissenschaften hatte. Von Prodikos von Keos wurde das erste Mal der Nutzaspekt als Kriterium für menschliches Handeln in die Betrachtung eingeführt. Da schon in der Antike die Vorläufer der Anhänger des Kognitivismus stärker waren als die Vorläufer der Anhänger des Konstruktivismus, und diese in den Verdacht gerieten, ihre »Redekunst einzusetzen, um sich der Schwächen der Menschen zu ihren Absichten zu bedienen«, wie es später Immanuel Kant formulierte, hat die Bezeichnung »Sophist« im Sprachgebrauch des antiken Griechenlands schnell einen Bedeutungswandel erlebt  : Ursprünglich wurde mit dem Begriff sophistes einfach ein weiser Mann bezeichnet. So nennt etwa Herodot die »sieben Weisen« respektvoll »Sophisten«  : Unter diesem Namen wurden bedeutende Männer des 7. und 6. vorchristlichen Jahrhunderts zusammengefasst, die sich durch besondere Lebensklugheit, meist auch durch staatsmännische Leistung hervorgetan hatten und denen man bestimmte Kernsprüche zuschrieb. Die Namen der »sieben Weisen« werden in verschiedenen Überlieferungen verschieden angegeben. In allen Aufzählungen enthalten sind nur  : der Naturphilosoph, Staatsmann und Mathematiker Thales von Milet, der einzige eigentliche und unbestrittene Philosoph der Siebenerrunde, Bias aus Priene (in Jonien), auf den der Spruch Omnia mea mecum porto – »Alles Meine trage ich mit mir« zurückgehen soll, Pittakus aus Mytilene auf der Insel Lesbos – er befreite seine Vaterstadt aus der Tyrannis, führte die Demokratie ein und war ihr erster Gesetzgeber, nach deren Einführung er freiwillig seine Macht aufgab, ähnlich wie es von Solon aus

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Athen, dem ersten attischen Dichter als viertem ständig Genannten unter den »sieben Weisen« berichtet wird. Der Rhetor Androtion, der Verfasser einer attischen Geschichte bis zum Jahr 346 vor Christus, gibt sogar Sokrates und Platon diesen Titel. Sokrates selbst freilich verwendet nach dem Zeugnis des Platon die Bezeichnung nur pejorativ, abwertend, für einen Menschen, der aufgrund seiner Rhetorik und seiner Dialektik jeden beliebigen Standpunkt vertreten könne, und so wurde schon in der Antike »Sophist« ein Schimpfwort.

5. Anmerkung: Protagoras und Petrus

In der ersten Missionsrede des Simon Petrus sind fast alle genannten Theorie-Elemente des Protagoras identifizierbar  : – die Widersprüchlichkeit in der Auffassung der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth – für die einen ein Gotteslästerer, der die Existenz des jüdischen Volkes gefährdet, für die anderen der Messias  ; – der Einsatz der rhetorischen Mittel zur Überzeugung besteht in der Berufung auf Weissagungen vom Wirken eines kommenden Messias und die Interpretation dieser Weissagungen auf Jesus von Nazareth hin  ; – die Verknüpfung der Interpretation mit den Heilserwartungen der zuhörenden jüdischen Gemeinschaft als den in dieser Gemeinschaft für richtig erachteten Grundsatz. – Sogar den Nutzaspekt des Prodikos kann man, wenn man will, erkennen  : Wer den Heilswert der christlichen Idee anerkennt, wird in seiner Existenz gerettet werden, während die anderen »das Leben verlieren«. In der Missionsrede des Simon Petrus fehlt nur ein einziges TheorieElement des Protagoras  : Für Simon Petrus geht es nicht um konkur­

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rierende Meinungen, sondern um die Wahrheit schlechthin – jene Wahrheit, die es nach Auffassung der Sophisten nicht gibt.

6. Platon und die Sophistik

In diesem Punkt ist Petrus nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte bereits gewissermaßen ein Schüler Platons, der einer der schärfsten Kritiker des Totalitätsanspruchs jener Sophistik ist, die in den Reden des Gorgias ihren extremsten Ausdruck findet. Platon geht in seiner Kritik vom Widerspruch aus, der zwischen der Methode der Sophisten besteht, die behaupten, mit ihren Reden »der Seele aufprägen zu können, was immer sie wollen«, und dadurch die Zuhörer zu zwingen, »den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen« auf der einen Seite, und dem Anspruch der Sophisten, das Mittel in die Hand zu geben, um in Gesellschaft und Staat recht leben und handeln zu können auf der anderen Seite, das die Beratung über widerstreitende Meinungen voraussetzt, welche das Ziel hat, einen Konsens zustande zu bringen. Nach der sophistischen Vorgabe des Gorgias bedürfte es solcher Beratungen zum Zweck einer Konsensbildung gar nicht mehr, denn zwangsläufig erringe nach dessen sophistischer Auffassung jene Meinung den Sieg, die rhetorisch am besten dargelegt werde. In seiner Kritik, die er in besonderer Weise in seinem Dialog darlegt, der nach dem Rhetor Gorgias benannt ist, fordert Plato deshalb, dass es einen Bezug auf einen Rahmen – einen Wertrahmen – geben müsse, der nicht mehr rhetorisch, sondern nur philosophisch ermittelt werden könne. Andernfalls sei – so Platon in einem berühmten Vergleich in seinem Dialog (464d bis 465a), den er übrigens Sokrates in den Mund legt – die Rhetorik nicht Heilkunst für gravierende gesellschaftliche und politische Differenzen und Probleme, sondern nur eine Kochkunst, die sich für Heilkunst ausgebe, denn »sie stellt

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sich an zu wissen, welches die besten Speisen sind für den Leib, so dass, wenn vor Kindern oder auch vor Männern, die so unverständig wären wie Kinder, ein Arzt oder ein Koch sich um den Vorzug streiten sollten, wer von beiden sich auf heilsame oder schädliche Speisen verstände, der Arzt oder der Koch, der Arzt Hungers sterben könnte. Schmeichelei nun nenne ich das«, fährt Sokrates im Plato-Dialog gegen Gorgias fort, »und behaupte, sie ist etwas Schlechtes, weil sie das Angenehme zu treffen sucht, nicht das Beste. Dass sie eine Kunst sei, leugne ich ebenfalls  ; sie ist vielmehr nur eine Übung, weil sie keine Einsicht hat von dem, was sie anwendet, was es seiner Natur nach ist, und also den Grund von einem jeden nicht anzugeben weiß  ; aber ich kann nichts Kunst nennen, was eine unverständige Sache ist.« Platon ist überzeugt, dass es verbindliche höhere Ziele gebe, die der Maßstab auch der sophistischen Rhetorik sein müssten – im Fall der Propaganda zum Beispiel das Ziel des gedeihlichen Zusammenlebens oder das Wohlbefinden der Bürger, oder – angewendet auf die Petrusrede – die Rettung des Menschen vor dem Tod. Ansonsten, so kritisiert Platon, gehe es nur um die Durchsetzung individueller Interessen, also um Macht – eine Kritik, die von da an durch die Geschichte bis heute nichts von ihrer Aktualität und Schärfe verloren hat, und für die erst Heinz von Foerster einen möglichen Ausweg gewiesen hat.

7. Aristoteles’ Theorie des Meinungswissens

Diese beiden extremen Positionen – einerseits mithilfe rhetorischer Mittel jeder beliebigen Meinung zum Durchbruch verhelfen zu können, wie sie Gorgias vertritt, andererseits das Festhalten an einem immer und unverändert gültigem Wertrahmen, das Platon fordert – zwischen diesen beiden extremen Positionen versucht Platons Meisterschüler Aristoteles in seiner Ars Rhetorica zu vermitteln, deren Tendenz sich in einem Satz zusammenfassen lässt, den Aristoteles selbst

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(1355b) so formuliert hat  : »Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.« Das heißt  : Nicht die Wahrheit wird von Aristoteles als Ziel und Maßstab von Rhetorik angestrebt (wie es Platon fordert) – das wäre nach den brillanten Argumenten eines Protagoras nicht mehr möglich gewesen –, sondern Plausibilität ist die Kategorie Aristotelischer Rhetorik  ; das heißt nichts anderes, als dass ein Argument als brauchbar und akzeptabel in pragmatischen Angelegenheiten, vor allem für die soziale Handlungsorientierung, angenommen werden könne. Aristoteles’ Begriff Plausibilität entspricht somit dem, was Sir Karl Popper Bewährung genannt hat. Damit gelingt Aristoteles tatsächlich ein Spagat zwischen den beiden sich widersprechenden Positionen. Indem er den Geltungsbereich der Rhetorik auf das soziale Feld einschränkt, setzt er weder den Wahrheitsanspruch Platos außer Kraft, noch stellt er die logischen Beweisverfahren in Frage, noch schließt er die Möglichkeit verschiedener Entscheidungen in einem konkreten Fall aus. In eine Metapher gefasst entspricht Aristoteles Position dem Sprichwort, dass »alle Wege nach Rom führen«  : In diesem Sprichwort ist nichts über Rom ausgesagt, nicht einmal wo es liegt, außer dass es Rom gibt. »Rom« entspricht so dem Platonischen Wahrheitsbegriff, der »noumenalen Welt« Immanuel Kants und der christlichen Wahrheit. Der sophistische Relativismus als frühe Form des Konstruktivismus wird durch die Möglichkeit ausgedrückt, auf unterschiedlichsten Wegen nach Rom zu gelangen  ; das Gehen auf diesen vielfältigen Wegen schließlich entspricht der Deutung der Wahrnehmungen der Phänomene, die unter den Menschen, die diese Wege gemeinsam gehen wollen, durch gegenseitige Vermittlung abzustimmen sind. Bei Aristoteles folgt diese Abstimmung den logischen Beweisen, die den Wegen immanent seien, und, entsprechend seiner Beweislehre, vom Ausgangspunkt des Weges, seiner Beschaffenheit, seinen Verzweigungen usw. abhängen. Ich habe oben dafür den Begriff »Di-

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alektik der Plausibilität« gewählt, durch den genau diese Position des Aristoteles ausgedrückt wird  : Die Elemente, aus denen der Beweis aufgebaut ist, sind einsichtig, plausibel und akzeptiert, und das Verfahren, wie die Elemente verknüpft werden, ist logisch korrekt  : entweder deduktiv, wenn es sich auf wahrscheinliche, in ihrer Geltung bereits erprobte und akzeptierte Sätze bezieht (»enthymematisch«), oder induktiv, wenn es sich auf konkrete, anerkannte oder anerkennenswerte Beispiele stützt (»paradigmatisch«). Diese Position hat bis heute nicht ihre Orientierungskraft bei der gegenseitigen Vermittlung der Welt verloren.

VIII. Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhetorik Prinzipiell gilt alles, was über Rhetorik gesagt worden ist, auch für die Medienrhetorik, das Reden in Massenmedien. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied, auf den bereits mehrmals hingewiesen wurde, und der zur Kategorie der »Gegenbearbeitung« gehört  : Zwischen den Rezipienten und dem Orator wirkt stets Distanz. Um diese Distanz zu überwinden, ist ein spezielles rhetorisches Instrumentarium nötig, nämlich Präsentationstechniken, mit denen der Redner nach Chaim Perelmann »den Zusammenhang zwischen der Gegenwärtigkeit bestimmter Elemente im Bewusstsein und ihrer Bedeutung im Hinblick auf die rhetorische Wirkung« herstellen muss, weil dieser Zusammenhang nicht von vorneherein vorhanden sein kann.

1. Fallbeispiel (4) Fernsehbericht »Regierungsantritt von Tony Blair am 2. Mai 1997«: Modellbeobachtung

Ich nehme als Fallbeispiel den Fernsehbeitrag, mit dem vom Einzug von Tony Blair als Premierminister am 2. Mai 1997 ins Haus Downing Street Nr. 10 im ZDF berichtet wurde, könnte aber auch jedes beliebige andere Beispiel nehmen. Für die Analyse nehme ich die Rolle des »einsamen« Rezipienten vor dem Fernsehapparat ein, analysiere also genau so »selbstbezüglich« wie dieser. Überzeugt davon, dass alle Menschen prinzipiell gleich rezipieren, werde ich diese meine »Rezipientenerfahrungen« anschließend mit dem Anspruch

Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhetorik  : 241

verallgemeinern, dass sie als Element für eine Theorie der Medienrethorik verwendet werden können. Dabei fällt mir auf, dass von Anfang an alle meine Wert- und Lebensauffassungen, meine Vorurteile, Klischees und Schemata sich auf die Rezeption auswirken, Zeichen dafür, dass man nicht über Rhetorik nachdenken kann, ohne stets auch die Ästhetik, die Wahrnehmung mitzudenken. Was fällt mir auf  ? Eine jubelnde Menge, die Fähnchen schwingt, offensichtlich das Ehepaar Blair, das körperlich Kontakt zu den Menschen hat, Hände schüttelt. Es muss das Ehepaar Blair sein, denn mit welchem Recht würde sonst diese Frau Hände schütteln  ? Sie ist der Frauentyp, mit dem ich Offenheit und ein gewisses Feuer verbinde. Mir fällt ein, dass von den Blairs berichtet wird, dass sie eine gute, verlässliche Partnerschaft leben, Kinder haben, dass Frau Blair selbstbewusst ist und auch ohne ihren Mann Bedeutung hat. Das erinnert mich an meine eigene Partnerschaft. Auf mich wirkt die Situation sehr positiv. Ich bin angesteckt von der Stimmung und freue mich, dass Blair nun Ministerpräsident ist. Ich mag auch England. Für mich ist Shakespeare der größte Dramatiker, weil er in meinem Kopf mit seinen Stücken ein Gesamtkonzept umgesetzt hat, wie ich es selber möchte, nämlich historische Wissenschaft in Form von Literatur zu betreiben  : der alte Streit zwischen den Archivaren und den Erzählern, personifiziert in Leopold von Ranke (1795–1886) und Ernst H. Kantorowicz (1895–1963), Datensammler gegen Literaten. Großbritannien  : Wiege der Demokratie, das fällt mir immer ein, wenn ich den Big Ben und die Houses of Parliament sehe, und dann bekomme ich ein erhebendes Gefühl. Meine Aufmerksamkeit fokussiert auf Tony Blair, als ob ich unmittelbar dabei wäre  : Er freut sich, sehe ich an seinem Lächeln und an seinen strahlenden Augen, aber gleichzeitig in einer gerührten Weise. Ich glaube, dass er das Gleiche fühlt, wie ich es jetzt tue. Sein Äußeres ist das, wie ich es aus der Gruppe der unkomplizierten Einflussreichen kenne  : Anzug, Frisur, bürgerlich, elegantes Un-

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derstatement, so wie ich es auch für mich in Anspruch nehme, wenn ich in diesem Umfeld positiv wirken will – zum Beispiel auf meine Zuhörer, wenn ich eine Rede halte. Und dann tritt Blair ans Mikrofon und sagt nur wenige Wörter, keine große Erklärung  : »Jetzt können wir zeigen, wie wir uns die Welt vorstellen  : soziale Gerechtigkeit vor allem«, jemand der die Menschen gern hat. So wünsche ich mir Politik, und wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich genau das Gleiche wollen, möglicherweise nicht das Gleiche sagen, aber das Gleiche wollen. Und dann kommt Major und vermittelt mir den gleichen Eindruck wie Blair. Auch er wirkt fröhlich, und ich verstehe seine Aussage Blair gegenüber als Zeichen des Respekts  : »Man muss gehen, wenn es soweit ist.« Ja, der Mann kann loslassen. Er hätte ja auch verbittert gehen können. Auch der weiß, was Politik ist oder sein soll. So hat die dargestellte Situation für mich eine große Stimmigkeit, und ich bin Partei geworden  : Für einen Augenblick ein stolzer britischer Patriot. 1.1 Wie Oratorethos wirkt: Bestätigung von Wert- und Lebensauffassungen

Ich habe in dieser individuellen »Modellbeobachtung« des Fallbeispiels versucht, jene Mechanismen deutlich zu machen, wie Oratorethos wirkt  : Was ist da mit mir geschehen  ? Schlicht gesagt  : Ich habe mich in diesem Bericht wiedergefunden, mein Selbstbild, wie man in der Psychologie sagt, meinen Geschmack, meine Wert- und Lebensauffassungen, die ich gerne so transportieren bzw. inszenieren würde. Blairs Triumph ist auch meiner, weil ich ein wenig in seine Identität eingetreten bin, obwohl ich wirklich gar nichts damit zu tun habe  ; und indem ich beobachtet habe, wie der Bericht auf mich wirkt, habe ich etwas über mich selber erfahren  : Das Ereignis Tony Blairs »Einzug ins Haus Downing Street Nr. 10« hat nur Bedeutung im Hinblick auf diese meine Selbsterkenntnis, als Ereignis sub specie aeternitatis ist es bedeutungslos, hätte ich es nicht gesehen, wäre es mir nicht ab-

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gegangen. In meiner Annäherung wird sogar Tony Blair unwichtig. Faktisch bin alles ich selber. Und nun lasse ich meine Emotionalität wieder in den Hintergrund treten und komme zum nächsten Schritt in der Analyse meiner Modellbeobachtung  : der Abstraktion, Verallgemeinerung und Prüfung der Deutung meiner Beobachtung an der Theorie, bzw. zur Prüfung der Theorie an meiner Deutung – denn Theorien müssen ja, wenn sie Erklärungsanspruch erheben, etwas mit dem Leben zu tun haben. Und weil ich dieses Buch Die Vermittelte Welt schreibe, wenigstens mit meinem Leben. 1.2 Das Problem der »vermittelten« Rezeption durch Massenmedien: zwei rhetorische Settings

Neuerlich distanziert fällt mir auf, dass ich bisher eine Sache nicht bemerkt habe  : Dass es sich nämlich um zwei Ebenen handelt, zwei rhetorische Settings, die sich bei mir in der unmittelbaren Beobachtung vermischt haben  : Ich habe das Ereignis so wahrgenommen, als ob ich unmittelbar dabei gewesen wäre. Das ist aber nur eine Dimension. Die zweite und für unseren Fall wichtigere ist das Medium, das mir das Ereignis vermittelt hat, und das eigentlich in meiner Beobachtung im Vordergrund hätte stehen müssen, weil ich ja nicht beim Ereignis »Blairs Einzug in Downing Street No 10« selber dabei war, sondern nur beim Ereignis »Fernsehstory«, die mir dieses Ereignis vermitteln wollte. Ich habe also beide »rhetorischen Settings« und zwei Mal die Wirkung von Faktoren des Oratorethos zu beurteilen, einmal innerhalb des Berichts und das zweite Mal die Elemente des Oratorethos des Berichtes selber. 1.2.1 Das rhetorische Setting Ereignis

Das Oratorethos innerhalb des Berichts möge das von Tony Blair sein, auf das der Bericht vollständig fokussiert  : Aus der physischen Er-

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scheinung Blairs, und aus dem was er tut, wie er sich bewegt und wie er redet, aus seiner Gestik und Mimik, sehe ich eine starke prohairesis, ein starkes Entschlossensein, sogar eine gewisse Anspannung. Aber  : Beim neuerlichen Ansehen der Fernsehstory komme ich plötzlich drauf, dass gar nicht Blair lächelt, sondern dass ich das Lächeln eines zufälligen Passanten auf ihn übertrage. Was also die Selbstinszenierung betrifft, steht sie sogar im Gegensatz zur Situation, zum »rhetorischen Setting«, denn Blair versucht sich vom Triumph sogar etwas zu distanzieren  : Er ist nicht der Jubelnde, nein, er scheint sich seiner Verantwortung bewusst und präsentiert auch in dieser Situation sein Selbstbild  : bescheidener, aber bestimmter Diener des Staates zu sein. Das macht ihn authentisch, nicht das Mitjubeln mit den Anhängern, er ist sogar in der Situation seines Triumphes fast ein wenig nachdenklich. Und so redet er auch  : »Wir haben immer gesagt, wir wüssten besser, was den Menschen dieses Staates gut tut, jetzt kommt die Bewährungsprobe.« Selbstbezüglichkeit und Selbstinszenierung stehen zueinander in vollständiger Übereinstimmung, und das ist das, was wir Beobachtenden, wenn die Inhalte mit den unseren übereinstimmen, als Charakter bezeichnen. Stichwort Selbstbezüglichkeit  : Welche Symbole sind es denn, die Blair, nach dem, was ich hier beschrieben habe, inszeniert  ? In den wenigen Wörtern, die er sagt, ist es die Entschlossenheit, es besser zu machen als die bisherige Regierung, indem er die alte Opposition menschlichen Handelns zwischen »reden und tun« aufzuheben ankündigt. Oder wie es – zur Erinnerung – Rosenthal ausdrückt  : »Ethos is an end product of the combined logical and emotional responses.« – Ethos ist ein Produkt aus logischen und gefühlsmäßigen Faktoren. Besonders stark fällt mir die Demutsgeste auf, mit der er seine kurze Rede beschließt  : Er senkt den Kopf. Und die Art, wie er Hände schüttelt, ist auch nicht die, wie es ein Herrscher huldvoll tut, sondern eher wie einer, der zu dienen bereit ist.

Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhetorik  : 245

1.2.2 Das rhetorische Setting Fernsehbericht und das Oratorethos des Vermittlers

Aber wie schaut es mit der anderen Ebene aus, der Ebene des Massenmediums, der Ebene der Frauenstimme, die berichtet  : Zunächst, und das ist besonders wichtig, sie bleibt namenlos, tritt völlig hinter das berichtete Ereignis. Das Einzige, was uns zur Beurteilung zur Verfügung steht, ist, was sie sagt und wie sie es sagt  : Der Ton ist nicht distanziert, sondern kraftvoll und zustimmend. Im Text werden nur besondere positive, einzigartige Aussagen gemacht  : Jubel in der Downingstreet, ein Tag der Superlative, der jüngste Premier seit 1812, ein Mann der Mitte, also der Vernunft, wählbar sogar für das Klientel der Torries, einer dem alle am Herzen liegen. Also keine Angst, denn es wird keine revolutionären Veränderungen geben, nur mehr soziale Gerechtigkeit – wer soll das nicht wollen  ? Und es ist offensichtlich auch höchste Zeit dazu, vermittelt die Stimme in überzeugendem Ton. Jedenfalls hat die Berichterstatterin vollständig die Oratorrolle übernommen. Der Originalton von Tony Blair wird wie ein Zitat verwendet, wie die Bestätigung der Sichtweise der Berichterstatterin durch eine Autorität, die Autorität Blairs selbst. Und nicht nur das  : Als Major ging, zollten ihm auch die politischen Gegner Respekt, heißt, Blair zollte ihm Respekt, und Major verdient auch Respekt. Man sieht es an den bewegten Gesichtern der Menschen an den Fenstern, die durchaus das Personal des Hauses Downing Street sein könnten  : Major war ein guter Chef, aber, sagen die Gesichter gleichzeitig, auch Blair wird es sein. Obwohl beide Ereignisse nicht gleichzeitig stattfanden, erscheinen sie im Bericht doch wie gleichzeitig. Eigentlich fehlt nur noch der Handschlag zwischen beiden an der Haustür, und ich beginne darüber nachzudenken, ob ich alles das, was ich früher dem Ereignis zugeordnet habe, nicht doch eher dem Bericht über das Ereignis zuordnen müsste, der mir mit dem

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Ereignis durch dessen Inszenierung gleich auch eine Erklärung und damit eine Sichtweise mitliefert. Freilich, die Berichterstatterin inszeniert sich nicht selbst, aber sie inszeniert durch den Bericht ihre Sicht des Ereignisses. Und nun nehme ich an, dass diese Inszenierung durch Elemente ihres Oratorethos bestimmt sind, die mit der Selbstbezüglichkeit ihres Massenmediums in Einklang sind  : Massenmedium wie Berichterstatterin stehen ganz offensichtlich dem Programm Blairs nahe, stimmen ihm vielleicht sogar vollständig zu. Sie haben die Hoffnung, dass ihm auch dessen Umsetzung gelingt, und bringen mit dem Bericht zum Ausdruck, dass sie daran glauben, dass es ihm gelingt, oder sogar wollen, dass es gelingt. Stimmdruck und -modulation der Berichterstatterin vermitteln diese entschlossene Haltung im Sinne der prohairesis und zeigen damit die Parteilichkeit, zumindest der Berichterstatterin. Aber da in keinem Massenmedium eine Parteilichkeit gegen die Grundlinie des Massenmediums möglich ist, für das jemand arbeitet, muss es hier eine Art Übereinkunft geben. Man hätte ja auch anders inszenieren können, und wer sich an die Berichte über den Regierungsantritt der österreichischen Regierung »Schüssel I« erinnert, kennt auch das massenmediale Gegenstück dazu. Auf die Theorie angewendet, zeigen sich also • prohairesis, das »Entschlossensein« der Berichterstatterin, in der • dýnamis, der »Kraft und Fähigkeit« in bestimmter Weise zu sprechen, der Berichterstatterin, und • die Selbstbezüglichkeit im positiven zustimmenden Inhalt des Textes, der das Massenmedium zum Parteigänger Blairs macht. • Dementsprechend bedarf es hier keiner Selbstinszenierung der Berichterstatterin im Namen ihres Massenmediums  : Indem sie den Einzug Blairs ins Haus Downing Street Nr. 10 nachinszeniert und mit dem Auszug Majors verknüpft, passt sie der prohairesis, welche die Person und das Programm Blairs unterstützen, die Bilder an.

Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhetorik  : 247

Oder anders ausgedrückt  : Von der Vielzahl der Wahrnehmungsmöglichkeiten entscheidet sich die Berichterstatterin für die ihre und transportiert diese weiter, sodass das Ereignis, das der Rezipient wahrnimmt, ein Verdichtetes ist, das er nun nach seinem Schema weiterdeuten kann. Nach Joachim Knape liegt somit die Kategorie Präsenzsimulation vor, ich als Rezipient nehme jedoch die Simulation selbstverständlich als Realität, wie es Friedrich Kittler beschreibt. Man darf freilich nicht von vorneherein unterstellen, dass dahinter ein kalkulierendes Wollen der Berichterstatterin oder des Massenmediums steht. Diese Vorgänge sind vielmehr durch das Sosein der Menschen und der Systeme bestimmt, eher durch eine »Ontologie einer kalkulierenden Masse« im Sinne Friedrich Kittlers als durch einen Herausgeber- oder Intendantenwillen. Denn die Berichterstatterin beobachtet nicht wesentlich anders, als ich es beim Ereignis selber getan hätte, wenn wahrscheinlich auch ohne die dazugehörige Reflexion, sondern ganz unmittelbar, und deshalb darf man annehmen, dass sie – eher aufgrund einer Disposition und nicht aufgrund eines Kalküls – das Ereignis auch so empfunden hat, wie sie es weitergibt, und – auf das Massenmedium Fernsehen bezogen – dass es ihr auch erlaubt war, so wahrzunehmen (das ist die systemische Seite). Der Bericht über den Einzug Tony Blairs in das Haus Downing Street Nr. 10 von der »namenlosen« Reporterin ist also so, als ob sie das Ereignis weitererzählte, und weil wir, sie und ich, »Bedeutungen von Symbolen teilen«, identifiziere ich mich mit ihrer Sicht und unterstelle actoritas veritatis und nicht imitatio veritatis, eine Voraussetzung zur Persuasion, wiewohl massenmediale Darstellung zwangsläufig immer auch etwas von imitatio hat, weil sie nicht unabhängig inszeniert, sondern Inszenierung nachvollzieht, vergleichbar einem Regisseur, der Theaterstücke auf der Bühne realisiert.

248 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

1.2.3 Versuch: Beschreibung des Oratorethos des Fernsehberichtes

Die Schlüsselfrage ist nun  : Woraus habe ich eigentlich alle diese Aussagen abgeleitet  ? Die Antworten darauf zeigen, worauf es beim Oratorethos in der Medienrhetorik, beim »Reden in Massenmedien« wirklich ankommt  : Ich habe sie abgeleitet 1. aus der Stimme der Berichterstatterin, 2. aus der massenmedialen Inszenierung, z. B. Fokussierung auf das Gesicht Blairs, z. B. auch aus der zeitlichen Verdichtung von zwei Ereignissen vorm Haus Downing Street 10, sowie aus der Mimik und Gestik der Personen, die im Fernsehbericht sichtbar waren, die ich als Einheit wegen der Einheitlichkeit des Berichtes wahrgenommen habe  ; 3. aus dem Inhalt der Wörter Blairs, und aus dem Kommentar der Berichterstatterin, die ich wieder als Einheit wahrgenommen habe, wobei dies natürlich ein Merkmal von Massenmedien ist, dass beide als aufeinander bezogen inszeniert werden  ; 4. aus der physischen Erscheinung und der Stimme des Orators Blair, die ein Teil seiner physischen Erscheinung ist, 5. schließlich aus meinem eigenen Selbstbild und meinen eigenen Wert- und Lebensauffassungen. 1.2.4 Vergleich zwischen individueller Wahrnehmung und Wahrnehmung durch Massenmedien

Diese Eindrücke wurden mir durch den Filmbericht vermittelt, und daher folgt daraus eine weitere Frage  : Hätte ich diese Informationen, diese Signale auch zur Verfügung gehabt, wenn ich unmittelbar dabei gewesen wäre  ? Wenn ich mitten in der Masse gestanden wäre  ? Habe ich also durch die Wahrnehmung des Ereignisses durch das Massenmedium eine andere Wahrnehmung, als es die direkte wäre, und ich

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merke mir auch gleich die Frage  : Was kann ich, wenn es so wäre, daraus für das Reden in Massenmedien und außerhalb von Massenmedien lernen  ? Diese Frage gehört einerseits zur Rhetorik, andererseits erweitert sie die Rhetorik aber auch und zeigt, dass man, auch wenn man über Detailaspekte der Rhetorik redet, immer übers Ganze der Vermittlung redet. Denn einerseits wird die Welt sehr wohl über Rhetorik wahrgenommen, nämlich über den Inhalt der Rede, gleichzeitig berührt sie aber auch die gesamte Medienästhetik, also die Frage, wie ich die Welt durch Massenmedien wahrnehme. Wenn wir uns nun vorstellen, wir wären dabei gewesen, können wir sehr schnell feststellen, dass Vieles von dem, was ein Massenmedienbericht vermittelt, durch unmittelbare Wahrnehmung nicht wahrgenommen werden hätte können  : Wahrnehmen kann man bei unmittelbarer Teilnahme am Ereignis 1. Mimik und Gestik des Orators Blair und Mimik und Gestik von Mitgliedern des Auditoriums, aber nicht als Einheit, sondern getrennt  ; 2. die physische Erscheinung und die Stimme des Orators Blair  ; 3. den Inhalt der Wörter des Orators Blair, bzw. von Mitgliedern des Auditoriums. Nicht wahrnehmen hätte ein Teilnehmer können 1. die Stimme einer Berichterstatterin, weil ja keine da wäre, daher auch nicht den Kommentar einer Berichterstatterin, weil ja auch keiner da wäre  ; freilich würde man Kommentare anderer Anwesender mitbekommen, aber keinesfalls als Einheit mit den Aussagen des Orators, auch nur teilweise bezogen aufeinander, wenn sie in eine Kommunikation eingebettet wäre, aber ansonsten eher unabhängig und getrennt  ;

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2. die massenmediale Inszenierung  ; man würde während des Ereignisses kaum so stark den Platz wechseln können, wie es durch den Filmschnitt geschieht, und daher ständig aus einem bestimmten räumlichen Blickwinkel das Ereignis betrachten  ; man würde daher auch nie das Gesicht Blairs groß und ganz nahe sehen  ; auch würden sich in unmittelbarer Wahrnehmung niemals die beiden Ereignisse vorm Haus Downing Street 10, Einzug Blairs und Auszug Majors, zu einem verdichten. 1.2.5 Das Ergebnis des Vergleichs: »Produktions- und Präsentationstechniken« als Bezugspunkt der Selbstbezüglichkeit

Aus diesem Vergleich zwischen der unmittelbaren Wahrnehmung eines Ereignisses durch einen Beobachter und der Wahrnehmung des Ereignisses über die Massenmedien gewinnt man Einsichten über das Element Selbstbezüglichkeit des »Oratorethos« der Massenmedien, die über das Bisherige hinausgehen  : Ich erinnere an die Darstellung der Selbstbezüglichkeit der Massenmedien nach dem Bühler’schen Kommunikationsmodell. Aufgrund der Beobachtung wird der Orator des Ereignisses in einer massenmedialen Rhetorik selbst zu einem Teil dessen, was im Bühler’schen Modell »Gegenstände und Sachverhalte« heißt und damit Gegenstand der Inszenierung. Die Inszenierung ist tatsächlich durch die Produktionstechniken bestimmt, welche die unmittelbare Wahrnehmung zu zerteilen und sie wieder neu zusammenzusetzen in der Lage sind. Das kann natürlich nicht beliebig passieren, sondern folgt selber genauen Regeln, die auf die Wahrnehmung der Rezipienten Bezug nehmen. Diese Regeln, die medienästhetisch erfasst werden können, sind • Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung und • Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden.

Über Bedingungen des Redens in Massenmedien – Medienrhetorik  : 251

Wie erfolgt im Fernsehbericht die Raumauflösung  ? Indem die Kamera ständig die Position wechselt und man den Weg, den der Kameramann dabei zurücklegen muss, nicht sieht. Der Weg wird gewissermaßen »zeitlos« zurückgelegt, als ob sich der Zuschauer »beamen« könnte, was nur aufgrund der Produktionstechnik möglich ist  : Ein großer Teil des Weges wird inklusive Zeit, die man bräuchte, um ihn zurückzulegen, herausgeschnitten. Dabei entsteht auch das Empfinden einer anderen Art von Raum  : ein »virtueller« Raum, den es in unserem alltäglichen Leben nicht gibt, weil es eben nicht möglich ist, beliebig und ohne Rücksicht auf die Zeit von Platz zu Platz zu springen. Durch die medialen Produktionstechniken werden Zeit und Raum so verdichtet, dass eine neue Art von Raumwahrnehmung entsteht, die es ohne diese Techniken nicht gäbe. Der »virtuelle Raum« ist also keine neue Art von Raum, sondern eine neue Art, Raum wahrzunehmen. Der »Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung« entspricht auf der Zeitebene die »Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung«. Was passiert da  ? Da wird die Zeit zerteilt, während der Raum im wesentlichen gleich bleibt – ich habe z. B. darauf aufmerksam gemacht, dass die beiden Episoden »Einzug Blairs« und »Auszug Majors« zeitlich auseinander lagen, aber im Bericht wie gleichzeitig erscheinen. Daraus sieht man auch, dass die beiden Formen – Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung und Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden – in einer engen Beziehung zueinander stehen, denn Raumauflösung ist immer auch mit Zeitauflösung verbunden  ; zumindest die Zeit, die man bei der Raumauflösung für den Positionswechsel bräuchte, ist gelöscht, und deshalb entsprechen die Positionen gewissermaßen wieder Episoden. 2. Der Berichterstatter als Zeuge und Erzähler

Worin besteht nun der Bezug zur Wahrnehmung des Rezipienten, sodass das Ereignis in massenmedialer Wahrnehmung nicht »un-

252 :  Rhetorik: Über die Vermittlung der Welt

wirklich« erscheint  ? Es liegt daran, dass jeder Mensch auch im Alltag diese Formen der Wahrnehmungsverdichtung verwendet, wenn er sich erinnert oder jemandem etwas erzählt. Auch da erzählen Menschen einander nicht eins zu eins, sondern schneiden Zeitabschnitte heraus und fügen das Erlebte zu Episoden zusammen, entsprechend ihrer Deutung der Wahrnehmung aufgrund ihrer Wert- und Lebensauffassungen. Und nicht anders machen es die Massenmedien, weil sie auch nicht alles eins zu eins wiedergeben können, und auch sie machen es entsprechend der Deutung der Wahrnehmung durch ihre Berichterstatter aufgrund ihrer Wert- und Lebensauffassungen, deren Rahmen allerdings durch die Wert- und Lebensauffassungen des Massenmediensystems eingeengt ist, sodass sich das Oratorethos des Berichterstatters mit dem der Massenmedien verwischt. Mit anderen Wörtern  : Die Berichterstatter der Massenmedien orientieren sich in ihrer Rhetorenrolle bei der für die Vermittlung notwendigen Wahrnehmungsverdichtung an jenen Teilen eines Ereignisses, die sie entsprechend der Kompatibilität ihrer Selbstbezüglichkeit mit der ihres Massenmediums im Vermittlungsprozess unterstützt, die Rezipienten von ihrer Deutung der Wahrnehmung des Ereignisses zu überzeugen – nicht anders als es alle Menschen, mit dem, was sie erleben, in ihrem alltäglichen Leben tun.

I. Einleitung Mein Zugang zu den Zeichen, welche die Botschaften in der Vermittlung tragen und sie in der Vorstellung imaginieren und visualisieren, ist durch eine persönliche Erfahrung geprägt, die ich vor vielen Jahren machte  : Als ich im Zuge meines Studiums die Berichte über die Wanderung der Israeliten durch die Wüste aus dem Buch der Geschichte Israels las, die mich besonders interessierte, weil es keine Geschichte der Herrscher ist, sondern der einfachen Menschen, fast in der Art einer oral history, nahmen mich die Texte bald so sehr gefangen, dass ich nach einiger Zeit die brennende Sonne im Nacken spürte, den Schweiß der Dahinziehenden roch, den Staub schluckte, den die Herden aufwirbelten… Ich las wie in einem Expeditionstagebuch. Und je länger der Treck in meinem Kopf dauerte, desto unzufriedener wurde ich, genauso wie die Israeliten. Plötzlich verstand ich genau so wenig, wie es nach den Berichten die anderen Nomaden taten, warum sie, deren Zahl so groß war wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meer, warum sie nicht auf direktem Weg ins kultivierte Land marschierten, das nicht weiter weg war als ein, zwei Tagesmärsche, warum sie nicht einfach die Städte eroberten, die dekadenten Bürger ausraubten und den Bann an ihnen vollstreckten – ganz abgesehen von der Verheißung. War der Gott, der sie tags als Wolke und nachts als Feuersäule anführte, viel­leicht doch nicht so mächtig wie die Götter der Städte  ? Manna, Wachteln und Felswasser – bei meiner Nomadenehre, da stimmte doch was nicht. Als ich an diesem Punkt meiner Identifikation mit den israelitischen Nomaden angekommen war, weigerte ich mich wie sie, weiter-

256 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

zumarschieren, wobei ich dies aber im Ge­gensatz zu ihnen voll der Gnade der Nachgeborenen ohne jedes Risiko tat. Ich stieg aus meiner Reise in die Vergangenheit einfach aus. Die Geschichte war nicht plausibel, ergo, folgerte ich, entweder waren sie doch nicht so viele, wie ihnen Moses weismachen wollte, und daher zu schwach, das von gedrillten Soldaten bewachte Kulturland in Besitz zu nehmen, oder es war gar nicht ihr Ziel, sondern sie zogen umher, weil es ihnen im Nomadenblut lag. Oder der Bericht war nur eine Parabel, ein Gleichnis, ein Märchen, mit dem ganz andere Ereignisse überliefert werden sollten, solche, die durch ein Dutzend Brillen der historischen Tradition betrachtet nur wie ein Wüstenzug mit fe­ ster Verheißung aussahen  : eine Projektion von Träumen und Begierden aus Nomadenhirnen in die Wirklichkeit des Nomadenalltags… Diese Erfahrung, dass ich mir immer Ereignisse, Deutungen und Wert- und Lebensauffassungen bildlich vorstellte, imaginierte, wenn ich von ihnen hörte oder las, und sie dann an meinen eigenen Bildern von der Welt, meinen eigenen Deutungen, meinen Erfahrungen oder an denen anderer prüfte, begann ich danach bewusst als Methode einzusetzen, sowohl um Antworten auf Fragen im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit zu entwickeln, als auch Entscheidungen für die Bewältigung meines alltäglichen Lebens zu finden  ; und diese Methode erwies sich bald als so brauchbar, dass ich daraus folgerte, dass jeder Mensch, der halbwegs mit Verstand ausgestattet ist, sich auf diese Weise die Welt erschließe und Verständnis von ihr gewinne. So begann ich über den Prozess selber nachzudenken, wobei ich andere beobachtete, wie sie beurteilten und zu Ergebnissen kamen, mit ihnen darüber redete und las, was wieder andere darüber dachten, bis sich in mir ein Bild verdichtete, wie Menschen zu Wahrnehmungsdeutungen kommen könnten, von welchen sie meinen, dass es Erkenntnisse der Wirklichkeit seien.

II. Fragestellungen und eine Antwort-Hypothese 1. Der Ausgangspunkt: Anschaulichkeit als Voraussetzung gelingender Vermittlung

Das Phänomen, dass mithilfe von Metaphern, Sprachbildern, die bei Bedarf visualisiert werden, Inhalte anschaulich gemacht werden, spielt bei jeder Art der Vermittlung die zentrale Rolle, gleichgültig, ob Menschen einfach miteinander reden, ob es sich um Wissenschafter im Diskurs untereinander handelt, um den Unterricht von Schülern an Schulen und Studenten an Universitäten oder um die allgemeine Verbreitung von Erkenntnissen oder Sichtweisen durch Massenmedien  : (11) Das Gelingen des Vermittlungsprozesses hängt davon ab, wie die zu vermittelnden Inhalte in Zeichn und Bilder gefasst, das heißt, anschaulich gemacht werden.

Diese Erfahrung ist bereits vielfach behandelt und untersucht worden, vor allem in Zusammenhang mit Rhetoriktheorien  : Bereits Aristoteles unterscheidet zwischen enérgeia – »Wirksamkeit, Tätigkeit, Betätigung« und enárgeia – »Deutlichkeit, Anschaulichkeit«, wobei der Gleichklang sowohl zu Verwechslungen als auch zu Identifikationen der beiden Begriffe geführt hat. Als evidentia – »konkrete Veranschaulichung« und subiectio ad oculos – »Vor-Augen-Stellung/Führung« gilt Veranschaulichung als zentrales Element der römischen Rhetorik. Heute wird die Verwendung visualisierender Präsentationsformen empfohlen, mit dem Ziel, andere von der eigenen Position zu überzeugen.

258 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung 2. Fragen: Welcher Natur sind Bilder und Zeichen und wie werden sie für die Veranschaulichung ausgewählt?

In diesem dritten Teil der »Vermittelten Welt« soll auch die Frage gestellt werden, nach welchen Gesichtspunkten Bilder und Zeichen zur Veranschaulichung der Inhalte in konkreten Vermittlungsprozessen gewählt oder generiert werden  : Ist etwa die Umsetzung der Inhalte in Bilder vor allem Ausfluss der Kreativität des Vermittelnden oder zumindest derjenigen, die Bildelemente dafür in ClipArt- und anderen Dateien zur Verfügung stellen  ? Oder gibt es vielleicht ein Reservoir oder Repertoire, einen Thesaurus in der Art eines »Zeichenbuchs«, aus dem der Vermittelnde nach »Sprachgebrauch« auswählt  ? Und wenn es einen solchen Thesaurus gäbe  : Wie wurden diese Bilder erzeugt, die sich darin befinden  ? Nach der Psychoanalyse verarbeitet das Ich die vom Unbewussten freigegebenen Inhalte zu Bildern. Oder als weitere Frage  : Erneuert sich auch der Bestand an Zeichen wie die Wörter bei einem Wörterbuch, indem alte ausgeschieden und neue hinzugefügt werden, und wenn es so sei, nach welchen Kriterien wird ausgeschieden und hinzugefügt  ? Nach der Häufigkeit des Gebrauchs  ? Vielleicht ist die Frage überhaupt falsch und es geht gar nicht um Bilder, die sich Menschen machen, sondern um Abbilder (im weitesten Sinn), wie es Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus behauptet (2.141)  : »Das Bild ist eine Tatsache.« Oder (4.022)  : »Der Satz zeigt seinen Sinn. Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist«  ? Dieses als »Abbildtheorie« bezeichnete Verhältnis von Bildern zur Wirklichkeit, die als unmittelbar durch die Sinnesorgane wahrnehmbar verstanden wird, findet sich erstmals in der von den griechischen Atomisten Leukipp und Demokrit vertretenen materialistischen Lehre, nach der jede Erkenntnis nur eine Abbildung oder Widerspiegelung dieser als unabhängig vom Subjekt angenommenen Wirklichkeit sei. Erkenntnistheoretisch begründet wurde die Abbildtheorie durch Aristoteles. Sie war auch konstitutiv für seine Ästhetik, insofern als

Fragestellungen und eine Antwort-Hypothese  :

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Aristoteles Kunst als mimesis – »Nachahmung« der Natur definierte, deren oftmals wahrgenommene Unvollkommenheit durch den Künstler quasi »perfektioniert« werde. Ihm folgt auch Thomas von Aquin (1224–1274) mit der Formel adaequatio intellectus et rei – »Entsprechung von Vorstellung und Sache«. Im neuzeitlichen Empirismus von Francis Bacon (1561–1626), George Berkeley (1685–1753) und John Locke (1632–1704) wie auch im Positivismus und Materialismus, die bis heute technische und Naturwissenschaften bestimmen, wird diese als Scientismus oder Kognitivismus bezeichnete Position in naivrealistischer Weise weiter tradiert  : Dem objektiv realen Gegenstand stehe ein erkennendes Subjekt gegenüber, das den Gegenstand »ideell«, heißt in Vorstellung, Urteil, Theorie, abbilde oder nachbilde, oder noch schärfer unter Einfluss der dialektisch-materialistischen Abbildtheorie formuliert, dass sich im Bewusstsein des Menschen als Subjekt die materielle Welt (auch die Klassen- und Produktionsverhältnisse) adäquat widerspiegele. Sprache wird hier als ein (abstrahiertes) Abbild der Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein begriffen. Die Abbildtheorie steht im Gegensatz zur Sprachinhaltsforschung, auch »inhaltbezogene Sprachbetrachtung, inhaltbezogene Sprachwissenschaft« genannt. Sie wurde in der Bonner Schule von Leo Weisgerber (1899–1985) entwickelt und untersucht besonders die semantische Seite der Sprache. Grundposition der Sprachinhaltsforschung ist, dass sich in verschiedenen Sprachen unterschiedliche, die jeweilige »Weltansicht« repräsentierende »Zwischenwelten« konstituierten, in denen die Wirklichkeit durch die sprachlichen »Zugriffe« des Menschen gegliedert werde. Oder anders ausgedrückt  : Sprache sei nicht Abbild der Wirklichkeit, sondern deren tätige Anverwandlung, sodass sie auch unterschiedlich ausgeprägte Weltsichten zum Ausdruck bringe. Mit dieser (im Gegensatz zur genannten scientistischen oder kognitivistischen) schon konstruktivistischen Sicht knüpft die Sprachinhaltsforschung an Wilhelm von Humboldts (1767–1835) Auffassung von Sprache als Energeia an, die das Denken des Menschen präge. Energeia

260 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

steht dabei als Begriff für eine dynamische, prozesshafte Sprachauffassung gegen die Auffassung von Sprache als statisches Produkt (Ergon). Auf diese ursprünglich nach dem Energeia-Begriff Humboldts »energetisch« genannte Sprachauffassung geht auch die generative Grammatik Avram Noam Chomskys zurück. Ähnliche Ansätze bezüglich der Funktion von Sprache im Erkenntnisprozess finden sich in der amerikanischen Ethnolinguistik, speziell in der »Sapir-Whorf-Hypothese«, die meiner Auffassung nach jedoch nicht haltbar ist. Es stellt sich auch die Frage nach Wesen und Art der Bilder und Zeichen  : In welchem Verhältnis sie etwa zur Wirklichkeit stehen, von der ich ja behaupte, dass wir Menschen keinen unmittelbaren Zugang zu ihr und kein unmittelbares Verständnis von ihr hätten, sondern dass sie uns vermittelt werden müsse. Oder – eine strukturelle Frage  : Soll man grundsätzlich zwischen Bildern und Zeichen unterscheiden und dann die Zeichen – Seme, wie es die Semiotik nahe legt, als verdichtende Mittel der Visualisierung von Imaginationen verstehen  – sowohl im Hinblick auf mathematische Modelle als auch als Reflex der mythologischen Traditionen des Denkens, wie es Carl Gustav Jung (1875–1961) in seiner Archetypenlehre tut  ?

3. Eine Hypothese als erster Schritt zu einer Antwort: Die Bilder und Zeichen des Vermittlungsprozesses bestimmen bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess

Das »Planetenmodell« des Atoms von Ernest Rutherford (1871– 1937), das im Folgenden als Fallbeispiel gewählt wird, gibt jedenfalls eindeutige Hinweise darauf, (12) dass Bilder und Zeichen nicht erst für den Vermittlungsprozess generiert werden, sondern bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess bestimmen.

Fragestellungen und eine Antwort-Hypothese  :

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Als Hypothese formuliert  : Das Ergebnis eines Denkprozesses wird bestimmt von den Imaginationen, den Verbildlichungen von Vorstellungen, die im kognitiven Prozess zu neuen Vorstellungen verknüpft werden. Oder einfach ausgedrückt  : Menschen vermitteln einander Bilder und denken in Bildern. Unter Vorstellung wird hier entsprechend der Verwendung des Begriffs in der Psychologie ein im Bewusstsein erlebter, gegebener Inhalt (z. B. eine Erinnerung, ein Fantasiegebilde) verstanden. Sie sind anschaulich und unterscheiden sich durch diese Anschaulichkeit von den Verknüpfungsprozessen des Denkens. Vorstellungen wären demnach verarbeitete, im Gedächtnis strukturiert gespeicherte Erinnerungen an Wahrnehmungen von Phänomenen der Wirklichkeit, entsprechend der in der Vorrede dargelegten Präsumtionen, also die psychischen Abbilder der nach Sinnes- und Selbstwahrnehmung im Bewusstsein gegenwärtigen Bilder. Unter Imagination wird hier die Fähigkeit des bildhaft anschaulichen Vorstellens, z. B. des Ersinnens von Situationen, verstanden. Dies würde auch bedeuten, dass es keinen wesentlichen Unterschied gibt zwischen dem kognitiven Prozess, der zu Erkenntnissen, auch wissenschaftlichen, führt, und dem Prozess, mit dem diese Erkenntnisse anderen vermittelt und einsichtig gemacht werden, indem die neue Vorstellung durch Verbildlichung expliziert wird. Anschaulichkeit – als Grundlage des »Bildersprechens« – hätte damit, was hiermit unterstellt wird, wie eine Münze zwei Seiten  : die eine wäre die Visualisierung im Vermittlungs-, die andere die Imagination im Denkprozess. Wenn dies tatsächlich zuträfe, dann müssten beide Prozesse den Spielregeln der Vermittlung unterliegen und daher auch mit dem methodischen Instrumentarium der Vermittlungstheorie und der Kommunikationswissenschaften untersucht werden können. Es würde sich dadurch auch ein spezieller Zugang zur Antwort auf die Frage eröffnen, ob Zeichen und Symbole als verdichtende Mittel der Visualisierung von Imaginationen verstanden werden dürfen  : Da-

262 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

nach müssten Zeichen und Symbole tatsächlich verdichtete Formen der Visualisierungen – und damit wieder selber Bilder – sein. Die Hypothese, dass die Bilder nicht erst für den Vermittlungsprozess generiert werden, sondern bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess bestimmen, wirft aber gleich auch neue Fragen auf, die, wenn man sich mit ihnen beschäftigen wollte, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würden. Vor allem  : Unterscheiden sich kognitive Prozesse, die zu Erkenntnis führen, von kreativen, durch die Kunstwerke hervorgebracht werden  ? Anders formuliert  : Wie sieht es mit der Imagination in der Kunst aus  ? Konkret  : Werden vom Maler seine Bilder, vom Schriftsteller seine literarischen Werke auch so imaginiert, wie es hier für Denkergebnisse angenommen wird  ? Oder  : Entstehen Musikwerke auch durch »Komposition« von »Vorstellungen«  ? Und, wenn man schon zu fragen anfängt  : Stehen dann hinter Gefühlen auch Imaginationen  ? Schließlich  : Was läuft im Hirn physiologisch ab, wenn imaginiert wird, und ist dieser Prozess vielleicht sogar in EEG-Mustern erkennbar  ? Nach dem herrschenden wissenschaftlichen Weltbild sind es nämlich gerade die Ergebnisse der Hirnforschung, aber auch psychologische Theorien, die es nahelegen, diese Fragen als Prüfkriterien für die Hypothese zuzulassen, dass die Bilder und Zeichen nicht erst für den Kommunikationsprozess zum Beispiel von Forschungsergebnissen generiert werden, sondern bereits den vorhergehenden Erkenntnisprozess bestimmen, auch wenn sich bei mir bei diesem Gedanken sofort das Gefühl der Rückkoppelung und der Resonanz einstellt.

III. Versuch einer Rekonstruktion des Erkenntnisprozesses 1. Fallbeispiel: Das »Planetenmodell« des Atoms

Die Geschichte der Entwicklung des »Planetenmodells« des Atoms, das Ernest Rutherford 1911 entworfen hat, zeigt in besonderer Weise die Doppelrolle von Zeichen, einmal für die Vermittlung als Instrument der Anschaulichkeit durch Visualisierung in der Wissenschaft, zum anderen als Elemente der Imagination im Denkprozess. Denn sie stellt sich besonders klar als »Bildergeschichte« dar, als Geschichte der Verknüpfung von Imaginationen, die Annahmen repräsentieren und Experiment-Ergebnisse deuten, und als deren Visualisierungen im wissenschaftlichen Diskurs sowie schließlich in der Veröffentlichung. Als Rutherford daran ging, ein Modell für den Aufbau der Materie zu entwickeln, gab es bereits einen Konsens darüber, ein den Physikern gemeinsames Bild, dass die Materie aus Atomen aufgebaut und deren Masse auf räumlich sehr kleine Zentren konzentriert sei. Der britische Physiker Joseph John Thomson (1856–1940) hatte, nachdem er das Elektron erfunden hatte, schon ein Modell entwickelt, nach dem das Atom aus einer in einer Kugel diffus verteilten positiven elektrischen Ladung bestand, in die Elektronen – so die Umsetzung ins Bild vom italienischen Physiker Emilio Segrè – »wie Weinbeeren in einem Pudding« (andere sprechen vom »Erdbeermodell«) eingelagert seien. Aber dieses Modell konnte Rutherford aufgrund von Beobachtungen, die sich nicht in dieses Bild einfügen ließen, nicht akzeptieren  : Aus verschiedenen Streuexperimenten hatte er – entsprechend

264 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

den damals gültigen Regeln seiner Disziplin Physik – geschlossen, dass Alphateilchen, wenn man sie auf Materialien schießt, in großen Winkeln streuen können, und das sprach gegen das Thomson-Modell. Hätte Thomson nämlich mit der Sache, die er mit seinem Bild beschrieb, Recht gehabt, hätte es – so Rutherford – keine Streuung geben dürfen. Das liegt daran, dass, wenn Alphateilchen auf ein solcherart konstruiertes Atom getroffen wären, in das Atom eindringen hätten müssen, dabei in eine Region mit dem mittleren Feld Null gelangen hätten müssen und daher auch nicht abgelenkt werden hätten können. Damit war das Thomson-Modell als unbrauchbar erwiesen. Aus der Biografie Rutherfords von Emilio Segrè ist bekannt, wie er weiter arbeitete  : Er imaginierte entsprechend seinen Einsichten ein neues Bild. Dabei griff er – so Segrè – auch auf Gedanken des japanischen Physikers Hirohito Nagaoka zurück, der bereits eine Art »Planetenmodell« für das Atom erwogen und publiziert hatte. Rutherford ging bei seinem Bild davon aus, dass die gesamte positive Ladung und die Masse auf kleinem Raum im Zentrum konzentriert seien, das er »Nucleus – Kern« nannte, und dieser Kern sollte von Elektronen umkreist werden, deren Zahl in einem bestimmten Verhältnis zur Masse des Kerns stand  ; die elektrostatische Anziehung zwischen dem positiv geladenen Kern und den negativ geladenen Elektronen sollte das Atom zusammenhalten – so wie die Gravitation das Sonnensystem. Entsprechend diesem Bild entwarf Rutherford 1911 ein Experiment, mit dem er Aufschlüsse über Größe und Dimensionen des Atomkerns erhalten wollte  : Er bestrahlte dünne Goldfolien mit Alpha-Strahlen und beobachtete deren Ablenkung. Das Experiment brachte als Ergebnis, dass die meisten Alpha-Strahlen die dicht gepackten Goldatome der Goldfolie fast ohne jede Ablenkung durchdrangen, also keinen Goldatomkern getroffen haben konnten, jedoch etwa jedes 20.000ste zurückprallte. Rutherford zog den Schluss daraus, dass das Atom ein nahezu leeres räumliches Gebilde sein musste, mit einer Materiekonzentration im Kern. Und er berechnete aus dem Verhältnis der unbe-

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einflusst durchgegangenen zu den abgelenkten Alpha-Strahlen einen Kerndurchmesser des Goldes von rund 10–15 Metern, den Durchmesser des Goldatoms selber aber als 100.000 Mal größer, 10–10 Meter. Und damit hielt er für bewiesen, was er sich schon vorher nach dem Vorbild des Sonnensystems gedacht hatte  : Um einen positiv geladenen Kern herum kreisen – wie die Planeten um die Sonne – negativ geladene Elektronen, und dementsprechend erhielt das Modell auch gleich bei seiner Veröffentlichung den Namen »Planetenmodell«. Die andere Seite der Anschaulichkeit dieses Fallbeispiels – die Visualisierung im Vermittlungsprozess – wird durch die Rezeption des Rutherford’schen Atommodells repräsentiert  : Schon seine Veröffentlichung erregte Aufsehen, es wurde schnell populär und noch wenn man heute – hundert Jahre später – jemanden, der kein Physiker ist, fragt, wie die Materie aufgebaut sei, dann wird er genau dieses Bild des »Planetenmodells« erzählen, weil er es seit seinen Schultagen, oder sogar schon seit früher, im Kopf hat – ungeachtet der Tatsache, dass dieses Modell heute in der Physik gar nicht mehr akzeptiert wird. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Wirkung von Anschaulichkeit im Weltbild-Bildungsprozess  !

2. Anschaulichkeit und wissenschaftlicher Fortschritt

Wie stark Anschaulichkeit im Sinne von Denkprozessen als implizite Imaginationen in Wissenschaftergehirnen, die dann für den wissenschaftlichen Diskurs expliziert wurden, die Voraussetzung für den wissenschaftlichen Fortschritt war, zeigen auch die Forschungen des Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer. Fischer konnte durch akribische Studien der Biografien berühmter »wissenschaftlicher Revolutionäre« zeigen, dass ein »Paradigmenwechsel« in der Wissenschaft nur dann zustande kommt, wenn eine forschende Person ein ganz neues Bild imaginiert.

266 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

Johannes Kepler (1571–1630), der mit seinen Arbeiten die so genannte »kopernikanische Wende« in der Wissenschaft tatsächlich vollzog, beschrieb dies mit folgenden Worten  : »Ich weiß, dass meine Erkenntnis richtig ist, wenn meine Seele aufleuchtet.« Und Keplers Seele leuchtete auf, weil im kopernikanischen System seine äußeren und inneren Bilder zur Deckung kamen. Es ist auch bekannt, welches »neue« Bild Kepler imaginierte  : In ihm als überzeugtem Christen hatte sich ein Bild von Gottes trinitarischer – dreifaltiger Schöpferkraft entwickelt  : Gott als Sonne im Zentrum, die Erdumrundung als Ewigkeit, der Sonnenstrahl als Schöpfungsinstrument. Bei Kepler waren es also vor allem religiöse Gründe, die ihn das neue Paradigma annehmen und überzeugend begründen ließen, und das ist deshalb besonders interessant, weil die Kirche als Hüterin der religiösen Wahrheit damals eine andere, aus der Sicht Keplers »nicht religiöse« Position vertrat. Dieses sogenannte heliozentrische Weltbild wiederum war eines der Bilder, aus denen William Harvey (1578–1657) sein neues Bild des Blutkreislaufes im eigentlichen Sinn des Wortes imaginierte, denn er entwickelte sein Bild vom Blutkreislauf allein durch Nachdenken und Vorstellungskraft. Harveys wichtigstes Bild war die auch für Keplers Planetenbahnen bestimmende zirkulierende Bewegung, die als ewiges Prinzip schon das Denken des Aristoteles bestimmte. Diese Auffassung wurde durch die Beobachtung der Zirkulation des Wassers in Verdunstung und Niederschlag bestätigt, und von den Neuplatonikern der Renaissance wurde diese Bewegung zu einem universalen Prinzip erhoben. Schließlich folgte Harvey Aristoteles auch in dessen Metaphern vom Herzen als »Herrscher über die Organe« und als »Feuerstelle des Körpers«, von der aus Wärme und Leben in alle anderen Körperteile fließen. Harvey übertrug die kosmischen Verhältnisse auf den menschlichen Körper und verknüpfte die Bilder – nicht anders als es Rutherford, wie im Fallbeispiel beschrieben, für sein Atommodell mit den

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kosmischen Verhältnissen seiner Zeit tat  : Die Wärme und damit das Leben werde durch das Blut, das durch den Körper zirkuliert, vom Herzen aus in die anderen Körperteile gebracht. Der starken Bewegung des arteriellen Blutes aus dem Herzen stellt Harvey eine zentripedale Eigenbewegung des Blutes gegenüber, die sich im venösen Teil des Kreislaufs manifestiere. Arterien und Venen, stellt Harvey fest, würden sich nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden, ebenso glichen sich rechte und linke Herzkammer strukturell wie funktional. Das arterielle sei daher das gleiche wie das venöse Blut, und den bis dahin rätselhaften Herzschlag erklärt Harvey als Wechselbeziehung zwischen einströmendem Blut und dem darauf reagierenden Herzen. »Die Vorstellung, dass Mikro- und Makrokosmos sich entsprechen, die Bezeichnung des Herzens als Sonne des Mikrokosmos, und die Idee der vollendeten Kreisbahn bezeugen die philosophische und intuitiv spekulative Seite des Naturforschers Harvey. Aber die philosophischen Leitideen und spekulativen Überlegungen verschmelzen mit den Ergebnissen exakter Untersuchungen«, schrieb Nikolaus Mani 1961 über Harvey. Durch Anwendung von Bildern auf den menschlichen Körper und deren Verknüpfung mit eigenen Beobachtungen imaginierte Harvey ein Bild des Blutkreislaufs, das einen Paradigmenwechsel im physiologischen Verständnis des Menschen bedeutete und von daher auch auf andere Disziplinen Einfluss nahm  : zum Beispiel nach einer umfangreichen Untersuchung des amerikanischen Soziologen Richard Sennett (geb. 1943) auf den Städtebau und Modellbildungen für das Funktionieren von Verkehr und Wirtschaft. Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist die Entdeckung des Sauerstoffs durch den französischen Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794). Außer Lavoisier suchte damals auch ein Engländer namens Joseph Priestley (1733–1804) nach einer Theorie der Verbrennung. Lavoisier hatte nachgewiesen, dass Elemente, die verbrennen, schwerer werden  ; das zusätzliche Gewicht musste also aus der Luft kommen. Obwohl diese Daten veröffentlicht und Priestley

268 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

daher bekannt waren, imaginierte nur Lavoisier ein neues Bild und prüfte es an der Wahrnehmung. So kam er zum Schluss, dass Luft aus zwei verschiedenen Teilen bestehen müsse, von denen eben einer beim Verbrennen gebunden werde, während Priestley im »alten« Bild der Elemente (»Feuer, Wasser, Luft, Erde«) gefangen blieb – oder anders ausgedrückt  : nicht imaginierte. Ein gut bekanntes Beispiel für die Imagination von Erkenntnis in einem Forscherhirn aus unserem Jahrhundert ist Niels Bohr (1885– 1962), der nach eigenem Bericht das Atommodell träumte, das die Postulate von Rutherfords »Planetenmodell« in ein neues physikalisches Weltbild umsetzte. Auch von William Harvey wird übrigens berichtet, dass er das Bild des Blutkreislaufs geträumt habe. Die Bedeutung der Imagination für den Fortschritt der Wissenschaft unterstreicht schließlich der von Albert Einstein überlieferte Ausspruch »Imagination is more important than knowledge« – Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.

3. Das »Postulat der Anschaulichkeit«

Anschaulichkeit in der Form der Visualisierung als Voraussetzung für Kommunikation wie Vermittlung und als den kognitiven Prozess tragende Imagination lässt sich also durch die gesamte Geschichte der Wissenschaft verfolgen  : So wurde im Mittelalter das Lebensprinzip, die Seele, als eine Art ätherisches Abziehbild des Körpers anschaulich gemacht. In Abbildungen ist die Seele immer wieder als kleines Menschlein dargestellt, wie es beim Tod den sterblichen Körper verlässt, um ins ewige Leben einzugehen. Zu Beginn der Neuzeit, nachdem sich – zumindest in der Wissenschaft – die materialistisch-deterministische Sichtweise der Welt durchzusetzen begonnen hatte, stellte man sich das Innenleben des Menschen entsprechend der zuerst vervollkommneten Technik, der

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Mechanik, wie das der damaligen mechanischen Puppen vor, und prinzipiell hat sich an dieser Sichtweise bis heute nicht viel geändert. Da hatte René Descartes (1596–1650) einen großen Anteil daran – wie auch die von ihm eingeführte Unterscheidung zwischen den beiden Substanzen res extensa (Ausdehnung, Körper, Außenwelt) und res cogitans (Geist, Innenwelt), der sogenannte »metaphysische Dualismus« Descartes’, der bis heute die Grundlage der Unterscheidung von Subjekt und Objekt geblieben ist. Auch diese Unterscheidung entspricht übrigens vollkommen den Bedingungen der Anschaulichkeit  ; man kann sie nämlich, wie es schon Aristoteles angedacht hatte, als Substanz und das Prinzip, das dieser Substanz Form gibt, ins Bild setzen, oder, bezogen auf den Weltbild-Horizont des »Planetenmodells des Atoms« von Ernest Rutherford, als die Elementarteilchen, aus denen die Atome aufgebaut sind, und die Regeln oder Gesetze, nach denen sie aus diesen Elementarteilchen konstruiert sind. Auf der Grundlage solcher Beobachtungen in allen Phasen der Wissenschaftsgeschichte hat im Jahr 1984 der Berliner Neuropsychologe Hellmuth Benesch in seinem Buch Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge … Zur Psychologie der Weltanschauungen das Postulat der Anschaulichkeit formuliert. Es besagt, dass von jedem, der durch Forschen und Nachdenken zum Bild von der Welt beiträgt, erwartet wird (sowohl von ihm selber als auch von denen, denen er es vermittelt), dass seine Beiträge, wie es sich eben für ein Welt-Bild gehört, anschaulich sind. Offenbar handelt es sich hierbei um ein Prinzip (die res cogitans im Sinne Descartes) menschlichen Denkens, das für jede Art der Weltbildgestaltung unverzichtbar ist. Und das bedeutet, dass es auch in jeder wissenschaftlichen Theorie impliziert ist, die ja als nichts anderes verstanden werden kann, als ein »Weltbild« oder zumindest als ein Teil davon.

IV. Allgemeine theoretische Grundlagen für die Verifikation der Hypothese 1. Psychologische Grundlagen der Anschaulichkeit

Dass das Postulat der Anschaulichkeit für die Konstitution von Weltbildern wesenhaft ist, spiegelt sich auch in besonderer Weise im begründeten Weltbild der Psychologie, und zwar in den Theorien darüber, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, dass sie in Bildern denken und die Ergebnisse ihres Denkens immer imaginieren, in Bilder fassen. Denn das Postulat der Anschaulichkeit korrespondiert mit den derzeit gültigen wissenschaftlichen Theorien über die Prozesse, mit denen unser Hirn uns selbst und seine Umwelt wahrnimmt, diese Wahrnehmungen verarbeitet und ordnet, im Gedächtnis repräsentiert, daraus wiederum in Reaktion auf auf uns eindringende Ereignisse (Aktionen) uns selbst und unsere Umwelt deutet und auf der Grundlage dieser Deutungen Planungen und in der Folge davon konkrete Handlungen generiert, mit denen wir auf diese Ereignisse reagieren. Alle diese Prozesse zusammen wirken sich nach den psychologischen Theorien durch Rückkopplungen permanent auf das Weltbild aus, woraus sich auch ergibt, dass dieses Weltbild entsprechend den Erfahrungen des Menschen ständig korrigiert, ergänzt und weiter ausgestaltet werden kann und wird. Übrigens  : Auch hinter dem Begriff »Rückkopplung« verbirgt sich ein Bild. Denn unter »Rückkopplung« oder »Feedback« versteht man in der Technik die Zurückführung eines Teils der Ausgangsgröße eines Systems auf dessen Eingang, z. B. zum Zweck der Regelung  : bei Verstärkern speziell die Rückwirkung einer der Ausgangsspannung proportionalen Signalspannung in den Eingangskreis

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oder auf eine Steuerelektrode, z. B. das Steuergitter einer Elektronenröhre. Aus dem technischen wurde der Begriff in den psychologischen Sprachgebrauch übernommen, und zwar als Bild für den Vorgang, dass eine Rückmeldung über das eigene Verhalten Einfluss auf dieses Verhalten nehme, entweder als Verhaltensänderung, wenn eine negative Rückmeldung erfolgt, oder bei positivem Feedback als Bestärkung. Im Folgenden werden einige dieser Prozesse, die für die Fragestellung von Bedeutung sind (aber nicht alle), nach Wolfgang Schönpflug zusammengefasst, wie er sie in mehreren Publikationen mit großer theoretischer Spannbreite beschrieben hat, wobei diese Beschreibungen selber starke immanente Bildbezüge aufweisen  : Danach geht heute die Psychologie davon aus, dass Menschen in ihrem Bewusstsein (im Gehirn), aber auch in einem »neuronalen, unbewusst bleibendem Medium« ein Bild von dem Ausschnitt der Welt haben, in dem sie leben, und ebenso ein Bild von ihrer Person, und beides verstehen sie trotz des steten Wandels dieses Bildes als realitätsgetreue Abbildung. Diese Abbildung nimmt ihren Ausgang bei einzelnen Sinnesempfindungen, die in ihrer Gesamtheit zu räumlich und zeitlich gegliederten Bildern organisiert und weiter zu Mustern verallgemeinert werden. Bezogen auf das Fallbeispiel »Planetenmodell des Atoms« von Ernest Rutherford und seine allgemeine Akzeptanz entspricht den einzelnen aus den Sinnesempfindungen organisierten Bildern etwa das Ringelspiel oder die Drehschaukel auf Kirtagen, die als Assoziationen im Zusammenhang mit der Beschreibung des Fallbeispiels von den Studierenden genannt wurden. Fasst man, in der Diktion der klassischen Definitionslehre, beide Bilder, die mit den Begriffen »Drehschaukel« und »Ringelspiel« bezeichnet werden, unter einem genus proximum – einem Gattungsbegriff zusammen, unter dem beide Begriffe, und damit die dazugehörigen Bilder, Platz haben – in diesem konkreten Fall wäre der Gattungsbegriff Karussell  : »auf Jahrmärkten oder Volksfesten aufgestellte, sich im Kreis drehende große, runde

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Bahn mit verschiedenartigen Aufbauten, auf denen sitzend im Kreis herumgefahren wird« –, entspricht dies einem Muster oder pattern. Aber dieses pattern ist nicht das Einzige, was das »Planetenmodell des Atoms« so anschaulich macht, und dass man es sich so leicht merken kann. Die Anschaulichkeit des Modells wird wesentlich durch das »Wissen« unterstützt, dass auch unser Sonnensystem so aufgebaut ist und es gibt eindeutige Hinweise, dass für Rutherford tatsächlich auch das Sonnensystem »Bildmuster« war. Anders ausgedrückt  : das Muster hat sich schon vorher einmal bei der Deutung von Phänomenen bewährt, und diese Analogie, der selbst wieder ein solches Muster zugrunde liegt, erhöht die Akzeptanz. Das Muster der Analogie ist zum Beispiel in der »fraktalen Geometrie« manifest, die im Gegensatz zu den in der euklidischen Geometrie behandelten Formen wie Gerade und Kreis komplexe Gebilde und Erscheinungen, eben »Fraktale« darstellt, die ähnlich auch in der Natur vorkommen, z. B. Küstenlinien, Gebirgszüge oder verschiedene biologische Strukturen. Fraktale sind selbstähnlich, das heißt, jeder Ausschnitt einer fraktalen Figur ähnelt bei entsprechender Vergrößerung dem Gesamtobjekt. Die psychologische Theorie geht davon aus, dass die Welt in unseren Gehirnen und im genannten »neuronalen, unbewusst bleibendem Medium«, in solchen pattern gewissermaßen verallgemeinert repräsentiert ist. Dies ist auch eine der wesentlichen Voraussetzung für das assoziative Lernen (nach der Klassifikation von Walter Edelmann). Diese pattern sind so gesehen Abstraktionen aus der Fülle der Abbildungen der Umwelt und ihrer Ereignisse im Gehirn und als solche relativ stabil. In ihrer Summe stellen sie das eigentliche Weltbild dar und damit umgekehrt auch den Rahmen und oft auch die Grenzen für die Wahrnehmung neuer Bilder, die stets an solchen Mustern gemessen werden und die es nicht nur für Bilder im engeren Sinn gibt, sondern auch für das Verhalten (Schemata und Stereotypien) und die Bewertungen dieses Verhaltens (Werte bzw. Motivationen und Klischees).

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Diese Prozesse schaffen die Grundlagen unseres Imaginierens und damit unseres Denkens. Auf diesen Grundlagen, also aus den Elementen der aus den Wahrnehmungen organisierten Bilder, kann der Mensch – ich zitiere aus dem Korpus der psychologischen Theorien, vornehmlich der Kognitionspsychologie, sinngemäß weiter – aus den Elementen der aus den Wahrnehmungen organisierten Bilder kann der Mensch entsprechend den pattern, die sein Gehirn daraus verallgemeinert hat, Bilder seiner Umwelt und seiner Person herstellen, die über seine Wahrnehmungen hinausgehen und die dann als Vorstellungen, also Imaginationen, bezeichnet werden. Ein klassisches Beispiel dafür ist Pegasus, das göttliche geflügelte Pferd des Bellerophon, eines Heros der griechischen Mythologie mit, unter anderem auch aufgrund der Überlieferung, für uns Heutige komplizierter Lebensgeschichte, der drei schwere Aufgaben erledigen muss, bevor er die Tochter des Königs von Lykien zur Frau erhält und das halbe Königreich dazu. Jedenfalls ist dieser Pegasos eines jener »Bilder«, das nach einem offensichtlich gespeicherten Muster »fliegendes Objekt« aus den Elementen »Pferd« und »Vogel« in der Art einer Analogie in der Vorstellung synthetisiert wurde. Und ebenso ist die Idee Rutherfords, ein Planetenmodell des Atoms einem Experiment zugrunde zu legen, ein Beispiel für die auf der Grundlage von Mustern erfolgende Herstellung von Bildern, die über die Wahrnehmung hinausgehen. Dieser Prozess lässt sich ebenfalls mit der Lerntheorie verknüpfen und zwar sowohl als Voraussetzung wiederum des assoziativen, aber auch des kognitiven Lernens, mit dem neues Wissen erworben und neue Begriffe gebildet werden, insofern als unseren Gehirnen wohl auch ein Muster zur Begriffsbildung zur Verfügung steht. Nicht nur durch diese Verknüpfung mit der Lerntheorie wird klar, dass die Bilder menschlicher Vorstellungen, nicht (auch, aber nicht nur) primär biogen, also im Hirn allein, generiert, sondern wesentlich auch durch Einflüsse von außen bestimmt werden, nämlich durch

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gesellschaftliche Erfahrungen, speziell durch Beziehungen – welche sowohl die Voraussetzung für jedes erfolgreiche Lernen, als auch das Mittel zur Selbstvergewisserung der eigenen Weltbilder schlechthin sind, die sich in Beziehungen bewähren müssen und so ständig einer Überprüfung unterworfen sind. Die Qualität von Beziehungen drückt sich nach den sehr vielfältigen und unterschiedlichen Theorien der Emotionspsychologie in Gefühlen aus, die als Folge der Erfüllung bzw. Nichterfüllung von Erwartungen entstehen. Folgt man den Denkmodellen der Emotionspsychologie, kann man festhalten, dass diese Gefühle mit Motivationen verknüpft sind, die sich bei entsprechender Kontinuität zum Wert verdichten und so – als Bewertungsmuster – Bestandteil des Weltbildes werden. Und eine der zentralen Motivationen ist die Sicherung von Beziehungen durch Kommunikation und Vermittlung.

2. Anschaulichkeit als Bedingung von Vermittlung und Kommunikation

Kommunikation ist nach dem Wiener Kommunikationswissenschafter Roland Burkart, daran sei an dieser Stelle erinnert, eine »spezielle Form der sozialen Interaktion, nämlich wenn sich Menschen im Hinblick aufeinander kommunikativ verhalten und sich dabei erfolgreich Bedeutungen vermitteln«, das heißt, dass diese Menschen »danach diese Bedeutungen teilen« und »gemeinsam einen semantischen Raum bewohnen« – wie es mit einem Bild ausgedrückt wird, das auf die Notwendigkeit der Anschaulichkeit in der Vermittlung Bezug nimmt. Das ist, wenn man die Fragmentierung der Gesellschaft betrachtet, kein banaler Vorgang. Mit dem Begriff fragmentierte Gesellschaft habe ich die Verfasstheit von Kommunitäten beschrieben, die sich entsprechend des zugrunde liegenden Modells »aus sozialen Fragmenten

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von Menschen ähnlicher Herkunft, ähnli­cher Lebensschicksale und Erfahrungen, ähnlicher Bildung und Berufe, mit gemeinsamen In­ teressen und weitgehend gemeinsamen Wert- und Lebensauffassungen, also Weltbildern« zusammensetzen. Eine Folgerung aus diesem »Modell der fragmentierten Gesellschaft« ist, dass sich die ähnliche Herkunft, die ähnli­chen Lebens­ schicksale und Erfahrungen, die ähnliche Bildung sowie die gemein­ samen In­ teressen und vor allem die gemeinsamen Wert- und Lebensauffassungen, also das gemeinsame Weltbild der einzelnen Fragmente, in einer gemeinsamen Fragment-Sprache ausdrücken, in einem Soziolekt in der Terminologie der klassischen Soziolinguistik, die man auch als Sprache der gemeinsamen Bilder bezeichnen könnte. Kommunikation ist demnach solange eher unproblematisch, als sie zwischen Mitgliedern ein und desselben Fragments stattfindet. Kommt es jedoch zu einer Kommunikation zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Fragmente, und das ist in einer Kommunität ständig der Fall – zum Beispiel, wenn Ärzte mit Patienten oder Lehrer mit Schülern oder Professoren mit Studenten oder Wissenschafter mit Journalisten oder auch Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen miteinander reden –, ist das Verständnis zwischen den Kommunikationspartnern aufgrund der unterschiedlichen Herkunft, der unterschiedlichen Lebensschicksale und Erfahrungen, der unterschiedlichen Bildung sowie der unterschiedlichen In­teressen und vor allem der unterschiedlichen Wert- und Lebensauffassungen, also des unterschiedlichen Weltbildes, nicht mehr so leicht möglich, wie Ruth Wodak, Florian Menz und Johanna Lalouschek in ihrem Buch Sprachbarrieren. Die Verständigungskrise der Gesellschaft belegen. Es kommt zu Missverständnissen und damit zu Konflikten, die der Beziehung abträglich sind. Oder wie es der deutsche Soziologe Niklas Luhmann in seinem Buch Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität formuliert (S. 24)  : »Je individueller, idiosynkratischer, absonderlicher der eigene Standpunkt und die eigene Weltsicht, desto unwahrscheinlicher wird der Konsens und das

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Interesse bei anderen. […] So bedrängt, wird jeder vernünftige Adressat die Flucht ergreifen oder doch versuchen, die sich andeutenden personalen Bezüge der Kommunikation zu ignorieren und taktvoll ins Unpersönliche der ›anonym‹ konstituierten Welt überzuleiten.« Nachdem aber eine der zentralen Motivationen die Sicherung von Beziehungen durch Kommunikation und Vermittlung ist, wie früher dargelegt wurde, verwenden die Kommunikationspartner unterschiedlicher Fragmente, wenn sie Missverständnisse und damit Konflikte vermeiden wollen, Strategien, um ihre Kommunikation gelingen zu lassen. Und diese Strategien finden sie in der gemeinsamen Schnittmenge der Bilder von der Welt, in der sie gemeinsam leben, die sie in ihrem Bewusstsein, aber auch in einem neuronalen, unbewusst bleibendem Medium haben, und sie finden sie ebenfalls in der Schnittmenge ihrer pattern, nach deren Modell sie gemeinsame Bilder generieren können. Sie sprechen gewissermaßen in Bildern, die sie gemeinsam haben, und in Bildern, die sie gemeinsam imaginieren, um so den gemeinsamen (virtuellen) semantischen Raum zu konstituieren, in dem sie sich verstehen können. Im Alltag wird dieser Prozess oft sprachlich angekündigt, dann, wenn einer sagt  : »Das musst du dir so vorstellen wie …«, oder  : »Das stelle ich mir so vor wie …«. Diese Vorgangsweise des »Bildersprechens« ist aber keineswegs nur auf Gespräche zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Fragmente beschränkt. Sie gilt genauso für die intrafragmentelle Kommunikation und Vermittlung, mit dem Unterschied, dass in diesem Fall die gemeinsamen Bilder eines der Elemente sind, welche das Fragment konstituieren. Auf das Fallbeispiel »Planetenmodell« des Atoms von Rutherford bezogen könnte dann ein Grundschullehrer zu einem Schulanfänger oder eine Physikstudentin zu ihrem Freund, der Betriebswirtschaft studiert, oder Rutherford selbst zu einem Journalisten etwa sagen  : »Das musst du dir so vorstellen wie die Drehschaukel am Scheiflinger

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Kirtag, nur ohne die Ketten, an denen die Sitze befestigt sind.« Sie alle würden für diese Aussage das gleiche Muster benützen wie Albert Einstein, als er bei einem Abendessen seinen Gastgebern auf ihre Bitte hin die Telegraphie spontan so erklärte  : »Die Telegraphie stellen sie sich vor wie einen Hund. Wenn sie ihn am Schwanz ziehen, dann bellt er.« – »Und die drahtlose Telegraphie  ?« wurde er weiter gefragt. Einsteins Antwort  : »Da denken Sie sich einfach den Hund weg.« Damit erhält das Postulat der Anschaulichkeit, wie es im Kommunikations- und Vermittlungsprozess stets erfüllt werden muss, wenn er erfolgreich sein soll, seine eigentliche Begründung aus der Motivation, Kommunikation und Vermittlung gelingen zu lassen  : Durch Anschaulichkeit werden Gedanken und Ideen sowohl in der Wissenschaft als auch im Alltag expliziert und damit kommunizier- und vermittelbar gemacht. Die Grundlage der Anschaulichkeit ist das Verständnis des Denkprozesses als Imagination, weil die Gedanken und Ideen entsprechend den psychologischen Theorien nicht erst bei ihrer Explikation anschaulich gemacht werden, sondern bereits bei ihrer Erzeugung im Kopf Bildcharakter haben, und das ist auch der Grund, dass sie überhaupt in kommunizierbaren Bildern dargestellt werden können.

3. Das »Postulat der Anschaulichkeit« und die »neuen« Medien

Das Postulat der Anschaulichkeit, das sich im Denken in Bildern und im Kommunizieren durch Bilder äußert, lässt darauf schließen, dass es sich bei der Imagination um eine zentrale anthropologische Konstante der Erkenntnis- und Deutungsfähigkeit des Menschen handelt. Die Belege dafür seit der Antike, welche z. B. in Allegorik und Symbolik die Leistungskraft der Imaginationsfähigkeit des Menschen eindrucksvoll beweisen, weil sie in diesen Zeiten auch geübt wurde, sind in den Museen und Bibliotheken gesammelt. Sie zeigen durchgehend

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ein hohes Bildbewusstsein und damit verbunden klar formulierte Intentionen für Anschaulichkeit. Diese Sammlungen zeigen aber auch, dass, seit sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts das materialistisch-deterministischen Weltbild mithilfe der Technik als faktisch alleiniges Gestaltungsinstrument der Welt durchgesetzt hat, die Imagination als Instrument der Erkenntnis- und Deutungsfähigkeit des Menschen keine Bedeutung mehr zu haben scheint. Tatsächlich braucht ein Forschungsbetrieb, der die Wirklichkeit selber besitzt und sie in detailgenauen Abbildern beliebig multiplizieren kann, keine Imaginationen mehr. Damit wurden die Bilder frei für den Markt, wie er sich seit Anfang der 1990er-Jahre stürmisch in den Informations- und Kommunikationstechnologien als typisches Kind der modernen Technik etabliert. Seit PC und Internet gibt es keinen Lebensbereich mehr, der nicht mithilfe der leicht handhabbaren »neuen« bildorientierten elektronischen Massenmedien mit ihren normierten Bildversatzstücken gleichgeschaltet wird. Schon ein oberflächlicher Blick auf die entwickelten Lehr- und Verbreitungsmittel wissenschaftlicher Tätigkeit zeigt, dass dieser Gleichschaltung auch Imagination und Anschaulichkeit als (nur noch ehemalige) Träger der Kreation, Kommunikation und Vermittlung von Weltbildern und Weltbildteilen nicht entkommen konnten  : Erkenntnis wird nur mehr selten mithilfe von Imaginationen gewonnen, die, expliziert, Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses wurden und weitere Imaginationen hervorrufen, sondern Imagination wird ersetzt durch die Auswahl von Bildversatzstücken aus einem Katalog, die nur den Eindruck von Anschaulichkeit erzeugen, aber nicht das Postulat der Anschaulichkeit erfüllen. Man braucht nur zu beobachten, welche Anerkennung bei Vorträgen und Präsentationen einige nach einer begrenzten Anzahl von normierten Vorlagen erstellte Folien hervorrufen, auf denen zumeist nur der Text steht, den der Vortragende verliest, und wie positiv selbst schlechteste PowerPoint-Präsentationen aufgenommen werden, wenn nur ein paar Grafiken animiert sind. Offenbar

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glaubt die Mehrzahl der Präsentatoren, abgesichert durch den Normsatz der zur Verfügung gestellten Hilfsmittel, nach dem Motto »Jeder ein geborener Regisseur, Übersetzer und Illustrator«, dass Imagination durch in vielfältigen Seminaren der »Handbuch-Rhetorik« erlernbare Visualisierungsmethoden überflüssig geworden sei und Vermitteln aus dieser Art von Visualisierung bestehe. Das Gleiche gilt sogar für sogenannte wissenschaftliche Beiträge in Fernsehmagazinen  : In den meisten Fällen sind die Bilder und Animationen bestenfalls emotionalisierende, stimmungserzeugende Bildmusik zu viel zu komplexen Inhalten, die gleichzeitig sprachlich angeboten werden  ; die Bilder – zum Großteil Bildversatzstücke aus den Archiven, die mindestens schon einmal für eine Sensation einzustehen hatten – machen gar nichts anschaulich, sondern suggerieren nur das Gefühl eines tieferen Verständnisses – möglicherweise allein aufgrund des Umstandes, dass die Zuschauer die Bilder wiedererkennen. Dieses Vermittlungsproblem hat der TV-Kritiker Bernward Wember als erster am 11. Dezember 1975 in einer Sendung im ZDF mit dem Titel »Wie informiert das Fernsehen  ?« bewusst gemacht. Die bemerkenswerte Sendung und die zahlreichen Reaktionen von Kommunikations- und Medienwissenschaftern und Zuhörern sind 1976 als Buch erschienen.

V. Überlegungen zur Natur der den Erkenntnis- und Visualisierungsprozess tragenden Bilder und Zeichen 1. Kategorien der Visualisierung

Analysiert man das Fallbeispiel »Planetenmodell« von Ernest Rutherford, spielen dabei verschiedene Kategorien von Visualisierungen eine Rolle  : Mehrheitlich sind es gezeichnete schematische räumliche Darstellungen, wie Alphateilchen beim Durchtritt durch Materie gestreut werden, wobei ihre Bahn durch Vektoren dargestellt wird. Der begleitende Text zeigt eindeutig, dass sich diese Phänomene in der physikalischen Wirklichkeit anders darstellen würden, wenn man sie tatsächlich direkt beobachten könnte. Denn Faktum ist, dass es bis heute nicht möglich ist, den Durchgang bzw. die Streuung von Alphateilchen durch Materie mit bloßem Auge zu beobachten, sodass man etwa eine Fotografie davon machen oder einen Film drehen könnte wie von einer Pistolenkugel vom Abschuss aus der Pistole bis zum Auftreffen auf bzw. das Durchschlagen des Ziels. Rutherford erschloss die Streuung der Alphateilchen vielmehr aus Bildern, die ihm seine Experimente lieferten  : Alphateilchen können nämlich nur indirekt sichtbar gemacht werden, ihre Bahnen zur Zeit Rutherfords ausschließlich in einer sogenannten »Nebelkammer«, das ist ein spezielles physikalisches Gerät zum Sichtbarmachen der Spuren elektrisch geladener atomarer Teilchen in übersättigten Dämpfen. Die Bilder, die in einer solchen Nebelkammer fotografiert werden, zeigen nicht die Alphateilchen auf ihrer Flugbahn, sondern

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aufgefädelte kleinste Wassertröpfchen, die sich an Ionen, die entlang der Flugbahn der Alphateilchen entstanden, aus Dampf kondensiert haben. Die Bilder, die Rutherford also sah und aus dem er sein Atommodell letztendlich entwickelte, waren nur einige helle Linien auf schwarzem Grund. Für Rutherford waren diese Linien die Zeichen für den Weg, auf dem die Alphateilchen durch die Nebelkammer geflogen sein mussten. Dass die hellen Linien Zeichen für den Weg der Alphateilchen waren, war aber tatsächlich das Ergebnis seiner vielschichtigen und komplexen Interpretation dieser Zeichen aufgrund seines physikalischen Weltbildes. In den gezeichneten schematischen räumlichen Bildern sind also Imaginationen von Sir Ernest Rutherford visualisiert, seine Vorstellungen der Bahnen von Alphateilchen beim Durchdringen von Materie durch Streuung an den Atomkernen. Die dritte Kategorie von Visualisierungen, die man im Zusammenhang mit Rutherfords Erkenntnisprozess findet, sind Formeln, welche mithilfe mathematischer Symbole die Beziehungen visualisieren, die zwischen Atomen und Alphastrahlen herrschen  : »Die Anzahl derjenigen Alphateilchen, die auf einen unter einem Raumwinkel dω zum Target aufgestellten Schirm auftreffen, ist pro Teilchen, das auf das Target mit n Atomen pro Volumeneinheit und einer Dicke t einfällt, durch nt dσ/dω gegeben mit dσ/dω = (2Ze2/mv2) ∙ 1/sin4(θ/2) wobei θ der Streuwinkel ist, v die Geschwindigkeit der Teilchen und m ihre Masse, und die Masse des Kerns im Vergleich zu m als unendlich groß angesetzt wird.« Diese Formel »formalisiert«, wie ja der Begriff Formel aussagt, die Beschreibung des Bildes, welches Rutherford im Zuge der Interpretation der Nebelkammerbilder seiner Experimente imaginiert haben muss.

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Und schließlich gibt es noch eine vierte Kategorie von Visualisierung, nämlich jene, mit denen Rutherford seine Erkenntnis auch Nicht-Fachleuten zugänglich machte  : die Bezeichnung »Planetenmodell« für seine neue Darstellung des Atoms, weil scheinbar analog dem Planetensystem aufgebaut, wobei nach der Hypothese das »Muster« Planetensystem den kognitiven Prozess bestimmte, der zum Entwurf des neuen Atommodells führte. Es lassen sich also vier Arten von Visualisierungen der Imaginationen im Erkenntnisprozess Rutherfords identifizieren  : die gezeichnete schematische räumliche Darstellung der Streuung der Alphateilchen, Nebelkammerfotos als Zeichen für die Bahnen der Alphateilchen, aus denen deren Streuung abgeleitet wird, eine physikalische Formel, welche mithilfe mathematischer Symbole die Beziehungen visualisiert, die zwischen Atomen und Alphastrahlen herrschen, und schließlich das Planetensystem als »Metapher«, mit der Rutherford seine Imagination des Atommodells kommunizierte. Das Ergebnis überrascht  : Denn streng betrachtet ist keine der genannten Visualisierungen ein »Bild« des Atoms in dem Sinne, dass sie Rutherfords Vorstellung vom Atom so »abbilden« würde, dass es keiner weiteren Erklärung bedürfte. Vielmehr bedarf jede der Visualisierungen einer Interpretation, um die Vorstellung Rutherfords vom Atom einer Person, die nicht Rutherford ist, zu vermitteln. Anders ausgedrückt  : Alle Visualisierungen verweisen den Betrachter auf die Vorstellung Rutherfords vom Atom, ohne die Vorstellung wirklich abzubilden. Und das ist die Definition dessen, was in der Semiotik Zeichen genannt wird.

2. Die Lehre von den Zeichen: Semiotik

Die deutsche Umgangssprache verbindet mit dem Wort »Zeichen« ein breites semantisches Feld  : Unter Zeichen versteht man verschiedene

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sinnlich wahrnehmbare Hinweise und Signale (Warnsignale, Verkehrszeichen), sichtbare oder hörbare Objekte und Ereignisse, schriftliche oder bildliche Darstellungen und Figuren, Sinnbilder, Symbole, Abzeichen, (Schrift-, Merk-, Fragezeichen  ; Tierkreis-, Kreuzzeichen), aber auch Merkmale, Kennzeichen, Anzeichen und Symptome. Im gleichen oder ähnlichen Sinn wie das Wort »Zeichen« wird eine ganze Reihe von sinnverwandten Wörtern gebraucht  : Signal, Symbol, Sinnbild, Merkmal (kennzeichnende Eigenschaft), Kennzeichen (charakteristisches Merkmal), Anzeichen (meistens  : Zeichen von etwas Kommendem), Symptom, um die wichtigsten zu nennen. Um Zeichen aber zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen, ist es erforderlich, diesen im alltäglichen Sprachgebrauch derart oft und mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendeten Begriff zu definieren, was man unter einem Zeichen versteht und was nicht. Was Zeichen zu Zeichen macht und wofür sie stehen, darüber wurden in der wissenschaftlichen Disziplin »Semiotik« verschiedene Theorien entwickelt, mit denen unterschiedliche Zeichenarten und Zeichensysteme beschrieben und die den Zeichenbenutzern zur Verfügung stehenden semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten erklärt werden. Gegenstand der Semiotik ist somit die Erforschung der Strukturen und Abläufe von Zeichen- und Verstehensprozessen. Unter dem Begriff »semiotische Erkenntnistheorien« werden alle zeichentheoretischen Grundlagen und Probleme des Erkenntnisaktes zusammengefasst. Dabei unterscheidet man zwischen repräsentationistischen und instrumentalistischen Zeichentheorien  ; die repräsentationistischen sehen die Bedeutung eines Zeichens in dem, wofür das Zeichen steht, die instrumentalistischen darin, was etwas zum Zeichen macht. Für diese Untersuchung ist vor allem die repräsentationistische Zeichenauffassung von Bedeutung, die besagt, dass grundsätzlich alles sinnlich Wahrnehmbare als Zeichen fungieren kann – vorausgesetzt,

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es steht stellvertretend für etwas anderes. Darunter versteht man jede wahrnehmbare Gegebenheit, die mit einem bestimmten (vereinbarten) Bedeutungs- bzw. Informationsinhalt auftritt und eine andere Gegebenheit repräsentiert bzw. diese bezeichnet oder darstellt. Zeichen, die von den meisten als solche anerkannt werden, sind z. B. Wörter, Verkehrstafeln (etwa das Zeichen, das auf eine Kreuzung hinweist), der Signalpfiff eines Schiedsrichters oder die hohe Temperatur eines kranken Menschen. Auch die Bilder, welche physikalische Experimente liefern, z. B. die Bilder aus der »Nebelkammer« im Fallbeispiel »Atommodell Rutherfords«, sind Zeichen. Allen diesen Zeichen ist gemeinsam, dass sie in einer speziellen Beziehung zu etwas anderem stehen (was auch immer vorerst dieses »etwas« sei) und dieses repräsentieren oder anzeigen. Die auffälligste Eigenschaft von Zeichen wäre so gesehen also, dass sie dem Zeichenbenutzer etwas vergegenwärtigen können, ohne selbst dieses etwas zu sein. Demnach stellt die wohl einfachste Version aller möglichen Zeichentheorien die so genannte »Zwei-Ding-Theorie« dar. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass ein Zeichen ein Ding sei, das für ein anderes Ding stehe  : aliquid stat pro aliquo. Das Zeichen steht also für das Bezeichnete, wie Rauch für Feuer oder ein bestimmtes Wort für Sachen und Begriffe. Schematisch ließe sich das wie folgt darstellen  :



Ding 1 (= Zeichen) Rauch

o

Ding 2 (= Bezeichnetes)

Wort

o

o

Feuer

Sachen und Begriffe

Betrachtet man diese Theorie aber näher, wird deutlich, dass sie nur auf eine Minderheit aller Zeichen tatsächlich zutrifft. Sie kann ausschließlich für Zeichensysteme angewandt werden, die absichtlich so konstruiert wurden, dass jedem Ding 1 genau ein Ding 2 entspricht. Ein Beispiel dafür wäre das System der mathematischen Symbole. Was aber die natürlichen Sprachen als historisch tradierte Kommuni-

Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisprozess tragenden Bilder und Zeichen  :

285

kationssysteme betrifft, so stimmt ein einzelnes Wort nur sehr selten genau mit einer Sache überein. Das Zeichen kann in solchen Systemen also nicht 1  : 1 mit dem Bezeichneten gesetzt werden. Dies wird bereits in der Formulierung des deutschen Mathematikers und Philosophen Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848–1925) deutlich, der an Aristoteles anknüpfend eine Zeichentheorie vertritt, nach der »kommunizieren« bedeute, jemand anderem Ideen, Begriffe, Konzepte u. a. zu übermitteln, indem man ihm »Stellvertreter« dieser Ideen und Begriffe anbiete. Kein Mensch, so Frege, habe unmittelbaren Zugang zu den Ideen eines anderen, dieser Zugang werde ihm erst durch Zeichen ermöglicht, die für die jeweiligen Ideen stehen. Aristoteles zentrale zeichentheoretische Aussage lautete  : »Es sind also die phonai – Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, symbola – Zeichen der in der Seele hervorgerufenen pathemata – Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute.« Und als Konsequenz daraus  : »Das System unserer Begriffe ist kein Spiegel der Welt, sondern ein Spiegel unserer Auseinandersetzung mit der Welt.« Konsequent im Sinne der Sprache als zentrales Zeichensystem der Kommunikation, wie sie Aristoteles und Frege verstanden, betrachtete der schweizerische Sprachforscher Ferdinand de Saussure (1857– 1913) nur die sprachlichen Zeichen  : »Die Sprache ist ein System von Zeichen, die Ideen ausdrücken und insofern mit der Schrift, dem Taubstummenalphabet, den symbolischen Riten, Höflichkeitsformen, militärischen Signalen usw. vergleichbar sind. Nur ist die Sprache das Wichtigste der Systeme. Man kann sich also eine Wissenschaft vorstellen, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht […].« Für de Saussure ist wie für Aristoteles das sprachliche Zeichen also nicht ein Name für eine Sache, sondern ein Lautbild für eine Vorstellung. Wenn Zeichen also nicht direkt für das Bezeichnete (im Sinne von konkreten Dingen) stehen, stellt sich erneut die Frage nach der Natur dieses etwas, das sie repräsentieren.

286 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

Der amerikanische Philosoph und Mathematiker Charles Sanders Peirce (1839–1914), einer der Mitbegründer der modernen Semiotik, sieht im Zusammenhang mit Zeichen nun sowohl eine Verbindung zum bezeichneten Objekt als auch zu einem »interpretierenden Bewusstsein«. Daraus ergibt sich eine triadische – »dreiheitliche« Relation eines Zeichens zwischen sich selbst (dem Repräsentamen), einem Objekt (das muss kein real existierendes oder gar materielles Objekt sein) und der Wirkung des Repräsentamens im Bewusstsein eines Interpreten bzw. einem Interpretanten (dem interpretierenden Bewusstsein). Ein Zeichen oder Repräsentamen kann – so Umberto Eco – etwas Beliebiges sein, »das für jemanden in einer gewissen Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht«. Bei Zeichen müsse also immer gefragt werden, wofür sie stehen, um sie zu verstehen, und das heiße, sie interpretieren. Zeichen, formuliert Rudi Keller in seiner »Zeichentheorie«, sind mehr oder weniger deutliche Hinweise, die zu Schlüssen herausfordern. Für gewöhnlich wird Peirces triadische Relation in Form eines Dreiecks veranschaulicht  : Interpretant



Repräsentamen Objekt

Peirce zufolge weist jedes Zeichen sowohl einen Bezug zu sich selbst, wie auch einen Bezug zum Interpretanten und einen Bezug zum Objekt auf. Am stärksten wirkte sich in der weiteren Diskussion die Relation zwischen Repräsentamen und Objekt – also die Zeichen-Objekt-Beziehung aus. Hier unterscheidet Peirce drei Typen von Zeichen  : Icon, Index und Symbol. Von einem Zeichen als Index spricht Peirce, wenn es in einem Folge-Verhältnis – in einer realen raum-zeitlichen Be-

Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisprozess tragenden Bilder und Zeichen  :

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ziehung – zum Bezeichneten steht. So wäre zum Beispiel Rauch ein Zeichen für Feuer, oder Fieber ein Zeichen für Krankheit. Ein Icon ist ein Zeichen nach Peirce dann, wenn eine Beziehung zum Gegenstand auf ein Abbildverhältnis, d. h. auf Ähnlichkeiten, beruht. Diese Ähnlichkeiten können optischer Natur sein, z. B. Piktogramme (»Bildzeichen«), oder lautlicher Natur, z. B. onomatopoetische Ausdrücke (Klänge nachahmende, lautmalende Wörter), ebenso Diagramme, Muster, Strukturen, Metaphern u. a. Von daher kommt auch die Bezeichnung Icon, englisch »Bild«, »Ikone« (von griechisch eikone) in der Informatik für die Bildzeichen auf der grafischen Benutzeroberflächen, mit denen Objekte (z. B. Geräte, Dateien), Zustände oder Aktionen dargestellt werden, die durch Mausklick aktiviert werden können. Symbolische Zeichen oder Symbole sind nach Peirce schließlich jene, deren Beziehung zum Gegenstand weder auf einem Folgeverhältnis noch auf Ähnlichkeit beruht. Ihre Beziehung zum Objekt ist durch eine Regel festgelegt, also konventionalisiert. Die Laut- und Schriftzeichen der menschlichen Sprache sind in Peirces Verständnis ebenso wie mathematische Zeichen fast ausschließlich Symbole. Diese Systematik von Peirce auf das Fallbeispiel »Planetenmodell« angewendet, zeigt, dass danach tatsächlich alle Visualisierungen von Rutherford Zeichen wären, die Rutherford in Richtung eines ganz bestimmten Atommodells interpretierte  : Die Fotos aus der Nebelkammer kann man der Gruppe der Indices zuzählen, da sie – wie der Rauch zum Feuer – in einem zumindest angenommenen Folge-Verhältnis zum Bezeichneten stehen  : Die hellen Streifen auf den Nebelkammerfotos werden als Folge des Durchflugs von Alphateilchen gedeutet. Als Icon kann das Planetenmodell aufgefasst werden, da sowohl Name als auch Bild auf der von Rutherford vorgestellten Ähnlichkeit zwischen dem Atom und dem Planetensystem beruhen. Und Symbole liegen in den physikalischen Formeln vor. Wie bei Peirce spielen auch im »Zeichenprozess« des amerikanischen Philosophen Charles William Morris (1901–1979) drei Elemente zu-

288 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

sammen  : der Zeichenträger, das Designat und der Interpretant. Der Zeichenträger ist etwas, das als Zeichen fungiert, das Designat etwas, das bezeichnet wird, der Interpretant schließlich ist eine Wirkung bzw. ein Effekt, der in einem beliebigen Organismus, dem Interpreten, ausgelöst wird. Auf das Fallbeispiel »Planetenmodell des Atoms« angewendet sind die Zeichenträger die Bilder aus der Nebelkammer, die physikalische Formel und das Planetensystem, das Designat ist das Atom, und als Interpretant wäre danach der kognitive Prozess selber zu verstehen, der in Rutherfords Hirn das »Planetenmodell« des Atoms generierte. Aus dieser Dreiteilung heraus entwickelte Morris auch die bis heute weitgehend akzeptierte Einteilung der Sprache in Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Die Syntaktik untersucht die innere Struktur der Zeichen, betrachtet also nur die Zeichen selbst. Die Semantik betrachtet das Zeichen im Verhältnis zu dem, was es bedeutet, während die Pragmatik das Zeichen immer in Verbindung mit seinem Benutzer sieht. Generell ist Morris’ Ansatz behavioristischer Natur, d. h. er sieht den Gegenstand der Semiotik als ein beobachtbares Verhalten (behavior), das als Reaktion eines »Organismus« auf einen Reiz aufgefasst wird  : In Morris’ Zeichentheorie steht also das von den Zeichen hervorgerufene Verhalten im Mittelpunkt. Die Sichtweisen der Theoretiker sind jedenfalls nicht wesentlich voneinander verschieden. Sowohl Peirce als auch Morris gehen von einer triadischen Relation aus  : Zwischen Zeichenträger (Morris), das bei Peirce das Zeichen selbst ist, der Gegebenheit oder dem Objekt (Designat – dem »Bezeichneten« bei Morris), für welches das Zeichen steht, und einem »interpretierenden Bewusstsein« (Peirce), das ja auch für Morris notwendig ist, weil sich ja seine Wirkung irgendwie und irgendwo manifestieren muss. Aristoteles, Frege und de Saussure unterscheiden sich in ihren Arbeiten u. a. wesentlich dadurch, dass sie den Zeichenbegriff nur für sprachliche Zeichen verwenden. Zeichen haben also von sich aus keine Bedeutung, betont der italienische Semiotiker Umberto Eco. Aber wie können sie dann Den-

Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisprozess tragenden Bilder und Zeichen  :

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ken wie Kommunikation konstituieren  ? Weil ihre Bedeutung, so Eco, durch kulturelle oder andere Übereinkünfte bestimmt sei. Das gelte selbst für Icons (»Abbilder«) in Peirces Sinn. Die Gemeinsamkeit oder »Ähnlichkeit« zwischen ikonischen Zeichen und Objekten ist Eco zufolge nur dadurch gegeben, dass sie kulturell definiert sei  : »Ob ein Zeichen ›ikonisch‹ ist, hängt also von den Wahrnehmungsmodellen, von Abbildungskonventionen, von den Erfahrungen des Zeichenproduzenten und des Zeichenbetrachters ab«, formuliert Jürgen Trabant und vertritt dementsprechend konsequent die Auffassung, dass auch literarische Texte, Bauwerke, Bilder, Musikstücke, Theaterstücke, aber auch Gegenstände des Alltags als Zeichen zu verstehen seien. Und Umberto Eco  : »Der Eindruck seiner kausalen Abhängigkeit vom Objekt rührt nicht vom Objekt her, sondern von der Konvention, die seine Produktion regelt« (S. 146). Nach Eco könne daher mittels der Methode der Abduktion aus einer Welt voll Zeichen wie aus einem Buch gelesen werden. (Der Begriff Abduktion stammt ebenfalls von Peirce, der ihn in Zusammenhang mit seiner »Logik der Entdeckung« entwickelte  ; man versteht darunter eine die logisch-deduktive Beziehung in umgekehrter Richtung durchlaufende Schlusskette.) Dabei lasse sich »jedes Zeichen, je nach den Umständen unter denen es auftritt, und nach dem Designationszweck, zu dem man es verwendet, sowohl als Index wie als Ikon wie als Symbol auffassen.« Vollkommene Ikonizität liegt nach Eco paradoxerweise ohnehin nur dann vor, wenn das Zeichen mit dem Bezeichneten zusammenfällt. Ein Beispiel dafür wären die so genannten »ostensiven Zeichen«. Wenn jemand z. B. im Gasthaus sein Bierglas hebe, um anzuzeigen, dass er noch ein Bier bestellen wolle, verwende er als Zeichen das hochgehobene Glas und damit in einer »Pars-pro-toto-Beziehung« einen Teil der Substanz des Bezeichneten. »Kulturell definiert« bei Eco entspricht also vollkommen dem Begriff »Weltbild« in den vorigen Kapiteln. Auf der Grundlage all dieser Überlegungen bietet sich auf die Frage, was das etwas sei, das durch Zeichen repräsentiert wird, als Antwort

290 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

an, was schon Aristoteles vorformulierte  : Es sind die Vorstellungen, Imaginationen, die einerseits den Erkenntnis- wie den Kommunikationsprozess bestimmen, andererseits sich als Ergebnis des Erkenntnisbzw. des Kommunikationsprozesses im Gehirn bilden. Die Zeichen wären dann als Visualisierungen der Imaginationen zu verstehen – im Denkprozess in »mentalen« Bildern, im Kommunikationsprozess sowohl in mentalen als auch realen, akustisch oder/ und optisch wahrnehmbar –, die ihrerseits wieder neue Imaginationen hervorrufen, die neuerlich als Zeichen visualisiert und danach wieder interpretiert werden. Genau so scheint auch Peirce den Denk- und Erkenntnisprozess zu verstehen, denn tatsächlich bezeichnet Peirce mit Icon ein »mentales Bild«, das durch ein »reales« hervorgerufen werde. Dieses hervorgerufene Bild funktioniere seinerseits wieder wie ein »reales«, das ein nächstes Icon hervorrufe und so weiter. Auch Peirce versteht also den Denk- und Erkenntnisprozess als Abfolge von Zeicheninterpretationen, wobei jedes Interpretationsergebnis wieder als Zeichen fungiere, das wieder interpretiert werden müsse, wodurch schließlich eine »Denkgewohnheit« entstehe  : »Das Signifikat eines Zeichens lässt sich nur klären durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen weiteren Interpretanten verweist, und so fort bis ins Unendliche, was einen Prozess unbegrenzter Semiose in Gang setzt …« Ecos Ansatz hingegen betrifft weniger die Abfolge des Denkprozesses als die Interpretationsregeln, mit denen die Zeichen verknüpft werden. Sie sind nach ihm »kulturell«, also durch Weltbilder bestimmt, so dass dafür der Begriff »Denkgewohnheit« wirklich angemessen erscheint. 3. Zeichen-Interpretation als gemeinsamer Nenner von Imagination (Denken) und Visualisierung (Kommunikation)

Wenn aber gilt, dass Vorstellungen – visualisiert – wieder Zeichencharakter haben und interpretiert werden müssen, heißt das nichts

Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisprozess tragenden Bilder und Zeichen  :

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anderes, als dass die Struktur von Denk- und Kommunikationsprozessen identisch sein muss – nur dass die Zeichen jeweils anders zur Verfügung gestellt werden  : im Denkprozess im weitesten Sinn durch Anschauung, im Kommunikationsprozess gegenseitig durch die Kommunikationspartner. Die beiden Prozesse – Denken und Kommunizieren – lassen sich daher gemeinsam wie folgt beschreiben  : Es werden Zeichen vermittelt bzw. wahrgenommen, die interpretiert werden müssen, damit sie verstanden werden, und dass wieder mit Zeichen darauf reagiert werden kann  ; im Denkprozess entsteht daraus »Erkenntnis«, im Kommunikationsprozess »Verstehen«. Anders formuliert werden also beim Denkprozess Zeichen zu Vorstellungen interpretiert, welche ihrerseits wieder neue Vorstellungen evozieren können, während beim Kommunikationsprozess Vorstellungen in Form von Zeichen vermittelt werden, die vom Kommunikationspartner wieder zu neuen Vorstellungen interpretiert werden. Alles das sind stichhaltige Gründe dafür, dem Sprachphilosophen Karl-Otto Apel zuzustimmen, wenn er das »Denken als Selbstgespräch« bezeichnet. Weil die Zeichen, die den Kommunikationsprozess konstituieren, nicht nur sprachliche sind, sondern jede Kommunikation von nichtsprachlichen Zeichen begleitet ist, welche Einfluss auf die Interpretation der sprachlichen Zeichen haben und das Verstehen wesentlich beeinflussen, fassen die Semiotiker den Zeichenbegriff von vornherein weiter als nur für sprachliche Zeichen, welche die Kommunikation konstituieren, und beschäftigen sich mit der Frage, wie dieses umfassendere System strukturiert sei. Während Sprachwissenschafter das System der sprachlichen Zeichen »Sprache« nennen, wird in der Semiotik dieses Gesamtsystem von Zeichen als »Kultur« bezeichnet und ihr Umfang definiert als die »hierarchisch geordnete Gesamtheit aller Zeichensysteme, die in der Lebenspraxis einer Gemeinschaft verwendet werden«. Demnach ist die Semiotik gegenüber der Linguistik ein

292 :  Semiotik: Die Träger der Botschaften in der Vermittlung

Metasystem und die Linguistik, weil sie nur eine Klasse von Zeichen des Gesamtsystems betrachtet, ein Teilgebiet der Semiotik. Nur vor diesem Hintergrund kann Umberto Eco den Geltungsbereich der Semiotik bestimmen und dabei Kultur (bzw. die diese konstituierenden »Weltbilder« – verstanden als den einzelnen Kulturen zugrunde liegende Vorstellungen und Ideen) als Deutungsrahmen nehmen  : dass nämlich die Semiotik als Wissenschaft »alle kulturellen Vorgänge, in denen handelnde Menschen ins Spiel kommen, die aufgrund gesellschaftlicher Konventionen zueinander in Kontakt treten, als Kommunikationsprozesse untersucht«. Daraus ergibt sich die bekannte Schlussfolgerung, dass Menschen in einem Kommunikationsprozess Zeichen verwenden müssen, um überhaupt miteinander kommunizieren zu können – oder noch schärfer formuliert, dass Menschen überhaupt nur Phänomene als Zeichen wahrnehmen und nur mit ihnen kommunizieren können. Bewusst wird dieser Umstand aber erst dann, wenn Zeichen unerwartete Interpretationen hervorrufen, was nahezu immer dann geschieht, wenn unterschiedliche Kulturen zusammentreffen. So sind zum Beispiel in den Gesellschaften der westlichen Industrieländer heute Körpergeräusche wie Schmatzen oder Rülpsen streng reglementiert, in anderen nicht. Auch sonst gibt es viele Verhaltensregeln, die mit der Erziehung vermittelt werden, wo und wann man etwas tun darf und wann nicht. Das heißt, die Bedeutung vieler Zeichen wird im Zuge der Übernahme der Weltbilder im Sozialisationsprozess automatisch mitgelernt. Weil dies so ist, besteht »Kultur« unter anderem auch darin, Dingen des täglichen Lebens Zeichenhaftigkeit beizumessen. Wenn man zum Beispiel von »primitiven« Kulturen redet, sind Kulturen gemeint, deren Lebensformen mehr zeichenfreie Räume enthalten als die »entwickelten« oder deren Zeichenhaftigkeit für die Angehörigen einer anderen Kultur nicht als zeichenhaft erkannt wird. Immer wenn Angehörige einer Kultur in einer anderen einen zeichenfreien Bereich

Überlegungen zur Natur der den Erkenntnisprozess tragenden Bilder und Zeichen  :

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entdecken, der in ihrer Kultur zeichenhaft ist, so tendieren sie dazu, jene Kultur als »unzivilisiert« oder »primitiv« zu bewerten. Nimmt man alle diese Aussagen als Prämissen, gilt Analoges für den Erkenntnisprozess  : Menschen müssen in Bildern denken, mit denen sie sich ihre Vorstellungen »mental« visualisieren. Diese Bilder sind dann die Zeichen, die sie nach kulturell bestimmten Interpretationsgewohnheiten zueinander in Beziehung setzen, verknüpfen und deuten müssen, um überhaupt zu Erkenntnis zu gelangen. Diese selben Bilder sowie die durch die Interpretation neu generierten sind dann – visualisiert – die Zeichen, die im den Erkenntnisprozess begleitenden Vermittlungsprozess verwendet werden.

Zum Schluss ein Beispiel, wie durch Imagination und Visualisierung Wirklichkeit vermittelt wird: das »kollektive Gedächtnis«

Die Erfahrung zeigt, dass trotz des Umstandes, dass Menschen keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit und kein unmittelbares Verständnis von ihr haben, und dass ihnen deshalb die Wirklichkeit vermittelt werden muss, schließlich großen Gruppen von Menschen durch eine Fülle von Beziehungen ein gemeinsames Bild von der Welt geschenkt wird, in dem sie miteinander wohnen, an dem sie sich trotz manchen Widerspruches und mancher Abweichungen orientieren können und das sie ihren Kindern weiter geben wollen. Eines dieser gemeinsamen Bilder, welches eindrucksvoll zeigt, wie die Welt vermittelt wird, und das die Sicht der Geschichte der Gesellschaft Europas wesentlich bestimmt hat, ist in der Theorie des »kollektiven Gedächtnisses« dargestellt, die der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877–1945) in den 1920er-Jahren imaginierte. Die aus vielfältigen Beobachtungen als ein mögliches Bild der Wirklichkeit rekonstruierte Theorie postuliert, dass es keine Erinnerung außerhalb eines kollektiven Gedächtnisses gebe, was nichts anderes bedeutet, als dass alle oder große Gruppen von Menschen (Fragmente) einer Gesellschaft die Bilder ihrer Erinnerung gemeinsam hätten, oder anders ausgedrückt  : Die Erinnerung von einzelnen Individuen oder gesellschaftlichen Fragmenten stütze sich auf ein »kollektives Gedächtnis«, das für die »individuellen Erinnerungsmuster« verantwortlich sei. Denn, so Halbwachs, Erinnerungen würden im gesellschaftlichen (= kollektiven) Kontext geformt und geprägt.

296 :  Zum Schluss

Der Historiker Moritz Csáky fasste die Theorie des »kollektiven Gedächtnisses« in einem Gespräch, das Simone Homma und Wolfram Dornik für ein Forschungsseminar im WS 2000/2001 mit ihm führten und in einer Seminararbeit zusammenfassten, in folgendes Bild  : Man könne sich das »kollektive Gedächtnis« wie eine »alte Stadt« vorstellen  : verwinkelte Straßen, neue Häuser, alte Häuser, die abgerissen wurden, aber trotzdem die Grundstruktur der Stadt noch beeinflussten, und so weiter. Jeder der durch diese alte Stadt gehe, werde von ihr geprägt. Das Leben in dieser Stadt werde zum Ordnungsmuster, zum Rahmen für Deutungen und Erklärungen – oder anders ausgedrückt  : Die vielfältigen Ansichten und Perspektiven der alten Stadt seien die Bilder der Erinnerungen ihrer Bewohner und konstituierten das »kollektive Gedächtnis«. Das Bild Csákys von der »alten Stadt« illustriert, warum dieses »kollektive Gedächtnis« nicht statisch sein kann  : So wie sich eine Stadt ständig verändere und immer neue Strukturen zeige, sei auch das »kollektive Gedächtnis« einem kontinuierlichen Veränderungsprozess unterworfen, der den Wandel der kollektiven Identität spiegele. Denn ohne Gedächtnis gibt es keine Identität. Dieses »kollektive Gedächtnis« werde dort besonders fassbar, wo es – visualisiert – nationale oder religiöse Identität stifte  : In gemeinsamen Codes (Sprache, Symbole, Sitten und Bräuche), nationalen und religiösen Erzählungen und Mythen, Bauten und Baustilen, und speziell auch in Museen, denen in der Zeit des politischen Nationalismus im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert als Orte der Kunstandacht und Belehrung durch Sammlung der großen Leistungen von herausragenden Mitgliedern der Gemeinschaft eine besondere Rolle in der Identitätsbildung zugekommen sei. Es seien die Imaginationen, die da in den Museen visualisiert worden seien, die zur Nationsbildung geführt hätten. Denn die Prozesse, die zur Nationsbildung führen, seien nach dem amerikanischen Orientalisten Benedict Anderson – genau so wie es in dieser Arbeit für

Zum Schluss  :

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kognitive Prozesse behauptet wird – wesentlich von Imaginationen bestimmt   : von Imaginationen der »Schicksalsgemeinschaft«. Die Angehörigen so großer Verbände, die Staaten bilden, können sich nämlich gegenseitig nicht kennen und können daher auch keine unmittelbare Erfahrung miteinander haben, auf die sich eine enge Verbundenheit stützen könnte. Nach Anderson ist es deshalb die Imagination von »Schicksalsgemeinschaft«, die, nachdem sie visualisiert worden sei, die verbindende Kraft darstelle. Dabei wirkten die Diskurse und Lehrmeinungen von Künstlern, Intellektuellen und Gelehrten sowie politische Maßnahmen immer stärker werdender Staaten eng zusammen. Nationale Institutionen, Schulen und Universitäten, Kulturinstitute, Museen und Bibliotheken, seien – so Anderson – an der Entstehung dieser Imaginationen ebenso beteiligt wie Symbole, Denkmäler, Hymnen oder Flaggen. Der Begriff »Schicksalsgemeinschaft« wurde angesichts der ­engen, auf wechselseitige Abhängigkeit gegründeten Beziehung zwischen dem Individuum und dem großen Kollektiv der Nation vom österrei­ chischen Sozialdemokraten Otto Bauer (1881–1938) geprägt und später von Max Weber (1864–1920) aufgegriffen. »Schicksalsgemein­ schaft«, schreibt Bauer 1907 in seiner Schrift über »die nationale Frage in der Habsburgermonarchie«, »bedeutet nicht Unterwerfung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetem Verkehr, fortwährender Wechselwirkung miteinander.« Denn  : »Nur das gemeinsame Erleben und Erleiden des Schicksals, die Schicksalsgemeinschaft, erzeugt die Nation.« Bauers Auffassung, formuliert kurz vor dem Ende der vom Nationalitätenstreit geschüttelten Monarchie, wird noch heute weitgehend akzeptiert  : Die Nation und der von ihr getragene Nationalstaat bildeten für das Individuum, unabhängig von seiner Herkunft, Rasse oder Sprache, die Lebensgrundlage und den Rahmen für seine politischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten. Seit dem späten 18. Jahrhundert liefere die Nation jedenfalls als eine vorgestellte Solidargemeinschaft von Menschen, die mit

298 :  Zum Schluss

bestimmten Eigenschaften und Merkmalen ausgestattet sei, das Band oder den Kitt, der Gesellschaften und Staaten zusammenhalte, ihnen Stabilität verleihe und ihre Angehörigen bzw. Bürger zu gemeinsamem Handeln veranlassen und verpflichten könne. Es wird behauptet, und die Geschichte seit der Französischen Revolution scheint dies auch zu belegen, dass nur der Staat Bestand habe, der sich auf eine mehr oder weniger solidarische Nation zu stützen vermag. Nur der »Nationalstaat« könne demnach auf die integrierende Kraft der Nation vertrauen. Sie garantiere ihm auch, gerade in Krisenzeiten, den notwendigen Zusammenhalt. Heute – so Anderson – würden vor allem die Massenmedien entsprechende Vorstellungen transportieren. Nationalsprachen würden durch ein staatliches Erziehungssystem durchgesetzt. Gerade die Sprache sei in der Formierungsphase der Nationen, in der Romantik, als wichtigster Ausdruck von Identität und Verwandtschaft verstanden worden. Damals seien volkstümliche Überlieferungen gesammelt und (nach)gedichtet worden, und in Kunst und Literatur hätten nationale über humanistische Referenzen zu dominieren begonnen. Nicht zuletzt sei es aber die Geschichte, in der sich der Diskurs von Nähe und Verwandtschaft ausgedrückt habe und ausdrücke und die deutlich mache, dass auch die große unübersehbare Gesellschaft eine »Schicksalsgemeinschaft« sei. Denn die Imagination gemeinsamer Erinnerungen, koordiniert durch die Erinnerungsmuster des »kollektiven Gedächtnisses«, die Traditionen und die Erzählungen von den Ursprüngen, seien für die Identität solcher Großgruppen ebenso wichtig wie die persönliche Biografie und Lebenserfahrung für die Identität und das Selbstverständnis von Individuen – die, wie beschrieben, durch den Deutungsrahmen »kollektives Gedächtnis« dieser Lebenserfahrungen immer in engem Zusammenhang mit den Biografien und Lebenserfahrungen der »Schicksalsgenossen« stünden. Und  : Genauso wie Individuen aus der Erfahrung ihrer persönlichen Lebensgeschichte Verhaltensmuster und Strategien ableiteten, sei die

Zum Schluss  :

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imaginierte gemeinsame Geschichte im Selbstverständnis eines Großverbandes für das Verhalten der ihm Angehörenden handlungsleitend und – zum Mythos erhoben – normsetzend. Der britische Historiker Eric J. Hobsbawm spricht in diesem Zusammenhang von »invention of tradition« – der Erfindung der Tradition. Die Imaginationen, die den Prozess der Nationsbildung bestimmen, könnten gleichzeitig ein Beleg für die von Hellmuth Benesch beschriebene »Hyperwirkung der Anschaulichkeit« sein  : In der Geschichtsschreibung, welche die Nationsbildung unterstütze, würden die Ereignisse detailreich ausgemalt, so detailreich, dass jeder an ihre Wahrhaftigkeit glaube, oder, wie es Moritz Csáky formuliert  : Je genauer ein Bild ausgemalt wird, desto mehr erscheint es als wahr. Csáky nennt dieses Phänomen »Glaubwürdigkeit durch Narrativität«  : »Die Bibel argumentiert ja auch in Bildern, in Parabeln. Auch wenn das Bild Gottes das eines Vaters ist, ist das ein Bild. – Erinnerung klammert sich an Bilder.« Diese »Hyperwirkung der Anschaulichkeit« erzeugten nach Csáky auch die visuellen elektronischen Massenmedien, vor allem das Fernsehen. Es berichte ebenso in detailreichen Bildern und erzeuge so den Eindruck, dass die Ereignisse so, wie sie präsentiert werden, »wahrhaftig« seien. Erinnerung klammert sich an diese Bilder, sodass die Menschen sie schließlich für die Wirklichkeit nehmen, die keiner Vermittlung mehr bedürfe – obwohl gerade sie das Ergebnis von Vermittlung ist. Oder anders ausgedrückt  : Wer die Welt in starke Bilder zu fassen in der Lage ist, bestimmt, was Wirklichkeit sei.

Postskriptum Am 10. Juni 2011 – gerade als ich mit den letzten Korrekturen dieses Buches fertig war – hörte ich beim Pfingstdialog »Geist & Gegenwart« zum Thema »Europa. Erzählen« auf Schloss Seggau in der Steiermark den Vortrag »Woran Europa sich erinnern soll« von Seiner Exzellenz Bischof Adrianus van Luyn, dem Vorsitzenden der Europäischen Bischofskonferenz COMECE. Er legte dar, wie durch das Erzählen dessen, was Menschen als gut erfahren haben, das »kollektive Gedächtnis« im Interesse des Friedens für und der Solidarität mit den Menschen gestaltet werden könne: »Erzählendes Erinnern kann die Welt verändern und retten.« Dieser Satz beschreibt kurz und bündig das Anliegen, deswegen ich über das Vermitteln nachdenke und darüber dieses Buch geschrieben habe, und das ich abschließend dem Leser ans Herz lege.

Literatur Anderson, Benedict   : Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen übersetzt von Burkardt Benedikt und Christoph Münz, Frankfurt a. M. – New York  : Campus Verlag, 2005 Apel, Karl-Otto   : Stichwort »Sprache« in   : Edmund Braun, Hans Radermacher (Hg.)  : Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1978, Sp. 545 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen  : Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1   : Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Bd. 2  : Ethnotheorie und Ethnographie des Sprechens, Hamburg  : Westdeutscher Verlag, 51980 Aristoteles  : Rhetorik. Übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart  : Reclam, 1999 (= UB Nr. 18006) Asanger, Roland/Wenninger, Gerd (Hg.)  : Handwörterbuch Psychologie, München – Weinheim  : Psychologie Verlags Union, 1988 Bach, Friedrich Teja  : Metamorphosen in Velázquez’ Malerei, in  : Neue Zürcher Zeitung vom Freitag, 20. März 1992 (Fernausgabe Nr. 66), S. 39 Benesch, Hellmuth  : Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge … Zur Psychologie der Weltanschauungen, Weinheim und Basel  : Beltz Verlag, 1984 Bense, Max  : Semiotik. Allgemeine Theorie der Zeichen, Baden-Baden  : Agis, 1967 (= Internationale Reihe Kybernetik und Information. Bd.4.) Bense, Max  : Stichwort »Semiotik« in  : Edmund Braun, Hans Radermacher (Hg.)  : Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1978, Sp. 524ff Bentele, Günther/Bystrina, Ivan  : Semiotik. Grundlagen und Probleme, Stuttgart  : Kohlhammer, 1978 Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, dt. Übersetzung aus Herders Bibelkommentar, deren Text in Abstimmung mit der Jeruselemer Bibel  : La Sainte Bible, traduite en français sous la direction de L’École

302 :  Literatur Biblique de Jérusalem, Paris, 1956, völlig überarbeitet wurde  : Freiburg – Basel – Wien  : Herder Verlag, 1966 Blumer, Herbert  : Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus, in  : Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg)  : Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1 Boeckmann, Klaus  : Unser Weltbild aus Zeichen. Zur Theorie der Kommunikationsmedien. Wien  : Braumüller, 1994 Boorstin, Daniel J.  : Die Entdecker. Das Abenteuer des Menschen, sich und die Welt zu erkennen, Basel ‑ Boston ‑ Stuttgart  : Birkhäuser Verlag, 1985 Braun, Edmund/Radermacher, Hans (Hg.)  : Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1978 Brown Peter  : Macht und Rhetorik in der Spätantike. Der Weg zu einem »christlichen Imperium«, München  : dtv, 1995 (= dtv wissenschaft 4650) Bubner, Rüdiger (Hg.)  : Deutscher Idealismus (= Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Bd. 6), Stuttgart  : Philipp Reclam, 1978 (= Universal-Bibliothek Nr. 9916 [5]) Buchwald, Wolfgang/Hohlweg, Armin/Prinz, Otto u. a. (Hg.)  : TUSCULUM‑LEXIKON griechischer und lateinischer Autoren des Altertums und des Mittelalters, München ‑ Zürich  : Artemis, 31982 Bühler, Karl  : Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena  : Verlag Gustav Fischer, 1934 Burckhardt, Martin  : Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. – New York  : Campus Verlag, 1994, bes. S. 104ff  : Kapitel 4 »Das Bild und der Spiegel« Burkart Roland  : Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien-KölnWeimar  : Böhlau Verlag, 21995 (Reihe  : Böhlau Studien Bücher – Grundlagen des Studiums) Burke, Kenneth  : Counter-Statement, Berkeley – Los Angeles  : California University Press, 1968 Campbell, Lorne  : The Fifteenth Century Netherlandish Schools. National Gallery Catalogues, London 1998, S. 174–211. Charon, Joel M.  : Symbolic Interactionism  : An Introduction, An Interpretation, An Integration, Gale  : Prentice Hall, 1997 Cicero Marcus Tullius  : De oratore/Über den Redner, lat./dt., übers. und hrsg. von Harald Merklin, Stuttgart  : Reclam, 31997 (= UB 6884) Clévenot, Michel  : Von Jerusalem nach Rom. Geschichte des Christentums

Literatur  :

303

im 1. Jahrhundert, Freiburg  : Edition Exodus, 1987 (Geschichte des Christentums, Bd. 1) Conen, Horst  : Die Kunst, mit Menschen umzugehen. Ein Ratgeber mit Übungen für erfolgreiche Kommunikation und Körpersprache, Augsburg  : Bechtermünz, 1996 Conzelmann, Hans  : Geschichte des Urchristentums, Göttingen  : Vandenhoeck & Rupprecht, 1971 (= NTD, Ergänzungsreihe 5  : Grundrisse zum Neuen Testament, hrsg. von Gerhard Friedrich) Cornfeld, Gaalyahu/Botterweck, Gerhard J.  : Die Bibel und ihre Welt. Eine Enzyklopädie zur Heiligen Schrift in drei Bänden, Bergisch-Gladbach  : Lübbe Verlag (Sammlung Lübbe), 1988 Csáky, Moritz  : Historisches Gedächtnis und Identität, in  : Geschichte und Gegenwart 2/91, 131–143 Csáky, Moritz  : Pluralität und Moderne, in  : Cahiers d’etudes Germaniques  : Wien – Berlin. Zwei Metropolen der Moderne 1900–1930. Sous la direction de Maurice Godé, Ingrid Haag et Jacques Le Rider, 233–251 Daston, Lorraine/Galison, Peter  : Objektivität. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/Main  : Suhrkamp, 2007 Diem, Peter  : Die Symbole Österreichs. Zeit und Geschichte in Zeichen, Wien  : Kremayr & Scheriau, 1995 Eco, Umberto  : Einführung in die Semiotik. Autorisierte deutsche Ausg., übers. von Jürgen Trabant, München  : Fink, 81994 Eco, Umberto  : Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Deutsche Erstausgabe, Frankfurt am Main  : Suhrkamp, 1977 Edelmann, Walter  : Lernpsychologie. Eine Einführung, München – Weinheim  : Urban & Schwarzenberg/Psychologische Verlags Union, 1986 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus   : Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie, München – Zürich  : Piper, 71987 Eichler, Anja Franziska  : Albrecht Dürer, Köln  : Könemann, 1999 Fassler, Manfred  : Bildlichkeit, Wien – Köln – Weimar  : Böhlau 2002 Feyerabend, Paul  : Wider den Methodenzwang, Frankfurt/Main  : Suhrkamp, 1986 (= stw 597) Fink, Gerhard  : Spötter, Götter und Verrückte. Anekdoten und andere kurze Geschichten aus der Alten Welt …, Zürich – München  : Artemis, 1987 Fischer, Ernst Peter  : Aristoteles, Einstein & Co. Eine kleine Geschichte der Wissenschaft in Porträts, München  : Piper, 1995

304 :  Literatur Frenzel, Ivo  : Stichwort »Ästhetik«, in  : Alwin Diemer, Ivo Frenzel  : Fischer Lexikon Philosophie, Frankfurt/Main  : Fischer, 1967 Froböse, Rolf  : Schlüssel zur Chemie, Düsseldorf – Wien – New York  : ECON Verlag, 1988 Fromm, Erich  : Psychoanalyse und Ethik, Berlin  : Ullstein, 1978 Fuchs, Thomas  : Die Mechanisierung des Herzens, Frankfurt/Main  : Suhrkamp, 1992 Fuhrmann Manfred  : Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München – Zürich  : Artemis, 1984 (= Artemis Einführungen Bd. 10) Garfinkel, Harold  : Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs/NJ  : Prentice Hall, 1967 Geiger, Moritz  : Zugänge zur Ästhetik, Neuer Geist Verlag, 1928 Gelmi, Josef  : Die Päpste in Lebensbildern, Graz – Wien – Köln  : Styria, 21989 Gerritzen, Christian (Hg.)  : Lexikon der Bibel, Eltville am Rein  : Bechtermünze, 1990 Gottschalch, Wilfried  : Stichwort »Sozialisation«, in  : Roland Assanger und Gerd Wenninger (Hg.)  : Handwörterbuch Psychologie, München – Weinheim  : Psychologie Verlags Union, 1988, S. 703ff. Graumann, Carl F.  : Stichwort »Interaktion«, in  : Roland Assanger und Gerd Wenninger (Hg.)   : Handwörterbuch Psychologie, München – Weinheim  : Psychologie Verlags Union, 41988, S. 322 ff Gruber, Andreas/Hiebl, Ewald  : FahnenWörter. Eine Analyse zentraler Begriffe in österreichischen Parteiprogrammen der Zwischenkriegszeit, in  : Helmut Bartenstein, Gudrun Kampelmüller, Christian Oberwagner, Oswald Panagl, Horst Stürmer, Christine Walch und Birgitt Willinger (Hg.)  : Politische Betrachtungen einer Welt von Gestern. Öffentliche Sprache in der Zwischenkriegszeit (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 279), Stuttgart  : Verlag Hans-Dieter Heinz und Akademischer Verlag Stuttgart, 1995, 361–427 Habermas, Jürgen   : Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/ Main  : Suhrkamp, 1981 (2 Bände) Habermas, Jürgen  : Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek Warburg, in  : Jürgen Habermas  : Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt am Main  : Suhrkamp Verlag, 1997 (= Bibliothek Suhrkamp, Bd. 1233) Hagen, Rose-Marie und Rainer  : Bildbefragungen, Köln  : Taschen, 1994

Literatur  :

305

Halbwachs, Maurice  : Was macht Jahrhundertbilder bedeutend  ? Bilder des Kollektiven Gedächtnisses und »Jahrhundertikonen«. Begriffsaspekte  : http  ://www.unet.univie.ac.at/~a9604082/JHbilder.htm, Teil 2, 04.11.2000, S. 3 von 5. Hall, Edwin  : The Arnolfini Betrothal, Berkeley – Los Angeles – London, 1994 Hawking, Stephen/Mlodinow, Leonard  : Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums. Aus dem Englischen von Hainer Kober, Reinbek  : Rowohlt, 2010 Heidegger, Martin  : Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Vorlesung Marburg, Sommer-Semester 1924. Nachschrift von Walter Bröcker. Ungedr. Typoskript. Marcuse-Archiv der Frankfurter Stadtbibliothek, 1924, zitiert nach  : Knape Hirsch, Eike Christian  : Der Witzableiter oder Schule des Gelächters, Hamburg  : Hoffmann und Campe, 1985 Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens. Unter Mitwirkung von 300 Fachgelehrten, Tübingen  : Niemeyer, 1992 ff Hobsbawm, Eric J.  : Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Frankfurt/Main – New York  : Campus, 32005 Joas, Hans  : Mind, Self and Society, in  : Dirk Kaesler und Ludgera Vogt  : Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart  : Kröner, 2000 Joas, Hans  : Symbolischer Interaktionismus. Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition, in  : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr. 40, 1988, S. 417–446 Kanzog, Klaus  : Einführung in die Filmphilologie. Mit Beiträgen von Kirsten Burghardt, Ludwig Bauer u. Michael Schaudig. München  : Diskurs Film Verlag, 21997 Keller, Rudi  : Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen, Basel  : Francke 1995 Kemmerling, Andreas   : Stichwort »Bildtheorie«, in   : Edmund Braun, Hans Radermacher (Hg.)  : Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1978, Sp. 106ff. Kemperdick, Stefan  : Rezension von Yvonne Yiu  : Jan van Eyck …, in  : sehepunkte 2 (2002), Nr. 6 [15. 06. 2002], URL  : http  ://www.sehepunkte. historicum.net/2002/06/3861091518.html [07. 01. 2003]

306 :  Literatur Kettemann, Bernhard/Grilz, Wolfgang/Landsiedler, Isabel  : Sprache und Politik. Analyse berühmter Reden, Schriften des Bildungshauses Retzhof, Retzhof bei Leibnitz  : Selbstverlag, Dezember 1995 Keupp, Heiner  : Stichwort »Soziale Netzwerke«, in  : Roland Assanger und Gerd Wenninger (Hg.)   : Handwörterbuch Psychologie, München – Weinheim  : Psychologie Verlags Union, 1988, S. 696ff. Kittler, Friedrich  : »Phänomenologie vs. Medienwissenschaft«, www2.huberlin.de/inside/aesthetics/los49/texte/istambul.htm, 14. Mai 2005, 12.15 Uhr Knape, Joachim  : Was ist Rhetorik  ?, Stuttgart  : Reclam, 2000 (= UB 18044) Koch, Robert  : Stichwort »Charisma«, in  : Johannes B. Bauer (Hg.)  : Bibeltheologisches Wörterbuch, 2 Bd., Graz – Wien – Köln  : Styria, 31967, Bd. I, S. 188 Krech, David/Crutchfield, Richard S./Livson, Norman u. a.  : Grundlagen der Psychologie, Band 1–7 in einem Buch, Herausgeber  : Hellmuth Benesch. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein. Studienausgabe, Weinheim  : Beltz Psychologie-Verlags-Union, 1992 Kreuzer, Siegfried  : Stichwort »Messias/Messianismus«, in  : Bibeltheologisches Wörterbuch, hrsg. von Johannes B. Bauer in Gemeinschaft mit Johannes Marböck und Karl M. Woschitz, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1994, S. 422ff Kriz, Jürgen  : Grundkonzepte der Psychotherapie  : Eine Einführung, Weinheim  : Psychologie Verlags Union, 31991 Kuhn, Thomas S.  : Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/ Main  : Suhrkamp, 1967 (= stw 236) Kunczik, Michael  : Journalismus als Beruf, Köln – Wien  : Böhlau, 1988 Lakoff, George/Johnson, Mark  : Metaphors We Live Be, Chicago  : University Press, 1981 Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.)  : Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur Einführung. Unter Mitarbeit von Gabriela Langthaler, Wien  : Wilhelm Braumüller, 1994 (= Studienbücher zur Publizistik und Kommunikationswissenschaft Bd. 1) Läpple, Alfred  : Die Bibel – heute. Wenn Steine und Dokumente reden, München  : Verlag M. Lurz, 61969 Le Goff, Jacques  : Die Intellektuellen im Mittelalter, München  : dtv, 1993 Leary, M.  : Self Presentation & Impression Management, Dubuque  : Brown & Benchmark, IA  : 1995

Literatur  :

307

Lexikon des Mittelalters, Studienausgabe, München  : dtv, 2003 Lohse, Eduard  : Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung und Anmerkungen, hrsg. von …, Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 41986 London, Harvey/Meldman, Philip J./Lanckton, Antony  : The Jury Method. How the Persuader persuades, in  : The Public Opinion Quarterly 34 (1970), Heft 2, S. 115–121 Luhmann, Niklas  : Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. Main  : Suhrkamp, 51999 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1124) Lukas, Elisabeth  : Auf der Suche nach Sinn. Logotherapie, in  : Hilarion Petzold (Hg.)  : Wege zum Menschen. Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie. Ein Handbuch, Bd. I, Paderborn  : JunfermannVerlag, 61994 Majer, Ulrich  : Stichwort »Logik der Forschung« in  : Edmund Braun, Hans Radermacher (Hg.)  : Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz – Wien – Köln  : Styria, 1978, Sp. 358f Maletzke, Gerhard  : Massenkommunikation, Berlin  : Verlag Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, 1967 Maletzke, Gerhard  : Psychologie der Massenkommunikation. Hamburg  : Verlag Hans Bredow-Institut, 1963 McLuhan, Marshall  : Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn –Paris – Reading  : Addison Wessley, 1995 Meyer, Ernst  : Einführung in die antike Staatskunde, Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21974 (Reihe  : Die Altertumswissenschaft. Einführungen in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Teildisziplinen und Hilfswissenschaften) Mitterer, Josef  : Die Flucht aus der Beliebigkeit, Frankfurt/Main  : Fischer Taschenbuch Verlag, 22001 (= Forum Wissenschaft Philosophie 14929) Molcho, Samy/Baumgartl, Nomi  : Körpersprache der Kinder, Augsburg  : Weltbild, 2006 Molcho, Samy  : Körpersprache, München  : Bassermann, 2003 Molsdorf, Wilhelm   : Christliche Symbolik der mittelalterlichen Kunst, Graz  : Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1984 Müller, Lutz/Seifert, Theodor  : Analytische Psychologie. Urbilder der Seele, in  : Hilarion Petzold (Hg.)  : Wege zum Menschen, Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie. Ein Handbuch, 2 Bd., Paderborn  : Junfermann Verlagsbuchhandlung, 61994, 2. Bd., S. 175–243 

308 :  Literatur Nestle, Wilhelm  : Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian. In ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denken dargestellt …, Stuttgart  : Kröner, 1944 Nünning, Ansgar (Hg.)  : Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie  : Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart – Weimar  : Metzler 1998 Pagel, Walter  : William Harvey’s Biological Ideas. Selected Aspects and Historical Background. Basel, New York  : S. Karger, 1967 Panofsky, Erwin  : Jan van Eyck’s »Arnolfini« Portrait, in  : Burlington Magazine 64, 1934, S. 117–127 Patzelt, Werner J.  : Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags, München  : Wilhelm Fink Verlag, 1987 Peirce, Charles S.  : Collected Papers, Cambridge, Mass.  : Cambridge Univ. Press, 21960, S. 619–644 Pelzl, Bernhard  : Ausblick des Zwerges von der Schulter des Riesen. Archäologie und menschliche Identität, in  : Jahresheft des Österreichischen Archäologischen Instituts 1999, (Festvortrag bei der Jubiläumsveranstaltung »100 Jahre Österreichisches Archäologisches Institut ÖAI« am 3. 12. 1998 in Wien) Pelzl, Bernhard  : Bildersprechen. Anmerkungen zur politischen Kommunikation in einer fragmentierten Gesellschaft, in  : Oswald Panagl, Horst Stürmer (Hg.), Fahnenwörter der Politik – Kontinuitäten und Brüche, (Reihe  : Studien zu Politik und Verwaltung), Wien – Köln – Weimar  : Böhlau Verlag, 1998, S. 23–31 Pelzl, Bernhard  : Die Welt als Maschine, der Markt als Maß. Der Wissenschaftsbegriff der sogenannten »Angewandten Forschung«, in  : Walter Pieringer, Franz Ebner (Hg.), Zur Philosophie der Medizin, Wien – New York  : Springer Verlag, 2000, S. 135–152 Pelzl, Bernhard  : Wissenschaft & Journalismus. Bedingungen für eine gelingende Vermittlung, in  : Mensch – Gruppe – Gesellschaft. Von bunten Wiesen und deren Gärtnerinnen bzw. Gärtnern. Festschrift für Manfred Prisching zum 60. Geburtstag hrsg. von Christian Brünner, Werner Hauser u. v. a., Wien – Graz  : NWV Neuer Wissenschaftlicher Verlag, 2010, S. 103–117 Pelzl, Bernhard  : Sprache der Evangelien – Sprache der Kirche. Ein Vergleich, in  : Josef Donnenberg, Werner Reiss (Hg.)  : Katholische Sprache zwischen Klischee, Propaganda und Prophetie. Versuche der Unter-

Literatur  :

309

scheidung, Chancen der Erneuerung, Salzburg  : Otto Müller Verlag, 1991, S. 137–145 Perelmann, Chaim  : Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. Mit einem Vorwort von Ottmar Ballwag. Aus dem Französischen von Ernst Wittig, München 1980 Petersen, Jürgen H.  : Kategorien des Erzählens. In  : Poetica 9 (1977), S. 167–195 Physiologus – Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich – München  : Artemis, 1960 Pichot, André  : Die Geburt der Wissenschaft. Von den Babyloniern zu den frühen Griechen, Frankfurt/Main – New York  : Campus Verlag, 1995 Pischel, Gina  : Illustrierte Kunstgeschichte der Welt, München  : Südwest Verlag, 1979 Plett Heinrich F. (Hg.)  : Die Aktualität der Rhetorik, München  : Fink, 1996 (= Figuren, hrsg. von Heinrich F. Plett und Helmut Schanze Bd. 5) Plett, Heinrich F.  : Rhetorik der Affekte  : Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen  : Niemeyer, 1975 (= Studien zur englischen Philologie NF 18, hrsg. von Gerhard Müller-Schwefe und Friedrich Schubel) Preimesberger, Rudolf/Baader, Hannah/Suthor, Nicola (Hg.)  : Porträt, Berlin  : Dietrich Reimer Verlag, 1999 Priesemann, Gerhard  : Stichwort »Gattungen/Stil« in  : Wolf-Hartmut Friedrich, Walter Killy  : Fischer-Lexikon Literatur, Bd. II, Frankfurt am Main  : Fischer, 1963, 245 ff (= Fischer Lexikon 35/1) Prisching, Manfred  : Das Selbst, die Maske, der Bluff  : Über die Inszenierung der eigenen Person, Wien  : Molden, 2009 Quine, Willard van Orman  : Word and Object, deutsch  : Wort und Gegenstand, Stuttgart  : Reclam Verlag, 1980 Rambousek, Friedrich  : Bilder, Bauten, Gebilde. Das Kunstgeschehen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien  : ÖBV Pädagogischer Verlag, 1994 Reiger, Horst   : »Symbolischer Interaktionismus«, in   : Renate Buber – ­Markus H. Holzmüller (Hg.)  : Qualitative Marktforschung. Konzepte – Methoden – Analysen, Wiesbaden  : Gabler 2007, S. 137ff. Reutler, Bernd H.  : Körpersprache verstehen, München  : Humboldt-Taschenbuchverlag Jacobi, 51998 Roderer, Ursula  : Mode als Symbol. Ein interaktionistischer Ansatz zur Bedeutung der Mode für Altersgruppen, Regensburg  : S. Roderer, 1996

310 :  Literatur Rosenthal, Paul I.  : The Concept of the Paramessage in Persuasive Communication, in  : The Quarterly Journal of Speech 58 (1972), H. 1, S. 15–30 Schlenker, Barry R.  : Impression Management  : the self-concept, social indentity and interpersonal relations, Monterey  : Brooks/Cole, 1980 Schönpflug, Wolfgang  : Stichwort »Allgemeine Psychologie«, in Roland Asanger und Gerd Wenninger (Hg.)  : Handwörterbuch der Psychologie, München – Weinheim, Psychologie Verlags Union, 1988, S. 9ff Segrè, Emilio  : Die großen Physiker und ihre Entdeckungen, 2. Bände, München  : Piper, 41990, (= SP 1175) Seidl, Conrad/Beutelmeyer, Werner  : Die Marke »Ich«, Wien  : Wirtschaftsverlag Überreuter, 1999 Sennett, Richard  : Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Aus dem Amerikanischen von Linda Meissner, Berlin  : Suhrkamp, 1997 Stegmüller, Wolfgang  : Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, Wien  : Springer, 1957 Stuckenbrock, Christiane  : Meisterwerke der europäischen Malerei, Köln  : Könemann, 1999 Thukydides  : Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Georg Peter Landmann, München  : dtv, 1991 (= Bibliothek der Antike. Hg. von Manfred Fuhrmann, Zürich – München  : Artemis Verlag) Trabant, Jürgen  : Elemente der Semiotik. Tübingen, Basel  : Francke 1996 Treibel, Anette  : Einführung in die soziologische Theorie der Gegenwart, Wiesbaden  : VS Verlag für Sozialwissenschaften, GWV Fachverlage, 72006 Tresmontant, Claude  : Paulus, Hamburg  : Rowohlt, 151998 Ueding Gert  : Klassische Rhetorik (= C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2000), München  : Beck, 1995 Ueding Gert  : Moderne Rhetorik (= C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2134), München  : Beck, 2000 von Förster, Heinz  : Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen, Wien  : Döcker, 1997 Weber, Stefan/Riegler, Alexander  : Die Dritte Philosophie. Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus, Zürich  : Velbrück Wissenschaft, 2010 Weiler, Ingomar  : Griechische Geschichte, Darmstadt  : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21988

Literatur  :

311

Weischedel, Wilhelm (Hg.)  : Immanuel Kant. Werke in 6 Bänden, Wiesbaden  : Insel Verlag, 1960ff. Weisshaupt, Michael  : Impression-Management in Einstellungs­interviews  : Effekt verschiedener Selbstdarstellungstaktiken auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Personen, Michael Weißhaupt, 1997, S. 1–60 Wember, Bernward  : Wie informiert das Fernsehen  ?, München  : Paul List Verlag, 1976 Winner, Matthias (Hg.)  : Der Künstler über sich in seinem Werk, Rom  : VCH Acta humanioria, 1989 Wittgenstein, Ludwig  : Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt/Main  : Suhrkamp, 1984 (= stw 501) Wodak, Ruth/Menz, Florian/Lalouschek, Johanna  : Sprachbarrieren. Die Verständigungskrise der Gesellschaft, Wien  : edition atelier, 1989 Wussing, Hans (Hg.)  : Geschichte der Naturwissenschaften, Köln  : AulisVerlag Deubner, 21987 Yiu, Yvonne  : Jan van Eyck. Das Arnolfini-Doppelbildnis. Reflexionen über die Malerei (= nexus 51), Frankfurt a. M. – Basel  : Stroemfeld 2001 Zanker, Paul  : Augustus und die Macht der Bilder, München  : Beck, 21990 Ziegler, Konrad/Sontheimer, Walther (Hg.)  : Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearb. und hsrg. von …, München  : dtv, 1979 Zimbardo, Philip G.  : Psychologie, bearb. und hrsg. von Siegfried HoppeGraff und Barbara Keller, Berlin – Heidelberg  : Springer, 51992 Zimmermanns, Klaus  : Florenz, Köln  : DuMont, 1984 (= DuMont‑Kunst‑ Reiseführer) – ausführliche Beschreibung des Palazzo Rucellai  : S.238f

Register Abbildtheorie  : 20, 258f, 271 »Abduktion«  : 289 »actio«  : 161, 178, 191, 198 Afro-Amerikaner  : 170 »agora«  : siehe Marktplatz Alberti, Leone Battista  : 71–74 Alexander der Große  : 222f Allegorie(n)  : 48–55, 109, 277 Allegorese  : 50, 51 Alltag  : 115, 128, 252, 276 Alltagswissen  : 97–99 Anachronismus  : 115 Analogie  : 272f Anaxagoras  : 50, 51 Anaximenes  : 222, 224, 226 Anderson, Benedict  : 296ff Androtion  : 235 Angst  : 169, 172 Animation(en)  : 278f Anschaulichkeit, Veranschaulichung  : 109, 257, 258f, 261f, 263, 265–279 –– »Hyperwirkung der Anschaulichkeit«  : 299 –– »Postulat der Anschaulichkeit«  : 268– 269, 270–279 Anschauung(en)  : 91, 291 Ansichtskarten  : 130 Antichrist  : 93 Apel, Karl-Otto  : 291 Apostelgeschichte  : 152f, 173, 177, 186f, 219, 236 Arachne  : 123 Arbeitsteilung  : 89

Archäologie  : 119f Archetypenlehre  : 260 Areopag  : 173, 176 Argumente, Argumentation  : 160, 169, 173, 175, 179, 203, 219, 225, 230, 233, 238 »Arhetorik«  : 29 Aristokratie  : 227f Aristoteles  : 28, 141, 160, 175, 187, 202, 203, 222, 228, 237–239, 257, 258f, 266, 269, 285, 290 Arnolfini, Giovanni  : 45f, 76f, 131 »assertiv«  : 67 Assoziation(en)  : 99f »Ästhetik«  : 40–43, 73, 258f Ästhetizismus  : 43 »asymmetrische kommunikative Lage«  : 150 Atheismus  : 50 Athen  : 173, 226 Aufklärung  : 164, 228 »Auflösung der Zeit (in räumliche Dimensionen)«  : 116f, 122, 125f  ; siehe »Wahrnehmungsverdichtung« »Auflösung des Raums«  : 126  ; siehe »Wahrnehmungsverdichtung« Aufmerksamkeit  : 184, 203, 208, 210, 220 Augustinus  : 72, 219 Augustus, Kaiser  : 193f, 214  ; siehe auch Panzerstatue Prudentius  : 51 Ausdruckspsychologie, Ausdruckskunde  : 62

Register  :

»außerrhetorische Faktoren«  : 140f Auslegungen, auslegen  : siehe Deutung(en), Deuten, auslegen Authentizität  : 114, 188, 244 Autorität  : 107, 175, 176, 180, 191, 208, 213f, 216, 221–225, 230, 245 Bach, Friedrich Teja  : 123f Bacon, Francis  : 259 Bandura, Albert  : 200 Bartlett, Frederick Charles  : 128f Bauer, Otto  : 297 Baumgarten, Alexander Gottlieb  : 42 Becker, Gary  : 105 Bedeutung(en)  : 40, 56, 59, 60, 81, 83, 84, 96, 98, 147, 148f, 247, 258, 284, 289  ; siehe auch Semantik – Bedeutungsvermittlung  : 81, 82 – »tiefere«  : 49f, 53 Bedienungsanleitung(en)  : 114 Beeinflussung  : siehe Einfluss »Begleitvorstellung«  : siehe Konnotat­io­ n(en) Bekehrung  : 217 »Bell Curve«  : 170f Benesch, Hellmuth  : 199, 269, 299 Benjamin, Walter  : 51 Beobachtung(en), Beobachter  : 24f, 87,94, 243, 250, 267, 269, 295 Berichterstatter(in)  : 129, 132, 182, 245ff, 248, 249, 251f Berkeley, George  : 259 Berlinghieri, Bonaventura  : 111 Bernhard von Chartres  : 71f, 74, 120 Beschleunigung  : 131 Beschreibungen der Welt  : 19 Bestätigung  : siehe confirmation Beutelmeyer, Werner  : 61 Bewährbarkeit, Bewährung  : 21, 200, 232, 238, 272, 274

313

Bewegungsablauf  : 114, 130 Bewertung(en)  : 272, 274 Beziehung(en)  : 23ff, 28f, 30, 37, 56, 86, 88–90, 94, 99, 101, 104ff, 159, 163, 199, 201, 223, 225, 251, 274, 275, 295, 297 – Beziehungsabbruch  : 106f – Beziehungsdefinitionen  : 96 – Beziehungsebene  : 62 – Beziehungsgeflecht, Beziehungsnetz  : 57, 89 – Beziehungskrise(n)  : 37 siehe auch »Nutzenoptimierung menschlicher Beziehungen« Bias aus Priene  : 234 Bibel  : 49f, 54, 111, 204ff, 255f, 299 Bibelkommentare  : 50f Bibliothek(en)  : 277f, 297 Bild(er), Verbildlichung  : 48ff, 52, 57, 83, 94, 97, 110ff, 113, 118, 133, 146, 196, 256, 258f, 261f, 269, 271f, 276, 280f, 293 –– Bilderfolge(n)  : 111f, 114 –– »Bildergeschichte«  : 263 –– »Bildersprechen«  : 99–101, 261, 276 –– Bilderzeugung  : 29, 276 –– »Bild im Bild«  : 112, 122, 123–124 –– »Bildrhetorik«  : 28, 57 –– »Bildsprache«  : 193 »bildungspolitische Frage«  : 20 Bildungsstand, -grad  : 100, 101 biophysikalische Prozesse (der Wahrnehmung)  : 87 Blair, Tony  : 240–251 Blickkontakt  : 62 Blumer, Herbert  : 95f Blut, Blutkreislauf  : 266f, 268 Bohr, Niels  : 268 Borges, Jorge Luis  : 27 Botschaft(en)  : 29, 33, 56, 58, 62, 66, 68, 82, 111f, 113, 158, 159, 176, 181, 183, 189, 191, 255

314 :  Register »bottom-up«-Prozesse  : siehe biophysikalische Prozesse Braitenberg, Valentin  : 171 Brille(n)  : 100, 101f, 200, 256 Brueghel, Pieter  : 113 Buch  : 113, 130 Buchdruck  : 183 Bühler, Karl  : 56, 148, 250 Burckhardt, Martin  : 54ff, 69ff, 76ff, 120ff, 132f Bürgertum  : 165, 196 Burkart, Roland  : 81, 109, 146, 274 Campell, Lorne  : 36 Cenami, Giovanna  : 45f Certum  : 142, 158–159, 162, 168, 178, 186, 189, 191, 202, 209 Cervantes, Miguel de  : 27 Charisma  : 141, 159f, 162, 173, 186, 221–225 Charon, Joel M.  : 96 Chomsky, Avram N.  : 260 Christentum  : 155 Chronologie, chronologische Abfolge  : 114ff, 169 Cicero  : 161, 198 Cluster  : 86f Comic(s)  : 128 Code(s)  : 296 Computer  : 37, 278 confidence  : 160, 188  ; siehe auch Selbstvertrauen confirmation, Bestätigung  : 168ff, 171, 173, 242f, 245, 271 Csáky, Moritz  : 102, 296f, 299 Darstellung(en), Darstellen, Darsteller  : 39f, 68, 78f, 80f, 84, 110ff, 117f, 121 Datierung(smittel), -möglichkeiten  : 110–118

David, König  : 206f Dawkins, Clinton R.  : 21 defensiv  : 67 Definitionslehre  : 271 »Deixis«  : 65 Dekodierung  : 40 Demokratie(n), demokratische (Entscheidungs-)Strukturen  : 104, 164f, 167, 209f, 212, 223, 226, 227–229, 231, 241 Demokrit  : 231, 258 Demosthenes  : 161 Denken, Denkprozess, kognitiver Prozess  : 39, 183, 233, 260, 261f, 265, 273, 277, 282, 288f, 290–293  ; siehe auch Erkennen und Imagination »Denkgewohnheit(en)«  : 59, 84, 86–109, 110, 290 Depressionen  : 103 Descartes, René  : 269 »Designat«  : 288 Deutung(en), Deuten, auslegen  : 25f, 28, 30, 39f, 50, 56, 57, 68, 81, 83, 84, 86f, 98, 118, 128, 129, 132, 146, 150, 172, 190, 200, 207, 217, 235, 238, 243, 252, 256, 270, 272, 281f, 286, 290, 290–293, 298 –– Deutungsbreite  : 33 –– Deutungseinschränkung(en)  : 109–120, 123, 124 –– Deutungsfähigkeit  : 277 –– Deutungsroutinen  : 98 –– Zusammenführung von Deutungen, Deutungsharmonisierung, Deutungsabstimmung  : 99ff, 108f, 139, 150, 201f »Dialektik der Plausibilität«  : 203, 208, 213, 238f »Dienstleistung«  : 106 Distanz  : 81–82, 140, 181–184, 219, 240 Dionysios Areopagitas  : 176 »Doppelbindung«, »Doublebind«  : 63

Register  :

Dornik, Wolfram  : 296 »Doxa«  : 168ff, 173, 208, 223, 225 »Drama der politischen Entscheidungsfindung«  : 167f Drehschaukel  : 271, 276f Dreier, Martina  : 47 Drewermann, Eugen  : 51 Duchamp, Marcel  : 130 Dürer, Albrecht  : 192, 198 »Ecce homo«  : 29 Eco, Umberto  : 83f, 96, 286, 288f, 292 Edelmann, Werner  : 272 EEG  : 92, 262 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus  : 66 »Eigenwerbung«  : 59 Einfluss  : 139, 141, 147, 267, 271, 273, 291 Einstein, Albert  : 27, 93, 117, 268, 277 Einstellung(en)  : 91, 128, 139 Emanzipation  : 192 Emotionen, Emotionalität  : 92, 185, 199, 243  ; siehe auch Gefühl(e) Empfänger  : 66 Empirismus  : 259 »enargeia« – »Anschaulichkeit«  : 257 »energeia« – »Wirksamkeit«  : 257, 259f England  : 241f Entscheidung(sprozesse), -findung  : 22, 166, 167, 185, 226, 238, 256 »Entschlossensein«  : siehe »Prohairesis« »epistemologischer Konstruktivismus«  : 23 Erfahrung(en)  : 24f, 57, 68, 83f, 89, 90, 91, 92ff, 97ff, 100, 103, 105, 117, 128, 139, 148, 179, 190, 191, 200, 211, 212, 213f, 216, 217, 219, 230, 255f, 270, 274, 297, 298 Erinnern, Erinnerung  : 127–129, 216, 252, 261, 295f, 298, 299, 300  ; siehe auch Gedächtnis Erkennen, Erkenntnis(se), Erkenntnis-

315

prozess, Erkenntnis(gewinnung)  : 19, 170, 171, 199, 231, 257, 260ff, 263–265, 278, 282, 283, 290–293  ; siehe auch Denken –– Erkenntnisfähigkeit  : 277 –– Erkenntnisquelle(n)  : 159 –– Erkenntniszugang  : 23ff, 50 Erneuerung  : 217 Erwartung(en), -shorizont  : 61, 86, 91, 95, 132, 186, 200, 219, 274 Erwartungshaltung  : 168, 173 Erzählen, Erzähler, Erzählungen, weitererzählen  : 26f, 39f, 79, 81, 84, 127f, 132, 247, 251, 252, 296, 298, 300 Esterbauer, Reinhold  : 23 Ethik  : 22, 160 Ethnolinguistik  : 260 Ethnomethodologie  : 88, 97–99, 101 Ethos  : 28f, 160, 161, 203, 244 Evangelien  : 219 »evidentia« – »konkrete Veranschaulichung«  : 257 »Familiennetzwerk«  : 90 Faustmann, Sigrid  : 47 »Feedback«  : siehe Rückkoppelung Fernsehen  : 113, 125ff, 127, 165, 181, 182, 220, 247, 279, 299 Fernsehbericht, -story  : 240–252 Fernsehköche  : 127 Film(e)  : 92, 113, 116, 117, 121, 125ff, 128, 130, 280 Fischer, Ernst. P.  : 265f Fixierung/Positionierung –– zeitliche  : 109–112, 113, 118f –– räumliche  : 113, 118f Foerster, Heinz von  : 18, 22, 129, 237 Formel(n)  : 281, 288 Forschungsethik  : 22 Fortschritt  : 265–268

316 :  Register Fotograf(ie)  : 130, 197, 280 Fragment(e), gesellschaftliche(s), Soziofragment(e)/Gruppe(n)  : 59, 67, 100,104, 166, 171, 217, 226, 274f, 295 »fragmentierte Gesellschaft« (Modell der)  : 88, 101–107, 170, 226, 274f »fragmentierte Öffentlichkeit«  : 166 »Fraktale«  : 272 Frankl, Viktor  : 81, 103 Frau Holle  : 27 Frege, Friedrich L. G.  : 285 Freiheit  : 104 Freiheitsstatue, amerikanische  : 53 Fremdimage  : 60, 80 Frenzel, Ivo  : 43 Freud, Sigmund  : 27 Friedrich Barbarossa, Kaiser  : 93 Fromm, Erich  : 102 Fuhrmann, Manfred  : 161 Gadamer, Hans-Georg  : 29 Garfinkel, Harold  : 99 Gedächtnis  : 88, 127–129, 296 Gefühl(e)  : 62–66, 93, 100, 149, 171, 202, 262, 274, 279  ; siehe auch Emotionen »Gegenbearbeitung«  : 176–185, 240 Geiger, Moritz  : 41 Geisteshaltung  : 63f »Generierungsregeln«  : 86 Genser, Jürgen  : 118 Gentile da Fabriano  : 75, 110 Geschichte  : 72ff, 120, 207, 208, 211, 213f, 217, 218, 219, 221, 224f, 255f, 263, 295f, 298f Geschichtsphilosophie  : 218, 224 gesellschaftliche(s) Fragment(e)  : siehe Fragment(e), gesellschaftliche(s) Gespräch  : 115, 159, 180f Gestik, Gesten  : 62,64–65, 95, 113, 188, 192f, 244, 248, 249

Gewohnheit  : 95 Ghiberti, Lorenzo  : 111, 122 Giovanni di Paolo  : 73f Glasersfeld, Ernst von  : 18 Glaube  : 171, 219 Glaubwürdigkeit, Glaubwürdigkeitskomponente  : 160, 203, 238 –– »Glaubwürdigkeit durch Narrativität«  : 299 »Glossolalie« – »Zungenreden«  : 185f Goethe, Johann Wolfgang von  : 27 Gold  : 264f Gorgias von Leontinoi  : 50, 233f, 236, 237 Gott  : 21f, 28f, 50, 73, 173ff, 186f, 196, 206f, 221, 228, 255, 266, 299 Graffiti  : 69, 70 Gregor der Große, Papst  : 50, 51 Gregor XV., Papst  : 155f Griechenland  : 49, 161, 163, 173, 185, 226, 229 Großbritannien  : siehe England Guillaume de Lorris  : 52 Guizot, François Pierre  : 73 Gutachter- und Sachverständigenwesen  : 105 »Gutenberggalaxis-Hypothese«  : 183 Habermas, Jürgen  : 97 Halbwachs, Maurice  : 295 Hall, Edwin  : 36 Haltung(en)  : 91, 169, 173, 179, 192f »Handbuch-Rhetorik«  : 142–144, 145, 183, 203, 279 Hansen, James  : 172 »Hanseneffekt«  : 172, 208 Harvey, William  : 266f, 268 Hawking, Stephen  : 20f Hegel, Georg Wilhelm F.  : 224f Heidegger, Martin  : 29, 141, 160 Heilsgeschichte  : 216

Register  :

Heilswert  : 158, 159, 162, 168, 175, 208ff, 218, 220, 235 Heilserwartung  : 168, 216, 235 Hendrix, Jimi  : 61 Herrnstein, Richard J.  : 170 Herz  : 266f Hesiod  : 49 Hippias  : 234 Hirnforschung  : 262 Hirsch, Heike Ch.  : 116 Hochzeit(en), Hochzeitsbilder  : 46ff, 53, 79, 112f, 121, 131, 132, 197 »Hochzeitsbild des Giovanni Arnolfini« von Jan van Eyck  : 33ff, 36, 45–48, 53–58, 61f, 67, 68–70, 75, 76f, 80f, 83, 84, 86, 98, 108, 109, 110, 112, 121ff, 124, 130, 132, 133, 137f, 149, 197 Hoffnung  : 22, 93 Homer  : 49 Homma, Simone  : 296 Hörer(gemeinschaft), Zuhörer, Zuschauer, Auditorium, Publikum  : 165, 167, 168, 169, 173, 175, 177ff, 181, 182, 184, 203, 208, 210f, 236, 242, 249, 279  ; siehe auch Rezeption Horizont, individueller  : 26f Humboldt, Wilhelm von  : 259f Humor  : 116, 117 Husserl, Edmund  : 38, 43 »hyponoia« – »tieferer Sinn«  : 49f »Icon«  : 54, 287, 289, 290 Identifikation(spotential)  : 60, 255 Identität  : 94ff, 119, 169f, 171, 173, 190, 192, 242, 296, 298 Ikonic, Marko  : 118 Illig, Heribert  : 169 Image  : 59–62, 68 »Image Control«  : 58–68 Imagination, imaginieren  : 255, 256,

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260–262, 263–265, 267f, 273, 277f, 281, 290–293, 295ff  ; siehe auch Bild(er), Verbildlichung und Denken »Impression Management«  : 58–68, 191ff »Index”  : 286f Individualität, Individuum  : 104, 230f, 297, 298 Industriegesellschaft  : 89 Inszenierung  : 167, 175, 176, 246, 247, 248, 249 Integration, soziale  : 97 Interaktion(en)  : 94ff, 97, 99, 109, 127ff, 201, 274 Internet  : 113, 118, 169, 181, 182, 278 Interpret  : 288 Interpretant, »interpretierendes Bewusstsein«  : 286ff Interpretation(en)  : siehe Deutung(en), Deuten, auslegen »Interpretationsregeln«  : 83f, 85, 86, 90, 290 Intuition  : 159 Jan van Eyck  : 33fff, 45fff, 53fff, 58, 68ff, 71, 74, 75, 76ff, 79ff, 121ff, 131, 132, 133, 196 Jean de Meung  : 52 Jesus von Nazareth  : 29, 173, 207, 216, 235 Johnson, Mark  : 101 Joyce, James  : 27, 128 Jung, Carl G.  : 260 Justinus  : 219 Kamera(mann)  : 251 »Kanaldiskrepanzen«  : 63 Kant, Immanuel  : 43, 161, 177f, 234, 238 Kantorowicz, Ernst H.  : 241 Karl der Große  : 169 Karussell  : 271f Keller, Rudi  : 286

318 :  Register Kelly, George  : 200 Kemperdick, Stefan  : 36, 46, 69, 77 Kennedy, John F.  : 208–221 Kenneth, Burke  : 158f Kepler, Johannes  : 266 »Kernethik«  : 22 Kirche  : 155, 169, 219, 266 Kittler, Friedrich  : 37f, 192, 247 Kleidermode, Kleidung  : 55, 59–62 Klientelsystem  : 164 Klimawandel  : 172 Klischee  : 241, 272 Knape, Joachim  : 29, 57, 82, 139, 141, 142, 145, 150, 158, 159, 179, 181–184, 189, 202, 247 Kochbücher  : 130 Kognitivisten, Kognitivismus (Scientismus)  : 18f, 234, 259 Kohärenz, kohäsiv  : 91, 92 »kollektives Gedächtnis«  : 295–299 »kollektives Handeln«  : 95 Kommunikation(ssystem), Kommunikationsprozess  : 37, 39, 81, 94–96, 97, 104ff, 109, 138, 146–151, 183, 184f, 249, 262, 268f, 274f, 284f, 289, 290–293 –– direkte K.  : 148, 185ff –– einseitige K.  : 147f, 185ff –– gegenseitige K.  : 147f, 184f –– indirekte K.  : 148, 181, 185ff –– Kommunkationsabbruch  : 106f –– Kommunikationskonventionen  : 109 –– Kommunikationsmodell  : 56, 250 –– Kommunikator  : 147, 148, 150f, 179f –– nonverbale K.  : 62–66 –– öffentliche K.  : 148, 185ff –– primärmediale K.  : 182 –– private K.  : 148, 185ff –– sekundärmediale K.  : 182 –– symbolische Dimension der K.  : 94ff

–– tertiärmediale K.  : 183 »kommunikatives Handeln« (Theorie des)  : 88, 96–97, 101 Kommunismus  : 211f, 218 Komplexität  : 81f, 181, 186 Königtum  : 227f Konnotation(en), »Begleitvorstellung(en)«, konnotieren  : 55f, 56, 57, 59, 61 »Konsistenz der Persönlichkeit«  : 199 Konstrukte  : siehe »persönliche Konstrukte« Konstruktivismus, Konstruktivisten  : 18ff, 22, 23, 231, 234, 238 Kopernikus, Nikolaus  : 27 Körperhaltung  : 62ff, 67 Körpersprache  : 62–66 »korporale Oratorpräsenz«  : 182 Kreativität  : 258 Krisenexperimente  : 99 »Kultur«  : 291–293 Kunczik, Michael  : 119 Kunstwerke, Kunst  : 44, 51, 262, 298 Lakoff, George  : 101 Lalouschek, Johanna  : 107, 275 Lanckton, Antony  : 141 Laut(e)  : 95, 285 Lavoisier, Antoine L. de  : 267f Leary, M.  : 58 Lebensläufe, Lebenslauf  : 114, 198 Le Goff, Jacques  : 72 Lehren  : 94, 230 Lernen, Erlernen  : 88, 92ff, 129, 200, 272f Leser, Lesen, Lesergemeinschaft  : 165, 183 Linguistik  : 291f Linné, Carl von  : 27 Locke, John  : 259 »Logos«  : 28f Lohse, Eduard  : 169

Register  :

London, Harvey  : 141 Ludovisi, Ludovico  : 155ff Luft  : 267f Lüge  : 177 Luhmann, Niklas  : 275 Luyn, Adrianus van  : 300 Lyotard, Jean-François  : 41 Macht  : 107, 167, 180, 201, 202, 222f, 237 Maler  : 37f, 69, 73ff, 77, 79, 130, 262 Maletzke, Gerhard  : 147, 150f, 181, 184f Mani, Nikolaus  : 267 Manipulation, manipulieren  : 36, 92, 145, 157, 164, 177, 178f, 180, 225, 233f Marey, Étienne-Jules  : 130 Margarete von Österreich  : 45 Maria, Mutter Gottes  : 53 Marianne, franz. Symbolfigur  : 53 Marke(n)  : 59–62, 119 »Marktplatz« – »agora«  : 164, 185 Marx, Karl  : 157 Massenmedien  : 91, 92, 113f,129, 140, 144, 157, 165, 166, 167, 169, 170, 172, 178, 180, 181, 182, 184, 187, 189ff, 225, 240–252, 257, 277f, 298f Materialismus  : 259 Maturana Romesín, Humberto  : 129 McKee, Martin  : 92 McLuhan, Marshall  : 183, 189 Mead, Georg Herbert  : 94f Mechanik  : 269 »mechanistisch-deterministische Verlässlichkeit«  : 58 »Medien-Ästhetik«, Medienästhetik  : 41ff, 86–133, 249 »medienästhetische(s) Gestaltungsmittel«  : 113–133 Medien, Medienprodukt(e)  : 36, 43f, 113f, 118, 148 »medientheoretisches Trivium«  : 39ff

319

Meinung(en)  : 139, 168, 169, 171, 173, 180, 199, 232f, 236, 237f »Meinungsklima«  : 172 Meinungs- und Pressefreiheit  : 164 Meldman, Philip J.  : 141 Mensch  : 24f, 70, 98, 191, 196, 229, 231, 252 Menschentypen (im »Impression Management«)  : 67f Menschwerdung Gottes  : 23 mentale Prozesse (der Wahrnehmung)  : 87f Menz, Florian  : 107, 275 Metabolieprinzip  : 139 Metapher(n)  : 48ff, 238, 257, 266, 287  ; siehe auch »Sprachbild« Mili, Gjon  : 130 »mimesis« – »Nachahmung«  : 259 Mimik  : 62, 65–66, 113, 188, 192f, 244, 248, 249 Missio(n)  : 155f, 159, 162, 168, 173, 217 Missverständnis(se)  : 99 Mitterer, Josef  : 19 Mlodinow, Leonard  : 20f Mode  : 110, 112  ; siehe auch Kleidermode »modellabhängiger Realismus«  : 20f »Möglichkeitsräume«  : 89 Momentaufnahmen  : 132  ; siehe auch »Schlüsselepisoden« Monty Python  : 116 Morris, Charles W.  : 287f Moses  : 27, 49, 54 Multioptions- und Eventgesellschaft  : 59 Murray, Charles  : 170 Museen  : 277f, 296, 297 Musik  : 113, 262 Muster, »pattern«  : 95, 271ff, 276, 282 Mythen  : 49f, 51, 227f, 296, 299 –– mythologische Tradition(en)  : 260 Nachfolge Christi  : 23

320 :  Register Nachrichten, -studio, -sendung(en)  : 119, 126 Nationalismus  : 103, 296ff Nationalstaat  : 298 Nation(sbildung)  : 296ff, 299  : Netzwerk  : siehe »soziale(s) Netzwerk(e)« Nida-Rümelin, Julian  : 22 »noumenale Welt«  : 238 »Nutzenoptimierung menschlicher Beziehungen«  : 104–107, 234, 235 »Objekt«  : 286ff  ; siehe auch Sachverhalt(e) objektiv  : 39, 78 Offenbarung  : 23, 158, 159 »öffentlicher Vernunftgebrauch«  : 164 Öffentlichkeit, Publizität  : 61, 162–187, 221 »ökumenischer Reichtum«  : 23 »Ontologie einer kalkulierenden Materie«  : 38, 247 »oral history«  : 255 Orator  : 147, 148, 183, 189, 203, 240, 249, 250  ; siehe auch Rhetor, Redner Oratorethos  : 141, 159f, 162, 168, 180, 182, 184ff, 188–203, 242ff, 245ff, 248, 250, 252 »Oratorkonkurrenz«  : 179, 180, 185, 191 »Oratorpräsenz«  : 182 »Oratorrolle«  : 180, 185f, 223, 226, 245 Orosius aus Braga  : 72 Ortsabhängigkeit von Datierungen  : 113 »ostensive Zeichen«  : 289 Otto von Freising  : 73 Ovid  : 123f Pallazzo Rucellai (Florenz)  : 70–72 Panowsky, Erwin  : 36, 137 Panzerstatue des Kaisers Augustus von Prima Porta  : 193f

Paradiesestür des Baptisteriums in Florenz  : 111f, 122 Parlament  : 166, 180 »parrhesia« – »freie Meinungsäußerung«  : 223 »pars pro toto«  : 122, 130, 209, 289 Parteilichkeit  : 246 Passionsgeschichte  : 75f »pattern«  : siehe Muster Patzelt, Werner J.  : 98 Paulus, Apostel  : 173ff, 177, 179, 184 »pax Romana« – »römischer Weltfriede«  : 212 Pegasus  : 273 Peirce, Charles S.  : 86, 286f, 289, 290 Peloponnesischer Krieg  : 226 Perelmann, Chaim  : 140, 159, 240 Personifikation  : 51ff »persönliche Konstrukte«  : 200, 202 Persönlichkeit  : 61, 69, 70, 81, 189ff, 198, 199, 200, 203, 224 Persuasion  : 139, 145, 147, 149, 158, 168f, 175, 179, 184, 207, 211, 215, 217, 218, 220, 224, 225, 226, 232, 235, 247 Persuasionsdeterminante  : 141, 160 Petrus, Apostel  : 152–154, 156, 158, 159, 173ff, 184ff, 203–207, 215, 216–221, 235f Peymann, Claus  : 115 »Pfingstrede«  : 152–154, 159, 173, 185f, 203–208, 209, 211, 219 Phänomen(e)  : 18, 25ff, 37, 55, 56, 57, 101, 169, 172, 203, 227, 238, 257, 261, 280, 292  ; siehe auch Wahrnehmung(en) Phänomenologie  : 37f »Phantomzeit-Theorie«  : 169f Physik  : 263–265, 280 Pichot, André  : 228 »Pierre Menard«  : 27 Pittakus aus Mytilene  : 234

Register  :

»Planetenmodell des Atoms«  : 260–265, 269, 271f, 273, 276f, 280, 282, 284, 287f Platon  : 175, 235, 236f Plett, Heinrich  : 161 Plutarch  : 50 Poelt, Josef  : 111 »Polis«  : 227f, 229, 230, 233 »politeia«  : 163f »political junkie«  : 92 »politischer kategorischer Imperativ der Öffentlichkeit«  : 177f Popper, Sir Karl  : 21, 200, 238 Porträt(kunst)  : 69, 130, 192–198 Positivismus  : 259 »Pragmatik«  : 288 Präsentationstechnik(en)  : 140, 183, 240, 250, 251 »Präsenzentfremdung«  : 183 »Präsenzsimulation«  : 182, 247 »Präsenzverfremdung«  : 183 Präsumtionen  : 17ff Präsuppositionen  : 17 Priestley, Joseph  : 267f Prodikos von Keos  : 234 Produktionstechnik(en)  : 112, 191, 250, 251 Prognose(n)  : 200 »Prohairesis«  : 141, 160, 168, 188, 244, 246 Projektion(en)  : 256 Prolog  : 115 Propaganda(rede)  : 145f, 154–158, 177, 213, 217, 218, 237 »Propagandakongregation«  : 155ff Protagoras  : 18, 231–233, 235f, 238 Protokoll(e)  : 114, 219 Psychoanalyse  : 258 Psychologie der Anschaulichkeit  : 270–279 Publizität  : siehe Öffentlichkeit

321

Quine, Willard van Orman  : 107 Qumran  : 169 Rabelais, François  : 27 Radio(station), (Rund-)Funk  : 113, 165, 181, 182, 220 Ranke, Leopold von  : 241 Rationalität  : 203 Ratschläge  : 105f Raum und Wahrnehmungsdeutung  : 109–120, 125ff Raumauflösung  : 125ff, 251 Raumverdichtung  : 126 Realismus, »modellabhängiger«  : 20f Realitätsbegriff  : 90 Realitätskonstruktion  : 90f Rede, Reden  : 91, 139, 144, 173, 175, 176, 178, 184, 186, 188, 204–225, 230, 233, 236, 248ff Redegattungen  : 139f Redner  : 64, 159, 160, 168, 169, 176, 178ff, 182, 183, 189  ; siehe auch Orator, Rhetor Reformation  : 228f Regenbogenpresse  : 48 Regisseur  : 247 Regulierungsmechanismen, Regeln  : 180, 185, 186, 250, 269, 270f  ; siehe auch »Interpretationsregeln« »Reichweite«  : 162 Reiz(e)  : 87 Rekonstruktion –– der Chronologie von Bilderfolgen  : 114 –– der Wirklichkeit  : 17f, 24f, 128 Relativierung, Relativismus  : 230, 238 Relativitätstheorie  : 93, 117 Religion, religiös  : 21f, 49, 159, 186, 228, 229, 231 Renaissance  : 72, 197, 266 Reportage(n)  : 128

322 :  Register Repräsentamen  : 286ff Repräsentation  : 45 »res cogitans« – »Geist«  : 269 »res extensa« – »Körper«  : 269 »res publica« 163f Rezeption, Rezipienten  : 40, 80, 84, 112, 114, 128, 147, 148, 167, 172, 173, 176f, 179, 181, 182, 188, 202, 240, 241, 247, 250, 252, 265 Rezeptor(en)  : 104–107, 170 Rhetor  : 169, 177, 188, 191, 202, 250  ; siehe auch Orator, Redner »Rhetorik«  : 28f, 40f, 50, 80, 82, 138, 161 Rhetorikunterricht  : 141 »rhetorischer Fall«  : 142, 158, 159, 181, 202 »rhetorischer/oratorischer Impetus«  : 142, 159f, 162, 189, 202 »rhetorisches Handeln«  : 157f –– Erfolgsmessung rhetorischen Handelns  : 168–173 »rhetorisches Setting«  : 140, 181f, 184– 187, 191, 221, 243f, 245f Ringelspiel  : 271 Ritual(e)  : 107, 121ff, 132, 180, 185 Rogers, Carl  : 198f Rolle(n), Rollenverhalten  : 94ff, 103  ; siehe auch Verhalten(sweisen) »Rollenmacht der Oratorrolle«  : 180, 185f, 191 Rollenwechsel  : 180, 185 Rom  : 193f, 211, 230, 238 »Roman de la rose«, Rosenroman  : 52f Rosenthal, Paul I.  : 203, 244 Rotary  : 68 Rubens, Paul  : 198 Rückblende  : 114f Rückkoppelung  : 262, 270f Rutherford, Ernst  : 260–265, 266f, 269, 271, 273, 276, 280f, 287

Sachbücher  : 114 Sachverhalt(e)  : 37f, 110, 148, 250, 286f Saint Exupery, Antoine de  : 117 Sauerstoff  : 267 Saussure, Ferdinand de  : 285 Schatterer, Günther  : 42 Schauspieler  : 64, 65, 161, 178 »Scheinöffentlichkeit«  : 166 Schema, Schemata  : 86f, 199, 241, 272 »Schicksalsgemeinschaft«  : 297f Schlenker, Barry R.  : 58 »Schlüsselepisoden«  : 131 Schönpflug, Wolfgang  : 271 Schrift, Verschriftlichung, schreiben  : 113, 144, 183 Schütz, Alfred  : 99 Schwind, Moritz von  : 93 Schwur  : 222f Science-Fiction-Produktionen  : 118 Seele  : 268f Segrè, Emilio  : 263 Sehnsucht  : 120 Seidl, Conrad  : 61 »Selbstbestätigung«  : 201 »Selbstbewusstsein«  : 196 »Selbstbezüglichkeit«  : 55–57, 79f, 129, 183, 188, 189–191, 244, 246, 250, 252 Selbstbild  : 242, 244 Selbstbildnis  : 198 Selbstdarstellungsmodell  : 68, 78 »Selbstdistanzierung«  : 81 »Selbstgespräch«  : 39, 291 Selbstimage  : 58, 60, 80 Selbstinszenierung, Selbstdarstellung  : 47, 55, 56, 57–70, 76, 77, 80, 84, 188, 189f, 191–203, 244, 246 »Selbstkonzept«  : 198–202 »Selbstpräsentation(en)«  : 193, 201 »Selbstvergewisserung«  : 120 »Selbstvermittlung«  : 39

Register  :

»Selbstverständnis«  : 192, 298f Selbstvertrauen  : 141f Selbstwahrnehmung  : 80, 199 Selbstwert  : 199 »Self-handicapping-strategies«  : 67 »Self Presentation«  : 58–68, 192 »Self Promotion«  : 58–68 »Semantik«, »semantische Dimension(en)«  : 40, 118, 288  ; siehe auch Bedeutung(en) »semantischer Raum«  : 109, 147, 212, 274f »Semiotik«, semiotisches System  : 40f, 56, 96, 183 »semiotische Erkenntnistheorien«  : 283–293 Sender  : 67 Sennett, Richard  : 267 »sensus allegoricus«  : 48 »sensus litteralis«  : 48 Setting  : siehe »Rhetorisches Setting« Shakespeare, William  : 115, 241 Shaw, George Bernard  : 66 Sicht(weisen) (der Welt)  : 19ff, 44, 47f, 74f, 169, 170, 171, 173, 192, 245f, 257, 259, 268f  ; siehe auch Weltbild(er), Bild(er) der Welt Signal(e)  : 56, 57, 107, 283 Signatur, Unterschrift  : 76ff Sinn  : siehe Bedeutung(en) »Sinnmaschine«  : 51 Sokrates  : 235, 236f »Solidargemeinschaft«  : 297f Solon aus Athen  : 234f Sophisten  : 226, 229ff »soziale(s) Netzwerk(e)«  : 88–92, 94, 96ff, 101, 102, 103, 104, 106, 107 »soziale Realität«  : 201 Sozialisation(sprozess)  : 84, 90f, 95f, 199, 292 Soziofragment(e)  : siehe Fragment(e)

323

Soziolekt  : 275 »Spiegel der Welt«  : 28, 285 Spiegel  : 53f, 69f, 80, 81, 111, 124 Sprache  : 28f, 50, 56f, 66f, 96f, 112, 113, 133, 148, 149, 203, 259f, 285, 296, 298 –– »Sprache der gemeinsamen Bilder«  : 275 –– »Sprachbild«  : 100, 167, 257  ; siehe auch Metapher(n) –– Sprachgebrauch  : 258 –– »Sprachinhaltsforschung«  : 259 Sprechhandlungen  : 146, 181 Stadt  : 296 Sterne, Laurence  : 27 Stimme  : 245, 248, 249 Stimmung(en)  : 184f, 186, 203, 241 Stone, Oliver  : 117 »strategische Selbstpräsentation”  : 201 »subiectio ad oculos« – »Vor-AugenFührung«  : 257 »sub spezie aeternitatis” – »unter dem Blickwinkel der Ewigkeit«  : 242 Symbol(e) – »symbola«, Symbolik  : 49ff, 53, 56, 94ff, 107, 148, 175, 176, 244, 261f, 277, 281, 283, 285, 287, 296, 297 »symbolischer Interaktionismus«  : 88, 94–96, 99, 101, 148, 201 Symptom  : 56, 65, 283 »Syntaktik«  : 288 Tagebuch, -bücher  : 114 Tarantino, Quentin  : 117 Täuschung  : 38 Technik  : 37f, 270 Telefon  : 181 Telegraphie  : 277 Thales von Milet  : 234 Theater  : 113, 115, 167, 247 »Theorie des Selbst«  : 198ff »Theorie des sozialen Lernens«  : 200

324 :  Register Thomas von Aquin  : 259 Thomson, Joseph J.  : 263 Thukydides  : 226 »top-down«-Prozesse  : siehe mentale Prozesse Trabant, Jürgen  : 289 Tradition(en)  : 298, 299 Transzendenz  : 120, 221 Treibhauseffekt  : 172 »triadische Relation (von Zeichen)«  : 286, 288 »trivialis scientia«  : 228f Trost  : 22 »typischer Augenblick, typisches Bild«  : 122, 129f Überlieferung  : 218 Überzeugung  : siehe Persuasion Ueding, Gert  : 139, 145, 146, 160, 181 Umdatierung  : 115 Umwelt, natürliche und symbolische  : 95, 200, 231, 270 Umweltzerstörung  : 111 Unsicherheit  : 169 Unterricht  : 37 »Unterstützungsnetzwerk«  : 89 Valerius Maximus  : 222 Velázquez, Diego Rodríguez de Silva y  : 123, 198 Veranschaulichung  : siehe Anschaulichkeit Verbildlichung  : siehe Bild(er) und Imagination(en) Verbrennung  : 267f Verdichtung der Zeit  : siehe Zeitverdichtung Verdichtung des Raums  : 126 Verdichtung von Visualisierung(en)  : 261f »Vergegenwärtigungstechnik(en)«  : 183 Vergessen  : 129

Vergleich(en)  : 25ff »Vergleichsstandard«  : 91 »Verhaltensbestätigung« – »behavorial confirmation«  : 202 Verhalten(sweisen)  : 58–68, 95, 98, 99, 139, 185, 192, 200, 201, 203, 226, 271f, 288, 292, 298f  ; siehe auch Rolle(n) Verkaufsgespräch  : 140 »Verlautbarung«  : 167f Verlobung(en), Verlobungsbilder  : 46f Vermittler  : 66, 68f, 78, 245ff Vermittlung(sprozess), Vermitteln  : 18, 23ff, 25f, 28ff, 29, 30, 36, 37, 38f, 40f, 43, 57, 76ff, 78–81, 83f, 98, 109, 129, 133, 138, 140, 158f, 170, 171, 187, 191, 198, 203, 232, 238f, 249, 252, 255, 257, 258, 261, 263, 265, 268f, 274–279, 293, 295–299 – Vermittelbarkeit von Wahrnehmungen  : 132 – Vermittlungsprobleme  : 33ff, 36 – Vermittlung von Bedeutungen  : siehe Bedeutungsvermittlung »Veröffentlichung«  : 167f, 187, 263 Verstehen(sprozesse), Verständnis  : 39, 40f, 57, 58, 81, 97, 100, 114, 130, 137f, 148, 149, 171, 172, 181, 200, 255f, 256, 279, 283, 291ff Vertrauen  : 37, 91, 93, 142 »virtueller Raum/Ort«  : 126, 165, 251 Visualisierung, visualisieren  : 255, 257, 260, 261f, 263, 268–269, 279, 280–282, 290–293, 295ff Vorsokratiker  : 49f Vorstellung(en) – »pathemata«  : 19, 60, 100, 261f, 267, 273, 281, 282, 285, 290–293, 298f Vorurteil(e)  : 59, 60, 61, 170, 177, 232, 241 Wahlreden  : 92

Register  :

Wahrheit, Wahrheitsfindung, Wahrhaftigkeit  : 21, 97, 114, 158, 177, 178, 231, 236, 238, 299 Wahrnehmung(en), wahrnehmen  : 25ff, 28, 30, 39f, 43, 46ff, 56, 57, 68, 78, 80, 81, 83–85, 87, 90–94, 97, 98, 100, 110, 118, 123, 128, 132, 138, 172, 183, 186, 190, 233, 238, 241, 247, 248ff, 250, 251f, 261, 268, 272f, 283 – Wahrnehmung der Zeit  : 69ff, 72–76, 113 – Wahrnehmung durch unbeteiligte Dritte  : 81–82 – Wahrnehmungsabstimmung(en)  : 39, 83, 101–107, 108–109 – Wahrnehmungsexperiment  : 33fff – Wahrnehmungskonventionen, -gewohnheit(en)  : 109, 111 – Wahrnehmungskonzept  : 89–91, 104– 107 – Wahrnehmungsmodell  : 59 – Wahrnehmungsstörung  : 20 – Wahrnehmungsunterschied(e)  : 33ff, 36, 86f, 98 – Wahrnehmungsverdichtung durch Raumauflösung  : 125ff, 127, 131, 250, 251 – Wahrnehmungsverdichtung durch Zeitauflösung in Episoden  : 127–129, 133, 250, 251 Walraff, Günther  : 190 Wandzeitung  : 165 Watzlawick, Paul  : 63 Weber, Max  : 297 Weisgerber, Leo  : 259 Weißhaupt, Michael  : 58 Webseite(n)  : 118 Weltbild(er), Bild(er) der Welt  : 20ff, 25, 26, 48, 55, 56f, 70, 72ff, 75, 79, 90, 91, 103, 111, 118, 168, 171, 173, 176, 181,

325

194, 227, 228, 259, 262, 265, 266, 268f, 270, 272f, 274, 275–279, 281, 289, 290, 292, 295f, 299 Wember, Bernward  : 279 Werbung  : 118f Wertrahmen  : 236, 237, 274 Wert- und Lebensauffassungen  : 20, 28f, 100, 101,103, 106, 112, 118, 128, 129, 168, 170, 173, 181, 191, 199, 241, 242f, 252, 275 Widersprüchlichkeit, Widerspruch, Divergenz  : 115ff, 231, 233, 235, 236, 295 Widerstandsfaktoren  : 179ff, 183 Wirklichkeit(en)  : 17ff, 20, 23f, 24, 28, 30, 38, 178, 256, 258, 259, 261, 278, 280, 295ff, 299  ; siehe auch Realität Wissen(sbestände, -strukturen)  : 86, 88, 94, 98, 169, 199, 229f, 272 Wissenschaft(er)  : 166, 171, 200, 223, 257, 277 Wittgenstein, Ludwig  : 19f, 258 Wodak, Ruth  : 107, 275 Wolf, Christian  : 43 Yiu, Yvonne  : 36 Zanker, Paul  : 193f Zeichen, Sem(e), Zeichensystem(e)  : 28, 40f, 46f, 48–55, 56f, 59–68, 78f, 83–85, 88, 90, 95, 97, 98, 107, 110f, 112, 113f, 115f, 117, 123, 148, 255, 258f, 260, 261f, 263, 281–293  ; siehe auch »ostensive Zeichen« und »semiotische Erkenntnistheorien« Zeitabschnitt(e)  : 251 Zeit und Wahrnehmungsdeutung  : 109–120 Zeitempfinden  : 73–76, 110, 111f, 116 Zeitraffung  : 126, 131 Zeitschleife  : 117

326 :  Register Zeitverdichtung  : 117, 120–133, 248 Zeitung, Presse  : 113, 130, 165, 181, 182 Zentralepisode  : 129ff Zeugenaussage  : 37, 114 Zeugen Jehovas  : 106 Zeugen(schaft), Zeugnis  : 76f, 78, 124, 222, 251 Zielgruppe  : 207f, 209, 210, 216, 220

Zimbardo, Philip G.  : 86f »zirkuläres Weltbild«  : 171 Zirkulation  : 266 Zitat  : 245 »Zwei-Ding-Theorie«  : 284 Zweifel  : 25ff, 30 »Zwischenwelt(en)«  : 259

LEOPOLD NEUHOLD, BERNHARD PEL ZL (HG.)

ETHIK IN FORSCHUNG UND TECHNIK ANNÄHERUNGEN

„I am just a scientist.“ – „Ich bin ja nur ein Forscher.“ Dieser Aussage des Napalm-Erfinders Louis F. Fieser auf die Frage nach seiner Verantwortung für die durch Napalm Getöteten im Vietnamkrieg widerspricht die Arbeitsgruppe „Ethik in Forschung und Technik“ der JOANNEUM RESEARCH: Wer Forschungsergebnisse verfügbar macht, muss sich immer auch seiner Verantwortung für die Folgen bewusst sein. Die Arbeitsgruppe besteht aus engagierten Forschern der JOANNEUM RESEARCH. Sie lädt regelmäßig Experten zu Gesprächen über konkrete Fragen der Forschungsethik ein, die in diesem Band zu Wort kommen: z. B. Julian Nida-Rümelin, Manfred Prisching, Sonja RinofnerKreidl, W. Theobald. Die Themen reichen von den Grundlagen ethischer Entscheidungen bis zur Sicherheits- und Umweltforschung. 2011. 246 S. GB. 170 x 240 MM. ISBN 978-3-205-78665-8

MIT BEITRÄGEN VON

Blumenthal, Sara; Jantscher, Elke; Kubista, Erwin; Neuhold, Leopold; NidaRümelin, Julian; Pelzl, Bernhard; Prettenthaler, Franz; Prisching, Manfred; Reitinger, Claudia M.; Rinofner-Kreidl, Sonja; Theobald, Werner

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